Der Fahrende Schüler als prekärer Typus: Zur Genese literarischer Tradition zwischen Mittelalter und Neuzeit 9783110708349, 9783110708073

The travelling students and scholars of the middle ages conjure up images of merry young wayfarers. But it turns out tha

729 112 101MB

German Pages 721 [722] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Fahrende Schüler als prekärer Typus: Zur Genese literarischer Tradition zwischen Mittelalter und Neuzeit
 9783110708349, 9783110708073

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Erster Teil
1 Einleitung
2 Zur Forschung
3 Zum Vorgehen
Zweiter Teil (um 1500)
4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I
5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500
Dritter Teil (bis 1500)
6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II
7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)
8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)
9 Schüler als Fahrende: Bewertungen (studentischer) Bewegung (Spurensuche III)
10 Lotterpfaffen und varend schler – eine begriffsgeschichtliche Spurensuche (IV)
11 Zwischenfazit und Verbindung mit dem Zweiten Teil
Vierter Teil (nach 1500) – ein Ausblick
12 Konstitution und Transformation im 16. und 17. Jahrhundert
13 Fahrende Schüler‘ im 19. Jh. – Die Erfindung einer Tradition im Zeichen des Historismus?
Fünfter Teil
14 Zusammenfassung und Fazit
Anhang
Abbildungen
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Autoren‐ und Textregister
Sachregister
Ortsregister

Citation preview

Philip Reich Der Fahrende Schüler als prekärer Typus

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 39

Philip Reich

Der Fahrende Schüler als prekärer Typus Zur Genese literarischer Tradition zwischen Mittelalter und Neuzeit

ISBN 978-3-11-070807-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070834-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070835-6 ISSN 2198-932X Library of Congress Control Number: 2020945572 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse), Cod.Pal.germ. 848, Blatt 355v. Wikimedia Commons Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

IX

Erster Teil  . .

Einleitung 3 ‚Des Pudels Kern‘ oder Warum lacht Faust? Grundlegende Annahmen 11

 .

.

14 Zur Forschung Discursus historico-philologicus de vagantibus scholasticis – 14 ein erster Forschungsbeitrag Vom Verfall des gelehrten ‚Vagantentums‘ – ältere Forschungsansätze 17 Neuere Beiträge zur Mobilität vormoderner Studenten 23



Zum Vorgehen

.

3

35

Zweiter Teil (um 1500)  . . . .

Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I Zur Narratologie einer typisierten Figur 39 Gesellschaftsbilder 42 53 Literarische Imaginationen Zusammenfassung und Bezug auf das weitere Vorgehen

 .

Der Fahrende Schüler als Schema um 1500 61 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – 61 Bettlerkataloge Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren 115 Der Fahrende Schüler als methodisch prekärer Typus – Zwischenbilanz 140

. .

39

59

Dritter Teil (bis 1500)  . .

Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II Zu partialer Literaturgeschichtsschreibung 153 Traditum, depositum, vestigium 162

153

VI

. .

Inhalt

Wiederholung und/als Erneuerung – die vormoderne Situation 197 Zusammenfassung und weiteres Vorgehen

 . . .

Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I) Der Codex Buranus als Vagantenliederbuch? 199 Die Imagination eines Vaganten-Ordens 201 210 Der Ordo vagorum als traditionales Muster

 .

Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II) 222 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert 228 267 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik Der Schüler als Typus zwischen ritter und pfaffe – 293 Zusammenfassung

. .

 . . . . .

 . . . .



Schüler als Fahrende: Bewertungen (studentischer) Bewegung (Spurensuche III) 296 Ubi stabilitas, ibi religio – monastische und kirchenrechtliche 298 Positionen Gelehrtenadel und Randalierer – Texte zum Universitätsrecht Inconstantia und intellektuelles exilium – 349 schuldidaktische Texte Die Mobilität von Schülerfiguren in der mittelhochdeutschen 371 Kleinepik Vom Unterschied von migratio und vagatio – Zusammenfassung 413

188

199

336

Lotterpfaffen und varend schler – eine begriffsgeschichtliche 417 Spurensuche (IV) 417 Der lotterpfaffe Der Fahrende Schüler als Schwankfigur 421 Der Fahrende Schüler mit dem Netz – zum Bildprogramm 448 in Planetenkinderbüchern Um 1430 in Basel – die Reformatio Sigismundi und der Oberrhein 459 Zwischenfazit und Verbindung mit dem Zweiten Teil

465

Vierter Teil (nach 1500) – ein Ausblick  .

Konstitution und Transformation im 16. und 17. Jahrhundert 469 Eine Fortführung kleinepischer Figurenmuster in Kompilationen 469

VII

Inhalt

Der Fahrende Schüler bei Hans Sachs – Kodifizierung eines Musters 486 Der Fahrende Schüler als Zauberkünstler in volkstümlicher und gelehrter Tradition 504 Variation, Transformation und Destruktion im Roman des 17. Jh. 548

. . .

 . . . .

Fahrende Schüler‘ im 19. Jh. – Die Erfindung einer Tradition im Zeichen 563 des Historismus? Zum Historismus des 19. Jahrhunderts 563 Carmina Burana und Thomas Platter – 566 zwei wichtige Wiederentdeckungen Die Literatur der Romantik 569 Der Fahrende Schüler in Liedersammlungen, besonders bei Joseph 579 Victor von Scheffel

Fünfter Teil  . . . .

Zusammenfassung und Fazit 595 Traditionslinien 1: Der gelehrte Bettler – materielle Prekarität Traditionslinien 2: Der Vagantenorden – ständische Prekarität Traditionslinien 3: Zauberei und Venusberg – 599 ‚diabolische Prekarität‘ Fazit 600

Anhang Abbildungen

605

Abkürzungsverzeichnis

623

626 Literaturverzeichnis Quellen 626 645 Forschung Autoren‐ und Textregister 708 Sachregister Ortsregister 711

702

596 597

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg als Dissertation angenommen, im Frühjahr 2020 verteidigt und für die Druckfassung leicht überarbeitet. Mein Dank gilt zuvorderst meinem Betreuer Tobias Bulang für sein Vertrauen, alle wichtigen Impulse und seine Bereitschaft zum fachlichen Gespräch. Ebenso möchte ich meinem Zweitbetreuer Dirk Werle danken, der vor allem die methodischen und theoretischen Überlegungen begleitete. Eine anregende Atmosphäre und zugleich die nötigen Freiräume bot das Graduiertenkolleg „Was ist Tradition? Zu Genese, Dynamik und Kritik von Überlieferungskonzepten in den westeuropäischen Literaturen“, in dessen Rahmen diese Arbeit entstanden ist. Ich möchte allen Mitgliedern des Kollegs herzlich für die inspirerenden Vorträge, Diskussionen und Colloquien danken; außerdem der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg für die großzügige finanzielle Unterstützung. Doch auch andere Personen haben zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Ich will nur wenige hervorheben. Thomas Wilhelmi und Tino Licht für ihre Geduld bei paläographischen oder textgeschichtlichen Detailfragen, Sophie Knapp und Helge Perplies für die ‚akademischen Mittagspausen‘, Dominik Bohmann, Dennis Disselhoff, Jonas Göhler, Joana van de Löcht, Martin Reich, Katharina Ruckdäschel, Sarina Tschachtli und Katharina Worms für die akribische Lektüre‐ und Korrekturarbeit und schließlich dem Colloquium der Heidelberger Mediävistik für die Möglichkeit, Passagen aus der Dissertation vorzustellen. Für die Aufnahme in die Reihe danke ich den Herausgeberinnen Beate Kellner und Claudia Stockinger und dem Verlag für die kompetente Betreuung, die zuerst Jakob Klingner und dann Robert Forke und Julie Miess übernahmen. Ich danke auch herzlich dem Karrierefonds der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der LMU München, der den Druck finanziell großzügig förderte. Abschließend danke ich meinen Eltern Johann und Therese für ihr Vertrauen, meinen Geschwistern Sabine und Martin für jede Form der Ablenkung und meiner Frau Pia für ihre Liebe und ihr Verständnis. Meiner kleinen Familie ist dieses Buch gewidmet. Heidelberg im Oktober 2020

https://doi.org/10.1515/9783110708349-001

Erster Teil

1 Einleitung 1.1 ‚Des Pudels Kern‘ oder Warum lacht Faust? Mephistopheles: Wozu der Lärm? was steht dem Herrn zu Diensten? Faust: Das also war des Pudels Kern! Ein fahrender Scolast? Der Casus macht mich lachen. Mephistopheles: Ich salutire den gelehrten Herrn! Ihr habt mich weidlich schwitzen machen. (vv. 1322– 1326)¹

Als Faust in der Szene „Vor dem Tor“ der Goethe’schen Tragödie wieder in die Welt zurückgekehrt ist, nimmt er den wohl berühmtesten Pudel der deutschen Literatur in sein Studierzimmer mit. Während der Versuche, den Anfang des Johannesevangeliums zu übersetzen, windet sich der Hund vor Schmerzen und Faust erkennt die übernatürliche Beschaffenheit des Tieres, die er mittels der Zaubersprüche aus der Clavicula Salomonis zu vertreiben versucht. Nachdem die Bannung der Elementargeister (Salamander, Undene, Sylphe, Kobold, vv. 1271– 1291) keinen Erfolg zeitigt, erkennt er den Gast als einen „Flüchtling der Hölle“ (v. 1299). Dieser scheint sich zu einer schattenhaft-dämonischen Entität aufzublähen, doch unter Berufung auf die Heilige Dreifaltigkeit versteht er den Teufel endlich zu bezwingen. Anstelle eines schreckenerregenden Höllenfürsten jedoch tritt „Mephistopheles […], indem der Nebel fällt, gekleidet wie ein fahrender Scholastikus, hinter dem Ofen hervor.“ (vor v. 1322). Die mögliche Überraschung des Rezipienten, der andere Bearbeitungen des Fauststoffes kannte,² spiegelt auch Faust, sobald er „des Pudels Kern“ als „fahrenden Scolast[en]“ erkennt. Faust muss über Gestalt und Habitus Mephistos lachen, was er gemäß akademischer Diktion als „Casus“ bezeichnet. Doch warum lacht Faust? Figurenpsychologisch und komiktheoretisch einleuchtend scheint die Tatsache, dass er „im Augenblick nur frappiert von dem Kontrast zwischen der gewalttätig drohenden und jetzigen harmlosen Erscheinung“³ ist. Das Lachen ‚widerfährt‘ Fausts Körper⁴ und die Entlastung von der angestauten Angst führt unwillkürlich zum un-

 Die folgenden Angaben beziehen sich auf die historisch-kritische Ausgabe: Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, hg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis, Bd. 1: Kontituierter Text, bearb. von Gerrit Brüning und Dietmar Pravida. Göttingen 2018.  Der Stoff war zu Goethes Zeit durch die populären Faustbücher, v. a. aber durch Wanderbühnen und Puppenspiele durchaus präsent. Vgl. Jochen Schmidt: Goethes Faust, erster und zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. München 32011, S. 29. Goethe schreibt selbst in „Dichtung und Wahrheit“ Teil 2, Buch 10: „Die bedeutende Puppenspielfabel […] klang und summte gar vieltönig in mir wider“; Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit, hg. von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. 1986, S. 451.  Hans Arens: Kommentar zu Goethes Faust I. Heidelberg 1982, S. 156.  Zum ‚Widerfahrnis‘, das zuvorderst den Körper und erst nachrangig Geist und Bewusstsein affektiert, vgl. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, hg. von Regula Giuliani. Frankfurt a. M. 2000. https://doi.org/10.1515/9783110708349-002

4

1 Einleitung

kontrollierbaren Reflex des Lachens.⁵ Demnach figuriert sich das Lachen Fausts als Mischung aus dem Weglachen der intermittierenden Angsterfahrung, einer sich durch die erkannte Abwesenheit des Angstobjekts einsetzenden Erleichterung und der plötzlichen Überraschung. Faust muss nicht mehr den übermächtigen Dämon bezwingen, sondern kann mit dem Erschienenen diskutieren. Dabei zeigt sich Mephisto in unterwürfigem Gestus: „Was steht dem Herrn zu Diensten?“ (v. 1322). Dies wird auch in der gewählten Kostümierung deutlich: Denn Mephisto tritt als Schüler auf und passt sich damit der Lebenswelt Fausts an, jedoch in einer Rolle, welche dem Lehrer Faust hierarchisch dezidiert untergeordnet ist. Fausts Lachen zeigt demnach auch sein Amüsement darüber, dass die Machtverhältnisse – vom schrecklichen Dämonen zum dienstbaren Schüler – so schnell umgekehrt wurden und er nun einen scheinbar Untergebenen vor sich hat. Doch diese Erklärungen können die gestellte Frage nicht abschließend beantworten. Vielmehr sind auch inszenierungspraktische und literaturgeschichtliche Gründe zu bedenken: Zum einen sind Schrecken und darauf folgende Erleichterung Fausts leicht auf das Publikum des Dramas zu übertragen. Wenn nach viel Schattenspiel, Nebel und pathetischen Worten ein einfacher Schüler erscheint, mag das manchen Rezipienten zum Lachen gereizt haben. Dazu kommen noch andere Dimensionen, für die der heutige Leser einer vergleichenden Lektüre anderer historischer Varianten derselben Szene bedarf. Der literaturgeschichtliche Kontext dürfte Goethe und womöglich auch Teilen seiner Zuschauerinnen und Zuschauer bekannt gewesen sein.⁶ Durch eine kontrastive Lektüre treten die Spezifika von Goethes Drama umso deutlicher zutage. Denn Goethe steht in einer Tradition von Teufelsbunderzählungen, die sich bis auf die Spätantike zurückverfolgen lässt, sich im 16. Jahrhundert auf die Figur des Johannes/Georg Faust konzentriert und so einen der populärsten Stoffe der europäischen Literatur prägt.⁷ Zugleich führt Goethe durch die Neukomposition des überlieferten Stoffes, tradierter Motive und übernommener For-

 Dazu Nietzsche: „Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden Uebermuth nennt man das Komische“; Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I [1878], hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari u. a. Berlin 1967, S. 159 f. Ähnlich auch Hans Rudolf Velten: Scurrilitas. Das Lachen, die Komik und der Körper in Literatur und Kultur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Tübingen 2017, S. 21– 46.  Goethe kannte wahrscheinlich das Faustbuch des Christlich Meynenden (1725), sicherlich aber das Faustbuch in der Bearbeitung von Pfitzer (1674), das er von 18. Februar bis 9. Mai 1801 aus der Weimarer Hofbibliothek entliehen hatte.Vgl. Elise von Keudell: Goethe als Benutzer der Weimarer Bibliothek. Ein Verzeichnis der von ihm entliehenen Werke, hg. von Werner Deetjen.Weimar 1931, S. 44. Zu Goethe und seinem Bezug zur Faustbuchtradition vgl. weiter Otto Pniower: Pfitzers Faustbuch als Quelle Goethes. In: ZfdA 57 (1920), S. 248 – 266.  Vgl. dazu grundlegend Walter Haug: Der Teufelspakt vor Goethe oder Wie der Umgang mit dem Bösen als felix culpa zu Beginn der Neuzeit in die Krise gerät. In: DVjs 75 (2001), S. 185 – 215, Leopold Kretzenbacher: Teufelsbündner und Faustgestalten im Abendlande. Klagenfurt 1968 und Christian Schneider: Das Motiv des Teufelsbündners in volkssprachlichen Texten des späteren Mittelalters. In: Faust-Jahrbuch 1 (2004), S. 165 – 198.

1.1 ‚Des Pudels Kern‘ oder Warum lacht Faust?

5

mulierungen die Tradition auch weiter und schafft ein Drama, welches so starken Einfluss auf Stoffgeschichte, literarischen Diskurs und Mentalitäten hatte wie kaum ein anderes deutschsprachiges Werk. Wenn nun in Goethes Tragödie Faust und Mephisto das erste Mal zusammentreffen, fällt die Figurenkonstellation ins Auge, die von den anderen Varianten der Stoffgeschichte abweicht. Im Gegensatz zur üblichen Beziehung zwischen der aktiven Rolle des beschwörenden Magiers und der eher passiven Rolle des beschworenen Teufels nimmt in Goethes Faust Mephistopheles den Kontakt auf. Jedoch wählt er kein erschreckendes Erscheinungsbild, sondern das eines tollenden Hundes. So spielen schon beim ersten Auftritt des Höllengeists in der Szene „Vor dem Tor“ ernsthaftdämonische und weltlich-burleske Elemente zusammen: Faust sieht „ein[en] Feuerstrudel“ (v. 1154) hinter dem Pudel herziehen und bewertet die wilden Sprünge des sich annähernden Hundes als „magisch leise Schlingen | Zu künftgem Band“ (vv. 1158 f.). Damit erkennt Faust, der ja ohnehin eine grundsätzliche Disposition zum Transzendenten hat, die teuflische Natur des Hundes. Wagner, der bei Goethe durch seine verstaubt akademische Attitüde als komische Figur auftritt, erklärt die Erscheinung jedoch als „Augentäuschung“ (v. 1157) und überzeugt seinen Professor durch logische Argumente, sodass auch dieser ‚erkennt‘, dass „nicht die Spur | Von einem Geist“ (vv. 1172 f.) vorhanden und alles nur „Dressur“ (v. 1173) sei. Abschließend resümiert Wagner: Dem Hunde, wenn er gut erzogen, Wird selbst ein weiser Mann gewogen. Ja deine Gunst verdient er ganz und gar Er, der Studenten trefflicher Scolar. (vv. 1174– 1177)

Wagner antizipiert, indem er den Hund als gelehrigen Diener des Menschen charakterisiert und ihn mit einem Studenten vergleicht, bereits die Verkleidung, welche Mephisto für seinen ersten Auftritt wählt. Eine Metamorphose vom „pudelnärrisch Thier“ (v. 1167) zum furchteinflößenden Satan mit hässlicher Fratze scheint nicht denkbar. So nimmt der Pudel als Reaktion auf die Zauberformeln Fausts zwar gruselige Gestalten an, doch auch die Tiermetaphern tendieren eher ins Grotesk-Wunderliche, wenn der Teufel ein „Nilpferd […] | [m]it feurigen Augen, schrecklichem Gebiß“ (v. 1254 f.) oder „ein Elephant, | [der den] ganzen Raum füllt“ (vv. 1311 f.), zu sein scheint.⁸ Zwar findet sich auch in anderen Bearbeitungen des Fauststoffes ein Hund als Gefährte,⁹ doch im Gegensatz zu Goethes Tragödie ist die Natur des Hundes

 Zwar stellte man sich gerade das Flusspferd noch bis ins 18. Jahrhundert als schreckliches, kinderfressendes Untier vor. Die Beschreibung des exotistischen Kinderschrecks bei Goethe entbehrt jedoch nicht komischer Elemente.Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Kommentar, hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1994, S. 247.  So nennen die Bearbeitungen von Widmann und von Pfitzer, die in diesem Kapitel sehr ähnlich sind, „einen grossen zotteten Hund“ namens Præstigiar, der rotglühende Augen hat und dessen Fell sich bei

6

1 Einleitung

als spiritus familiaris den Hauptfiguren stets bekannt.¹⁰ Gerade durch das Nichtwissen von Goethes Fausts aber ist ein Lachen, welches auf der Überraschung des Protagonisten basiert, erst möglich. Faust lacht also wegen der unerwarteten Volte, die ihn gerade auch in seinen intuitiven Hypothesen in der Szene „Vor dem Tor“ bestärkt. Gleichzeitig spiegelt das Lachen Fausts das Lachen des kundigen Rezipienten, der die ‚übliche‘ Faktur der Beschwörungsszene kennt. Die visuelle Konzeption, in welcher der Teufel zahlreiche Illusionen erzeugt und nicht direkt erscheint, ist zwar in verkürzter Form eingehalten – bei der ersten Beschwörung des Teufels in der Historia lässt dieser ein ganzes Geisterheer aufmarschieren¹¹ – doch die endgültige Gestalt differiert. In anderen Texten der Fausttradition tritt der Satan als furchteinflößende Entität auf, sei es in „der Gestalt eines fewrigen Manns“,¹² als Geist „in the shape of a dragon“¹³ oder als einer, der „einen natürlichen Menschenkopff“ hat, aber dessen „gantzer Leib […] gar zotticht, gleich als ein Bär“¹⁴ ist. Diesen Anblick kann der Mensch Faustus nicht ertragen und drängt den Teufel, sich in anderer Gestalt zu zeigen, und zwar als Franziskaner-Mönch in grauem Habit.¹⁵ Goethe kombiniert in der einer Berührung veränderte. Nicolaus Pfitzer: [Widmann, Georg Rudolf] Fausts Leben, hg. von Adalbert von Keller. Tübingen 1880, S. 212. Im zweiten Teil schenkt Faust den Hund dann einem Abt, mit dem er sich befreundet, da er auch die schwarzen Künste betreibt (vgl. Pfitzer: Fausts Leben, S. 397 f.). Zum Teufel in Gestalt eines Hundes vgl. Barbara Allen Woods: The Devil in Dog Form. A Partial Type-Index of Devil Legends. Berkeley 1959. Als prominenteste Verbindung von Magier und (schwarzem) Hund als spiritus familiaris gilt Cornelius Agrippa von Nettesheim, z. B. in den Anmerkungen bei Widmann/ Pfitzer, der die Situation Agrippas mit Faust vergleicht (vgl. Pfitzer: Fausts Leben, S. 213 f.). Ohne den Bezug zu Faust auch bereits bei Jean Bodin 1580 (De la Démonomanie des Sorciers, hg. von Virginia Krause, Christian Martin und Eric MacPhail. Genf 2016, I, 3 (S. 122) und in einer Ergänzung Johann Fischarts 1581 (De magorvm daemonomania, hg. von Tobias Bulang und Nicolai Schmitt, in Vorb., II, 1).  Vgl. Woods: The Devil in Dog Form, S. 60 f.  Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke, hg. von Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer. Stuttgart 2012, S. 16 f. Zu den zentralen Veränderungen der Faustbuch-Tradition in der Historia und den Bearbeitungen des englischen Faustbuchs, bei Widmann, Pfitzer und anderen vgl. Marina Münkler: Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts. Göttingen 2011, S. 149 – 193.  Historia (1587), S. 17, Z. 12.  Regieanweisung in der erweiterten Fassung Christopher Marlowe: Dr Faustus B-Text. In: Doctor Faustus and Other Plays, hg. von David Bevington und Eric Rasmussen. Oxford, New York 1995, S. 184– 246, hier: I, 3 vor v. 23 (S. 194).  Pfitzer: Fausts Leben, S. 107.Vgl. auch mit der Darstellung des Mephistopheles der Höllenzwänge in Johann Scheible (Hg.): Doktor Johannes Faust’s Magia naturalis et innaturalis oder Dreifacher Höllenzwang. Stuttgart 1849, Abb. 10, nach S. 46.  In der Historia von D. Johann Fausten erschrickt Faustus nicht über die Illusionen des Teufels, dieser präsentiert sich darauf aus eigenem Antrieb „in Gestalt eines grauwen Muͤ nchs“ (Historia [1587], S. 17, Z. 14). In Marlowes Tragedy of Doctor Faustus ruft der Gelehrte: „I charge thee to return and change thy shape. | Thou art too ugly to attend on me. | Go, and return an old Franciscan friar; | That holy shape becomes a devil best.“ (Marlowe: Dr Faustus, I, 3, vv. 23 – 26). Pfitzer schildert die Szene folgendermaßen: Der Teufel selbst (nicht der Geist Mephostopheles) blickt „Faustum an, worüber denn dieser sehr erschrack, und ihme befahl, er solte sich wiederum hinter den Ofen machen, wie er auch thate.

1.1 ‚Des Pudels Kern‘ oder Warum lacht Faust?

7

Studierzimmerszene einige Versatzstücke aus der Fauststoff-Tradition und lässt aus dem dämonischen Pudel gleich den Geist Mephistopheles entstehen, ohne den Satan selbst in einer notwendig schaurigen Form auf die Bühne bringen zu müssen. Die dämonischen Fratzen erschöpfen sich bei Goethe in dem grotesken Schattenspiel, als dessen Ergebnis der „fahrende Scholastikus“ erscheint. Die Erwartungen von Figur und Rezipient, ein grauenerregendes Monster zu erblicken, werden also nicht erfüllt. Anstatt Schauder folgt Lachen. Bis auf diese Bezeichnung bleibt die Kostümierung Mephistos ebenso vage wie der Grund der Verkleidung. Denn der folgende Dialog dreht sich nur um das Wesen Mephistos als „Geist der stets verneint“ (v. 1338). Was aber hat der Auftritt Mephistos zu bedeuten? Soll sein Erscheinen als „fahrender Scolast“ die bevorstehende „Bildungsreise“ Fausts präfigurieren?¹⁶ Oder ist es für Mephisto, den es als „Person ‚an sich‘ gar nicht“¹⁷ gibt, eine Notwendigkeit, sich an die Umgebung anzupassen – in diesem Fall an das akademische Umfeld als wandernder Student?¹⁸ Oder ist die Beschreibung als „fahrender Scholastikus“ nur ein blindes Motiv? Warum lässt Goethe Mephisto nicht als Mönch auftreten? Oder ist die Scholasten-Kleidung als Mönchshabit vorzustellen? Hinweise für die Funktion dieser Verkleidung Mephistos sind im Prozess der Werkgenese zu suchen. Noch am 3. April 1801 schreibt Goethe an Schiller: Ich hoffe daß bald in der großen Lücke nur der Disputationsaktus fehlen soll, welcher dann freilich als ein eigenes Werk anzusehen ist und aus dem Stegreife nicht entstehen wird.¹⁹

Diese Disputationes oder Quaestiones zwischen Faustus und Mephistopheles sind im Großteil der vorgehenden Faustbücher und ‐dramen ein Herzstück der Texte.²⁰ Auch in Goethes Faust sollte diese Passage nicht fehlen, wie der Brief an Schiller zeigt. Dabei ist sich die Forschung weitgehend einig, dass der konzeptionelle Ort des Disputationsakts zwischen der Pudel‐ und der Paktszene zu situieren sei.²¹ Spekulation

Darauf fragte ihn D. Faustus, ob er sich nicht anderst denn in einer so abscheulichen und greulichen Gestalt zeigen könnte? Der Geist antwortete Nein; Denn, sagte er, er wäre kein Diener, sondern ein Fürst unter den Geistern“ (Pfitzer: Fausts Leben, S. 107) und an späterer Stelle nach dem Schließen des Pakts erscheint „der Teuffel in eines grauen Münchs Gestalt“, in der ihm auch der Geist Mephostopheles begegnen werde (Pfitzer: Fausts Leben, S. 122).  Peter Matussek: Faust I. In: Theo Buck (Hg.): Goethe-Handbuch. Bd. 2: Drama. Stuttgart, Weimar 1996, S. 352– 390, hier S. 366.  Arens: Kommentar zu Goethes Faust I, S. 156.  Vgl. Arens: Kommentar zu Goethes Faust I, S. 156.  Goethe, Johann Wolfgang von: Briefe, Tagebücher und Gespräche von 24. Juni 1794 bis zum 9. Mai 1805. Teil II: Vom 1. Januar 1800 bis zum 9. Mai 1805, hg. von Volker C. Dörr und Norberg Oellers. Frankfurt a. M. 1999, S. 142.  In der Historia von D. Johann Fausten umfassen die Disputationen und Fragen Fausts die Kapitel 3 – 5 und 11– 17 und damit fast den ganzen ersten Teil. Bei Pfitzer umfassen sie die Kapitel 16 – 24.  Vgl. die Aussagen in der älteren Forschung bei Robert Petsch: Die Disputationsszene im Faust. In: Euphorion 22 (1915), S. 307– 317, hier S. 310 und Konrad Burdach: Die Disputationsszene und die

8

1 Einleitung

hingegen muss bleiben, ob konzeptionelle oder pragmatische Gründe Goethe von der Umsetzung dieses Werkteils abhielten, ob der Gehalt der Szene also nicht mehr zu den neuentstanden Dialogen in den Studierzimmerszenen passte oder ob schlicht Zeitmangel ausschlaggebend war.²² Den fragmentarischen Charakter seiner Tragödie hebt Goethe jedenfalls in Briefen immer wieder hervor.Vielleicht meinte er auch das Fehlen solcher Passagen, wenn er in seinen Tag- und Jahresheften für 1806 schreibt, er habe „Faust in seiner jetzigen Gestalt fragmentarisch behandelt“,²³ und „vielleicht läßt sich auch die Tatsache, daß er die Vorarbeiten zur Disputation sorgfältig aufbewahrt hat, als Hinweis darauf deuten, daß er ihre Ausführung noch nicht gänzlich aufgegeben hat.“²⁴ Fest steht, dass Goethe den Plan hatte, die ‚große Lücke‘ durch eine universitäre Disputation zu füllen. Unter den Vorarbeiten, die in den Paralipomena auf uns gekommen sind, befinden sich eine Gliederung und erste damit korrespondierende Ausformulierungen.²⁵ Durch diese zusätzliche Szene bekäme die als weitgehend unmotiviert erkannte Erscheinung Mephistos eine Funktion, da er in diesem universitären Kontext weiter als „Fahrender Scholastikus“ aufträte.²⁶ Die Szene ist folgendermaßen angelegt: Zwei Halbchöre aus Studenten geraten auf der Schwelle des Auditoriums aneinander. Das Gerangel scheint stark genrehaft und komödiantisch. Während die einen zum Mittagessen gehen wollen, streben die anderen zur Vorlesung: „Denn uns hat das Convikt gespeist | Lasst uns hinein wir wollen hier verdauen, | Uns fehlt der Wein, und hier ist Geist.“²⁷ Ein „Fahrender Scholasticus“ regelt nun das Chaos durch Binsenweisheiten, was einer der Schüler mit folgender Aussage quittiert: „Der ist vom fahrenden Geschlecht. | Er renomirt, doch er

Grundidee in Goethes Faust. In: Euphorion 27 (1926), S. 1– 69, hier S. 6, zusammengefasst bei Anne Bohnenkamp-Renken: „… das Hauptgeschäft nicht außer Augen lassend“. Die Paralipomena zu Goethes „Faust“. Frankfurt a. M. 1994, S. 231 f. Siehe weiter Schmidt: Goethes Faust, S. 118: „Vielleicht allerdings wollte Goethe ursprünglich zwischen den beiden Studierzimmer-Szenen mit ihrem sinnschweren Gehalt zur Auflockerung eine Genreszene aus dem Universitätsleben bloß als Kontrapunkt platzieren und damit beide Arten von ‚Disputation‘ kombinieren.“  Zusammenfassend zu den verschiedenen Forschungsmeinungen Bohnenkamp-Renken: Paralipomena, S. 232 f.  Johann Wolfgang von Goethe: Tag- und Jahreshefte, hg. von Irmtraut Schmid. Frankfurt a. M. 1994, S. 180. Vgl. weiter die Aussagen zu Faust II im Brief vom 8.9.1831 an Sulpiz Boisserée: „Nun sollte und konnte dieser zweite Teil micht so fragmentarisch sein als der erste“; Johann Wolfgang von Goethe: Die letzten Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethe Tod. Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode, hg. von Horst Fleig. Frankfurt a. M. 1993, S. 460.  Bohnenkamp-Renken: Paralipomena, S. 233.  Die beiden Paralipomena stellen zwar dieselbe Szene dar, jedoch gibt es auch inhaltliche und konzeptuelle Unterschiede. Beispielsweise tritt in der ausformulierten Szene der „Fahrende Scholastikus“ früher auf, Wagner und der Rektor aber bekommen keinen Auftritt. Ob das Schema oder die Ausformulierung zuerst stand, ist dabei unter Anbetracht von Goethes Arbeitsweise nicht abschließend zu klären. Vgl. Bohnenkamp-Renken: Paralipomena: S. 237 und weiter S. 820 – 828.  Vgl. auch Arens: Kommentar zu Goethes Faust I, S. 156.  Bohnenkamp-Renken: Paralipomena, S. 236, Z. 11– 14.

1.1 ‚Des Pudels Kern‘ oder Warum lacht Faust?

9

hat recht.“²⁸ Aus dem Szenenschema lässt sich entnehmen, dass es sich bei dem „Fahrenden Scholasticus“ um den verkleideten Mephisto handelt. Nachdem Faust eine geordnete Argumentation gefordert hat – „Schilt sein Schwadronir[en] | Verlangt daß er articuli[re]“²⁹ – führen die beiden nun einen Disput über die Grundeigenschaft der persona Mephistos, welcher gleich „ins Lob des Vagirens“³⁰ fällt. Nach der Gegenrede Fausts betont Mephisto abermals die praktischen „Kenntnisse die dem Schulweisen fehlen“.³¹ Die Gliederung endet mit einer Liste von Themen für die weitere Ausführung der Disputation, die von naturkundlichen bis zu ontologischen Fragestellungen reicht. Der einzige (zumindest rudimentär) ausgeführte Szenenteil der Disputation behandelt also Vor- und Nachteile des Vagantentums, motiviert den Auftritt Mephistos als „Fahrender Scholasticus“ und gibt gleichzeitig einem Konzept besonderes Gewicht, welches Goethe sicherlich noch 1801 als Teil seiner Tragödie gewusst haben wollte: der Figur des Vaganten, ‚fahrenden Schülers‘ oder Scholasticus vagans. Dieser Szenenentwurf beweist Goethes semantische und terminologische Differenzierung zwischen dem ‚fahrenden Scholasticus‘, in dessen Kostümierung Mephisto auftritt, und dem ‚normalen‘ wandernden Studenten, der seine Heimat verlassen muss, um an die Bildungsstätte zu gelangen. Diese Unterscheidung wird schließlich auch in der berühmten Schülerszene von Faust I (vv. 1868 – 2050) deutlich, da Goethe hier den Begriff des ‚fahrenden Scholasticus‘ konsequent vermeidet; der angereiste, um Rat fragende Schüler wird einer anderen Kategorie zugeordnet. Der wandernde Student steht dem fahrenden Scholasticus gegenüber. Dabei beruft sich Goethe auf einen Diskurs, der mindestens seit dem 16. Jahrhundert allgemein präsent ist. Das wird auch durch eine stichpunkthafte BleistiftAufzeichnung deutlich, die er wohl 1788 in sein Notizbuch von der Italienreise eintrug:³² Schola Druidica Faustus Scholasticus vagans Murr 699

Die Signatur am Ende der Notiz bezieht sich auf ein Buch, welches Goethe auf der Rückreise von Rom in Ulm kaufte, und zwar auf Christoph Gottlieb von Murrs Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in des H. R. Reichs freyen Stadt Nürnberg (1778). Das Buch enthält im Anhang ein Verzeichnis der deutschen Erfindungen, das

 Bohnenkamp-Renken: Paralipomena, S. 236, Z. 21 f.  Bohnenkamp-Renken: Paralipomena, S. 227, Z. 24 f.  Bohnenkamp-Renken: Paralipomena, S. 227, Z. 27.  Bohnenkamp-Renken: Paralipomena, S. 227, Z. 34 f.  Weimar, Goethe- und Schiller-Archiv, GSA 25/W 2491; Ed. in Bohnenkamp-Renken: Paralipomena, S. 112 (als H P13); Das Faksimile ist zugänglich über http://www.faustedition.net/.

10

1 Einleitung

auch den Buchdruck durch Johannes Gensfleisch (Gutenberg) und seinen Geldgeber Johann Fust (hier „Faust“) thematisiert. Dabei kommt Murr der Verwechslung mit dem anderen Johann Faust zuvor,³³ indem er klarstellt: Der Gauckel- oder Taschenspieler dieses Namens, den man irrig mit dem Maynzer Johann Faust verwechselte, und von dem man nachher die laͤ cherlichsten Maͤ hrchen ausheckte, lebte zu Trithemius Zeiten, wie man aus dessen Briefen pag. 312 ersehen kann.³⁴

Weiter präzisiert Murr diesen ‚anderen‘ Faust, den Faust der Frühen Neuzeit, der ‚Volksbücher‘ und später Goethes, mit einem Zitat aus den Epistolae medicinales von Conrad Gessner (1577). Im ersten Brief seiner Sammlung schrieb dieser an den kaiserlichen Arzt und seinen Freund Johann Crato von Krafftheim: Ex illa schola [Murr ergänzt hier sinngemäß Druidica] prodierunt, quos vulgo scholasticos vagantes nominabant, inter quos Faustus quidam non ita pridem mortuus, mire celebratur.³⁵

Natürlich ist diese Notiz Goethes nur ein unsicherer Hinweis, der keine endgültige Deutung zulässt, und hier soll keine unmöglich nachweisbare Autorintention rekonstruiert werden. Doch diese drei Textbeispiele machen Folgendes deutlich: Es besteht mindestens seit dem 16. Jahrhundert die Vorstellung, dass Faust zur Gruppe der scholastici vagantes (deutsch: ‚fahrende Schüler‘) gehöre und wegen seiner Herkunft von den gallischen (magiekundigen) Druiden zaubern könne. Dass diese Zuschreibungen auch Goethe bekannt waren, belegen seine Aufzeichnungen. Demnach impliziert das Auftreten Mephistos in der Maske des scholasticus vagans die magischdämonischen Eigenschaften, die im 16. Jahrhundert mit diesem Typus konnotiert werden und die sich gut in das Gefüge einer Teufelspakt-Geschichte einfügen. Der Zusammenhang im Städtelob Murrs (1778) und die Rezeption durch Goethe (~1788) geben Hinweise, dass der Begriff der scholastici vagantes oder fahrenden Schüler im 18. Jahrhundert durchaus Teil des kulturellen Gedächtnisses war, sodass selbst das kurze Stichwort von den kundigen Rezipienten Goethes verstanden werden konnte. Gleichzeitig aber wird offensichtlich, dass sich die Aussagen weder auf ein soziales Phänomen der zeitgenössischen Gegenwart beziehen noch aktive Teile des

 Diese Verwechslung bestand – z. T. intendiert – bereits seit dem 16. Jahrhundert, sodass wechselweise Faust die Erfindung des Buchdrucks und Fust magische Praktiken unterstellt wurden. Vgl. dazu Nicolas Detering: Buchdruck. In: Carsten Rohde, Thorsten Valk und Mathias Mayer (Hg.): FaustHandbuch. Konstellationen – Diskurse – Medien. Stuttgart 2018, S. 121– 128, hier S. 122 – 124.  Christoph Gottlieb von Murr: Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in des H. R. Reichs freyen Stadt Nürnberg und der hohen Schule zu Altdorf. Nebst einem chronologischen Verzeichnisse der von Deutschen, insonderheit Nürnbergern, erfundenen Künste, vom XIII Jahrhunderts bis auf jetzige Zeiten. Nürnberg: Eberhard Zeh 1778, S. 699.  Conradi Gesneri Epistolarum medicinalium libri III. Zürich: Christoph Froschauer d. J. 1577, S. 1v; Übers. P. R. ‚Aus jener Druidenschule kamen die hervor, die man gemeinhin die Fahrenden Schüler nennt und unter denen ein gewisser Faust, der erst vor Kurzem gestorben ist, einen besonderen Ruf hat.‘ Vgl. dazu weiter Kapitel 12.3.4.

1.2 Grundlegende Annahmen

11

kommunikativen Gedächtnisses sind. Vielmehr rekurriert er mit archaisierender Tendenz auf das Phänomen ‚Fahrender Schüler‘, das im 16. Jahrhundert mit spezifischen Konnotationen, Attributen und Mythen versehen wurde und im 18. Jahrhundert als „die laͤ cherlichsten Maͤ hrchen“ abgetan werden konnte. Die angedeuteten Aspekte geben der Beantwortung der einleitend gestellten Frage eine weitere Dimension: Wenn es sich beim „fahrenden Scholasten“ um eine typische Figur komischer Textformen handelt, wird die Thematisierung des Lachens als Reaktion Fausts nicht nur legitim, sondern notwendig. Auch die gespreizte Ausdrucksweise „Der Kasus macht mich lachen“ passt zu der Konfrontation des akademischen Lehrers mit einer schwankhaften Figur. Und schließlich handelt es sich um eine gewitzte Konstellation, wenn der Teufelsbeschwörer Faust eine Entität beschwört, welche als Figur auftritt, die ihrerseits in volkstümlichen Traditionen mit Magie und Teufelspakt konnotiert ist. Demnach beschwört der Beschwörer einen Beschwörer. Faust wird ein Spiegel vorgehalten, sein Abbild jedoch durch die Jugend und vor allem den schwankhaft-komischen Charakter verzerrt. Wie ein eigener Lachanfall oft nur subjektiv zu erklären ist, scheint es auch nicht möglich, das Figurenlachen Fausts auf einen einzigen Grund zurückzuführen. Ohne eine abschließende Erklärung anzustreben, wurde hier doch deutlich, dass die Kostümierung Mephistos als ‚fahrender Scholast‘ nicht willkürlich ist, dass man manche Implikationen aber nur mit Blick auf die Tradition der einzelnen Motive und Muster erkennen kann. Die vorliegende Studie versucht die literarische Tradition des ‚Fahrenden Schülers‘³⁶ durch eine umfassende Analyse aufzuzeigen.

1.2 Grundlegende Annahmen Einige Grundannahmen der folgenden Untersuchung will ich anhand der Darstellung des bereits erwähnten frühneuzeitlichen Druiden-Diskurses verdeutlichen, zumal dieser in enger Verbindung mit den scholastici vagantes steht. Dieser Mythos, auf den Murr wie auch Gessner referieren, thematisiert die Rückführung der Kulturation Germaniens auf die vertriebenen griechisch-gallischen Druiden. Durch die Gleichsetzung antiker Stammesverbände mit zeitgenössischen ‚Staatsgebilden‘ postuliert er eine Emanzipation von der übermächtig erscheinenden französischen und vor allem italienischen Kunst und Gelehrsamkeit. Durch die direkte Abstammung von den griechischen Druiden mit den Galliern als ‚Vermittlerkultur‘ habe Deutschland dieselben Voraussetzungen und sei kulturell ebenso bedeutsam wie Italien, für welches die römische Kultur die Vermittlerposition zur griechischen Kultur (Troja) einnehme.³⁷ Diese kulturpolitisch legitimistische ‚Erfindung einer Tradition‘ im Rahmen erster

 Im Folgenden steht ‚Fahrender Schüler‘ mit Majuskel und ohne Anführungszeichen, da ich die Verbindung aus Adjektiv und Substantiv als begriffliche Einheit fasse.  Mehr dazu in Kapitel 12.3.4.

12

1 Einleitung

nationalstaatlicher Bestrebungen im Humanismus wurde vor allem von Konrad Celtis in seinen Texten um 1495 geprägt.³⁸ Gessner greift diese Vorstellung auf und erweitert sie dahingehend, dass er versucht, die Existenz der ‚Fahrenden Schüler‘ zu erklären. Aus den Kulturbringern und Vorgängern humanistischen Arkanwissens³⁹ habe sich eine deviante Gruppe bettelnder „Gauckel- oder Taschenspieler“ entwickelt. Diese Zusammenhänge führen direkt zum Gegenstand der vorliegenden Studie. Denn das Beispiel demonstriert, dass eine Rückführung des Phänomens auf eine sozialhistorische Wirklichkeit nicht den Kern des Problems trifft. Man kann einwenden, dass Mobilität während der schulischen und universitären Ausbildung⁴⁰ eine realhistorische Basis haben kann wie möglicher krimineller Gelderwerb und deviante Karrieren unter Lernenden. Dennoch gehe ich davon aus, dass die konkreten Ausprägungen des Phänomens ‚Fahrender Schüler‘, wie sie in den Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit begegnen, aus einer Kombination und Transformation bestehender literarischer Muster zusammengesetzt sind. Die Verbindung der Notwendigkeit räumlicher und der Möglichkeit sozialer Mobilität angehender Gelehrter zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit prägte den literarischen Diskurs und erzeugte so ein konkretes Muster, welches durch veränderte historische Konstituenten variiert oder transformiert werden konnte. Das führt mich zu meiner ersten These: Der Fahrende Schüler ist in seiner konkreten Ausprägung ein Resultat literarischer Konstruktion, welches keine direkten Rückschlüsse auf die außerliterarische Wirklichkeit zulässt. Durchaus sind aber indirekte Rückschlüsse auf den außerliterarischen Kontext möglich, und zwar durch die Untersuchung der Konstellationen und Funktionalisierungen des Phänomens. Bei den kulturpolitischen Implikationen des (erfundenen) Druidenmythos und seinem Bezug zu den Fahrenden Schülern handelt es sich beispielsweise um eine solche Funktionalisierung. Aufgrund dessen greift die Analyse der rezeptionsästhetischen Prozesse und intertextuellen Bezüge zu kurz. So kann die in der Einleitung rekonstruierte Textreihe von Goethe über Murr und Gessner bis Celtis mit Schwerpunkt auf den Rezipienten oder den Text beschrieben werden. Gerade die ideologischen und funktionalisierenden Aspekte sind so jedoch nur unzureichend offengelegt. Eine Möglichkeit des Einbezugs der Perspektive des Produzenten in diese komplexen Überlieferungs-, Beeinflussungs- und Funktionalisierungsprozesse bietet das Konzept des literarischen Traditionsverhaltens. Meine zweite These lautet demnach: Das Motiv des Fahrenden Schülers bildet eine literarische Reihe, für deren Interpretation das Konzept des Traditionsverhaltens (v. a. ab dem 16. Jahrhundert) ein nützliches Instrument ist. Diese These lässt sich noch konkretisierend erweitern: Die Transformationen des Musters ‚Fahrender Schüler‘ ab dem 15. Jahrhundert stellen ein Symptom für den Mentalitätswandel gegen Ende des Mittelalters dar. Auch die Kon Vgl. Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Berlin 2003, S. 378.  Vgl. Robert: Celtis, S. 382.  Über die genaue Ausprägung dieser peregrinatio academica herrscht auch innerhalb der sozialhistorischen Forschung keine Einigkeit. Vgl. Kapitel 2.1.4.

1.2 Grundlegende Annahmen

13

junkturen dieses Motivs im 16. und wieder im 19. Jahrhundert sind in mentalitätsgeschichtliche Prozesse einzuordnen. Um das Traditionsverhalten in einem literarischen Text substantiell erörtern zu können, ist eine differenzierte Analyse des Traditionsmaterials und – je nach Möglichkeit – des Entstehungskontextes notwendig. Gleichzeitig schärft eine spätere Strukturierung und Schematisierung den Blick auf frühere Texte. Denn während der Fahrende Schüler erst im 16. Jahrhundert definiert und von anderen Studenten- und Schülerfiguren unterschieden wird, kommen Begriff und Konzept auch schon früher vor. In der Forschung wurde ihre Dominanz beispielsweise in mittelhochdeutscher Versnovellistik zwar erkannt, eine Interpretation mithilfe außerliterarischer Realien hat sich jedoch als problematisch erwiesen. Da davon auszugehen ist, dass der Diskurs über den Fahrenden Schüler ebenso den grundsätzlichen Regeln literarischer Texte folgt, gelange ich zur dritten Annahme: Der kritische Einbezug der schematisierenden Definition des Fahrenden Schülers im 16. Jahrhundert bietet eine Möglichkeit, auch den Blick auf ältere Texte zu schärfen. Aus den angestellten Überlegungen ergibt sich ein weiteres Problem, wenn man es auf die anschließende Erörterung der Forschungsgeschichte zum Fahrenden Schüler bezieht: Da Wissenschaftler durch Vor-Urteile geprägt sind und so stets an einem dynamischen „Überlieferungsgeschehen“⁴¹ teilnehmen, wirken auch Forschungsbeiträge traditionsprägend oder -verändernd. Dieser Umstand kann durch das möglichst objektive Offenlegen von Theorie und Methode zwar minimiert, jedoch nie ausgeschlossen werden. Besonders evident wird dies in den älteren Forschungsbeiträgen, sei es weil sich bestimmte Standards noch nicht etabliert haben, sei es wegen der zeitlich objektivierenden Distanz des gegenwärtigen Betrachters. Es wird festzustellen sein, dass zwischen den frühen Germanisten ab Mitte des 19. Jahrhunderts und den Dichtern der Romantik sowie des Historismus eine komplexe Interdependenz besteht. So komme ich zu meiner letzten Vorannahme: Die intensive wissenschaftliche Beschäftigung im 19. Jahrhundert ist (gegenstandsbezogen) als Beitrag zur Forschung und (wissenschaftsgeschichtlich) als Untersuchungsgegenstand zu betrachten.

 Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 51986, S. 295.

2 Zur Forschung Die folgende Forschungsskizze bietet einen weitgehend chronologischen Überblick von einem ersten lateinischen Forschungsbeitrag aus dem universitären Späthumanismus über die Forschung in der frühen Philologie des 19. Jahrhunderts, die den Fahrenden Schüler als Verfallsphänomen der ‚Vagantendichter‘ ansah, bis zu aktuellen Ansätzen. Für diese ist eine Unterscheidung zwischen dem literaturwissenschaftlichen und dem sozial-/kultur-/universitätsgeschichtlichen Forschungsstand notwendig, da hier – gegenseitig wenig beachtet – voneinander abweichende Ergebnisse erreicht wurden.¹

2.1 Discursus historico-philologicus de vagantibus scholasticis – ein erster Forschungsbeitrag In seinen sprachvergleichenden Studien postuliert Conrad Gessner die Abhängigkeit der Fahrenden Schüler in Deutschland von der klandestinen, arkangelehrten Gemeinschaft der Druiden. Der erste als kultur- oder sozialgeschichtlich zu bezeichnende Beitrag zur vorliegenden Forschungsfrage widerspricht Gessners Position zwar, kann ihn als fachliche Autorität aber auch nicht umgehen. Es handelt sich um den Discursus historico-philologicus de vagantibus scholasticis sive Von Fahrenden Schuͤ lern aus dem Jahr 1675 (Leipzig: Johann Georgi). Dabei handelt es sich um die akademische Disputatio des Johannes Ulrich Meyer (Respondent) unter dem Vorsitz von Jakob Thomasius, der unterschiedlich mit dem Attribut ‚Späthumanist‘ oder ‚Frühaufklärer‘ versehen wurde.² Selbstverständlich ist die Zuordnung dieses Textes zur aktuellen Forschungslage problematisch und man würde ihn eher im Corpus der Primärtexte erwarten. Dort wird er auch eine zweite kritische Durchsicht erfahren. Durch den akribischen Verweis auf seine Quellen und die stringente Argumentation kann diese Abhandlung, die nach zeitgenössischer Zuschreibung als „curiös“³ zu bezeichnen  Auf dasselbe Problem verweist auch Rudolf Münz aus der Perspektive der Theaterwissenschaft (wenn auch mit Schwerpunkt auf die musizierenden Fahrenden der mittelalterlichen Giulleria): „Wenn überhaupt, werden Forschungsergebnisse von Vertretern anderer deutschsprachiger Disziplinien – meist verkürzt – wiedergegeben, so der Musikwissenschaft, der Literaturwissenschaft, der Kulturwissenschaft, der Medizingeschichte, der Soziologie, der Medienwissenschaft oder der allgemeinen Geschichtswissenschaft“; Rudolf Münz: Sind ‚die großen Erzählungen‘ im Theater zu Ende? In: Gerda Baumbach (Hg.): Theaterkunst & Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie. Köln 2002, S. 327– 424, hier S. 364 f. (mit Verweis auf Forschungsbeiträge aus den Einzeldisziplinen).  Vgl. Herbert Jaumann: Jakob Thomasius, ein protestantischer Späthumanist. Seine Dissertationes und Programmata zur Philosophiegeschichte. In: Reimund B. Sdzuj, Robert Seidel und Bernd Zegowitz (Hg.): Dichtung – Gelehrsamkeit – Disputationskultur. Wien 2012, S. 587– 603, hier S. 589. Detailliert dazu vgl. Kapitel 12.3.4. An dieser Stelle geht es v. a. um die Inhalte und weniger um den Entstehungskontext.  Jaumann: Späthumanist, S. 589. https://doi.org/10.1515/9783110708349-003

2.1 Discursus historico-philologicus de vagantibus scholasticis

15

wäre, durchaus als erste wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen des Fahrenden Schülers gelten. Da die Disputatio bis auf den kurzen Verweis bei Jaumann noch nie beschrieben wurde, will ich diesem alten ‚Forschungsbeitrag‘ hier etwas mehr Platz einräumen. Der Traktat führt das Thema ein, indem er zwei historische (§ 1) und zwei qualitativ moralische Kategorien (§ 2) der Armut von Vaganten unterscheidet. Sowohl ‚früher als auch heute habe eine große Schar von Menschen, die nicht von ihrem eigenen Gut leben könne, Deutschland durchwandert‘.⁴ Unter ihnen seien einerseits Bettler aufgrund widriger Umstände, andererseits profitgierige und schamlose falsche Bettler und Hausierer, die ‚lieber mit üblen Tricks als mit eigener Arbeit ihre Bedürftigkeit lindern wollen.‘⁵ Der zweiten Gruppe seien die zuzuordnen, die ‚vor ungefähr zweihundert Jahren‘ gelebt hätten und ‚die man auf Deutsch die fahrenden Schüler nenne‘,⁶ deren lateinische Bezeichnung am ehesten vagantes Scholastici wäre, wobei er auch Studiosi und Scholares akzeptiert. Im Folgenden rechtfertigt er das niedere Thema, indem er im Stil einer captatio benevolentiae die ‚Lustigkeit des Gegenstandes‘ und den ‚Mangel an wissenschaftlicher Beschäftigung mit ihm‘ anführt⁷ – dieselben Argumente könnte man nach fast 350 Jahren noch genauso nennen. Als Grund für die wissenschaftliche Randstellung ist das moralische Argument (Nam et plurimi indignos judicarunt nullius frugi homines, qvorum memoriam scriptis suis insererent, § 7) heute obsolet, die Einschätzung, dass die Fahrenden Schüler als Phänomen zeitlich und räumlich sehr eng auf das Deutschland von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis 1545 zu beschränken sind, dezidiert zu hinterfragen.⁸ Als seine beiden Hauptquellen nennt die Disputatio Heinrich Bebels Fazetien (§ 13 f.) als älteste und völlig vertrauenswürdige Quelle für die historischen Hintergründe⁹ und Martin Crusius, in dessen Annales Suevici er eine satis accuratam Scholasticorum vagantium descriptionem (§ 15), also ‚eine recht genaue Beschreibung der Fahrenden Schüler‘, mit guten Ergänzungen zu den anderen Quellen findet. Ausgehend von den beiden Autoren kommt er zu folgender Definition (§ 24):

 Si qvoqvam tempore alio, hoc sane peragravit nostram Germaniam, et peragrat etiamnum magna vagantium hominum multitudo, qvi, qvum propriis sumptibus non possint, aere alieno victitare qværunt; Thomasius/Meyer: Discursus § 1. auf den Unterschied zwischen den alten und den ‚modernen‘ Bettlern geht er noch in § 9 – 11 genauer ein.  Aliter sentiendum de iis, qvi artibus malis potius, qvam labore sublevare student egestatem suam (§ 3)  [Sub hoc altero, quod omnino neqvitiæ est, vexillo, militarunt etiam] ante duo circiter secula homines qvidam, qvos germanice die fahrenden Schuͤ ler appellamus; Thomasius/Meyer: Discursus § 4.  argumenti jucunditate, (lepida enim qvædam, dum horum hominum historiam exeqvimur, miscenda venient,) tum penuria scriptorum de isto disserentium; Thomasius/Meyer: Discursus § 6.  In Thomasius/Meyer: Discursus § 7 und den detaillierteren Ausführungen in § 108 – 164. Vgl. dazu Kapitel 12.3.4.  Neqve enim antiqviorem eo, qvi de his Circulatoribus scripserit, inspicere contigit nobis, et de ipsius fide dubitandi causa non est; Thomasius/Meyer: Discursus § 13.

16

2 Zur Forschung

Daraus […] erkennt jeder, dass die Fahrenden Schüler Folgendes waren: (1.) Herumtreiber, die (2) sich als Gelehrte ausgaben und (3) ihren Lebensunterhalt mit üblen (Zauber‐)Tricks verdienten, wobei sie besonders (4) mit der Kenntnis nützlicher Magie warben, (α) im 15. Jahrhundert n. Chr. und bis vor etwa 200 Jahren (β) in unserem Deutschland lebten (γ) und mit einem gelben Netz um die Schultern gekleidet gewesen zu sein scheinen. ¹⁰

Die weitere Gliederung des Traktats zerfällt dann – diesem Schema folgend – in sieben Teile, welche den einzelnen Zuschreibungen (1) Mobilität, (2) Gelehrtheit, (3) üble Tricks, (4) Zauberkünstler und den einzelnen Rahmenbedingungen (a) Zeit, (b) Ort und (c) Kleidung zugeordnet sind. In den genaueren Ausführungen setzt er sich immer wieder von gelehrten Autoritäten ab, vor alle von Conrad Gessner.¹¹ Darauf rekurriert er noch am Ende seines Discursus in Verbindung mit einer zweiten captatio benevolentiae (§ 166): Hæc fuerunt, qvæ de Scholasticis vagantibus obtulere se nobis. Qvos si qvis dicat indignos fuisse, qvorum conservaretur memoria, non repugnabimus. Et veniam tamen sperabimus huic nostræ commentationi, qvod ea relatæ ab aliis in literas historiæ ipsorum, a viris etiam qvibusdam doctissimis, ut Gesnero, parum exploratæ, ac potius involutæ tenebris, aliqvam lucem accendere fuerimus conati.¹²

Der Discursus setzt sich also kritisch mit dem von ihm vorgefundenen Wissensstand auseinander, um – wie er es selbst ausdrückt – Licht in die Finsternis zu bringen. Damit reflektiert er einen Diskurs, dem er in Teilen selbst noch folgt, sich jedoch schon im Rahmen des Paradigmenwechsels vom frühneuzeitlichen Humanismus zur frühen Aufklärung abzugrenzen beginnt.¹³ Mit seiner Position in der Dynamik des Wandels und der umfassenden Reflexion und ideengeschichtlichen Einordnung der Aussagen der Frühen Neuzeit nimmt er eine nicht unbedeutende Rolle im Diskurs über den Fahrenden Schüler ein. Daher untersuche ich ihn in einem zweiten Durchgang nochmals – und zwar weniger als wissensvermittelnden Forschungsbeitrag, sondern als Teilnehmer an der Tradierung von Vorstellungen von und Zuschreibungen an den Fahrenden Schüler.¹⁴  Ex iis […] nemo non videt, Scholasticos vagantes fuisse (1.) circulatores, qvi (2.) literatos se professi (3.) victum qværerent malis artibus, præprimis (4.) peritiam Magiæ beneficæ præ se ferentes, α) secula post Christum natum XV. atque adeo ante annos circiter ducentos, β) in Germania nostra, γ) vestiti circa humeros reticulo flavo visi [Herv. im Orig.].  Vgl. Kapitel 12.3.4.  Übers. P. R.: ‚Das war, was sich uns über die fahrenden Schüler zeigte. Wenn irgendeiner sagt, dass sie es nicht wert seien, ihre Erinnerung zu bewahren, werde ich nicht widersprechen. Und dennoch werde ich auf Nachsicht für meine Abhandlung hoffen, weil ich mit dieser versucht habe, in eine Geschichte, auf die sich andere in ihren eigenen Schriften beziehen und die manche hochgelehrte Männer wie Gessner zu wenig untersuchten und sogar noch mehr verfinsteren, etwas Licht zu bringen.‘  Vgl. auch Herbert Jaumann: Öffentlichkeit und Verlegenheit. Frühe Spuren eines Konzepts öffentlicher Kritik in der Theorie des plagium extrajudicale von Jakob Thomasius (1673). In: Scientia Poetica 4 (2000), S. 62– 82.  Vgl. Kapitel 12.3.4.

2.2 Vom Verfall des gelehrten ‚Vagantentums‘ – ältere Forschungsansätze

17

2.2 Vom Verfall des gelehrten ‚Vagantentums‘ – ältere Forschungsansätze Die Disputation bei Jakob Thomasius wurde in der neu einsetzenden Beschäftigung mit Fahrenden Schülern, wenn überhaupt dann nur marginal beachtet. So erwähnt ihn Wilhelm von Giesebrecht, dessen Aufsatz „Die Vaganten oder Goliarden und ihre Lieder“ von 1853 die folgende Forschung maßgeblich prägte,¹⁵ in einer knappen, eher despektierlichen Fußnote: Nur über die fahrenden Schüler des 15. und 16. Jahrhunderts handelt eine wunderlich pedantische Dissertation von J. Thomasius, die aber für diese Zeit manches Material beibringt.¹⁶

Grund für dieses Urteil ist wohl neben der humanistischen ‚Pedanterie‘ des Discursus die Interessensverschiebung der scientific community des 19. Jahrhunderts auf frühere Epochen. Diese ist mit einer Konzentration auf die Rekonstruktion der Ursprünge verbunden und intensivierte sich durch das Wiederentdecken alter Codices, v. a. des nach seinem Fundort Benediktbeuern benannten Codex Buranus. ¹⁷ Dieser fachte das Interesse für mittellateinische ‚Vagantenlieder‘ neu an. Man stellte die ‚Vaganten‘ in eine Reihe mit den Fahrenden Schülern, wobei man gemäß einem teleologischen Schema „diese Erscheinung in ihrer Entstehung, Entfaltung, Blüte und ihrem Verfalle“¹⁸ verfolgte. Im 12. und 13. Jahrhunderts habe die Dichtung des ‚Vagantentums‘

 Wilhelm von Giesebrecht: Die Vaganten oder Goliarden und ihre Lieder. In: Allgemeine Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur 4 (1853), S. 10 – 43 und S. 344– 381. Danach sind an wissenschaftlichen Beiträgen zum ‚Vagantentum‘ unter andem zu nennen: Max Büdinger (1854) und Julius Feifalik (1861), die auf die Ursprünge der ‚Vagantendichtung‘ in Österreich und in Böhmen verweisen. Außerdem im deutschsprachigen Raum Oscar Hubatsch (1870), Ludwig Laistner (1879), Kuno Francke (1879), Johannes Ilberg (1889), Karl Marold (1890 f.), Nicolaus Spiegel (1888 – 1908), Wilhelm Meyer (1907), Hermann Suchier/Adolf Birch-Hirschfeld (1900), Gustav Gröber (1902), Max Häßner (1905), Siegfried Jaffe (1908), Holm Süssmilch (1917), Leo Jordan (1925), Johann J. A. A. Frantzen (1919 – 1921), Paul Lehmann (1922 f.), Hennig Brinkmann (1924 f.), Hans Naumann (1924), Karl Strecker (1926 – 1928), Max Manitius (1931), Martin Löpelmann (1940) und Martin Bechthum (1941). Eine umfassende Forschungsgeschichte bietet Marian Weiß: Die mittellateinische Goliardendichtung und ihr historischer Kontext. Komik im Kosmos der Kathedralschulen Nordfrankreichs. Univ.-Diss. Gießen 2018, S. 23 – 43, zur frühen Forschung vgl. S. 23 – 32.  Giesebrecht: Vaganten, S. 41 (Anm. 2).  Mehr dazu in Kapitel 13.2.  Giesebrecht: Vaganten, S. 11. Vgl. dazu auch die Gliederung bei Martin Bechthum: Beweggründe und Bedeutung des Vagantentums in der lateinischen Kirche des Mittelalters. Jena 1941. Diese Dissertation von 1941 fasst summarisch und detailgenau die Forschung zur ‚Vagantenlyrik‘ zusammen, sodass die Ergebnisse oft noch in modernen Forschungsbeiträgen zitiert werden. Auch wenn sich explizite Verweise auf dezidiert rassistisches Gedankengut und völkische Stammesvorstellungen bei Bechthum auf die Einleitung konzentrieren und in der weiteren Argumentation keinen hervorgehobenen Stellenwert haben, ist eine Studie auf solcher Basis doch hoch unzuverlässig. Vgl. dazu Uwe Puschner: Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Göttingen 22012, S. 164.

18

2 Zur Forschung

ihre Blüte erlebt, die „ihre Poesieen der näheren Beachtung und Würdigung sehr werth“¹⁹ mache. Im Gegensatz dazu spricht Giesebrecht die Verfallserscheinungen der „späteren Phasen des Vagantenthums in Deutschland“ nur kurz an, da in ihnen „die Poesie […] immer mehr in den Hintergrund [trete], und die schwarze Kunst und Alchemie ihre Stelle“ einnehme, bis schließlich „[a]ls die völlig entarteten Nachfolger […] im 16. Jahrhundert die Bacchanten und Schützen […], der Auswurf der damals schlecht genug bestellten Schulen,“ hervorträten.²⁰ Giesebrecht konstruiert so eine absteigende Reihe vom poetischen Vaganten über den fahrenden Schüler als Zauberkünstler des 15. Jahrhunderts bis zu den bettelnden und stehlenden Bacchanten und Schützen. Obwohl er ‚Fahrender Schüler‘ dem allgemeinen Sprachgebrauch seiner Zeit folgend als neutralen Überbegriff über alle diese Phänomene verwendet,²¹ ist doch eine wertende Differenzierung zwischen ‚Fahrendem Schüler‘ und ‚Vagant‘ festzustellen: Während er den ersten mit Betrug und sozialer Devianz konnotiert, stilisiert er den zweiten zu einer Sehnsuchtsfigur akademischer Freiheit und Geselligkeit. Insgesamt kreist die Beschäftigung der älteren Forschung mit den lateinischen ‚Vaganten‘-Liedern um drei Problemkreise: (1) die Einteilung in Epochen und Periodisierung des Phänomens, (2) die Differenzierung von (poetisch hohen) Vaganten und ihren Deviationen (Goliarden, fahrenden Schülern, Bacchanten) und schließlich (3) etymologische Fragestellungen, v. a. bezüglich der philologischen Herleitung der Bezeichnung ‚Goliarde‘, wobei diese Debatte „heute selbst als goliardesk zu bezeichnen“²² sei. Man konstruierte einen ‚Vagantenmythus‘, der die Verfasser der Vaganten- oder Goliardendichtung mit „verbummelte[n] Studenten“²³ gleichsetzt. Eine „weltbekannte[ ] Vorkämpferin“²⁴ dieses ‚Vagantenmythus‘ ist Helen Waddell mit ihrem Buch The Wandering Scholars. ²⁵ Sie legte die wohl erfolgreichste und wirkmächtigste Beschäftigung mit ‚Vaganten‘ überhaupt vor, wurde überaus häufig zitiert²⁶ und inspirierte auch den Komponisten Gustav Holst zu einer Kammeroper mit demselben Namen (Op. 50).²⁷ Waddell prägte und popularisierte mit ihrem Buch vor allem im anglophonen Raum ein spezifisches Bild vom ‚fahrenden Scholaren‘, verstellte dadurch aber auch den Weg für eine differenziertere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema: „For too long, fanciful theories about denizens of the

 Giesebrecht: Vaganten, S. 27.  Giesebrecht: Vaganten, S. 41.  Vgl. Giesebrecht: Vaganten, S. 11 et passim.  Rudolf Münz: Giullari nudi, Goliarden und ‚Freiheiter‘. In: Rudolf Münz und Gisbert Amm: Theatralität und Theater. Zur Historiographie von Theatralitätsgefügen. Berlin 1998, S. 104– 140, hier S. 122.  Hermann Suchier und Adolf Birch-Hirschfeld: Geschichte der französischen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig, Wien 1905, S. 172.  Heinrich Naumann: Dichtung für Schüler und Dichtung von Schülern im lateinischen Mittelalter. In: Der altsprachliche Unterricht 17 (1974), S. 63 – 84, hier S. 70.  Helen Waddell: The Wandering Scholars [1927]. London 191980.  Vgl. Felicitas Corrigan: Helen Waddell. A Biography. London 1986, S. 234 und Weiß: Goliardendichtung, S. 204 u. ö.  Vgl. Imogen Holst: A Thematic Catalogue of Gustav Holst’s Music. London 1974, S. 178 f.

2.2 Vom Verfall des gelehrten ‚Vagantentums‘ – ältere Forschungsansätze

19

highways and taverns have been allowed to prevail in connection with the repertory.“²⁸ Jedoch gab es bereits vor den Kritikern von Helen Waddell Stimmen gegen einen ‚Vagantenmythus‘, v. a. Salvatore Santangelo (1902)²⁹ und Wilhelm Meyer (1907), dessen Meinung in der Aussage deutlich wird, die Literaturgeschichte sei „allmählich zu der sonderbaren Anschauung gekommen, daß die weltlichen Gedichte des Mittelalters und provenzalischer, französischer und deutscher Sprache zumeist von Edelleuten, die in lateinischer Sprache zumeist von Lumpen gedichtet“.³⁰ Auch Karl Langosch zieht einen fiktionalen Status der Dichtung in Erwägung, wenn er betont, der Verfasser brauchte „selber kein Vagant zu sein, kein Vagantenleben zu führen“, sondern der konnte „sich kraft seiner Phantasie in die Vagantensituation hineindenken und -fühlen“.³¹ Dennoch sei seiner Meinung nach „jene Gattung zur Hauptsache von den Vaganten begründet und entwickelt zu denken.“³² Die Perspektive auf eine Beschäftigung mit den weltlichen lateinischen Liedern verändert sich maßgeblich ab Ende der 1960er Jahre, vor allem nach Heinrich Naumanns Aufsatz mit dem provokanten Titel „Gab es eine Vaganten-Dichtung?“ Er stellt sich dezidiert gegen die allgemeine Forschungsmeinung, die er als „Vagantologie“³³ desavouiert, und führt Argumente dagegen an, dass die namhaft fassbaren Autoren Vaganten gewesen³⁴ und die anonymen Texte von Vaganten gedichtet worden seien. Weiter vertritt er die These, die Lieder seien „von Akademikern, von Schülern und Studenten, von Magistern und Professoren“³⁵ verfasst worden. Der Terminus der ‚Vagantendichtung‘ müsse also als unzureichend verworfen werden, da er nur „im Dienste des Establishments“³⁶ stehe. Stattdessen gibt Naumann, „da das Geistliche und das Weltliche hier kaum zu trennen sein wird, […] der Bezeichnung ‚gereimte‘ oder ‚rhythmische Akademikerdichtung‘“³⁷ den Vorrang. Er verweist auch auf die Kontamination des Mittelalterbildes durch unzeitgemäße Interpretationen im Geist der Romantik des 19. Jahrhunderts oder der Wandervogelbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts.³⁸ In Naumanns kurzem Text blieben zwar einige Aspekte unzurei Bryan Gillingham: The Social Context of ‚Goliardic‘ Song: Highway, Court, and Monastery. In: Dalhousie Review 82 (2002), S. 75 – 90, hier S. 75.Vgl. ebenso Bryan Gillingham: The Social Background to Secular Medieval Latin Song. Ottawa 1998, S. 1.  Salvatore Santangelo: Studia sulla Poesia Goliardica. Palermo 1902, S. 1 f.  Wilhelm Meyer: Die Oxforder Gedichte des Primas (des Magisters Hugo von Orelans). In: Nachrichten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse 13 (1907), S. 75 – 111 und 113 – 175, hier S. 76.  Karl Langosch: Profile des lateinischen Mittelalters. Geschichtliche Bilder aus dem europäischen Geistesleben. Darmstadt 1965, S. 242  Langosch: Profile des lateinischen Mittelalters, S. 242.  Heinrich Naumann: Gab es eine Vaganten-Dichtung? In: Der altsprachliche Unterricht 12 (1969), S. 69 – 105, hier S. 70 et passim.  Dies räumt freilich auch schon Waddell: Wandering Scholars, S. VI ein.  Naumann: Gab es eine Vaganten-Dichtung?, S. 105.  Naumann: Dichtung für Schüler, S. 61 f.  Naumann: Gab es eine Vaganten-Dichtung?, S. 105.  Vgl. Naumann: Gab es eine Vaganten-Dichtung?, S. 105.

20

2 Zur Forschung

chend thematisiert, doch er erreicht es, den Blick auf die lateinische Dichtung mit weltlichem Inhalt zu schärfen. So stellt er fest, dass „[g]erade das Bekenntnis zum Vagieren […] in der mittellateinischen ‚Vaganten-Dichtung‘, bis auf eine Ausnahme (CB 199, 3) nirgends“³⁹ zu finden sei. Naumanns Uminterpretation des Begriffes der ‚Vagantenlieder‘ folgt auch Paul Gerhard Schmidt, der die Texte größtenteils als „Schul- und Geistlichendichtung, in der das gelehrte Element dominiert“,⁴⁰ bewertet.Weiter ordnet er in Anlehnung an die sog.Vagantenstrophe cum auctoritate (dem Strophenschluss mit expliziter Anlehnung an einen Gewährsmann) zahlreiche Gedichte (v. a. Walthers von Châtillon) in den Kontext der karnevalesken Feierlichkeiten des Bakelfestes ein. Eine Relativierung dieser Auffassung als reine Schuldichtung erfahren die weltlichen Lieder durch Peter Dronke, der betont: „Such songs as the love-songs in the Carmina Burana were not exactly ‚school-exercise‘ (a favourite term of the scholars of Schumann’s generation)“.⁴¹ Stattdessen antizipiert er den Vorwurf einer romantisierenden Deutung⁴² und sagt, es handle sich um „songs of an intellectual world in its less intellectual, extramural hours, songs for singing, for company, for entertainment, but surely also for expression of one’s own deeply felt loves or – in some of the satiric songs – hates“.⁴³ Die Annäherung an eine Trägerschicht aus dem (klerikalen) Gelehrtentum für die Goliardendichtung (des 12. und 13. Jh.) hat jüngst Marian Weiß vertreten. Er verortet den Großteil seines Textkonvoluts aufgrund biographischer, zeitlicher, räumlicher, stilistisch-intentionaler, thematischer und situativer Indizien an den Kathedralschulen Nordfrankreichs.⁴⁴ Auch Bryan Gillingham referiert auf die Konstruktion eines ‚Vagantenmythus‘, wobei er die Goliarden schließlich als „part of the array of diversified types involved in the production at court, church and monastery intended to amuse those who could pay“⁴⁵ ansieht. Nach der Untersuchung verschiedener sozialer Institutionen des Mittelalters (Hof, Schule, Universität, Kloster) kommt er zu dem Schluss, dass im  Naumann: Gab es eine Vaganten-Dichtung?, S. 71 f. Diese Feststellung trifft nur auf die ‚kanonische Vagantendichtung‘ in den bekannten Textsammlungen zu und sie muss etwas relativiert werden, wenn man z. B. folgende Lieder einbezieht; Karl Strecker: Zwei mittellateinische Liedchen. In: ZfdPh 51 (1926), S. 117– 119. Gewiss aber ist gemäß Naumann zu konstatieren, dass die ältere Forschung einzelne Texte überbewertete und aus diesen ein Panorama entwarf, welches dann auch als Hintergrund für andere, gänzlich verschiedene Texte diente.  Paul Gerhard Schmidt: Das Zitat in der Vagantendichtung. Bakelfest und Vagantenstrophe cum auctoritate. In: Antike und Abendland 20 (1974), S. 74– 87, hier S. 74.  Peter Dronke: The Medieval Poet and his World. Rom 1984, S. 268.  „It is one thing to construct imaginary biography out of the love-poet’s literary persona; but to suggest that the love-poet was concerned exclusively with formal correctness, not at all with love, seems equally a defiance of common sense“; Dronke: Medieval Poet S. 269  Dronke: Medieval Poet, S. 268.  Vgl. Weiß: Goliardendichtung, S. 349 – 375. Indizien, dass es sich bei den Kompilatoren um Studenten zumindest gelehrte Personen gehandelt habe, nennt Marisa Galvez: Songbook. How Lyrics Became Poetry in Medieval Europe. Chicago, London 2012, S. 36 – 38.  Gillingham: Secular Medieval Latin Song, S. 42. Ähnlich auch Gillingham: ‚Goliardic‘ Song.

2.2 Vom Verfall des gelehrten ‚Vagantentums‘ – ältere Forschungsansätze

21

12. Jahrhundert durch die Öffnung der Klöster und die Dominanz adliger Laienbrüder auf der einen und die althergebrachte Stellung als Bewahrer und Vermittler des (literarischen) Wissens auf der anderen Seite Klöster wie Cluny die wichtigste Rolle spielten – noch vor der bedeutenden Kathedralschule in Paris und der in ihrer Bedeutung wachsenden Universitäten.⁴⁶ Dieses Ergebnis ist nicht völlig zu verwerfen und klösterliche Einflüsse scheinen evident, doch sind die Ableitungen der lateinischen weltlichen Lieder einzig (oder vor allem) von der klösterlichen Sphäre zu bezweifeln und bereits bezweifelt worden, z. B. von Elizabeth Leach, die in ihrer Rezension konkret Aussagen über Kontext und Provenienz der säkularen Vagantenlieder problematisiert.⁴⁷ Und damit schließt sich der Kreis zu Helen Waddell, die im Vorwort zur sechsten Auflage als Reaktion auf erste kritische Stimmen einräumt: „The truth is that, with very few exceptions, there is no pigeon-holing possible.We cannot often say that this was written by a vagabond and this by an archdeacon“.⁴⁸ Gerade durch ihre Ambiguität und Multivalenz entziehen sich die Texte einer eindeutigen sozialhistorischen Klassifizierung, und es stellt sich die Frage, ob eine solche Einordnung überhaupt notwendig ist. Einen anderen Weg schlägt daher Arthur George Rigg ein, indem er – ohne den bestehenden Kanon zu zerstören⁴⁹ – mit Blick auf die Praxis der materialen Tradierung durch Schreiber betont: „The myth, rather than the reality, is my concern here.“⁵⁰ Er enttarnt die Autorenbezeichnungen ‚archipoeta‘, ‚Golias‘ sowie ‚Primas‘, ‚Gauterus‘ und ‚Walter Map‘ als Pseudonyme, welche einen Mythos konstruierten, der regional variiere: The name of the hero changes: in Germany he is the Archpoet, in France he is Primas, in England he is Golias (and later Walter Mapes). The exploits of the hero are literary: they consist of poems of a distinct, but changing, character. […] I believe, the various names of the poet-hero of the literary myth were accepted as convenient authors of a recognized, if fluctuating, canon of poems. This limited corpus of poems should, perhaps, restrict the modern concept of Goliardic as a literary genre.⁵¹

 Vgl. Gillingham: Secular Medieval Latin Song, S. 172.  Elizabeth Eva Leach: The Social Background to Secular Medieval Latin Song by Bryan Gillingham. In: Music & Letters 80 (1999), S. 621– 624, hier S. 622.  Waddell: Wandering Scholars, S. VII. Zu einer Auswertung der Terminologie auf der Basis von Waddell vgl. Edwin H. Zeydel: Vagantes, Goliardi, Joculatores. Three Vagabond Types. In: Sheema Z. Buehne, James L. Hodge und Lucille B. Pinto (Hg.): Helen Adolf Festschrift. New York 1968, S. 42– 46. Doch auch er verharrt auf einer Suche der sozialhistorischen Hintergründe, ohne die literarischen Dynamiken zu beachten.  „It is certainly not my contention that the canons of works of these poets [Hugo von Orléans, Walther von Châtillon etc.], established with careful and imaginative scholarship, are to be rejected: in most cases they rest on internal references and stylistic considerations“; Arthur George Rigg: Golias and Other Pseudonyms. In: Studi medievali. 3a serie 18 (1977), S. 65 – 109, hier S. 66.  Rigg: Golias, S. 66.  Rigg: Golias, S. 107 f.

22

2 Zur Forschung

Aus der Untersuchung dieses Texcorpus folgert er: Den genannten Pseudonymen ist kein Text vor dem Ende des 12. Jahrhunderts zuzuordnen; es finden sich keine genuinen Liebes- oder Trinklieder. Ebenso besteht kein Zusammenhang mit Spielleuten, sehr wohl aber mit religiösen Themen.⁵² Die Auffassung von ‚Goliarden-Dichtung‘ weicht demnach auch in den mittelalterlichen/frühneuzeitlichen Kompilationen von der kolportierten Auffassung einer romantisierenden ‚Vagantenlyrik‘ ab. Es ist kein fester ‚Sitz im Leben‘ festzustellen; ebenso ist abgesehen von der handschriftlichen Überlieferung ein Zusammenhang der Texte generell höchst fraglich, was die Einordnung in das Werk eines expliziten Autors nur in Ausnahmefällen ermöglicht. In einem Punkt ist sich die Forschung aber weitgehend einig: Man sollte die Textgruppe nicht ‚Vaganten-‘ oder ‚Goliardendichtung‘ nennen, da es sich um eine „bequeme, aber irreführende Bezeichnung für einen großen Teil der weltl[ichen] lat[einischen] Lyrik des 12. und beginnenden 13. Jh.“⁵³ handele, die sich in der älteren Forschung etabliert habe, da die „Freiheit des Wortes, die aus diesen Dichtungen spricht, […] unter respektablen Leuten nicht vorstellbar gewesen zu sein“⁵⁴ schien. Deshalb wurden die Texte einer „sozialen Randgruppe [zugewiesen], abgesunkenen, herumziehenden, ewigen Studenten und stellungslosen Klerikern“,⁵⁵ wie sie auch in Synodalbeschlüssen und anderen historischen Dokumenten Erwähnung finden. Die Rückführung des Corpus lateinischer weltlicher Lieder auf eine soziokulturelle Grundbedingung wie dem Klischee der lustig wandernden Studenten ist nicht tragfähig. Wenn man an der (auch international) etablierten Bezeichnung ‚Goliardendichtung‘ festhalten will, ist es nötig, die Begriffsverwendung dergestalt zu präzisieren, dass man zwischen dem „Goliarden“ und dem „Goliardendichter“ streng unterscheidet.⁵⁶ In den Textreihen des 12. und 13 Jahrhunderts begegnen nämlich durchaus Selbstzuschreibungen zu „Golias traditions“.⁵⁷ Genauso ist die Vorstellung von einem ‚Vagantenorden‘ nicht auf einer sozialen Grundlage zu suchen, sondern in einem imaginären Narrativ. Wenn ich im Folgenden also von ‚Goliarden-‘ ‚Vaganten-‘ oder ‚Studentendichtung‘ spreche, dann meine ich nicht Texte von Vaganten/Studenten/ Schülern, sondern Texte über Vaganten/Studenten/Schüler als literarische Figuren: „Als V[agantendichtung] dürfte man daher allenfalls die Dichtung vom Betteln und Vagieren bezeichnen. Deren Entstehung wäre aber selten im Kreis wirkl[icher] Vaganten zu suchen – so wie z. B. Räuberlieder gewöhnl[ich] nicht von Räubern gedichtet sind“.⁵⁸ Zwar relativiert Bernt seine Aussage dahingehend, dass er schreibt:

 Rigg: Golias, S. 109.  Günter Bernt: [Art.] Vagantendichtung. In: LexMA 8, Sp. 1366 – 1368, hier Sp. 1366.  Bernt: [Art.] Vagantendichtung, Sp. 1366.  Bernt: [Art.] Vagantendichtung, Sp. 1367.  Vgl. Weiß: Goliardendichtung, S. 6 f.  Josef Szövérffy: Secular Latin Lyrics and Minor Poetic Forms of the Middle Ages. A Historical Survey and Literary Repertory from the Tenth to the Late Fifteenth Century. Concord (NH) 1992– 95, Bd. 2, S. 441. Vgl. auch Rigg: Golias, passim.  Bernt: [Art.] Vagantendichtung, Sp. 1367.

2.3 Neuere Beiträge zur Mobilität vormoderner Studenten

23

„abgesehen vielleicht von dem einen oder anderen Stück wie CB 218, 224 f.“⁵⁹ Diese Einschränkung ist meiner Meinung nach jedoch nicht notwendig, da auch CB 218 ein hochartifizielles Kunstwerk mit zahlreichen parodistischen Bezügen zur Benediktsregel ist.⁶⁰

2.3 Neuere Beiträge zur Mobilität vormoderner Studenten 2.3.1 Literaturwissenschaftliche Ansätze Während die Wissenschaft der lateinischen Gelehrtendichtung eine gewisse Aufmerksamkeit schenkte, blieben die Fahrenden Schüler des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit weitgehend unbeachtet. Nur bei wenigen der frühen Germanisten des 19. Jahrhunderts ging die Beschäftigung darüber hinaus, diese als Verfallsphänomen gegenüber der Literatur des 13. Jahrhunderts vorzuführen. Umfassend beschäftigte sich Nicolaus Spiegel nach dem Vorbild Giesebrechts mit der ‚Blüte des Vagantentums‘ und beharrte dabei vor allem auf der realen Präsenz eines Vagantenordens,⁶¹ wobei seinen Thesen schon früh scharf widersprochen wurde.⁶² Aber er veröffentlichte auch mehrere Untersuchungen, die explizit die Fahrenden Schüler des 15. und 16. Jahrhunderts zum Thema haben. Dabei konzentriert er sich auf die Bettlerkataloge (z. B. Liber Vagatorum) und die Autobiographien Thomas Platters und Johannes Butzbachs.⁶³ In seinen Studien nimmt er den Fahrenden Schüler des 15. und 16. Jahrhunderts als soziales Phänomen wahr und setzt damit neben der lateinischen ‚Vagantendichtung‘ des 10. bis 12. Jahrhunderts einen zweiten Fokus an Forschungsbeiträgen zu mobilen angehenden Gelehrten. Es fällt auf, dass das Spätmittelalter (13. und 14. Jh.) eine signifikante Lücke zwischen den beiden Textcorpora bildet. Aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive mit Schwerpunkt auf der  Bernt: [Art.] Vagantendichtung, Sp. 1367.  Eine etwas genauere Besprechung erfahren die wenigen lateinischen Lieder über Vaganten in Kapitel 7.  V. a. Nicolaus Spiegel: Die Vaganten und ihr ‚Orden‘. Speyer 1892.  Vgl. Holm Süßmilch: Die Lateinische Vagantenpoesie des 12. und 13. Jahrhunderts als Kulturerscheinung. Leipzig, Berlin 1918, S. 17 und Paul Lehmann: Die Parodie im Mittelalter. München 1922, S. 218 f. [Stuttgart 21963, S. 159 f.] sowie Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. München 1911– 1931, Bd. 3, S. 965. Im Gegensatz dazu werden die überholten Ergebnisse der ältesten Forschung auch in neueren Beiträgen wiederholt, z. B. in R. Gordon Goodrum: „Carmina Burana“: The Poetry of Wandering Scholars and Wayward Clerics. In: The Choral Journal 36 (1995), S. 9 – 12, hier S. 10 f. und Vittorio Cecchini: I Goliardi e i Loro Canti Scelti dai Carmina Burana e da Altri Testi. La Goliardia dai clerici vagantes alla sua Rinascita. Pisa 1985.  Zu den Bettlerkatalogen vgl. Nicolaus Spiegel: Gelehrtenproletariat und Gaunertum. Vom Beginn des XIV. bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts. Schweinfurt 1902 und zu den Autobiographien Nicolaus Spiegel: Das fahrende Schülertum. Ein Ergebnis der deutschen Schulverhältnisse während des XV./XVI Jahrhunderts.Würzburg 1904.Vgl. zu den Gegenständen außerdem Kapitel 5.1 und 12.3.3. Zur Rezeption der Gegenstände in der frühen Forschung vgl. Kapitel 13.2.

24

2 Zur Forschung

Performanz versucht Rudolf Münz diese Lücke zu schließen, indem er die frühneuzeitlichen wandernden Studenten mit der italienischen Giullaria vergleicht.⁶⁴ Wie Nicolaus Spiegel bewerten auch andere Studien diese Gegenstände eher als sozial- oder bildungsgeschichtliche Quellen denn als literarische Texte, obwohl bei vielen der Überlieferungszeugen eine literarische Brechung evident ist. Ein wichtiger Forschungsbeitrag ist das Buch Motive des Studentenlebens in der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts von Herbert Nimtz.⁶⁵ Es konzentriert sich auf den Quellenwert der Texte als Beitrag zur Analyse der studentischen Kultur, nimmt aber nicht den konkreten literarischen Eigenwert der Texte in den Blick. Außerdem liegt der Fokus der Studie auf dem 17. und 18. Jahrhundert. Dennoch stellt Nimtz ein reichhaltiges Arsenal an Texten mit Regesten und scharfsinnigen Detailbeobachtungen zur Verfügung und bietet zahlreiche wichtige Impulse zum Thema allgemein. In anderen motivgeschichtlichen Analysen zum Studenten/ Schüler in der Literatur fehlt die Vormoderne (fast) komplett.⁶⁶ Im Zuge der systematischen Beschäftigung mit mittelalterlichen Kurzerzählungen, die mit Hanns Fischers Studien zur deutschen Märendichtung einsetzte, wurde das Spektrum der mediävistischen Beschäftigung mit Studentenfiguren um eine breite Textgruppe des späten Mittelalters erweitert. In seiner Figurentypologie machte Hanns Fischer den Studenten zu einer eigenen Kategorie neben den ständisch verorteten Typen des Ritters und des Pfaffen. Dabei stehe der Student „[i]n der Nähe des Pfaffen […] als der angehende Kleriker“, sei jedoch einer „eigenen ständischen Gruppe zugehörig“.⁶⁷ Im Gegensatz zum Pfaffen, der als beliebte Ehebrecher- und Verlachfigur der Märendichtung präsentiert wird, bezeichnet Fischer den Studenten als „eine Lieblingsgestalt des Märes“, da er nur positive Züge trage.⁶⁸ Dennoch wird der Typus des Studenten neben einigen Einzelanalysen von Mären oder Versnovellen⁶⁹ mit Studenten selten in der Sekundärliteratur behandelt. Einzig  Vgl. Münz: Giullari nudi und Münz: Große Erzählungen, passim.  Herbert Nimtz: Motive des Studentenlebens in der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Würzburg 1937.  Vgl. Ronald Dietrich: Der Gelehrte in der Literatur. Literarische Perspektiven zur Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems. Würzburg 2003 und Katharina von Ruckteschell: Gefangene der Freiheit. Studien zum Typus des Studenten in der Literatur des europäischen Realismus. Frankfurt a. M., Bern u. a. 1990.  Hanns Fischer und Johannes Janota: Studien zur deutschen Märendichtung. Tübingen 21983, S. 121.  Fischer/Janota: Märendichtung, S. 121. Ähnlich formuliert (mit Verweis auf die geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen von Ernst Schubert) Andrea Moshövel: Von ‚hübschen‘ Studenten und kundigen Frauen. Rüdeger von Munre: ‚Irregang und Girregar‘. In: Nathanael Busch und Björn Reich (Hg.): Vergessene Texte des Mittelalters. Stuttgart 2014, S. 175 – 186, hier: S. 178: „In der Erzählliteratur ist der ‚fahrende Scholar‘ oder ‚fahrende Schüler‘ eine der Lieblingsfiguren der Schwankdichter.“  Während sich die Gattungsbezeichnung ‚Märe‘ auf die umstrittene, aber wirkmächtige Definition von Hanns Fischer bezieht, versuchen alternative Bezeichnungen wie Kurzerzählung, Versnovelle und dgl. die starren und inhaltlich meist nicht gerechtfertigten Grenzen zu relativieren, ohne jedoch den heuristischen Vorteil eines festen Textcorpus zu verlieren. So zum Beispiel im DFG-Projekt „Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts“ (2009 – 2018) und der

2.3 Neuere Beiträge zur Mobilität vormoderner Studenten

25

die Fragestellung zum ‚Sitz im Leben‘ der Mären bezieht die ‚Studenten-Mären‘ häufig in die Forschungsdiskussion ein. So bestand in der älteren Forschung die communis opinio, dass die Studenten als angehende Kleriker die Autoren der Mären wären, was aus der positiven Darstellung oder auch den Anspielungen auf die Schreibfähigkeit der studentischen Protagonisten im Märe gefolgert wurde.⁷⁰ Fischer nennt die positive Konnotation von Studenten im Märe „eine Form der Selbstempfehlung“⁷¹ und Schirmer konstatiert: „Sicher sind an den Fabliaux in gleichem Maße wie bei den deutschen Schwänken ‚Studenten‘ (clers lettrés) beteiligt gewesen.“⁷² Dieser Feststellung folgt Wailes, schränkt sie aber insofern ein, als eine konkrete Autorschaft für die deutschen Mären nicht ermittelt werden könne. Bei den Autoren der Mären sei dennoch wie auch bei den Rezipienten wegen ihres klerikalen Sachverstandes „notions of clerical curialitas“⁷³ und wegen ihrer Anspielungen auf höfische Literatur- und Wertekonzepte „a good knowledge of courtly literature“⁷⁴ anzunehmen. Auch Birgit Beine widmet den Studenten ein Kapitel in ihrer Monographie zu Geistlichen in Mären des deutschen Mittelalters. In ihrer Sammlung von Mären mit klerikalem Personal liefert sie einen klassifizierenden Überblick über Studenten-, Schüler- und Schreiberfiguren mit Haupt- oder Nebenrollen und interpretiert diese kulturgeschichtlich.⁷⁵ Doch die Arbeit wurde scharf kritisiert, was vor allem an ihrer methodischen Nähe zur alten Forschung ohne den Einbezug neuerer narratologischer Methoden und einem Mangel textanalytischer Reflexion liegt.⁷⁶ Mireille Schnyder fasst ihre Kritik folgendermaßen zusammen: „Die Textwelten sind nicht bedacht vor lauter Suche nach einer gespiegelten (auch verkehrt gespiegelten) ‚Realität‘.“⁷⁷ Beines Thematisierung der Studenten stelle dabei eine der größten Schwachstellen in der Arbeit dar. Denn sie präsentiere die

daraus hervorgegangenen Edition (2020). Wie weite Teile der gegenwärtigen Forschung gebrauche ich die Gattungsbezeichnungen ‚Versnovelle‘ und ‚Märe‘ weitgehend synonym. Allgemeine Vorannahmen zur Textgruppe finden sich auch im Kapitel 8.2.  Vgl. Fischer/Janota: Märendichtung, S. 208 f.; Karl-Heinz Schirmer: Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Versnovelle. Tübingen 1969, S. 126, 299 und 326 – 329, Stephan L. Wailes: Vagantes and the Fabliaux. In: Thomas Darlington Cooke und Benjamin L. Honeycutt (Hg.): The Humor of the Fabliaux. A Collection of Critical Essays. Columbia 1974, S. 43 – 58 und Gerhard Köpf: Märendichtung. Stuttgart 1978, S. 42.  Fischer/Janota: Märendichtung, S. 208.  Schirmer: Stil- und Motivuntersuchungen, S. 326. Zu den französischen Fabliaux Per Nykrog: Les Fabliaux. Genève 1973, S. 132 f., aufbauend auf Joseph Bédier: Les Fabliaux. Études de Littérature Populaire et d’Histoire Littéraire du Moyen Âge. Paris 1893, S. 347– 356.  Wailes: Vagantes and the Fabliaux, S. 58.  Stephan L.Wailes: Students as Lovers in the German Fabliau. In: Medium Aevum 46 (1977), S. 196 – 211, hier S. 210.  Vgl. Birgit Beine: Der Wolf in der Kutte. Geistliche in den Mären des deutschen Mittelalters. Bielefeld 1999, hier v. a. S. 225 f.  Vgl. Sabine Wienker-Piepho: Rezension zu Birgit Beine: „Der Wolf in der Kutte.“. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 41 (2001), S. 208 f. und Mireille Schnyder: Rezension zu Birgit Beine „Der Wolf in der Kutte“. In: PBB 124 (2002), S. 526 – 528, hier S. 528.  Schnyder: Rezension, S. 528.

26

2 Zur Forschung

Gruppe der ‚Studenten, Schüler und Schreiber‘ geschlossen als Theologiestudenten und angehende Geistliche, wobei sie die Ergebnisse der sozialhistorischen Forschung weitgehend vernachlässige.⁷⁸ Sie weitet den Begriff clericus der Terminologie seit dem 12. Jahrhundert entsprechend auf alle Formen der Gebildeten aus,⁷⁹ behandelt die jedoch vom geweihten Priester bis zum Schreiber gleich. Diese Pauschalisierung ist problematisch, da „auf Schüler und Schreiber […] die immer wieder zur Argumentation herangezogenen Zölibatsregeln und weitgehenden Privilegien nicht zu[träfen].“⁸⁰ Auch in der Frage der Autorschaft der Mären folgt sie mit ansprechenden Simplifizierungen den Konzepten von Fischer und Schirmer, wobei sie die Studenten als „vagierende[ ] Kleriker“ darstellt, die „während ihres Universitätsaufenthalts Kenntnisse der Logik und Psychologie [!] erworben“⁸¹ und als mittellose Fahrende in Wirtshäusern ihre Schwänke zum Besten gegeben hätten. Die Studenten hätten also als Verfasser der Mären oder Fabliaux die literarischen Texte genutzt, „um ihrem schlechten Ruf entgegenzuwirken“.⁸² Zugleich müssten die Studenten der deutschen Mären wie auch der französischen Fabliaux Akzeptanz unter der Bevölkerung erfahren haben, denn sonst wäre für diese (sowohl als Autor wie auch als Figur in der Erzählung) keine so ausschließlich positive Darstellung möglich. Als Grund gibt Beine ein für mittelalterliche Dichtung ungültiges psychologisches Argument an: Es ist anzumerken, daß gerade der Student als Vertreter des freien Lebens und der steten Abwechslung für den etablierten Bürger trotz des damaligen ausgeprägten Sicherheitsbedürfnisses die Verkörperung seiner verborgenen Sehnsüchte darstellte.⁸³

Die Erwägung von Studenten als Autoren der Mären ist in der Forschung zur mittelalterlichen Kleinepik zu Recht umstritten. Dabei ähnelt die Argumentation der Diskussion über die Lieder der lateinischen Gelehrtendichtung, für die auch keine stichhaltigen, objektiven Beweise zur Verfasserschaft abzugeben sind, da diese meist auf übergeneralisierten vereinzelten Quellen und modernen Projektionen beruhen. Die Frage nach den Autoren der kleinepischen Texte kann sowohl geschichts- als auch literaturwissenschaftlich nicht abschließend beantwortet werden.⁸⁴ Im Folgenden ist – wie bei der ‚Goliardendichtung‘ – streng zwischen Objekt und Subjekt des Textes zu unterscheiden, also zwischen ‚Studenten-Mären‘ als Texten, die von Studenten verfasst worden sind, und Texten, in denen Studenten als Figuren auftreten. Während die

 Vgl. Beine: Wolf in der Kutte, S. 220.  Vgl. Beine: Wolf in der Kutte, S. 18.  Vgl. zu diesen Kritikpunkten Schnyder: Rezension, S. 527.  Beine: Wolf in der Kutte, S. 233.  Beine: Wolf in der Kutte, S. 233. Beine verweist dabei auch auf Nykrog: Les Fabliaux, S. 132.  Beine: Wolf in der Kutte, S. 236.  Eine Parallele der Autoren von Fabliaux und schwankhafter Kleinepik erwägt Jean-Charles Payen: Goliardisme et fabliaux. Interfe´rences ou similitudes? Recherches sur la fonction ide´ologique de la provocation en litte´rature. In: Jan Goossens u. Timothy Sodmann (Hg.): Third International Beast Epic, Fable, and Fabliau Colloquium. Kö ln, Wien 1981, S. 267– 289.

2.3 Neuere Beiträge zur Mobilität vormoderner Studenten

27

erste Textgruppe allenfalls konstruktiv eruiert werden kann, ist eine Strukturierung nach dem zweiten Kriterium weitgehend unproblematisch. Mit ‚Studentenmären‘ beschäftigt sich auch Sebastian Coxon. Er erweitert die Darstellung der litterati bei Beine um eigene Ansätze. Die zentralen Fragen seiner Untersuchung sind: (1) Gibt es poetologische Gesetzmäßigkeiten, die das Auftreten von litterati bestimmen? (2) Gibt es eine Entwicklung bei diesen Typen? (3) Inwiefern kommt Selbstreflexivität in diesen Mären zum Tragen? (4) Welche literaturgeschichtlichen und soziohistorischen Kontexte sind für die Rezeption dieser Texte bedeutsam? Zu der bereits erwähnten Verfasserfrage merkt er an, dass eine Autorschaft der Studenten durchaus möglich sei, dass dieser Aspekt aber nicht überbewertet werden sollte.⁸⁵ So gebe es Hinweise, dass Erzähler und Protagonist dieselbe Person seien, doch diese Hinweise könnten auch ein poetologisches Spiel sein, und damit eine textimmanente Funktion haben.⁸⁶ Coxon kommt zu dem Schluss: „It seems more likely that in a large number of these texts the choice of such literate protagonisttypes is determined by internal literary functions“.⁸⁷ Die Frage, wieso die sexuell sehr aktiven litterati im Märe (im Gegensatz zu den ebenso lese- und schreibfähigen Geistlichen) in ihren amourösen Abenteuern meist erfolgreich sind und in Erzählerkommentaren positiv dargestellt werden, beantwortet er mit ethnologischen Ansätzen. Coxon referiert die Möglichkeiten der litterati als positive Identifikationsfiguren und merkt an, dass man den Weg zur Universität als „rite of passage“⁸⁸ mit den Schritten Separation (Verlassen des Zuhauses), Liminalität (Studium) und Assimilation (Rückkehr in die Gesellschaft) sehen kann.⁸⁹ Zum anderen deutet er diesen Umstand soziologisch mit Blick auf mögliche Rezipienten: Die Studenten ergäben durch die Kombination von „intellectual advantages“ und „a fundamental material disadvantage“⁹⁰ eine ideale Figur „to be the scourge of other detested or truly threatening categories of person such as peasantry, priests and women.“⁹¹ Die Studenten hätten die Fähigkeiten die anderen ‚gefährlichen‘ Personengruppen zu plagen, könnten aber dem Selbstwertgefühl der (weitgehend) männlichen und vermögenden Rezipienten des gehobenen Bürgertums und des Adels selbst durch ihre gesell-

 Vgl. Sebastian Coxon: ‚schrîber kunnen liste vil‘. Literate Protagonists and Literary Antics in the Medieval German Comic Tale. In: Oxford German Studies 31 (2002), S. 17– 62, hier S. 57.  Vgl. Coxon: schrîber, S. 43.  Coxon: schrîber, S. 57.  Coxon: schrîber, S. 58. Vgl. dazu mehr in Kapitel 11.  Zur Liminalitätsthese vgl. weiter Alison Williams: Tricksters and Pranksters. Roguery in French and German Literature of the Middle Ages and the Renaissance. Amsterdam, Atlanta (GA) 2000, S. 9 f. und Kapitel 9.4.2.  Coxon: schrîber, S. 58.  Coxon: schrîber, S. 58. Eine volkskundliche Analyse schriftkundiger Figuren in Liedern, Balladen, Witzen und Schwänken bietet Sabine Wienker-Piepho: „Je gehrter, desto verkehrter“? VolkskundlichKulturgeschichtliches zur Schriftbeherrschung. München, Berlin 2000. Jedoch verbleibt sie bei den Texten vor dem 15. Jahrhundert oft in einem vagen Verzeichnis von Erzähltypen ohne eine überlieferungskritische Perspektive.

28

2 Zur Forschung

schaftliche Außenseiterrolle nicht gefährlich werden.⁹² Daher sei auch über die derben Scherze der Studenten ein befreiendes Lachen möglich gewesen. Doch diese These hat mit der historischen Rezeptionssituation als großer Unbekannten zu kämpfen und ist leicht anzufechten, sofern Aussagen getroffen werden, die über die narrative Funktion in den Texten hinausgehen.

2.3.2 Sozial- und bildungsgeschichtliche Ansätze Interessiert einen die Frage, ob für die Verfasserschaft von einzelnen Textsorten, z. B. Mären oder ‚Vagantenliedern‘, Schüler oder Studenten in Frage kommen, sind außerliterarische oder realhistorische Argumente zentral; dabei handelt es sich eigentlich auch um sozial- oder bildungsgeschichtliche Aspekte, die in der Frühgermanistik eine zentrale Stellung einnahmen.⁹³ Doch auch in der aktuellen Situation ist eine große thematische Schnittmenge zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft evident und daher interdisziplinäre Kooperation dringend nötig, vor allem in der Literaturgeschichte. ⁹⁴ Gerade neuere Beiträge der sozial- und kulturgeschichtlichen Universitätsforschung heben den besonderen Stellenwert und die Spezifik literarischer Texte als Quellen hervor.⁹⁵ Die Beschäftigung mit den Texten, die ältere Studien noch als Abbild für die sozialgeschichtliche Situation werteten, wurden der Literaturgeschichte

 Vgl. Coxon: schrîber, S. 58.  Bis in die 1890er Jahre gab es noch keine trennscharfe Unterteilung der Disziplinen. Vgl. Wilfried Barner: Literaturwissenschaft – eine Geschichtswissenschaft? München 1990, S. 6 – 9.  Allgemein dazu die Beiträge in Matthias Buschmeier, Walter Erhart und Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin, Boston 2014.  Umfassende Hinweise für eine Beschäftigung mit verschiedenen Quellensorten zur mittelalterlichen Universität ca. 1200 – 1600 bietet: Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel und Maximilian Schuh (Hg.): Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch. Stuttgart 2018; zur frühneuzeitlichen Universität: Ulrich Rasche (Hg.): Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven. Wiesbaden 2011. Zusammenfassend zum Forschungsstand in der mediävistischen und frühneuzeitlichen Geschichtswissenschaft weiter Marian Füssel und Wolfgang Eric Wagner: Studentenkulturen. Begriff – Forschungsstand – Perspektiven. In: JbUG 17 (2014), S. 39 – 55, hier S. 40 – 49 und Rainer Christoph Schwinges: Resultate und Stand der Universitätsgeschichte des Mittelalters vornehmlich im deutschen Sprachraum. Einige gänzlich subjektive Bemerkungen. In: Mensch – Wissenschaft – Magie. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20 (2000/2001), S. 97– 119. Ein wichtiger Beitrag zur Universitätsgeschichte der Frühen Neuzeit ist Dominique Julia und Jacques Revel: Les Universités Européennes du XVIe au XVIIIe Siècle. Paris 1986/1989. Eine aktuelle Übersicht zur umfangreichen französischen Forschung zur Universitätsgeschichte vom 19. bis 21. Jahrhundert bietet Jacques Verger: État actuel et Perspectives de la Recherche en France sur l’Histoire des Universités Médiévales. In: JbUG 17 (2014), S. 9 – 19. Zur Forschung in Italien vgl. Giovanna Petti Balbi: Qui causa studiorum peregrinantur. Studenti e Maestri. In: Sergio Gensini (Hg.): Viaggiare nel Medioevo. Pisa 2000, S. 299 – 316.

2.3 Neuere Beiträge zur Mobilität vormoderner Studenten

29

überantwortet, im Gegenzug aber eine Vielzahl anderer Zugänge zur Geschichte der Universität und ihrer Besucher ermittelt und systematisiert. Die „literarischen Texte und Darstellungen“ nehmen dabei den Status einer Quellensorte für die Untersuchung der Repräsentation der Universität als symbolische Ordnung neben anderen ein.⁹⁶ In diesem Rahmen wurde auch der als Selbstverständlichkeit erachteten Zusammengehörigkeit von Studium und permanenter Mobilität in der Vormoderne dezidiert widersprochen. Grundlage für diesen Wandel der Forschungsmeinung zur Universitätsgeschichte sind die prosopographischen Untersuchungen von Rainer Christoph Schwinges. Nach einer Analyse von Immatrikulationslisten und der „Reichsfrequenz“ (d. h. der Zahl der Besucher deutscher Universitäten) des 14. und 15. Jahrhunderts kommt er zu dem Ergebnis, dass man das „alte Schlagwort vom ‚fahrenden Scholarentum‘ […] wie so viele Mythen der Universitäts- und Bildungsgeschichte beiseite legen“⁹⁷ könne. Denn „[h]öchstens 20 bis 25 Prozent der deutschen Universitätsbesucher wechselten die Hochschulen, und zwar in aller Regel nur ein einziges Mal.“⁹⁸ Dieses Verhalten konzentrierte sich auf die universitäre Gelehrtenelite und den Adel, sodass „Mobilität und Reisen über eine Universität hinaus als Herrenverhalten interpretiert werden“⁹⁹ müsse. Der mittellose Student (pauper) hingegen blieb meist heimatnah und ortsstabil, wobei sich vor allem nach der Regionalisierung der Universitäten ab dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts¹⁰⁰ das Einzugsgebiet der Universitäten auf eine „Kernlandschaft“¹⁰¹ verengte. Als pauper galt derjenige, der nicht selbst oder durch Unterstützung seiner Eltern, Verwandten oder Freunde die Gebühren für das Studium bezahlen konnte. Dabei handelte es sich aber um eine „subjektive Einschätzung, die

 Hannah Skoda: Literarische Texte und Darstellungen. In: Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel und Maximilian Schuh (Hg.): Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch. Stuttgart 2018, S. 511– 528.Vgl. auch Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006.  Rainer Christoph Schwinges: Deutsche Universitätsbesucher im 14. und 15. Jahrhundert. Studien zur Sozialgeschichte des Alten Reiches. Stuttgart 1986, S. 495 und vgl. S. 29 f.  Schwinges: Universitätsbesucher, S. 29. Stephanie Irrgang präzisiert diese Zahl noch weiter, indem sie angibt, dass „[n]ur 2– 5 Prozent aller Universitätsbesucher […] wirklich Fahrende in dem Sinne [waren], daß sie mehrfach von Ort zu Ort zogen“; Stephanie Irrgang: Scholar vagus, goliardus, ioculator. Zur Rezeption des ‚fahrenden Scholaren‘ im Mittelalter. In: JbUG 6 (2003), S. 51– 68, hier S. 54.  Schwinges: Universitätsbesucher, S. 495. Vgl. auch Rainer Christoph Schwinges: Europäische Studenten des späten Mittelalters. In: Alexander Patschovsky und Peter Baumgart (Hg.): Die Universität in Alteuropa. Konstanz 1994, S. 129 – 146, hier S. 145 und Stephanie Irrgang: Peregrinatio academica. Wanderungen und Karrieren von Gelehrten der Universitäten Rostock, Greifswald, Trier und Mainz im 15. Jahrhundert. Stuttgart 2002, S. 188.  Vgl. Peter Moraw: Der Lebensweg der Studenten. In: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Band 1: Mittelalter. München 1993, S. 225 – 254, hier S. 255 f.  Schwinges: Universitätsbesucher, S. 136; vgl. auch Maximilian Schuh: Ingolstadt oder Italien? Möglichkeiten und Grenzen akademischer Mobilität im Reich des 15. Jahrhunderts. In: Christian Hesse (Hg.): Von Bologna zu „Bologna“. Akademische Mobilität und ihre Grenzen. Basel 2011, S. 23 – 45.

30

2 Zur Forschung

sowohl vom Ermessen des Rektors als auch von der wahrheitsgemäßen Angabe des Studenten, arm zu sein, abhängig war.“¹⁰² Schwinges stellt weiter fest, dass „[v]on den Schülern der Lateinschulen […] ‚das Fahren‘ einfach auf die Studenten übertragen“ worden sei, wobei er konzediert, dass „man bereits bei den Schülern an dieser ‚Gewohnheit‘ zweifeln kann“, obwohl oder gerade weil sich die Vorstellung von dieser ‚Gewohnheit‘ nur auf einige „prominente Beispiele“ stützt,¹⁰³ und zwar vor allem die Biographien der Gelehrten Johannes Butzbach (1516), Thomas Platter (1582) und dessen Sohn Felix Platter (1614).¹⁰⁴ Stephanie Irrgang, deren Studien zur peregrinatio academica auf den Untersuchungen von Schwinges aufbauen, spitzt dessen These zu, indem sie darlegt, dass im ‚fahrenden Scholaren‘ „die literarische Rezeption ein bestimmtes Paradigma“ konstruiere, da dieser meist nur ex negativo zu den anderen Bevölkerungsgruppen durch seine Faulheit, Armut, Oberflächlichkeit und Einsamkeit definiert sei. Außerdem seien auch die „Rahmenbedingungen des Scholarenlebens […] völlig unzureichend akzentuiert“¹⁰⁵, wie der Name, sein Studienerfolg oder, ob er eine Schule oder eine Universität besuche. Aufgrund dieses Befunds klassifiziert Irrgang die ‚fahrenden Scholaren‘ als „phantasievolle Projektionen“, die „gängige Topoi und verbreitete Bedeutungsmuster“¹⁰⁶ verarbeiteten, sodass sie „zum Produkt der Literaturgeschichte“ würden und sich „der Ebene der Kirchen-, Sozial- oder Bildungsgeschichte“¹⁰⁷ entzögen. Die mittelalterliche peregrinatio academica sei also – so das Fazit von Irrgangs Studien – ein „pfründenfundiertes, klientelgetragenes, statusbedingtes, kleinräumiges und durch geistige Interessen motiviertes Bewegungsmuster“,¹⁰⁸ die Präsentation des Fahrenden als ‚verlorenes Lamm‘ wie in Legenden und Selbstzeugnissen des 16. Jahrhunderts¹⁰⁹ aber sei eine bloße Inszenierung und rezeptionswirksame Stilisierung für den rezipierenden Schüler oder Sohn.¹¹⁰ Stattdessen müsse man „[j]enseits der literarischen Tradition“ die „große Zahl normativer Quellen“¹¹¹ systematisch sammeln. Denn diese enthielten „ein erstaunliches und variantenreiches Begriffsspektrum zur Rezeption des ‚fahrenden Scholaren‘“.¹¹² Diese literarische Tradition habe neben Phänomenen wie der konstitutiven Zuschreibung des ziellosen ‚Fahrens‘ zu einer studentischen Kultur und der imaginierten Herausbildung eines

          

Schwinges: Universitätsbesucher, S. 447. Schwinges: Universitätsbesucher, S. 29. Anm. 19. Vgl. dazu die Kapitel 12.3.3 und 13.2. Irrgang: Scholar vagus, S. 61. Irrgang: Scholar vagus, S. 61. Irrgang: Scholar vagus, S. 61. Irrgang: Peregrinatio academica, S. 191. Vgl. Kapitel 9.4.1 (Legenden) und 12.3.3 (Selbstzeugnisse). Vgl. Irrgang Peregrinatio academica S. 191. Zu den Autobiographien vgl. außerdem Kapitel 12.3.3. Irrgang: Scholar vagus, S. 61. Irrgang: Scholar vagus, S. 61.

2.3 Neuere Beiträge zur Mobilität vormoderner Studenten

31

Vagantenordens¹¹³ das Bild einer „das ganze Abendland erfassenden Unruhe“¹¹⁴ geprägt. Die Annahme des studentischen ‚Fahrens‘ als Massenphänomen und Standardfall beim Universitätsbesuch, was von der älteren ‚Culturgeschichte‘ des 19. Jahrhunderts übernommen wurde, gilt als Mythos. Dazu stellt Irrgang die (rhetorische) Frage: „Wie kann es sein, daß jahrhundertelang eine klischeehafte Tradition gepflegt wurde, der erst in den letzten Jahren mühevoll entgegengewirkt werden konnte?“¹¹⁵ Die vormaligen Quellentexte werden in der geschichtswissenschaftlichen Forschung also zu Teilen eines Mythos oder einer literarischen Tradition. Außerdem wird die Traditionspflege der Wissenschaft betont, die ihrerseits von dieser literarischen Tradition abhänge. So konstatieren auch Füssel und Wagner, es handle sich bei den ‚fahrenden Scholaren‘ um einen „klischeebehafteten Mythos, der durch romantisierende Schwankliteratur, Vagantenlyrik und studentische Trinklieder tradiert und verfestigt wurde.“¹¹⁶ Insgesamt zielen die häufigen Zuschreibungen ‚literarische Tradition‘ und ‚Mythos‘ vor allem auf eine Hervorhebung der Konstruktivität und Fiktionalität des ‚fahrenden Scholaren‘ ab. Das entspricht auch dem geschichtswissenschaftlichen Verständnis von ‚Traditionsquelle‘, die im Gegensatz zum ‚Überrest‘ von der Verlässlichkeit des (sprachlich, schriftlich oder bildlich) Berichtenden abhängt – eine historische Verlässlichkeit, die einer literarischen Tradition prima facie fehlt.¹¹⁷ Dieses Hervorheben der Irrationalität und Fiktionalität von Mythos und literarischer Tradition entspricht dabei zwar eher der umgangssprachlichen Wortverwendung und rekurriert nicht auf eine spezifische Theorie,¹¹⁸ jedoch ist die Zuweisung der Texte zur (fiktionalen) Literatur und damit in das Metier der Literaturgeschichte offensichtlich. Der aktuelle Stand der Geschichtswissenschaft widerspricht also einer genuinen Verbindung von Studium und Lebensweise eines ‚Fahrenden‘, verweist den ‚fahrenden Scholaren‘ aufgrund der prosopographisch-sozialgeschichtlichen Studien des

 Vgl. v. a. Spiegel: Die Vaganten und ihr ‚Orden‘, außerdem z. B. Georg Kaufmann: Die Geschichte der deutschen Universitäten. 1. Band: Vorgeschichte. Stuttgart 1888, S. 139 – 156, Theodor Hampe: Die fahrenden Leute in der deutschen Vergangenheit. Mit 122 Abbildungen und Beilagen nach Originalen, größtenteils aus dem fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhundert. Leipzig 1902, S. 44– 52 und 68 – 73. Zusammenfassend dazu Irrgang: Scholar vagus, S. 52.  Norbert Ohler: Reisen im Mittelalter. München, Zürich 1986, S. 254, ähnlich bereits Bechthum: Vagantentum, S. 16 f. Ich gehe eher davon aus, dass es sich um einen mentalitätsgeschichtlichen Wandel handelt, welcher eine solche Betonung durch den starken Kontrast zur stabilitas loci v. a. im monastischen Bereich erfuhr. Vgl. dazu Kapitel 9.1.  Irrgang: Scholar vagus, S. 54.  Füssel/Wagner Studentenkulturen, S. 44. Ähnlich formuliert auch Irrgang: Peregrinatio academica, S. 11 mit Verweis auf Bechthum: Vagantentum und Adalbert von Keller (Hg.): Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Stuttgart 1853 – 1858.  Grundlegend für diese Unterscheidung vgl. Ernst Bernheim: Einleitung in die Geschichtswissenschaft. Leipzig 1907, S. 83 – 110, außerdem Alfred Heuß: Überrest und Tradition. Zur Phänomenologie der historischen Quellen. In: Archiv für Kulturgeschichte 25 (1934), S. 134– 183; weiter Ernst Opgenoorth und Günther Schulz: Einführung in das Studium der neueren Geschichte. Paderborn, München u. a. 72010, S. 49 – 86.  Vgl. Ute Heidmann: [Art.] Mythos. In: RLW 2, S. 664– 668, hier S. 665.

32

2 Zur Forschung

Feldes der Universitätsgeschichtsschreibung und ersetzt das gelehrte Vagantentum durch eine ‚gezähmte‘ akademische Mobilität. Mit diesen Zusammenhängen beschäftigte sich Ernst Schubert, der von der modernen prosopographisch geprägten Sozialgeschichte nur marginal rezipiert und meist unter die ältere Forschung subsumiert wurde,¹¹⁹ andererseits selbst die Ergebnisse von Schwinges nur marginal aufnahm.¹²⁰ Auch wenn Schubert in seinen materialreichen Arbeiten zu Fahrenden im Spätmittelalter dem Fahrenden Schüler eine prominente Rolle für die europäische Universitätsgeschichte zuspricht,¹²¹ bemerkt er doch, es liege „eine große Schwierigkeit in der Existenzbestimmung des vagierenden Scholaren“.¹²² Zwischen den sogenannten aristokratischen Vaganten des Hochmittelalters und den Fahrenden Schülern des Spätmittelalters müsse deutlich unterschieden werden; doch die beiden verbinde eine „literarische Tradition“.¹²³ Weiter hebt er hervor, dass ‚Lotterpfaffe‘ und ‚Fahrender Schüler‘ eher zu einem „Klerikerproletariat“ gehörten, das nur in loser Verbindung zu Universität und Kirche stehe und eher dem betrügerischen Betteln zuzuordnen sei.¹²⁴ Er nimmt in seiner Darstellung Abstand von einer absoluten Zuweisung des ‚fahrenden Scholaren‘ in den Bereich des Fiktionalen. Für ihn ist der ‚fahrende Schüler‘ zwar auch, aber nicht nur Literatur.¹²⁵ Die Nichtexistenz einer gebildeten, devianten Randgruppe von Universitäts- oder Schulbesuchern kann aus statistischen Zahlen über Immatrikulationen oder aus biographischen Daten nicht mit Gewissheit gefolgert werden, zumal Marginalität in der Vormoderne eine Ferne zur schriftproduzierenden (politischen oder literarischen)

 Vgl. Irrgang: Scholar vagus, S. 10 f. Keine Erwähnung finden die Studien von Schubert in Füssel/ Wagner: Studentenkulturen.  Vgl. z. B. Ernst Schubert: Fahrendes Volk im Mittelalter. Bielefeld 1995, S. 256 f. und Ernst Schubert: Das Interesse an Vaganten und Spielleuten. In: Hans-Werner Goetz (Hg.): Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung. München 2003, S. 409 – 426 nusquam. Insgesamt scheint das Vorgehen Schuberts weniger einer „sozialgeschichtliche[n] Analyse“ zu ähneln, sondern „der ‚dichten Beschreibung‘, die vielfach für sich sprechen soll und der Deutungen und Kommentare sowie mentalitätsgeschichtliche Einordnungen behutsam integriert werden.“; Hans-Werner Goetz: Rezension zu Ernst Schubert „Fahrendes Volk im Mittelalter“ In: HZ 265 (1997) S. 188 f., hier S. 189.  Vgl. Ernst Schubert: Fahrende Schüler im Spätmittelalter. In: Harald Dickerhof (Hg.): Bildungsund schulgeschichtliche Studien zu Spätmittelalter, Reformation und konfessionellem Zeitalter. Wiesbaden 1994, S. 9 – 34, hier S. 12 f.  Schubert: Fahrende Schüler, S. 13.  Schubert: Fahrende Schüler, S. 13.  Vgl. Schubert: Fahrendes Volk, S. 245 – 275; ebenso Robert Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum Liber vagatorum (1510). Köln 1988.  Schubert: Fahrendes Volk, S. 265 f. Er relativiert die literarischen Aussagen Hugos von Trimberg und Johanns von Nürnberg mit der rhetorischen Frage „Nur Literatur?“, indem er auch die Erwähnung in einem Ratsbeschluss aus Freiburg (Schweiz) von 1442 angibt.

2.3 Neuere Beiträge zur Mobilität vormoderner Studenten

33

Trägerschicht impliziert.¹²⁶ Dass die Texte auf die außerliterarische Wirklichkeit referieren, ist durchaus möglich. Die wirkliche Existenz von ‚fahrenden Scholaren‘ ist demnach eine hinreichende, keineswegs aber eine notwendige Bedingung für eine Umsetzung in den (literarischen) Texten. Bei der Genese und Konstituierung eines mentalen Modells von der Figur des ‚fahrenden Scholaren‘ geht es demnach um literarische Tradierung in einem dezidiert fiktionalen Weltentwurf. Auch wenn eine gänzliche Verschiebung des mobilen Studenten/Schülers in die literarische Fiktion aufgrund der Quellenlage nicht gerechtfertigt ist, bestreitet kein Historiker die Bedeutung von innerliterarischen Dynamiken für die Genese eines Figurenmotivs ‚Fahrender Scholar‘ oder ‚Fahrender Schüler‘. Die Ergebnisse der (Sozial‐)Geschichtsschreibung formulieren mithin einen Auftrag für die Literaturwissenschaft. Denn gerade weil der Status der Texte als Quelle für die Bildungsgeschichtsschreibung mitunter prekär ist, macht das eine Untersuchung der diachronen, innerliterarischen Dynamiken und Traditionsbezüge umso notwendiger. Durch das Aufzeigen von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, motivischer Konstanz und Varianz können bei der Untersuchung der Texte zum Motivkomplex ‚fahrender Scholar‘ neue Erkenntnisse zur Literatur- und Mentalitätsgeschichte gewonnen und zugleich die Interferenzen zu anderen Diskursen aufgedeckt werden. Dabei kann die Frage nicht lauten, ob die ‚fahrenden Scholaren‘ in der historischen Wirklichkeit agierten, sondern wie sie in konkreten textuellen Wirklichkeiten agieren und warum sie derart in die Textwelten Eingang finden. Es geht also um die Narratologie der Figur.¹²⁷ Bezüglich des historischen Kontexts sind weniger Einsichten in die Situation der ‚fahrenden Scholaren‘, sondern eher in die jeweils zeitgenössische Situation der Produktion und Rezeption der Texte zu erwarten, da der ‚fahrende Scholar‘ mehr ein Ergebnis jeweils zeitgenössischer Narrative als historischer Realität zu sein scheint. Diese Einschätzung deckt sich mit der von Hannah Skoda: „Wenn literarische Texte nicht nur als Quelle, sondern als historisch wirksame Aktanten verstanden werden, können wir uns der Erfahrungswelt der Studenten sehr viel nuancierter annähern.“¹²⁸ Weiter nennt sie vier methodische Herausforderungen, denen eine Nutzung der literarischen Texte als geschichtliche Quelle unterworfen sei: (1) Die literarischen Darstellungen von Studenten beruhen auf sich wiederholenden Tropen wie

 Schubert: Fahrende Schüler, S. 10 (Anm. 7) betont die „Überschätzung der Aussagekraft von Universitätsmatrikeln“. Außerdem relativiert er sozialgeschichtliche Aussagen über die akademische Mobilität und die soziale Zusammensetzung der Universität bis zu einem gewissen Grad. Nur von einem Drittel der Studenten ließe sich der weitere Werdegang bestimmen.Vgl. Schubert: Fahrendes Volk, S. 269.  Vgl. dazu Kapitel 4.1.  Skoda: Literarische Texte, S. 523.

34

2 Zur Forschung

v. a. dem ‚fahrenden Scholarentum‘.¹²⁹ Es muss also die jeweilige Adaptation und ‚Übersetzung‘ der konventionellen Bilder erfolgen. (2) Die performative Situation der Rezeption wie auch die Umstände der Produktion und (3) die Bedeutung von satirischer Darstellung und komischer Ironie sind zu beachten, um Über- und Fehlinterpretationen zu vermeiden. (4) Da die Verfasser oft nicht zu ermitteln und nur in Ausnahmefällen (v. a. bei dialogischen und dramatischen Texten) auf den universitären Kontext festzulegen sind, ist danach zu fragen, welche Vorstellungen über die Besucher von Schule und Universität bestanden und wie die Darstellungen durch die Unterstützung von Stereotypen wiederum auf das Selbstbild der Universitätsangehörigen wirkten.¹³⁰ Diese Arbeitsanweisungen an den Historiker sind scharfsinnig formuliert, für die Literaturwissenschaftler aber weitgehend selbstverständlich.¹³¹ Während ein geschichtswissenschaftlicher Zugang nun versucht, die Quellen von rhetorischem Ballast zu befreien, um die ‚Realität‘ sehen zu können,¹³² liegt es im Interesse einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung, genau diesen ‚Ballast‘ zu untersuchen, Veränderungen nachzuvollziehen und das literarische Traditionsverhalten der Texte zu beschreiben. Freilich sind dabei die Disziplinen nicht autark, was einen interdisziplinären Zugriff in einem gewissen Grad notwendig macht. Zwar führen Füssel und Wagner in ihrem Forschungsüberblick auch Beiträge aus der Literaturwissenschaft als benachbarter Disziplin an, doch diese Beiträge sind entweder veraltet¹³³ oder behandeln die Vormoderne nur unzureichend;¹³⁴ auch Skoda kann in ihrem Basisartikel nur auf vereinzelte Detailuntersuchungen verweisen.¹³⁵ Trotz der rekurrenten Erinnerung an den fiktionalen Status und die Bedeutung für Literatur- und Mentalitätsgeschichte liegt keine aktuelle umfassende literaturwissenschaftliche Studie zum Fahrenden Schüler als literarischem Phänomen vor. Damit erfüllt die vorliegende Arbeit ein Desiderat interdisziplinärer Forschung.

 Skoda: Literarische Texte, S. 521. Die Autorin verwendet die Bezeichnung ‚wandernder Scholar‘. Dies resultiert wohl am ehesten aus der Übersetzung von ‚wandering scholar‘, was im Deutschen wohl besser als ‚fahrender Scholar‘ wiederzugeben wäre.  Vgl. Skoda: Literarische Texte, S. 521– 523.  Skoda neigt durch das Hervorheben des biographischen Produktionsaspekts von Literatur teils zu zirkulären Interpretationen, auch wenn sie betont, dass dieser Zugriff problematisch ist (vgl. S. 511). Auch der Verweis auf eigene Anschauung als Authentizitätssignal weist sie explizit als „rhetorische Strategie dieser Literatursparte“ (S. 511) zu, jedoch ist dieses Stilmittel auch in anderen Gattungen und Erzählformen konventionell.  Einen ganz ähnlichen Weg geht Robert Jütte in seinen Arbeiten über Bettlerkataloge, in denen auch ‚Fahrende Schüler‘ vorkommen. Vgl. Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit; außerdem hier Kapitel 5.1.  Nämlich Nimtz: Motive des Studentenlebens von 1937 und Kurt Lange: Der Student in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Breslau 1930.  Nämlich Ruckteschell: Gefangene der Freiheit und James Lloyd Winstead: When Colleges Sang. The Story of Singing in American College Life. Tuscaloosa 2013.  Vgl. Skoda: Literarische Texte, S. 513 – 521.

3 Zum Vorgehen Dieser kurze forschungsgeschichtliche Überblick erlegt einer Beschäftigung mit dem Thema des ‚Fahrenden Schülertums‘ mehrere Aufgaben auf: Erstens muss sie sich zum Text-Kontext-Problem positionieren, um die Ergebnisse der Literatur- und Geschichtswissenschaft zusammenzubringen. Zweitens ist immer wieder vom ‚Mythos‘ oder der ‚literarischen Tradition‘ die Rede, die ein bestimmtes Motiv oder Muster geprägt habe. Da diese Begriffe meist wenig präzise verwendet werden, ist eine literaturtheoretische Reflexion notwendig. Schließlich ist zu beachten, dass durch die Grundlegung der frühen (volkssprachigen) Philologien im Historismus des 19. Jahrhunderts eine gewisse Studenten-Romantik gerade bei universitätsgeschichtlichen Themen virulent war und inhaltliche Verzerrungen zeitigte. Diese drei Aspekte gliedern auch die Argumentation der vorliegenden Studie und rechtfertigen die Abweichung von einem chronologischen Aufbau. Denn nach der Hinführung zum Thema durch den berühmten Ausspruch Fausts und einigen technischen Anmerkungen im ersten Teil (Kapitel 1– 3) widmet sich der zweite Teil (Kapitel 4 und 5) dem Verhältnis von Textwelt und außerliterarischer Wirklichkeit. Der Teil beginnt mit theoretischen Überlegungen zum Fahrenden Schüler als narratologischem Typus, Imagination und Bestandteil eines Gesellschaftsbilds (Text-KontextProblem). Die folgende Analyse der Situation in Texten um 1500 (v. a. Bettlerkatalogen und Gesellschaftssatiren) liefert dann einerseits ein Beispiel für die Theorie, andererseits einen hermeneutischen Horizont für die folgende diachrone Analyse. Denn der vagen Begriffsverwendung im Mittelalter steht ein rekurrentes und vergleichsweise stabiles Schema in den Texten um 1500 gegenüber. Dieses Schema und nicht das trügerische ‚Weltwissen‘ des modernen Verfassers dient demnach als Referenzfolie für die Analyse von Textelementen in den vorgängigen Texten. Damit umgehe ich die Gefahr eines Zirkelschlusses, respektive initiiere diesen methodisch reflektiert.¹ Ein zweiter theoretischer Block im dritten Teil (Kapitel 6 – 11) bietet dann Reflexionen zur Frage, durch welche Mechanismen Wissensbestände und textuelle (literarische) Muster als Traditionen weitergegeben, verfestigt oder abgelöst werden und wie diese als Spuren wieder rekonstruierbar sind. Einzelne thematisch geordnete Spurensuchen gehen dieser Frage nach und untersuchen in einer dichten Beschreibung einzelne Textfelder vor 1500: Die hochmittelalterlichen Vagantenlieder, den

 Dieses Vorgehen ist aufgrund der universellen wirkungsgeschichtlichen Gebundenheit des Verstehens- und Interpretationssubjekts sinnvoll, welche u. a. von Hans-Georg Gadamer betont wird. „So gibt es gewiß kein Verstehen, das von allen Vorurteilen frei wäre, so sehr auch immer der Wille unserer Erkenntnis darauf gerichtet sein muß, dem Bann unserer Vorurteile zu entgehen“; Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 494. Gleichsam ist der Umstand, „dass der Kopf von Wissenschaftlern bei der Findung neuen Wissens keine tabula rasa ist, […] trivial“; Lutz Danneberg und Andrea Albrecht: Beobachtungen zu den Voraussetzungen des hypothetisch-deduktiven und des hypothetisch-induktiven Argumentierens im Rahmen einer hermeneutischen Konzeption der Textinterpretation. In: Journal of Literary Theory 10 (2016), S. S. 1– 37, hier S. 25. https://doi.org/10.1515/9783110708349-004

36

3 Zum Vorgehen

Schüler in der Ständedidaxe und -satire, den mobilen Schüler im monastischen, didaktischen und kleinepischen Kontext sowie den Fahrenden Schüler als semantische Einheit. Der vierte Teil (Kapitel 12 und 13) schließt unmittelbar an die theoretischen und inhaltlichen Ergebnisse an und gibt einen Ausblick auf die Tradition des spezifischen Musters ‚Fahrender Schüler‘ in Texten nach 1500. Diese inhaltliche Konzentration dient der notwendigen Komplexitätsreduktion, da eine Beschränkung auf einen Autor, eine Gattung oder eine Epoche vermieden werden soll. Auch die zeitliche Zäsur 1500, die in der Untersuchung bewusst überschritten wird, markiert (aus Zufall?) sowohl die schematische Ausdifferenzierung des Fahrenden Schülers als Muster als auch die etablierte Epochengrenze zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Ebenso in der Bildungsgeschichte dient das 16. Jahrhundert als Scheidelinie.² Als Textgrundlage dienen neben schwankhaften Texten (Fazetien, Schwanksammlungen, Fastnachtspiele u. a.) auch gelehrte Stellungnahmen von Humanisten und die produktiven Aneignungen im 19. Jahrhundert. Im fünften und letzten Teil schließt sich dann der Kreis und nach einer Zusammenstellung der Ergebnisse entlässt Mephisto den geneigten Leser.

 Vgl. Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel und Maximilian Schuh: Einleitung. In: Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch. Stuttgart 2018, S. 11– 15, hier S. 11. Sie sehen die zeitliche Einschränkung von 1200 bis 1600 „pragmatisch und inhaltlich begründet“, und zwar am Anfangspunkt aufgrund der „Entwicklungsschübe“ in der Geschichte der vormodernen Universität ab dem 13. Jh. und am Endpunkt durch die „entscheidende[n] Veränderungen sowohl hinsichtlich der gelehrten Disziplinen, in den universitären Textsorten, in der personalen Struktur der Studentenschaft wie der Professoren, in deren Selbstpräsentation, in der internationalen Vernetzung sowie in der Beziehung der Universitäten zu konkurrierenden Institutionen wie Akademien und anderen hohen Schulen zu beobachten sind“.

Zweiter Teil (um 1500)

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I 4.1 Zur Narratologie einer typisierten Figur Der Fahrende Schüler der vormodernen Literatur (v. a. in der Kleinepik) ist ein schematisierter Figurentypus. Für eine literaturwissenschaftliche Annäherung sind Zugänge einer historischen oder auch diachronen Narratologie relevant.¹ Konkret mit einer Narratologie der Figur haben sich vor allem Ralf Schneider² und Fotis Jannidis³ beschäftigt: Beide nehmen eine eher systematische Perspektive ein und orientieren sich an Grundannahmen der Kommunikationstheorie, Leseforschung und kognitiven Literaturwissenschaft. Die Ergebnisse dieser ‚allgemeinen Figurentheorie‘ sind für vormoderne Literaturen problematisch, da sie weitgehend anhand (post‐)moderner Texte entwickelt wurden. Konzepte wie Fiktionalität, Autorschaft und Originalität werden so zu selbstverständlichen Voraussetzungen.⁴ Aus mediävistischer Perspektive richtet sich Silvia Reuvekamp gegen eine „Determination literarischer Figuren durch die Handlung“⁵ und nimmt zur verbreiteten Forschungsmeinung Stellung, welche mittelalterlichen literarischen

 Zum Stand der Narratologie-Debatte (v. a. über die einflussreichen Beiträge von Ansgar Nünning, Monika Fludernik und Irene de Jong) und eine Problematisierung aus mediävistischer Perspektive vgl. Eva von Contzen: Diachrone Narratologie und historische Erzählforschung. Eine Bestandsaufnahme und ein Plädoyer. In: Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung‘ 1 (2018), S. 16 – 37, hier S. 19 – 23; an dieser Stelle auch zur Unterscheidung von historischer Narratologie/Erzählforschung und diachroner Narratologie. Auch wenn im Zuge der Ausweitung der (sog. postklassischen) Narratologie das ‚Erzählende‘ in den meisten kulturellen Produkten analysiert werden kann, beschränke ich mich hier doch auf erzählende Texte im engeren Sinne. Vgl. Jan Alber und Monika Fludernik (Hg.): Postclassical Narratology. Approaches and Analyses. Columbus 2010, dazu auch v. Contzen: Diachrone Narratologie, S. 17 f. Andere Gattungen beziehe ich nur in Ausnahmefällen ein, so v. a. in der Analyse der ‚Vagantenlieder‘. Doch auch hier beschränke ich mich auf die narrativen Aspekte der lyrischen Texte. Vgl. ähnlich Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik. In: Hartmut Bleumer und Caroline Emmelius (Hg.): Lyrische Narrationen, narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Berlin, New York 2011, S. 1– 42.  Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000.  Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin, New York 2004.  Philipowski nennt diese drei Kategorien, um die Inkompatibilitäten zwischen einer allgemeinen und einer mediävistischen Figurentheorie zu verdeutlichen. Vgl. dazu Katharina Philipowski: Figur – Mittelalter/Character – Middle Ages. In: Eva von Contzen und Stefan Tilg (Hg.): Handbuch Historische Narratologie. Berlin 2019, S. 116 – 128, hier S. 116.  Silvia Reuvekamp: Hölzerne Bilder – mentale Modelle? Mittelalterliche Figuren als Gegenstand einer historischen Narratologie. In: Diegesis 3 (2014), S. 112– 130, hier S. 115. https://doi.org/10.1515/9783110708349-005

40

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

Figuren eine schematische Stereotypie als flat characters ⁶ unterstellt und sie weniger „als komplexe Charaktere […], sondern in erster Linie als Handlungsträger, die bestimmte Typen repräsentieren“,⁷ ansieht. Um den Spezifika mittelalterlicher Figurendarstellung Rechnung zu tragen, spricht Katharina Philipowski von „character focused narration“ bei „transtextual characters“, um identische Figuren in unterschiedlichen Textwelten zu fassen.⁸ Das Textcorpus bilden bei Philipowski jedoch Artusromane und die Heldenepik, bei Reuvekamp höfische Vers‐ und spätmittelalterliche Prosaromane, während beide die Versnovellistik (‚Mären‘) meiden.⁹ Diese Aussparung geschieht aus gutem Grund. Denn während in der höfischen Großepik eine Verallgemeinerung auf flat characters allenfalls diskutabel ist, wird das Figurenpersonal der schwankhaften Kleinepik (‚Mären‘) in vielen Fällen zweifellos durch schematisierte Typen geprägt, deren Darstellung sich meist auf ein Merkmal beschränkt.¹⁰ Gründe für diese „modellhaft reduziert[e]“¹¹ Figurendarstellung sind die Generalisierbarkeit als Exemplum sowie die Kürze und daher angebrachte „personelle Prägnanz“.¹² Die konstitutiven Merkmale der Figurentypen setzen sich aus folgenden Faktoren zusammen: Einerseits sind sie durch die narrativen Funktionen für den Plot der Erzählung festgelegt. Das Exemplum verlangt beispielsweise einen einfältigen Bauern, einen lüsternen Pfaffen oder einen betrügerischen Müller, um seine Pointe zu erreichen. Auf dieser Ebene sind die Figuren durchaus „als Aggregate von narrativen Funktionen“¹³ anzusehen. Andererseits „stellen kulturelle (medizinische, psychologische, politische, soziologische u. a.) Vorstellungen stereotype Figurenkonzepte und ‐rollen bereit“.¹⁴ Diese generieren feste Schemata, die sozialen Rollen, medizinischpsychologischen Regeln (z. B. der Humoralpathologie) und beruflichen, geschlechtli-

 Die Unterscheidung von ‚flachen Figuren‘ (flat characters) und ‚komplexen runden Figuren‘ (round characters) geht zurück auf Edward Morgan Forster: Aspects of the Novel. London 1927, S. 73. Vgl. dazu auch Jannidis: Figur und Person, S. 103.  Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe, hg.von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller. Berlin, München, Boston 22015, S. 12.  Philipowski: Figur, S. 120 f.  Philipowski: Figur, S. 119 konstatiert zumindest: „So before we proceed, it is important to state that characteristics can be schematic and typological, yet still be individualized.“ Sie führt diese schematische und typologisierte Form der Figurendarstellung aber nicht weiter aus.  Vgl. Harald Haferland: Psychologie und Psychologisierung. Thesen zur Konstitution und Rezeption von Figuren mit einem Blick auf ihre historische Differenz. In: Florian Kragl und Christian Schneider: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Heidelberg 2013, S. 91– 117, hier S. 113 f.  Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau, Märe, Novelle. Tübingen 2006, S. 81.  Vgl. Nina Nowakowski: Personelle Prägnanz. Figurendarstellung und exemplarisches Erzählen in Heinrich Kaufringers ‚Suche nach dem glücklichen Ehepaar‘. In: Friedrich Michael Dimpel und Silvan Wagner (Hg.): Prägnantes Erzählen. Oldenburg 2019, S. 409 – 429, hier S. 412.  Peter Strohschneider: Einfache Regeln komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum Nibelungenlied. In: Wolfgang Harms: Mediävistische Komparatistik. Stuttgart 1997, S. 43– 76, hier S. 71.  Matías Martínez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 102016, S. 152.

4.1 Zur Narratologie einer typisierten Figur

41

chen oder nationalen Stereotypien folgen.¹⁵ In der mittelhochdeutschen Kleinepik dient der Typisierung neben einem (meist) stereotypen Geschlechterdualismus vor allem die ständische Einordnung als Bauer, Pfaffe, Ritter, Bürger, Student etc. Der Umstand, dass die Kenntnis dieser Figurentypen beim Rezipienten meist vorausgesetzt ist, insinuiert die Existenz mentaler Modelle. Der Versuch der kognitiven Literaturwissenschaft, die Wirkung von Textinformationen aus dem Weltwissen individueller Rezipienten zu rekonstruieren und mentale Modelle zu konzeptualisieren, ist bei einem Zugriff auf vormoderne Literatur mit großen Schwierigkeiten verbunden, wenn nicht unmöglich.¹⁶ Denn nur in seltenen Fällen kann der Interpret einen Einblick in die Psychologie und Soziologie der empirischen Leser gewinnen. Der einzige greifbare Bezugspunkt bleibt der Text als sprachliches Artefakt.¹⁷ Jedoch räumt Reuvekamp ein, es gebe „die Möglichkeit, vor dem Hintergrund des kognitiven Figurenmodells die poetische Praxis mittelalterlicher Figurendarstellung auf die ihr impliziten kulturellen Codes, das vorausgesetzte anthropologische Wissen und die intendierten Wirkungsweisen zu befragen.“¹⁸ Durch eine dichte Beschreibung von Informationen über das Muster einer Figur käme man „zu einem genaueren Bild vom Status, der Poetik und den Funktionsweisen literarischer Figuren in mittelalterlicher Literatur.“¹⁹ Demgemäß entstehen Figurentypen folgendermaßen: Der Rezipient kategorisiert die Figuren des Textes antizipierend, indem er sein Weltwissen und sein generisches Wissen aktiviert und in top-down-Prozessen diese kulturellen/sozialen und literarischen Wissensbestände in den Textsinn trägt. Gleichzeitig wird durch die Rezeption des Textes das Wissen ergänzt (bottom-up). Aus der dynamischen Reziprozität dieser beiden Prozesse mit den auf der Textoberfläche vorgefundenen Figureninformationen entsteht das mentale Modell einer Figur.²⁰ Entsprechen alle Informationen dem eigenen Wissen und kann man „starre Erwartungen an eine Figur richten und nachfolgend geschildertes Verhalten auf Grundlage dieser Einschätzungen erklären“,²¹ wird ein bekannter Typus reaktiviert. Falls jedoch Erwartungen an das mentale Modell enttäuscht oder neue Gesichtspunkte ergänzt werden, kommt es zu einer Erweiterung des Figurenmodells, was bis zur Indi-

 Vgl. Martínez/Scheffel: Erzähltheorie, S. 152.  Vgl. Markus Stock: Figur. Zu einem Kernproblem historischer Narratologie. In: Carmen Stange, Harald Haferland u. a. (Hg.): Historische Narratologie, mediävistische Perspektiven. Berlin, New York 2010, S. 187– 203 und Reuvekamp: Hölzerne Bilder. Die intensive mediävistische Beschäftigung mit der historischen Narratologie folgt gewissermaßen auf die Kritik von Jan-Dirk Müller, der anmerkte: „Außerdem stehen im Fokus des Interesses der neueren Narratologie selten Probleme, die über den Horizont der literarischen Moderne hinausreichen“; Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 22.  Vgl. generell Rüdiger Zymner: Körper, Geist und Literatur. Perspektiven der ‚Kognitiven Literaturwissenschaft‘ – eine kritische Bestandsaufnahme. In: Martin Huber und Simone Winko (Hg.): Literatur und Kognition. Bestandsaufnahmen und Perspektiven eines Arbeitsfeldes. Paderborn 2009, S. 135 – 154.  Vgl. Reuvekamp: Hölzerne Bilder, S. 116 f.  Reuvekamp: Hölzerne Bilder, S. 117.  Vgl. dazu Schneider: Figurenrezeption, S. 164– 169 und das Modell auf S. 170.  Schneider: Figurenrezeption, S. 148. Dazu auch Jannidis: Figur und Person, S. 181– 184.

42

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

vidualisierung reichen kann. Die Erwartungen des Rezipienten werden mit seinem Vorwissen abgeglichen. Denn „Figuren sind keine autonomen Konzepte, sondern hängen in vielfältiger Weise von einem Welt- und Textwissen ab“,²² welches auf der „Tradition fiktionaler Figuren“²³ aufbaut. Die Einzeltradition eines Figurentypus basiert einerseits auf dem Wissen über die Regeln von (mündlich und schriftlich tradierten) Erzählmustern und Gattungen, welche die Beliebtheit bestimmter Figuren prägen oder diese mit Plots/Erzähltypen verbinden. Andererseits basiert sie auf dem Weltwissen des Rezipienten. Dieses folgt aber weniger Codes, also eindeutig dechiffrierbaren semiotischen Zuweisungen, sondern einer inferenzbasierten Kommunikation, die neben dem Codewissen stark von der individuellen Situation und dem Kontext abhängt.²⁴ Das generische und das kulturelle Wissen prägen den Interpretanten, eine Instanz im triadischen Zeichenmodell (Peirce/Eco), die über den individuell-subjekthaften Interpreten hinausreicht und das arbiträre Verhältnis zwischen Objekt und Zeichen strukturiert.²⁵ Die tradierte Kultur gibt demnach Möglichkeiten für die Bildung von Interpretanten, und damit Interpretationen bzw. literarischen Realisierungen.²⁶

4.2 Gesellschaftsbilder Für die folgenden Überlegungen muss die Frage, was ‚real‘ oder ‚wahr‘ ist, marginal bleiben. Ich nehme stattdessen eine mittlere Ebene zwischen literarischer Fiktion und faktenorientierter Realität ein, wenn ich als Referenzhorizont der behandelten Texte von Gesellschaftsbildern spreche, die als mentale Repräsentation eines spezifischen „Sinnfelds“²⁷ entstehen können. Dabei verfolge ich das Ziel, die gesellschaftlichen Prozesse – sofern lokalisierbar – möglichst kleinräumig und regional zu beschreiben und individuelle Überlieferungsprozesse nachzuvollziehen, wie es erst jüngst Ursula Peters in ihrem „Plädoyer für eine detailhistorisch basierte gesellschaftsgeschichtlich orientierte Mittelalterphilologie“²⁸ forderte.

 Jannidis: Figur und Person, S. 238.  Jannidis: Figur und Person, S. 238.  Vgl. Jannidis: Figur und Person, S. 44– 52 und 237– 243.  Vgl. dazu: Charles S. Peirce: Semiotische Schriften. Band 1, hg. von Christian Kloesel und Helmut Pape. Frankfurt a. M. 1986, S. 390 und Umberto Eco: Peirce’s Notion of Interpretant. In: Modern Language Notes 91 (1967), S. 1457– 1472.  Vgl. zusammenfassend zu Ecos Kultursemiotik: Helge Schalk: Umberto Eco und das Problem der Interpretation. Ästhetik, Semiotik, Textpragmatik. Würzburg 2000, S. 119 – 211. Zu Tradition(en) Kapitel 6.2.  Markus Gabriel: Sinn und Existenz. Eine realistische Ontologie. Berlin 2016, § 6, hier S. 224– 270.  Vgl. Ursula Peters: Die Rückkehr der ‚Gesellschaft‘ in die Kulturwissenschaft. In: Scientia Poetica 22 (2018), S. 1– 52, hier S. 49.

4.2 Gesellschaftsbilder

43

Der deutsche Terminus ‚Gesellschaftsbild‘ wurde durch die klassische soziologische Untersuchung Das Gesellschaftsbild des Arbeiters (1957)²⁹ geprägt und bezeichnet „die von Mitgliedern einer Gesellschaft entwickelten Ordnungsvorstellungen über den Aufbau ihrer Gesellschaft, mit deren Hilfe die individuelle Lage in Relation zu den anderen definiert werden kann.“³⁰ Die Untersuchung von Gesellschaftsbildern ermöglicht gerade Texte mit intrikatem Realitätsbezug nach den ihnen zugrundeliegenden Imaginationen zu befragen und vermeidet eine Konfusion von ‚historischen‘ Fakten und ‚literarischen‘ Fiktionen. Freilich basieren auch objektiv attribuierte Begriffe wie Gesellschaftsordnungen oder ‐strukturen auf konstruktiven Verallgemeinerungen von Wirklichkeit, doch der Unterschied zwischen literarischer Fiktion und einer postulierten Gesellschaftsordnung ist allenfalls ein polarer und für eine historische Situation nicht oder nur unzureichend definierbar. Der Ausgangspunkt der verstärkten Zuwendung zur Untersuchung von imaginären Ordnungen in historischen (v. a. mittelalterlichen) Gesellschaften liegt in der französischen sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Forschung um Georges Duby und Jacques Le Goff. Diese untersuchen auf Grundlage von Ständelehren die enorm einflussreiche Vorstellung von den drei Ständen (oratores, bellatores, laboratores).³¹ In seiner Monographie legt Duby den ersten Versuch in der Mittelalterforschung vor, ‚Wirklichkeit‘ und das ‚Wissen von ihr‘ umfassend zu differenzieren.³² Nach Duby leitet sich die soziale Wirklichkeit von drei Instanzen ab: der objektiven Wirklichkeit, dem Wissen darüber (images/attitudes mentales) und dem aus diesem Wissen resul-

 Heinrich Popitz, Hans Bahrdt u. a.: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Soziologische Untersuchungen in der Hüttenindustrie. Tübingen 1957. Neuausgabe hg. von Jochen Dreher. Wiesbaden 2018. Zentral ist dabei die Vorstellung einer zweiten „sozialen Bildwelt“ des Bewusstseins (Popitz/Bahrdt: Gesellschaftsbild, S. 2 f.), wobei sich die Verfasser auf Arnold Gehlen und Georg Wilhelm Friedrich Hegel berufen. In einer späteren Stellungnahme zur Studie reflektiert Hans Bahrdt auch die verwendete Terminologie: „Das Wort ‚Gesellschaftsbild‘ haben wir nicht nur gewählt, weil wir einen Begriff brauchten, unter dem außer rational konstruierten Gedankengebäuden auch umfassende bildhafte Vorstellungen erfasst werden sollen, sondern […] ‚Gesellschaftsbild‘ umfaßte für uns eben auch das, wovon man sich nur ein Bild machen kann, weil es an Erfahrung fehlt, und ein Bild machen muß, falls man ein Bedürfnis dazu hat“; Hans Bahrdt: Das Gesellschaftsbild des Arbeiters. Ein Vortrag zur Entstehung dieser Studie. In: Zeitschrift für Soziologie 14 (1985), S. 152– 155, hier S. 153.  Walter M. Sprondel: [Art.] Gesellschaftsbild. In: Werner Fuchs-Heinritz, Daniela Klimke, Rüdiger Lautmann u. a. (Hg.): Lexikon zur Soziologie. Wiesbaden 52011, S. 245.  Vgl. die berühmte Studie Georges Duby: Les Trois Ordres ou l’Imaginaire du Féodalisme. Paris 1978 und die Essaysammlung Jacques Le Goff: L’Imaginaire Médiéval. Paris 1985. Eine Zusammenfassung der mentalitätsgeschichtlichen Forschungsposition bietet Évelyne Patlagean: L’Histoire de l’Imaginaire. In: Jacques Le Goff und Roger Chartier (Hg.): La Nouvelle Histoire. Paris 1978, S. 249 – 269. Zu einem Überblick über einzelne Anwendungen der Methode vgl. Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 22008.  Vgl. Otto Gerhard Oexle: Die ‚Wirklichkeit‘ und das ‚Wissen‘. Ein Blick auf das sozialgeschichtliche Oeuvre von Georges Duby. In: HZ 232 (1981), S. 61– 91, hier v. a. S. 73.

44

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

tierenden (abermals realen) Verhalten.³³ František Graus beschrieb die Mentalitäten als Potential im Hintergrund, welches sowohl Widersprüche zulässt als auch Handeln motiviert und bezeichnete sie als „‚Tonus‘ des Denkens und Verhaltens.“³⁴ Dieser Einbezug von ‚mentalen Bildern‘ trägt mithin dem Prozess einer Wirklichkeitskonstruktion Rechnung, also dem Umstand „that reality is socially constructed“.³⁵ Jedoch gibt die Mentalitätsgeschichte eine Grenzziehung zwischen dem realen Historischen und dem fiktiven Imaginären nicht auf, sondern flexibilisiert diese Kategorien allenfalls.³⁶ Einen Schritt weiter geht Hayden White, wenn er in seiner Metahistory ³⁷ die Bedeutung von rhetorischen Kategorien sowie der Narrativität von Geschichtsschreibung und damit historischer Gesellschaftsbilder im geschichtswissenschaftlichen Diskurs popularisiert.³⁸ Eine vermittelnde Position zwischen konstruktivistischem Relativismus und deterministischem Positivismus ist mittlerweile communis opinio in kulturgeschichtlicher Forschung.³⁹ Von grundsätzlicher Bedeutung für die Beschäftigung mit Gesellschaftsbildern (imagines) ist die Kategorie des Imaginären, welche beispielsweise bei Jean-Paul Sartre und Jacques Lacan zum Gegenstand und Werkzeug wurde.⁴⁰ Etwa zeitgleich zu den

 Vgl. Georges Duby: Histoire Sociale et Idéologies des Sociétés. In: Jacques Le Goff und Pierre Nora (Hg.): Faire de l’Histoire. Band I: Nouveaux Problèmes. Paris 1974, S. 147– 168, hier S. 147– 149.  František Graus: Mentalität. Versuch einer Begriffsbestimmung und Methoden der Untersuchung. In: František Graus (Hg.): Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme. Sigmaringen 1987, S. 9 – 48, hier S. 17. Auf diesen grundsätzlichen Überlegungen basieren auch die Studien von Gerhard Oexle und Robert Jütte: z. B. Otto Gerhard Oexle: Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens. In: František Graus (Hg.): Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme. Sigmaringen 1987, S. 65 – 117 und Otto Gerhard Oexle: Die Entstehung politischer Stände im Spätmittelalter. Wirklichkeit und Wissen. In: Reinhard Blänkner und Bernhard Jussen (Hg.): Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen 1998, S. 139 – 162 sowie Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit.  Dazu grundlegend Peter L. Berger und Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. New York 1966, zit. hier S. 13.  „C’est dire que chaque culture, donc chaque société voire chaque niveau d’une société complexe a son imaginaire. En d’autre termes, la limite entre le réel et l’imaginaire révèle variable“; Patlagean: L’Histoire de l’Imaginaire, S. 307 [Herv. im Orig.].  Hayden White: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore, London 1973. Eine explizite Absetzung von der mentalitätsgeschichtlichen Annales-Schule in: Hayden White: Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie. In: Pietro Rossi (Hg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frankfurt a. M. 1987, S. 57– 106.  Für die Kritikpunkte an dem tropologischen Modell Whites sei auf die einschlägige Literatur verwiesen. Vgl. zusammenfassend Wulf Kansteiner: Hayden White’s Critique of the Writing of History. In: History and Theory 32 (1993), S. 273 – 295 und Stefan Haas: Fiktionalität in den Geschichtswissenschaften. In: Tobias Klauk und Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin, Boston 2014, S. 516 – 523, hier v. a. S. 524 f.  Vgl. z. B. Peter Burke: Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt a. M. 2005, S. 145.  Verweise in Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991, S. 331– 353. Vgl. dazu auch die detailierte Auseinandersetzung mit dem

4.2 Gesellschaftsbilder

45

Studien Dubys wurde das Imaginäre auch zur zentralen Beschreibungskategorie gesellschaftlicher Prozesse bei Cornelius Castoriadis,⁴¹ der „in seinem Zugriff auf das Imaginäre aus dem Horizont einer im weitesten Sinne verstandenen Subjektphilosophie“ heraustritt und eine „Globalisierung des Imaginären“⁴² vornimmt. Im Unterschied zur Annales-Schule, die das Imaginäre nicht terminologisch verwendet, entwickelt Castoriadis einen großen Entwurf vom gesellschaftlichen Imaginären. Er versteht das Imaginäre nicht als Gegensatz, Ergänzung oder Interpretation von Realität, sondern als ein diese konstituierendes Moment.⁴³ Dabei macht er nur am Rande Aussagen zum Verhältnis von literarischer Darstellung und praktischer Handlung. Doch offensichtlich sieht er eine Differenz zwischen dem Funktionellen/ Instrumentellen und dem, was im Bereich des Kulturellen darüber hinausgeht und das er das „Imaginäre stricto sensu, das poetische[ ] Imaginäre[ ]“,⁴⁴ nennt. In unterschiedlicher Intensität und Akzentuierung wandte die Literaturwissenschaft die Kategorie produktiv an und demonstrierte die Nützlichkeit dieses „kulturwissenschaftlichen Schlüsselkonzepts“.⁴⁵ Zugespitzt resümiert Jan-Dirk Müller den Stand der Forschungsdiskussion zur Text-Kontext-Frage mit Verweis auf das Imaginäre: Inzwischen ist es eine Banalität, an die Textualität historischer Zeugnisse oder die soziale Instituiertheit des Imaginären zu erinnern, ebenso wie kein Text- oder Kunstwissenschaftler mehr von der lebensweltlichen Bedeutung der literarischen oder künstlerischen Imagination absehen kann.⁴⁶

Obwohl diese Feststellung eine erneute Behandlung des Themas eigentlich obsolet erscheinen lässt, sind doch einige Überlegungen darüber angebracht, wie das Ima-

Begriff in Dirk Werle: Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580 – 1630. Tübingen 2007, S. 37– 41. Werle spricht sich in seiner Studie gegen den Begriff aus, da er in der Terminologie Isers (und Lacans) zu missverständlich und unbestimmt ist. Auf die Bestimmungen bei Castoriadis geht er hingegen nicht ein.  Cornelius Castoriadis: L’Institution Imaginaire de la Société. Paris 1975. Im Folgenden benutze ich die deutsche Übersetzung Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1990.  Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 355.  Vgl. Jan-Dirk Müller: Imaginäre Ordnungen und literarische Imaginationen um 1200. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs (2003), S. 41– 68, hier S. 49.  Cornelius Castoriadis: Kultur und Demokratie. In: Lettre international 27 (1994), S. 14– 17, hier S. 14.  Annette Simonis und Carsten Rohde: Einleitung: Das kulturelle Imaginäre. Perspektiven und Impulse eines kulturwissenschaftlichen Schlüsselkonzepts. In: Comparatio 6 (2014), S. 1– 12. Wichtige Beiträge für die mediävistische Literaturwissenschaft kommen von Rainer Warning und Jan Dirk Müller, z. B. Rainer Warning: Die Phantasie der Realisten. München 1999 und mit Schwerpunkt auf der vormodernen Literaturwissenschaft: Müller: Imaginäre Ordnungen und Müller: Höfische Kompromisse. Den produktiven Dissens zwischen den beiden Münchener Literaturwissenschaftlern sowie seine eigenen Positionen resümiert Rainer Warning: Das Imaginäre und das Symbolische bei Cornelius Castoriadis. Illustriert am mittelalterlichen geistlichen Spiel. In: Comparatio 6 (2014), S. 13 – 27, hier S. 13 (Anm. 15) und S. 27. Weiter befasst sich mit den Theorien Johannes Rauwald: Politische und li-

46

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

ginäre als Grundlage für die Konzeptualisierung von Gesellschaftsbildern nutzbar gemacht werden kann. Cornelius Castoriadis beschätigte sich – zeitgleich zu Paul Ricœur – mit der Frage einer imaginären Ordnung von Gesellschaft und befreite das Imaginäre als (sozial‐) philosophische Kategorie von seinen esoterischen Konnotationen.⁴⁷ Eine der größten Differenzen ist Castoriadis’ Annahme einer creatio ex nihilo bei seiner Konzeption eines radikalen Imaginären,⁴⁸ welche Ricœur vehement verneint. Das zeigt die einzige edierte (Radio‐)Diskussion der beiden Denker. Gleichzeitig wird hier offenbar, dass sie in ihren Konzeptionen von Kontinuität und Imagination nicht so weit auseinanderliegen.⁴⁹ Denn Castoriadis präzisiert und relativiert seine Überlegungen zur radikalen Neuschöpfung in seinen späteren Schriften dahingehend, dass es sich bei dem kreativen Akt der creatio ex nihilo nicht gleichzeitig um eine creatio in nihilo und cum nihilo handle. Das Hervorbringen von Neuem sei also ohne unmittelbare Kausalität möglich, könne aber nicht absolut hintergrundfrei ablaufen.⁵⁰ Vielmehr führt er vier Bedingungen an: (1) biologische und natürliche Faktoren (z. B. auch Sprachwerkzeuge), (2) psychische Faktoren und Sozialisierung, (3) Beschränkungen durch his-

terarische Poetologie(n) des Imaginären. Zum Potenzial der (Selbst‐)Veränderungskräfte bei Cornelius Castoriadis und Alfred Döblin. Würzburg 2013. Seine absolute Bevorzugung des Neuen (vgl. S. 152) ist für vormoderne Texte aber unzulässig. Vgl. dazu auch Kapitel 6.3  Jan-Dirk Müller: Einleitung. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Berlin, Boston 2007, S. VII–XI, hier S. VIII.  Ricœur unternimmt vor allem in seinem dreiteiligen Hauptwerk Text und Erzählung unter hermeneutisch-phänomenologischen Prämissen eine Verbindung von Geschichte und Narration und ist damit unmittelbar anschlussfähig für literaturwissenschaftliche Fragestellungen. Vgl. auch Jean-Luc Amalric: Ricoeur and Castoriadis. The Productive Imagination Between Mediation and Origin. In: Suzi Adams (Hg.): Ricoeur and Castoriadis in Discussion. On Human Creation, Historical Novelty, and the Social Imaginary. London 2017, S. 77– 110, hier S. 81. Die Theorien von Castoriadis sind hingegen nicht eindeutig philosophisch, sondern sind auch psychoanalytisch, soziologisch etc. geprägt und „disziplinär nicht zu verorten“; Hans Joas und Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt a. M. 42013, S. 558.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 10.  Ricoeur and Castoriadis. Radio Dialogue. In: Suzi Adams (Hg.): Ricoeur and Castoriadis in Discussion. On Human Creation, Historical Novelty, and the Social Imaginary. London 2017, S. 1– 20.Weiter konstatiert Ricœur 2004 in einem anderen Interview: „[T]he imaginative and creative dimension of the social, this imaginaire social, has been brilliantly analysed by Castoriadis“; Paul Ricœur: The Creativity of Language. In: Richard Kearney (Hg.): On Paul Ricoeur. The Owl of Minerva. Aldershot 2005, S. 127– 144, hier S. 133. Castoriadis betont trotz aller Differenzen, die zwischen den Theorien bestünden, die „richness and solidity“ von Ricœurs Werk. Cornelius Castoriadis: World in Fragments. Writings on Politics, Society, Psychoanalysis, and the Imagination, hg. von David Ames Curtis. Stanford 1997, S. 438. (Anm. 1).  „The creation is not motivated by external factors but is conditioned by them“; George H. Taylor: On the Cusp. Ricoeur and Castoriadis at the Boundary. In: Suzi Adams (Hg.): Ricoeur and Castoriadis in Discussion. On Human Creation, Historical Novelty, and the Social Imaginary. London 2017, S. 23 – 48, hier S. 40.

4.2 Gesellschaftsbilder

47

torische Traditionen, (4) intrinsische Bedingungen zur Kohärenzbildung.⁵¹ Laut Castoriadis (wie auch laut Ricœur) sind kreative Prozesse also durch historische Traditionen geprägt und beschränkt.⁵² Diese Position hat weitergehende Voraussetzungen im Denken von Castoriadis. Denn sein Anspruch ist die wenig bescheidene „Klärung der Frage der Geschichte – und der Gesellschaft. Beide Fragen sind nur als eine einzige, als die Frage nach dem Gesellschaftlich-Geschichtlichen zu begreifen.“⁵³ Dieses Gesellschaftlich-Geschichtliche ist zugleich passiv und aktiv. Es wird von einer grundlegenden „Identitäts- oder Mengenlogik [logique identitaire ou ensembliste]“⁵⁴ instituiert und instituiert diese durch den Einfluss auf die Institutionen des legein (Sprache und gesellschaftliche Vorstellung) und des teukein (gesellschaftliches Handeln).⁵⁵ Castoriadis gebraucht den Begriff ‚Institution‘ sehr weit und prägt selbst den Terminus ‚Instituierung‘, welcher alle Modellierungen „im Rahmen menschlicher Vergesellschaftungsformen“⁵⁶ beinhaltet und damit eine phänomenologische „Proto-Ebene, aus der ‚Institutionelles‘ sich erst entwickeln kann“,⁵⁷ einnimmt. Jedoch gibt es keine Kausalbeziehung. Vielmehr besteht ein zirkuläres Implikationsverhältnis zwischen dem Modellierten und dem Modellierenden: „[D]ie Institution setze sich voraus; sie kann nur sein, als ob sie schon immer und ohne Einschränkung gewesen wäre – und als ob sie immer erst noch bevorstünde.“⁵⁸ Diese Korrelation macht Castoriadis mit den Operationsschemata der Trennung und Vereinigung im Signifikationsprozess deutlich: Aber Trennung und Vereinigung sind Operationen, die nicht ohne einander auskommen und nicht ohne die übrigen Operationsschemata, von denen noch die Rede sein wird, sein können. Sie fordern einander; das eine tritt auf, nur weil das andere erscheint. Dennoch wäre es sinnlos zu sagen, sie seien ‚dasselbe‘. Mangels angemessenerer Ausdrücke sprechen wir von ‚wechselseitiger Inhärenz‘ oder ‚zirkulärer Implikation‘.⁵⁹

 Cornelius Castoriadis: Radical Imagination and the Social Instituting Imaginary. In: Gillian Robinson und John Rundell (Hg.): Rethinking Imagination. Culture and Creativity. London, New York 1994, S. 136 – 154, S. 149 – 151. Vgl. auch Taylor: On the Cusp, S. 39 – 41. Castoriadis nennt die vier Bereiche (1) „external“, (2) „internal“, (3) „historical“ und (4) „intrinsic“.  Vgl. Kapitel 6.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 285.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 298.  Dazu und zur Differenzierung des Begriffsspektrums ‚Institution‘ vgl. Karl-Siegbert Rehberg: Die stabilierende ‚Fiktionalität‘ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung. In: Reinhard Blänkner und Bernhard Jussen (Hg.): Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen 1998, S. 381– 407, hier S. 386.  Rehberg: Stabilierende ‚Fiktionalität‘, S. 386.  Rehberg: Stabilierende ‚Fiktionalität‘, S. 386.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 417 [Herv. im Orig.].  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 417 (Anm. 23) [Herv. im Orig.].

48

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

Durch diese Prozesse konstituiere sich das Gesellschaftlich-Geschichtliche: „Das gesellschaftlich Imaginäre besteht in der und durch die Setzung/Schöpfung gesellschaftlicher imaginärer Bedeutungen und der Institution.“⁶⁰ Es ist also simultan ein Produkt und ein Produzent von Gesellschaft und ihren – diese modellierenden – Institutionen. Trotz einer Anlehnung des gesellschaftlich Imaginären an eine natürliche Primärschicht⁶¹ ist das Imaginäre nicht notwendigerweise real. Gewisse Umstände und Dynamiken können jedoch die Folge nach sich ziehen, „daß das gesellschaftliche Imaginäre in unserem Sinne realer ist als das ‚Reale‘.“⁶² Über die Wirklichkeit des Imaginären sagt Castoriadis: In der Sicht der Beteiligten hängen diese Ziele [unzählige partikulare Ziele, die sich auf die Praxis beziehen] mit ebenso begrenzten, ‚konkreten‘ und ‚abstrakten‘ Bedeutungen zusammen, die – wie sich später zeigt – von der sich im selben Zuge instituierenden zentralen Bedeutung [theoretischlogischer Reflexion über die Gesellschaft] überdeterminiert sind. Diese läßt sich somit erst nachträglich als nicht-reale Bedingung der realen Koexistenz der gesellschaftlichen Phänomene erfassen: als nicht-reale, aber eminent wirkliche*, weil wirkende* Bedingung.⁶³

Die Praxis geht notwendig der Theorie, also das handelnde Sein (πράσσω) dem reflektierenden Sehen (θεάομαι) voraus, auch wenn die Praxis erst post festum durch die als vorgängig und übermächtig wahrgenommene Theorie erkannt und klassifiziert wird. Das gesellschaftlich Imaginäre ist analog modellbildend und demnach die nicht-reale Bedingung der realen Koexistenz und Inhärenz. Demnach ist das gesellschaftlich Imaginäre nicht real, aber enorm wirklich. Die gesellschaftlich imaginären Bedeutungen aber hängen in einem zirkulären Implikationsverhältnis mit den Dingen zusammen, deren Individualität und Exemplarität vom gesellschaftlich Imaginären konstituiert ist. Diese Institution von imaginärer Bedeutung fasst Castoriadis im unkonventionellen Bild des Magmas. ⁶⁴ Dieses stellt eine Alternative zu einem vorgeprägten identitätslogischen und mengentheoretischen Denken zur Verfügung, welches nur eine sekundäre Position einnehme, jedoch das einzige – weil gewohnte – Instrument des Denkens darstelle.⁶⁵ Dabei versteht er unter dem Magma „nicht das Chaos […],

 Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 603.  Castoriadis orientiert sich an der Terminologie von Sigmund Freud. Vgl. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 317.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 242. Castoriadis wählt hier als Beispiel die Verdinglichung des Menschen im Zustand der Sklaverei, die er als imaginäre Schöpfung bezeichnet, welche rhetorischen Regeln folge (Metapher und Metonymie).  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 594 f. Die mit Asterisk versehenen Wörter sind im französischen Original in deutscher Sprache.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 583.  „Mit der Institution der Gesellschaft wird jeweils ein Bedeutungsmagma instituiert, dem das Instrumentarium jener beiden grundlegenden Institutionen [legein als das gesellschaftliche Sagen/ Vorstellen und teukein als das gesellschaftliche Tun] zur Verfügung stehen muß, die das, was für die

4.2 Gesellschaftsbilder

49

sondern eine nicht-mengenförmige Organisationsweise einer Mannigfaltigkeit, für die das Gesellschaftliche, das Imaginäre und das Unbewußte als Beispiel dienen können.“⁶⁶ Es handelt sich also um ein vielgestaltiges, wechselhaft-fluides, nicht-systematisierbares, aber dennoch „gegliedertes Beziehungssystem“.⁶⁷ Müller hält diese Metapher dahingehend für problematisch, als sie die Vorstellung einer gestaltlosen Masse evoziere: „Aus globaler Perspektive trifft die Metapher Magma also zu, während in bezug auf bestimmte Wirklichkeitsbereiche und Typen durchaus strukturierte Einheiten zu unterscheiden sind.“⁶⁸ Rainer Warning interpretiert das Bild anders, indem er mit Jürgen Habermas feststellt, das Magma sei „keine wabernde und wabbelnde Masse, sondern eher […] eine vulkanartige Bedeutungsfülle, aus der sich die Geschichte der imaginären Selbstinstitution von Subjekt und Gesellschaft speist.“⁶⁹ Georg H. Taylor führt den metaphorischen Sprachgebrauch vom Vulkan weiter und integriert gleichzeitig die Überlegungen zum zirkulären Implikationsverhältnis: Er vergleicht die Genese einer neuen ontologischen Form mit dem Austreten von Magma aus der Erde.⁷⁰ Sobald das Magma zur Lava wird und weiter fließt, bleibt die Zusammensetzung der Lava zwar dieselbe, doch sie wird von den natürlichen Bedingungen kanalisiert,⁷¹ verändert durch ihre Hitze und Beschaffenheit aber auch die sie umgebenden natürlichen Bedingungen. Die Eruption ist (von außen betrachtet) unmotiviert und plötzlich, wird jedoch durch verschiedene natürliche Konditionen in der Plattentektonik geleitet und begrenzt. Die Hitze und die Ablagerung der Lava, wenn sie erkaltet, verändern weiter das Bodenrelief, und damit die vorgefundenen Bedingungen. Da das Relief jedoch auch ein Resultat geologischer Prozesse ist, stehen das Modellierende (die neue Lava) und das Modellierte (der erkaltete Basalt) in einem zirkulären Implikationsverhältnis. Wie jeder Vergleich deckt auch dieser nicht alle Dimensionen des Gedankengebäudes ab, sondern dient vielmehr der Illustration. Gemäß der Magmalogik Castoriadis’ und den Regeln des zirkulären Implikations-

Gesellschaft ist, identitätslogisch-mengentheoretisch organisieren“; Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 604.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 310. Eine formale Definition von Magma bietet Cornelius Castoriadis: The Logic of Magmas and the Question of Autonomy. In: Philosophy and Social Criticism 20 (1994), S. 123 – 154, hier S. 131 f.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 245.  Müller: Höfische Kompromisse, S. 14.  Warning: Das Imaginäre und das Symbolische, S. 18 mit Bezug auf Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985, S. 383.  „[E]merge of a new ontological form – eidos – and of a new mode and level of being“; Cornelius Castoriadis: Philosophy, Politics, Autonomy, hg. David Ames Curtis. New York 1991, S. 64.  Vgl. Taylor: On the Cusp, S. 41: „To use another metaphor, if magma erupts above the earth’s surface as lava, the lava flow will be channeled by conditions on the surface, but the constitution of the lave itself remains unimpinged. The creation as form is not modified. The creation’s meaning is substantively unaltered“.

50

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

verhältnisses ist das gesellschaftlich Imaginäre also „nicht bestimmt, aber bestimmend.“⁷² Neben diesen Strukturen des Imaginären ist zwischen verschiedenen Ebenen des Imaginären zu unterscheiden.⁷³ Castoriadis bewegt sich vornehmlich auf einer makroskopischen Ebene, beschäftigt sich also mit gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Institutionen und Vorstellungen, welche eine identitätslogische und mengentheoretische Fundierung von Gesellschaften bilden. Gesellschaftsbilder sind weniger ein direkter Teil des Bedeutungsmagmas, sondern ein Teil des ‚aktualen‘ Imaginären, also des Imaginierten als Produkt des (radikalen) gesellschaftlich Imaginären.⁷⁴ Bei ihnen handelt es sich um äußerst wirkmächtige und damit auch die Wirklichkeit konstituierende Imaginationen, wie z. B. die Aufteilung der Gesellschaft in verschiedene Stände. Um ein zentrales Imaginäres, welches in der hierarchisch-stratifikatorischen Differenzierung liegt, gruppiert sich ein „Gürtel von sekundärem Imaginärem“,⁷⁵ welcher die genaue Ausgestaltung des Gesellschaftsbildes und damit der jeweiligen Praktiken prägt, z. B. ob das Schichtenmodell aus den drei Ständen des Mittelalters oder der Trennung in Arbeiter, Mittelstand und Eliten realisiert wird, ob es theologisch oder sozial-funktional legitimiert ist etc. Es ist offensichtlich, dass diese Produkte des gesellschaftlich Imaginären nur durch eine Repräsentation im Symbolischen bestehen können.⁷⁶ Das Symbolische hingegen beinhaltet aufgrund einer im Signifikationsprozess zugeschriebenen Referenz „beinahe immer einen ‚rational-realen‘ Bestandteil, der das Reale darstellt und für den theoretischen und praktischen Umgang mit diesem unentbehrlich ist.“⁷⁷ Das Imaginäre steht demnach nicht in Opposition zum Realen,⁷⁸ sondern es ist dem

 Cornelius Castoriadis: Das griechische und das moderne politische Imaginäre. In: Michael Halfbrodt und Harald Wolf (Hg.): Philosophie, Demokratie, Poiesis. Lich 2011, S. 93 – 121, hier S. 93.  Rauwald extrahiert sechs Dimensionen aus den Schriften von Castoriadis, die einander gegenüberstehen: individuell : gesellschaftlich; zentral : peripher; radikal : aktual. Vgl. Rauwald: Poetologie(n) des Imaginären, S. 67– 69.  Vgl. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 218. (Anm. 24). Das ‚aktuale Imaginäre‘ als sprachlich realisierte Vorstellung von Welt deckt sich weitgehend mit dem Foucault’schen DiskursBegriff.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 221.  „Die tiefgreifenden und undurchsichtigen Beziehungen zwischen Symbolischem und Imaginärem lassen sich ahnen, sobald man folgendes in Erwägung zieht: Das Imaginäre muß das Symbolische benutzen, nicht nur um sich ‚auszudrücken‘ – das versteht sich von selbst –, sondern um überhaupt zu ‚existieren‘, um etwas zu werden, das nicht mehr bloß virtuell ist“; Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 218.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 219. Dieser Bezug zum ‚Realen‘ wird durch die triadische Zeichenrelation erläutert, der zufolge rational-reale Erkenntnis erst durch das Erkennen der Einheit und flexiblen Unterschiedenheit von Signifikant, Signifikat und ihre Verbindung sui generis möglich ist. Fehlt diese, kommt es in der starren Gleichsetzung von Ding und Symbol zu einer naiven Regression ins aktual Imaginäre.  Vgl. Iser Das Fiktive und das Imaginäre, S. 292 f. Dieser erweitert jedoch die binäre Opposition von Fiktivem und Realem durch die Zwischenstellung des Imaginären.

4.2 Gesellschaftsbilder

51

Realen inhärent, sofern dieses als „bestimmte Realität, als Realität dieser Gesellschaft“⁷⁹ verstanden wird. So hat die Geburt in einen bestimmten Stand oder eine bestimmte Schicht (noch heute, aber in viel stärkerem Maße im Mittelalter) einen enormen realen Einfluss auf die Möglichkeiten des Handelns und Denkens, da das Individuum „unter der imaginären Voraussetzung einer Realität, in der das Mögliche selbst als bestimmt gesetzt wäre“,⁸⁰ zu leben glaubt. Damit schafft es wieder – gemäß einem zirkulären Implikationsverhältnis – Realität. Es ist also gleichzeitig bestimmend und bestimmt. Das Imaginäre markiert einen diffusen Modus zwischen Wahrnehmung des Realen und (konstruktivem) Denken des Möglichen,⁸¹ sie bilden „einen Kreislauf oder eine Art gesellschaftlichen Verdauungsprozess.“⁸² Außerdem changiert das Vermögen der Konstitution des Imaginären zwischen dem wahrnehmenden und denkenden Individuum und der symbolisch strukturierten Gesellschaft.⁸³ Imaginationen oder Phantasmen auf einer individuellen Ebene werden erst dadurch wirksam und damit wirklich, dass sie von der Gesellschaft als Orientierungsmarken wahrgenommen werden.⁸⁴ Dieser Prozess begegnet als sprachliche Modellierung der vorgestellten Wirklichkeit – eine „Imagination des Imaginären“.⁸⁵ Das Imaginäre kann also, wie bereits erwähnt, nicht voraussetzungslos entstehen, es „ereignet sich erst, wo es auf schon Vorhandenes trifft.“⁸⁶

 Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 440.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 440 f.  „Der Reiz des Imaginären liegt deshalb in seiner Stellung zwischen regressiven Bindungen an eine Lebensrealität wie die Sprachordnung und in seinen progressiven Konstruktionen von Wirklichkeitsentgrenzung. Deren Vermittlung ist dadurch eingeschränkt, daß auch sie einer signifikanten Medialität bedürfen. Das Eindringen von Realem und Symbolischem in das Imaginäre ist deshalb nicht auszuschließen“; Erich Kleinschmidt: Die Imagination des Imaginären. In: Erich Kleinschmidt und Nicolas Pethes (Hg.): Lektüren des Imaginären. Bildfunktionen in Literatur und Kultur. Köln 1999, S. 15 – 31, hier S. 17.  Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M. 22012, S. 222. Koschorke rekurriert zwar nicht auf Castoriadis’ zirkuläres Implikationsverhältnis, kommt jedoch durch die Reflexionen von Gedächtnistheorien (u. a. von Assmann) auf ein ähnliches Ergebnis.  Kleinschmidt: Die Imagination des Imaginären, S. 17.  Vgl. Kleinschmidt: Die Imagination des Imaginären, S. 29.  Kleinschmidt: Die Imagination des Imaginären, S. 29. Diese sprachliche Modellierung des gesellschaftlich Imaginären beschreibt Castoriadis folgermaßen: „Die Gesamtheit der Vorstellungen, die ein Individuum in jedem Augenblick und sein ganzes Leben lang hat […] ist zunächst und vor allem ein Magma. Diese Vorstellungen sind keine Menge bestimmter und wohlunterschiedener Elemente, aber auch keineswegs reines Chaos. Es ist durchaus möglich, aus jedem Magma eine bestimmte Vorstellung herauszugreifen oder ihren Ort darin zu bestimmen. […] Das legein trennt aus dem Vorstellungsstrom ein Bruchstück, einen Aspekt, ein Moment provisorisch aus dem Übrigen heraus […]. Gewöhnlich wird es dazu mit einem bestimmten sprachlichen Ausdruck verbunden“; Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 530.  Kleinschmidt: Die Imagination des Imaginären, S. 30.

52

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

Castoriadis verneint einen eindeutigen Sinn und geht davon aus, dass Sinn wesentlich imaginär sei,⁸⁷ was ihn zu folgendem Ergebnis veranlasst: „Die gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen – sofern sie wirklich die letzten sind – denotieren nichts, konnotieren aber fast alles.“⁸⁸ Eine komplette und auf endgültigen Sinn ausgerichtete (Literatur‐)Geschichtsschreibung ist mit den Ansätzen von Castoriadis nicht vereinbar: Eine fertige Theorie der Geschichte kann es nicht geben, und die Idee einer totalen Vernünftigkeit der Geschichte ist abwegig. Dennoch sind Geschichte und Gesellschaft nicht in einem positiven Sinne irrational.⁸⁹

Es gibt zwar keinen letzten Sinn, jedoch auch kein Chaos. Denn die magmatischen Bedeutungen sind strukturiert durch konstante „Rillen, Kraftlinien, Adern […], die das Mögliche und Machbare begrenzen, das Wahrscheinliche anzeigen und es dem Handeln erlauben, im Gegebenen Eingriffspunkte zu finden.“⁹⁰ Eine hermeneutische Annäherung ist so zumindest asymptotisch an einen letztlich offenen Sinn möglich.⁹¹ Von einem „epistemologischen Pluralismus“⁹² geht auch Markus Gabriel in seinen Ausführungen zu einem Neuen oder Neutralen Realismus aus.⁹³ Dabei teilt er in manchen Aspekten Grundannahmen von Castoriadis:⁹⁴ Er lehnt ebenfalls eine mengentheoretische Ontologie ab und postuliert stattdessen potentiell indefinite ‚Sinnfelder‘.⁹⁵ Für diese gilt anstatt eines radikalen (Bereichs‐)Konstruktivismus ein Bereichsrealismus, d. h. die „robuste Notwendigkeit der Tatsache, dass es Bereiche gibt“⁹⁶ und innerhalb dieser Bereiche Tatsachen ‚existieren‘. Er versteht

 Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 233 – 268.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 246.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 135.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 136.  Ausführlich vgl. Rauwald: Poetologie(n) des Imaginären, S. 165 – 173 und S. 406 f. Vgl. auch Johann P. Arnason: Kulturelle Horizonte und imaginäre Bedeutungen. In: Alice Pechriggl und Karl Reitter (Hg.): Die Institution des Imaginären. Zur Philosophie von Cornélius Castoriadis. Wien, Berlin 1991, S. 143 – 171.  Gabriel: Sinn und Existenz, S. 439.  Wichtige Vertreter des recht heterogenen Neuen Realismus sind US-amerikanische (v. a. Paul Artin Boghossian: Fear of Knowledge. Against Relativism and Constructivism. Oxford, New York 2006, Thomas Nagel: The Last Word. Oxford, New York 1997), italienische (v. a. Maurizio Ferraris: Manifesto del Nuovo Realismo. Rom, Bari 2012) und deutsche Philosophen (v. a. Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt. Berlin 2013 und Gabriel: Sinn und Existenz).Vgl. außerdem die Tagung „Aussichten für einen Neuen Realismus“ (26 – 28. März 2013): Markus Gabriel (Hg.): Der neue Realismus. Berlin 32015. Zu einer kritischen Diskussion der Positionen vgl. Markus Gabriel: Neutraler Realismus. JahrbuchKontroversen 2, hg. von Thomas Buchheim. Freiburg i. Br., München 2017.  Zu einer expliziten Aufnahme von Castoriadis’ Modellen vgl. Markus Gabriel: An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus. Freiburg im Breisgau 22014, S. 213 und 284.  Vgl. Gabriel: Sinn und Existenz, S. 183 und zu den Sinnfeldern S. 276 – 355.  Gabriel: Sinn und Existenz, S. 179.

4.3 Literarische Imaginationen

53

unter ‚Existenz‘ die Tatsache, dass ein Gegenstand oder einige Gegenstände in einem Sinnfeld erscheinen. […] Einige Gegenstände sind konstruiert, mindestens in dem anspruchslosen Sinn, dass sie in Tatsachen involviert sind, die nicht bestanden hätten, wenn es keine Menschen gegeben hätte. So wie mentale Gegenstände trivialiter davon abhängen, dass jemand sie hat, werden noch viele weitere Tatsachen durch uns produziert, das heißt, sie existieren ontologisch abhängig von uns. Demnach ist es weder der Fall, dass alle Gegenstände konstruiert sind, noch, dass dies für überhaupt keinen Gegenstand gilt.“⁹⁷

Diese Verbindung einer objektiven Realität mit gesellschaftlicher Konstruktion teilt er mit Castoriadis’ Magmalogik, die ja auch eine Anlehnung des Imaginären an eine natürliche Schicht postuliert. Gesellschaftsbilder repräsentieren mithin ein eigenes Sinnfeld, welches unter Umständen den Anschein einer objektiven Tatsache sozialer Wirklichkeit erweckt. Dieser Eindruck von Objektivität ist dadurch verstärkt, dass ein Gesellschaftsbild an verschiedenen anderen Sinnfeldern partizipiert und so die allgemeine Vorstellung prägen kann wie die Gewissheit einer tatsächlichen Existenz von Hexen und Zauberern in weiten Teilen der Gesellschaft während der Frühen Neuzeit.

4.3 Literarische Imaginationen Auf einer mittleren Ebene zwischen individuellen Imaginationen und dem gesellschaftlichen Imaginären sind literarische Texte zu situieren. Nach Müller referieren literarische Imaginationen „auf alle Erscheinungsformen des gesellschaftlich Imaginären“,⁹⁸ indem sie diese interpretativ aufnehmen und im Einzeltext konkret verdichtet umsetzen. Durch die höhere relative Gestaltungsfreiheit, die literarischen Texten zugebilligt wird – den „‚Spielraum‘ für literarische Fiktionen“⁹⁹ – kann sich „das Imaginäre ungehinderter entfalten“,¹⁰⁰ und zwar einerseits als Bezugsobjekt der innerliterarischen Wirklichkeit (z. B. Weltbilder, Gesellschaftsbilder, Rechtsvorstellungen etc.), andererseits als Impulsgeber für literarische Produktion (z. B. aufgrund von Wünschen, Ängsten, Idealen, Schreckbildern etc.).¹⁰¹ Das gesellschaftliche Imaginäre setzt einen Rahmen, in dem sich die Ausprägungen der konkreten literarischen Imaginationen einschreiben,¹⁰² gewissermaßen als „imaginäre Ordnungen zweiten Grades“.¹⁰³ Beispiele für „kulturspezifisch gültige Interpretationsmuster, die zwar der Orientierung dienen, aber nicht in derselben Weise institutionell verankert sind“,¹⁰⁴

 Gabriel: Sinn und Existenz, S. 184 [Herv. im Orig.].  Müller: Höfische Kompromisse, S. 15.  Jan-Dirk Müller: Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur. In: Poetica 36 (2004), S. 301.  Müller: Höfische Kompromisse, S. 15.  Vgl. Müller: Literarische und andere Spiele, S. 300.  Vgl. Müller: Imaginäre Ordnungen, S. 49.  Müller: Höfische Kompromisse, S. 12.  Müller: Literarische und andere Spiele, S. 301.

54

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

wären spezifische Gesellschaftsbilder, wie die Vorstellung von einzelnen Ständen. So bezeichnet des Imaginäre vornehmlich eine heuristische Denkfigur, die es erlaubt, „die unbestimmten doch schöpferischen Kräfte von (Selbst‐)Veränderung begrifflich zu fixieren und mental zu figurieren, um diese denken und mit ihr (hier literaturwissenschaftlich) arbeiten zu können.“¹⁰⁵ Explizit fiktionalen Texten ist es möglich, „solche imaginären Ordnungen ‚spielend‘ zu verändern: zu überhöhen, karikieren, subvertieren, verkehren und dergleichen“,¹⁰⁶ wobei diese Veränderungen meist nur das sekundäre Imaginäre des Gesellschaftsbildes betreffen. Außerdem sind fiktionale Texte dahingehend eingeschränkt, dass sie Veränderungen nur soweit durchführen können, als es der gesellschaftlich vom Rezipienten akzeptierte ‚Spielraum‘ der Fiktion zulässt: der Fiktionalitätskontrakt zwischen Produzent und Rezipient.¹⁰⁷ Also kann „das literarisch Imaginäre zwar kategorial, doch keineswegs faktisch so fundamental vom gesellschaftlich Imaginären geschieden“¹⁰⁸ werden. Dies gilt vor allem für vormoderne Texte, die generell zu einer Typisierung der Figuren neigen und sich auf die Umsetzung sozialer Rollen konzentrieren, v. a. Fabeln, Satiren und Schwänke. Stärker als bei modernen Texten ist es essentiell, neben der narrativen Funktion im Einzeltext das (historische) Weltwissen über einen solchen Figurentypus in die Untersuchung einzubeziehen. Jedoch darf sich dieses Vorgehen weder in der Suche nach (vermeintlichen) sozialgeschichtlichen Fakten erschöpfen, noch das vorausgesetzte Wissen als Teil literarischer Fiktion absolut setzen. Denn mittelalterliches Erzählen situiert sich zwischen den beiden Polen des Fiktionalen und Faktualen, wobei die Poetologie faktualem Erzählen (oder zumindest einer signifikativen Fiktionalität) den Vorrang gibt.¹⁰⁹ Jan-Dirk Müller geht von einer Skalierbarkeit von Fiktionalität in (vormodernen) literarischen Texten aus.¹¹⁰ Denn die Aufnahme von Elementen aus der Realität kann pragmatisch bestimmt sein (z. B. als politische Täuschung, zur Selbstdarstellung etc.), nur fragmentarisch oder eine Variation des ‚realen‘ Referenzobjekts. Dieser unsichere Bezug zur Realität aber beschränkt sich nicht auf ‚Literatur‘ und nicht einmal auf Texte, sondern umfasst auch außerliterarische Praktiken und Habitus. Es

 Rauwald: Poetologie(n) des Imaginären, S. 427.  Müller: Literarische und andere Spiele, S. 301.  Zu pragmatischer Fiktionalitätsdefinition und dem Fiktionalitätskontrakt im Erzählen um 1200 vgl. Müller: Literarische und andere Spiele, S. 290 f. und Mark Chinca: Mögliche Welten. Alternatives Erzählen und Fiktionalität im Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. In: Poetica 35 (2003), S. 307– 333, hier S. 313 f.  Müller: Höfische Kompromisse, S. 16.  Vgl. Sonja Glauch: Fiktionalität im Mittelalter; revisited. In: Poetica 46 (2014), S. 85 – 139, hier v. a. S. 95 f. und 101– 107. Fritz Peter Knapp (Hg.): Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik (II). Heidelberg 2005, S. 10 fasst unter signifikativer Fiktionalität eine Form der Nicht-Wirklichkeit, die sich auf eine (theologische oder gnomische) Bedeutung bezieht.  Vgl. Müller: Literarische und andere Spiele; für eine skalierbare Fiktionalität auch Glauch: Fiktionalität, S. 120 – 125.

4.3 Literarische Imaginationen

55

gibt also ‚fiktionalere‘ und ‚weniger fiktionale‘ Texte.¹¹¹ Schließlich ist Fiktionalität auch historisch relativ, also das Bewusstsein davon, wie weit die Literatur die Realität dispensieren darf, variabel. „Der Umstand, daß bestimmte Elemente an mittelalterlichen Fiktionen als ‚faktisch wahr‘ betrachtet werden, obwohl sie es im modernen Sinne nicht sind, schließt nicht aus, daß sie in einem historisch spezifischen Sinne explizit oder implizit als ‚fiktional‘ verstanden werden.“¹¹² Die Strukturen des Imaginären lassen sich demnach in nuce auch auf den Bereich (eher) literarischer Texte „als integrale Teil[e]“¹¹³ des Imaginären übertragen und Wechselbeziehungen feststellen. So stehen literarische Texte in einem zirkulären Implikationsverhältnis mit anderen Instanzen des gesellschaftlich Imaginären. Sie sind durch die zentralen Elemente der gesellschaftlichen Vorstellungen konturiert. Denn auch der Produzent autonom-ästhetischer ‚genialer‘ Literatur ist ein Teil einer Gesellschaft und zu einem gewissen Grad von dieser bestimmt. Zugleich wirken diese Imaginationen wieder auf das gesellschaftlich Imaginäre und prägen dieses in unterschiedlicher Intensität, indem sie Erklärungen und Ätiologien liefern oder indem sie Bezeichnungsmodelle für Phänomene bieten. Sie können von einem rezipierenden Individuum oder einer Gruppe internalisiert werden und zu einem prägenden Moment für eine ganze Gesellschaft werden. Gerade in der Retrospektive sind solche literarischen Imaginationen wirksam, da sie durch die geschichtliche Distanz eine Rekonstruktion von Vergangenheit vornehmen und vor allem bei einem Bezug auf die Geschichte der eigenen sozialen Gruppe des interpretierenden Rezipienten (der Familie,

 Gegen einen „Gradunterschied stärkerer und schwächerer Fiktivität“ wandte sich explizit Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, S. 223. In Absetzung und Ergänzung von Hamburger lehnt auch Danneberg die Gradation oder Komparation von Fiktionalität als fiktionstheoretischen Kompositionalismus ab. Denn die „ontologische Welt einer fiktionalen Darstellung ist im Vergleich zur als real ausgezeichneten Welt immer begrenzt, ohne dass sich die Grenze vorab ziehen lässt.“ Zudem könne man sich fiktionalen Texten nur mittels der Interpretation annähern, für diese Interpretation aber seien weder alles außertextliche Weltwissen noch alle innertextlichen Informationen relevant. Vgl. Lutz Danneberg: Kritik am Kompositionalismus. Zu Vorstellungen fiktional-faktual gemischter Texte, zu Semifiktionalität und zu Gradationen der Fiktionalität. In: Andrea Albrecht und Claudia Löschner (Hg.): Käte Hamburger. Kontext, Theorie und Praxis. Berlin, Boston 2015, S. 253 – 267, hier S. 266. Hamburger und Danneberg gehen jedoch von der Perspektive eines modernen Literarizitätsanpruchs aus, der für das Mittelalter und Teile der Frühen Neuzeit nachrangig oder obsolet ist.  Müller: Literarische und andere Spiele, S. 311. Zur Methodik einer historischen Fiktionalitätsforschung – v. a. aus dem Bereich der Frühneuzeitforschung – vgl. Stefan Trappen: Fiktionsvorstellungen der Frühen Neuzeit. Über den Gegensatz zwischen „fabula“ und „historia“ und seine Bedeutung für die Poetik. In: Simpliciana 20 (1998), S. 137– 163 und Benjamin Gittel: Enzyklopädisches Erzählen als Indikator einer frühneuzeitlichen Fiktionalitätspraxis sui generis? Historische und methodologische Überlegungen am Beispiel von Johann Fischarts Geschichtklitterung und dem Fortunatus. In: Mathias Herweg, Johannes Klaus Kipf und Dirk Werle (Hg.): Enzyklopädisches Erzählen und vormoderne Romanpoetik (1400 – 1700). Wiesbaden 2019, S. 45 – 60, hier S. 46 – 49.  Müller: Höfische Kompromisse, S. 17.

56

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

des Stammes etc.) die eigene Selbstwahrnehmung prägen.¹¹⁴ Auf das Beispiel von Literatur mit universitärem Kontext bezogen, „sollten literarische Artefakte auch auf Wirkungen befragt werden, die sie bei Studenten auslösten, nicht zuletzt durch die Bekräftigung von Stereotypen.“¹¹⁵ Ein historisch dezidiert fiktional wahrgenommener Text kann so in späterer Zeit aus pragmatischen Gründen oder zufällig auf das Imaginäre und damit auf die Praktiken einer zeitlich späteren Gesellschaft wirken. Auch wenn die Vormoderne eine Zeit dominanter Mündlichkeit und eine performative Aneignung der Literatur über das Ohr die normale Rezeptionssituation ist, hat doch die schriftkundige Elite eine diskursprägende Potenz. Denn wenn das geschriebene und so relativ zeit- und raumunabhängig tradierbare Wort nur in sehr begrenztem Umfang existiert, zugleich aber als Schatzkammer eines kulturellen Gedächtnisses wahrgenommen wird, können auch schlecht überlieferte Texte eine potentiell hohe Wirkung erzielen. Dies verschiebt sich durch die medialen Umbrüche zum Ende des Mittelalters. Im Verlauf einer zunehmenden Handschriftenproduktion und in neuem Maßstab durch die technischen Vervielfältigungsmöglichkeiten im Druck können die Inhalte einzelner Handschriften durch die größere Fülle an Material untergehen. Gedruckte Texte sind hingegen leichter zu reproduzieren, zugänglich zu machen und zu verbreiten.¹¹⁶ So können einzelne schriftliche Inhalte erheblich größere Reichweiten erzielen und so den Diskurs prägen. Das gesellschaftlich Imaginäre ist also – neben einer eigenen Anschauung von Wirklichkeit – einerseits zentraler Bezugspunkt der Inhalte von Literatur, andererseits auch der „Inbegriff jener Energien, aus denen Literatur ihre Impulse bezieht und denen sie Gestalt verleiht: Wünsche und Phobien, Begehren und Abwehr, Neigungen und Ängste, Ideale und Schreckbilder, Selbst- und Gesellschaftsentwürfe.“¹¹⁷ Der (mediävistischen) Literaturwissenschaft darf es demnach nicht um das Extrahieren historischer Sachverhalte aus fiktionaler Literatur und einen Abgleich mit der außerliterarischen (‚realen‘) Wirklichkeit gehen, sondern um „die weit grundsätzlichere Frage, wie im Mittelalter literarische Imagination und gesellschaftlich Imaginäres zusammenhängen.“¹¹⁸ Dieses Verhältnis von ‚Realität‘ und ‚literarischen Imaginationen‘ ist unterschiedlich benannt worden: als „Echtwelterfahrungen (real world frames)“ und „literarische Konventionen (literary frames)“,¹¹⁹ als „kulturelle Konfigurationen“ und

 In Bezug auf die romantische Hermeneutik und den Historismus Diltheys vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 222– 246.  Skoda: Literarische Texte, S. 523.  Vgl. Rüdiger Schnell: Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert. In: IASL 32 (2007), S. 66 – 111.  Müller: Literarische und andere Spiele, S. 300.  Müller: Höfische Kompromisse, S. 45, dazu auch S. 2 f.  Bruno Zerweck: Der cognitive turn in der Erzähltheorie. Kognitive und ‚Natürliche‘ Narratologie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 219 – 242, hier S. 222.

4.3 Literarische Imaginationen

57

„narrative Muster“¹²⁰ oder als der „literarische und kulturelle Referenzrahmen“.¹²¹ Alle Bezeichnungen haben den Versuch gemeinsam, das komplexe Verhältnis von Vorgaben, die auf systemimmanenten, literarhistorischen Voraussetzungen (literarische Muster wie Gattungspoetik, Erzähltypen, Motive etc.) und von Vorgaben, die auf externen, kulturellen Voraussetzungen (kulturelles, kontextuelles Wissen) beruhen, zu ordnen. Dabei ist das Wissen über die Umwelt als individuelles oder kollektives Gesellschaftsbild und damit als Teil des gesellschaftlich Imaginären zu sehen. Dieses steht in Bezug auf das Imaginäre als konkrete Repräsentation auf einer mittleren Ebene: „‚unterhalb‘ von globalen Ordnungen des Wissens und ‚oberhalb‘ von singulären Ordnungen der Texte“.¹²² Jan-Dirk Müller operiert mit dem Terminus Erzählkern. Er geht davon aus, dass sich „um bestimmte, kulturell distinkte Erzählkerne […] Muster mehr oder minder rudimentärer Erzählungen anschließen, die eine zeitlang literarisch produktiv sind, weil sie historisch relevante Probleme konfigurieren und Lösungsansätze durchspielen.“¹²³ Die Erzählkerne sind also kulturell und historisch flexibel, außerdem weniger artikuliert als ‚Einfache Formen‘ und in ihrem Anspruch der Welterklärung zurückhaltender als Mythen.¹²⁴ Um die Normen von expliziten oder impliziten Gattungspoetiken und die Struktur von Erzähltypen und anderen Mustern bewerten zu können, ist jedoch eine intertextuelle (auch diachrone) Analyse notwendig.¹²⁵ Für die Analyse des kulturellen Referenzrahmens gilt weiter, dass das zirkuläre Implikationsverhältnis von Text und (imaginärem) Kontext bedacht werden muss, um einen methodischen Zirkelschluss zu verhindern.¹²⁶ Dass der unmittelbare Horizont des historischen Produzenten oder ein olympischer „Blick von nirgendwo“¹²⁷ nicht erreicht werden können, versteht sich von selbst. Das Wissen der Vergangenheit sowie das Wissen über die Vergangenheit konstituiert sich erst durch Texte – nicht zuletzt solche, die auch fiktionale Elemente enthalten. Dies schließt nicht unmittelbar eine objektive, von Interpretationen unabhängige Realität der Dinge an sich aus. Bei (literarischen) Texten handelt es sich sowohl um Abbildungen der Wirklichkeit als auch um Bildungen von Wirklichkeit. Durch die Positionierung zwischen Konstruktivismus und Realismus teilt die Abhandlung grundsätzliche Annahmen des Neuen Realismus, der überhaupt in hohem Maße für die Literaturwissenschaft anschlussfähig scheint. Das zeigen bei Christian Kiening: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens. Würzburg 2009, S. 35.  Nicole Eichenberger: Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters. Berlin/Boston 2015, S. 88.  Kiening: Unheilige Familien, S. 35.  Müller: Höfische Kompromisse, S. 23.  Vgl. Müller: Höfische Kompromisse, S. 23 – 41.  Diesen Aspekt werde ich in den „Theoretischen Überlegungen II“ aufgreifen, indem ich Vorschläge für einen mustertheoretischen Zugriff auf eine Literaturgeschichte mache. Vgl. Kapitel 6.  Vgl. dazu Kiening: Unheilige Familien, S. 33 – 35 und Eichenberger: Geistliches Erzählen, S. 88 f.  Thomas Nagel: Der Blick von nirgendwo. Frankfurt a. M. 22015.

58

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

spielsweise bei Gabriel die gehäuften Bezüge auf Texte und Figuren, die dem Bereich der Literatur oder Fiktion zuzuordnen sind, z. B. die Einhörner in Das letzte Einhorn ¹²⁸ oder die Hexen im Faust. ¹²⁹ Textwelten sind eigene (komplexe) Sinnfelder, die an anderen Sinnfeldern partizipieren. Die einzelnen Sinnfelder können sich überschneiden oder miteinander interagieren. Am Beispiel von Goethes Faust – als das Drama und nicht als die Figur, die freilich in ihrem Wirklichkeitsanspruch auch umstritten ist – expliziert Gabriel: Der Faust selbst ist auch ein Gegenstand, etwa im Sinnfeld der Literaturwissenschaften oder in einer Bibliothek, die mehrere Ausgaben von Faust besitzt. […] Wenn ich mich daran erinnere, Faust gelesen zu haben, erscheint das Stück in meiner Erinnerung und existiert dort. Es gibt kein Sinnfeld all dieser Sinnfelder, das uns das Wesen von Faust vollständig erschließt: Faust existiert nicht etwa privilegiert in Goethes Selbstdeutung des Stücks, Faust existiert nicht privilegiert in Bibliotheken oder in Form als klassisch anerkannter Aufführungen, und schon gar nicht existiert Faust privilegiert im Universum, in dem Faust gar nicht vorkommen kann.¹³⁰

Dabei unterscheidet sich die Position Gabriels von einem radikal konstruktivistischen Antirealismus dahingehend, dass der Gegenstand nicht erst durch die Unterscheidung von Sinnfeldern in diskursiven Praktiken hervorgebracht werde. Stattdessen geht er davon aus, dass die ontologische Differenz von Gegenstand und Sinnfeld nicht hervorgebracht, sondern vorgefunden wird, dass die Konstruktion von Artefakten und eigenen Sinnfeldern zwar grundsätzlich möglich ist, sich diese jedoch immer auf Bestehendes/Existierendes beziehen müssen, „was eben nicht bedeutet, dass es ohne unsere kreativen Aktivitäten weder Sinnfelder noch Gegenstände gegeben hätte.“¹³¹ Diese grundsätzliche Feststellung deckt sich mit dem Kernpunkt des Dissenses zwischen Castoriadis und Ricœur über eine creatio ex nihilo – jedoch nicht in und cum nihilo!¹³² Gerade (historische) Gesellschaftsbilder sind also Vorstellungen, die als individuelle und/oder soziale Sinnfelder maßgeblich durch Texte geprägt sind – was nicht heißt, dass sie nicht auch auf tatsächlichem Verhalten beruhen und/oder Praktiken anstoßen können – und für deren Verständnis die Analyse der zugrundeliegenden traditionalen Muster oder Erzählkerne hoch relevant ist.

 Vgl. Gabriel: Sinn und Existenz, S. 205 – 211 u. ö.  Vgl. Gabriel: Sinn und Existenz, S. 173 f., 219 f. u. ö.  Gabriel: Sinn und Existenz, S. 360 f.  Gabriel: Sinn und Existenz, S. 361.  Gabriel betont: „Eine reine Konstitution ex nihilo ist undenkbar, es kann sie nicht geben. Es ist nicht einmal möglich, dass es eine reine Konstitution jenseits unserer Vorstellungskraft oder unserer Fähigkeiten, Möglichkeiten zu entwerfen, gibt“; Gabriel: Sinn und Existenz, S. 180 f.

4.4 Zusammenfassung und Bezug auf das weitere Vorgehen

59

4.4 Zusammenfassung und Bezug auf das weitere Vorgehen Einen Text mit dem Kontext abzugleichen ist nicht weiter erstaunlich und innovativ. Die angestellten theoretischen Überlegungen zeigen jedoch, dass die einzelnen Instanzen kategorial nicht streng zu unterscheiden sind, sondern auf einem Imaginären beruhen. Dieses Imaginäre aber kann man mit text- und kulturwissenschaftlichen Methoden untersuchen. Da sich die vorliegende Studie auf eine gesellschaftliche Gruppe in ihrer textlichen Darstellung bezieht, geht es bei diesem Imaginären um Gesellschaftsbilder. Diese bilden einerseits als imaginiertes Produkt des Imaginären (demnach als aktuales Imaginäres) den kulturellen Referenzrahmen für die literarischen Texte und modellieren so die Wirklichkeit des Textes, andererseits sind sie selbst durch (u. U. als fiktional wahrgenommene) Texte modelliert. Dieser Zusammenhang verstärkt sich im hermeneutischen Blick des wissenschaftlichen Interpreten, welcher sich das Wissen über die Vergangenheit aus textuellen (und z. T. nichttextuellen materiellen) Quellen erschließen muss. Der Unterschied zwischen dem kulturellen und dem literarischen Referenzrahmen ist dabei ein kategorialer: Es handelt sich um zwei unterschiedliche Sinnfelder; das eine beeinflusst die Referenzobjekte des Inhalts, das andere die Normen, Strukturen und z. T. das Material für die Textproduktion. Vor allem in den dieser Studie zugrundeliegenden Texten ist dieser Umstand evident: Bei den vormodernen Texten, die den Fahrenden Schüler als gesellschaftliches Phänomen anführen, handelt es sich nämlich weitgehend um solche, die im weiteren Sinne als Ständedidaxe oder ‐satire einzuordnen sind, also auf ein Gesellschaftsbild referieren und dieses modellieren. Zumindest aber handelt es sich bei allen Texten um Produkte, die aus einem Bewusstsein entstanden sind, welches durch eine bestimmte ständisch geprägte Umgebung fundiert ist. Es zeigte sich in der Skizze der Forschungsbeiträge zum Thema, dass diese Differenzierungen oftmals unzureichend oder gar nicht beachtet wurden. Als literarisch gekennzeichnete Texte werden sie zwar auf die ‚historische Wirklichkeit‘ bezogen, ohne jedoch auszuweisen, wie diese ‚Wirklichkeit‘ erschlossen wurde. Oder die literarischen Texte wurden als Quellenreservoir für eine Alltagsrealität wahrgenommen, über die andere Quellen meist keine oder nur unzureichende Aussagen treffen.¹³³ Die Thematisierung von kulturellen Konfigurationen (z. B. Gesellschaftsbildern), die in unterschiedlicher Intensität und Deutlichkeit in Texte Eingang finden, minimiert die Gefahr eines Zirkelschlusses, der durch die Untersuchung von semantischen Einheiten entstehen kann. Denn gerade in der Interpretation einer semantischen Einheit besteht die Gefahr, dass man Muster extrahiert, welche aus dem eigenen kulturellen Wissen resultieren. Dieses Wissen ist aber oftmals durch ebendiese (literarischen) Muster geprägt. So würde sich das Vorverständnis, mit welchem man an die Texte geht, stets bestätigen, da man nur die eigenen (kulturellen) Imaginationen

 Vgl. Kapitel 2.

60

4 Probleme der Referenzialität: Theoretische Überlegungen I

wiederholt.¹³⁴ Schon die Auswahl eines Textcorpus stellt einen konstruktiven Akt des Interpreten dar, welcher zu einer teleologischen ‚Meistererzählung‘ neigen kann, umso mehr, wenn die semantische Einheit als solche konstruiert ist.¹³⁵ Um diesen Einfluss der Position des Interpreten möglichst gering zu halten, soll im Folgenden nicht eine Entwicklung der semantischen Einheit hin zu gegenwärtigen Imaginationen nachverfolgt werden. Als heuristischer ‚Zielpunkt einer Entwicklung‘ oder eher als Ausgangshorizont für eine Orientierung in der weiteren Analyse soll der erste Entwurf herangezogen werden, welcher den ‚Fahrenden Schüler‘ sozialgeschichtlich in verschiedenen Diskursen konturiert.

 Genau dieses Vor-Urteil ist aus dem Horizont des Interpreten der Ausgangspunkt des hermeneutischen Zirkels. Gerade bei der (Re‐)Konstruktion einer semantischen Einheit, die dem Interpreten ja erhebliche Freiräume zugesteht droht „die Gefahr, das Andere im Verstehen ‚anzueignen‘ und damit in seiner Andersheit zu verkennen.“ Vgl. zum hermeneutischen Zirkel, dem Problem des Vor-Urteils und dem Prinzip der Wirkungsgeschichte Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 270 – 312. zit. S. 305 (Anm. 230). Kritisch zum Universalitätsanspruch des hermeneutischen Zirkels als methodologisches Instrument vgl. Lutz Danneberg: Die Historiographie des hermeneutischen Zirkels. Fake und fiction eines Behauptungsdiskurses. In: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 5 (1995), S. 611– 624.  Mit dem Prozess der Corpusbildung aus linguistischer Perspektive befasst sich kritisch Gerd Fritz: Historische Semantik. Stuttgart, Weimar 22006, S. 23 f.

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500 Um das Jahr 1500 bekommen Ausdruck und Muster des ‚Fahrenden Schülers‘ im Vergleich zur früheren Thematisierung eine spezifische Prägung, welche sich vor allem im (obrigkeitlichen) Sprechen über Armut verdichtet. Auf Grundlage von Textzeugen aus verschiedenen funktionalen Sinnfeldern, die vor allem der Gesellschaftsstabilisierung (z. B. Gesetze) und -diagnose (z. B. Satire) dienen, soll im Folgenden ein spezifisches Verständnis für den Ausdruck ‚Fahrender Schüler‘ entworfen werden. Welche Imaginationen bestanden zu diesem konkreten historischen status quo und wurden zumindest in Teilen des allgemeinen Diskurses thematisiert? Dafür präsentiere ich zunächst kursorisch die allgemeinen diskursiven Veränderungen (v. a. im Umgang mit Armut), konzentriere mich dann auf eine zentrale Textsorte und befrage sie nach der spezifischen Darstellung des Fahrenden Schülers.¹

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge 5.1.1 Zum Wandel des Armutsdiskurses im Spätmittelalter Nach den Erfahrungen von Pestepidemien, Kriegszügen und Hungersnöten, einem ansteigenden Bevölkerungswachstum und einer damit verbundenen zunehmenden Verelendung² dominiert um die Mitte des 15. Jahrhunderts das Bewusstsein, in einer „aus den Fugen geratenden Welt“ zu leben.³ Insgesamt ist für diese Zeit in weiten Teilen Europas eine Dynamisierung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnungen festzustellen.⁴ Im Zusammenhang zahlreicher Umbrüche entsteht das Gefühl, in einer bedrohten Ordnung oder gar chaotischen Unordnung zu leben.⁵ Außerdem verstärkt sich der Eindruck, der Angst, Dysfunktionalität und Perspektivlosigkeit im

 Es ist zwar keine harte Epochengrenze zwischen dem 15. und dem 16. Jahrhundert festzustellen, dennoch ist eine Differenzierung in der Zitation notwendig. Daher folge ich diesem Schema: Quellen bis zum Jahr 1520 werden durch Kursive, spätere Quellen durch doppelte Anführungszeichen markiert.  Vgl. Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450 – 1850. Frankfurt a. M. 2000, S. 18 – 24.  Grundlegend dazu vgl. Winfried Schulze: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500 – 1618. Frankfurt a. M. 1987, hier S. 75. Zum Spätmittelalter als Krisenzeit vgl. František Graus: Pest – Geissler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. Göttingen 31994.  Vgl. Richard van Dülmen: Formierung der europäischen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Ein Versuch. In: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 5 – 41.  Zum kulturwissenschaftlichen Kategorie der „Bedrohten Ordnung“ und der „Bedrohungskommunikation“ vgl. den Tübinger SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“ (2011– 2023). Vgl. dazu Ewald Frie und Mischa Meier: Bedrohte Ordnungen. Gesellschaften unter Stress im Vergleich. In: Ewald Frie und Mischa Meier (Hg.): Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften. Tübingen 2014, S. 1– 27. https://doi.org/10.1515/9783110708349-006

62

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Bewusstsein der Krise nur durch eine gesellschaftliche Neuformierung begegnen zu können. Von den zahlreichen kirchen‐ und sozialpolitischen Reformationsbestrebungen des 15. Jahrhunderts sind hier nur die wichtigen (wenn auch ‚innenpolitisch‘ wenig erfolgreichen) Konzile von Konstanz (1414– 1418) und Basel (1431– 1449) zu nennen.⁶ Neben den ‚großen Themen‘ (Hussiten, Konziliarismus etc.) beschäftigten sich diese auch mit der Regulierung des alltäglichen Lebens. Diesen Prozess einer zunehmenden Einflussnahme obrigkeitlicher Gewalt beschrieb Michel Foucault als „Ergebnis des Vorgangs […], durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt ‚gouvernementalisiert‘“.⁷ Es komme also zu einer (zumindest graduellen) Verschiebung der ‚Pastoralmacht‘ vom Souverän auf Disziplinarmechanismen wie Staatsraison und Polizei (Policey).⁸ Als Beispiel für diesen Wandel der Machtstrategie wählt Foucault den Umgang mit Krankheitsepidemien: Während bei der mittelalterlichen Lepra gemäß der Taktik der „Zweiteilung und Stigmatisierung“⁹ eine durch Zeichen unterstützte binäre Gliederung der Gesellschaft in ‚krank : nicht-krank‘ vorgenommen worden sei, habe man infolge der erschütternden Erfahrungen mit den Pestepidemien ab dem 14. Jahrhundert eine „Taktik der individualisierenden Disziplinierung“¹⁰ angewandt. Die Erkrankten stünden in einer panoptischen „Allgegenwart der disziplinierenden Kontrolle“¹¹ mit dem Ziel, alle Aspekte des täglichen Lebens durch regelmäßige Inspektionen zu erfassen, individuell zu differenzieren und zu kategorisieren.¹² Die Zunahme dieser medizinischen Kontrollinstanzen  Zu den Reformbestrebungen im Reich vgl. Heinz Angermeier: Die Reichsreform 1410 – 1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart. München 1984. Zum Einfluss literarischer Texte für die Genese des Konstanzer Konzils als diskursives ‚Weltereignis‘ vgl. Thomas Rathmann: Geschehen und Geschichten des Konstanzer Konzils. Chroniken, Briefe, Lieder und Sprüche als Konstituenten eines Ereignisses. München 2000, v. a. S. 267 f.  Michel Foucault: Analytik der Macht, hg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a. M. 2005, S. 171 f.  Zur Policey vgl. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977/1978, hg. von Michel Sennelart. Frankfurt a. M. 2004, S. 521f. Zur Idee der Staatsraison, die sich ab dem Ende des 16. Jahrhunderts Bahn bricht, vgl. Foucault: Gouvernementalität, S. 369 – 448 und aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vgl. Herfried Münkler: Staatsraison. Die Verstaatlichung der Politik im Europa der Frühen Neuzeit. In: Gerhard Göhler, Kurt Lenk u. a. (Hg.): Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Ideengeschichtliche Beiträge zur Theorie politischer Institutionen. Wiesbaden 1990, S. 190 – 202. Am Beispiel der öffentlichen Hinrichtung als abschreckendes Exempel für die anderen und der strengen Verurteilung von Dieben im häuslichen Umfeld als Vermeidung eines wahrscheinlichen Verbrechens demonstriert Foucault, dass auch im mittelalterlichen Gerechtigkeitsstaat bereits Disziplinar- und Sicherheitsmechanismen von Belang sind. Damit zeigt er, dass es sich nur um eine graduelle Verschiebung im dominanten „Korrelationssystem“ handelt. Foucault: Gouvernementalität, S. 20 – 23, zit. S. 23.  Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M. 21977, S. 256.  Foucault: Überwachen und Strafen, S. 256.  Foucault: Überwachen und Strafen, S. 256.  Als drittes Modell nennt Foucault noch die Praktiken im Zuge der Pockenimpfungen seit dem 18. Jahrhundert, in denen absolute Kontrolle durch das Erfassen der Kranken und Gesunden mit einer

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

63

kongruiert mit der Entwicklung von Policeyordnungen im beginnenden 16. Jahrhundert.¹³ Demnach ist zumindest eine Korrelation zwischen der disziplinarischen Durchdringung der Gesellschaft als Reaktion auf die Pestepidemien und den zivilen Reglementierungen anzunehmen.¹⁴ Wie die Pestverordnungen folgen auch die policeylichen Mechanismen den Prinzipien von Segmentierung, Klassifizierung und Disziplinierung: Die Gesellschaft wird in bestimmte Segmente (binär oder individuell) aufgeteilt, diese werden dann als spezifische Klassen eingestuft. Ziel dieses Vorgehens ist eine allgemeine Sozialdisziplinierung oder ein System sozialer Kontrolle. Grundlage und Folge dieser Prozesse ist eine Veränderung des allgemeinen Gesellschaftsbildes. Im Folgenden werfe ich einen mikroskopischen Blick auf die Entwicklung des Policey-Schrifttums vom Ende des 15. Jahrhunderts bis 1530 unter dem Schwerpunkt der Veränderung des Betteldiskurses. Dieser Zwischenschritt ist notwendig, da nur diese diskursive Veränderung die Umakzentuierung des (literarischen) Musters ‚Fahrender Schüler‘ erklären kann. Der zeitliche Endpunkt dieser Untersuchung ist bewusst gewählt, da 1530 die ersten Reichspoliceyordnung erlassen wurde, also das wichtigste Justizgesetz der Reichsreform neben der Constitutio Criminalis Carolina (1532). Dadurch kommen die Prozesse zu einem (vorläufigen) Abschluss, indem sie institutionalisiert werden. Die Ursprünge der Policey-Ordnung liegen in den Städten des Spätmittelalters, wobei die ältesten Bestimmungen aus dem Nürnberg des 13. Jahrhunderts überliefert sind.¹⁵ Auf Reichsebene beginnt die Diskussion mit dem Wormser Reformreichstag von 1495 unter Kaiser Maximilian I. Die Beschlüsse dieses Reichstags sind aus zwei Gründen für die weiteren Ereignisse bedeutend und berechtigterweise als „Beginn der Neuzeit unter

Orientierung an der Gefährdungswahrscheinlichkeit erfolgt und sich nicht mehr an Ausschluss und Quarantäne orientiert. Vgl. Foucaul: Gouvernementalität, S. 25 f.  Vgl. Ulrich Knefelkamp: Das Verhalten von Ärzten in Zeiten der Pest (14.–18. Jahrhundert). In: Jan C. Joerden (Hg.): Der Mensch und seine Behandlung in der Medizin. Bloß ein Mittel zum Zweck? Berlin, Heidelberg 1999, S. 13 – 39, hier S. 25 – 30 und Walter G. Rödel: Die Obrigkeit und die Pest. Abwehrmaßnahmen in der frühen Neuzeit. Dargestellt an Beispielen aus dem süddeutschen und Schweizer Raum. In: Neithard Bulst (Hg.): Maladies et Société. XIIe – XVIIIe Siècles. Paris 1989, S. 187– 205.  Vgl. Knefelkamp: Ärzte, S. 20; zu frühen Pestschriften vgl. die ältere Arbeit von Karl Sudhoff: Pestschriften aus den ersten 150 Jahren nach der Epidemie des „schwarzen Todes“. In: Zeitschrift für Geschichte der Medizin 17 (1925), S. 12– 139. Knefelkamp: Ärzte, S. 38 betont, dass die „Beschreibungen des Verhaltens der Menschen bei Pestepidemien […] in der Regel nicht von Medizinern verfaßt“ sind und sich „sogar zu einem literarischen Genre entwickeln“ können. Er berücksichtigt auch die „Übertreibungen, Ausschmückungen und subjektiven Sichtweisen“, jedoch mit dem Schwerpunkt einen Aussagewert für die tatsächlichen Reaktionen der Menschen zu erreichen.  Werner Buchholz: Anfänge der Sozialdisziplinierung im Mittelalter. Die Reichsstadt Nürnberg als Beispiel. In: ZHF 18 (1991), S. 129 – 147; zu den Policeyordnungen vgl. die Reihe Karl Härter und Michael Stolleis (Hg.): Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1996 ff. Zum Folgenden vor allem auch die fundierten und wichtigen Überlegungen in Thomas Simon: „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 2004, hier S. 111– 151. Er setzt die Veränderungen im 16. Jahrhundert auch der rechtsgeschichtlichen Situation im Mittelalter gegenüber (S. 9 – 89).

64

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

rechtspolitischen Aspekten“¹⁶ bezeichnet worden. Grund 1: Hier ist das erste Mal der Terminus policey in die Reichsakten eingegangen.¹⁷ Unter dem Begriff der (Guten) Policey (griech. πολιτεία über frz. police), ist dabei nicht das Exekutivorgan des Staates zu verstehen wie in der Gegenwart (ab dem 18. Jahrhundert),¹⁸ – daher die bewusst archaisierende Schreibweise – sondern der „Zustand guter Ordnung im Gemeinwesen“.¹⁹ Diese Ordnung bezieht sich auf Politik und Sozialwesen ebenso wie auf Religion und Moral. In den Policeyordnungen verbinden sich also Vorstellungen eines ‚Wohlfahrtsstaats‘ mit dem Ziel einer Sozialdisziplinierung.²⁰ Dabei beschränkt sich die Semantik von Policey (genau wie die von Ordnung) nicht auf den Zustand, sondern bezeichnet auch das konkrete Gesetz, durch welches dieses geordnete Gemeinwesen herzustellen ist.²¹ Der Umstand, dass das konkrete Instrument und das gesellschaftliche Ziel synonym gebraucht werden, führt bereits vor Augen, wie stark die Interdependenz zwischen dem Instituierenden (dem einzelnen Gesetz) und dem zu Instituierenden/dem Instituierten (der Gesellschaft) ist. „Die Policey ist also Erkenntnisweise, Instrumentarium und Interventionsprogramm zugleich“.²² Grund 2: Der Wormser Reichstag liefert ein ‚Programm‘ für die Verhandlungen über die Reichspoliceyordnungen und formuliert eine Agenda.²³ Neben Kleider- und Luxusgesetzen soll dieses überregionale Gesetz Regelungen über den Umgang mit Randgruppen beinhalten: der ubermessigen kleydung und anderer unzimlichen kostlicheit, auch von der spilleut, betler und der zigeuner wegen […] ein gemein ordnung durch daz Reiche mug gemacht werden zu ere, nutz und underscheid aller stende. ²⁴ Insgesamt folgen die Beschlüsse den Maximen der Subsidiarität, der Individualisie-

 Schulze: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, S. 60.  Auch sollen sie ordenung und policey furnemen und die kostlikeit und uberfluß aller stende messigen, sunderlich seydengewand, spezerey und anders, dadurch und auch durch andere wege das gelt aus der nation geschoben wurd; Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I. Reichstag von Worms 1495. Band 1: Akten, Urkunden und Korrespondenzen, hg von Heinz Angermeier. Göttingen 1981, Teil 1, S. 342. Vgl. dazu Karl Härter: Entwicklung und Funktion der Policeygesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 16. Jahrhundert. In: Ius commune 20 (1993), S. 61– 141, hier S. 69.  Vgl. Franz-Ludwig Knemeyer: Polizeibegriffe in Gesetzen des 15. bis 18. Jahrhunderts. Kritische Bemerkungen zur Literatur über die Entwicklung des Polizeibegriffs. In: Archiv des öffentlichen Rechts 92 (1967), S. 154– 180, hier S. 163 f.  Knemeyer: Polizeibegriffe, S. 155.  Vgl. Gerhard Oestreich: Policey und Prudentia civilis in der barocken Gesellschaft von Stadt und Staat. In: Albrecht Schöne (Hg.): Stadt, Schule, Universität, Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. München 1976, S. 10 – 21 und Christoph Sachße und Florian Tennstedt (Hg.): Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik. Frankfurt a. M. 61991.  Vgl. Knemeyer: Polizeibegriffe, S. 158 – 160 und Härter: Policeygesetzgebung, S. 69 f.  Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. München 2002, S. 74.  Vgl. Härter: Policeygesetzgebung, S. 71.  Zum Reichsabschied vom 7. August 1495 vgl. Reichstagsakten, hg. von Angermeier, Teil 2, S. 1140 – 1150, zit. S. 1143.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

65

rung, des Indigenats und der Disziplinierung.²⁵ Alle diese Programmpunkte finden sich 1530 in der Reichspoliceyordnung wieder und werden damit zu geltendem Recht. Wie groß die Reichweite dieser Gesetze war, ist jedoch umstritten. Man nimmt an, dass die Policeygesetze trotz ihres umfassenden Anspruchs nur eine geringe Wirksamkeit auf die Lebensweise der Bevölkerung entfalteten und allenfalls subsidiäre Geltung beanspruchen konnten. Sie dienten also weniger der „direkten sozialen Disziplinierung der Bevölkerung“,²⁶ erreichten aber durch eine „Aufsichts- und Anzeigepflicht“,²⁷ die sich vor allem an die Herrschaftsträger richtete, „eine horizontale Disziplinierung zumindest indirekt“.²⁸ Die Erlasse hatten „Signalwirkung“.²⁹ Dabei ist die Gesetzgebung einerseits Symptom, anderseits Anstoß eines Systems sozialer Kontrolle oder einer Vigilanzkultur in der Frühen Neuzeit.³⁰ Die Ordnungen sind also – gemäß der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Forschung – nicht nur einem Disziplinierungsparadima unterworfen, sondern als „relationale Kategorie [ein] dynamisches Ensemble von Techniken und Kräfteverhältnissen“ und damit auch für Maximen der Analyse von Machtverhältnissen nach Foucault anschlussfähig.³¹ Für den Diskurs über Armut ist die Reichspoliceyordnung von 1530 Exponent und vor Zu den Begriffen vgl. Robert Jütte: Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln. Köln,Wien 1984, S. 331– 345. Subsidiarität: Nur Bettler, die sich nicht selbst versorgen können, werden unterstützt. Individualisierung: Die Bettler werden nicht als Kollektiv behandelt. Indigent: Keine fremden Bettler werden unterstützt (nur als Ausnahme und über einen kurzen Zeitraum). Disziplinierung: Die Rechtmäßigkeit des Almosenanspruchs wird kontinuierlich geprüft, außerdem impliziert der Begriff die Intention, die Armen zu Fleiß, Gehorsam, Demut und Bescheidenheit zu erziehen.  Härter: Policeygesetzgebung, S. 138.  Härter: Policeygesetzgebung, S. 138.  Härter: Policeygesetzgebung, S. 138. Auch Martin Dinges bezweifelt den direkten obrigkeitlichen Einfluss auf eine Durchsetzung einer Sozialdisziplinierung und betont stattdessen die Bedeutung der auf sozialem Kapital beruhenden Selbsthilfestrategien der Betroffenen. Vgl. Martin Dinges: Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept. In: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 5 – 29. Zusätzlich hat die veränderte Gesetzgebung auch als symbolische Ordnung (Dispositiv) Gewicht für die Kultur der Frühen Neuzeit.  Alexander Wagner: Armenfürsorge in (Rechts‐)theorie und Rechtsordnungen der frühen Neuzeit. In: Sebastian Schmidt und Jens Aspelmeier (Hg.): Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 2006, S. 21– 59, hier S. 40.  Zu einem System sozialer Kontrolle vgl. und zusammenfassend Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung. Frankfurt a. M. 2011, S. 9 – 11 sowie die Beiträge in Heinz Schilling (Hg.): Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. Frankfurt a. M. 1999. Zum zweiten Begriff vgl. den SFB 1369 „Vigilanzkulturen: Transformationen. Räume. Techniken“ an der LMU München.  Gerd Schwerhoff: Die „Policey“ im Wirtshaus. Frühneuzeitliche Soziabilität im Spannungsfeld herrschaftlicher Normsetzung und gesellschaftlicher Interaktionspraxen. In: Gert Melville und KarlSiegbert Rehberg (Hg.): Dimensionen institutioneller Macht. Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart. Köln 2012, S. 177– 193, hier S. 179. An dieser Stelle auch weitere Literaturhinweise, v. a. Michael Maset: Zur Relevanz von Michel Foucaults Machtanalyse für kriminalitätshistorische Forschungen. In: Andreas Blauert und Gerd Schwerhoff (Hg.): Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000, S. 233 – 241.

66

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

läufiger Abschluss eines Wandels, welcher spätestens ab dem 14. Jahrhundert in städtischen Ordnungen greifbar ist (z. B. Nürnberg 1387, Esslingen 1389, Köln 1403, Wien 1442). In der Reichspoliceyordnung heißt es: Item daß auch die oberkeyt versehung thü/ daß eyn jede statt und Cummun ire armen selbst erneren und underhalten/ und imm Reich nit gestattet an eynem jeglichen ort frembde zu bettlen. Und so darüber solche starcke Bettler befunden/ sollen die selbigen vermög der recht oder sunst gebürlich gestrafft werden/ andern zu abschew und exempel/ es were dann sach/ daß eyn Statt oder Ampt also mit vilen armen beladen/ daß sie der ort nit möchten ernert werden/ so soll die oberkeyt die selben armen mit eynem briefflichem schein und urkundt inn eyn ander ampt zu fürdern macht haben.³²

Das Betteln von sogenannten ‚unwürdigen‘ oder ‚starken Bettlern‘ (mendicantes validi), also solchen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten könnten, verbietet das Gesetz generell. Für die anderen ist von Gesetz wegen zu sorgen. Eine institutionalisierte städtische Armenfürsorge wird in die Pflicht genommen, sich um die Bettler zu kümmern. Alle Bettler aber werden aufgrund der Kontrollmechanismen ihrer Bewegungsfreiheit beraubt und mit einem besonderen Kennzeichen (Bettelmarken) versehen.³³ Das Gesetz erstellt so eine binäre Ordnung zwischen den beiden Typen des ‚wahren‘/‚würdigen‘ und des ‚starken‘/‚unwürdigen‘ Bettlers. Die ganze soziale Gruppe aber muss zur Herstellung dieser Ordnung und zur weiteren Disziplinierung permanent kontrolliert und durch (öffentliche) Kennzeichnung stigmatisiert werden. So bildete sich „in dialektischem Wechselspiel von Armutsrealität und Armutsbewertung das Stereotyp vom lästigen, Furcht einflößenden und unwürdigen Armen“.³⁴ Diese Diskriminierung in der Frühen Neuzeit steht in Opposition zum generell positiven Status des Armen im Gesellschaftsbild des christlichen Mittelalters, respektive verstärkt eine bestehende armutsfeindliche Tendenz, während sie die ältere positive Attribuierung nicht vollends ablöst.³⁵ Denn nach christlichem Selbstverständnis ist der Arme dem Prinzip der caritas folgend wichtig für die Gemeinschaft, da

 Reichspoliceyordnung von 1530 § 34. Zit. nach Matthias Weber: Die Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Historische Einführung und Edition. Frankfurt a. M. 2002, S. 161. Interessanterweise heben bereits einige Überlieferungsträgern der Reichsabschiede zum Wormser Reichstag von 1495 (aus Nürnberg, Ansbach und Schwerin) die unwürdigen/starken Bettler eigens hervor: Item auch der betler, die vermogent sind, zu gedenken; Reichstagsakten, hg. von Angermeier, Teil 2, S. 1143 (Anm. 2).  Mit den Bettlern wird ähnlich verfahren wie mit anderen gesellschaftlichen Randgruppen, z. B. den ‚Zigeunern‘ (§ 35), den ‚Schalcksnarren‘ (§ 36), den Musikern, Boten und Spielleuten (§ 37 f.).  Gerhard Schäfer: Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis. In: Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Wiesbaden 22012, S. 257– 278, hier S. 265. Vgl. ebenso Ernst Schubert: Der „starke Bettler“. Das erste Opfer sozialer Typisierung um 1500. In: ZfG 48 (2000), S. 869 – 893.  Durch eine semiasologische Untersuchung des Wortes arm kommt Lobenstein-Reichmann zu dem Ergebnis einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ in der Frühen Neuzeit. Vgl. Anja LobensteinReichmann: Sprachliche Ausgrenzung im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. Berlin 2013, S. 275 – 278.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

67

das Almosen (neben Gebet und Fasten) als eines der drei ‚Werke der Barmherzigkeit‘ oder actus caritatis, misericordia mediante der wichtigen Aufgabe dient, die eigene Nächstenliebe und Anteilnahme zu erproben.³⁶ Durch die Bedeutung des Almosens im Heilsprozess wird dem Bittenden so eine privilegierte Position eingeräumt. Der Almosengeber ist also einerseits vom Bettler ‚abhängig‘, andererseits verfestigt diese „Vertragstheorie“ die Determination der sozialen Hierarchie mit einem subalternen Status des Bettlers.³⁷ Ab dem 12. Jahrhundert (Gerhoch von Reichersberg) etablierte sich eine Binnendifferenzierung der Armen, indem zwischen den pauperes cum Lazaro, also den unfreiwillig Armen, und den pauperes cum Petro, den freiwillig Armen (z. B. Bettelorden) unterschieden wurde.³⁸ Auch wenn diese Gliederung grundsätzlich keine Wertung vornimmt, verstärkte sie doch die Tendenz, dass unfreiwillige Armut mit einem Abfall von Gott erklärt und mit Unmoral oder Dummheit konnotiert wurde – eine Meinung, die mitunter auch die Praxis der Bettelorden diskreditierte.³⁹ Die Bewertung von Armut und Bettelei war in christlich geprägten Gesellschaften schon jeher ambivalent: Zum einen war sie mit negativen Attributen verbunden, indem ‚Armut‘ weniger auf soziale Missstände und Schicksalsschläge, sondern mehr auf geistige, körperliche oder moralische Defizite des Armen zurückgeführt wurde. Zum anderen unterlag Betteln in der mittelalterlichen Gesellschaft als „durchaus legitime Form individueller Reproduktion […] keiner Ächtung“.⁴⁰

 Zitat: Thomas von Aquin: Summa theologica. II 2, q. 32. a. 1. Vgl. dazu Bronisław Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München 1991, S. 28 f.  Zusammenfassend zur mittelalterlichen Situation vgl. Schäfer: Geschichte der Armut, S. 260 – 265.  Vgl. Anna Lazzarino Del Grosso: Armut und Reichtum in Denken Gerhohs von Reichersberg. München 1973 und Geremek: Geschichte der Armut, S. 35.  Vgl. Jürgen Miethke: Paradiesischer Zustand – Apostolisches Zeitalter – Franziskanische Armut. Religiöses Selbstverständnis, Zeitkritik und Gesellschaftstheorie im 14. Jahrhundert. In: Stephanie Haarländer und Franz J. Felten (Hg.): Vita religiosa im Mittelalter. Berlin 1999, S. 503 – 532 und Michel Mollat: Die Armen im Mittelalter. München 21987, S. 230 – 234.  Christoph Sachße und Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. Stuttgart 21998, S. 29. Vgl. auch Mollat: Die Armen, S. 10 – 13. Thomas von Aquin problematisiert bereits das Almosen für den Nicht-Bedürftigen. Die ganze 32. quaestio widmet sich der Frage des Almosengebens. Er konzediert als Voraussetzungen für die Gabe einen gewissen Überfluss beim Geber und eine bedrohliche Notlage beim Bittenden. Seien diese Voraussetzungen nicht gegeben, handle es sich beim Almosengeben mehr um einen Rat als um eine Vorschrift: Sic igitur dare eleemosynam de superfluo est in praecepto; et dare eleemosynam ei qui est in extrema necessitate. Alias autem eleemosynam dare est in consilio (Thomas von Aquin. Sum. theol. II 2, q. 32. a. 5). Er schreibt weiter, dass das Almosen nicht zur Verschwendungssucht des Empfängers führen dürfe und situativ anzupassen sei: loquitur de abundantia eleemosynae quae superexcedit necessitatem recipientis, cui non est danda eleemosyna ut inde luxurietur, sed ut inde sustentetur. circa quod tamen est discretio adhibenda propter diversas conditiones hominum (Thomas von Aquin. Sum. theol. II 2, q. 32 a. 10). Schließlich ergänzt Thomas von Aquin ein Zitat von Ambrosius: Consideranda est in largiendo aetas atque debilitas (Thomas von Aquin. Sum. theol. II 2, q. 32 a. 10): ‚Man muss beim Schenken Alter und Gebrechen beachten.‘ Generell ist festzustellen, dass die Tendenz, dass das Almosen nach seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit befragt wurde, bei Thomas von Aquin weit weinger augeprägt ist als im frühneuzeitlichen Bettlerdiskurs.

68

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Ab dem 14. und stärker im 15. Jahrhundert nahm im Gefolge des Anstiegs der Massenarmut die negative Konnotation zu und Erklärungen der Armut als moralisches Defizit bekamen einen höheren Stellenwert: „Die religiöse Identifikation der Armen als pauperes Christi wurde verdrängt durch die Figur des hässlichen und kriminellen Armen, der zu einem verbreiteten literarischen Topos avanciert.“⁴¹ Damit wird die Gruppe der Bettelnden noch weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt.⁴² Dieser Prozess hängt mit einer Melioration des Begriffs und Konzepts ‚Arbeit‘ als Erwirtschaftung des Lebensunterhalts und einer Peiorisierung von ‚Armut‘ zusammen.⁴³ Als Ursachen für Armut werden im Zuge dessen vier Kategorien angeführt: „Mangelnde Arbeitsfähigkeit“, „Mangelndes Arbeitseinkommen“, „Mangelnde Arbeitsgelegenheit“ und „Mangelnder Arbeitswille“.⁴⁴ Während Kategorie eins bis drei auf gesellschaftliche, körperliche oder geistige Zustände zurückgeführt werden, referiert die vierte Kategorie unmissverständlich auf das moralische Defizit des arbeitsscheuen Müßiggängers, welches durch den Topos vom ‚starken Bettler‘ transportiert wird.⁴⁵ Um weitere Gewissheit zu schaffen, dass die Geldspenden an den Richtigen kommen, erließ man Reglementierungen und eine Kennzeichnungspflicht, der neben den Bettlern auch Prostituierte, Kranke und Juden unterzogen wurden.⁴⁶ Diese Ausstattung mit einem vestimentären Symbol ergänzt die Stigmatisierung ⁴⁷ des Bettlers um

 Schäfer: Geschichte der Armut, S. 266.  Zu Randgruppen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft vgl. Bernd Roeck: Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit. Göttingen 1993, Bernd-Ulrich Hergemöller (Hg.): Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Warendorf 2001, Wolfgang Hartung: Gesellschaftliche Randgruppen im Spätmittelalter. Phänomen und Begriff. In: Bernhard Kirchgässner und Fritz Reuter (Hg.): Städtische Randgruppen und Minderheiten. Sigmaringen 1986, S. 49 – 114 und Robert Scribner: Wie wird man Außenseiter? Ein- und Ausgrenzung im frühneuzeitlichen Deutschland. In: Norbert Fischer und Marion Kobelt-Groch (Hg.): Aussenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Leiden, New York 1997, S. 21– 46.  So bekam 2 Thess 3,10 „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“ einen höheren Stellenwert. Weiter ist festzustellen, dass „im Spätmittelalter besonders die bürgerlich-handwerkliche Arbeit in den Städten hoch bewertet und damit die reformatorische Lehre vom Beruf vorbereitet wurde“; Werner Conze: [Art.] Arbeit. In: GG 1. S. 154– 215, hier S. 163. Vgl. weiter Otto Gerhard Oexle: Arbeit, Armut, „Stand“ im Mittelalter. In: Jürgen Kocka, Claus Offe und Beate Redslob (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt a. M. 2000, S. 67– 79, hier S. 76 – 79. Martin Luther beruft sich in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation (1520; WA 6, S. 381– 469) explizit auf die zitierte Stelle aus den Paulusbriefen.  Jütte: Obrigkeitliche Armenfürsorge, S. 13 f.  Zur Typologisierung der ‚starken Bettler‘ vgl. auch Ernst Schubert: „Hausarme Leute“, „starke Bettler“. Einschränkungen und Umformungen des Almosengedankens um 1400 und um 1500. In: Otto Gerhard Oexle (Hg.): Armut im Mittelalter. Ostfildern 2004, S. 283 – 347.  Vgl. Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, S. 135 und Robert Jütte: Stigma-Symbole. Kleidung als identitätsstiftendes Merkmal bei spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Randgruppen (Juden, Dirnen, Aussätzige, Bettler). In: Saeculum 44 (1993), S. 65 – 89.  „Stigmatisierungen sind semiotische Akte, die einen Einzelmenschen oder eine Gruppe diskriminieren. Das Stigma […] macht die Situation von Individuen oder ganzen Gruppen offensichtlich, die aufgrund gezielter Fremdzuschreibungen von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen sind

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

69

ein Merkmal materieller Evidenz. Während die zerschlissene, zerlumpte Kleidung des mittelalterlichen Bettlers zu einer „Selbst-Stigmatisierung“ führte,⁴⁸ kennzeichnete die städtische Bettlermarke extern. Entgegen der obrigkeitlichen Intention galt diese aber nicht als „Prestigesymbol“, sondern „ganz im Gegenteil eher als ehr- und rufschädigend“, was zeitgenössische Quellen belegen.⁴⁹ Parallel dazu wurde die Fürsorge für die ‚wahren Armen‘ durch kirchliche und städtische Einrichtungen weiter ausgebaut, wobei mit der disziplinierenden Ordnung Versuche einer Erziehung verbunden waren.⁵⁰ Dieser Prozess ist Teil einer europaweiten Entwicklung, die zum Ende des 16. Jahrhunderts zum ‚großen Einsperren‘ (le grand renfermement)⁵¹ führt und sich schon in der Entstehung der ersten ‚Irrenhäuser‘ (Hamburger Tollkiste 1375) und Frauenhäuser (Luzern 1318, Venedig 1360, Tarascon 1374, Nürnberg 1381) abzeichnet, die sich parallel zur Differenzierung in Kranken-, Siechen-, Waisen-, Zucht‐ und eben auch Armenhäuser und Bettelspitäler ereignet.⁵² Neben der Entwicklung einer spätmittelalterlichen und humanistischen Reformliteratur, die versucht, das Problem durch theoretische Reflexionen und praktische Verbesserungen zu lösen, entwickelte sich eine Reihe, deren Texte in der Forschung als „Bettelordnungen“, „Gilerverzeichnisse“, „Vagantenregister“ oder „Gaunerbüchlein“ bezeichnet wurden.⁵³ Indem sie „einer polizeiliche[n] Logik des Verdachts“⁵⁴ folgend mendicitas (Bettelarmut) und mendacitas (Lügenhaftigkeit) überblenden und eine stig-

(im Zustandspassiv) oder auch (im Handlungspassiv) ausgeschlossen werden“; Anja LobensteinReichmann: Stigma. Semiotik der Diskriminierung. In: Wolf-Andreas Liebert und Horst Schwinn (Hg.): Mit Bezug auf Sprache. Tübingen 2009, S. 249 – 271, hier S. 250. Die Ausführungen beruhen auf der Definition in Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a. M. 232016, S. 11– 13.  Jütte: Stigma-Symbole, S. 77.  Jütte: Stigma-Symbole, S. 77– 79, zit. S. 78 f.  Vgl. Karl Otto Scherner: Arme und Bettler in der Rechtstheorie des 17. Jahrhunderts. Der ‚Tractatus de mendicantibus validis‘ des Ahasver Fritsch. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 10 (1988), S. 129 – 150, hier S. 129 f., Hans Scherpner: Theorie der Fürsorge. Göttingen 21974, S. 54– 72. Es ist neben Johann Geiler von Kaysersberg, John Mayor, Thomas Morus, Erasmus von Rotterdam vor allem der Traktat De subventione pauperum (1526), den der Spanier Juan Luis Vives für die Armenfürsorge in Brügge verfasst hat, zu nennen. Dazu Scherpner: Theorie der Fürsorge, S. 78 f.  Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M. 1969, S. 68 – 98. Vgl. auch Robert Jütte: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Weimar 2000, S. 224– 236.  Vgl. Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2004, S. 465 – 467.  Vgl. Bernhard D. Haage, Wolfgang Wegner u. a.: Deutsche Fachliteratur der Artes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007, S. 126 – 129, Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 106 – 117 und Jörg Wesche: Der Narr ist ein Reisender. Frühneuzeitliche Vagantenregister im Gegenlicht der Literaturgeschichte. In: Jörg Wesche, Julia Amslinger und Franz Fromholzer (Hg.): Lose Leute. Figuren, Schauplätze und Künste des Vaganten in der Frühen Neuzeit. Paderborn 2019, S. 19 – 30. Zur Terminologie vgl. ferner Kapitel 5.1.2.  Roman Widder: Bettler. In: Joseph Vogl und Burkhardt Wolf (Hg.): Handbuch Literatur & Ökonomie. Berlin, Boston 2019, S. 111– 114, hier S. 112.

70

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

matisierende Klassifizierung der sozialen Gruppe vornehmen, betreiben sie eine Praxis sprachlicher Ausgrenzung.⁵⁵ Auch wenn es sich bei diesen Prozessen um ein europaweites Phänomen handelt, hat der Südwesten des deutschsprachigen Raumes als textgeschichtlicher Ursprungsort dieser Art von „Reformliteratur und Armengesetzgebung“⁵⁶ hier einen besonderen Stellenwert. Ein gutes Beispiel dafür bieten die Schrifen des Straßburger Münsterpredigers Johannes Geiler von Kaysersberg, der sich mit dem christlichen Almosengebot,⁵⁷ reformpolitischen Veränderungen (v. a. seine 21 Artikel von 1501)⁵⁸ und der moralischen Narrensatire (Predigten zu Brants Narrenschiff in den Jahren 1498/99)⁵⁹ befasste.

5.1.2 Eine Literaturgeschichte der frühen ‚Gaunerliteratur‘ Vielleicht scheint es überraschend, von einer Justizordnung oder einem kriminologischen Handwerkszeug, welches vorgibt, sein Wissen aus eigener Anschauung erlangt zu haben, eine Literaturgeschichte schreiben zu wollen. Dies bietet sich bei dieser Textform jedoch an. Es ist nämlich anzunehmen, dass sich die sogenannten ‚Bettelordnungen‘ zwar an der empirischen Realität orientieren, diese jedoch nicht ungefiltert wiedergeben. Vielmehr bieten sie Wahrnehmungsmuster, die nur zum Teil aus eigener Anschauung und mehr aus Erfindung und Modellen einer literarisch fixierten

 Vgl. Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 280 – 292.  Franz Irsigler und Arnold Lassotta: Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt ; Köln 1300 – 1600. München 122010, S. 56.  In der Christlich Pilgerschaft zum ewigen Vaterland (1500) nennt er Möglichkeiten dafür, in das ewige Leben zu kommen, bildlich als rollwagen […] z dem hymmel, aber [d]ise rollwegen sint dye armen menschen/ die das allmsen heischent. Sichstu uff dise soltu dyn übrig brot/ wyn cleider/ sch/ und andre ding legen deren du nit bedarfft und z vil hest. Diesen ‚rollwegen‘ der würdigen Bettler stellt er die ‚lastwegen‘ der starken Bettler gegenüber. Zit. Johannes Geiler von Kaysersberg: Christlich bilgerschaft zum ewigen vaterland, bearb. von Jacob Otther. Basel: Adam Petri 1512, fol. CXIIIv Sp. 1. Zur Stellung Johannes Geilers von Kaysersberg gegenüber der Armenfürsorge in seinen Predigten vgl. Rita Voltmer: Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johannes Geiler von Kaysersberg (1445 – 1510) und Straßburg. Trier 2005, v. a. S. 570 – 573 und Rita Voltmer: Zwischen polit-theologischen Konzepten, obrigkeitlichen Normsetzungen und städtischem Alltag. Johannes Geiler von Kaysersberg und das Straßburger Fürsorgewesen. In: Sebastian Schmidt und Jens Aspelmeier (Hg.): Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 2006, S. 91– 135, hier S. 113 f.  In dieser Appellschrift an den Straßburger Rat betont er die obrigkeitliche Pflicht der Armensorge und Kontrolle des Bettelwesens (v. a. in Artikel 13) und nimmt sogar eine reichspolitische Ebene ein. Ed. in Johannes Geiler von Kaysersberg: 21 Artikel. In: Sämtliche Werke. Teil 1: Die Deutschen Schriften; Abt. 1: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften; Bd. 1, hg. von Gerhard Bauer. Berlin, Boston 1989, S. 153 – 200, S. 187. Zu Geiler als Rechtsreformer vgl. Uwe Israel: Johannes Geiler von Kaysersberg (1445 – 1510). Der Straßburger Münsterprediger als Rechtsreformer. Berlin 1997 und Voltmer: Ein Prediger und seine Stadt, S. 537– 602.  Vgl. dazu mehr in Kapitel 5.2.2.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

71

Tradition stammen.⁶⁰ Daher spreche ich im Folgenden nur dann von Bettelordnungen, wenn die Texte nachweislich normative juristische Bestimmungen mit bindendem Charakter enthalten. Listen von verschiedenen Erscheinungsformen betrügerischen Bettels, die meist in andere Textzusammenhänge inseriert sind (z. B. Chroniken) werde ich im Folgenden Bettlerkataloge nennen. Die alternative Bezeichnung als ‚Vaganten-, Bettler- oder Gilerverzeichnisse‘ insinuiert dagegen, dass aus eigener Erfahrung das Verhalten empirisch nachweisbarer Personen verzeichnet wird.⁶¹ Bei der dritten Kategorie der kriminologischen Literatur handelt es sich um einen selbständigen Text, der aus einem Bettlerkatalog und (meist) einem Vokabular einer Geheimsprache (z. B. Rotwelsch) besteht und als ‚Gaunerbüchlein‘ bezeichnet wird.⁶²

Frühe Bettlerkataloge Dass eine persönlich-mündliche oder brieflich-schriftliche Kommunikation, wie sie gerade in der respublica litteraria des Humanismus verstärkt gepflegt wurde,⁶³ für die genannten Textsorten kennzeichnend ist, zeigt die Überlieferungssituation der frühen ‚Gaunerliteratur‘. Bereits die rudimentären Bettlerkataloge des 14. Jahrhunderts, meist nicht mehr als amtliche Notizen, kann man in den Kontext eines sozialreformierten Frühhumanismus mit dem Ziel einer rational-ordnenden Durchdringung der Welt stellen: So stehen die Bemerkungen im Achtbuch der Reichsstadt Augsburg zum Jahr 1342 und 1343 in Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen und geistigen Aufschwungs der Stadt im 14. Jahrhunderts.⁶⁴ Auch das Verzeichnis aus dem Notatenbuch Dietmars von Meckebach,⁶⁵ des Kanzlers von Breslau, steht im Kontext frühhuma-

 Vgl. dazu Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 70 – 105, Wolfgang Seidenspinner: Das Janusgesicht der Binnenexoten. Marginalisierte zwischen Verteufelung und utopischem Gegenentwurf. In: Hartmut Lehmann und Anne-Charlott Trepp (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1999, S. 337– 358, hier S. 341 f., Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, S. 95 und Piero Camporesi: Il Libro dei Vagabondi. Lo „Speculum cerretanorum“ di Teseo Pini, „Il vagabondo“ di Rafaele Frianoro e Altri Testi di „Furfanteria“. Milano 2003, S. 71 f.  Daher wähle ich auch nicht den von Jörg Wesche (2019) vorgeschlagenen Begriff des ‚Vagantenregisters‘ für den Liber Vagatorum, zumal dieser Text über eine bloße Registrierung hinausgeht.  Z. B. Gerhard Eis: Mittelalterliche Fachliteratur. Stuttgart 21967, S. 46 f. Die wenig neutrale Bezeichnung deckt sich mit der textimmanenten Bewertung des Gegenstands als deviante ‚Gauner‘. Demnach ist der Ausdruck (in Anführungszeichen) geeignet.  Vgl. die Beiträge in Franz Josef Worstbrock (Hg.): Der Brief im Zeitalter der Renaissance. Weinheim 1983.  Zu Augsburg vgl. Rolf Kießling: Techniktransfer und Wirtschaftsboom in Augsburg/Schwaben im 14. Jahrhundert. In: Martin Kaufhold (Hg.): Augsburg im Mittelalter. Augsburg 2009, S. 36 – 51. Zum Augsburger Gilerverzeichnis vgl. Friedrich Kluge: Rotwelsch. Quellen und Wortschatz der Gaunersprache und der verwandten Geheimsprachen. I. Rotwelsches Quellenbuch. Straßburg 1901, S. 1 f. und Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 107.  Ed. in Kluge: Rotwelsch, S. 2. Ein Zeichen für diese ordnenden Ambitionen in Breslau ist neben dem Verzeichnis des betrügerischen Bettels, dessen Wirkung eher gering blieb, die Statuta physicorum, apothecorum et medicorum von 1352, die erste deutschsprachige Ordnung für die medizinischen

72

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

nistischer Ordnungsbestrebungen. Denn der Verfasser gehört zu den Schülern des Breslauer Domprobsts Johannes von Neumarkt, an dessen Bischofssitz „der gesellschaftliche Kristallisationspunkt gegeben war, um den herum humanistisches Gedankengut sich auszubreiten vermochte“,⁶⁶ zumal dieser in intensivem Briefwechsel mit Francesco Petrarca stand.⁶⁷ Aus gelehrter Korrespondenz und nicht unbedingt nur aus „der hohen Mobilität der fahrenden Leute sowie der heterogenen Zusammensetzung des spätmittelalterlichen Bettler- und Gaunertums“⁶⁸ ist auch diese so früh unikale Präsenz derartiger Texte abseits der südwestlichen Reichsstädte zu erklären.

Die Basler/Straßburger Betrügnisse der Gyler ⁶⁹ Im Südwesten des Reiches, genauer in Straßburg, entstanden die Betrügnisse der Gyler, deren Ursprung die Forschung früher in Basel verortete.⁷⁰ Dieser Bettlerkatalog erreichte im Gegensatz zu den frühen, aber sehr eingeschränkt wirksamen Zeugnissen als Vorlage für den populären Liber Vagatorum eine beträchtliche Strahlkraft. Seine Herkunft aus der elsässischen Reichsstadt ist nicht zufällig. Denn gerade Straßburg zeigt sich mit seiner ersten regulären Bettelordnung um 1464, dem Verzeichnus der mutwillig betler, welches auf Grundlage eines standardisierten Frageschemas 1473 und wieder 1481 die Bettler der Stadt kategorisierte, und die Appellschiften Geilers von Kaysersberg als Vorreiter der Prozesse im Reich.⁷¹

Stände, die vom Hofkaplan und Leibarzt des Herzogs Thomas von Sarepta im Umfeld und vielleicht unter Mitwirkung Dietmars von Meckebach in Breslau verfasst wurde. Vgl. Gundolf Keil: [Art.] Dietmar von Meckebach. In: 2VL 2, Sp. 98 – 100. Zur Medizinalordnung vgl. Karl-Heinz Bartels: Breslauer Medizinal-Statuten aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Breslau 47/48 (2006/2007), S. 11– 26.  Klaus Garber: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole. Köln, Berlin 2014, S. 241.  Zu Johannes von Neumarkt vgl. Joseph Klapper: Johann von Neumarkt, Bischof und Hofkanzler. Religiöse Frührenaissance in Böhmen zur Zeit Kaiser Karls IV. Leipzig 1964 und Ugo Dotti: Petrarch in Bohemia. Culture and Civil Life in the Correspondence Between Petrarch and Johann von Neumarkt. In: Karl A. E. Enenkel und Jan Papy (Hg.): Petrarch and his Readers in the Renaissance. Leiden, Boston 2010, S. 73 – 87.  Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 108 (Anm. 11).  Das Wort giler ist erklärungsbedürftig. Ein geiler oder giler ist im Mittelhochdeutschen (mhd. gîlære) und im Frühneuhochdeutschen entweder ein „Spaßmacher, Witzbold“, ein „Unzucht Treibender, unzüchtiger Mensch“ oder ein „zudringlicher (unverschämter) Bettler“.Vgl. Lexer 1, Sp. 1015 und FWB 6, Sp. 622 f. Die Semantik des ‚Gilerverzeichnisses‘ konzentriert sich auf die dritte Bedeutung. Dass auch der Nachname des Straßburger Predigers Johannes Geiler (gen. von Kaysersberg) mit diesem Ausdruck etymologisch verwandt ist, ist ein Zufall.  Vgl. Rita Voltmer: Die Straßburger Betrügnisse und das Verzeichnis der mutwillig[en] betler. Beobachtungen zum städtischen Armen- und Bettlerwesen im 15. Jahrhundert. In: Angela Giebmeyer und Helga Schnabel-Schüle (Hg.): „Das Wichtigste ist der Mensch“. Mainz 2000, S. 501– 532, hier S. 507 f. Ed. in Kluge: Rotwelsch, S. 8 – 16.  Vgl. Voltmer: Straßburger Betrügnisse, S. 520 und allgemein S. 511 f.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

73

Die Textgeschichte der Betrügnisse demonstriert auch, dass Bettlerkataloge Gegenstand interstädtischer Kommunikation waren. Aus einem Brief vom 28. Juli 1410 geht nämlich Folgendes hervor: Der Bürgermeister von Basel habe diesen (oder einen ähnlichen) ‚Gilerkatalog‘ von der Straßburger Bürgerschaft erhalten und schicke ihn nun an die befreundeten Eidgenossen in Bern weiter: Wir sendent üch ouch der gyleren ufsätz, damitte si der welte ir gelt abtriegent, verschrieben als uns daz unser lieben fründ und eitgenossen die von Straßburg ouch in geschrift geschikt hand, umb daz ir üch vor ihrem betriegen dest baß gehülfen könnent.⁷²

Das angefügte Schriftstück sollte als Muster für kriminalistisches Vorgehen dienen, prägte jedoch auch das Gesellschaftsbild der Adressaten. Da es nämlich unwahrscheinlich ist, dass identische Erfahrungen in Straßburg und Basel gemacht wurden, sind als Grundlage des Verzeichnisses nicht empirische Autopsie in Basel oder Straßburg, sondern vielmehr zirkulierende schriftlich fixierte Muster anzunehmen. Während in Bern das erwähnte Schriftstück verloren ist, blieb die Straßburger Version erhalten, wenn auch nicht in der Urfassung, welche vor 1410 entstanden sein muss, sondern als Abschrift in einem anderen Kontext, welche um 1474 in eine Sammlung Straßburger Rechtsdokumente (Kodifikationen, Privilegien) inseriert wurde.⁷³ Auch in den Basler Überlieferungsträgern von der Mitte des 15. Jahrhunderts ist der Text ein Teil oder Inserat juristischer Schriften.⁷⁴ Daraus ergibt sich der interessante Befund,

 Basler Staatsarchiv, Missiven I, 101, zit. nach Voltmer: Straßburger Betrügnisse, S. 507 (Anm. 25). Zuerst zitiert bei John Meier: Gaunersprachliches. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 14 (1910), S. 246– 247, hier S. 247, fotografischer Abdruck bei Peter Assion: Matthias Hütlin und sein Gaunerbüchlein, der ‚Liber Vagatorum‘. In: Alemannisches Jahrbuch (1971/1972), S. 74– 92, hier S. 77.  Dieser Text in einer Handschrift der Bibliotèque national et régionale Strasbourg (MS 626, fol. 91v– 98v) wurde lange nicht beachtet. Stattdessen wurde nur auf den Druck von 1749 verwiesen: J. Heumann von Teutschenbrunn: Observatio de lingua occulta. In: Exercitationes iuris universi, praecipue germanici. Bd. 1. Altdorf: Johannes Adam Hesselius 1749, S. 163 – 183, zit. S. 173: Dabimus specimina ex Codice quodam initio Seculi XV manu exarato, nunc Illustr. D. Hieron. Cvil. Ebneri, primarii inclutae reipublicae Noricae moderationis, toti literatorum choro uenerabilis, bibliothecae magnificae addicto, quo inter alia Argentoratensia, ius feudale Alemannicum continetur. Mit diesen Aussagen bezieht sich Heumann von Teutschenbrunn auf die berühmte Nürnberger Privatbibliothek Bibliotheca Ebneriana, welche Hieronymus Wilhelm Ebner von Eschenbach (1673 – 1752) anlegte und die zu Beginn des 19. Jahrhunderts verkauft wurde. Die Straßburger Betrügnisse finden sich wahrscheinlich in der Nummer 74 des Auktionskatalogs: „Die Uffsatzungen der Brieff und Recht der Statt Strassburg etc. 1470“. Catalogus Bibliothecae numerosae ab incluti nominis viro Hieronymo Guilielmo Ebnero ab Eschenbach. Nürnberg: Bieling 1812. Bd. 1., S. 10. Die Handschrift ist weiter beim Käufer Friedrich Cropp (1790 – 1832) aus Lübeck nachgewiesen. Aus dessen Besitz ging sie auf August Ludwig Reyscher (1802– 1880) in Tübingen über, der sie der Universitätsbibliothek Straßburg geschenkt hat. Vgl. dazu Ernest Wickersheimer: Documents pour Servir à l’Histoire de la Police de la Mendicité à Strasbourg à la Fin du Moyen Âge. In: Bulletin philologique et historique (jusqu’à 1715) du comité des travaux historiques et scientifiques (1921), S. 143 – 151, hier S. 150 f.  So findet sich der Text in einer Sammlung von Ordnungen und Verträgen des Basler Ratsschreiber Johannes Zwinger (um 1430/1444) und als Anhang zur Gerichtsordnung von 1457 in einer Handschrift

74

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

dass der Bettlerkatalog durchaus als valides Rechtsdokument angesehen und vielleicht in praktischer Rechtsprechung verwendet wurde, um Betrüger zu überführen. Andererseits findet sich der Text im Diarium (1473 – 1479), einer Stadtchronik des Notars der 1460 neugegründeten Universität Basel Johannes Knebel. Dieser gliedert den deutschsprachigen Bettlerkatalog in sein ansonsten lateinisches Geschichtswerk im Rahmen der Geschehnisse zum Ende der Burgunderkriege ein – ohne auf inhaltliche Kohärenz mit dem vorgehenden Kotext zu achten. Er leitet vom lateinischen Bericht über die Reichsversammlung in Würzburg am 6. Januar 1479 unvermittelt in deutsche Sprache über: Z den zyten giengent vil bben im land umb und betteletend und muͤ rtend vil luten. deren wurdent etlich gefangen, die seitend underscheid der bben und wenn sy zsammen komend, wie sy hiessent, gabend sy in Rotwelsch für, als hienoch stot. ⁷⁵

Die Passage dient hier eher der (gegenwartsanalytischen) Information. Der unvermittelte Wechsel im Sprachregister macht aber offensichtlich, dass er sich einer Vorlage bedient hat. Der Bettlerkatalog beginnt sich durch die Aufnahme in andere Textformen vom juristischen Kontext im engeren Sinne zu lösen. Auch wenn eine Chronik des 15. Jahrhunderts nicht als autonomer literarischer Text zu verstehen ist, zeigt die pragmatische Eingliederung in den differenten Zusammenhang doch einen ersten Schritt zur allgemeinen Verfügbarkeit der Textsorte. Keine direkte Übernahme aus den Straßburger Betrügnissen, aber zumindest ein Beleg für die Textform des Bettlerkatalogs mit rotwelschem Vocabularium findet sich auch in einer Zürcher Sammelhandschrift des Ratsherrn und Chronisten Gerold Edlibach aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts (zwischen 1464 und 1493).⁷⁶ Es ist sehr

vom Ende des 15. Jahrhunderts. Zu den einzelnen Textzeugen vgl. Kluge: Rotwelsch, S. 9 und Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 108 f. Bei vielen Registern fehlt die Handschrift Darmstadt, ULB 3719 (Ende 15. Jahrhundert), welche von einer Sammelhandschrift oder einem Druck abgelöst wurde. Vgl. Kurt Hans Staub und Thomas Sänger: Deutsche und niederländische Handschriften. Mit Ausnahme der Gebetbuchhandschriften. Wiesbaden 1991, S. 153 (Nr. 107).  Johannis Knebel Capellani Ecclesiae Basiliensis Diarium. Juni 1476–Juli 1479, hg. von Wilhelm Vischer und Heinrich Boos. Leipzig 1887, S. 226. Das Gilerverzeichnis ist gesondert als Beilage XX: (Bericht über das Rotwelsch von Albert Socin S. 556 – 567) abgedruckt.  Zur Frühdatierung auf 1464 vgl. Martina Backes und Jürgen Geiß: Zwei neue Fragmente des ‚Schachzabelbuchs‘ Konrads von Ammenhausen. Mit einer revidierten Liste der Textzeugen. In: ZfdA 125 (1996), S. 419 – 447, hier S. 437. Dieser Abfassungszeitpunkt der Handschrift (Zürich, Staatsarchiv, W I 3.21) durch Gerold Edlibach ist bei einer Datierung seiner Geburt auf 1454 sehr unwahrscheinlich.Vgl. Fritz Büsser: [Art.] Edlibach, Gerold. In: NDB 4, S. S. 315. Kluge: Rotwelsch, S. 19 datiert das Vocabularium auf ca. 1490. Die Handschrift enthält neben dem Vocabularium noch eine Version des Schachzabelbuches Konrads von Ammenhausen, Melibeus et Prudentis des Albertanus von Brescia, eine Nativität und ein Wappenbuch. Vgl. Karl August Barack: Die Handschriften der Fürstlich-Fürstenbergischen Hofbibliothek zu Donaueschingen. Tübingen 1865 Nr. 98, S. 93 – 95 (als Donaueschingen Cod. 98) sowie Backes/Geiß: Fragmente, S. 437 f.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

75

wahrscheinlich, dass der Anstoß für die Aufnahme dieses fickabel des rotwelschtz ⁷⁷ ebenfalls durch Kontakt mit den benachbarten Städten Basel, Bern oder Straßburg entstanden ist.

Quaestio quodlibetica und die Chronik des Matthias von Kemnat in Heidelberg Eine andere Traditionslinie dieser Betrügnisse der Gyler führt nach Heidelberg zu Pfalzgraf Friedrich I., dessen Hof und Universität im 15. Jahrhundert zu einem Zentrum des deutschen Humanismus wurden.⁷⁸ Hier findet sich eine Scherzrede, die als eine von drei quaestiones minus principales im Sommer 1458 unter der Leitung von Magister Peter Krebs von Sesslach gehalten wurde und im Cod. pal. lat. 870 überliefert ist:⁷⁹ Die beiden ersten Reden haben den Umgang mit Häretikern zum Thema (De beghardis et peginis), wobei die zweite Rede nicht ganz ausgeführt ist (fol. 144v–147v), die dritte Rede aber ist mit de validis mendicantibus diripientibus sub spem pietatis et religionis (fol. 148r–154r) überschrieben und im Gegensatz zu den anderen Reden mit dem rubrizierten Marginalkommentar quaestio bona versehen (fol. 148r). Bei diesen Scherzreden handelt es sich um die ältesten Beispiel einer literarischen Reihe, deren institutioneller Ort im Rahmen der oft mehrtägigen quaestiones quodlibeticae liegt. Bei diesen Veranstaltungen musste ein Magister zu einem frei gewählten Thema sprechen, während ein Kollege als Quodlibetar dessen Disputationen widerlegen musste. Diese Form der universitären Veranstaltung ist vor allem für die Universitäten Leipzig und Tübingen, aber auch für Prag, Wien, Erfurt, Heidelberg und Köln nachgewiesen.⁸⁰ Vielleicht um diese langwierigen Veranstaltungen für die Zuhörer interessanter zu machen,⁸¹ wurden dieser Art öffentlicher Rede besondere Lizenzen zugebilligt; zum einen Lizenzen einer gewissen moralischen Offenheit – eine Bestimmung der Universität Köln setzte nur voraus, dass Ernstes mit sittlich anständigen Scherzen zu mischen sei (seriis ioca misceantur honesta) – zum anderen Lizenzen der Fiktionalität, was schon an der Selbstbezeichnung als quaestiones fabulosae deutlich wird.⁸² Dass diese literarische Reihe nur von 1450 bis 1530 nachzuvollziehen ist, liegt nach Johannes Klaus Kipf zum einen an der genuin mündlichen Konzeption, welche eine

 Kluge: Rotwelsch, S. 19.  Vgl. Jan-Dirk Müller: Der siegreiche Fürst im Entwurf der Gelehrten. Zu den Anfängen eines höfischen Humanismus in Heidelberg. In: August Buck (Hg.): Höfischer Humanismus. Weinheim 1989, S. 17– 50  Rom, BAV, Cod. pal. lat. 870 fol. 144v–154r. Vgl. Johannes Klaus Kipf: Ludus philosophicus. Zum medialen Status der akademischen Scherzreden des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Ursula Kundert und Marion Gindhart (Hg.): Disputatio 1200 – 1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin, New York 2010, S. 203 – 230, hier S. 225 f.  Vgl. Erich Kleinschmidt: Scherzrede und Narrenthematik im Heidelberger Humanistenkreis um 1500. Mit der Edition zweier Scherzreden des Jodocus Gallus und dem Narrenbrief des Johanes Renatus. In: Euphorion 71 (1977), S. 47– 81, hier S. 47.  Dieses Argument wird angeführt in Kleinschmidt: Scherzrede, S. 47 f.  Vgl. Kipf: Ludus philosophicus, S. 204– 206.

76

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Verschriftung lange im Wege stand, zum anderen an den veränderten Rahmenbedingungen nach Reformation und humanistischer Reform der Universitäten, welche der Aufführungssituation Mitte des 16. Jahrhunderts die Basis entzogen habe.⁸³ Dass die beiden Heidelberger quaestiones im Cod. pal. lat. 870 aufgezeichnet wurden, ist weniger „der Dokumentation literarischen Schaffens, sondern der Sachinformation über die Themen der quaestiones“⁸⁴ geschuldet. So steht die lateinische Scherzrede in einem Faszikel, in welchem vor allem juristische und theologische Traktate/Arbeitshilfen zusammengefasst sind⁸⁵ wie bereits im Überlieferungszusammenhang des Basler Bettlerkatalogs. Weiter wird der Charakter der Sachinformation dadurch evident, dass der durch Vermerk nachweisliche Besitzer der Handschrift Matthias von Kemnat diese auch als Quelle für seine Pfälzer Chronik von 1475 nutzte.⁸⁶ Er inseriert den Katalog in die Kölner Stiftsfehde und schließt die Passage unmittelbar an den Tod Adolfs von Nassau, des Erzbischofs von Mainz, an: Furbas wil ich hie sagen von einem besondern volck vnd seckt, die dan gewonlich zu meiner zeit regiert hait in besunder bosheit, der mir mancher bekant ist gewesen vnd haben ein besonder willen vnd lust, dauon zu schreiben, das volck daruor zu warnen⁸⁷

Dabei übernimmt der Chronist nicht nur den Aufbau und die Kategorien der beiden Scherzreden, sondern auch die vereinzelten deutschen Passagen.⁸⁸ Interessant ist beim Gaunerkatalog Matthias’ von Kemnat weiter die Positionierung in einem Exkurs, in dem er soziales und religiöses Fehlverhalten verschränkt. So setzt er die Delinquenz der betrügerischen Bettler mit Andersgläubigen gleich – neben den Lollarden, Begarden und Hussiten stereotypisierend auch Juden und Hexen.⁸⁹ Damit erreicht er mithilfe von Generalisierung und Diskreditierung eine adhortative Warnung gegenüber diesen sozial ausgegrenzten Personengruppen. Die Verbindung der Ketzer- mit der Bettlerthematik liegt bereits Matthias’ Quelle, den quaestiones, zugrunde. Doch er verallgemeinert und steigert die Aussagen. Als Beispiel dafür, was

 Vgl. Kipf: Ludus philosophicus, S. 228 f.  Kipf: Ludus philosophicus, S. 228.  Zur Handschrift vgl. Birgit Studt: Fürstenhof und Geschichte. Legitimation durch Überlieferung. Köln 1992, S. 25 – 27. Der zweite Faszikel der Handschrift, in welchem Reden und Schriften des Heidelberger Humanistenkreises zusammengefasst sind, hebt sich paläographisch und inhaltlich deutlich von dem ersten ab.  Vgl. Studt: Fürstenhof, S. 339 – 341.  Matthias von Kemnat: Chronik Friedrich I. des Siegreichen. In: Quellen zur Geschichte Friedrich’s des Siegreichen. Erster Band, hg. von Conrad Hofmann. München 1862, S. 1– 142, hier S. 101.  Als Beispiel soll nur eine Textstelle in der Einleitung dienen, welche das Bibelwort (Mt 23,28) abwandelnd in der Scherzrede den ‚Starken Bettlern‘ in den Mund legt: Zwar ich pin kein gleyßner dann ich pin Inwendig als posse als aussen (Cod. pal. lat. 870, fol. 148r). Diese Aussage greift Matthias von Kemnat auf, indem er schreibt: Die sect treib kein glissnerei, dan sie sint inwendig als bosse als auswendig; Matthias von Kemnat: Chronik, S. 101.  Matthias von Kemnat: Chronik, S. 109 – 119 (Häretiker), S. 119 – 126 (Juden) und S. 113 – 117 (Hexen).

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

77

vnmeslicher grosser bosheit, schalckheit, buberei die Beckgart vnd Lolhart treiben ⁹⁰ führt er die Erzählung von einem Cambisirer oder Glatten ⁹¹ an, welchen der vorgehende Exkurs explizit als eine Gaunerkategorie nannte. Die pragmatische Anwendbarkeit ist in der Chronik also erweitert; das Werkzeug für die unmittelbare Arbeit der Exekutive (Stadtbüttel, Richter etc.) erhält eine allgemeinere, den Diskurs abbildende, jedoch auch prägende Dimension, indem sie Argumentationsmuster für jeden Rezipienten bereitstellt. Dabei schreibt sie sich in aktuelle reichspolitische Diskussionen ein. Diese Aufgabe der Chronistik ist vor allem in einer Zeit, in der eine weitere Säkularisierung und Ablösung von einer heilsgeschichtlichen Universalgeschichte festzustellen ist, umso brisanter.⁹²

Das Speculum Cerretanorum des Teseo Pini Beim ersten Text im Untersuchungszusammenhang, der eigenständig, also nicht als Inserat konzipiert ist, handelt es sich um das Speculum Cerretanorum, welches vom Italiener Teseo Pini 1484/86 abgefasst wurde. Pini ist in den Archiven nicht zu finden.⁹³ Es ist nur bekannt, dass er der Onkel von Polydor Vergil ist, des berühmten Humanisten und Verfassers der Abhandlung De rerum inventoribus (1499/1521). Außerdem nennt er sich in der Widmungsvorrede den Vikar des Bischofs von Fossombrone Girolamo Santucci, in dessen Besitz auch ein Tratato contra ceretanos domini thesej de Urbino verzeichnet ist.⁹⁴ Dieser Bischof reiste als Legat von Papst Sixtus IV. ab 1473 nach Köln, wobei ihn seine Reiseroute über Florenz, Bologna und Mailand auch in die Städte Basel und Straßburg führte. Dort lernten der Bischof und sein Vikar Pini vielleicht die Praxis der verschriftlichten Bettlerkataloge kennen,⁹⁵ fällt doch die Rückkehr der Gesandtschaft mit dem Entstehen des Speculum Cerretanorum zusammen. Dabei handelt es sich um das umfangreichste überlieferte ‚Gaunerbüchlein‘ mit 39 Kategorien, vielen Anekdoten und einer Wortliste der italienischen Gaunersprache Gergo. Obwohl ein direkter Bezug auf die Betrügnisse aufgrund der inhaltlichen Eigenständigkeit des Speculum Cerretanorum unwahrscheinlich ist, folge ich dennoch John Considine in seiner Annahme: „[I]t is almost certain that it was inspired by the knowledge of the very similarly structured ‚Basler Betrügnisse‘“.⁹⁶

 Matthias von Kemnat: Chronik, S. 109.  Matthias von Kemnat: Chronik, S. 109. Zu dieser Erzählung mehr in Kapitel 5.1.4.  Vgl. dazu und den Funktionen der Chronik allgemein Studt: Fürstenhof, S. 372 f.  Camporesi: Vagabondi, S. 150 – 152.  Camporesi: Vagabondi, S. 155. Die Meinung in Heiner Boehncke: Die Austreibung der Fahrenden. Geschichten eines Gaunerbuchs. In: Heiner Boehncke und Rolf Johannsmeier (Hg.): Das Buch der Vaganten. Spieler, Huren, Leutbetrüger. Köln 1987, S. 43 – 78, hier S. 56, dass der Bischof den Traktat verfasst habe, welchen Pini dann überarbeitet habe, ist falsch und beruht wohl auf einem Übersetzungsfehler.  Zur Reiseroute vgl. John P. Considine: Small Dictionaries and Curiosity. Lexicography and Fieldwork in Post-medieval Europe. Oxford, New York 2017, S. 44.  Considine: Dictionaries, S. 44 f.

78

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Considine geht weiter davon aus, dass Pini den Katalog nicht in einem offiziellen Dokument gesehen hat, sondern dass dieser in Basel und Umgebung als „curious text“⁹⁷ bereits in den 1470ern allgemein zirkulierte, wofür dieses Kapitel einige weitere Anhaltspunkte bietet. Struktur und Faktur von Pinis Speculum sind weitaus elaborierter als die zeitgleich in den Reichsstädten des deutschen Südwestens geschriebenen Texte. Sie erinnern mehr an den Liber Vagatorum und übertreffen diesen sogar an rhetorischer Finesse und Komplexität. Das Speculum beginnt mit einer Verteidigung des Unterfangens, schreitet fort mit der Darlegung des Gegenstandes mit Schwerpunkt auf den Ursprung von Wort und Phänomen der Cerretani und handelt dann mit illustrierenden Beispielen die verschiedenen Erscheinungsformen der Bettler ab. Der Text schließt mit einer Vokabelliste des Gergo. Der Aufbau folgt ausdrücklich rhetorischen Normen, was er in der Einleitung mit explizitem Verweis auf Cicero (De Oratore I, 189/Orator 116) deutlich macht: Veniam igiur ad explanationem rei, quam aggressus sum, quia ut inquit Cicero, omnis quae de aliqua re suscipitur disputatio, debet a diffinitione proficisci, ut intelligatur de quo disputatur.⁹⁸

Am Ende nimmt er diese luzide rhetorische Strukturierung seiner Untersuchung wieder auf, um auf die Wörterliste der Geheimsprache überzuleiten: Dicto igitur de cerretanorum origine, diffinitione deductioneque nominum, ac de specierum exemplis artibusque quibus homines imperitos decipiunt, dicendum profecto videtur de eorum idiomate et dictionibus, quibus loquendo utuntur ad fallendum.⁹⁹

Auch wenn die – weitgehend auf etymologischen Erklärungen basierende – Erläuterung der ‚historischen‘ Ursprünge der Cerretani (S. 189 – 191) wie auch die Liste der einzelnen Erscheinungsformen (S. 191– 240) und das Vocabularium (S. 241– 256)¹⁰⁰

 Considine: Dictionaries, S. 45.  Camporesi: Vagabondi, S. 189; Übers. P. R.: ‚Ich will also zur Darstellung des Sachverhalts übergehen, den ich in Angriff nahm, weil ja gemäß Cicero jede Diskussion über einen Sachverhalt von der Abgrenzung (Definition) ausgehen soll, damit man verstehen kann, worüber gesprochen wird.‘  Camporesi: Vagabondi, S. 240; Übers. P. R.: ‚Nachdem ich also vom Ursprung der Cerretani, ihrer Wesensbestimmung und der Ableitung der Namen sowie über Beispiele der Erscheinungsformen und ihrer Künste, mit denen sie die unerfahrenen Menschen täuschen, gesprochen habe, scheint es in der Tat nötig, über deren Sprache und Ausdrucksweisen zu sprechen, die sie nutzen, um durch ihre Worte zu täuschen.‘  Considine fügt an, es handle sich bei dieser Vokabelliste womöglich um „the first example of a European compiler making a wordlist of more than a hundred items simply because he was carried away by interest in a language variety of which he believed the records to be sparse or non-existent“; Considine: Dictionaries, S. 46. Damit deckt sich die Intention Pinis mit dem ältesten Beleg des Kryptolekts Gergo, der sich in den Gedichten und einem Brief des Luigi Pulci an Lorenzo de’ Medici von 1466 findet. Der große Unterschied zu den anderen Wortlisten, die der Unterdrückung der Vagabunden dienten, ist der, dass die Behandlung bei Pulci dem literarisch-gebildeten Habitus einer sozial hoch-

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

79

hier nicht en detail dargestellt werden können, lohnt sich doch ein genauerer Blick auf die Einleitung der Abhandlung, welche die bisherigen Forschung nur marginal untersuchte: Nach einer ehrenden Dedikation an den höherstehenden Adressaten weist er darauf hin, dass es nötig sei, immer wieder Neues zu lernen: Quoniam, R[everenda] D[ominatio], omnia discere licet propter scire ut boni probique homines ab improborum deceptionibus et hypocrisi se tueri valeant. ¹⁰¹ Dafür nennt er einige Beispiele (Plato, Apollonios von Tyana, Moses, Daniel), die alle gemeinsam hätten, dass sie neues Wissen durch Reisen in die Ferne erworben und in der Heimat ausgebaut hätten. Dieser Einstieg könnte als Referenz auf die eigene biographische Situation des Autors gelesen werden, wenn man davon ausgeht, dass er den Impuls für das Abfassen seiner Schrift erlangte, als er im Gefolge des Bischofs Santucci nach Deutschland reiste und zirkulierende Bettlerkataloge kennenlernte. Als Argument für die Notwendigkeit des Dazulernens dient ihm die Bibelstelle Ex 12,35 f., die er allegorisch auslegt: Legitur etiam quod praecipit Dominus filiis Israel ut spoliarent Aegyptios omni auro et argento, allegorice docens ut sive aurum sapientiae, sive argentum eloquentiae, inventa in poetarum fabulis et finctionibus ad usum salubris nostrae doctrinae, vertere niterentur. Legunt quidam seculares litteras ad poetarum voluptatem figmentis [et] verborum ornatu delectati; quidam vero ad illustrandam mentem discunt, ut gentilium errores legendo detestentur et utilia, quae in eis inveniunt, tanquam rosas ex sentibus ad usum sacrae eruditionis devoti vertant.¹⁰²

Pini benutzt dezidiert literarisches Vokabular, wenn er betont, dass auch die weltlichen Geschichten und Erfindungen der Dichter einen Beitrag am Heilsgeschehen leisten, sofern man sie nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch zur Unterweisung liest. Dieser Gestus des Lernens aus den inventa in poetarum fabulis et finctionibus steht in doppelter Weise zum einen für die Textintention, zum anderen für den Text selbst. Denn das Speculum Cerretanorum soll die Erfindungen und Täuschungen der Bettler ans Licht führen und daraus Lehren ziehen, damit die Menschen nicht mehr auf die Tricks der Cerretani hereinfallen. Andererseits ist diese prononcierte Stellung ein Indiz dafür, dass die Darstellung und die Liste der Bettler nicht nur aus eigener Anschauung resultierten, sondern auch aus dichterischen Erfindungen; diesen wird

stehenden Elite entstammt und dementsprechend mit dem Kryptolekt verfährt. Vgl. Considine: Dictionaries, S. 43 f.  Camporesi: Vagabondi, S. 185; Übers. P. R.: ‚Da Eure Exzellenz ja alles darüber wissen sollten, wie gute und redliche Menschen sich vor den Täuschungen und Verstellungen Unredlicher zu schützen vermögen…‘  Camporesi: Vagabondi, S. 186; Übers. P. R. ‚Man kann auch lesen, dass der Herr den Söhnen Israels vorschrieb, dass sie den Ägyptern alles Gold und Silber rauben sollen. Darin liegt die allegorische Lehre, dass das Gold der Weisheit wie auch das Silber der Beredsamkeit, sei es auch durch Geschichten und Geistesgebilde der Dichter erfunden, zum Nutzen unserer heilbringenden Lehre drängt. Manche lesen weltliche Schriften, um von den Erfindungen der Dichter und dem Schmuck der Worte belustigt und erfreut zu werden; manche aber lernen zum Erhellen des Geistes, um die Fehler der Väter durch die Lektüre zu vermeiden und – zum Nutzen gesegneter Bildung – Brauchbares, was sie darin finden, wie Rosen aus den Dornen zu winden.‘

80

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

durch die biblische Legitimation ebenso der Anspruch zugebilligt, einen Anteil am sozialen und religiösen Wohlergehen zu leisten. Er rechtfertigt also die Beschäftigung mit den Fiktionen der Betrüger, gleichzeitig aber die Fiktionen der Darstellung, da sie einem höheren Zweck folgen. Auf die Einleitung folgt ein (wohl erfundener) Dialog des Erzählers mit einem Rechtsgelehrten namens Johannes Grandis aus Spoleto. Dieser habe sich vor seiner akademischen Karriere selbst den Cerretani, die als subversive Subkultur dargestellt werden, angeschlossen, jedoch weniger aus finanziellen Nöten, sondern aus Spaß. Im Gottesdienst (d. h. im Broterwerb durch betrügerischen Bettel) sei er schließlich so erfolgreich gewesen, dass man sogar versucht hätte, ihn abzuwerben, indem man ihm das fürstliche Salär von hundert Gulden (wohl floreni aurei) in Aussicht stellte.¹⁰³ Im folgenden Gespräch, in welchem der gelehrte Spoletaner Scipio einen besonders großen Redeanteil hat, differenziert er verschiedene Arten von Bettlern. Dabei hebt er die Bettler hervor, die unter der Schirmherrschaft der Gottesliebe (sub scuto amoris Dei) bettelten und auch täuschten. Deren Betrug sei legitim, da der Schaden, wenn man diesen gebe, aus der Leichtgläubigkeit der Geber resultiere: Nam illa credulitas […] forte ex debilitate processit ingenii. ¹⁰⁴ Anders verhalte es sich bei den Cerretani, die rücksichtslos bettelten, was der Anwendung von Gewalt gleichkomme und so aus dem Almosen des Gebers die Beute des Bittenden mache: Nam qui importune petit, quasi vim inferre videtur. Igitur quod vi datum est, non beneficium sed praedam puto. ¹⁰⁵

 Camporesi: Vagabondi, S. 187: sciscitans a quodam legum interprete Ioanne cive Spoletano, cognomento Grandi, qui, ut asserit, cum illis turpissimam artem, non ad quaestum se ad risum bis in perusino agro, dum studio legum fuerat emancipatus, antequam ad doctoratus honorem fuisset evectus, exercuit, et saepe ab illis, tamquam idoneus et facilis ad decipiendum requiritur, ut cum eis velit sese ad remotas mundi partes ad sanctuariam exercendam, hoc est ad quaestuarium usum, conferre: nec veriti sunt sibi promittere mille aureos ex annuo quaestu. Tanti enim faciunt acumen ingenii ipsius, linguaeque dexteritatem. Übers P. R.: ‚Ich erlangte das Wissen von einem gewissen Ausleger der Gesetze Johannes, einem Bürger von Spoleto, mit dem Beinamen Grandis. Dieser übte, wie er behauptet, mit jenen [den Cerretani] die äußerst schändliche Kunst nicht zum Broterwerb, sondern aus Spaß zweimal im Gebiet um Perugia aus, sobald er vom Studium der Gesetze ledig und bevor er zu den Ehren des Doktorats emporgestiegen war. Er wurde von jenen häufig angefragt – weil er angeblich geeignet wäre und ihm das Täuschen leichtfalle –, dass er sich mit ihnen zu den entfernten Teilen der Welt begebe, um den Gottesdienst zu feiern; das heißt, um Geld zu verdienen: und sie scheuten sich nicht, ihm tausend Goldstücke als Jahresverdienst zu versprechen. So viel nämlich bringen die Schärfe seines Verstandes und seine Redegewandtheit ein.‘  Camporesi: Vagabondi, S. 188.  Camporesi: Vagabondi, S. 188; Übers. P. R.: ‚Denn wer unredlich bittet, scheint gleichsam Gewalt anzuwenden. Was aber unter Gewalteinwirkung gegeben wurde, halte ich nicht für eine wohltätige Gabe, sondern für Diebesgut.‘

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

81

Um diesen Verbrechern Herr zu werden, habe Teseo Pini sein Werk verfasst; er wolle nämlich den einfachen Menschen (er nennt mulierculis und rusticanis […] viris)¹⁰⁶ ein Beispiel und einen Handlungsleitfaden geben. Daneben soll die Schrift jedoch noch einen anderen Zweck erfüllen: Scripsi etiam ut R[everenda] D[ominatio] T[ua], otii tempore, quiescente animo, dum a sacrarum divinarumque litterarum (cura) vacat, habeat fabellam immo historiam, et, ut verius dicam, scientiam quae inventoris ingenio omnium artium magistros superat et vincit, et animum a curis levare poterit.¹⁰⁷

Diese Textstelle verdeutlicht den hybriden Charakter dieser Textform, nämlich einerseits als unterhaltsame Erzählung (fabella) für die Mußestunden (otii tempore), andererseits als Text mit einem gewissen Wahrheitsanspruch (historia) und sogar als Wissensträger (scientia), der mit den Texten der magistri artium liberalium konkurriert. Schließlich soll die Schrift von Sorgen befreien, sei es durch sozialreformatorische Verbesserungsvorschläge oder durch die Entlastung bei der Lektüre der scherzhaften Erzählungen.¹⁰⁸ Dieser hybriden Intention entspricht auch die Darstellung der einzelnen species mit ihren zahlreichen Beispielen mitunter novellistischen Charakters. Augenfällig ist die häufige Bezeichnung der Tätigkeit der Bettler als ars; diese wird einerseits beschrieben mit dem Wunsch, den Rezipienten über heimtückische Machenschaften aufzuklären, andererseits mit einer gewissen Faszination über den Gegenstand. In der Konklusion nach dem Bettlerkatalog betont der Verfasser in einer Ansprache an den Adressaten, dass die Zahl der Betrugsformen eigentlich unendlich sei und ständig neue Formen ‚ausschlüpfen‘ könnten: Licet, Reverenda Dominatio, ars profunda sit, et multae potuissent species addi, cum innumerae sint fallaciae, tamen quae de novo invenientur uni istarum poterunt adhaerere, veluti pulli trepiduli, qui sub gallinae alis foventur et calefiunt; ne in longiorem prorumpam dicendi materiam, cui forte carta non sufficeret, his quadraginta specibus fallendi contenti sumus.¹⁰⁹

 Camporesi: Vagabondi, S. 189.  Camporesi: Vagabondi, S. 189; Übers. und Herv. P. R.: ‚Ich habe die Schrift auch verfasst, damit Eure Exzellenz in der Zeit der Muße und in Phasen geistiger Erholung, wenn Ihr euch gerade nicht mit den heiligen und göttlichen Schriften befasst, eine kleine Erzählung oder vielmehr Geschichte habt, und, um die ganze Wahrheit zu sagen, das Wissen; dises übertrifft abhängig von der Begabung des erfindenden Dichters die Meister aller (freien) Künste bei weitem und kann das Herz von Sorgen befreien.‘  Zur Bewertung von komischer Literatur in der Scholastik vgl. Thomas von Aquin. Summa theologica II 2, q. 168. a. 3 und 4. Vgl. auch Joachim Suchomski: ‚Delectatio‘ und ‚Utilitas‘. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur. Bern, München 1975, S. 57– 60.  Camporesi: Vagabondi, S. 240; Übers. P. R.: ‚Mag die Kunst, Eure Exzellenz, auch bodenlos sein und viele Erscheinungsformen hinzugefügt werden können, weil die Täuschungen zahllos sind, werden dennoch einzelne derer, die von Neuem gefunden/erfunden werden, davon abhängig sein wie ängstliche Küken, die unter den Flügeln der Henne gehegt und gewärmt werden; um nicht mit einer

82

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Bildlich bleibt die Sprache auch bei der Erklärung des Titels. Inspiriert von der Bezeichnung der italienischen Gaunersprache als ‚Gergo‘ führt er einen mythologischen Vergleich an: nam, sicut illi qui Gorgonis caput in scuto aspiciebant in lapides vertebantur, sic isti suis sermonibus simplices homines ac mulieres attonitos reddunt, demum fortunis spoliant. ¹¹⁰ Vom Spiegel der Medusa leitet er dann auch die Bezeichnung der Schrift als Speculum ab: Nos ergo opusculum hoc speculum appellemus, ut Medusa suam formam aspiciens vertatur in saxum, hoc est, ut homines ipsis improbis artibus dediti recognoscentes fallacias suas in hoc respiciant et convertantur, vel cogniti minus laedant.¹¹¹

Wie der Spiegel des Perseus soll das Speculum die Cerretani also entweder durch die Lektüre bessern oder durch ihre Bloßstellung unschädlich machen. Es ist jedoch offensichtlich, dass der Text vor allem die zweite Alternative umsetzt. Schließlich zeigt die Wirkungsgeschichte des Speculum Cerretanorum, dass ein ‚Gaunerbüchlein‘ einerseits literarisch, andererseits sozialhistorisch wirksam sein kann. Denn der Text wurde zur Inspirationsquelle einer literarischen Reihe, vor allem für die Version des Dominikaners Giacinto de Nobili Il vagabondo, der unter dem Pseudonym Rafaele Frianoro den Text 1621 (großteils wortwörtlich) ins Italienische übertrug. Il vagabondo erlebte bis 1722 fünfzehn Editionen und wurde sogar ins Französische übersetzt.¹¹² Andererseits konnte und sollte der Text auch sozialhistorische Prozesse auslösen.¹¹³ Diese doppelte Wirksamkeit stellt Piero Camporesi in seiner Pionierstudie zum Werk fest. Er betont zwar den Status des Textes als Literatur und als Imagination eines historisch-spezifischen Gesellschaftsbildes,¹¹⁴ erkennt aber noch längeren Behandlung des Stoffes fortzufahren, wofür schwerlich das Papier reicht, sind wir mit diesen 40 Erscheinungsformen der Täuschung zufrieden.‘ Weshalb Pini in der conclusio von 40 species spricht, aber nur 39 nennt, darüber bleibt zu spekulieren.  Camporesi: Vagabondi, S. 240; Übers. P. R.: ‚Denn wie jene sich in Stein verwandeln, die das Haupt der Gorgo in ihrem Schild sehen, so werden die einfachen Männer und Frauen durch ihre Sprache verblüfft und schließlich ihrer Güter beraubt.‘  Camporesi: Vagabondi, S. 240; Übers. P. R.: ‚Lasst uns also auch dieses kleine Werk Spiegel nennen, damit die Medusa, wenn sie sich selbst sieht, in Stein verwandelt wird – das heißt, damit die Menschen, die sich selbst unredlichen Künsten hingegeben haben und ihre eigene Falschheit erkennen, in ihn hineinschauen und so verwandelt werden, oder selbst, indem sie erkannt werden, [anderen] weniger Schaden zufügen.‘ Vgl. auch Camporesi: Vagabondi, S. 155 f.  Camporesi: Vagabondi, S. 161– 164 und 249 – 259.  So werden die Aussagen über die Cerretani aus Spoleto auch im gelehrten Diskurs weiter zitiert, z. B. bei Piedro Andrea Mattiolis Commentarii secundo aucti (1560) und dann in Tomaso Garzonis Piazza Universale (1584). Vgl. dazu Katrin Kröll: „Kurier die Leut auf meine Art…“. Jahrmarktskünste und Medizin auf den Messen des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Udo Benzenhöfer und Wilhelm Kühlmann (Hg.): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen 1992, S. 155 – 186, hier S. 162 f.  Camporesi: Vagabondi, S. 171: „La storia dei ‚falsi vagabondi‘ è storia eminentemente letteraria, quindi fantastica, fortemente irreale, e, inoltre, tendenziosa e classista […]. Uomini come Teseo Pini e Raffaele Frianoro, pur tenuto conto della loro particolare ottica, della loro appartenenza sociale, e, in

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

83

die Imagination der Bettler als verabscheuenswerte und lächerliche Figuren als einen unterhaltsamen Spaß, der schnell in Perversion und Grausamkeit abrutscht, da er auf dem tatsächlichen Leid der Armen beruht.¹¹⁵ Durch die Diskreditierung als betrügerische Bettler kämen die Menschen, die aufgrund von Mangel auf Almosen angewiesen seien, in einen schmerzhaften Teufelskreis, sich immer wieder neu erfinden zu müssen, „a una dolorosa girandola d’invenzioni“.¹¹⁶

5.1.3 Die räumliche Ausweitung des Diskurses im Zeichen des Buchdrucks – der Liber Vagatorum Zu Aufbau, Autor und Vorlagen Der Liber Vagatorum wurde um 1510 in Pforzheim ohne Verfasserangabe gedruckt und nimmt den zirkulierenden Inhalt der Betrügnisse der Gyler als Grundlage für seinen Bettlerkatalog, erweitert ihn aber auf mindestens 28 Kategorien im Hauptteil und ergänzt noch einen zweiten Teil, in dem er in anekdotischem Gestus notabilia zu 13 weiteren Typen darstellt.¹¹⁷ Daran schließt ein umfangreiches Verzeichnis rotwelscher Wörter mit 219 Lemmata an. Aufbau und Aussageabsicht ähneln mithin dem Traktat Pinis. Der wichtigste Unterschied betrifft jedoch den medialen Status:¹¹⁸ Das Speculum Cerretanorum ist ein lateinischer Traktat, welcher explizit an einen Adressaten aus der gebildeten Elite gerichtet ist und so nur in limitiertem Umfang als Handschrift zirkulieren konnte. Dies ist auch daraus ersichtlich, dass nur zwei Exemplare, beide aus dem 16. Jahrhundert, überliefert sind.¹¹⁹ Der Liber Vagatorum hingegen ist, anders als

più, dei tempi diversi in cui scrivevano, non possono che trasmettici una immagine altera, fuorviante e, in definitiva, faziosa, del pauperismo e della mendicità.“  Camporesi: Vagabondi, S. 171: „Se la letteratura dei vagabondi e dei pitocchi riesce spesso a muovere il riso del lettore, o almeno il sorriso, se spesso diventa divertimento e buffonesca commedia, vista e letta da un ipotetico ma autentico straccione, diventa ignobile pantomima letteraria, cinico travisamento e colpevole mistificazione di un dramma millenario ‚recitato‘ su un copione di fame, di stenti, di sangue, da una moltitudine inimmaginabile d’infelici sbattuti dal destino sul palcoscenico di un atroce teatro della crudeltà.“  Camporesi: Vagabondi, S. 171.  Liber Vagatorum. Der Betler Orden. Pforzheim: Thomas Anselm 1510. Ich folge der Edition in Kluge: Rotwelsch, 35 – 58, da die neuere Ausgabe nur die beiden Hauptteile des Buches abdruckt; vgl. Beate Althammer und Christina Gerstenmayer (Hg.): Bettler und Vaganten in der Neuzeit. Eine kommentierte Quellenedition. Essen 2013, S. 30 – 41. Zum Aufbau vgl. die Synopse in Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 67– 69.Vgl. Assion: Matthias Hütlin und sein Gaunerbüchlein und Peter Assion: [Art.] Hütlin, Matthias. In: 2VL, Sp. 332– 337.  Zu Aspekten des Nebeneinanders von Handschriftlichkeit und Druck in der Zeit von 1470/80 und 1560 vgl. Schnell: Handschrift und Druck, S. 107 f.  Vgl. Camporesi: Vagabondi, S. 179 f. Die Handschrift Vat. lat. 3486 von 1589 wiederholt dabei den pragmatischen Rahmen des Originaltextes, indem sie auch von seinem ‚ergebensten Diener‘ (servus addictissimus) Marcellus an einen Teil der gebildeten Elite, Kardinal Antonius Carafa, adressiert ist. Die Dedikationsepistel ist ediert in Camporesi: Vagabondi, S. 337– 343, zit. S. 337.

84

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

der Titel vermuten lassen könnte, auf Deutsch abgefasst und recht früh gedruckt worden – zumindest sind keine handschriftlichen Zeugnisse überliefert. Durch die Volkssprachigkeit und die billige Reproduktion – das Buch ist schmal, auf Papier gedruckt und mit wenigen, sich oft wiederholenden Holzschnitten versehen – hat das Buch schon schnell eine weite Verbreitung erlangt und gilt als „das populärste deutsche Gaunerbüchlein“.¹²⁰ So gab es in vorreformatorischer Zeit allein bis 1525, also innerhalb von weniger als 15 Jahren, mindestens 14 verschiedene Editionen, darunter eine niederdeutsche und eine niederrheinische Übertragung.¹²¹ Auf den niederdeutschen Mundarten basiert weiter die reichbebilderte niederländische Übersetzung Der Fielen Rabauwen von 1547.¹²² Trotz der anonymen Edition (es fehlen auch Ort und Jahr), wurde durch Typenvergleich ermittelt, dass die erste Edition in der Pforzheimer Offizin Thomas Anselms gedruckt wurde. Als Verfasser, der sich im Text nur einen hochwirdigen meister nomine expertus in trufis ¹²³ also einen Experten in Betrügereien nennt, nimmt man den von 1500 – 1524 amtierenden Pforzheimer Spitalmeister des Hospitaliterordens zum Heiligen Geistes Matthias Hütlin an. Die Grundlage dieser (nicht unumstrittenen) Vermutung¹²⁴ ist die Aussage des niederdeutschen Braunschweiger Druckes: so is de utleging hir in gedrukt sovil des ein Spitalmeister up dem Ryn geweten hefft de dan dit bock to Pfortzen int erste heft drucken laten.¹²⁵

 Vgl. Frieder Schanze: Die älteren Drucke des Liber vagatorum. In: Gutenberg-Jahrbuch 70 (1995), S. 143 – 150, hier S. 143.  Pforzheim (bei Thomas Anshelm um 1510), Nürnberg (bei Johann Stuchs um 1510 und Johann Weißenburger um 1510/13), Straßburg (bei Matthias Hupfuff um 1510/11), Braunschweig (bei Hans Dorn um 1510/25), Köln (bei Heinrich von Neuß, datiert auf 1511), Augsburg (zweimal bei Erhard Öglin um 1512), Erfurt (zweimal bei Mathes Maler um 1512/15), Basel (bei Michael Furter um 1513/17), Ulm (bei Johann Zainer d. J. um 1515), Würzburg (bei Martin Schubart, nicht nach 1518) und Speyer (bei Jakob Schmidt um 1522).Vgl. die elaborierte Darstellung in Schanze: Drucke, S. 144– 149.Vgl. auch Considine: Dictionaries, S. 36 f. Letzerer bezieht sich jedoch – wenn er auch einzelne Fehler korrigiert – auf die veralteten und fehlerhaften Angaben in Franz Claes: Bibliographisches Verzeichnis der deutschen Vokabulare und Wörterbücher, gedruckt bis 1600. Hildesheim, New York 1977.  Vgl. Kluge: Rotwelsch, S. 58 und Considine: Dictionaries, S. 37. Es wurde auch erkannt, dass Droit chemin de l’hopital des Robert de Balsac (1501) als Vorlage des niederländischen Textes diente. Vgl. Marc van Vaeck und Johan Verberckmoes: Who Do Beggars Deceive? Adriaen van de Venne, Recreational Literature and the Pleasure of Forging Texts. In: Toon van Houdt (Hg.): On the Edge of Truth and Honesty. Principles and Strategies of Fraud and Deceit in the Early Modern Period. Leiden 2002, S. 269 – 288, hier S. 271. Dazu auch Herman Pleij: Van Schelmen en Schavuiten. Laatmiddeleeuwse Vagebondteksten. Amsterdam 1985, S. 114– 119 (ed. 9 – 43).  Kluge: Rotwelsch, S. 37.  Bezweifelt u. a in Erich Kleinschmidt: Rotwelsch um 1500. In: PBB 97 (1975), S. 217– 229, auch wenn er Hütlin durchaus eine Teilverfasserschaft (den dritten Teil) zubilligt.  Ed. in Kluge: Rotwelsch, S. 75.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

85

Um die Verfasserschaft Matthias Hütlins zu stützen, wurde die Unkenntnis des Braunschweiger Druckers über die Geographie Süddeutschlands angeführt.¹²⁶ Doch für Hütlin ist auch ansonsten ein intensiver Kontakt zu den anderen Heiliggeistklöstern der oberdeutschen, am Rhein gelegenen Ordensprovinz anzunehmen, zum Kloster Markgröningen¹²⁷ und gerade auch zum elsässischen Stephansfeld in der Nähe von Straßburg, wo er durch den Vorschlag Markgraf Christophs I. von Baden am 23. Oktober 1500 durch das Ordenskapitel zum Ordensmeister berufen wurde.¹²⁸ Es ist vorstellbar, dass er durch sein Netzwerk mit den zirkulierenden Bettlerkatalogen in Kontakt getreten ist und diese in seiner Aufgabe als Spitalmeister – die Spitäler waren wichtige Institutionen in der Reform der Armenfürsorge – zu einer eigenen Schrift verarbeitete. An Popularität gewann der Text noch weiter, als Martin Luther sich seiner annahm und einen neuen Druck unter dem deutschen Titel Von der falschen Bettler Büberey (1528) veranlasste. Zu möglichen direkten Prätexten ist wenig Sicheres zu sagen. Durch die enge Anbindung an den deutsch-französischen Grenzraum um Straßburg ist natürlich an die Möglichkeit einer französischen Vorlage zu denken. Jedoch ist der erste französischsprachige Text derartiger ‚Gaunerliteratur‘ erst 1596 nachzuweisen (La vie généreuse).¹²⁹ Andererseits transportiert ein lateinischer handschriftlicher Text mit dem Titel De multiplici genere mendicantium mit geringen Abweichungen denselben Text wie der Liber vagatorum – inklusive der Rotwelschliste als Vocabularium vagantium.¹³⁰ Dieser wurde – auch aufgrund des lateinischen Titels eines deutschen Textes – als Vorlage erwogen.¹³¹ Nun steht die lateinische Version zwar in einer Predigthandschrift von 1472, jedoch ist die Passage ein Nachtrag des 16. Jahrhunderts, was eine paläographische

 So bei Boehncke: Austreibung der Fahrenden, S. 48: „Pforzheim, so wurde herausgefunden, liegt vom Rhein nur 33 Kilometer entfernt, von Niederdeutschland aus betrachtet mag das sehr nah sein.“  Klaus Militzer: Das Markgröninger Heilig-Geist-Spital im Mittelalter. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des 15. Jahrhunderts. Sigmaringen 1975, S. 26 erwägt, dass Hütlin, bevor er provisor hospitalis in Pforzheim wurde, einfacher Bruder in Markgröningen war.  Der Vorschlag durch den Markgrafen und der Investiturbrief des Generalvikars der Ordensprovinz Alamania superior und Spitalmeisters von Stephansfeld Roli Kiesel ist ediert in Moritz Gmelin: Zur Geschichte der Spitäler in Pforzheim. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 24 (1872), S. 327– 399, hier S. 375 – 380.  Die Annahme einer französischen Vorlage bei Uwe Danker: Die Geschichte der Räuber und Gauner. Düsseldorf, Zürich 2001, S. 51 sitzt diesem Irrtum auf.  Szombathely, Diözesanbibliothek (Egyházmegyei Könyvtár), cod. 7, S. 546 – 550, 544 (Ende an den Anfang gebunden) und S. 564– 566. Vgl. die Handschriftenbeschreibung in András Vizkelety: Beschreibendes Verzeichnis der altdeutschen Handschriften in ungarischen Bibliotheken. Bd. 2: Budapest, Debrecen, Eger, Esztergom, Győr, Kalocsa, Pannonhalma, Pápa, Pécs, Szombathely. Budapest 1973, Nr. 85 (S. 253 – 255).  Vgl. Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 112 f. Trotz verschiedener Ankündigungen von Peter Assion steht eine Edition noch aus. Vgl. Assion: [Art.] Hütlin, Matthias. In: 2VL, Sp. 334. Auch die Sichtung seines Nachlasses im Universitätsarchiv Freiburg i. Br. gab keine Hinweise auf eine tatsächliche Arbeit an einer Edition.

86

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Untersuchung belegt.¹³² Durch die zeitliche Koinzidenz sind keine objektiven Gründe für ein Abhängigkeitsverhältnis zu ermitteln. Textimmanente Kriterien legen allenfalls nahe, im vorliegenden Fall von einer Übersetzung des deutschen Textes ins Lateinische auszugehen, z. B. aufgrund signifikanter Abkürzungen und vieler deutscher Passagen.¹³³ Sollte es sich um eine lateinische Übersetzung des deutschen Liber Vagatorum handeln, zeigt dies aber, dass das ‚Gaunerbüchlein‘ auch in Gelehrtenkreisen und im südostdeutschen Raum – es handelt sich um eine bairisch-österreichische Handschrift – rezipiert wurde. Als Vorlagen bleiben in jedem Fall die Betrügnisse der Gyler und der oberrheinische Gaunerdiskurs.

Zu den Zielen des Texts Als Aussageabsichten des Liber Vagatorum nennt Roger Chartier eine frühneuzeitliche „intention classificatrice“,¹³⁴ die soziale Phänomene ähnlich wie biologische Phänomene mit enzyklopädischem Anspruch zu strukturieren und klassifizieren versucht,¹³⁵ außerdem eine „intention pédagogique“,¹³⁶ welche den Rezipienten warnen, den Delinquenten aber bloßstellen und auf diese Weise bessern will. Weiter stellt er fest, dass das Genre in der Folgezeit zu einer „littérature facétieuse“¹³⁷ neigt und durch witzige oder sensationelle Details auch unterhalten will. Der Liber Vagatorum weist also mindestens eine doppelte Stoßrichtung auf, die sich zwischen sozialreformatorischer Protreptik und unterhaltsamer Lektüre bewegt. Was in Pinis Speculum explizit gemacht wurde, liegt also auch im deutschen ‚Gaunerbüchlein‘ vor. Durch den Drang der möglichst umfassenden Klassifikation gehört es zum juristischen Instrumentarium mit dem Ziel der Enthüllung und der Belehrung. Die ausufernde enzyklopädische Aneinanderreihung macht den Liber Vagatorum auch zu einem kuriosen oder ‚sen-

 Vgl. Vizkelety: Verzeichnis, S. 255. An manchen Stellen ist deutlich erkennbar, dass der Text des ‚Gaunerbüchleins‘ auf halbleeren Seiten um den bestehenden Text herumgeschrieben wurde, z. B. auf der Seite 565.  Eine detailliertere Untersuchung muss Gegenstand weiterer Untersuchungen bleiben.  Roger Chartier: Les Élites et les Gueux. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine 21 (1974), S. 376 – 388, hier S. 382.  Als Beispiel für diesen Drang des Klassifizierens führt Chartier die Bibliotheca universalis (1545) Conrad Gessners an. Grundlegend zu mittelalterlichen Enzyklopädien ante litteram vgl. Christel Meier: Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und Funktionen einer problematischen Gattung. In: Ludger Grenzmann und Karl Stackmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Stuttgart 1984, S. 467– 500. Zu verschiedenen Möglichkeiten der Strukturierung am Beispiel frühneuzeitlicher Enzyklopädien (Theodor Zwinger und Conrad Gessner) vgl. Udo Friedrich: Grenzen des Ordo im enzyklopädischen Schrifttum des 16. Jahrhunderts. In: Christel Meier-Staubach (Hg.): Die Enzyklopädie im Wandel vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit. München 2002, S. 391– 408. Vgl. dazu auch Kapitel 6.3.  Chartier: Les Élites et les Gueux, S. 382.  Chartier: Les Élites et les Gueux, S. 382.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

87

sationellen‘ Text, welcher die Neugier befriedigen und so unterhalten wollte.¹³⁸ Diese letzte Rezeptionsmöglichkeit reduziert Luther in seiner Version und vereinheitlicht damit die Intention des Textes, indem er ihn zu einem „Teil der reformatorischen Polemik“ macht.¹³⁹ Im Liber Vagatorum begegnet also „ein typisches Beispiel für ideologisch perspektiviertes Schreiben, das mit Hilfe humorvoll-narrativer Darstellungen letztlich eine aggressive Ausgrenzungspolitik gegen die Bettler und Fahrenden betreibt.“¹⁴⁰ Im hochdeutschen Druck von 1510 führt der anonyme Verfasser¹⁴¹ zu Beginn explizit eine vierfache Werkintention an: Hie nach volgt ein hübschs büchlin genant Liber vagatorum […] dem Adone zu ob und ere, sibi in refrigerium et solacium, allen menschen zu einer underwysung und lere, unnd denen die dise stuck brauchen zu einer besserung und bekerung.¹⁴²

Der Text soll also dem Gotteslob, der eigenen Stärkung/Tröstung, der Unterweisung und konkret der Besserung der Leser dienen, wobei unklar bleibt, ob die delinquenten oder die exekutiven Rezipienten gemeint sind. Der didaktische Impetus ist evident, jedoch scheint diese kurze Angabe insgesamt eher topisch. Luther ersetzt und erneuert die programmatische Vorrede 1528, greift aber viele der im Betteldiskurs bereits angesprochenen Prinzipien wieder auf. Er strebt eine allgemeine Verbreitung des Textes an, indem er veranlassen will, das solch buͤ chlin nicht alleine am tage bliebe, sondern auch fast uberall gemein wurde, damit man doch sehe und greiffe, wie der teuffel so gewaltig ynn der welt regiere, obs helffen wolte, das man klug wuͤ rde und sich fur yhm ein mal fursehen wolte. ¹⁴³ Damit arbeitet Luther an einem sozialen Projekt, welches er bereits 1520 in seiner äußerst weit verbreiteten Flugschrift An den christlichen Adel deutscher Nation gefordert hat.¹⁴⁴ Von dort übernimmt er viele Elemente in die Vorrede zu Von der Bettler Büberey: Er führt die Pflicht

 Vgl. Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 115. Vgl. weiter Boehncke: Austreibung der Fahrenden, S. 6 – 68 und Considine: Dictionaries, S. 37 f.  Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 115, weiter Boehncke: Austreibung der Fahrenden, S. 65 – 68.  Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 288  Die Anonymität ist weniger ein Zeichen dafür, dass der Verfasser wegen der sozialen Sprengkraft des Textes seinen Namen zurückhalten wollte, vielmehr ist davon auszugehen, dass der Verfasser des Liber Vagatorum noch verstärkt einer Handschriftenkultur verpflichtet ist, bei der – v. a. bei (geistlichem) Gebrauchsschrifttum – Anonymität der unmarkierte Regelfall ist. Vgl. Harald Haferland: Wer oder was trägt einen Namen? Zur Anonymität in der Vormoderne und in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Stephan Pabst (Hg.): Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit. Berlin 2011, S. 49 – 72, hier S. 53 – 55 und 66 f.  Kluge: Rotwelsch, S. 37.  Martin Luther: Vorrede zu ‚Von der falschen Bettler Büberei‘ [1528]. In: WA 26 (1909), S. 634– 654, hier S. 638.  Vgl. Martin Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung [1520], In: WA 6, S. 381– 469, hier S. 450 f.

88

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

der Armenfürsorge an, die der Obrigkeit und anderen Almosengebern zukomme. Diese hätten zu beachten, dass sie nur hausarmen und duͤ rfftigen nachbarn […], wie Gott gepotten hat“ also ‚würdigen Bettlern‘ der eigenen Stadt, ein Almosen geben, nicht jedoch den verlauffenen, verzweiffelten buben,¹⁴⁵ also ‚starken/fremden Bettlern‘. Jede Stadt solle also durch Kenntnis, Registration und Kennzeichnung eine umfassende Kontrolle der indigenen Bettler erreichen und fremde Bettler ausweisen.¹⁴⁶ Mit diesen Aspekten schließt Luther an die auch in der Policeygesetzgebung virulenten disziplinierenden Maximen der juristischen Praxis an.¹⁴⁷ Dieser Umstand deckt sich wie bereits beim Straßburger Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg mit seinem politischen Programm, dem gemäß er der weltlichen Obrigkeit im Bereich des Naturrechts eine gewisse Autonomie zubilligt und sie auch für eigentlich kirchliche Zuständigkeiten in die Pflicht nimmt.¹⁴⁸ Neben dieser sozialreformatorischen Tendenz, ist jedoch auch ein „innerkirchlicher Adressat“¹⁴⁹ in seinen Schriften über die Armut und die Bettler zu erkennen, und zwar die Bettelorden. Scharfe Polemiken begleiten sie schon seit ihren Anfängen im 13. Jahrhundert und gipfelten erstmals im Pariser Universitätsstreit.¹⁵⁰ Argumente aus dieser Zeit, v. a. aus dem Tractatus brevis de periculis novissimorum temporum des Wilhelm von Saint-Amour, dienen Jahrzehnte später und zum Teil noch in der Reformation als Grundlage einer Diskreditierung mendikantischer Praktiken¹⁵¹ und fanden ihren Weg in die Volksliteratur.¹⁵² Geprägt von einer mendikantenfeindlichen Polemik war auch das 15. Jahrhundert, wie einige Reformentwürfe im Umfeld des Konstanzer Konzils bezeugen,¹⁵³ und die Reformatoren des 16. Jahrhunderts, wobei

 Luther: Vorrede, S. 639.  Luther: Vorrede, S. 639: Darumb solt billich eine igliche Stad und dorff yhr eigen armen wissen und kennen als ym register verfasset, das sie yhn helffen moͤ chten, Was aber auslendische odder frembde betler weren, nicht on brieffe odder zeugnis leyden.  Vgl. Kapitel 5.1.1.  Vgl. Geremek: Geschichte der Armut, S. 226 f. Luther selbst befasste sich neben sozialethischer Paränese auch praktisch in einigen Schriften – v. a. der 1520er Jahre – mit dem Problem des Bettelns, z. B. in seinem Zusatz zur Wittenberger Beutelordnung (1520/21; WA 59, S. 62– 65). Mit seiner Ordenung eyns gemeynen kastens (1523; WA 12, S. 11– 30) liefert er am Beispiel der Einrichtung einer Armenkasse in Leisnig selbst ein Muster für den praktischen Umgang mit der Armenfürsorge. Vgl. dazu Harold J. Grimm: Luther’s Contributions to Sixteenth-Century Organization of Poor Relief. In: Archiv für Reformationsgeschichte 61 (1970), S. 222– 234, hier S. 224 f.  Geremek: Geschichte der Armut, S. 227.  Dazu vgl. die Beiträge in Albert Zimmermann (Hg.): Die Auseinandersetzungen an der Pariser Universität im XIII. Jahrhundert. Berlin, New York 1976.  Michel-Marie Dufeil: Guillaume de Saint-Amour et la Polémique Universitaire Parisienne 1250 – 1259. Paris 1972, S. 353 – 362.  Zur Unterstützung des Pariser Weltklerus durch den Dichter Rutebeuf vgl. Dufeil: Polémique Universitaire, S. 358.  Vgl. Petra Weigel: Reform als Paradigma: Konzilien und Bettelorden. In: Heribert Müller (Hg.): Die Konzilien von Pisa (1409), Konstanz (1414– 1418) und Basel (1431– 1449). Institution und Personen. Ostfildern 2007, S. 289 – 335, hier S. 305 f.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

89

sich diese freilich auch auf andere monastische Gemeinschaften bezogen.¹⁵⁴ Zwar führt Luther in der Vorrede der Schrift Von der Bettler Büberey die Bettelmönche neben Klöstern, Kirchen, Kapellen und Stiften als eine positive Form der Armenfürsorge an, doch scheint die Einschätzung von Bronisław Geremek nicht verfehlt, dass es Luther nicht missfallen haben dürfte, dass der Liber Vagatorum einige Bettlertypen (‚Stabuler‘, ‚Debisser‘, ‚Kammesierer‘, ‚Schlepper‘) mit bettelnden Mönchen assoziiert und er sich „des gebotenen anekdotischen Materials […] in seiner leidenschaftlichen Demaskierung der Bettelorden wie auch der Oberflächlichkeit der traditionellen Frömmigkeit bedient.“¹⁵⁵ Mittels einer Sekundärstigmatisierung der ‚teuflischen‘ Missstände der Gauner desavouiert Luther auch eine andere Gruppe, wenn er betont, dass freylich solch rottwelsche sprache von den Juden komen, denn viel Ebreischer wort drynnen sind. ¹⁵⁶ Damit schließt er an den nicht unüblichen – gerade auch in den Schriften der Reformatoren präsenten – Antijudaismus an, als dessen Kristallisationspunkt im öffentlichen Gelehrtendiskurs zum Anfang des 16. Jahrhunderts der Reuchlin-Pfefferkorn-Streit über den Wert des Talmuds für das Christentum (1509 – 1515) gilt.¹⁵⁷ Am Ende seiner Vorrede aktualisiert Luther das Phänomen durch den Bericht einer eigenen Erfahrung: Ich bin selbs diese iar her also beschissen und versucht von solchen landstreichern und zungendresschern, mehr denn ich bekennen wil. Darumb sey gewarnt, war gewarnt sein wil, und thue seinem nehsten gutes nach Christlicher liebe art und gepot.¹⁵⁸

Der Liber Vagatorum ist somit – zugespitzt in der reformatorischen Neuauflage – ein Symptom für die Geisteshaltung des 16. Jahrhunderts, die als „terror of the tramp“¹⁵⁹  Vgl. Robert Scribner: For the Sake of Simple Folk. Popular Propaganda for the German Reformation. Oxford 1994, S. 37– 58. Grundlegend zur Mönchskritik ist Bernhard Lohse: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters. Göttingen 1963. In jüngerer Zeit befasst sich damit der Dresdner SFB 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“ im Teilprojekt E „Sakralität und Sakrileg. Die Herabsetzung des Heiligen im interkonfessionellen Streit des 16. Jahrhunderts“, Arbeitsbereich A: „Der Mönch als invektive Figuration“.  Geremek: Geschichte der Armut, S. 230.  Luther: Vorrede, S. 638.  Zur antijudaistischen Theologie Luthers und anderer Reformatoren und dem Reuchlin-Pfefferkorn-Streit vgl. Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 189 – 259 und 307– 328, außerdem Anja Lobenstein-Reichmann: „Wer Christum nicht erkennen will, den las man fahren“. Luthers Antijudaismus. In: Norbert Richard Wolf (Hg.): Martin Luther und die deutsche Sprache – damals und heute. Heidelberg 2017, S. 147– 166, Achim Detmers: Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin. Stuttgart 2001.  Luther: Vorrede, S. 639.  Vgl. ursprünglich Richard Henry Tawney: The Agrarian Problem in the Sixteenth Century. New York u. a. 1912, S. 268. Das Zitat wird aber nahezu aphoristisch in der Forschungsliteratur weitergetragen. Vgl. Bronisław Geremek: La Popolazione Marginale tra il Medioevo e l’Era Moderna. In: Studi Storici 9 (1968), S. 623 – 640, hier S. 637, Henry Kamen: The Iron Century. Social Change in Europe 1550 –

90

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

bezeichnet wurde. Dies zeitigt eine besondere Furcht vor Verstellung (simulatio) und Betrug (dissimulatio), also einer Auflösung von Gewissheiten bezüglich des Wirklichen und des Falschen,¹⁶⁰ die eine „vagrancy of the signifier“¹⁶¹ und eine absolute Uneindeutigkeit gesellschaftlicher Konventionen nach sich zieht. Wenn sogar Martin Luther in seiner Autorität als großer Reformator von den Gaunern seiner Zeit hinters Licht geführt werde, müsse es wirklich schlimm um die Gesellschaft stehen. Das ‚Gaunerbüchlein befördert eine Geisteshaltung, indem es diesen ‚Terror‘ bewusst macht, und fördert konkrete Praktiken, indem er gestützt auf literarische Imaginationen narrative Muster zur Verfügung stellt, die in der Realität angewandt werden können.¹⁶² Indem die Armut diskriminierend ausgestellt wird, haben die Texte aber auch eine integrative Funktion; soziale Gruppen, die nicht betroffen sind, können sich durch die Distanzierung von den Betroffenen zusammenschließen und ihre Gruppenidentität stärken.¹⁶³ Bezüglich der Armut wurden drei Modi dieser gesellschaftlichen Festigung festgestellt, nämlich dass 1. A[rmut] mit Attributen des Horrors ausgestattet wird und so als Abschreckung dient, 2. A[rmut] als vorübergehender Zustand betrachtet wird, dem man abhelfen kann und soll und 3. bestimmte Formen potentieller Bedürftigkeit schuldhaftem Verhalten zugeschrieben werden; diese Formen werden sozial geächtet und die damit verbundene reale Not nicht wahrgenommen.¹⁶⁴

Alle Spielarten der ‚Gaunerliteratur‘ bedienen den dritten Modus des gesellschaftsstabilisierenden Umgangs mit Armut und nehmen dabei den Habitus fachliterarische Unterweisung an.¹⁶⁵ Dabei bedienen sie sich jedoch auch genuin rhetorischer Stilmittel. Diese folgen den Regeln der Karikatur und der Hyperbel, was vor allem zur 1660. London 1971, S. 394, James A. Sharpe: Crime in Early Modern England 1550 – 1750. London 1984, S. 142 oder Camporesi: Vagabondi, S. 97. Auch Roman Widder zeigt sich kritisch, die Vorstellung einer „Flut simulierender Bettler […] unreflektiert aus der hypertrophen Rhetorik des historischen Materials“ zu übernehmen. Roman Widder: Pöbel, Poet und Publikum. Figuren arbeitender Armut in der Frühen Neuzeit. Konstanz 2020, S. 23 f.  Unter simulatio versteht sich das Vorspiegeln einer falschen Tatsache (z. B. durch Hochstapelei) unter dissimulatio die Verheimlichung, welche die wirklichen Verhältnisse verbirgt.Vgl. zu den Begriffen Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München 2006, S. 20 und Gert Ueding und Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. Stuttgart, Weimar 52011, S. 316. Eine Anwendung der beiden Begriffe zur Analyse von mittelalterlichen Chanson de geste unternimmt Bernd Bastert: „Überwachen und Strafen“. simulatio und dissimulatio in deutschen Chanson de geste-Bearbeitungen des 12.–14. Jahrhunderts. In: Matthias Meyer und Alexander Sager (Hg.):Verstellung und Betrug im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 2015, S. 35 – 51.  So die Leitkategorie in den semiotischen Analysen in Barry Taylor: Vagrant Writing. Social and Semiotic Disorders in the English Renaissance. New York 1991, S. 10 und mit einem Schwerpunkt auf dem englischen Theater der Frühen Neuzeit Paola Pugliatti: Beggary and Theatre in Early Modern England. Aldershot u. a. 2003, S. 65 – 106.  Mehr dazu im Zwischenfazit dieses Teils in Kapitel 5.3.  Zu Praktiken der sozialen Ausgrenzung und der Interferenz von Identität und Alterität vgl. Kapitel 5.3.  Uta Lindgren: [Art.] Armut und Armenfürsorge. In: LexMA 1, Sp. 984– 994, hier Sp. 984.  Haage/Wegner: Fachliteratur, S. 126 – 129

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

91

besseren Memorierbarkeit der einzelnen Wissensbestände dienlich ist. Gerade in der Zeit des frühen Buchdrucks sind solche mnemotechnischen Mittel noch sehr präsent und bedeutend. Der höheren Eindringlichkeit dienen auch die anekdotischen und exemplarischen Illustrierungen.

Bezug zur Narrensatire Die unterhaltende Dimension des Liber Vagatorum verweist auch auf andere Schreibformen, die dem Bereich der Gesellschaftssatire zuzuordnen sind, v. a. auf Sebastian Brants Narrenschiff (1494).¹⁶⁶ Damit gehört der Liber Vagatorum zu einer „Strömung der satirischen Literatur, die bissig und mitleidlos die betrügerischen Praktiken der Bettler und Almosensammler aufspieße, welche die traditionellen Empfindungen der Barmherzigkeit, die mittelalterliche Verehrung der Armut und die schlichte Naivität ausschlachteten.“¹⁶⁷ Diese enge Verflechtung mit gesellschaftssatirischer Literatur wird bereits in den ersten vorreformatorischen Varianten des Textes deutlich. Denn schon sehr früh nach Erscheinen des Prosatextes wurde 1510/11 eine anonyme Reimpaarfassung des Liber Vagatorum erstellt, und zwar in der Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff, die auch eine Prosaversion verlegte.¹⁶⁸ Als Thema und Titel nennt sich die versifizierte Version des Textes selbst in der Vorrede [d]en Bettler orden […] | Durch mich ein jeder lert, merckt, vnd erkent, | was grossen btrugs ist vff erstanden | Von mancherley bettler, jnn dútschen landen (vv. 1– 5),¹⁶⁹ um dann auf Sebastian Brant überzuleiten: All stend jetzund in diser welt Hatt doctor Brant clorlich erzoͤ lt, Vom minsten an, biß an den hoͤ chsten Vnd gsagt eim ieden sin gebresten, Do mit er sie mit clgen gryff Allsand hat bracht jns narren schyff (vv. 9 – 14).

Der Bezug auf Brant konkretisiert sich im Folgenden und der Anonymus verweist explizit auf den 62. Narren des Narrenschiffs, den Bettler. Er sagt, die Zahl der Bettler habe sich unmäßig vergrößert: Der bruͤ der und schwestern sind so vil worden, | Das es ist jetzund vß der massen | Sie begegnem eim vff allen strassen (vv. 46 – 48). Als Kristallisationspunkt führt er den Kohlenberg zu Basel an (vv. 51– 54), der ausgehend von

 Vgl. Considine: Dictionaries, S. 36; dazu weiter Kapitel 5.2.  Geremek: Geschichte der Armut, S. 230.  Der Druck des Liber Vagatorum fällt in der Offizin in ein Modernisierungsprogramm (nach 1510), welches die Veränderung vom Druck mittelalterlicher Versepik auf den Nachdruck relativ aktueller Fach- und Unterhaltungsliteratur zum Ziel hatte. Vgl. Oliver Duntze: Ein Verleger sucht sein Publikum. Die Straßburger Offizin des Matthias Hupfuff (1497/98 – 1520). Berlin 2007, S. 309.  Versangaben zit. nach [Pamphilus Gengenbach]: Bettlerorden. Liber vagatorum. In: Pamphilius Gengenbach, hg. von Karl Goedeke. Hannover 1856, S. 343 – 370.

92

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Brants Narrenschiff ein beliebtes Muster einer eigenen literarischen Tradition wurde.¹⁷⁰ Diese greift unter anderem Johann Fischart, der in Basel promoviert wurde, auf, wenn er als die besten Säufer der Truncken Litanei die Elsaßbettler auff dem Kolberg ¹⁷¹ nennt. In der versifizieren Version des Liber Vagatorum heißt es: Z Basel vff dem colenberg, Do ji kumpt hin ein grosse zal Vß dútschen land gantz vberal (vv. 52– 54).¹⁷²

Aufgrund dieser Referenzen auf Basler Regionaldetails, der herausgehobenen Stellung Brants und der lange Zeit angenommenen Einzelüberlieferung im GengenbachDruck von 1513 wurde die Verfasserschaft immer wieder dem Basler Pamphilus Gengenbach zugesprochen,¹⁷³ früher sogar die Verfasserschaft der Prosaversion. Dies ist aber unwahrscheinlich, wie der zeitlich frühere Straßburger Druck zeigt.¹⁷⁴ Auch wenn es nicht unmöglich ist, dass ein Basler die versifizierte Fassung erstellt hat, kann das Wissen des Verfassers über regionale Besonderheiten auch über die ungemeine Popularität der Satire Brants als Textzitat erklärt werden. Ähnlich verhält es sich bei der gegenseitigen Abhängigkeit von Narrenschiff und Liber Vagatorum allgemein. So heißt es im Verfasserlexikon: „Sebastian Brant ließ sich von dem Büchlein zu Kapitel 63 des ‚Narrenschiffes‘ anregen.“¹⁷⁵ Freilich ist es angesichts der Datierung der Erstdrucke unmöglich, dass Brant (Narrenschiff 1494) den Liber Vagatorum (1509/1510) als Quelle genutzt hat, dennoch zeigt dieser Befund, dass die beiden Texte auf demselben Diskurs basieren und in einem engen intertextuellen Verhältnis stehen. Diesen Zusammenhang verdeutlicht auch die unbestreitbare ikonographische Ähnlichkeit der Holzschnitte im Erstdruck des Liber Vagatorum

 Zur literarischen Tradition des Kohlenbergs vgl. Max Siller: Hans Leberwurst, verbrannt in Basel am 19. April 1528. Wie ein alemannischer Spruchdichter in einem Tiroler Fastnachtspiel überlebte. In: Ulrich Mehler und Anthonius H. Touber (Hg.): Mittelalterliches Schauspiel. Amsterdam 1994, S. 277– 298, hier S. 280 – 283 und Katharina Simon-Muscheid: Die Dinge im Schnittpunkt sozialer Beziehungsnetze. Reden und Objekte im Alltag (Oberrhein, 14. bis 16. Jahrhundert). Göttingen 2004, S. 218 – 221. Zur sozialhistorischen Situation des Kohlenbergs vgl. Simon-Muscheid: Dinge, S. 214– 242 u. ö.  Johann Fischart: Geschichtklitterung (Gargantua). Text der Ausgabe letzter Hand von 1590, hg. von Ute Nyssen. Düsseldorf 1963, S. 145, Z. 22 f.  Sebastian Brant hingegen nennt als Heimstätten der Bettler Basel und Straßburg: Der sytzen vier und zwentzig noch | Zü Straspurg jn dem dummenloch [enge Straße, in der die Pockenkranken lebten] | On die man setzt inn weisen kasten | Aber baͤ ttler dnt selten vasten | Z Basel vff dem kolenbergk | Do triben sie vil bbenwergk | Ir rottwelsch sie jm terich hand; Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben, hg. von Manfred Lemmer. Tübingen 42004, S. 160 f.  Z. B. in [Gengenbach]: Bettlerorden, S. 678 f., Siller: Hans Leberwurst, S. 281, Münkler: Faustbücher, S. 162 und v. a. in Assion: [Art.] Hütlin, Matthias. In: 2VL 4, Sp. 336.  Vgl. Schanze: Drucke, S. 149, basierend auf sprachanalytischen Vorarbeiten in Samuel Singer: Die Werke des Pamphilus Gengenbach. In: ZfdA 45 (1901), S. 153 – 177, hier S. 157.  Assion: [Art.] Hütlin, Matthias. In: 2VL, Sp. 336.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

93

(Abb. 3), der in den meisten späteren Drucken zumindest ähnlich reproduziert wurde,¹⁷⁶ und des Holzschnitts von Albrecht Dürer zum 63. Kapitels Von bettleren in der Version des Basler Erstdrucks vom Narrenschiff (Abb. 4).¹⁷⁷ Beide Bilder zeigen im Vordergrund ein Bettlerpaar und im Hintergrund eine Stadt. Einzelne Elemente, die explizit auf Verse im Narrenschiff verweisen, sind im Holzschnitt des Liber Vagatorum hingegen nicht aufgenommen (z. B. die Narrenkappe des Bettlers oder der Esel mit dem Sack voll Kinder),¹⁷⁸ sehr wohl hingegen das dominante Motiv des hochgebundenen Beins. Auch wenn die gemeinsame Kennzeichnung der Bettler durch körperliche Versehrtheit in der bildlichen Darstellung des 15. Jahrhunderts stereotyp ist, beweisen doch Studien von Hieronymus Bosch, dass andere Darstellungsmodi für einen Bettler möglich gewesen wären.¹⁷⁹ Da nicht dieselben Druckstöcke verwendet wurden, scheidet ein produktionsökonomisches Argument für die Ähnlichkeit der Bilder aus. Vielmehr handelt es sich um ein bewusstes Zitat, welches die beiden Schriften intertextuell verbindet, gewiss aber auch aus verkaufsökonomischen Gründen an die Prominenz von Brant/Dürer anzuknüpfen versucht. Die enge Bezie-

 Vgl. Schanze: Drucke, S. 145.  Brant: Narrenschiff, S. 63. Zu den Illustrationen des Narrenschiffs vgl. grundlegend Friedrich Winkler: Dürer und die Illustrationen zum Narrenschiff. Die Baseler und Strassburger Arbeiten des Künstlers und der altdeutsche Holzschnitt. Berlin 1951. Außerdem Brant: Narrenschiff, S. XXIX–XXXV und Manfred Lemmer: Die Holzschnitte zu Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘. Leipzig 31994 mit einer Bildbeschreibung auf S. 147.  Diese Bildelemente referieren auf folgende Verse: Der gat vff krucken so mans sicht | Wann er alleyn ist / darff ers nicht […] | Der lehnt andern ji kynder ab | Das er eyn grossen huffen hab | Mit koͤ rb eyn esel dt bewaren | Als wolt er z sant Jacob faren / | Der gat hyncken / der gat bucken | Der byndet eyn beyn vff eyn krucken | Oder eyn gerner beyn jn die schlucken; Brant: Narrenschiff, S. 155. Aufgrund der abweichenden Bildzuordnung muss hier auch die Version des Neuen Narrenschiffs, das ab 1494 bei Grüninger in Straßburg gedruckt wurde, miteinbezogen werden, gegen die sich Brant selbst dezidiert verwahrt (siehe Brant: Narrenschiff, S. 321 f.). Wegen der thematischen Nähe wird hier der Druckstock zur Narrengruppe 17 Verachtung armut (im Basler Druck als Von unnutzem richtum) auch für die Bettler verwendet (Sebastian Brant: Das neue Narrenschiff, hg. von Loek Geeraedts. Dortmund 1981, fol. d iiiv und l vir). Die spezifische Text-Bild-Relation, welche die Straßburger Holzschnitte ansonsten auszeichnet, geht so verloren. Vgl. Brant: Das neue Narrenschiff, S. 22– 28. Der Holzschnitt mit den Bettlern aber (Brant: Das neue Narrenschiff, f. n iiiiv) wird dem Kapitel 70 (Nit fürsehen bi zit) zugeordnet, zum dem es nur eine sehr vage inhaltliche Verbindung hat. Markant ist, dass das Bild alle Einzelheiten des Basler Drucks spiegelverkehrt übernimmt, sodass davon auszugehen ist, dass für Grüninger ein Druckstock hergestellt wurde, welcher direkt von dem gedruckten Blatt ausgeht und dieses kopiert. Wie erklärt sich, dass diese Illustration in einem Kapitel zu finden ist, zu dem sie inhaltlich eigentlich nicht passt, in dem korrespondierenden Kapitel jedoch eine andere Illustration in Wiederholung genutzt wurde? Da dieser Druckstock für diese eine Druckseite hergestellt wurde, scheiden produktionsökonomische Gründe auch hier wieder aus. Vielmehr handelt es sich bei dieser falschen Zuordnung um einen Fehler des Druckers, was durch die kurze Bearbeitungszeit auch wahrscheinlich ist. Vgl. Brant: Das neue Narrenschiff, S. 27 f.  Elisabeth Sudeck: Bettlerdarstellungen vom Ende des XV. Jahrhunderts bis zu Rembrandt. Straßburg 1931, S. 13 und Tafeln I–III (S. 125 f.)

94

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

hung zwischen den beiden Texten beweist mithin eine Nähe des Liber Vagatorum zur satirischen Narrenliteratur des 16. Jahrhunderts. Beide Texte waren sehr verbreitet: Brants Narrenschiff gelang es durch die frühen Übersetzungen ins Lateinische und verschiedene Volkssprachen „innerhalb kürzester Zeit zu einem der meistgelesenen Bücher jener Epoche“¹⁸⁰ zu werden und die Narrenidee in einer ethisch-religiösen Perspektive zu einem „Signum der Epoche“¹⁸¹ zu machen, in welcher der Narr „in jeder Hinsicht das negative Korrelat zu all dem, was man in der Lehrdichtung dieser Zeit vom Menschen erhoffte, erwartete und forderte“¹⁸² einnimmt. Auch der Liber Vagatorum war zumindest in Zentraleuropa ein „Publikumserfolg“.¹⁸³ Als Grund dafür nennt Lobenstein-Reichmann das „Ineinandergreifen aufklärend informierender, belehrender, appellierender und unterhaltender Elemente des ‚Liber Vagatorum‘ unter dem Deckmäntelchen, den unbescholtenen Bürger über die Gauner zu informieren“.¹⁸⁴ Weiter betont sie, der Liber Vagatorum sei „kein Ausnahmetext, sondern ein typisches Beispiel für eine lange Reihe vergleichbarer didaktisch-warnender ‚Skandal‘- bzw. Kriminalisierungsabhandlungen.“¹⁸⁵ Diese ‚Abhandlungen‘ aber sind nach Form und Überlieferungskontext eher poetische als kriminologische Texte im engeren Sinne. Es handelt sich um Lieder/Gedichte mit Reim und Metrum von populären Schriftstellern: z. B. das „Lied vom Heller“ (um 1520) des Nürnberger Liedermachers Jörg Graff, das als Flugblatt kursierte,¹⁸⁶ das „Neue Gedicht“ des Oppenheimer Stadtschreibers Jakob Köbel (1520)¹⁸⁷ oder Der valschen bettler teuscherey des Nürnberger Handwerkerdichters Kunz Has (1515/25), das in dem literarischen Hausbuch des Valentin Holl neben zahlreichen anderen schwank- und liedhaften Texten steht.¹⁸⁸ Alle genannten Bearbeitungen desselben Themas verstär-

 Barbara Könneker: Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant, Murner, Erasmus. Wiesbaden 1966, S. 2 f.  Könneker: Narrenidee, S. 1 und weiter dazu S. 75 f.  Könneker: Narrenidee, S. 49.  Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 113.  Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 290.  Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 291.  Vgl. Kluge: Rotwelsch, S. 84 f. Vgl. dazu Rolf Wilhelm Brednich: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Baden-Baden 1975, Nr. 439.  Im vollen Titel: Eyn Neüwe Gedicht Wie die Lantbescheisser/ Zwyecker/ Orenbeysser/ Bleer/ Meinster/ Heylig man/ vnd Stoͤ rck/ Die Freyen vnd Voperten (Das sein die einfaltigen/ Auch etwan die Fürwytzigen und Geytzygen/ über dye Hellergen) Betrygen/ Leychen/ vnd überfüren/ deren viele ir fürwytz gebüßt wirdt. Oppenheim: Jacob Koebel 1520. Ed. in Kluge: Rotwelsch, S. 86 – 90.  Der Text beginnt in der einzigen Handschrift Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. Merkel 2° 966, fol. 100v folgendermaßen: In disem spruch da vindt ir frey. | Der valschen bettler teuscherey | Den gibtt man geltt flesch wein vnd prott. | Die fromen last man leiden nott. | Der soltt man sich erbarmen lassn. | Vnnd söltt die schelck zum tor nauß stossn. | Nun liß du dz gedicht | Du wirst schon werden vnderricht; Dieter H. Meyer: Literarische Hausbücher des 16. Jahrhunderts. Die Sammlungen des Ulrich Mostl, des Valentin Holl und des Simprecht Kröll. Würzburg 1989, Band 1, S. 187. Teiledition auch in Kluge: Rotwelsch, S. 118 f. Der Text steht zwar in einer Passage ohne erkennbare Ordnung (2.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

95

ken mithin eine Tendenz, die im Liber Vagatorum schon angelegt ist, nämlich seinen literarisch-satirischen Charakter. Einen interessanten Grenzfall zwischen den Bettlerkatalogen und satirischer ‚Gaunerliteratur‘ bietet der obengenannte Meistergesang Jakob Köbels: Dieser hatte in Heidelberg beide Rechte studiert, ist also sicherlich mit den Bettelordnungen von der judikativen Seite in Kontakt getreten.¹⁸⁹ Diese Kenntnis beweist er in der gehäuften Verwendung rotwelscher Terminologie in seinem stark erzählenden Lied, das beschreibt, wie drei Gaunern einen nichtahnenden Wirtshausbesucher durch einen Kartentrick um sein Geld bringen. Um ihr Opfer in Sicherheit zu wiegen, stellt sich einer der Gauner doͤ rlich (v. 36) und berichtet, wie ihm ein Schüler seine Frau und seinen Besitz abspenstig gemacht habe: Ein schler alt vmb achttzeh iar […] In einem blawen tüchelein Het ein wrtzel sitzen Die hat er ir gegeben ein Und si verzaberitzen [verzaubert]. (vv. 75 – 80)

Die betrügerischen Praktiken des (fahrenden) Schülers, den der Erzähler als halb pfaff (v. 74 und 62) bezeichnet¹⁹⁰ und der mit einer magischen Wurzel (Alraune?) die Frau betört, werden intradiegetisch als im doppelten Wortsinn komische Geschichte eingefügt. Indem diese explizit als lüge[ ] (v. 69) ausgewiesen ist, erscheint auch extradiegetisch der Realitätsstatus des Erzählten und vielleicht der Gaunerliteratur allgemein prekär.¹⁹¹ Auch wenn das Lied in der Vorrede als Exempel (v. 15) und warnung (v. 19) bezeichnet ist, kann sich der Rezipient doch genauso über das Opfer des Betrugs lustig machen, wie dieser den intradiegetischen Geschichtenerzähler verspottet (vgl. vv. 93 f.). Das Lied hat also dieselben Aussageabsichten wie der Liber Vagatorum, wenn auch mit anderer Gewichtung. Weit erfolgreicher und wirkmächtiger als der Liber Vagatorum war Brants Narrenschiff. Denn die Rezeption des ‚Gaunerbüchleins‘ blieb auf den deutschsprachigen Raum beschränkt und seine lateinische Übersetzung so unbedeutend, dass sie nicht gedruckt wurde und sich so – im Gegensatz zum Narrenschiff – dem gelehrten humanistischen Diskurs in Europa verschloss. Einzig im Niederdeutschen/Niederländischen wurde der Text populär, wobei dieser Raum auch ansonsten durch eine deutliche Präsenz der behandelten Muster auffällt.¹⁹² Zum Narrenschiff verhält sich

Drittel des 2. Faszikels), dennoch ist der Kontext erkennbar durch weltliche literarische Texte geprägt. Vgl. Meyer: Hausbücher, Bd. 2, S. 494 und S. 523 – 525.  Vgl. Menso Folkerts und Gundolf Keil: [Art.] Köbel, Jakob. In: 2VL 4, Sp. 1276 – 1278.  Zur konventionellen Situierung des Schülers zwischen dem klerikalen und dem profanen Stand vgl. Kapitel 8.1.  Vgl. Kapitel 5.3.  Auf Niederdeutschland und die Niederlande verweisen zahlreiche Texte, die den bettelnden Fahrenden Schüler behandeln, z. B. Der Boiffen Orden und andere parodistische Reimpaarreden (vgl.

96

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

der Liber Vagatorum in folgendem Sinne wie ein präzisierender Kommentar: Wenn der Narr ein Signum der krisenhaften Zeit ist, dann ist der betrügerische Bettler eine typisierende Realisierung dieser Krise, die unter Zuhilfenahme der Bettlerkataloge weiter differenziert und segmentiert werden kann. Demnach ist auch der Fahrende Schüler, der als eine Bettlerkategorie auftritt, eine Spielart des Epochen-Narren. In der Schreibart der Satire treffen sich die beiden Rezeptionshaltungen, die bereits für die Bettlerkataloge ermittelt wurden: Unterhaltung und belehrende Warnschrift. Somit kann das Urteil, welches Johannes Trithemius über das Narrenschiff gefällt hatte, in nuce auch auf die ‚Gaunerliteratur‘ übertragen werden: (Ut non jure stultorum librum, sed divinam potius satyram opus illud appellasset.) Nescio enim si quid tempestatis nostrae usibus salubrius aut iocundius legi possit.¹⁹³

Eine terminologische Kontrolle des Unkontrollierbaren und das Rotwelsch Warum die Geheimsprache genutzt und verschriftlicht wurde und wie es zur Zuordnung der einzelnen Bettlerkategorien kam, dafür gibt es Erklärungen von verschiedenen Seiten. Zum einen impliziert die Geheimsprache ein intentionales Verbergen des Nutzers und eine Camouflage der eigenen Herkunft und Absichten, was eine Gruppenidentität der ‚eingeweihten‘ Randständigen stärkt und viele Gruppenaktionen (z. B. Betrug, Diebstahl) begünstigt.¹⁹⁴ Dies würde jedoch eine überregionale Gruppenbildung und Kommunikation voraussetzen, die zur Ausbildung einer homogenen Terminologie führen könnte. Die Möglichkeit einer solchen Entwicklung in der standardisierten und elaborierten Form der ‚Gaunerbüchlein‘ scheint für Fahrende des 15. Jahrhunderts jedoch unwahrscheinlich. Andererseits wurden die ortsstabilen Menschen des Mittelalters durch Reisende stets mit unterschiedlichsten fremden Sprach- und Lebensformen konfrontiert, was in Verbindung mit durchaus wahrscheinlichen negativen Erfahrungen und Attribuierungen mit den Fahrenden und Reisenden leicht zu einer ablehnenden Haltung gegenüber einem generalisierten

Kapitel 10.2.1) oder Selbstzeugnisse im Umfeld der niederländischen Lateinschulen (vgl. Kapitel 12.3.3). Vgl.dazu auch Pleij: Van Schelmen en Schavuiten.  Johannes Trithemius: Liber de scriptoribus ecclesiasticis. Basel: Johannes Amerbach 1494. 1 c. [Herv. P. R.]. Zit. nach Charles Schmidt: Histoire littéraire de l’Alsace à la fin du XVe et au commencement du XVIe siècle. Paris 1879, Bd. 1, S. 313 (Anm. 165). Trithemius stützt sich hier auf das berühmte Horaz-Dictum (Hor. Ars poetica, vv. 333 f.); Übers. P. R.: ‚Sodass jenes Werk zu Recht weniger das Buch über die Narren, sondern eher eine göttliche Satire zu nennen wäre – ich weiß nämlich nicht, ob es zum Nutzen in unserer widrigen Zeit eine heilsamere oder erheiterndere Lektüre gäbe.‘  Vgl. Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 44– 51, zit. S. 44: „Als charakteristisch für das Rotwelsch und die ihm verwandten Geheimsprachen wird man insbesondere das Wechselverhältnis von gruppeneigener Sprachentfaltung und sozialer Verfestigung ansehen können. Der Grad der Absonderung ist proportional zur sprachlichen Solidarität.“ Dazu auch Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 289. Sie erwägt die Möglichkeit einer Strategie „der sogenannten ‚Gauner‘, mit Hilfe dynamischer Bezeichnungsvariationen bei ihren Verfolgern Verwirrung zu stiften bzw. das mit einem der Ausdrücke Gemeinte geheim zu halten.“

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

97

‚Kauderwelsch‘ führen konnte. Die Wortlisten und Kategorien der ‚Gaunerliteratur‘ wären demnach „das sprachkreative Produkt einer Mehrheitsgesellschaft, die die Rotwelsch Sprechenden verachtet und sich durch sie bedroht fühlt.“¹⁹⁵ Es handelt sich um eine terminologische Kontrolle des Unkontrollierbaren. Aus der Beliebtheit und Verbreitung der Drucke des Liber Vagatorum und seiner Versionen resultiert weiter der Umstand, dass das textuell aufbereitete Wissen über die rotwelsche Terminologie, die in den wenigen älteren Textzeugen noch stark variiert, festgeschrieben wird, sodass der Text spätestens ab 1540 auch als Rotwelsch Grammatic bezeichnet und als ebensolche rezipiert wurde. Unter diesem Titel und mit der damit verbundenen lexikografischen Werkintention erschien noch im 18. Jahrhundert (Frankfurt a. M. 1755) ein Nachdruck des Liber Vagatorum. ¹⁹⁶ Doch auch darüber hinaus hatte das ‚Gaunerbüchlein‘ eine beträchtliche Wirkung auf den literarischen Diskurs. Die linguistische Sondersprachenforschung konzentriert sich weitgehend auf eine Rekonstruktion und Beschreibung von Sprachstufen tatsächlich gesprochener und genutzter Geheimsprachen, wie Jenisch oder Masematte.¹⁹⁷ Dabei liefert Siegmund A. Wolfs Wörterbuch des Rotwelschen (1956) die Grundlage. Dieser unterschätzte aber, dass die (Re‐)produktion von Listen der Sondersprachen als Gaunersprachen auch zur sprachlichen Ausgrenzung der Randgruppen beitrug.¹⁹⁸ Gegen einen Gebrauch ‚auf der Straße‘ in der überliferten Form spricht ebenfalls der Umstand, dass die „literarische Tradition […] keine Aussage über den tatsächlichen Gebrauch der Wörter in späterer Zeit“¹⁹⁹ zulässt, wie es Jörg Riecke in einer präzisen literarischen Reihe vorführt: Er zeigt, dass die Rotwelschliste des Liber Vagatorum (in der Ausgabe Martin Luthers von 1528) in Johann Michael Moscheroschs Gesichte Philanders von Sittewald

 Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 289 f.  Vgl. dazu das Verzeichnis bei Kluge: Rotwelsch, S. 57 f. und speziell für das 16. Jahrhundert in Claes: Bibliographisches Verzeichnis der deutschen Vokabulare und Wörterbücher als Item 380/381 (~1540), 383 (~1540 – 1547), 657 (1583), 664 (1584) und 744 (1590) Vgl. Considine: Dictionaries, S. 37 (Anm. 18 f.).  Vgl. Klaus Siewert: Grundlagen und Methoden der Sondersprachenforschung. Mit einem Wörterbuch der Masematte aus Sprecherbefragungen und den schriftlichen Quellen. Wiesbaden 2003 und Corinna Leschber und Christian Efing (Hg.): Geheimsprachen in Mittel- und Südosteuropa. Frankfurt a. M., Berlin u. a. 2011. Einen Überblick liefert Klaus Siewert: 25 Jahre moderne Sondersprachenforschung in Deutschland. In: Stéphane Hardy, Sandra Herling und Klaus Siewert (Hg.): Geheimsprachen unter besonderer Berücksichtigung der Romania. Hamburg, Münster 2015, S. 9 – 34.  Siehe Siegmund A. Wolf: Wörterbuch des Rotwelschen. Deutsche Gaunersprache. Mannheim 1956, v. a. S. 5 – 14 und Siegmund A. Wolf: Studien zum Liber Vagatorum. In: PBB (H) 80 (1958), S. 157– 167. Zu den Rotwelschlisten als Element sprachlicher Ausgrenzung vgl. Kapitel 5.3.  Jörg Riecke: Zum Fortleben einiger alter Wörter des Rotwelschen in der deutschen Literatur. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 57 (1990), S. 186 – 192, hier S. 191. In seinem letzten Aufsatz geht Riecke nochmal konzentriert auf die Rotwelsch-Liste in Moscheroschs Gesichten Philanders von Sittewald und das Verhältnis zum Liber vagatorum ein.Vgl. Jörg Riecke: Rotwelsch bei Moscherosch. In: Sylvia Brockstieger und Dirk Werle (Hg.): Johann Michael Moscheroschs Textwelten. Bern u. a. 2020 (Beihefte zu Simpliciana), in Vorb.

98

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

(Abschnitt „Soldatenleben“ in der Ausgabe von 1644) aufgenommen wurde; diese integrierten dann Achim von Arnims Novelle „Philander unter den streifenden Soldaten und Zigeunern im dreißigjährigen Kriege“ in der Sammlung Der Wintergarten (1809) und Josephs von Eichendorffs Die Glücksritter (1840). Das rotwelsche Vokabularium ist bei den einzelnen Autoren gewiss keine Folge eigener Erfahrungen. Ebenso belegen kleine Variationen, dass die späteren Texte nicht auf den Liber Vagatorum als ‚Primärtext‘ zurückgreifen, sondern in einem Prozess sukzessiver literarischer Tradierung die Listen von anderen literarischen Texten abschreiben.²⁰⁰ Das Wortverzeichnis und die Liste von ‚Gaunertypen‘ werden mithin in identischer Form von diskursprägenden, obrigkeitlichen Akteuren weitergetragen und prägen durch ihre Verbreitung die Produktion literarischer Texte und die Wahrnehmungen sozialhistorischer Phänomene.

Bettlerkataloge als Phänomen im südwestdeutschen Kommunikationsraum Es ist bemerkenswert, dass die meisten Belege für Bettlerkataloge, die anhand idealtypischer Beispiele Muster bereitstellen, in einem recht kleinen Umkreis entstanden. Bei der Verschriftung der Bettlerkataloge im 15. Jahrhundert handelt es sich also um ein kleinräumiges Phänomen, welches sowohl von konkreten schriftlichen Fixierungen und zirkulierenden Inhalten ausgeht als auch von einem Bedürfnis der Differenzierung, Katalogisierung und damit Kontrolle mobiler Bettler und ihrer abweichenden Sprache. Die rekurrente Beschäftigung mit dem Thema des Bettelbetrugs und der sozialen Konstruktion von ‚starken Bettlern‘ konzentriert sich schon früh auf Ordnungen der deutschsprachigen Städte im Südwesten des Reiches. Damit markieren diese Region und ihr kommunikatives Netzwerk den Beginn einer Entwicklung, welche ab dem 16. Jahrhundert mit dem Druck des Liber Vagatorum im nahen Pforzheim den Diskurs prägte. Dabei gehen die deutschen Texte Prozessen voraus, die später auch in anderen Teilen Europas bristant werden. Denn „[b]etrügerischer Bettel war eine gesamteuropäische Erscheinung, bzw. entwickelte sich zu einem gesamteuropäischen Topos“,²⁰¹ z. B. im englischen Genre der anatomy of roguery (ab 1561 mit John Awdeleys The Fraternity of Vagabonds),²⁰² der französischen La vie généreuse unter dem Pseudonym Pechon de Ruby (Lyon 1596)²⁰³ oder dem italienischen Il vagabondo unter dem Pseudonym Frianoro Rafaele (eigentl. Giacinto de Nobili; Viterbo 1621).²⁰⁴

 Vgl. Riecke: Fortleben, S. 188 – 191.  Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, S. 146.  Vgl. Pugliatti: Beggary and Theatre, S. 125 – 130 und Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 62– 64.  Vgl. Seidenspinner: Janusgesicht, Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 64– 66. Ed. in Roger Chartier: Figures de la Gueuserie. Paris 1982, S. 107– 131.  Camporesi: Vagabondi, S. 247– 331. Diese europäische Dimension nimmt die Literaturgeschichte der Bettlerkataloge bereits in Les Procès des Coquillards des Juristen Jehan Rabustel ein, der 1455 in

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

99

Die oberdeutsche Textreihe der Bettlerkataloge selbst bildet ein kleinräumig zirkulierendes narratives Muster und eine eigene literarische Tradition, die mikroskopisch beschreibbar ist. Diese Muster werden durch Vervielfältigung und Verbreitung im Druckzeitalter verbindlich und greifen so auf andere Räume und Gattungen über. Die einzelnen Typen aber bilden ein Reservoir an Figurenmustern, auf das zahlreiche Texte ab dem 16. Jahrhundert zugreifen konnten – so auch hinsichtlich des Fahrenden Schülers als Bettlertypus.

Exkurs: Jüdische Betteljuden und der Fahrende Schüler im Maaseh Nissim Der Umstand, dass der Großteil der Vokabeln in den tradierten Rotwelsch-Listen aus dem Jiddischen abgeleitet ist,²⁰⁵ stärkt die These einer Konstruktion durch die Obrigkeit der christlichen Majorität. Denn delinquentes Betteln unter Juden als Massenphänomen ist vor dem 17. Jahrhundert eher unwahrscheinlich und dürfte die Ausnahme geblieben sein. Dafür sind drei Argumente anzuführen: (1) Bettelnde NichtChristen hatten in ländlichen Regionen nur eine geringe Chance, ein Almosen zu bekommen, in den Städten hingegen duldete man nur wohlhabende Juden.²⁰⁶ Innerhalb der jüdischen Gemeinden aber ist von einer aktiven Subsistenz für wandernde Bettler und Talmudschüler auszugehen. Diese geriet erst ab dem Spätmittelalter ins Wanken, als die zunehmend verelendende jüdische Unterschicht immer mehr auf die Unterstützung durch andere Juden angewiesen wurde, was diese nicht mehr leisten konnten. So unterschied man – ähnlich wie in den Bettelordnungen der Christen – seinerseits zwischen ‚würdigen‘ Bettlern (Kabzen) mit Bettelbrief (Kibbuz) und ‚unwürdigen‘ Archi-(u)Parchi oder Orchim. ²⁰⁷ Die Letzteren firmieren auch unter der Bezeichnung Schalant- oder Betteljuden.²⁰⁸ Die christliche Majorität, die über innerjü-

Dijon eine Aufzeichnung verschiedener Gauner als Bericht eines Barbiers mitsamt einzelnen Jargonworten in seine Akten inseriert und womöglich am narrativen Muster der Straßburger Betrügnisse partizipiert. Vgl. Considine: Dictionaries, S. 47 f. Ed.: Lazare Sainéan: Les Sources de l’Argot Ancien. Bd. 1: Des Origines a la Fin du XVIIIe Siècle. Paris 1912, S. 87– 110.  Vgl. Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 168 f. und Martin Schüßler: Die Entwicklung der Gauner- und Verbrechersprache „Rotwelsch“ in Deutschland von der Mitte des 13. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Germanistische Abteilung 118 (2001), S. 387– 437, hier S. 413.  Vgl. dazu Yacov Guggenheim: Meeting on the Road. Encounters between German Jews and Christians on the Margins of Society. In: Ronnie Po-chia Hsia und Hartmut Lehmann (Hg.): In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Cambridge 2002, S. 132– 135, Rudolf Glanz: Geschichte des niederen jüdischen Volkes in Deutschland. Eine Studie über historisches Gaunertum, Bettelwesen und Vagantentum. New York 1968, S. 2. und Schüßler: Gaunerund Verbrechersprache, S. 414 f.  Vgl. Yacov Guggenheim: Von den Schalantjuden zu den Betteljuden. Jüdische Armut in Mitteleuropa in der Frühen Neuzeit. In: Stefi Jersch-Wenzel (Hg.): Juden und Armut in Mittel- und Osteuropa. Köln 2000, S. 55 – 70, S. 66.  Für diese häufige Bezeichnung hat Guggenheim folgende Wortgeschichte ausgemacht: „Schalantjuden waren im Hochmittelalter jüdische Fernhändler, die auf den Calanna oder Salandria, großen

100

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

dische Mechanismen ohnehin selten informiert war, konnte in diesen (mitunter delinquenten) Bettlern antijüdische Stereotype realisiert sehen²⁰⁹ und diese auf die ganze Bevölkerungsgruppe übertragen, um ihnen generelle Delinquenz vorzuhalten und sie zu ridikülisieren (z. B. bei Hans Folz).²¹⁰ (2) Dass das Rotwelsche tatsächlich von jüdischen ‚Gaunern‘ als Geheimsprache genutzt wurde, ist außerdem unwahrscheinlich, da für ein Verbergen von Absichten gegenüber Nichtjuden das Hebräische/ Jiddische ausreichend, das Rotwelsch mit den vielen hebräischen Lehnwörtern gegenüber anderen Juden als Geheimsprache, aber untauglich gewesen wäre.²¹¹ Schließlich (3) leiten sich die jüdischen Lehnwörter in den Rotwelsch-Listen nicht vom gesprochenen Jiddisch ab, sondern vom klassischen Hebräisch.²¹² Dies macht eine gelehrte Adaptation wahrscheinlich, die – ohne die simplifizierende Erklärung von delinquenten Gelehrten bemühen zu müssen – auf eine nichtjüdische juristische Obrigkeit zurückzuführen sein könnte.²¹³ Die Zuteilung einer jüdischen Sprache an die Vaganten dient mithin einer Sekundärstigmatisierung, wie sie bereits bei Luthers Neuherausgabe des Liber Vagatorum deutlich wird, wenn er betont, dass das Rotwelsch voll Ebreischer wort ist.²¹⁴ Blickt man hingegen in die jiddische Literatur der Frühen Neuzeit, so werden dort dieselben Muster wie in den anderen Literaturen sichtbar. Beispielsweise zeigt das jiddisch-deutsche Spielerlied Al Ha-Seḥok (‚Über das Spielen‘) das Muster vom Budenorden: Secht welcher ein schöner Spieler ist, und spielt ohn alles Arglist, ach wie sehr loben ihm die Buden, das Lob wird ihm viel zu schwer, man spricht das seind die guten Spieler, leigen all in der Badstuben, das bin ich innen worden, mit meinem Schad ist es geschehen, ich was auch in dem

Flußkähnen, als Gäste in fremde Städte kamen. In der sozio-ökonomischen Situation der spätmittelalterlichen Stadt waren fremde, nichtprivilegierte Juden vornehmlich arme Juden, an welchen die Bezeichnung haften blieb“; Guggenheim: Schlantjuden, S. 55 (Anm. 2).  Zu antijüdischen Vorurteilen, die im 16. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichten vgl. Ronnie Pochia Hsia: The Usurious Jew. Economic Structure and Religious Representations in an Anti-Semitic Discourse. In: Ronnie Po-chia Hsia und Hartmut Lehmann (Hg.): In and Out of the Ghetto. JewishGentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Cambridge 2002, S. 161– 176.  Vgl. Guggenheim: Encounters, S. 129 und Edith Wenzel: „Do worden die Judden alle geschant“. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen. München 1992, S. 256 – 265.  Vgl. dazu Schüßler: Gauner- und Verbrechersprache, S. 415 f.  Paul Wexler nennt „an unmistakably varied Jewish component“ und „[s]ubstratal relics in Rotwelsch“. Paul Wexler: Languages in Contact. The Case of Rotwelsch and the Two „Yiddisches“. In: Ronnie Po-chia Hsia und Hartmut Lehmann (Hg.): In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Cambridge 2002, S. 109 – 124, hier S. 120 und 124.  Z. B. bei Matthias Mieses, der erwägt, dass diese Lexeme „von hebräisch geschulten Scholaren nichtjüdischen Stammes her[rühren], die das Buch mit dem Gaunerhandwerk vertauschten und aus der hebräischen Urquelle ihr Wortmaterial schöpften“; Matthias Mieses: Die Entstehungsursache der jüdischen Dialekte [1915], hg. von Peter Freimark. Hamburg 21979, S. 25. Diese These verwirft auch Wexler: Languages in Contact, S. 116.  Zitat: Luther: Vorrede, S. 638. Vgl. dazu auch Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 107.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

101

Orden, dem die Buden Preis verjehen […], welcher sein Leib zu Spiel verflicht, er spiel ehrlich oder nicht, so ist es doch als gar ein Wicht.²¹⁵

Das Lied bleibt freilich bei allgemeinen Referenzen auf einen Orden der Spieler wie auch die meisten lateinischen Lieder.²¹⁶ Auch in einer jüdischen Schwanksammlung, dem Sefer Ma’asseh Nissim (‚Buch der Wundergeschichten‘) des Wormser Synagogendieners Juspa Schammes (1604– 1678),²¹⁷ befindet sich eine Erzählung über einen „Fahrenden Schüler“,²¹⁸ die wahrscheinlich auf ältere „traditional narratives“²¹⁹ zurückgeht: Sie handelt von einem frommen Mann und dessen Tochter, welcher ein fahrender Student droht, dass er in der kommenden Nacht

 Frankfurt, UB, MS. hebr. oct. 17 von 1517: Ed. in Leopold Löwenstein: Jüdische und jüdischdeutsche Lieder. In: Jubelschrift zum siebzigsten Geburtstag des Dr. Israel Hildesheimer, Rabbiner und Rector des Rabbiner-Seminars zu Berlin. Berlin 1890, S. 126 – 144, hier S. 143 (Str. 12); ed. des zweiten Teils in Leopold Löwenstein: Jüdische und jüdisch-deutsche Lieder. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 38 (1894), S. 78 – 89. Handschriftenbeschreibung in Ernst Róth und Leo Prijs: Hebräische Handschriften. Teil 1: Die Handschriften der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Bd. A–C. Wiesbaden 1982, S. 22 f. Vgl. dazu auch Israel Zinberg: A history of Jewish Literature, übers. und hg. von Bernard Martin. 12 Bde. New York 1975, Bd. 7, S. 39 f.  Vgl. Kapitel 7.2 und 7.3. Zur produktiven Umsetzung des Musters vom Bubenorden vgl. weiter Kapitel 10.2.3.  Sein voller Name lautet Yiftah Yozpa Ben-Naftali ha-Levi. Zu seiner Biographie und zum Buch vgl. Shlomo Eidelberg: R. Juspa, Shammash of Warmaisa (Worms). Jewish Life in 17th Century Worms. Jerusalem 1991, S. 9 – 14 und 49 – 52; außerdem Fritz Reuter und Ulrike Schäfer: Wundergeschichten aus Warmaisa. Juspa Schammes, seine Ma’asseh nissim und das jüdische Worms im 17. Jahrhundert.Worms 2012, S. 76 – 103 und Zinberg: Jewish Literature, Bd. 6, S. 72 f. Die älteste erhaltene Fassung ist Juspa Schammes: Sefer ma’es´e nisim, hg. von Elieser Ben Seeb Wolf Liebermann. Amsterdam: Asher Anshel ben Eliezer Chazzen 1695/96 (Yiddish publications from the Netherlands, YBN-33).  So in der Übertragung des Wormser Lehrers Samson Rothschild: Aus der Vergangenheit und Gegenwart der Israelitischen Gemeinde Worms. Frankfurt a. M. 61926, S. 58 f. Das Buch erschien von 1890 bis 1929 in sieben voneinander abweichenden Versionen. Da diese Edition stark verkürzend ist, beziehe ich mich auf die englische Übersetzung in Eidelberg: Juspa, Shammash of Warmaisa, S. 89 f. (hier auch auf Hebräisch, S. 86 f.) und die neuere deutsche Übersetzung in Reuter/Schäfer: Wundergeschichten, S. 53 f.  Lucia Raspe: Yuzpa Schammes and the Narrative of Medieval Worms. In: Karl E. Grötzinger (Hg.): Jüdische Kultur in en SchUM-Städten. Literatur – Musik – Theater. Wiesbaden 2014, S. 99 – 118, hier S. 108. Genaue Aussagen sind darüber nicht möglich. Ebensowenig ist über die ursprüngliche Sprache von Schammes’ Sammlung Sicherheit zu gewinnen. Die ältese Version wurde von Eliezer Liberman, dem Sohn des Verfassers, erst nach dem Tod des Vaters im Amsterdamer Exil 1695/96 auf Jiddisch herausgegeben. Während bis 1777 sieben Editionen in jiddischer Sprache erschienen, ist das Urmanuskript nicht erhalten. Vgl. zur Editionsgeschichte Nathanael Riemer: Juden und Christen in Juspa Schammes’ Mayse Nissim und das Selbstverständnis der Wormser jüdischen Gemeinde als aschkenasisches „Jerusalem“ in einer diesseitigen, fragilen Welt. In: Karl E. Grötzinger (Hg.): Jüdische Kultur in en SchUM-Städten. Literatur – Musik – Theater. Wiesbaden 2014, S. 119 – 136, hier S. 120 (v. a. Anm. 6) und Zinberg: Jewish Literature, Bd. 7, S. 197– 203. Argumente dafür, dass auch die Urfassung auf Jiddisch und nicht – wie angenommen wurde – auf Hebräisch verfasst war, nennt Raspe: Yuzpa Schammes, S. 101– 103.

102

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

gegen ihren Willen zu ihr kommen werde. Das Mädchen meldet die Drohung ihrem Vater und dieser versammelt zehn Gelehrte, um seine Tochter und sich selbst gegen den Fremden zu schützen. Der Student aber hat bei einem Hexenmeister die schwarze Magie studiert und kann die zehn Gelehrten und den Vater in ihrer Wacht mit einem Schlafzauber belegen. Als der Eindringling das Mädchen bedrängt, kann sie den Vergewaltiger abwehren und mit einem Messer erstechen. Auch den Schlafzauber – zehn Kerzen im Kamin – kann sie durch einen Rat der (christlichen) Nachbarn wieder lösen. Die Kerzen und damit den Zauber kann nur der Zauberer selbst löschen. In einem absurden Umkehrritual positionieren die Beteiligten den Leichnam des Schülers so bei den Kerzen, dass seine Körperwinde die Flammen ausblasen, indem sie auf seinen Bauch drücken. Neben dem Nachbarn ist auch der fahrende Student dezidiert nicht Teil der jüdischen Gemeinde; denn er wird mit der Bezeichnung eines nicht-jüdichen Schülers versehen.²²⁰ Außerdem wird die Fürsprache der christlichen Nachbarn betont, die dem Mädchen bezeugen, „dass sie in Notwehr gehandelt hatte.“²²¹ So entgeht sie einer Verurteilung für den Mord an einem Christen. Ähnlich wie bei den (christlichen) ‚Gaunerbüchlein‘ nutzt auch der jüdische Text eine Figur aus der anderen Religion, um die Fremdheit des Devianten auszustellen.

5.1.4 Der Fahrende Schüler als Bettler Schüler als privilegierte Bettler Die einzelnen Typen der Bettlerkataloge bedienen sich meist der Verstellung (simulatio), um Almosen zu heischen. Vergleicht man die Fahrenden Schüler mit anderen Bettlertypen, die dies durch Nacktheit oder vorgetäuschte Krankheit versuchen, nehmen sie eine besondere Stellung ein. Schon der juristische Diskurs zum Ende des 15. Jahrhunderts bewertet das Bettelrecht der Schüler ambivalent. So vertritt der Lindauer Reichsabschied im Februar 1497 die Meinung: Item, sol ein yede Oberkait der Bettler halber ernstlichen Insehens tun, damit nyemants zu betteln gestattet werde, der nit mit Swacheyt oder Gebrechen seins Leybs beladen und des nit notdürftig sey […] Doch sollen die armen Schüler, so der Lere nachziehen, hierinne nit begriffen sin.²²²

 Die (nicht-jüdischen) Studenten sind die einzige Gesellschaftsgruppe im Ma’asseh Nissim, „die eindeutig und durchweg negativ dargesellt wird“ (z. B. auch in der Erzählung Nr. 5 und 23); Riemer: Juden und Christen, S. 129.  Reuter/Schäfer: Wundergeschichten, S. 54; vgl. auch Riemer: Juden und Christen, S. 124 und Raspe: Yuzpa Schammes, S. 107.  Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I. Reichstage von Lindau,Worms und Freiburg 1496 – 1498, hg von Heinz Gollwitzer. Göttingen 1979, S. 338 – 352, Nr. 51, zit. 344. Die Bettelordnungen von Nürnberg (1478) und Würzburg (1490) folgten diesem Beispiel. Vgl. Johannes Bolte: Fahrende Leute in der Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 31 (1928), S. 625 – 655, hier S. 630.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

103

Damit sind die armen Schüler in einer privilegierten Situation – sofern sie betteln, um ihren Studien nachgehen zu können. Auch in der Scholastik wurden die Schüler herausgestellt: Ihr Betteln sei gut, da sie als zukünftige Priester für die Gemeinschaft nützlich seien. Darauf aber müssten sie sich durch den Besuch der (Hoch‐)Schule vorbereiten.²²³ Dasselbe Argument nennt Johannes Geiler von Kaysersberg, wenn er die bettelnden Schüler gewissermaßen als exzeptive Einheit der betler narren in der 67. Narrenschar beschreibt. Et prefatis circumstantijs existentibus etiam licet petere id quod pertinet ad hanc necessitatem: utputa si mendicans utilis sit studio sacre scripture et predicationi: ad quam libris indiget qui pertinent ad istam tertiam necessitatem: bene licet petere ea quibus sibipsos comparet: pensatis tamen circumstantijs qui ultra id quod opus est petere non licet: quisque plus ad curiositatem et cupiditatem pertinet quam ad necessitatem.²²⁴

Der arme Schüler dürfe als zukünftiger Prediger also völlig zu Recht betteln, um sich seine Bücher leisten zu können, und sei nicht zu den ‚starken Bettlern‘ zu zählen, auch wenn er möglicherweise für seinen Lebensunterhalt selbst sorgen könnte. Diese Einschätzung geht einher mit der Meinung, dass die Erfahrung von Selbsterniedrigung und Armut ‚am eigenen Leib‘ auch einen pädagogischen Nutzen beinhalte und zur Barmherzigkeit erziehe.²²⁵ Diese Privilegierung der armen Schüler sieht man schon in der hochmittelalterlichen Gesetzgebung.²²⁶ Mit der Jahrhundertwende kommt es jedoch innerhalb weniger Jahre zu einer Relativierung des status quo. Ein Indiz dafür ist Folgendes: Obwohl im Augsburger Reichsabschied vom September 1500 die Paragraphen des Lindauer Reichsabschieds (1497) zum Teil wortwörtlich kopiert wurden, übernahm man die Privilegierung der Schüler nicht.²²⁷ Auch Martin Luther führt in seiner Schrift An die Radherrn aller stedte deutsches lands: das sie Christliche schulen auffrichtenn vnd halten sollen (1524),²²⁸ in der er die Neuordnung des Schulwesens fordert, den

 Scherpner: Theorie der Fürsorge, S. 34 f. Vgl. Kapitel 9.3.1.  Johannes Geiler von Kaysersberg: Nauicula siue speculum fatuorum, übers. und hg. von Jacob Otther. Mit einer Lebensbeschreibung durch Beatus Rhenanus. Straßburg: Matthias Schürer 1510, Turba LXII, fol. Y5r, übers. von Johannes Pauli: Des hochwirdigen doctor keiserspergs narenschiff. Straßburg: Johann Grüninger, fol. CXXXr: und wan man die umbstend betrachtet/ so mag man z der nottdurft heischen. Als wan einer nutzlich wer zepredigen/ so moͤ cht man im wol betlen dz er der schl nach moͤ cht ziehen/ oder bücher zekauffen zepredigen/ aber me heischen dan er bedoͤ rffte/ das man die bücher wol zierte und ußstryche/ das sol nit sein wann das diente me z der geitigkeit/ da z notdurfft.  Vgl. dazu Kapitel 12.3.3.  Vgl. Kapitel 9.2.1.  Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede. Bd. 2. 1747 (Osnabrück 1967), S. 63 – 91, hier S. 80 Art. 27. Vgl. außerdem Friedrich Battenberg: Obrigkeitliche Sozialpolitik und Gesetzgebung. Einige Gedanken zu mittelrheinischen Bettel- und Almosenordnungen des 16. Jahrhunderts. In: ZHF 18 (1991), S. 33 – 70, hier S. 45 f.  Martin Luther: An die Ratherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen [1524]. In: WA 15 (1899), S. 9 – 53

104

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Schülerbettel nicht als Lösung eines Problems an, sondern schlägt ein allgemeines Schulgeld vor. Diese Indizien geben Anlass zu der Vermutung, dass sich um 1500 die Tendenz verstärkte, dass auch ein bettelnder oder (Kurrende) singender Schüler eher als Tagedieb oder Betrüger beargwöhnt wurde.

‚Kammesierer‘ und ‚Vagierer‘ – Schüler in der ‚Gaunerliteratur‘ Der Fahrende Schüler wird erst recht spät Teil der Bettlerkataloge, erhält dann aber spezielle Attribute. Der allgemeinere Typus des ‚gelehrten Bettlers‘ jedoch ist bereits seit den ersten Bettlerkatalogen im Typus des ‚Kammesierers‘ präsent. Das Augsburger Achtbuch (1342/43) nennt ihn als: kappsierer, die jehent, sie sien phaffen und hant wip und kint. ²²⁹ Die Betrügnissen der Gyler bezeichnen den Typus als die ‚G(a)latten‘. Diese Bezeichnung der ‚Gaunerkategorie‘ leitet sich entweder ab von ‚gelehrt‘/‚gelahrt‘ mit der Semantik des litteratus oder von ‚glatt‘ und bezieht sich dann auf den glattgeschorenen/tonsurierten Kopf des falschen Priesters: Item es sint ouch etlich, [die] ein wenig gelert und doch nit gewihet sint, und sprechent, si sient priester, und tnd inen ein blatten scheren als eym priester, und wandelent umbe und umbe in den landen und sprechent, sy habent verre heym z iren landen und sient von Rome oder anderswa har komen und sient beroubet, und nement ein bch in die hand, als ob si ire zyt bettent. und wer inen das almsen gitt, so sprechent sy, [sy] wellen inen sant Johanns ewangelium oder ander gebett fürderlich sprechen, und betriegent die lüte damitte.²³⁰

Dem ‚Kammesierer‘ als falschem Priester wird also zum einen Bildung zugesprochen – er ist zumindest lesekundig und im Besitz von Büchern – zum anderen gilt er als frommer Mann: Er sei nämlich ein ausgeraubter Pilger und könne den Segen spenden. In der lateinischen Rezeption dieser Betrügnisse (Heidelberger Scherzdisputation von 1458) wird die Formulierung weitgehend übernommen: Sunt denique quidam alij parumper leterati non tum sacius in sanctis ordinibus, qui se prespiteros fuisse dicunt et coronas deferunt sacerdotum. ²³¹ Durch die Übertragung in die Chronik Matthias’ von Kemnat (1475) kommt es zu einigen maßgeblichen Umakzentuierungen:²³² Das Buch, das der ‚Glatte‘ bei sich

 Kluge: Rotwelsch, S. 2.  Kluge: Rotwelsch, S. 14.  Cod. pal. lat. 870, fol. 153r; Übers. P. R.: ‚Es gibt nämlich seit geraumer Zeit einige andere ‚Gelehrte‘, die sich nicht nur als Teile heiliger Mönchsorden, sondern sogar als Priester ausgeben und sich eine klerikale Tonsur schneiden.‘  Die gegenwärtigen Editionen Matthias von Kemnat: Chronik und als Teiledition Kluge: Rotwelsch, S. 20 – 27 nennen und kennen nur die jüngeren Handschriften Cod. germ. mon. 1642 (2. Viertel 16. Jh.) und Leipzig Rep. III. 16a (1530). Älter und bedeutender aber sind ist der wiederentdeckte Cod. Heid. N.F. 9 (~1476, bis 1997 noch Malibu, P. Getty Museum, 83 Mp. 152) mit seinen Schwesterhandschriften Paris Bibl. Nat. Ms. allem. 85 (~1475) und Heid. Hs. 3599 (~1480). Für die folgenden Untersuchungen nutze ich die beiden Heidelberger Handschriften. Diese sind auch durch die zentralen Lesarten getrennt, zumal die Leipziger Handschrift von Heid. Hs. 3599 abhängt. Vgl. zu den Handschriften und Affilia-

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

105

trägt, spezifiziert er als vol zauberey und buberey ²³³ und er ergänzt, sie lehrten den Menschen sant thobias und columbanus segen ²³⁴ – zwei Reisesegen, die seit dem Spätmittelalter auch mit Magie konnotiert waren.²³⁵ Schließlich fügt er noch als Wahrheitsbeteuerung an, dass er diese aus eigener Erfahrung kenne und erweitert die aus den Betrügnissen übernommene Bezeichnung um den geläufigeren Namen dieses Bettlertyps: und heissen Cambisirer oder die glatten. ²³⁶ Das Interesse, das Matthias von Kemnat diesem Betteltyp entgegenbringt, zeigt die wiederholte Nennung des Typs in einer Anekdote. Hier greift er die Konnotation des betrügerischen Pilgers auf, die er im ersten Abschnitt getilgt hatte: Er berichtet von einem ‚Kammesierer‘, der Spenden sammelt, um den Schädel seines auf der Wallfahrt verstorbenen Vaters nach Rom zu bringen, und damit sowohl an die Barmherzigkeit als auch an die Sensationsgier der Städter appelliert.²³⁷ Die etwas jüngere Abschrift des Schreibers Johann Rot aus Weinheim betont diese Akzente noch weiter und bezeichnet den Bettlertyp konkret als Schüler und damit als angehenden Kleriker: daß sint die verdorbenen schüler die ein wenig gelert sint und noch nyt geweyhet und sagent doch sie syent pristere und pfaffen. ²³⁸ Der Schreiber fügt zum Schluss dieses Abschnitts noch eine durch Rubrizierung hervorgehobene eigene Erfahrung an, die ihm 1457 in Erfurt widerfahren sei: Aber [gestrichen, ursprünglich rubrifiziert: ich her johann rode von wynheim] der diß buch mit syner hantt geschrieben hait [unleserliche Tilgung über zwei halbe Zeilen]²³⁹ habe derselben

tionen Studt: Fürstenhof, S. 73 – 144. Im Gegensatz zu den eher allgemeinen Aussagen in Kapitel 5.1.2 ist bei dem folgenden close reading eine Berücksichtigung des (älteren) handschriftlichen Befundes wichtig, weshalb ich direkt aus den Handschriften zitiere.  Cod. Heid. N.F. 9 fol. 88r, ebenso Heid. Hs. 3599 fol. 153v.  Cod. Heid. N.F. 9 fol. 88r, ebenso Heid. Hs. 3599 fol. 153v.  Zum Columbanssegen, der häufig mit dem Colomanssegen verwechselt wird, vgl. Adolf Jacoby: [Art.] Columbansegen. In: HdA 2, Sp. 100; Adolf Jacoby: [Art.] Colomanibüchlein und- segen. In: HdA 2, Sp. 97– 99. Zum Tobiassegen vgl. Anton Schönbach und Elias Steinmeyer: Zum Tobiassegen. In: ZfdA 24 (1880), S. 182– 191 [der angekündigte Eintrag im HdA fehlt].  Cod. Heid. N.F. 9 fol. 88r, ebenso Heid. Hs. 3599 fol. 153v.  Yedoch mag ich hier eines nit übergen zu melden von eynem Cambisierer oder glatten der nam eynen dottenkopff und drug in von eyner statt zu der andern und sagt, er wer sins vattre kopff der were heylig dan sin vatter were gestorben uff dem weg gein sant Jacob und er hette in gesucht lanngzitt bis das er yn gefonden hett. Nün so er yno hett gefunden, so samelt er darzu und sagte er wolt yn gein Rom dragen und heylig machen lassen machen also überkam er vil geltes und wartt zu lautterburg gefangen und bekentt das er den kopff sunst in eynem kerntner hett genomen, und man fand XX gulden by im, die er mit liegen vnd dem almusen darzu gesamelt hett; Cod. Heid. N.F. 9 fol. 88v, auch in Heid. Hs. 3599 fol. 154r.  Heid. Hs. 3599 fol. 153r [Herv. P. R.].  Textgenetisch interessant ist an dieser Stelle, dass die Schreibernennung, die noch lesbar ist (respektive zum Teil durch Chemikalien wieder lesbar gemacht wurde) in der Leipziger Handschrift, die auch Kluge kennt – vgl. Kluge: Rotwelsch, S. 26 (Anm. 1) – aufgenommen, die Tilgung jedoch ausgelassen wurde. Tatsächlich ist der Inhalt der Passage aus den Ober- und Unterlängen nicht mit Sicherheit feststellbar. Die große Zahl von rot hervorgehobenen Majuskeln (D, P, O, E) läßt den Schluss zu, dass es sich womöglich um den Namen des Autraggebers, eines Gönners oder eines weiteren

106

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

glatten eynen zuo Erfort uff eyner leytern sehen steen [.] der sange und laße messe, er daufft [taufte], er hort beicht und absolvieret die leute [erteilt die Absolution] und recht alle sacrament. Und bei erffort inn eynem dorfflin hielt der selbe mess und verschlug [stahl] den silberyn kelich und steckt eynen holzin jn sack. Der wart gefangen und alle sin boißhaytt offenbart und dar umbe verbrandt. Und geschae ungeverlich jm jare nach cristi geburt Mo CCCCo Lvij [1457] alß ichs behalten habe.²⁴⁰

Er setzt den ‚Kammesierer‘ als ‚gelehrten Bettler‘, der lesekundig (d. h. auch lateinkundig) und in den geistlichen Praktiken beschlagen ist, gleich mit dem abgefallenen armen Schüler oder Studenten, der mittels seiner Gelehrsamkeit bettelt und betrügt. Analog verfährt Gerold Edlibach (~1490) in seinem Rotwelsch-Vokabular, das übersetzt: kemmesierer, figant – student. ²⁴¹ Michel Beheim übernimmt in seiner Versifikation von Kemnats Chronik zwar nicht die Passage mit dem Bettlerkatalog, scheint aber – wohl vermittelt über dessen Chronik – am Diskurs über die ‚Gauner‘ zu partizipieren, was er in seinem Lied Von den sterczern, wie sy die leut petriegen ²⁴² beweist. Hier ruft er die einzelnen Attribute des ‚Kammesierers‘ auf, wenn er sie auch unterschiedlichen Gruppen zuschreibt. Beheim nennt neben falschen Priestern, Reliquienhändlern (vv. 5 – 45, 78 – 81) und Bettlern, die sich als bedürftig ausgeben,²⁴³ auch Hochstapler: z. B. wunderbar Genesene (vv. 98 – 108), Schatzgräber, Nekromanten und Propheten,²⁴⁴ sowie falsche Wunderheiler, welche vorgeben, die Jungfräulichkeit wiederherstellen zu können,²⁴⁵ oder Alraunen verkaufen, und damit vor allem törichte Frauen betrügen: Hort, wie die sterczer und die pubm die welt petriegen und petrubm. etlich die sniczen pild aus rubm [Rüben] oder aus andern wurczen. Mit erd sy es pesturczen. darinn sein sy es wurczeln lan, pis das es vil nasen wirt han.

Zeugen handeln könnte, der im Prozess der Tradierung der Handschrift getilgt wurde. Das bleibt jedoch Spekulation.  Heid. Hs. 3599 fol. 153v [Anm. P. R.].  Kluge: Rotwelsch, S. 19. Das rotwelsche figant begegnet ansonsten in keiner weiteren Wörterliste.  Michel Beheim: Die Gedichte. Nach der Heidelberger Hs. cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. cpg 312 und der Münchener Hs. cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften. Band 2: Gedichte 148 – 357, hg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald. Berlin 1970, S. 331– 335 (Nr. 236).  Er nennt Behinderte und Kranke (vv. 46 – 57), Pilger, Büsser und Nackte (vv. 58 – 73),Wahnsinnige (vv. 82– 85), konvertierte Juden (vv. 90 f.) und arme Frauen in der Schwangerschaft (vv. 86 – 89) oder mit Kind (vv. 74– 77).  Und etlich welln verporgen schecz | den leüten czaigen. mit geswecz | chunden sy es. es daucht mich lecz, | das sy es selb nit nehmen. | Mer furbas solt ir gemen. | etlich sprechen, die toten sy | her wider chunnen pringen hie. | auch so sprechen ir etlich, wy | das sy enczuket sein | Gen himel oder in die hell, | do sy gesehen hannd die quell, | dy noch etliches leiden sell, | das noch auf der erd ist leben. (vv. 109 – 121).  Manche sprechen, sy sein ercztin | und haben sovil chunst und sinn, | welch magt ir ern verlirn peginn, | die machens wider maget. (vv. 92– 95).

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

107

den tumen weiben fur allran [Alraunen] sy es czu kauffen geben. Sust treiben sy vil triegereÿ mit andern wurczeln mangerley. (vv. 122 – 132, Anm. P. R.)

Auch wenn Beheim nicht wörtlich den Fahrenden Schüler oder ‚Vagierer‘ nennt, sammelt er doch zahlreiche Motive, die sich an dieser Figur anlagerten.²⁴⁶ Im handschriftlichen Überlieferungszusammenhang steht das Gedicht stets als Abschluss eines thematischen Blocks mit Gedichten gegen Juden (Nr. 203 – 234) und Zauberer (Nr. 235), und damit in einem ähnlichen Zusammenhang wie das Inserat bei Matthias von Kemnat. Dies ist ein Zeichen für eine Abwertung aller behandelten sozialen (Rand‐)Gruppen mittels Sekundärstigmatisierung. Der Liber Vagatorum teilt die Eigenschaften des ‚Kammesierers‘/‚Glatten‘ in mindestens drei Kategorien auf. Die Bedeutung des falschen Pilgers findet sich in den Typen der ‚Christianer‘ und ‚Calmierer‘.²⁴⁷ Die beiden anderen Typen sind weitaus interessanter: die ‚Kammesierer‘ und die ‚Vagierer‘. Diese Aufteilung begegnet als erstes in einer lateinischen Nota de fictis mendicis in der deutsch-lateinischen Sammelhandschrift Diversarius multarum [materiarum] (Zürich Ms. C 101), die um 1470 vom Benediktinermönch Gallus Kemli verfasst/kompiliert wurde. Hier reihen sich kurze Passagen verschiedenster Thematik und Provenienz meist unverbunden aneinander: Anweisungen für richtiges Schreiben, medizinische Rezepte, astrologische Tafeln, Exorzismen, Ablässe und Kirchenrecht.²⁴⁸ Die Nota de fictis mendicis folgt auf einen Abschnitt, der mit De abusionibus questionariorum (fol. 109v f.) überschrieben ist. Diese Passage ist – wie in dem Quellennachweis ex sexto Clementini ²⁴⁹ angegeben – ein Zitat aus den Clementinae constitutiones, die von Papst Clemens V. auf dem Konzil von Vienne erlassen und nach seinem Tod 1317 veröffentlicht wurden. Das zitierte Kapitel aus dem Rechtstext (Clem. 5, 9, 2)²⁵⁰ behandelt die Hinterziehung von Almosen durch kirchliche Verwalter. Damit sind die

 Vgl. die Darstellung in kleinepischen Texten, v. a. De vita vagorum (Kapitel 10.2.1) oder in der Sagenüberlieferung (Kapitel 12.3.1).  Kluge: Rotwelsch, S. 49.  Zur Handschrift vgl. Jakob Werner: Beiträge zur Kunde der lateinischen Literatur des Mittelalters. aus Handschriften gesammelt. 2., durch e. Anh. verm. Ausg. Aarau 1905, S. 152– 183 (mit Teiledition); nota de fictis mendicis auf S. 165. Außerdem Beat Matthias von Scarpatetti: Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters bis 1550. Bd. 3: Die Handschriften der Bibliotheken St. Gallen–Zürich, Text- und Abbildungsband. Dietikon-Zürich 1991, Textband, S. 252 (Nr. 806); Heinrich Hänger: Mittelhochdeutsche Glossare und Vokabulare in schweizerischen Bibliotheken bis 1500. Berlin, New York 1972, S. 58 f.; Leo Cunibert Mohlberg: Mittelalterliche Handschriften. Zürich 1951, S. 52 f. (Nr. 130). Das Inhaltsverzeichnis des Diversarius befindet sich auch in der Handschrift Zürich, Zentralbibl. Cod. A 135, fol. 5v–7r aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. Abdruck in Paul Lehmann: Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Bd. 1: Die Bistümer Konstanz und Chur. München 1918, S. 124– 127.  Zürich, ZB, C 101, fol. 109v marg.  Vgl. Emil Friedberg (Hg.): Decretalium Collectiones. Leipzig 1879 (ND Graz 1959), Sp. 1190 f.

108

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

beiden Teile thematisch durchaus aufeinander zu beziehen, was ein anschließendes Item, welches in der Handschrift ansonsten nur spärlich genutzt ist, noch verstärkt. Bemerkenswert ist, dass die Nota durch eine für die Handschrift ungewöhnliche viertelseitige Lücke von den Clementinae abgesetzt ist. Da der Abschnitt über den Almosenmissbrauch abgeschlossen ist,²⁵¹ also keine nachträgliche Erweiterung geplant gewesen zu sein scheint, und sich außerdem die Farbe der Tinte in der Nota gegenüber den umgebenden Seiten absetzt, hat Gallus Kemli die Notiz über die falschen Bettler wohl später auf freiem Raum nachgetragen. Von einer anderen Hand ist nicht auszugehen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass der Mönch nach Verlassen seines Heimatklosters St. Gallen in seinen Wanderjahren zwischen 1443 und 1470 – er war nachweislich in Erlach, Sponheim, Mainz, Trier, Augsburg und Heidelberg – von den zirkulierenden Bettlerkatalogen erfuhr und eine nicht überlieferte Version als Kopie in seinen Diversarius nachtrug.²⁵² Ob er diese Version auch zuvor übersetzte oder ob ihm ein lateinischer Text vorlag, ist nicht festzustellen. Im Folgenden zitiere ich die ganze Passage: Modus et conswetudo [homines] decipiendi et elemosinas defraudandi modernis temporibus a quibusdam mendicis innovata est, qui per quasdam societates et confederaciones mutuo habitas multa mala praticant et per ficto ydiomate se mutuo affantes in lingua quadam, quae dicitiur Rubeum Ytalicum, assumentes sibi iam talem modum sub tali forma vel tali, verbi gratia ut si in uno non prosperati fuerint ad alia se convertunt etc totum mundum decipiunt. Modus [!] autem ficticiorum tot et tales sint, videlicet: Primi dicuntur inter se hanesen et sunt victi [lies: ficti] nobiles, qui dicunt se depauperatos, captos, vinculatos et exactos et similia etc. 2i dicuntur vagi, hoc est ficti nigromantici, qui nichil veritatis experimentorum sciunt et tantum fingunt se aliqua scire etc. [Decipiunt honestos] 3i dicuntur Camsierer et sunt, qui dicunt se velle presbiterari et sic petunt subventionem pro studio etc. 4i dicuntur losner, ficti captivi vel ceci vel claudi etc. de al. 5i dicuntur grantner, qui dicunt se habere morbum caducum etc. 6i dicuntur deuser, qui fingunt sibi questos [!] et per arendam vel alia machinamenta, cum fict fictis reliquiis homines decipiunt [etc]²⁵³

 Zum einen endet das zitierte Kapitel, zum anderen sind ein gekritzeltes etc und ein XPS (d. h. Christus) als Abschlusszeichen zu erkennen.  Durch eine kurze Autobiographie und zahlreiche andere Zeugnisse sind wir erstaunlich gut über den Mönch informiert. Zusammenfassend dazu vgl. Milena Svec Goetschi: Klosterflucht und Bittgang. Apostasie und monastische Mobilität im 15. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2015, S. 273 – 279.  Ed. zuerst in Werner: Beiträge, S. 165. Außerdem bei Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 60. Streichungen und Überschreibungen in Zürich C 101, fol. 110r wurden im Zitat kenntlich gemacht. Hervorhebungen werden übernommen, in der Edition vergessene Wörter in eckigen Klammern ergänzt. Übers. P. R.: ‚Eine Art und Sitte zu täuschen und für Almosen zu betrügen ist von manchen Bettlern in dieser Zeit erneuert/erfunden worden. Diese vollziehen in einigen Ländern und Gebieten, die sie im Wechsel in ihrer Gewalt haben, viel Übel und betrügen sie die ganze Welt. Dabei sprechen sie sich gegenseitig mit erfundenen Ausdrücken in einer gewissen Sprache namens ‚Rubeum Italicum‘ [Rot-welsch] an und legen sich unter diesem Deckmantel und mithilfe dieser Worte eine solche Erscheinungsform zu,

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

109

Die Praxis des betrügerischen Bettelns wird in diesem Text also als etwas dezidiert Neues und Modernes gekennzeichnet. Damit gibt der Text vor, sich mit einem Wandel der tatsächlichen Praktiken auseinanderzusetzen, mindestens aber mit einem veränderten Diskurs über das Betteln. Diese beiden Aspekte sind ja, wie gezeigt wurde, miteinander verschränkt.²⁵⁴ Der Mentalitätswandel wird hier emphatisch als epochenmachend für die moderna tempora apostrophiert. Bemerkenswert ist, dass diese ‚neue Zeit‘ mit Konnotationen eines Bewusstseins einer konstruierten Welt verbunden sind. Die neue Art dieser Welt ist ein modus ficticiorum, da man sich einer neuen, erfundenen Sprache (ficto ydiomate) bedient, dem Rubeum Ytalicum (Rot-Welsch) – in dieser lateinischen Übertragung meines Wissens einzigartig. Als Beispiele für diese neu erfundenen Betteltechniken werden die beiden ‚gelehrten Bettler‘ genannt und explizit gegenübergestellt: die ‚Kammesierer‘, angehende Priester, die dezidiert pro studio betteln, und die ‚Vagierer‘ als ficti nigromantici, die ihr Wissen über schwarze Magie aber nur vorspiegeln. Es ist nicht davon auszugehen, dass Gallus Kemli der Autor dieses Textes ist, denn die einzelnen Bettlertypen werden nur anzitiert, die Beschreibung bricht dann aber mit einem etc. bald wieder ab. Dennoch hängt die Nota von keiner der bekannten Vorlagen ab, was dadurch offensichtlich wird, dass die einzelnen ‚deutsch-rotwelschen‘ Typbezeichnungen nur hier belegt sind: die ‚hanesen‘ (in den Betrügnissen: ‚küsche narunge‘; im Liber Vagatorum: ‚Söntzen‘) und ‚deuser‘ (im Liber Vagatorum am ehesten ‚wiltner‘). Davon weicht die Bezeichnung als ‚vagi‘ ab, da dieses Wort als einziges in seiner lateinischen Flexionsform abgeschrieben ist. Dafür sind folgende Gründe denkbar: Entweder korrespondierten der Klang der lateinischen und deutschen Bezeichnung so sehr, sodass das deutsche Wort flektiert wurde, oder Kemli übernahm das lateinische Wort aus seiner Quelle. Da es sich bei den ‚gelehrten Bettlern‘ um Phänomene handelt, welche in naher Affiliation mit der Sphäre der Universität und des Gelehrtentums stehen, ist es nicht unwahrscheinlich, dass es sich um eine Bezeichnung handelt, die in diesem Gelehrtenmilieu gebildet oder zumindest davon inspiriert wurde.²⁵⁵ So werden Scholaren, welche die

dass sie, wenn sie an einem Ort nicht erfolgreich sind, sich an einen anderen begeben und so weiter. Die Erscheinungsformen des Betrugs aber sind offensichtlich so viele und dergestalt: Die ersten heißen ‚Hanesen‘ und sind falsche Edle, die sagen, dass sie verarmt, gefangen, versklavt, vertrieben und ähnliches sind usw. Die zweiten heißen ‚Vagi‘; falsche Schwarzkünstler, die die Wahrheit über ihre Vorführungen nicht kennen und nur vorspiegeln, etwas zu wissen usw. [Sie täuschen ehrbare Menschen]. Die dritten heißen ‚Camisierer‘ und sind Leute, die sagen, dass sie Priester werden wollen und daher um Unterstützung für das Studium bitten usw. Die Vierten heißen ‚Losner‘, falsche Gefangene oder Blinde oder Lahme usw. usf. Die Fünften heißen ‚Grantner‘, die sagen, dass sie Epilepsie haben. Die Sechsen heißen ‚Deuser‘, die vorgeben mit Ackerbau oder anderem Handwerk für sich selbst zu sorgen und die Menschen mit falschen Reliquien täuschen [usw.]‘  Vgl. Kapitel 5.1.1 und 5.3  Zu (küchen‐)lateinischen Ausdrücken im Rotwelsch (v. a. im älteren Rotwelsch) vgl. Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 146 – 148.

110

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Vorlesungen nur unzuverlässig oder unregelmäßig besuchen und daher von den Privilegien auszuschließen sind, schon in den Disziplinargesetzen der Universität Heidelberg vom Juni/Juli 1387 als vagi scholares bezeichnet.²⁵⁶ Demnach wäre die Bezeichnung ‚Vagierer‘ des Liber Vagatorum eher von der lateinischen Gelehrtensprache als von der rotwelschen Gaunersprache abzuleiten. Gewiss aber hat diese Bezeichnung – wenn auch über das Rotwelsche vermittelt – ihren Ursprung in einer lateinischen Vokabel, da die Wurzel des Wortes als Ableitung von vagari evident ist. Der Liber Vagatorum folgt in der Differenzierung der ‚gelehrten Bettler‘ denselben Prämissen wie die lateinische Nota de fictis mendicis, erweitert jedoch die Darstellung der beiden Typen: Unter ‚Kammesierern‘ versteht er betler idem iung scholares iung studenten die vatter und muter nit volgen und iren meistern nit gehorsam woͤ llen sein, und apostasieren [von zu Hause weglaufen] und kumen hinder boͤ ß geselschafft die auch gelert sind in der wanderschaft. ²⁵⁷ In dieser schlechten Gesellschaft, wohl dem Fahrenden Volk als imaginiertem Kollektiv, lernen sie dann die Techniken des Betrugs: die helffen in das ir verionen [verspielen] versenken [versetzen] unnd verkümern [verkaufen] und verschoͤ chern. und wann sie nüt me haben so lernen sie betlen oder kammesiern und die houtzen beseflen [die Bauern bescheißen] und kamisieren also.²⁵⁸

Der ‚Kammesierer‘ (im Vokabularium übersetzt als gelerter betler)²⁵⁹ täusche vor, das gespendete Geld für die Ausbildung zum Kleriker und den gespendeten Flachs für seine Kleidung zu brauchen. Tatsächlich aber verprasse er alles Geld und gaukle den geistlichen Stand durch das Schneiden einer Tonsur nur vor: Item sie scheren kronen und sin nit ordinirt und hond auch kein format wie sie sprechen sie habens, und ist ein loe boͤ se falsche vot [böser/falscher Erwerb].²⁶⁰ Wie bei allen einzelnen Kategorien ist auch beim ‚Kammesierer‘ in der Conclusio ein paränetischer Hinweis für den Rezipienten angefügt, welcher besagt: disen kammisierern gib nüt dann so man inen minder gibt so sie baß geraten und ee, dar von lond. ²⁶¹ Damit wird die Möglichkeit offen gehalten, dass sie sich durch den Entzug der Einkommensquelle bessern und vielleicht doch einer ehrlichen Tätigkeit nachgehen könnten. Anders verhält es sich bei der Kategorie der ‚Vagierer‘ mit dem Synonym farend schler. In der Conclusio heißt es: Vor disen vagierern ht dich, dan wo mit sie umb gond

 Libri actorum Universitatis Heidelbergensis / Die Rektorbücher der Universität Heidelberg. Bd. 1 1386 – 1410 (zugleich das erste Amtsbuch der Juristischen Fakultät), hg. von Jürgen Miethke. Heidelberg 1986, S. 164. Vgl. auch Kapitel 9.2.2.  Kluge: Rotwelsch, S. 41.  Kluge: Rotwelsch, S. 41. In Klammern die Übersetzungen der Rotwelschen Ausdrücke aus dem Vocabularium des Liber Vagatorum.  Kluge: Rotwelsch, S. 54.  Kluge: Rotwelsch, S. 42. Zu historischen Fällen dieses Betrugs vgl. Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 79. Zum umgekehrten Fall des Verdeckens der Tonsur als kirchenrechtlicher Straftat vgl. Svec Goetschi: Klosterflucht und Bittgang, S. 43.  Kluge: Rotwelsch, S. 42.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

111

ist als erlogen. ²⁶² Eine Besserungsmöglichkeit wird bei ihnen also ausgeschlossen. Sie sind vor allem geprägt durch Assoziationen mit der schwarzen Magie, die schon in der Version des Matthias von Kemnat zum Tragen kam, und entwickeln sich zu einem Amalgam von verschiedenen allgemein verbreiteten Erscheinungsformen der Magie. Im Liber Vagatorum heißt es: Von Vagierern: Das vij capitel ist von vagierern – das sind betler oder abentürer dy die gelen garn antragen und uß der fraw Venus berg komen und die schwartzen kunst künden und werden genant fahrend schler, die selben wo sie in ein hauß komen so fahen sy an zu sprechen, Hie kumt ein farnder schler der siben freien künsten ein meister (die houtzen [Bauern] zu beseflen [betrügen]) ein beswerer der tüfel für hagel für wetter und für al ungehür, darnach spricht etlech character und macht ij oder iij crütz, und spricht wo dise wort werden gesprochen da wirt nieman erstochen, es gat auch nieman unglück zuhanden hie und in allen landen, und vil andere kostliche wort, so wenen dann die houtzen es sy also, und sind fro das er komen ist und sie hon nie kein farnden schler gesehen, und sprechen z dem vagierer, das ist mir begegnet oder das, künten ir mir helfen ich wolt üch i guldin oder ij geben, so spricht er ia und besefelt den houtzen ums meß [Geld], Mit den experimenten begond sie sich, die houtzen meinen umb das sie sprechen sie künden den tüfel beswern, so künnen sy eim helffen alles das inen anligen ist, dan du kanst sy nüt fragen sy kunden dir ein experiment derüber legen, das ist sy künnen dich bescheissen und betriegen umb dein gelt, Conclusio, Vor disen vagierern ht dich, dan wo mit sie umb gond ist als erlogen.²⁶³

Der Inhalt entspricht im Kern der späteren versifizierten²⁶⁴ und der lateinischen Version, die ich hier (erstmals) transkribiere: Septimi dicuntur vagierer qui portant phila crocea aut rethia crocea dicunt se venisse ex monte veneris, ut sciant nigromanciam, cum intrant domum, dicunt hic venit scolaris vagans magister septem artium liberalium ad sophisticandum rusticos vel die houtzen zu beseflen [Rotwelsch], Coniurator demonum quoniam fulgura et coruscationes et quoniam omnia fantasmata per hoc facit caracteres et facit signa et cetera et dicit ubi hec verba recitantur nullus occiditur neque in aliquod diffectum inde(?) vel in quacumque provintia constitutus et alia pulcra verba et cetera

 Kluge: Rotwelsch, S. 42.  Kluge: Rotwelsch, S. 42.  [Gengenbach]: Bettlerorden, vv. 386 – 422: Das .vij. Capittel sind die vagierer | Oder die farnen schler | Das sind die gele gan an tragen | Vnd von frow Fenus berg sagen | wo die selben koͤ mmen fur ein huß | Gar berit streckt er sein gernlin vß | Spricht hie kumpt ein farnder schler | Der siben frien kunst ein meister | Vnd der hutzen ein beseffler | Ein beschwerer der dufel | Fur waͤ ter vnd hagel | Vnd ouch fur alles vngehur | Dar z fur wasser vnd ouch für | Darnach etlich character macht | Vnd spricht sie haben solich krafft. | wo dise wort werden gesprochen | Do mag nieman werden erstochen. | Kein vnglück inen godt z handen | Hie vnd wo sie sind in landen. | Vnd macht dann ein kruͤ oder dry | Vff das do sig der gloub dar by. | So went dann der hutz es sig also | Entpfacht in schon, vnd ist gar fro, | Das er sit z imm kommen haͤ r | wann er kein farender schler | Gesehen hat by sinen tagen | wol hat er ghoͤ rt von inen sagen | Der hutz seit imm bald sin anligen | Vnd dt jmm ouch gar nut verschwigen. | Das nimpt der vagierer war gar eben | Gar bald er spricht was wilt mir geben | Ich hilff dir nach dim begeren | So verr du mich ouch welst geweren | Vnd mir gibst ein oder zwen guldin rot | Min kunst hilfft dir gar bald uß not, | Also sie dnd die hutzen btriegen | Ir kunst ist anders nütz dan liegen.

112

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

simplices letantur et estimant ita esse et dant fenoris aut gratiae(?) qua sophisticantur. Conclusio ab his cave quia omnia mentiuntur.²⁶⁵

Eine Übersetzung erübrigt sich, da der Inhalt (wie auch bei der Versversion) mit dem deutschen Druck übereinstimmt. Nur auf ein paar Details sei verwiesen: Neben einigen Kürzungen (v. a. in der zweiten Hälfte des Absatzes) und Erweiterungen (z. B. die ‚gelben Netze‘ rethia crocea) interessiert an dieser Stelle vor allem die Bezeichnung des Fahrenden Schülers. Dieser wird entgegen der mittelalterlichen Tradition nicht als vagus, sondern als vagans wie bei Thomasius und Crusius bezeichnet, entgegen der späteren Terminologie aber nicht als scholasticus, sondern als scholaris. Der Liber vagatorum scheint also auch dahingehend ein Bindeglied zwischen (terminologischen) Konventionen. Durch folgende Attribute zeichnet sich der ‚Vagierer‘ oder Fahrende Schüler in allen Varianten aus: Er trägt einen gelben garn (oder ein gelbes Netz) als Erkennungszeichen und vielleicht als Stigma-Symbol,²⁶⁶ er steht in Verbindung mit dem Venusberg ²⁶⁷ und gibt vor, die sieben freien Künste, vor allem aber die schwarze Kunst zu beherrschen. Daraus folgt, dass er sich auf Teufelsbeschwörungen, Wetterzauber, Schutzzauber und Wahrsagung verstünde. Der Fahrende Schüler verliert demnach bis auf die angeberische Berufung auf die Kenntnis der septem artes alle Verbindungen zu einer universitären Ausbildung. Diese konzentrieren sich auf den ‚Kammesierer‘. Stattdessen lagern sich am ‚Vagierer‘ zahlreiche volkstümliche Konnotationen mit dem Magiediskurs an. Als betrügerische Bettler im engeren Sinne sind sie jedoch nicht einzustufen, da ihre narung (Broterwerb) nicht darauf beruht, jemanden durch Lügen zu einem Almosen zu bewegen, sondern jemanden schlicht mittels Hochstapelei hinters Licht zu führen und eine Bezahlung für eine imaginäre Gegenleistung zu verlangen. Als dezidierter Unterschied zwischen dem ‚Kammesierer‘ und dem ‚Vagierer‘/Fahrenden Schüler ist also hervorzuheben, dass der erste einen spezifischen Gesellschaftsstatus vorspiegelt, um sich durch dessen soziale Privilegien einen Vorteil zu verschaffen. Ein mittelloser Schüler oder Student galt – wie aus den Zugeständnissen in Bettelordnungen oder Predigten offensichtlich wurde – mitunter als almosenberechtigt und demnach als lukrative persona für den betrügerischen Bettler. Der ‚Vagierer‘ hingegen nimmt die persona eines Magiers an und stellt sich demnach als mächtiger dar, als er ist. Der Status des Fahrenden Schülers wird aber nicht als intendierte Maske beschrieben, sondern als ‚Berufsbezeichnung‘. Indem er mit dem Attribut ‚fahrend‘ verbunden wird, erhält die (wohl externe) Bezeichnung explizit die Konnotation

 Szombathely, Diözesanbibliothek (Egyházmegyei Könyvtár), cod. 7, S. 548. Zur Handschrift vgl. Kapitel 5.1.3.  Vgl. dazu mehr in Kapitel 10.3.  Vgl. dazu mehr in Kapitel 12.2 und 12.3.

5.1 Der Fahrende Schüler als materiell prekärer Typus – Bettlerkataloge

113

gesellschaftlicher Devianz, die zu delinquentem Verhalten (Betrug, Hochstapelei) führen kann.²⁶⁸ Typen ‚gelehrter Bettler‘ finden sich auch im strukturell etwas abweichenden Speculum Cerretanorum des Teseo Pini. Stärker noch als im Liber Vagatorum wird hier eine Gegengesellschaft konstruiert, die sich explizit hinsichtlich gelehrter und klerikaler Dimensionen von der bestehenden, dominanten Gesellschaft absetzt. Die Tätigkeit der Bettler bekommt als ars den Stellenwert einer ‚wissenschaftlichen Disziplin‘,²⁶⁹ ihre Tätigkeit des Gelderwerbs aber wird als Gottesdienst (sanctuaria) (pseudo‐)sakralisiert.²⁷⁰ Schon aus der Ursprungserzählung der Cerretani wird diese Inversion der gesellschaftlichen Normen deutlich. Aufbauend auf etymologischen Argumenten leitet der Verfasser die Herkunft der Cerretani ab von einer Sekte verstoßener Cerespriester oder von der Wintereiche ([a]esculus), die früher Cerrus geheißen habe. Als die Gruppe schließlich zu groß geworden sei, habe ihr Hohepriester, der magnus eorum sacerdos tantique religionis pontifex,²⁷¹ Gesandte in die ganze Welt geschickt, quod ubique, et non solum ad finitimos, verum ad longe remotos populos diffusus est sonus loquacitatis eorum, et in omnem terram sparsere deceptiones et fallacias ipsorum.²⁷² Mit dieser missio konvergiert auch die Aufteilung der einzelnen species: Verum, ut dixi, crescente numero et auctoritate novae mirandae et inauditae sectae, magnus ille collegii pater in plures, varias, et diversas species tam magnum et admirabile sacerdotium divisit sicut factum vidimus in Ecclesia Sancta Dei, quae quantum abundet variis religionibus distincto habitu et ritibus, mirabile dictu, D[ominationi] T[uae] non latet: ita ille, ne magnae rei et perdifficilis aliqua esset confusio, in plures species, ut dixi, divisit, quarum primi dicti sunt Biantes, secundi Felsi…²⁷³

 Vgl. Kapitel 9.  Explizit ist die Nennung der artes außerdem bei den Biantes, als deren Erfinder (huius artis inventorem) Bias von Priene gesehen wird. Vgl. Camporesi: Vagabondi, S. 191 und weiter S. 197, 200, 205, 208, 210, 215, 218, u. ö.  Vgl. v. a. Camporesi: Vagabondi, S. 187.  Camporesi: Vagabondi, S. 190.  Camporesi: Vagabondi, S. 190; Übers. P. R.: ‚dass überallhin und nicht nur zu den Nachbarn, sondern auch zu weit entfernten Völkern der Klang ihres Geschwätzes getragen würde, und dass sie in allen Ländern ihre Täuschungen und Lügen verbreiten.‘  Camporesi: Vagabondi, S. 190 f.; Übers. P. R.: ‚Als aber wie gesagt die Zahl und der Einfluss dieser neuen, erstaunlichen und ungehörten Sekte zunahm, teilte jener große Vater der Gemeinschaft die so große und bewundernswerte Priesterschaft in mehrere, verschiedene und unterschiedliche Erscheinungsformen, wie wir es in der Heiligen Kirche Gottes sehen, bei der Eurer Exzellenz nicht verborgen sein dürfte, welch geradezu erstaunlichen Überfluss sie an verschiedenen Anbetungsformen hinsichtlich Auftreten und Ritus hat: So teilte sie jener wie gesagt in verschiedene Erscheinungsformen ein, damit auch keine große Verwirrung über die wichtige Angelegenheit entstünde: die ersten von ihnen wurden Biantes genannt, die zweiten Felsi…‘

114

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Die einzelnen Erscheinungsformen der Cerretani sind also ein Kontrastbild der kirchlichen Gemeinschaft, es sind inverse Mönchsorden.²⁷⁴ Einzelne dieser Gruppierungen nehmen nun auch in ihrer Betrugstechnik kirchliche Praktiken wieder auf, um an Geld zu kommen. Drei davon will ich im Folgenden als Beispiel anführen: Die Spectini führen verkleidet als Priester (sacerdotali veste indutos)²⁷⁵ liturgische Rituale durch, die jedoch magischen Praktiken ähneln. Als Exempel wird ein Geschehnis um die Cerretani Nardus aus Trepozzi und Tasca aus Vallo di Nera berichtet. Diese bitten leichtgläubige Frauen zuerst um Stoffe für den Altarschmuck des heiligen Antonius²⁷⁶, werden dann jedoch von den Hausherren als Hochstapler enttarnt und müssen zu einer anderen List greifen. Sie schüren einen Schwelbrand im Stoffbündel, geben die Tuche zurück und verabschieden sich mit Verweis auf das Feuer des Hl. Antonius: „Deus quod fecisti in bonam tibi vertat fortunam; verum nos timemus ne praecibus Beati Antonii, cuius formidandam potestatem tu non es veritus, male vertat, et ipsius furenti igne te et tua exurat.“ ²⁷⁷ Als der Brand dann ausbricht, werden die beiden Gauner schnell zurückgeholt und zur Besänftigung des Heiligen mit Gaben überhäuft. Ein gewisses liturgisches und religiöses Grundwissen ist – zumindest für ein erfolgreiches Auftreten der Spectini – durchaus notwendig, jedoch kein theologisches Studium. Vor allem der Verweis auf den Heiligen Antonius ist durch die allgemeine Präsenz des Ergotismus auch in der Gaunerliteratur weit verbreitet, v. a. durch das Vortäuschen der Krankheit, z. B. bei den acapones im Speculum Cerretanorum ²⁷⁸ und dem ‚Grantner‘ und ‚Burckhart‘ des Liber Vagatorum. ²⁷⁹ Bei den Affrates steckt die Inversion klerikaler Strukturen bereits im Namen, da sie ‚benannt sind nach a, d. h. ohne und fratres (Brüder), also gewissermaßen ohne Bruderschaft.‘²⁸⁰ Ihre Technik basiert auf der Verkleidung, die es ihnen ermöglicht, gegen Bezahlung Beichten zu hören, Absolution zu erteilen und Messen zu feiern. Der Erzähler berichtet aus eigener Erfahrung von deren Techniken.

 Zu Gaunerliteratur und Gegengesellschaften vgl. Kapitel 5.3. Zur Invertierung von monastischen Strukturen vgl. Kapitel 9.1.  Camporesi: Vagabondi, S. 214.  Es handelt sich um Antonius den Großen, dessen Gebeine in der Abbaye de Saint-Antoine in Vienne ruhten. Es gab im 15. Jahrhundert in ganz Europa (auch in Italien) fast 370 Klöster und Spitäler des Antoniter-Ordens, der im 11. Jahrhundert wegen der epidemischen Verbreitung der Mutterkornvergiftung/Ergotismus (Ignis sacer oder ‚Antoniusfeuer‘) gegründet wurde. Spenden für die Armenund Krankenpflege waren üblich. Vgl. Adalbert Mischlewski: Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts (unter besonderer Berücksichtigung von Leben und Wirken des Petrus Mitte de Caprariis). Köln 1976, v. a. S. 30 f.  Camporesi:Vagabondi, S. 216; Übers. P. R.: ‚Gott, du mögest alles zum Guten wenden; wir fürchten aber, dass er es auf Bitten des Hl. Antonius, vor dessen fürchterlicher Macht du keine Ehrfurcht hast, zum Bösen wenden wird und du und all dein Gut in seinem eigenen rasenden Feuer vergeht.‘  Camporesi: Vagabondi, S. 206 f.  Kluge: Rotwelsch, S. 42 f. und 50.  Übers. P. R. aus Camporesi: Vagabondi, S. 197: dicti sunt ab A, quod est sine, et fratres quasi sine fraternitate.

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

115

Die Falpatores schließlich nehmen weniger die Gestalt eines Priesters, sondern mehr eines Gelehrten an, womit sie zumindest im weiteren Sinne an die klerikale Sphäre anschließen. Sie werden auch als magistri artium bezeichnet und ihr Name abgeleitet von falsi palpatores, quia docent falso palpare verbis et simplices decipere.²⁸¹ Sie sind die Ausbilder der anderen Gaunertypen, da sie selbst nicht mehr reisen können und daher ‚ihre Zöglinge für den verderblichen Broterwerb ausbilden, indem sie Grammatiklehrer, Dichter, Redner, Dialektiker, Philosophen Rechtsgelehrte, Kanoniker oder heilige Theologen imitieren. Sie unterrichten nämlich nicht nur die Geheimsprache, sondern auch die Techniken und Verhaltensweisen, Unerfahrene zu täuschen‘,²⁸² wobei der Verfasser den Betrug emphatisch apostrophiert: O profunda et vetus scientia, quae temporum negligentia hominumque ignavia, cum non sit minima nec spernenda inter liberales tamen artes, nunquam reposita, ut obtineret inter eas octavum saltem locum!²⁸³ Die Technik der Gauner, die deceptio, ist also die ‚achte freie Kunst‘. Es ist nicht mehr weit zum mundus vult decipi, ergo decipiatur ²⁸⁴ der Narrenliteratur.

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren Der enge Bezug der Gaunerliteratur zu satirischen Texten,v. a. dem Liber Vagatorum und dem Narrenschiff wurde bereits angesprochen und dadurch eine gewisse Literarizität des Gaunerbüchleins betont. Für eine Präzisierung dieser Aussagen ist der literaturgeschichtliche und ‐theoretische Status satirischer und parodistischer Schreibformen zu beleuchten.

5.2.1 Gesellschaftsbilder und Traditionsverhalten in Satire und Parodie Satire und Parodie sind zwei wichtige Begriffe des literaturwissenschaftlichen Instrumentariums, sodass es unmöglich ist, auch nur ansatzweise einen Überblick über

 Camporesi: Vagabondi, S. 218; Übers. P. R.: ‚Falsche Schmeichler, da sie lehren mit Worten heuchlerisch zu schmeicheln und Einfältige zu täuschen.‘  Übers. P. R. von Camporesi: Vagabondi, S. 218: imitantes gramaticos, poetas, retores (U: rectores), dialecticos, philosophos, legistas, canonistas, sacrosve theologos, pueros suos instruunt ad perniciosum quaestum. Docent enim non solum linguam obscuram, sed artem moresque quibus decipiant imperitos.  Camporesi: Vagabondi, S. 218; Übers. P. R.: ‚Oh du weitreichende und alte Wissenschaft, welche die Nachlässigkeit der Zeiten und die Trägheit der Menschen, die, wenn sie auch nicht die kleinste und verachtenswerte unter den freien Künsten ist, dennoch niemals zu Grabe getragen wurde, sodass sie wenigstens den achten Platz einnimmt.‘  Das mittellateinische Zitat etablierte sich als geflügeltes Wort ausgehend von der Textstelle die weltt die will betrogen syn in Brants Narrenschiff, Kapitel 65 von achtung des gstirns v. 68 (S. 163). Vgl. TPMA 13, S. 58.

116

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

den Forschungsstand zu geben. Doch die beiden Begriffe sind in ihrer Definition so unbestimmt, dass eine kurze Positionierung unerlässlich ist.²⁸⁵ Der Status der Satire als ‚Literatur‘ im engeren Sinne – also die „ästhetische Dimension der satirischen Schreibart“ – ist durchaus intrikat, da „die Zweckgebundenheit gerade nicht ein ästhetischer allenfalls irritierender Nebeneffekt, sondern Hauptkonstituens jeder Satire ist.“²⁸⁶ Eine literarische Gattung ‚Satire‘ (oder zeitgenössisch eher satyra) ist von der durch Intention und Struktur gestützten Schreibform des ‚Satirischen‘ zu unterscheiden.²⁸⁷ Beide Begriffe verbindet ihr konstitutives Merkmal, sich gegen ein Objekt zu richten, welches zum Teil aggressiv kritisiert wird, und sich auf eine ideale Ordnung zu beziehen, wodurch sich die Satire von der Invektive oder der Polemik absetzt. Denn der Satire „geht es um die Wahrheit hinter der Maske, die Erkenntnis und Wiederherstellung des gestörten ordo.“²⁸⁸ Ihr liegt also eine als bedrohlich und korrekturbedürftig empfundene Wirklichkeit zugrunde. Bei der sprachlichen Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit adaptiert sie ein bestehendes Gesellschaftsbild und konstruiert eine spezifische Inversion desselben als Zerrspiegel der vorgängigen Ordnung. Dabei bedient sie sich genuin literarisch-rhetorischer Stilmittel: der Karikatur, der Hyperbel oder auch einer bildlichen Sprache in illustrierenden Anekdoten, Erzählungen und Vergleichen. Auch die äußere Form vieler Satiren weist durch die Verwendung eines elaborierten Metrums und komplexe Text-Bild-Beziehungen eine literarisch-ästhetische Dimension auf. Viele Texte nehmen aber eine Stellung zwischen den beiden Dimensionen (normativ-kritisierend und literarisch-unterhaltend) ein, wie auch der Liber Vagatorum, in dem freilich das normative Moment überwiegt. Eine ‚Definition‘ der Satire als literarische Gattung bietet auch die recht ausdifferenzierte mittellateinische Poetik. So unterteilt Vinzenz von Beauvais 1240/60 (Speculum doctrinale 3, 109) die Dichtung in sieben Bereiche, die er als Erscheinungsformen (species) und nicht als Gattungen (genera) bezeichnet – wohl auch um eine Konfusion mit den Stilhöhen der Rhetorik zu vermeiden: Habet autem poesis septem species, scilicet Comœdiam, Tragœdiam, Invectionem, Satyram, Fabulam, Historiam, Argumentum. ²⁸⁹ Dass diese Einteilung keinem strikten System folgt und der

 Die angestellten Überlegungen greifen manche Positionen aus dem zweiten Theorieteil (Kapitel 6) auf. Aufgrund der engen Verschränkung der Themenbereiche scheint eine genaue Trennung weder möglich noch sinnvoll, zumal die Lektüre des zweiten Theorieteils keine notwendige Bedingung für das Verständnis darstellt.  Barbara Könneker: Satire im 16. Jahrhundert. Epoche – Werke – Wirkung. München 1991, S. 16 f.  Vgl. Günter Hess: Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts. München 1971, S. 18 f. Dieser folgt den grundsätzlichen theoretischen Überlegungen von Klaus Hempfer, dem zufolge Schreibformen „ahistorische Konstanten“ und Gattungen „historisch konkrete Realisationen dieser allgemeinen Schreibweisen“ sind. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese. München 1973, S. 27.  Hess: Narrenzunft, S. 27.  Vinzenz von Beauvais: Speculum Quadruplex sive Speculum Maius. Bd. II: Speculum doctrinale. Graz 1965, Sp. 287. Vgl. zum Gattungssystem bei Vinzenz von Beauvais und Isidor von Sevilla: Udo

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

117

Autor durchaus Widersprüche zulassen kann, zeigt das darauffolgende Zitat Isidors von Sevilla, der die Satire als Untergattung der (neuen) Komödie ausweist: Novi, qui et Satirici, a quibus generaliter vitia carpuntur, ut Flaccus, Persius, Iuvenalis vel alii. Hi enim universorum delicta corripiunt, nec vitabatur eis pessimum quemque describere, nec cuilibet peccata moresque reprehendere. Vnde et nudi pinguntur, eo quod per eos vitia singula denudentur (Isid. orig. 8, 7, 7).²⁹⁰

Hier zeigen sich die signifikanten Eigenschaften eines mittelalterlichen Gattungssystems: Es ist an autorisierten personellen Prototypen orientiert – hier: dem Kanon aus der Antike – und pragmatisch funktionalisiert.²⁹¹ Noch mehr als in der Frühen Neuzeit entzieht sich die Satire trotz dieser Kategorien einer festen Gattungszuordnung, was dem „allgemein zu beobachtenden relativ schwachen Interesse an gattungssystematischer Definitionsschärfe“²⁹² entspricht. Demnach gilt der mittelalterlichen Poetik – abgeleitet von der (pseudo‐) etymologischen Herleitung von satura (lanx), dem bunten Obstkorb, – „thematische Vielfalt und inhaltliche Fülle als Charakteristikum der Satire“.²⁹³ Ebenso ist es „nicht zulässig, von strafender bzw. lachender Satire im Sinne einer theoretisch untermauerten Typologie zu sprechen“,²⁹⁴ da sich diese Gegenüberstellung vom Horazischen ridentem dicere verum und dem scharfen Spott Iuvenals erst später etablierte;²⁹⁵ allenfalls von einer Tendenz zur strafenden, enthüllenden Haltung der Schreibform ist

Kindermann: Gattungssysteme im Mittelalter. In: Willi Erzgräber (Hg.): Kontinuität und Transformation der Antike im Mittelalter. Sigmaringen 1989, S. 303 – 313.  Isidor von Sevilla: Etymologiae sive Origines. 2 Bde., hg. von W. M. Lindsay. Oxford 1911; Übers. P. R.: ‚Die Neuen [sc. Komödiendichter] sind auch Satiriker, von denen die Laster generell zerpflückt werden, wie Horaz, Persius, Iuvenal und andere. Sie greifen nämlich die Verbrechen von allen an und vermieden es nicht jeweils das Schlimmste zu beschreiben und die Sünden und Charakerschwächen eines jeden zu tadeln. Deshalb werden sie auf Bildern auch nackt dargestellt, weil von ihnen die einzelnen Laster bloßgestellt werden.‘  Vgl. dazu auch Kapitel 6.3.  Udo Kindermann: Satyra. Die Theorie der Satire im Mittellateinischen. Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Nürnberg 1978, S. 83.  Kindermann: Satyra, S. 31– 46. Zit. S. 36. Auch Vinzenz von Beauvais folgt dieser Definition, indem er Isidors von Sevilla Etymologiae zitiert: Saturici autem dicti, sive quod pleni sint omni facundia, sive a saturitate et copia: de quibus enim simul loquuntur; seu ab illa lance quae diversis frugum vel pomorum generibus ad templa gentilium solebat deferri; aut a satyris nomen tractum, qui inulta habent ea, quae per vinolentiam dicuntur (Isid. orig. 8, 7, 8); Übers. P. R.: ‚Sie heißen aber Satiriker entweder wegen ihrer reichlichen Zungenfertigkeit oder des rhetorischen Überflusses und der inhaltlichen Fülle: denn sie sprechen von vielen Dingen gleichzeitig. Die Ableitung ihres Namens kommt entweder von jener Schale, die gewöhnlich mit verschiedenen Sorten Getreide und Obst zu den Tempeln der Heiden gebracht wurden; oder von den Sayren, bei denen ungerächt blieb, was im Rausch gesagt wird.‘  Kindermann: Satyra, S. 84.  Zur Begriffsgeschichte ausgehend von den Satirikerkommentaren im Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts vgl. Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: DVjs 45 (1971), S. 275 – 377, v. a. S. 286 f.

118

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

zu sprechen.²⁹⁶ Doch auch dann steht „hinter der Negativ-Perspektive der Satire […] ein verborgener oder auch offen herausgestellter pädagogischer Optimismus: die Hoffnung nämlich, bei rechter Einsicht in das menschlich gesteuerte Fehlverhalten den Lauf der Welt zum Besseren wenden zu können.“²⁹⁷ Das machen u. a. die Accessus zu den Sermones des Horaz deutlich: Item nota quod hac de causa reprehendit vitia, ut dehortetur a vitiis et hortetur ad contraria, virtutes scilicet. ²⁹⁸ Satirisches Schreiben gilt also im Mittelalter als eine spezifische Form der Moraldidaxe, entbehrt jedoch nicht einer autonom-ästhetischen Komik. Es hat einerseits ein extratextuelles Zielobjekt, ist andererseits (gerade im Mittelalter) geprägt von einem „höchst artifiziell gehandhabten Rückgriff auf literarische Muster und Traditionen.“²⁹⁹ Die Satire ist also ein Konzept von „irritierender Vieldeutigkeit“,³⁰⁰ das zwischen einer (z. T. gattungsäquivalenten) Schreibform, einer moraldidaktischen Intention und einer rhetorischen Stilhöhe changiert. Diese einzelnen Dimensionen bedienen sich (wie andere Schreibformen) meist adaptierender oder parodierender Verfahren und verhalten sich zu einzelnen Traditionen. Ganz ähnlich ist es bei der Parodie.³⁰¹ Sie wurde entweder als „Textform, deren Ton und Funktion sie durch einen satirischen oder komischen Charakter sowie Verzerrung und Verkehrung der Vorlage“³⁰² bestimmt oder allgemeiner als „literarisches Verfahren“³⁰³ definiert. Die Parodie ist mithin „eine Form der intertextuellen Bezugnahme, die gleichzeitig auf der Analogie mit und auf der ausgestellten Differenz zu der Vorlage

 Vgl. Kindermann: Satyra, S. 47– 113.  Nikolaus Henkel: Gesellschaftssatire im Mittelalter: Formen und Verfahren satirischer Schreibweise in den „Sermones nulli parcentes“ (Walther 6881), im „Carmen satricum“ des Nicolaus von Bibra, in der Ständekritik von „Viri fratres, servi Dei“ (Walther 20575) und im „Buch der Rügen“. In: Thomas Haye und Franziska Schnoor (Hg.): Epochen der Satire. Traditionslinien einer literarischen Gattung in Antike, Mittelalter und Renaissance. Hildesheim 2008, S. 95 – 117, hier S. 96.  Accessus ad auctores. Bernhard d’Utrecht, Conrad d’Hirsau, Dialogus super Auctores, hg. von Robert B. Constantijn Huygens. Leiden 1970, S. 51, Z. 60 – 62; Übers. P. R.: ‚Merke ebenso, dass der Sermo deshalb die Fehler tadelt, um von diesen abzuraten und zum Gegenteil zu ermuntern, nämlich natürlich den Tugenden.‘ Der zitierte Accessus zu Horaz unterscheidet freilich zwischen satira und sermo. Demzufolge sei von satira nur dann zu sprechen, wenn jemand mit Namen getadelt werde: quamvis reprehendat hic, quod convenit satirae, tamen non vocatur satira, cum satirae sit sub certo nomine reprehendere, quod hic non fit; Accessus, hg. von Huygens, S. 51, Z. 58 – 60. Nach gegenwärtigem Sprachgebrauch aber wäre unter einer satira eher die Invektive zu verstehen, sodass eigentlich der Sermo – entgegen der mittelalterlichen Terminologie – als satirisches Schreiben bezeichnet werden muss.  Henkel: Gesellschaftssatire im Mittelalter, S. 97.  Brummack: Begriff und Theorie der Satire, S. 275.  Im Folgenden stütze ich mich auf die Aussagen in Carmen Cardelle de Hartmann: Parodie in den Carmina Burana. Zürich 2014, die das Forschungsfeld mit dem Skopos des lateinischen Mittelalters rekapituliert.  Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 17. Unter dieser Forschungslinie subsumiert sie neben Paul Lehmanns Die Parodie im Mittelalter (1923/1963) die einflussreichen Beiträge von Michail Bachtin (Rabelais und seine Welt, geschrieben 1940, erstmals auf Russisch veröffentlicht 1965, dt. Ausgabe 1987), Martha Bayless (Parody in the Middle Ages, 1996) und Gérard Genette (Palimpsestes 1982).  Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 17.

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

119

basiert.“³⁰⁴ Von einer komischen Akzentuierung wird die Parodie dabei dezidiert entkoppelt – zumal die Wirkung des Komischen oder Lächerlichen in der historischen und kulturellen Distanz allenfalls Gegenstand spekulativer Vermutung ist.³⁰⁵ Um das problematische Verhältnis von Parodie und Satire zu erörtern, adaptiert Cardelle de Hartmann literaturtheoretische Aussagen von Linda Hutcheon und überträgt diese von der Literatur des 20. Jahrhunderts auf das Mittelalter.³⁰⁶ Zentrales Moment bleibt das Zusammenspiel von Analogie und Differenz – also den beiden Strukturen der traditionalen Erneuerung (im Modus der Hypolepse).³⁰⁷ Bezugsobjekt und Vorlage der Parodie kann dabei „ein einzelner Text sein oder eine Textreihe, aus der gemeinsame Elemente (zum Beispiel charakteristische Szenen oder Figuren) aufgenommen werden.“³⁰⁸ Das Verhältnis (Analogie) zwischen parodiertem und parodierendem Text „kann in sprachlicher und stilistischer Ähnlichkeit bestehen oder inhaltlicher Natur sein, indem Stoffe, Diskurse oder Motive übernommen werden.“³⁰⁹ Die Parodie impliziert also ein spezifisches Traditionsverhalten, welches die Prätexte degradiert oder (seltener) erhöht.³¹⁰ Ein wichtiger Unterschied zu einem affirmativen Traditionsverhalten ist aber, dass die Differenz zwischen den beiden Texten explizit herausgestellt wird. Einzelne Verfahren der Parodie führt Cardelle de Hartmann – jeweils mit Beispielen aus den Carmina Burana – als „Verkehrung“, „Verschiebung“ und „ironische Distanzierung“ an.³¹¹ Parodie und Satire (oder besser das Parodistische und das Satirische) haben gemeinsam, dass es sich weniger um Gattungen handelt, sondern um „literarische Verfahren, die in verschiedenen Gattungen realisiert werden können.“³¹² Sie bedienen sich jeweils derselben Tropen und Motive, weshalb sie in mittelalterlichen Texten meist schwer zu unterscheiden sind. Oft wird die Parodie als Strategie oder Unterform

 Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 25. Durch das Verfahren der (analogisierenden) Übernahme und (differenzierenden) Verschiebung wird die Parodie ein zentrales Verfahren in der Theorie des Russischen Formalismus. So sieht Tynjanov in ihr die prädestinierte Form der Variierung im Prozess der literarischen Evolution und damit den Garanten für literarischen ‚Fortschritt‘. Vgl. Jurij Tynjanov: Dostoevskij und Gogol (Zur Theorie der Parodie). In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 51994, S. 302– 371. Diesen Grundlagen folgen auch Theodor Verweyen und Gunther Witting, wobei sie die formalistischen Axiome um die Argumente der Rezeptionsästhetik erweitern. Vgl. Theodor Verweyen und Gunther Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 1979, S. 62– 101 und 210 f.  Vgl. Tynjanov: Dostoevskij und Gogol, S. 371. Speziell für die mittellateinische Situation vgl. Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 25.  Linda Hutcheon: A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms. Urbana [New York] 2000 [1985].  Vgl. dazu Kapitel 6.3.  Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 25.  Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 25.  Vgl. Max Wehrli: Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung. Stuttgart 1984, S. 280.  Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 26 f. u. ö.  Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 40.

120

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

der Satire eingestuft. So definiert Bayless die Satire als „any form of literature, in verse or prose, which ridicules vice or folly“, die Parodie aber als „a ridiculing composition of a particular type, […] a subgenre of satire.“³¹³ Auf Grundlage von Hutcheons Überlegungen bestünde der Unterschied im Referenten und in der pragmatischen Funktion (dem Ethos) der Texte. Während die Parodie als intertextuelles Verfahren ohne ein spezifisches moralisches Ethos ausgestattet sei und daher ganz unterschiedliche Funktionen annehmen könne, habe die Satire als extratextuelles Verfahren ein moralisches Ethos, also das Ziel der moralischen Bewertung, Anprangerung und Besserung.³¹⁴ Dass sich die beiden Verfahren überschneiden können, ist offensichtlich: in der parodistischen Satire (parodic satire), die mit den Mitteln der Parodie auf ein extratextuelles Zielobjekt abzielt, oder der satirischen Parodie (satiric parody), die die gesellschaftliche Dimension (z. B. die Produktionsbedingungen oder Konventionen) des parodierten Textes einschließt.³¹⁵ Gerade die mittelalterlichen (v. a. mittellateinischen) Verhältnisse sind für eine Verschränkung der beiden Verfahren prädestiniert, da sich weite Teile der offiziellen Kultur auf autoritative Muster stützten, die ihrerseits traditionsprägend sind; z. B. in der Theologie, der Liturgie oder dem kirchlichen und römischen Recht. Gesellschaftssatire kann also als Textparodie ausgeführt sein:³¹⁶ Demnach ist die Mönchs- oder Ordensparodie, wie sie sich in den Carmina Burana vielfach zeigt, meist Parodie der (schriftlichen) Regulae (v. a. der Regula Benedicti).³¹⁷ Gesellschaftssatire, wie sie in der frühneuzeitlichen ‚Gaunerliteratur‘ begegnet, bezieht sich aber weniger auf einen konkreten diskursbildenden Text, sondern auf ein extratextuelles Gesellschaftsbild. Doch auch dieses wird (mitunter) in Texten abgebildet oder durch Texte transportiert, zumindest beschränkt sich die Sichtbarkeit dieser Gesellschaftsbilder bei Rezipienten in räumlicher und zeitlicher Distanz (z. B. modernen Wissenschaftlern) auf diese verschriftlichten Repräsentationen. Dass diese in einem spezifischen Kontext entstanden sind, ist freilich bei der Interpretation zu beachten.

 Martha Bayless: Parody in the Middle Ages. The Latin tradition. Ann Arbor 1996, S. 5. Ähnlich auch Helga Schüppert, die die Parodie als „Einkleidung […], um besondere satirische Wirkung zu erreichen“, interpretiert. Helga Schüppert: Kirchenkritik in der lateinischen Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1972, S. 185.  Vgl. dazu Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 40.  Vgl. Hutcheon: Theory of Parody, S. 62 f. Vgl. dazu auch Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 41. Auf ganz ähnlichen Überlegungen basiert auch die Unterteilung in „textual parody“ und „social parody“ in Bayless: Parody, S. 3.  Vgl. Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 41.  Vgl. dazu die Kapitel 7.3 und 9.1.2.

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

121

5.2.2 Der Fahrende Schüler als Narr Dass das Satirische in der Textgattung der Bettlerkataloge spezifischen Zielen im Zusammenhang mit dem Armutsdiskurs folgt, habe ich bereits deutlich gemacht. Für die Integration mobiler Studentenfiguren in dieser Textsorte gibt es aber noch weitere Gründe. Denn die Denunzierung des jungen Scholaren als ‚Kammesierer‘ geht einher mit einer allgemeinen Abwertung des Studiums, was unter anderem aus der zunehmenden Popularisierung der Universität und dem Verlust des kirchlichen Wissensmonopols ab dem Ende des 14. Jahrhunderts resultiert. Durch zahlreiche Neugründungen, v. a. auch nördlich der Alpen, und einer damit verbundenen Verdichtung der Universitätslandschaft wächst mit der Anzahl der Immatrikulierten nicht nur das Wissen der Universitäten, sondern auch das Wissen über diese.³¹⁸ Diese Ausweitung des Erfahrungsraumes geht jedoch mit negativen Ereignissen einher, was zu einer zunehmenden „Skepsis des ‚Normalmenschen‘ gegenüber der immer stärker werdenden Tendenz, Wissensbestände an obrigkeitlich approbierte Experten zu delegieren“,³¹⁹ führt. Besonders deutlich wird diese Tendenz durch die Etablierung des Sprichworts ‚Die Gelehrten, die Verkehrten‘ ab dem 15. Jahrhundert.³²⁰ Der Fahrende Schüler bewegt sich demnach zwischen den beiden Sphären, zwischen Doktorhut und Bettelstab. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Untersuchung dreier Texte als bester Beispiele, der Narrenschiffpredigten des Straßburger Münsterpredigers Johannes Geiler von Kaysersberg, des lateinischen allegorischen Epos Triumphus Veneris von Heinrich Bebel und der Narrenbeschwörung von Thomas Murner. Alle diese Texte sind um 1500 im deutschsprachigen Südwesten entstanden.

Johannes Geiler von Kaysersberg: Die Narrenschiffpredigten (gehalten 1498/1499, gedruckt 1510) Der arme Schüler markiert in den Predigten Geilers von Kaysersberg, die er als Reaktion auf Brants Narrenschiff gehalten hat, eine positive Ausnahme der ‚Bettel-Narren‘. Er bezieht mit diesem Hinweis Aspekte der sozialreformatorischen Diskussion, auf die Sebastian Brant nicht explizit rekurriert, in seine Predigt ein. Im 63. Narrenschiff-Kapitel Von bettleren kommen keine Schüler vor, hingegen widmet Brant dem  Diese Zeit (1380 – 1500) beschreibt Peter Moraw als das „national-regionale Zeitalter“ der mittelalterlichen Universität. Vgl. Moraw: Der Lebensweg der Studenten, S. 248 – 253.  Frank Rexroth: Die Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Zur Einführung. In: Frank Rexroth (Hg.): Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Ostfildern 2010, S. 7– 14, hier S. 12. Vgl. weiter dazu Frank Rexroth: Expertenweisheit. Die Kritik an den Studierten und die Utopie einer geheilten Gesellschaft im späten Mittelalter. Basel 2008.  Carlos Gilly: Das Sprichwort „Die Gelehrten, die Verkehrten“ oder der Verrat der Intellektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung. Florenz 1991, S. 233 – 237. Zur Gelehrtensatire auch Marian Füssel: Die Experten, die Verkehrten? Gelehrtensatire als Expertenkritik in der Frühen Neuzeit. In: Björn Reich, Frank Rexroth und Matthias Roick (Hg.): Wissen, massgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. München 2012, S. 269 – 288.

122

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

‚Studier-Narren‘ eine eigene Sektion unter dem Titel von unnutzem studieren (27. Kapitel, Abb. 5).³²¹ Zum Narren wird der Lernende jedoch nicht aufgrund seiner materiellen, sondern seiner moralischen Prekarität: Denn so sie soltten vast studieren So gont sie lieber bbelieren Die jugent acht all kunst gar kleyn Sie lernent lieber yetz alleyn Was unnütz und nit fruchtbar ist (S. 69 f.)

Neben Müßiggang und unnützem Wissen prangert er die Erfolglosigkeit des Studenten und seine Verschwendung des elterlichen Besitzes an. Brant konnotiert mit dem Müßiggang aber eindeutig auch den Besuch verschiedener Hochschulen und damit die räumliche Unbeständigkeit der Studenten: So sint wir z Lyps/ Erfordt/ Wyen Z Heidelberg/ Mentz/ Basel / gstanden Kumen z letst doch heym mit schanden Das gelt das ist verzeret do (S. 70)

Die Berufsaussichten reduzieren sich schließlich auf das Druckereigewerbe und die Gastronomie, zwei gerade bei Brant deutlich negativ gesehene Berufssparten: Der truckerey sint wir dann fro Und das man lert vfftragen wyn Das vß wurt dann eyn henselyn (S. 70)

Geiler von Kaysersberg greift die genannten Aspekte des Prätexts in seinen Predigten auf, erweitert sie jedoch beträchtlich. Bevor ich näher auf den Text selbst eingehen kann, ist es nötig, einen Blick auf die intrikate Überlieferungssituation der Narrenschiffpredigten Geilers von Kaysersberg zu werfen. Der Zyklus besteht aus 137 Einzelpredigten, die er in den Jahren 1498 und 1499 auch tatsächlich in deutscher Sprache hielt und die mit zwei anderen Predigtreihen (Pilgerschaft und Schiff der Pönitenz) eine umfangreiche Trias bilden.³²² Lateinische Predigtnotizen Geilers dienten Jakob Otther als Grundlage für die Navicula, die dieser kurz nach dem Tod des Predigers 1510 mit dem bezeichnenden Nebentitel Speculum fatuorum – ein ‚Spiegel für die Narren‘ – herausgab. Trotz der postumen Veröffentlichung ist davon auszugehen, dass es sich um eine homologe (d. h. vom Prediger autorisierte und begleitete)

 Brant: Narrenschiff, S. 69 f.  Vgl. dazu Voltmer: Ein Prediger und seine Stadt, S. 984 f. Während das Ziel des ersten Zyklus, Narragonien, als Weg in die Hölle dargestellt wird, führt der Weg in den beiden anderen Zyklen – analog zu Dantes Divina Comedia – durch Buße und Reue in die Himmelsstadt Jerusalem.

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

123

Herausgabe handelt.³²³ Die deutsche Fassung wurde 1520 als Übersetzung des lateinischen Textes von Johannes Pauli, einem Schüler Geilers als Des hochwirdigsten doctor Keiserspergs narrenschiff veröffentlicht. Dabei hält sich Pauli eng an der Vorlage und neigt zum Teil sogar zu einer wörtlichen Übersetzung, auch wenn er in der Vorrede betont: den sinn für sich genomen des latins/ mer dan die wort/ wan latin zetütsch machen von wort z wort/ ist etwan unverstentlich. ³²⁴ Viele Stellen lässt er weg oder verkürzt sie, v. a. bei belegenden Zitaten und Quellenverweisen, jedoch auch bei zusätzlichen Vergleichen und Beispielen, die in die Predigten inseriert waren. Schließlich sind in der Übersetzung zahlreiche sprachliche Mängel und Verständnisfehler zu erkennen.³²⁵ Die Übersetzung Paulis wurde daher bald als unzureichend eingeschätzt, sodass Nikolaus Höniger im nahen Basel knapp 50 Jahre später den Bedarf sah, eine neue Übersetzung anzufertigen und als Weltspiegel oder Narrenschiff 1574 zu drucken. Diese unterschlägt Paulis Version und gibt auf dem Titelblatt an, dass sie „in Lateinischer sprach beschrieben/ jetzt aber mit sonderm fleiß auß dem Latein inn das recht hoch Teutsch gebracht/ unnd erstmals im Truck außgangen/ Durch Nicolaum Hoͤ niger“.³²⁶ Um eine Übersetzung im engeren Sinne handelt es sich beim Weltspiegel jedoch nicht. Zum einen bringt Höniger die Verse von Brants Narrenschiff mit den Prosapassagen Geilers zusammen, sodass diese wie ein Kommentar oder eine Auslegung des ersten Textteils wirken; zum anderen tendiert er dazu, die lateinische Version zu erweitern und zu aktualisieren. Für allgemeine Aussagen zu Veränderungen in diesem Druck ist hier nicht ausreichend Raum, jedoch kann der Vergleich der Passage vom ‚StudierNarren‘ in den einzelnen Versionen des Textes einige Tendenzen illustrieren. Die Erweiterung der Vorlage ist bei Geiler von Kaysersberg auch mit einer Binnendifferenzierung der Narren verbunden, die er anhand der Schellen (nolae) am Narrengewand vornimmt. Die Eigenschaften des ‚Studier-Narren‘ stellt er in neun Schellen dar. Inhalt der ersten bis vierten Schelle ist falsches Verhalten in den einzelnen Fachdisziplinen (Grammatik, Dialektik, Rhetorik und Poetik, Quadrivium), in der fünften Schelle kritisiert er das Vermischen von Disziplinen, in der sechsten weist

 Vgl. Voltmer: Ein Prediger und seine Stadt, S. 82– 84 auf Grundlage von Volker Mertens: Authentisierungsstrategien in vorreformatorischer Predigt: Erscheinungsform und Edition einer oralen Gattung am Beispiel Johannes Geilers von Kaysersberg. In: Editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 16 (2002), S. 70 – 85, hier S. 70.  Johannes Pauli: Des hochwirdigsten doctor Keiserspergs narrenschiff. Straßburg 1520, S. IXr.  Einen Textvergleich unternimmt Karl Fischer: Das Verhältnis zweier lat. Texte Geilers von Kaisersberg zu ihren deutschen Bearbeitungen, der ‚Navicula fatuorum‘ zu Paulis ‚Narrenschiff‘ und der ‚Peregrinus‘ zu Otthers ‚Christenlich bilgerschafft‘ nebst einer Würdigung der lateinischen Texte Geilers. Diss. Metz 1908. Zu den Auslassungen vgl. S. 36 – 43, zu den sprachlichen Fehlern, die zum Teil auf einem Nichtverstehen der lateinischen Vorlage beruhen vgl. S. 24– 36.  Johannes Geiler von Kaysersberg: Welt Spiegel oder Narren Schiff, übers. von Nicolaus Höniger. Basel: Sebastian Henricpetri 1574, Titelblatt [Herv. P. R.]. Dazu kommt im 18. Jahrhundert noch: FatuoSophia Cæsare-Montana: Das ist die Kaysersbergische Narragonische Schiffahrt, Augsburg/Dillingen a. d. Donau: Johann Caspar Bencard 1708.

124

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

er auf ein Maßhalten im Studieren hin, in der siebten kritisiert er Müßiggang und erfolgloses Studieren, in der achten eine verfrühte Karriere und in der neunten Halsstarrigkeit beim Diskutieren.Während die meisten dieser Aspekte eher Fragen des Umgangs mit dem System der Universität betreffen, stellt die siebte Schelle die Lasterhaftigkeit der Studenten heraus und gibt auch einige Tätigkeiten der Studenten als Beispiel an: In scientia et moribus non proficere. Redeunt miseri iuvenes indocti et viciosi: utique aliquando neglegentia suorum praeceptorum/ aliquin sua propria malicia. Quippe dum operam litteris dare deberent student luxurijs et alijs vanitatibus/ ludis/ spaciamentis/ crapulis/ arti gladiatorie/ saltationibus/ exercitijs virium (Geiler von Kaysersberg: Navicula fatuorum, fol. L Iv).

In der (ziemlich wortgetreuen) Übersetzung von Johannes Pauli (1520) heißt es: In kunst/ in sitten/ und in geberden/ nitt znemen unsere armen iungen/ wan ir sie ze schlen schicken/so kumen sie wider umb ungelert in kunst/ aber boßhafftiger dan vor/ da ist etwan schuldig der meister das er hinlessig ist/ etwan des iungen eigen boßheit. Sie solten studieren/ so lauffen sie den hren nach/ sie leren schirmen/ spacieren/ sie spilen/ sie springen/stein stoßen etc. (Pauli: Des hochwirdigsten doctor Keiserspergs narrenschiff 1520, fol. LXIXr).

Weiter verderben sie durch dieses verschwenderische Verhalten das Vermögen ihrer Eltern und enden selbst in einem schändlichen Beruf: Inde damna non modicia parentibus quorum substantiam vane et luxuriose consumpserunt: sed et sibi mimi/ henselini/ servitores balnearum/ si tamen non peiora sequantur (Geiler von Kaysersberg: Navicula fatuorum, fol. L Iv).

Pauli beschränkt die vanitas und luxuria auf die Verschwendung bei den Frauen und ergänzt zu der illustren Gemeinschaft der Gaukler (mimi), Possenreißer/Kuppler (henselini) und Badeknechte, die wohl als Stricher verstanden wurden (servitores balnearum), den Schmarotzer (schlecker oder lat. leccator) und – im Geiste Sebastian Brants – den bchtrucker: Da kumpt dan iren vatter und mutter groser schad/ deren gt sie unnützlich mit den frawen verzeren Sie hond aber den groͤ sten schaden wan sie wider heim kumen/ so kunnen sie nüt/ und werden bchtrucker daruß gockler/ henselin/ schlecker/ baderknecht etwan schantlichers (Pauli: Des hochwirdigsten doctor Keiserspergs narrenschiff 1520, fol. LXIXr).

Geiler schließt die Passage mit einer autoritativen Referenz ab, indem er Seneca und einen Psalm zitiert: Docet Seneca epistula xx. [moderne. Zählung Sen. ep. 108,23] quod causa quare scolastici non sunt morigerati partim est ex parte doctoris/ partim ex parte discipulorum. Aliquid (inquit) praecipientium vicio peccatur/ qui vos docent subtiliter disputare non vivere. Aliquid discentium/ qui propositum ad praeceptores affuerunt non animi excolendi sed ingenium.Vult dicere/ quae hec sola est intentio scolasticorum conitur ingenium colere per scientiam/ non autem animum per virtutes.

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

125

sed talem animum non tenuit. Psal. [118,66] qui dicit Bonitatem et disciplinam et scientiam doce me: ut ait [Robert] Holkot lectio lxxxi. A. (Geiler von Kaysersberg: Navicula fatuorum, fol. L Iv).

Auch Pauli führt Seneca und König David als Autoritäten an, die gelehrte Quellenangabe wird aber unterschlagen: von denen schreiber Seneca Vil meister leren ire schler künsten in dem hirn dar durch ir gemüt gespeiset würt/ aber nit tugent darin ir gemüt gebessert würt. Davit bat gott nit also/ aber er sprach. bonitatem et disci et scientiam doce me (Pauli: Des hochwirdigsten doctor Keiserspergs narrenschiff 1520, fol. LXIXr).

Dieses Verfahren wiederholt sich an anderer Stelle (v. a. bei der ersten Schelle) und ist wohl auf den veränderten Adressatenkreis zurückzuführen, der sich vom gelehrten Lateinkundigen auf Rezipienten ausweitet, für die der Verweis auf die genaue Quelle unerheblich ist. Die Version von 1574 intensiviert diese Tendenz der Streichung gelehrter Autoritäten. Ebenso verfährt sie bei Elementen, die den Text als lebensweltliche Warn- und Lehrschrift ausweisen. Um die Untaten des ‚Studier-Narren‘ eindringlicher zu vermitteln, wird dessen lasterhafter Tagesablauf plastisch und wesentlich umfangreicher auserzählt: Dann wann man vermeint sie solten Studieren/ so lernen sie Hoffieren. Ziehen von einer Mitternacht zu der anderen mit Lauten/ Geigen/ Harpffen/ Zittern und Pfeiffen/ herumb zu löfflen und vagieren/ und werden also des nachts voll und tholl/ darnach mögen sie des morgens nit studieren/ stehen etwann umb die zehen uhr auff/ darnach legen sie sich ein stund an/ nachmals gehn sie ein stundt spatzieren biß es essens zeit wirt/ als dann gehn sie zu dem Tisch/ und wann sie uber den Tisch kommen rmet einer dem anderen wie er seinem holderstock [Holunderstock; elsässisch: Liebling] und Keterle diese nacht hab gelöfflet/ darnach fangen sie an sauffen einander zu/ und welcher dann am besten sauffen mag der wirt Magister oder Doctor. Wann nun das mittag mal ist verzert/ ziehen sie herumb schrantzen/ tretten jrem Elsele für die thür/ und stehn vor ir ein stund oder zwo zu knippen und zu knappen biß es schier nacht essens zeit wirt. Oder uben sich nach dem Mittagmal in solchen ehrlichen künsten/ inn dem ballenschlagen/ fechten/ tantzen und springen und wirt etwann under hundert nicht einer gefunden der inn die Lection gieng/ und höret waz im da profitiert wird. Also bringen sie den tag biß man wider zum nacht essen gehet/ da rümen sie dann abermals was sie des tags studiert haben/ nemlich wievil er mit balenschlahen gewonnen hab/ und wievil casus er allein hab geschlahen. Item wie er auff der Fechtschul disem unnd jenem Beltzschmid ein kappen versetzt hab/ das im der rot safft uber den kopff abgeloffen sey. Item wie er mit seinem Ursele getantzt hab/ und wie sie so weiche händlin/ schwartze öuglin habe. Und wie hurtig es seye im herumb schwencken. Mit disen und andern stucken mehr volbringen sie den tag und die Maalzeiten/ als dann fahren sie wider an gassaten zu gehn [nachts um die Häueser zu ziehen]/ und so sie inn der vorigen nacht etwann einer nicht gelöfflet haben/ so thun sie solches dise. Dises ist unserer jetzigen Studenten der mehrertheil studieren/ darinn uben sie sich / das sein jre Tischred und Disputationes/ so sie auff den Hohenschulen treiben.³²⁷

 Geiler von Kaysersberg: Welt Spiegel, übers. von Höniger, fol. 98v f.

126

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Die Studenten werden im 16. Jahrhundert mithin als privilegierte Gruppe wahrgenommen, da sie es sich leisten können – auf Kosten der Eltern – den Tag ohne (körperliche) Arbeit zu verbringen. Doch anstelle des Lernens beschäftigen sie sich nur mit Gelagen, Liebschaften, Händeln, Sport oder bleiben gänzlich untätig. Die Folgen dieses Verhaltens sind im Weltspiegel ganz ähnlich wie in den älteren Versionen der Narrenschiffpredigten. Jedoch wird die Mobilität der gescheiterten Studenten explizit hervorgehoben: „Diese ziehen nachmals (wann sie der füllerey gewohnet haben) inn dem land herumb/ der ein wirdt ein Gauckler/ oder spilmann der ander ein thellerschlecker […]“.³²⁸ Außerdem nennt der Weltspiegel den verlotterten Studenten einen „faulen Bachanten oder unnützen Studenten“ und verwendet damit eine Bezeichnung, die am Anfang des 16. Jahrhunderts erstmals belegt ist und sich ab der Mitte des Jahrhunderts weiter verbreitet.³²⁹ Zusammenfassend lässt sich zum Gehalt des Narrenschiffs und seiner Bearbeitungen für eine Beschreibung des devianten Studenten Folgendes festhalten: In der satirischen Darstellung einzelner Stände, Gruppen und Verhaltensweisen ist er weitgehend durch sein Fehlverhalten im Rahmen der universitären Ausbildung gekennzeichnet: zum einen durch Faulheit und Verschwendungssucht (7. Schelle), zum anderen durch übertriebenen Ehrgeiz und Arroganz (8. und 9. Schelle). Obwohl der soziale Abstieg als Folge des Fehlverhaltens als Möglichkeit am Horizont aufscheint, sind die Themen der Gaunerliteratur nicht relevant. Der Bettelstab erscheint zwar als mögliche Folge des Handelns, ist jedoch nicht konstitutiv für diese Narrengruppe. Weiter zeigt sich die Tendenz einer semantischen Differenzierung in die ‚StudierNarren‘ als eine sozial privilegierte Gruppe, die vor allem durch ihr unmoralisches Verhalten (v. a. die Todsünden luxuria, gula, superbia, ira und acedia) festgelegt ist, und die armen Schüler als ‚Bettel-Narren‘ und Teil einer sozial marginalen Gruppe, die sich durch Almosenheische und Hochstapelei über Wasser hält. Allenfalls am Rande wird die Bettelarmut als Folge unmoralischen Verhaltens thematisiert.

Heinrich Bebel: Triumphus Veneris (1509) Das satirische Epos Triumphus Veneris von Heinrich Bebel pointiert diese Zweiteilung. Am Anfang und am Ende spannt der Text als diegetischen Rahmen einen allegorischen Krieg der Venus gegen die Virtus in Analogie zur spätantiken Psychomachia auf.³³⁰ Gleichzeitig steht das Epos in Beziehung zu anderen allegorischen Texten wie dem Roman de la Rose (13. Jh.), Boccaccios Amorosa Visione (~1343) und vor allem Petrarcas Trionfi (1341– 1374; v. a. dem Trionfo d’Amore). Drei zentrale Unterschiede bei Bebel sind jedoch, (1) dass es sich um keine introspektive Verhandlung der conditio humana handelt, sondern um eine soziale Satire, (2) dass Venus demnach nicht  Geiler von Kaysersberg: Welt Spiegel, übers. von Höniger, fol. 99r f.  Geiler von Kaysersberg: Welt Spiegel, übers. von Höniger, fol. 97r. Die Herkunft von ‚Bacchant‘ ist nicht geklärt. Vgl. dazu die Worterklärungen am Anfang von Kapitel 8.  Vgl. Hess: Narrenzunft, S. 281.

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

127

als Personifikation der Liebe, sondern als Patronin aller Laster und Gegnerin der Tugenden und Gottes auftritt und es (3) am Ende dem satirischen Gestus folgend keine – im moralischen Sinne – positive Wendung gibt.³³¹ Ausgangspunkt der Handlung ist eine Klage der Venus. Sie beschwert sich in einem als frühlingshaftem locus amoenus stilisierten Setting darüber, ihre Machtansprüche über die Menschen aufgrund der andauernden Fastenzeit zu verlieren (I, 1– 122). Ihr Sohn Amor will der verängstigten Mutter helfen und eilt davon, um mit dem Ausheben eines Heeres zu beginnen. Während Venus mit ihrer Amme Luxuria und ihrer Mutter Superbia Rat hält (I, 123 – 229), rückt er mit einem Heer an, sodass die Zurückgebliebenen in Angst geraten: dum loquerentur adhuc siduntque ex ordine divae, ecce, Cupido venit legionum millia mille ducens, qui complet silvas et rura catervis. diriguere metu subito Venus atque puellae credentes pavidae iam castra inimica videre. (I, 247– 251)³³²

Daran schließt sich der Hauptteil des Triumphus Veneris an, der ‚Truppenkatalog‘ der Venus (I, 257–V, 310) – dazu später mehr. Im letzten Buch wechselt die Fokalisierung zum Heer der Virtus. Zu den zahlreichen allegorischen ‚Heerführern‘ (Sobrietas, Pudor, Patientia, Iustitia, Aequitas, Pietas, Concordia, Honestas, Modestia, Fides, Spes) kommen jedoch nur sehr wenige ‚Soldaten‘, v. a. Greise, einige Geistliche und Bauern (VI, 1– 11). Auch als Spes die ‚Hoffnung‘ nicht aufgibt und versucht, durch das Versprechen des ewigen Lebens und der ewigen Freude im Himmel Unterstützer zu gewinnen (VI, 13 – 45), kann sie die Situation nicht ändern. Sie kehrt erfolglos zurück und rapportiert, dass die Welt frei von tugendhaften und übervoll von lasterhaften Menschen sei. Dieser Befund deckt sich mit dem in der Narrenliteratur häufig zitierten Bibelvers: perversi difficile corriguntur et stultorum infinitus est numerus (Koh/Ecc 1,15). Durch die Aufnahme gattungshistorischer Bauformen des Versepos – der Aufmarsch erinnert beispielsweise an die Heereskataloge und Aristien des carmen heroicum ³³³ – wird die satirische

 Vgl. zur Triumphidee im italienischen Trecento Alexandra Ortner: Petrarcas Trionfi in Malerei, Dichtung und Festkultur. Untersuchung zur Entstehung und Verbreitung eines florentinischen Bildmotivs auf cassoni und deschi da parto des 15. Jahrhunderts. Weimar 1998, S. 34– 60.  Alle Übersetzungen aus dem Triumphus Veneris beruhen auf Heinrich Bebel: Triumphus Veneris. Ein allegorisches Epos von Heinrich Bebel, hg., übers. und komm. von Marcel Angres. Münster, Hamburg, London 2003 (Übers. im Folgenden: M. A.): „Während die Göttinnen noch sprechen und sich in eine Reihe setzen, siehe, da kommt an der Spitze Abertausender von Legionen Amor, der Wälder und Fluren mit seinen Truppen anfüllt. Sofort erstarren vor Angst Venus und die ängstlichen Mädchen, weil sie glauben, schon das feindliche Lager zu sehen.“  Vgl. zum Beispiel die berühmten Szenen aus Vergils Aeneis: Heldenschau (VI, 752– 892), Schildbeschreibung (VIII, 626 – 731) und die Heereskataloge (VII, 641– 817 und X, 166 – 214). Vgl. weiter Hess: Narrenzunft, S. 282.

128

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Schreibweise um eine literaturhistorische Dimension erweitert. Die Spielformen der Lasterhaftigkeit werden parodistisch zu epischen ‚Helden‘ stilisiert. Der Ausgangssituation entsprechend unterliegt die Virtus, da ihr kleines Heer vor den Truppen der Venus die Flucht ergreift (VI, 81– 117). Sie selbst kehrt zurück zu Gott, dem sie ihr Leid klagt. Dieser plant der Menschheit die ira Dei zu demonstrieren und sie durch Plagen (Seuchen, Kriege, Irrlehrer, Sintflut) auszulöschen (VI, 118 – 231), wird jedoch von der Misericordia und Maria als mediatrix von seinem Plan abgebracht. Endlich entschließt er sich, nur unheilvolle Vorzeichen zu senden (VI, 232– 288) und zu prophezeien, dass seine Strafe die Nachfahren treffen werde: heuheu, nostra quidem sententia firma manebit, sentiet atque malum, quod nec videre parentes, posteritas scelerum variis peritura ruinis. (VI, 286 – 288)³³⁴

Diese Inszenierung einer zweiten Erbsünde, welche Indiz der als bedrohlich empfundenen Epochenerfahrung ist, steht in starkem Kontrast zur abschließenden orgiastischen Triumphfeier der Venus und ihres Gefolges. Diese selbst aber bleibt vorsichtig, und so endet das Epos mit den warnenden Worten: Nec secura satis prudens nec frangier unquam rebus in adversis Virtutes atque periclis, fortius afflictas sed surgere in arma sorores. quid tandem fiat, non est praedicare tutum.³³⁵

Die abschließende Vorsicht der Venus scheint auch als Appell an den (tugendhaften) Rezipienten gerichtet, dass es nämlich nicht unmöglich sei, sich gegen diese Laster zu wehren. Ex negativo – wie für Ständesatiren üblich – dient der Text so der Moralisierung, die Bebel selbst in einem Brief vom 9. Mai 1505 als Werkintention angibt. Triumphum Veneris sex libris heroico carmine descriptum, ubi mira et nova et iucunda inventione mores hominum taxantur; afferuntur enim ibi causae tantorum bellorum per Germaniam et alibi, item causae famis, pestilentiae, morbi Gallici et similium adversitatum, quibus iam multis annis mundus tam graviter est vexatus.³³⁶

 Übers. M. A.: „Ach weh, mein Entschluß jedenfalls wird unerschütterlich bleiben, und eine Strafe, welche die Urheber der Vergehen nicht gesehen haben, werden die Nachfahren zu spüren bekommen, welche in mannigfaltigen Stürzen zugrunde gehen werden.“  Bebel: Triumphus Veneris. Lib.VI, vv. 304– 307; Übers. M. A.: „Weder bin ich, Venus, ausreichend geschützt, noch sehe ich vorher, ob die Tugenden durch Gefahren und widrige Umstände[n] jemals gebrochen werden und ob die Schwestern sich nicht, gerade weil sie schwer heimgesucht sind, noch tapferer zum Kampf erheben werden. Was letztendlich geschieht, kann man nicht mit Sicherheit vorhersagen.“  Brief Bebels an Benedikt Farner. In: Commentaria Epistolarum Conficiendarum Henrici Bebelij Iustingensis Poetae […], Straßburg: Johann Grüninger 1506, fol. 173v–175v, hier fol. 175r f. Ed. nach der Ausgabe Pforzheim: Thomas Anselm 1508, hier fol. E9v mit Übersetzung von Marcel Angres in Bebel: Triumphus Veneris, S. 15 f.: „der in einem Epos von sechs Büchern geschilderte ‚Triumph der Venus‘, in

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

129

Die einzelnen ordines, welche im revuehaften Aufmarsch der ‚Truppen‘ vorgestellt werden, sind gemäß den Regeln der Satire zum einen karikierte Missstände der eigenen Welt, zum anderen topische Negativierungen eines normativ richtigen Verhaltens. Die vier Bücher spiegeln die Grobeinteilung in verschiedene Stände/Gesellschaftsgruppen: die Bettler (de mendicis, lib. II), Kleriker (Papa cum sacerdotibus, lib III), weltlichen Stände (nobilitas, ordo civium und milites et lancearii, lib. IV) und Frauen (Foemineus Sexus) sowie Bauern (Rustici, beide in lib.V). Im Gegensatz zu einer Klimax-Struktur, wie sie in epischen Truppenkatalogen eher üblich ist, wird die wichtigste Gruppe für das Heer der Venus an den Anfang gesetzt. Zusätzlich zu einer Inversion des Heldenepos gewinnt der statische Ständeaufbau ein dynamisches Moment, indem die erstgenannte Gruppe der Venus am nächsten, der Virtus aber am fernsten ist. Die Bettler stehen an der Spitze des Venus-Heeres: […] vix est hominum proclivior ullus in mea castra, nec est proles numerosior ullus, […] unde supremus honos merito decernitur illis. progredere iccirco turba comitante, sodalis, mendice, atque audens strictis mucronibus adsis, mollibus aut armis potius mea castra subito! (II, 105b f. und 112– 115)³³⁷

Diese Vorrangstellung der Bettler können auch die folgenden Stände nicht umstürzen. So entgegnet Venus den entrüsteten Geistlichen, die sich selbst an erster Stelle sehen, dass ihr Beschluss unumstößlich sei.³³⁸ In der Dankesrede des Anführers der Bettler, der als signifer […] procero corpore vastus | […] horribili vultu laceris et amictus | vestibus, ut mos est vel cuncta vorantis egeni (II, 30 – 32)³³⁹ beschrieben ist, bedient sich Bebel eindeutig der Muster der ‚Gaunerliteratur‘. So nennt sich der signifer selbst einen besonders würdigen Bettler, gibt sich als weitgereisten, pilgernden Bruder des Michaelsordens aus, gibt aber gleichzeitig an, dass er in Wahrheit nur umherreise, um die Menschen zu betrügen, auszurauben und die

dem mittels einer seltsamen, neuartigen und unterhaltsamen Fiktion die Sitten der Menschen getadelt werden; dort werden nämlich die Gründe für die so großen Kriege in Deutschland und anderswo angeführt, ebenso die Gründe für Hungersnot, Pest, die Französische Krankheit [Syphilis] und ähnliche Leiden, durch welche die Welt schon viele Jahre so heftig gequält worden ist“ [Herv. P. R.].  Übers. M. A.: „kaum einer der Menschen strebt mehr in mein Lager, noch hat irgendwer eine zahlreichere Nachkommenschaft. […] Daher wird jenen zu Recht die höchste Ehre zugewiesen. Daher, Bettler, rücke vor mit der dich begleitenden Schar, und sei als kühner Kamerad mit gezogenem Schwert zugegen, oder betrete vielmehr mein Lager mit sündigen Waffen!“  sic stat sententia nostris, quam renuisse pudet, nec, si volo, rumpere possum. (III, 12b f.); Übers. nach M. A.: „So ist es für die Unserigen beschlossen; diesen Beschluß zurückzuweisen, schäme ich mich, noch könnte ich ihn, auch wenn ich wollte, brechen.“  Übers. M. A.: „der Fahnenträger, ungeschlacht, hoch gewachsen, mit einem schrecklichen Antlitz und mit zerrissenen Kleidungsstücken bekleidet, wie es bei den Bettlern Sitte ist, die aber auch alles auffressen.“

130

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Frauen zu entehren (II, 129 – 144). Damit vereint er Eigenschaften des ‚Calmierers‘ (falschen Pilgers), des ‚Kammesierers‘ (falschen Geistlichen)³⁴⁰ und anderer Bettlertypen, z. B. des ‚Grantners‘ (II, 164– 174) und ‚Klenckers‘ (II, 175 – 179).³⁴¹ Es folgt ein Abschnitt über die ‚gelehrten Bettler‘. Dieser gliedert sich in drei Abteilungen, die in margine ausgewiesen sind als Scholastici vagantes et mendicantes (II, 207– 230), Rusticae puellae (II, 231– 246) und Stationarii mendici (II, 247– 268). Die Passage beginnt mit einer allgemeinen Darstellung der ungebundenen Mobilität der entlaufenen Studenten, welche als Teil eines ‚Vagantenordens‘³⁴² und Sprecher einer Geheimsprache (Rotwelsch?) apostrophiert werden: desertis studiis iamque orta, scholastica plebes, per cunctos pagos, cunctas cursura per urbes ordine sub proprio vocitat sese esse vagantum, quod mendicando totumque vagentur in orbem nudi atque extorres proprio semone loquentes, quem sibi finxerunt, ne plebs intellegat exlex nequitias, fraudes, mendicia, furta, rapinas et cum spurcitiis veneris periuriam, luxum. (II, 207– 214)³⁴³

Im Folgenden schreibt der Text ihnen die stereotypen Eigenschaften des ‚Kammesierers‘ zu. Dieser erbitte vom Bauern zur Finanzierung seiner klerikalen Ausbildung Gaben und täusche diesen durch sein rudimentäres Latein: sed, quantum sceleris patrent, horribile dictu; in rogitando tamen non est submissior ullus: hii cum vix possint tria dinumerare latina verba nec aspirent ullum contingere honorem

 Vgl. Kapitel 5.1.4. Außerdem Kluge: Rotwelsch, S. 49/41 f. Zum Michaelsorden vgl. LexMA 2 (1983) S. 740 f.  Vgl. Kluge: Rotwelsch, S. 42 f. und S. 40. Es fällt v. a. die Parallele der von einem Gerichteten gestohlenen Gliedmaßen auf, die zur Täuschung genutzt werden. Im Liber Vagatorum heißt es: Z Schletstat saß einer vor der kirchen der selb het einem dieb einen schenckel an dem galgen ab gehawen und het in für sich gelegt, und het seinen gten schenckel vff gebunden…, im Narrenschiff S. 163 heißt es: der byndet […] | eyn gerner beyn jn die schlucken. Im Triumphus Veneris wird dieser Frevel noch gesteigert, indem es heißt, das Bein sei von einem Gekreuzigten: alter de cruce suspendi sibi crura resectat | proque suis miro ingenio supponit et illis | insidias vetulae nummis locat ante se ratis (II, 175 – 178); Übers. M. A. „Ein anderer, außerordentlich kluger, schneidet die Beine eines am Kreuze Hängenden ab und streckt diese anstelle der eigenen hervor und stellt den Münzen des alten Weibes durch jene vor ihm liegenden als echt erkannten eine Falle.“  Mehr dazu in Kapitel 7.3.  Übers. M. A.: „Nachdem die Studien im Stich gelassen, und nun das Laufen durch alle Gaue, durch alle Städte begonnen hat, ruft das Scholastenvolk laut aus, es gehöre zum eigenen Orden der Vaganten, weil sie heimat- und mittellos bettelnd auf dem ganzen Erdkreis herumzögen und dabei in einer eigenen Sprache redeten, welche sie für sich eigens ersonnen hätten, damit das der Gesetze nicht kundige Volk die Verschwendung, Betrügereien, Lügen, Diebstähle, Räubereien, die Genußsucht und die Meineide zusammen mit der Unreinlichkeit der körperlichen Liebe nicht erkenne.“

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

131

clericulos iactant se, Simplicitatis alumnis, agricolis tantaque et paupertate gravari hactenus, ut nequeant sacris operarier almis atque sacerdotes sacrari. „tristis egestas et, quo mercamur sacra, Romam, altaria, coelum, impediat nummus?“ sibi dum patrimonia desint, subsidium hinc rogitant flentes et supplice voce. rusticus, o facilis, quicquid servavit in arca defossi argenti, butirum, cum vestibus ova, cum Baccho Cererem hos miseratus donat abunde; namque Iovem hoc uno sperat meruisse supremum, dummodo luxuriae dedit incrementa vagantis. (II, 215 – 230)³⁴⁴

Der nächste Teil ist nicht mit dem Subjekt, sondern mit dem Objekt der Täuschung bezeichnet, der mulier rustica simplex, die der Betrüger um ihr Hab und Gut erleichtert, indem er ihr verspricht, durch seine magische Begabung ihr Leben zu erleichtern: multo plura, tamen mulier, sed rustica, simplex, porrigit occulte simul ignorante marito, quae longum de caseolis lucrata per annum est, dum vagus ornate secretam gannit in aurem nescio quem fingens Veneris de monte profectum sese hinc esse magum, possit qui daemonas atros imperio regere et compellere cuncta fateri: abdita quoque loco nummorum grata supellex thesaurusque ingens qua si tellure sepultus. promittitque lupum sese exarmare rapacem, ponat ut insidias pecori. mox vulpibus aufert carmine gallinas et sagis Thessala verba, tristificos prohibere potest hic grandinis imbres. denique se iactat mendax coeli omnia nosse; simplex hinc capitur cum munere rustica pubes. ³⁴⁵

 Übers. M. A. [Herv. und Erg. im Orig.]: „Jedoch, wie viele Verbrechen sie begehen, ist schrecklich zu sagen; dennoch ist nicht einer beim Bittstellen demütiger: obwohl sie kaum drei lateinische Wörter aufzählen können und nicht danach trachten, irgendeine ehrenvolle Stellung zu erlangen, führen sie ständig im Munde, daß sie kleine Kleriker durch die Bauern, die Zöglinge der Einfalt, und die so große Armut so sehr in Bedrängnis seien, daß sie den segenspendenden Gottesdienst nicht verrichten und nicht zu Priestern geweiht werden könnten. ‚Sollen die traurige Bedürftigkeit und das [fehlende] Geld, mit dem wir heilge Altäre, Rom und den Himmel kaufen, etwa ein Hindernis darstellen?‘ Weil ihnen ererbtes Vermögen fehlt, bitten sie dann inständig unter Tränen und mit demütiger Stimme um Unterstützung. Was von den eingegrabenen Silberlingen der Bauer, oh ein gütiger Mann, in der Lade zurückgelegt hat, Butter, Eier und Kleidung, Brot und Wein schenkt er überreichlich, weil er sie bedauert; denn er ist überzeugt, allein hierdurch den erhabensten Gott verdient zu haben, wenn er nur der Genußsucht des Vaganten Förderung gewährt hat.“  Übers. nach M. A.: „Aber viel mehr fördert diese die einfache Frau – wohlgemerkt aber eine Bäuerin –, sooft sie heimlich ohne Wissen des Ehemannes darreicht, was über das lange Jahr an Käslein sie gewonnen hat, während der Vagant ihr heimlich unter Ausschmückung ins Ohr raunt, er

132

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

In dieser Darstellung werden stereotype Konnotationen mit ‚Magie‘ abgerufen: der Venusberg als Lehrstätte, die Kontrolle von Dämonen und die dadurch erreichten Fertigkeiten des Schatzfindens, des Festmachens (Abwehr von Waffen), des Schutzzaubers gegen wilde Tiere und Unwetter und der Wahrsagerei. Diese Gruppe stehe Venus besonders nahe: hoc genus inprimis, Venus, o regina, foveto! (II, 246).³⁴⁶ Es ist evident, dass Heinrich Bebel hier auf dieselben Zuschreibungen und Strukturen zugreift wie beim ‚Vagierer‘ oder Fahrenden Schüler. Die Aufzählung der Bettler, der ‚Eliteeinheit der Venus‘, endet mit den Stationarii, welche unter Berufung auf einen bestimmten Heiligen in großen liturgischen Spektakeln Gaben erhaschen – damit kommen ihnen dieselben Merkmale zu, wie den Spectini in Teseo Pinis Speculum Cerretanorum. ³⁴⁷ Das Ende der Dankesrede des signifer und zugleich das Ende des zweiten Buches markiert der hyperbolische Vergleich der Zahl der Bettlerschar mit dem Heer des Xerxes: […] quo milite Xerxis exuperat numerum, quo flumina sicca reliquit (II, 275b f.)³⁴⁸

Auf dieses Extrem folgt die Einschränkung, dass es einige wenige gebe, die sich der Virtus angeschlossen hätten (sunt tamen e nostris capti Virtutis amore, | attamen hii pauci et distantes iungere multo, II, 276 f.). Diese Doppelung von übertrieben karikaturesker Darstellung der Lasterhaftigkeit mit einer minimalen Einschränkung eines ‚kleinen Fähnchens der Aufrechten‘ ist typisch für die Gesellschaftssatire im Stil des Triumphus Veneris. Das Ergebnis, dass auch hier der ‚gelehrte Bettler‘ in den beiden Ausformungen des ‚Kammesierers‘ und des ‚Vagierers‘/Fahrenden Schülers auftritt, deckt sich mit der Darstellung in der ‚Gaunerliteratur‘. Wenn auch die Abhängigkeitsverhältnisse auf-

sei, weil er vom Berg der Venus’, wie er vorgibt, aufgebrochen sei, ein kleiner Zauberer, der die unheilvollen Dämonen lenken und mit einem Befehl bewegen könne, alles zu verraten: an welchem Ort ein wertvoller Vorrat von Münzen verborgen und wo in der Erde ein riesiger Schatz vergraben sei. Und er verspricht, den räuberischen Wolf unschädlich zu machen, damit er nicht mehr dem Vieh nachstellt. Bald entreißt er mit einem Zauberspruch den Füchsen die Hennen und raubt den thessalischen Wahrsagerinnen die Worte, fernhalten kann er die Trauer bringenden Hagelgüsse. Schließlich brüstet sich der Lügner, alle Geheimnisse des Himmels zu kennen; darauf wird mit Gewinn das einfältige Bauernvolk überlistet.“  Übers. M. A.: „Dieses Geschlecht vor allem, Venus, hege!“  Vgl. Kapitel 3.1. Zu den Stationariern in frühneuzeitlichen Schwanksammlungen und den konfessionspolemischen Implikationen vgl. Peter Strohschneider: Heilswunder und fauler Zauber. Repräsentation religiöser Praxis in frühmodernen Schwankerzählungen. In: PBB 129 (2007), S. 438 – 468.  Übers. M. A.: „an Soldaten aber übertrifft sie die Anzahl des Xerxes, durch welche er ausgetrocknete Flüsse zurückließ.“ Bebel adaptiert hier den konventionellen Vergleich Herodots; dieser war in Mittelalter und Früher Neuzeit wohl mindestens genauso präsent über M. Iunianus Iustinus’ Historiae Philippicae (3. Jh. n.Chr.): Iam Xerxes septingenta millia de regno armaverat, et trecenta millia de auxiliis: ut non inmerito proditum sit, flumina ab exercitu eius siccata Græciamque omnem vix capere exercitum ejus potuisse (Iust. II, 10).

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

133

grund der problematischen Datierung ziemlich intrikat sind, sind der Liber Vagatorum und der Triumphus Veneris doch offensichtlich verbunden.³⁴⁹ Von den beiden mobilen Schülerfiguren, der scholastica plebes, die in der Rubrik de mendicis (von den Bettlern) zu finden ist, grenzt sich eine studiosa cohors ab, welche als Teil der Rubik de ordine studiosorum im Buch über den Klerus (Buch III: Papa cum Sacerdotibus) präsentiert wird. Ihr Auftreten wird eingeleitet als: Post studiosa cohors comitatur robore multo martigenaque manu poscentes bella sophistae. (III, 234 f.)³⁵⁰ Der Standartenträger jedoch erklärt, wieso sie als Teil des venerischen Gefolges anzusehen seien: inque scholis quamvis discamus honestum, ipse tamen qui signa gero, primusque pudorem virtusque pias et relligionis amorem praedico gymnasiis nil non moderabile suadens invehor inque tuas arces reliquas sorores, attamen acculto Cypriae servimus et ipsos non iuvat immodico mentem vinire Lyeo. (III, 240b–246)³⁵¹

Die ehrenhafte Fassade des Gelehrten steht also in Kontrast zur geheimen Lasterhaftigkeit und Venus-Gefolgschaft. Bei den Studenten als angehenden Gelehrten ist das Verhältnis von ehrhafter Fassade und verborgener Lasterhaftigkeit noch anders gewichtet. Sie sollen zwar zur Tugendhaftigkeit erzogen werden, folgen jedoch der Venus: atque scholastica gens virtutes discere iussa arcubus et gladiis sequitur munita magistros uni se Veneri promittens munia fortem solvere […]. (III, 268 – 271a)³⁵²

Die Darstellung der Studenten spiegelt die Formen des Missverhaltens des ‚StudierNarren‘: Sie verprassen das elterliche Vermögen für Liebschaften und Gelage,³⁵³ sind Unruhestifter.³⁵⁴ Würfelspiel und Trunkenheit sind an die Stelle der Studien getreten:

 Mehr zur Frage der Datierung und der Abhängigkeitsverhältnisse vgl. unten.  Übers. M. A.: „Hernach folgt die sehr rüstige Schar der Studenten und die mit von Mars stammender Hand Krieg fordernden Sophisten“  Übers. M. A.: „Und so sehr wir auch in den Schulen Anstand lernen und ich, der ich dennoch selbst die Standarte trage, als erster die Scham, die gottgefälligen Tugenden und die Liebe zur Gläubigkeit preise, den Schülern nur Maßvolles rate und gegen deine Bollwerke und deine übrigen Schwestern wettere, [so] dienen wir dennoch im Verborgenen der Venus und erfreut es gerade uns, den Verstand durch maßlos getrunkenen Wein zu umnebeln.“  Übers. M. A.: „Mit Bogen und Schwertern bewaffnet folgt die Studentenschar, der zu lernen geboten war, daß die Tugenden die Lehrmeisterinnen seien, und verspricht, daß sie einzig für die Venus tapfer ihre Pflicht erfüllen wird.“ Die Bewaffnung der Studenten ist wohl einerseits allegorisch zu verstehen (der wehrhafte Teil des Venus-Heeres) andererseits verbirgt sich dahinter auch das Privileg der Studenten, eine Waffe tragen zu dürfen, welches immer mehr zur Schau gestellt wird.  gymnasio hos genitor, qui larga numismata praestat, | addixit iussos sacrae invilare Minervae, | quos Amor infoelix atque immoderatus Iacchus | nocte dieque agitat studio virtutis abacto (III, 274– 277);

134

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

at damnosa iuvat permultos alea; ludo amittunt nummos, vestes et, quicquid ubique est librorum. sophiae studeant vel Iustiniano Ebrietas, praedulce malum, nunc occupat illos. (III, 285 – 288)³⁵⁵

In einem Gestus, der weniger durch die satirische Schreibweise gebrochen ist, sondern eher direkt mahnend wirkt, werden die lasterhaften Studenten, die im 16. Jahrhundert mitunter als Renommisten verrufen sind, als Ferkel beschrieben, deren kleiner Juckreiz eine ganze Herde mit der Krätze infizieren könne: nanque prurigine scrophae | unius inficitur scabie grex totus in agris, | sic trahit infirmam numeroso cum grege secum (III, 298 – 300). Die lasterhaften Studenten bilden die Grundlage eines Gelehrtenproletariats, welches ohne Bindung und ohne Ziel durch die Welt vagiert: ille iuventutem, nimium mutabile vulgus, qui spretis studiis nunc huc, nunc fluctuat illuc nescius incepti nec, quo se vertat. et unus nil nisi cum ludo venerem, convivia curans inque voluptates pravas immergit ineptus convivas, raro datur unde emergere cuidam. (III, 301– 306)³⁵⁶

Übers. M. A.: „Der Vater, der reichlich Geld gibt, hat sie, die auf die heilige Minerva bedacht sein sollten, für die Universität bestimmt, sie, die der unheilvolle Amor und der maßlose Bacchus Tag und Nacht umtreibt, nachdem das Streben nach Tugend verscheucht.“  pars cursant noctu nocturnaque praelia miscent | propter amicarum fraudes et perfidia verba. | hi testudinea cythara placuisse puellae | contenti reboant vesano more vagantes (III, 278 – 281); Übers. M. A.: „Ein Teil zieht nachts herum, und es kommt dann wegen Untreue der Geliebten und treuloser Reden zu nächtlichen Kämpfen. Andere, die damit zufrieden sind, einem Mädchen mit der Laute zu gefallen, treiben sich herum und lassen [die Gassen] in wahnsinniger Weise widerhallen.“  Übers. M. A.: „Sehr viele aber erfreut der verderbliche Würfel; im Spiel verlieren sie allenthalben ihr Geld, ihre Kleider und, was sie an Büchern besitzen. Mögen sie Philosophie studieren oder das Römische Recht, nun hat sich ihrer die Trunkenheit, eine sehr süße Sünde, bemächtigt.“ Als Signifikant der Ebrietas wird der Brauch des maßlosen ‚Zutrinkens‘ erwähnt: ille „propino tibi“, „totum siccabo, sodalis“, | hic ait; ad numerum calices hinc evacuantur. | hic, qui plus revomit stomachi de gurgite fusum, | ille coronatur cunctis praelatus ephebis; Übers. M. A.: „Jener sagt ‚Ich trink dir zu‘ und dieser ‚Ich werd’ ihn ganz austrinken, Kamerad‘; darauf werden die Becher vollständig geleert. Dieser, der vom Eingeschenkten aus der Tiefe des Magens mehr wieder ausspeit, der wird als Sieger bekränzt, weil er sich vor allen Jünglingen hervorgetan hat.“ Diese Weise des übermäßigen Alkoholkonsums wird spätestens im 16. Jahrhundert zum Teil der allgemeinen Festkultur, findet jedoch ebenso starke Kritik durch die Geistlichkeit und die sog. ‚Mäßigungsbruderschaften‘.Vgl. dazu Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Zweiter Band: Dorf und Stadt. 16.–18. Jahrhundert. München 32005, S. 127– 129.  Übers. M. A.: „so zieht die noch ungefestigte Jugend, ein allzu unbeständiges Volk, in großer Menge jener mit sich, der, nachdem er die Studien verachtet, bald hierhin, bald dahin treibt, kein Vorhaben kennend, noch wissend, wohin er sich wenden soll. Und einer, der sich um nichts anderes als Spiel, Liebe und Gelage sorgt, versinkt als Tor in üble Sinnesfreuden und einen Kreis von Zechgenossen, woraus sich emporzubringen selten einem gegeben ist.“

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

135

In dieser Darstellung wirkt der lasterhafte Student wie der (noch institutionell gebundene) Vorgänger des signifer der Bettler: Nachdem dieser in seinen Studien gescheitert sei, habe er sich dem Leben auf der Straße zugewandt, wovon er nur sehr selten umkehren könne. Er werde ein Teil des fahrenden Bettelvolkes und gliedere sich in die Gruppe der Mendici ein. Die Verbindung der beiden Gruppen wird durch den analogen Verweis auf die Vernachlässigung der Studien hervorgehoben (desertis studiis II, 207; studiis spretis III, 302). Jedoch fällt durch die Gliederung der Ständesatire auch eine Differenzierung der beiden Gesellschaftsgruppen ins Auge. Diese gewinnt ihr narratives Potential aus der literarischen Tradition und der damit verbundenen Aussageabsicht. Bei den ‚gelehrten Bettlern‘ wird eine nicht mit diesen identische Rezipientengruppe adressiert, nämlich der Bürger oder der Gelehrte, der sich vor deren betrügerischen Machenschaften, die doch nur die Lasterhaftigkeit förderten, hüten solle. Unmittelbares Vorbild Bebels sind dabei die Bettlerkataloge. Als Rezipienten der Mahnungen vom ‚unnützen Studieren‘ sind die (bürgerlichen) Schüler und Studenten selbst vorzustellen, welchen die materielle und gesellschaftliche Prekarität als Folge moralischen Fehlverhaltens vor Augen gestellt wird.³⁵⁷ Der Fahrende Schüler und der Verlotterte Student sind als literarische Typen also nah miteinander verwandt, jedoch hinsichtlich der bloßgestellten Missstände unterschiedlich perspektiviert und klassifiziert. Auch biographisch stand Heinrich Bebel in unmittelbarem Kontakt zur sozialreformatorischen und satirischen Beschäftigung mit der ‚Bettlerfrage‘. Er stammte aus dem kleinen Dorf Justingen auf der Schwäbischen Alb, von dem er sich seinen Beinamen Iustingensis lieh.³⁵⁸ Er war in der privilegierten Position, für sein Studium zuerst nach Krakau und dann nach Basel reisen zu können, wo er ab 1494 – dem Jahr der Drucklegung des Narrenschiffs – bei Sebastian Brant Vorlesungen hörte. Im Jahr 1496 wird er auf die neugeschaffene, wenn auch schlecht bezahlte, ‚Lektur‘ der Oratorien (Rhetorik und Poesie) in Tübingen berufen,³⁵⁹ wo er unter anderem Werke des vormaligen Rektors und wichtigen scholastischen Sozialphilosophen Gabriel Biel (~1415– 1495) herausgab.³⁶⁰ Auch mit dem um 1510 in Pforzheim gedruckten Liber Vagatorum

 Als Grundlage dieser Praxis sind paränetische Reden und Fazetien aus dem akademischen Kontext anzuführen, z. B. in Disputationes quodlibeticae oder bei Heinrich Bebel. Vgl. dazu Kapitel 10.2.1 und 12.1.  Einen Überblick zur Biographie Bebels bieten Klaus Graf: Heinrich Bebel. In: Stephan Füssel (Hg.): Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450 – 1600). Ihr Leben und Werk. Berlin 1993, S. 281– 295, Klaus Graf: Heinrich Bebel (1472– 1518).Wider ein barbarisches Latein. In: Paul Gerhard Schmidt (Hg.): Humanismus im deutschen Südwesten. Biographische Profile. Stuttgart 22000, S. 179 – 194 und Carl Joachim Classen: Zu Heinrich Bebels Leben und Schriften. Göttingen 1997.  Vgl. Classen: Bebels Leben und Schriften, S. 12. Vor ihm haben diese Lektur kurzzeitig Johannes Reuchlin und Jakob Locher eingenommen. Vgl. Sönke Lorenz: Von Johannes Reuchlin und Jakob Locher zu Philipp Melanchthon: Eine Skizze zum Tübinger Frühhumanismus. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 135 (1999), S. 37– 58.  Z. B. Epithoma expositionis Canonis misse magistri Gabrielis Biel sacre theologie licentiati (1499) und Gabriel super primo sententia[rum] (1501). Gabriel Biel wird oft als der ‚letzte Scholastiker‘ be-

136

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

hat Bebel einige Berührungspunkte,³⁶¹ wie den Drucker Thomas Anselm, bei dem Heinrich Bebel ab 1504 in Pforzheim und noch verstärkt nach dessen Übersiedelung im Sommer 1511 nach Tübingen die meisten seiner Texte drucken ließ.³⁶² Der erste Druck der Anselm’schen Presse nach dieser Übersiedelung nach Süden war ein Text von Heinrich Bebel: eine Ausgabe der Commentaria epistolarum conficiendarum, die Bebel bereits vorher in Pforzheim bei demselben Drucker hatte fertigen lassen.³⁶³ Auch wenn die Zusammenarbeit teilweise angespannt blieb,³⁶⁴ handelt es sich bei Heinrich Bebel, der ab 1501 zum poeta laureatus gekrönt wurde und so einen erhöhten Absatz versprach, neben Anselms Nähe zu anderen Humanisten wie Georg Simler und Johannes Reuchlin³⁶⁵ wohl um einen Grund für die Übersiedelung der Offizin. Im Jahr 1509 erschien bei Anselm der Triumphus Veneris in den Opera Bebeliana sequentia und ungefähr zeitgleich der Liber Vagatorum, ohne jedoch Offizin und Jahr explizit auszuweisen. Ebenso inhaltlich bestehen viele Parallelen, wie die Darstellung des Fahrenden Schülers zeigt. Dennoch ist es schwierig, eine direkte Abhängigkeit festzustellen. Während man über den Prozess der Verfertigung des Liber Vagatorum keine Aussagen treffen kann, hat Bebel über sein satirisches Epos einige Hinweise hinterlassen, die den Rückschluss zulassen, dass es zwischen 1502 und 1505 entstand. Bis zum Druck 1509 sind kleine Eingriffe möglich, aber keine fundamentalen Veränderungen mehr anzunehmen.³⁶⁶ Die Chronologie drängt den Befund auf, dass der Liber Vagatorum durch die Darstellung bei Bebel inspiriert worden sei. Ich halte eine

zeichnet. Der scholastischen Methode folgend analysiert er auch den rezenten Betteldiskurs, und zwar in dist. 16, quaest. 4, quaest. 3, ed. in Gabriel Biel: Collectorium circa quattuor libros sententiarum. Bd. 4,2 Libri quarti pars secunda (dirst. 15 – 22), hg. von Wilfridus Werbeck und Udo Hofmann. Tübingen 1977, S. 431– 457.  Beispielsweise reflektiert Joseph Maria Wagner über „den anteil, den der berühmte humanist Heinr. Bebel vermutlich an dessen redaction genommen“ habe. Rotwelsche Studien. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 33 (1863), S. 197– 246, hier S. 218.  Hildegard Alberts: Reuchlins Drucker Thomas Anselm unter besonderer Berücksichtigung seiner Pforzheimer Presse. In: Manfred Krebs (Hg.): Johannes Reuchlin (1455 – 1522), neu herausgegeben und erweitert von Hermann Kling und Stefan Rhein. Sigmaringen 1994, S. 205 – 265, hier S. 211.  Nämlich 1507, 1508, 1509 und 1510 (vgl. Alberts: Rechlins Druker, Nr. 48, 52, 59 und 68). Zu Thomas Anselm in Tübingen vgl. Hans Widmann: Tübingen als Verlagsstadt. Tübingen 1971, S. 18 – 41.  Bebel druckte sein Commentarium 1513 und 1516 in Straßburg bei Grüninger, weil er aufgrund seines persönlichen Zwists mit dem Reuchlinschüler Georg Simler, der als Korrektor für Anselm gearbeitet hatte, auch mit dem Drucker brach. Er schreibt in einem Brief, dass Anselm nur aufgrund der Bezahlung für Bebel arbeitete: Thomas nil harum rerum nisi mercede conductus imprimit. Vgl. Alberts: Reuchlins Drucker, S. 217.  Vgl. Wilfried Lagler: Philipp Melanchthon als Mitarbeiter des Tübinger Buchdruckers Thomas Anselm. In: Sönke Lorenz, Matthias Asche u. a. (Hg.): Vom Schüler der Burse zum „Lehrer Deutschlands“. Philipp Melanchthon in Tübingen. Tübingen 2010, S. 175 – 185, hier S. 176.  Zur Entstehung mit Abdruck der einzelnen Selbstaussagen zum Arbeitsfortschritt vgl. Bebel: Triumphus Veneris, S. 7– 19, ergänzt durch Dieter Mertens: [Art.] Heinrich Bebel. In: HumVL 1, Sp. 142– 163, hier Sp. 157 f. Zur Arbeitsweise Bebels generell und zur Praxis, einen zeitlichen Abstand zwischen Vollendung, Widmung und Drucklegung des Textes zu akzeptieren, vgl. Classen: Bebels Leben und Schriften, S. 18 – 24.

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

137

direkte Abhängigkeit jedoch für unwahrscheinlich und gehe eher davon aus, dass sich beide Zeugnisse aus einem Reservoir in humanistischen Kreisen zirkulierenden Wissens und tradierter Narrative bedienten, dem durch den Text Bebels allenfalls ein zusätzliches Muster hinzugefügt wurde. Diese Zirkulation – einerseits von Wissen, andererseits aber vor allem von fertigen Texten im Umkreis der Humanisten – belegen die konkreten Aussagen von Heinrich Bebel zum Fortschritt seines Triumphus Veneris, und zwar im Widmungsbrief des Epos, der an die universitas Germaniae gerichtet ist (1509), in einem Brief an Benedikt Farner (1505/06), in der Castigatio Commentariorum (1506) und vom Bebelschüler Johannes Altenstaig im Kommentar zum Triumphus Veneris (1510/1515).³⁶⁷ Gemäß den Aussagen im Widmungsbrief begann er mit seiner Arbeit am Triumphus um 1502, als er sich wegen der Pest nach Ingstetten auf die Schwäbische Alb zurückzog,³⁶⁸ und schloss sie im Mai 1505 weitgehend ab. Denn er beschreibt sie im Brief an Farner als quid modo mediter et qui sint labores nostri intra domesticos adhuc parietes detenti. ³⁶⁹ Spätestens 1508 hat Bebel seinen Triumphus Veneris vollendet.³⁷⁰ Denn er verweist an zwei Stellen seiner Facetiae auf diesen Text, in Buch I, fac. 6 und in Buch III, fac. 97³⁷¹, und zwar beide Male mit demselben Verb: scripsi.³⁷² Zwar bezieht sich Heinrich Bebel auch an anderen Stellen durch Verben mit Verweis- oder Zitatfunktion (reporting verbs) auf andere Texte,

 Vgl. dazu mit Abdruck und Übersetzung der relevanten Textstücke Bebel: Triumphus Veneris, S. 7– 19; die Castigatio Commentariorum befindet sich wie auch der Farner-Brief im Sammelband Commentaria Epistolarum. Die Castigatio nimmt einen Teil des fiktiven Dialoges ein, den Bebel mit einem fictus monitor zur Apologie seiner Schrift De abusione linguae latinae führt. Dieser Dialog ist erstmals 1506 bei Grüninger in Straßburg gedruckt worden und fehlt logischerweise im Erstdruck der Commentaria – 1503 auch bei Grüninger in Straßburg –, da es sich ja um eine apologetische Reaktion auf diese handelt.  Hier heißt es: Ex Ingsteten villa tempore pestis. Vgl. Bebel: Triumphus Veneris, S. 8 und 14.  Übers. M. A. „worüber ich zur Zeit nachsinne und welche Arbeiten in meinen [vier] Wänden bisher zurückgehalten worden sind“. Vgl. weiter Bebel: Triumphus Veneris, S. 15 f. Es ist nicht eindeutig, ob diese Aussage 1505 oder 1506 zu datieren ist. In der ältesten Straßburger Version der Texte von 1506 sind sowohl die Castigatio als auch der Farner-Brief auf das Jahr 1506 datiert. (fol. 173v auf ex Tubinga. 3. Kal. Maias MCCCCCvi. [29. April 1506] und fol. 175v Thübinga septimo idus Maias Mcccccvi [9. Mai 1506]). Da in allen folgenden Drucken von 1507, 1508, 1509 und 1510 (bei Anselm) und 1516 (wieder bei Grüninger) die beiden Texte auf 1505 datiert sind, ist wohl davon auszugehen, dass Bebel die erste Version korrigiert hat und demnach nicht die älteste Version die beste ist. Man sollte also bei der Datierung 1505 bleiben.  Der widersprüchlichen Bemerkung von Marcel Angres, der unter Berufung auf einen Bibliothekskatalog von 1779 eine editio princeps von 1504 für möglich hält, folge ich nicht, da auch die eigenen Aussagen des Dichters dem widersprechen. Die Auktionatoren folgten wohl in der Datierung der im selben Band abgedruckten Laus Germanorum, welche tatsächlich auf 1504 datiert ist. Vgl. Bebel: Triumpus Veneris, S. 19.  Buch 1 und 2 der Facetiae erschienen erstmals in den Bebeliana opuscula nova. Straßburg, Grüninger 1508. Das dritte Buch wurde hingegen erst in den Opuscula nova et adolescentiae labores 1512 bei Matthias Schürer in Straßburg gedruckt.  Heinrich Bebel: Facetien. Drei Bücher. Historisch-kritisch Ausgabe, hg. von Gustav Bebermeyer. Leipzig 1931, S. 6 und 137.

138

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

die noch nicht gedruckt sind,³⁷³ dass Bebel aber vor (1508) und nach (1512) dem Erstdruck des Triumphus Veneris (1509) mit denselben Worten auf den Text verweist, impliziert das Bewusstsein, dass der Text oder zumindest dessen Inhalt und Aufbau bereits durch eine interne Zirkulation innerhalb seines Netzwerks als bekannt vorausgesetzt wurden. Der Schritt zur Drucklegung aber scheint im Selbstverständnis Bebels keinen allzu großen Stellenwert für die Bekanntheit des Werkes zu haben – zumindest bei dem anvisierten lector doctus et familiaris. Wie auch immer sich die genauen Abhängigkeitsverhältnisse gestalten: Der Liber Vagatorum und der Triumphus Veneris sind ein textuell gestaltetes Resultat zirkulierenden Wissens über gesellschaftliche Imaginationen. Weiter sind beide Verweise Bebels auf das erste Buch des Triumphus Veneris gerichtet, also auf die Bettler: einmal im Rahmen einer allgemeinen gesellschaftskritischen Bettlerschelte (III, 97) und einmal in einem Schwank über einen Fahrenden Schüler (I, 6).³⁷⁴ Damit wird die Bedeutung hervorgehoben, die Bebel selbst der Darstellung der Bettler im ‚Truppenkatalog‘ der Venus zusprach.

Thomas Murner: Narrenbeschwörung (1512) Wie Geiler von Kaysersberg bezieht sich auch Thomas Murner unmittelbar auf Brants Narrenschiff. In der Vorrede inszeniert er die inventio seines Themas als Bildungsreise: Ich hab durch schet/ und durch lesen, | Ob yendert wer ein man gewesen, | Der mich die rechte kunst moͤ cht leren, | Wie ich die narren solt beschweren, | Vnd hab durch wandelt manches landt, | Ee ich die recht kunst erfandt, | Darinn ich yetz bin meister worden, | Ein narr in aller narren orden (vv. 11– 18).³⁷⁵

Dieser ‚Narrenorden‘ aber sei seit und durch Brants Narrenschiff omnipräsent: Der narren orden ist so groß, | Das er fült all weg vnd stroß, | Doͤ rffer/ stett/ flecken, landt; | Die hat vns all sebastian brandt | Mit im bracht im narren schiff (vv. 19 – 23).

Murners Narrenrevue ist demnach als Korrektiv zu Brant angelegt, indem er mittels eines Exorzismus die einzelnen Narren aufruft, um sie zu bannen. Daher nimmt seine Satire auch einen schärferen und mitunter aggressiven Duktus an. Als Schriftsteller situiert sich der elsässische Franziskaner Thomas Murner (zumindest vor der Reformation) zwischen humanistischem Gelehrten und einfachem Volksprediger und ver-

 Dabei scheinen scripsi, dixi, ostendi, plura leges, invenies usw. austauschbar zu sein.Vgl. Classen: Bebels Leben und Schriften, S. 20.  Da dieser Schwank ein recht wirkmächtiges literarisches Muster tradiert, soll er an passender Stelle eingehend besprochen werden. Vgl. Kapitel 12.1.  Die folgenden Angaben nach der Ausgabe Thomas Murner: Narrenbeschwörung, hg. von Meier Spanier. Berlin, Leipzig 1926.

5.2 Der Fahrende Schüler als moralisch prekärer Typus – Gesellschaftssatiren

139

fasst sowohl lateinische als auch deutsche Texte.³⁷⁶ Mit diesem Hintergrund passt er sehr gut in das Netz der besprochenen Texte von Brant, Geiler und Bebel. Seine Narrenbeschwörung, die er zwischen 1509 und 1512 verfasste³⁷⁷ und 1512 bei Hupfuff in Straßburg drucken ließ,³⁷⁸ nimmt also offensichtlich Elemente von Brants Narrenschiff auf, z. B. die ‚Studier-Narren‘ im Kapitel 61 Der gestryflet ley über die halbgebildeten und verschwendungssüchtigen Studenten.³⁷⁹ Doch auch eine fundierte Kenntnis der ‚Gaunerliteratur‘ und des Liber Vagatorum ist unbedingt anzunehmen. Denn Murner bezieht sich explizit auf Wissen und Formulierungen aus diesem Diskurs, an dem sein Drucker Hupfuff durch Herausgabe der Reimversion des Liber Vagatorum ebenso produktiv mitwirkte. Fahrende Schüler oder ‚Vagierer‘ nennt er in folgenden Zusammenhängen: Im 16. Kapitel sind sie Teil des ‚Verlorenen Haufens‘, der bezeichnenderweise mit dem Titelholzschnitt von Brants Narrenschiff illustriert ist. Diese Narren seien nicht einmal den Exorzismus wert und gebührten dem Rad des Henkers anstatt seinem Buch.³⁸⁰ Einen Teil dieser Gruppe gliedert er in eine lange rotwelsche Wortreihe ein: Suppenfresser/ lecker/ kupler, | Schmorutzer/ vnd schmaltzbetteler, […] | Grantner/ vopper/ vnd vagierer, | Klencker/ depser/ karmesierer, | Kürtzner/ dützner/ granerin, | Schlepper/ schwertzner/ hoͤ rendt dryn. | In rotwelsch sind das boͤ ß stocknarren, | Die all mit schelmen zamen faren (16, 35 – 46, Herv. P. R.)

Die einzelnen Praktiken der hier nur anzitierten Betrugsarten führt er dann auch später noch weiter aus (16, 77– 90): falsche Reliquienverkäufer (‚Stazionierer‘/ ‚Stabüler‘), Epileptiker (‚Grantner‘), Besessene und Kranke (‚Klencker‘) und wiederholt dies in Kapitel 33 über Menschen, die Schafe nicht scheren, sondern schinden. Darnach so heischt man an den buw [Kirchbau]; | [–] So will der thenger [Antonius] haben suw [–] | Sant veltin [Valentin] ander stationirer, | Betler, vopper und vagierer; | Die betlerin die lyren stimpt[.] | der farendt schler ouch yn nimpt [:] | Erst kompt der dunder, hagel, schne, | Die thndt den armen lüten we (33, 79 – 83; Anm. von P. R.)

Die Interpunktion in der Ausgabe von Meier Spanier scheint mir hier irreführend. Die komplizierte Stelle wäre so zu übersetzen: ‚Danach gehen die [falschen] Epileptiker, Reliquienhändler, Bettler, Betrüger und Vaganten zur Kirchenbaustelle zum Betteln –

 Vgl. Könneker: Satire, S. 68 – 82 und Franz Josef Worstbrock: [Art.] Thomas Murner. In: HumVL 2, Sp. 299 – 368, hier v. a. Sp. 306 – 309.  Vgl. die Einleitung in Murner: Narrenbeschwörung, S. 77– 83.  Vgl. Duntze: Ein Verleger sucht sein Publikum, S. 206 f.  Murner: Narrenbeschwörung, S. 333 – 335. Auch der Holzschnitt ist von Brant kopiert.Vgl. Murner: Narrenbeschwörung, S. 24– 26.  Der wer mir leydt, das sy har kemen | Vnd in mym bch ein statt yn nehmen; | Sy hoͤ rendt vil baß vff das rad (16, 9 – 11)

140

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

der mit der [vorgetäuschten] Antoniuskrankheit will ein Schwein.³⁸¹ Die Bettlerin spielt die Leier. Der Fahrende Schüler nimmt auch etwas ein: Zuerst kommt der Donner, dann der Hagel und der Schnee, was die armen [Bauern] schmerzt.‘ Diese Stelle wird erst verständlich, wenn man die konventionelle Konnotation des Fahrenden Schülers mit Wetterzauberei (z. B. im Liber Vagatorum) kennt. Mit Zauberei konnotiert Murner die Fahrenden Schüler weiter im Kapitel 6 über das ‚Geuch ußbrieten‘. Nach angeberischen Söldnern (6, 1– 37), Alchemisten (6, 38 – 50) und vor Teufelsbeschwörern (6, 60 – 75), Quacksalbern (6, 61– 79) und verlotterten Studenten (6, 92– 172) steht der Fahrende Schüler: Dornoch kumpt vns der farendt schler, | Vß frouw venus berg ein bler, | Vnd kan vill vom danhüser sagen | Vnd vber eynen babste klagen, | Der jm sein sündt nit ab wolt lon, | Vnd wie frouw venus sey so schon, | Doch sey beschlossen ietz das thor, | Vnd wen galgen stondt dorvor. | Der dunder schlag mich, sey es wor! (6, 51– 59)

Der Fahrende Schüler erscheint hier als magiekundiger Betrüger, der vorgibt aus dem Venusberg zu kommen – hier interessanterweise weniger der Zauber‐ und eher der Liebesberg³⁸² –, um Geld zu erbetteln, ohne den Erzähler aber täuschen zu können. Murner wiederholt mithin die semantische Zweiteilung des mobilen Schülers/ Studenten, legt den Fahrenden Schüler jedoch noch stärker als Geiler von Kaysersberg und Bebel im Sinne der ‚Gaunerliteratur‘ aus und expliziert die dort aufgezählten Techniken.

5.3 Der Fahrende Schüler als methodisch prekärer Typus – Zwischenbilanz Die vorgenommenen Untersuchungen führen zu dem Ergebnis, dass eindeutige Wahrheiten über den (historischen) ‚Fahrenden Schüler‘ nicht möglich sind. Dies ist nun freilich eine offensichtliche Binsenweisheit. Jedoch ergeben sich folgende Tendenzen in den untersuchten Texten um 1500: Arme Schüler werden als eine Gruppe der weitgehend als kriminell beschriebenen Bettlertypen wahrgenommen, wenn sie auch als angehende Gelehrte und Kleriker eine privilegierte Position einnehmen. Dieser Status relativiert sich jedoch durch die Unterstellung, dass sie den Stand des Schülers nur vortäuschen und damit eine ‚Straftat‘ begehen. Es kommt zu einer Verschiebung von einem akademischen in ein juristisches Sinnfeld.

 Der Hl. Antonius ist der Patron der an Ergotismus/Mutterkornvergiftung/Antoniusfeuer Erkrankten, der Hl. Valentin der Patron der an Epilepsie Erkrankten. Das Schwein ist durch die Ikonographie des heiligen Antonius zu erklären, der oft mit Kirche, Schelle und Schwein dargestellt wird. Vgl. Murner: Narrenbeschwörung, S. 512 f.  Murner nimmt explizit auf die Tannhäuser-Sage Bezug. Vgl. dazu Kapitel 12.3.1.

5.3 Der Fahrende Schüler als methodisch prekärer Typus – Zwischenbilanz

141

In den gesellschaftssatirischen Schriften, die den devianten Lernenden behandeln, wird ein Bewusstsein von einer semantischen Differenzierung in zwei soziale Gruppen explizit: Zum einen gibt es die Gruppe der ‚verlotterten‘ oder ‚verbummelten Studenten‘, die sich dem ‚verkehrten Gelehrten‘ und dem Prasser annähert, zum anderen eine Gruppe, die sich vom akademischen Feld gänzlich gelöst hat und im Schnittfeld von Bettler, Hochstapler und Zauberkünstler steht. Als ein Phänomen dieser zweiten Gruppe zeigt sich die Bezeichnung ‚Fahrender Schüler‘. Dieser repräsentiert eine Form des ‚gelehrten Bettlers‘, welcher durch den hochstaplerischen Hinweis auf schwarzmagisches Wissen die (vornehmlich) ländliche Bevölkerung betrügt. Doch konnte man diesen Fahrenden Schülern um 1500 tatsächlich auf der Straße begegnen? Diese Frage ist absichtlich so naiv formuliert, trifft jedoch einen wichtigen Aspekt für die Analyse gesellschaftsbeschreibender Texte der Vormoderne. Der Zusammenhang von Textzeugen und realen Praktiken ist – verstärkt bei im weiteren Sinne satirischem Schrifttum – methodisch höchst problematisch. Denn (nicht nur, aber besonders) literarische Texte haben ihr Fundament in spezifischen Gesellschaftsbildern. Diese sind ihrerseits wiederum maßgeblich durch Texte fundiert: Text und Gesellschaftsbild stehen also (potentiell) in einem zirkulären Implikationsverhältnis. So ist es nicht möglich, über eine Form von ‚Realität‘ oder ‚geschichtlichem Hintergrund‘ zu sprechen. Es muss stattdessen von jeweiligen ‚Wirklichkeiten‘ oder Sinnfeldern der einzelnen Textwelten gesprochen werden, wobei einzelne Textgruppen in einem intertextuellen Verhältnis stehen können: in diesem Fall administrative und literarische Schreibformen. Anja Lobenstein-Reichmann erkennt in ihrer semantischen Analyse der Prozesse gesellschaftlicher Ausgrenzung in der Frühen Neuzeit, dass im Wechselprozess zwischen Botschaft und Medium, „der als solcher Absolutheits- oder gar Ewigkeitswert als Ziel hat, […] Prozess und Ergebnis […] unbestreitbar ‚real‘“³⁸³ werden. Mit den Bettelordnungen, Bettlerkatalogen und der ‚Gaunerliteratur‘ wurden „Textsorten aktiviert oder entwickelt, in denen die Ausgrenzung vollzogen und der Vollzug dokumentiert, nachhaltig archiviert und schriftlich über die orts- und zeitgebundene Welt hinaus gültigkeitsheischend kommuniziert werden konnte.“³⁸⁴ Als wichtigsten „Ort dieser Kriminalisierung“ sieht sie nicht – wie es vielleicht erwartbar wäre – die „juristische Fachsprache mit ihren Textsorten, sondern […] die literarischen und bildungssprachlichen Texte“³⁸⁵ aufgrund ihrer größeren Reichweite. Dennoch besteht eine extern-administrative Motivierung, was bereits die abwertenden Bezeichnungen der Textsorten als Narren- und Gaunerliteratur deutlich machen. Gerade die ‚Gaunerbüchlein‘ aber stehen durch ihr juristisches Thema und die literarische Schreibweise zwischen den beiden Polen. Durch die verstärkte Präsenz der (auch betrügerischen) Bettler verändert sich die Meinung über diese und durch die veränderte

 Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 282.  Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 283.  Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 284.

142

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Mentalität wird diese Meinung wiederum auf weitere Personenkreise appliziert. Ein sozialdisziplinierendes, obrigkeitliches Almosenwesen musste nun ein Interesse daran haben, möglichst weite Kreise durch Diskreditierung und Stigmatisierung als berechtigte Almosenempfänger auszugrenzen – auch im wörtlichen Sinne durch Ausschluss aus der Gemeinschaft, z. B. der Stadt. Diese Ausgrenzung gerade von hilfsbedürftigen und machtlosen Teilen der Gesellschaft dient gleichzeitig einer Stabilisierung der Machtverhältnisse und -ansprüche unter den diskursprägenden Eliten. Denn eine Abgrenzung vom Anderen oder Fremden erleichtert die Stabilisierung der eigenen Gruppe. „Identität und Alterität setzen sich als dialektische Begriffe voraus.“³⁸⁶ Was als Abweichung (also De-Vianz) zu sehen ist, bestimmen aber die diskursprägenden Akteure der Gesellschaftsmehrheit. Für diesen Prozess prägte die postmoderne Ethnologie den Begriff Othering oder ‚VerAnderung‘. Das Andere oder Fremde wird dabei als nicht-kommunikationsfähig oder ‐würdig abgestempelt und „damit die Bedingungen für einen Dialog mit dem Anderen zugunsten eines ungestörten Diskurses über den Anderen in Abrede gestellt.“³⁸⁷ Die Diffamierung und Stigmatisierung sozialer Randgruppen in der Frühen Neuzeit bietet ein mustergültiges Beispiel eines sozialen Othering. Vermittelnde und diskursprägende Instanzen dieser gesellschaftlichen Prozesse sind mitunter gedruckte ‚Warnschriften‘ wie der Liber Vagatorum. Die Verschriftlichung ist aber nur der überlieferte ‚Gipfel des Eisbergs‘ vormoderner Vermittlungswege und der Liber Vagatorum „die frühneuzeitlich gängige Melange aus mündlich oder schriftlich übermittelten Fallgeschichten, eigenen Erfahrungen und direkten prätextuellen Übernahmen durch Kompilation aus gedruckten Vorlagen.“³⁸⁸ Vor allem bei der Behandlung gesellschaftlicher Randgruppen ist die mediale Vermittlung notwendig zu beachten. Da die Ausgegrenzten oft selbst illiterat waren oder keinen Zugang zu diskursprägenden Medien hatten, ist der überlieferte Blick auf marginale Gruppen (fast) immer ein externer.³⁸⁹ Da sich Randgruppen außerdem durch ihre  Wolfgang Raible: Alterität und Identität. In: LiLi 110 (1998), S. 7– 22, S. 20. Ähnlich auch Alois Hahn: „Partizipative“ Identitäten. In: Herfried Münkler und Bernd Ladwig (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit. Berlin 1997, S. 115 – 158  Julia Reuter: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden. Bielefeld 2002, S. 142; zum Konzept des othering vgl. S. 145 – 149.  Wesche: Vagantenregister, S. 26.  Grundlegend zu Randgruppen die Definition in František Graus: Randgruppen der städtischen Gesellschaft im Spätmittelalter. In: ZHF 8 (1981), S. 385 – 437, hier S. 396: „Es sind Personen oder Gruppen, die Normen der Gesellschaft, in der sie leben, nicht anerkennen bzw. nicht einhalten oder nicht einhalten können und aufgrund dieser Ablehnung bzw. Unfähigkeit (infolge sog. nonkonformen Verhaltens) von der Majorität nicht als gleichwertig akzeptiert werden […]. Marginalität ist immer das Ergebnis eines Andersseins und der Reaktion der Majorität (Stigmatisierung). Randständigkeit kann nur sozial in […] Bezug zu konkreten sozialen Bezugssystemen, insbesondere im Hinblick auf die Normen einer historisch gegebenen Gesellschaft bestimmt werden.“ Vgl. auch Hartung: Gesellschaftliche Randgruppen; Hergemöller: Randgruppen; Scribner: Außenseiter; Irsigler/Lassotta: Bettler und Gaukler, Roeck: Außenseiter; Bronisław Geremek: Truands et Misérables dans l’Europe Moderne, 1350 – 1600. Paris 1980.

5.3 Der Fahrende Schüler als methodisch prekärer Typus – Zwischenbilanz

143

meist sehr hohe (räumliche, v. a. aber soziale) Mobilität einer Zuordnung in die Hierarchien einer ständisch geordneten Gesellschaft entzogen, dienten klassifizierende Texte wie der Liber Vagatorum dazu, „die zu Beginn der Neuzeit noch nicht abgeschlossene Ausbildung der ständischen Gesellschaft, den Übergang von vergleichsweise hoher Mobilität zu neuer Verfestigung“³⁹⁰ zu unterstützen. Es geht also um die „Demonstration von Hierarchien“³⁹¹ durch die Arbeit an einem bestimmten Gesellschaftsbild. Dies geschieht in juristischen und normativen Texten wie den angeführten Policeyordnungen weitgehend explizit und gezielt, wobei sie den imaginären Charakter verschleiern; ebenso (eher) literarische Texte haben impliziten Anteil, auch wenn sie ihre Fiktionalität gezielt markieren, zumal ohnehin in der ganzen Vormoderne nicht von einer strikten Trennung von fiktionalen und faktualen Texten auszugehen ist.³⁹² Durch eine „ausgeprägte Typisierungs- und Exemplifizierungstechnik“ – wie Jörg Wesche feststellt – schaffen die Texte „eine Abbildrelation als Realitätseffekt.“ Dabei ist die „[h]ervorstechende Textsortenfunktion […] die Klassifikation vaganter Lebensformen, welche einerseits das Bedrohungspotential des Unbekannten diskursiv reduziert und andererseits zugleich den sozialen Abgrenzungsimpuls gegenüber dem Fremden verstärkt.“³⁹³ Solange aber keine Beschreibungsmöglichkeiten des A-sozialen, d. h. außerhalb der gesellschaftlichen Norm Befindlichen, existierten, bot sich zur Evokation der Unordnung die Inversion/Parodie bestehender Ordnungen und Regeln an, was zur Entstehung oder Erfindung von ‚Gegengesellschaften‘ führte, die ihrerseits als hierarchisch strukturiert imaginiert wurden.³⁹⁴ Robert Jütte sieht im Bettler- und Gaunertum der Frühen Neuzeit solche extern konstruierten ‚Gegengesellschaften‘ als „Analogiebildungen zur herrschenden Kultur“,³⁹⁵ versucht jedoch durch die ‚autochthone‘ Verwendung der historischen Gaunersprachen die historische Wirklichkeit zu ermitteln.³⁹⁶ Wie sich die Stereotype und Muster jedoch gestalten und ausdifferenzieren, ist für Jütte sekundär. Als Extremfall der funktionalen Konstruktion bei der Arbeit an einem Gesellschaftsbild können mit Bernd Roeck die ‚imaginären Randgruppen‘ gelten. Damit bezeichnet er eine soziale Gruppe, welche sich durch normwidriges Verhalten kenn-

 Seidenspinner: Janusgesicht, S. 340.  Roeck: Außenseiter, S. 11.  Vgl. Müller: Literarische und andere Spiele; ausführlich dazu auch Kapitel 4.3.  Wesche: Vagantenregister, alle Zitate S. 26.  Grundlegend vgl. Graus: Randgruppen, S. 427 f. und František Graus: Organisationsformen der Randständigen. Das sogenannte Königreich der Bettler. In: Rechtshistorisches Journal 8 (1989), S. 235 – 255. Dazu auch Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten, S. 95 f.: „Zur Beschreibung der unständischen Welt bedienten sich die Autoren der Begriffe und Hierarchien, die aus der Berufs- und Ständewelt bekannt waren. so entstand das Bild von Bruderschaften und Zünften, ja Königreichen der Bettler – aus denen später die Vorstellung einer ‚Subkultur‘ oder gar einer ‚Gegenkultur‘ der Bettler und Vaganten abgeleitet wurde.“ Kritisch dazu Danker: Geschichte der Räuber und Gauner, S. 171– 179.  Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 55.  Vgl. Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 53 – 55.

144

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

zeichnet, das keine Fundierung in der Realität haben kann. So nennt Roeck die „Erschaffung der Hexe, eine erstaunenswerte Leistung der Phantasie“, die „oft einer Dämonisierung des Anomalen, eines sich nicht völlig in die Regeln der ihn umgebenden Gesellschaft fügenden Menschen“³⁹⁷ gleichkomme. Jedoch kann zwischen einer ‚imaginären‘ Randgruppe wie den Hexen und einer tatsächlichen Randgruppe wie den ‚Zigeunern‘ nur ein gradueller und meist sehr geringer Unterschied bestehen. Denn zum einen gab es für die meisten vormodernen Menschen keinen Anlass, an der realen Existenz von Magie und Dämonen zu zweifeln, zum anderen wissen wir, dass auch die vormoderne Kategorie von Randgruppen wie den ‚Zigeunern‘ keineswegs der historischen Realität entsprach, sondern ebenso eine Erfindung der dominanten gesellschaftlichen Gruppen war.³⁹⁸ Randgruppen wurden also gemacht. Robert Scribner gibt dabei zu bedenken, dass dieser Prozess keinesfalls eindimensional zu denken sei. Vielmehr entwickle er sich in einem „komplexen Netz situationsbedingter Klassifizierungen, die […] die davon Betroffenen radikaler von sozialen, wirtschaftlichen[,] rechtlichen und geistlichen Vorteilen ausschlossen, was zunehmend ‚fremden Bettlern‘ widerfuhr.“³⁹⁹ Die Konstruktion von Randgruppen steht also in einem markanten zirkulären Implikationsverhältnis mit dem historischen Gesellschaftsbild. Dieses Verhältnis präzisiert Wesche: Insofern stiften Texte wie der Liber vagatorum durch die intensive textautoritative Rückkopplung geradezu eine buchgestützte Wirklichkeit, die, wie auch die geheime Verkehrssprache des Rotwelschen, als glaubhaft konstruiert wird und sich dann wiederum durch Kompilation auch in nachfolgenden Texten als ‚Realität‘ perpetuiert.⁴⁰⁰

In den seltensten Fällen stellen Texte (in Mittelalter und Früher Neuzeit) die Realität ungefiltert dar, vielmehr streben sie mittels einer verallgemeinernden Tendenz Unterhaltung oder Belehrung an. So ist es auch in der ‚Gaunerliteratur‘ mit den ausufernden Listen des Speculum Cerretanorum oder des Liber Vagatorum. Auch wenn diese Bücher eine beachtliche Fülle von Phänomenen anführen und damit vermeintlich einen Großteil der sozialen Realität abdecken, erstellen sie – gleichgültig, ob sie dies selbst thematisieren oder nicht – ein Raster oder Schubladen, und damit eine Reduktion von Komplexität. Individualität wird zugunsten von Kategorien aufgegeben. Grundlage dieser Kategorisierung und damit einer Konstruktion eines gewissen verallgemeinernden Bettlertypus konnten tatsächliche Erfahrungen sein, die als illustrierendes Beispiel dienten. Doch die an der Produktion diskursprägender Texte beteiligten Akteure sind durch das zirkulierende Wissen dahingehend geprägt, dass sie sich bezüglich Gesellschaftsbild und Diktion auf Muster berufen, die allge-

 Roeck: Außenseiter, S. 8 f.  Vgl. dazu Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. Bonn 2011.  Scribner: Außenseiter, S. 43.  Wesche: Vagantenregister, S. 27.

5.3 Der Fahrende Schüler als methodisch prekärer Typus – Zwischenbilanz

145

mein – oder auch nur regional und gruppenspezifisch gebunden – zirkulieren. Das betrifft neben den Gelehrten (z. B. Heinrich Bebel oder Thomas Murner) ebenfalls die an der (juristischen) Entscheidungsfindung Beteiligten wie Richter, Protokollanten etc. Das Phänomen zeigt sich demnach auch in Texten, die der juristischen Praxis im engeren Sinne zuzuordnen sind wie Gerichtsurteilen,Verhör‐ oder Prozessprotokollen. Diese stellen zwar nicht ihre poetische Faktur (poiesis) heraus und berufen sich auf spezifische Lizenzen ‚schöner Literatur‘, doch auch sie sind durch die Intention der obrigkeitlichen Judikative geprägt und gefiltert, zumindest aber durch das Gesellschaftsbild des Produzenten grundgelegt. Auch wenn durch die Regionalität der Beispiele versucht wird, der Darstellung Authentizität und Eindringlichkeit zu verleihen, sind die realhistorische Ursprünge des Musters meist nicht festzustellen. Es ist also zu beachten, dass sich historische Quellen wie juristische Prozessakten in der Vormoderne zum Teil an tradierten Mustern orientieren. Diese Muster können inhaltlich, strukturell oder nur terminologisch sein. Die Rezeption eines bestimmten Plots, eines Berichts oder eines Begriffs gestaltet Möglichkeiten, Phänomene einer komplexen Realität zu kategorisieren. Es besteht also – bis zu einem gewissen Grad – ein zirkuläres Implikationsverhältnis zwischen dem instituierenden schriftlichen Medium (den Texten, Akten etc.) und dem instituierten gesellschaftlichen Miteinander. Wenn beispielsweise der frühneuzeitliche Rechtsgelehrte einen konkreten Fall in ein bestimmtes Raster einzuordnen schaffte, würden zugleich Muster der weiteren Konnotation abgerufen – so ergäben sich Mechanismen analog zu einer self-fulfilling-prophecy. Als Beispiel für diesen engen Bezug juristischer Praktiken und (literarisch) tradierter Muster soll ein Nördlinger Verhörprotokoll aus dem Jahr 1487 dienen, das die Vernehmung des konvertierten Juden⁴⁰¹ Hans von Straßburg festhält.⁴⁰² Dieselbe Person wird auch im zweiten Teil des Liber Vagatorum als Beispiel eines Quacksalbers und Wahrsagers erwähnt: Ht dich des glichen auch vor den artzten die after land ziehen und tyriack und wurtzlen feil tragen, und tn sich grosser ding auß, und besonder etlich blinden sind, einer genant hans von Straßburg ist gewesen ein iud unnd ist z Straßburg getaufft worden inn den pfingsten vor iaren, unnd sind im sein augen auß gestochen worden z Worms, unnd der ist ietzund ein artzet und sagt den lüten war und zeucht affter land unnd bescheißt alle menschen, wie, ist nit not ich künt es wol sagen.⁴⁰³

 Zum Zusammenhang der Devianzdarstellung von Juden und ‚Gaunern‘ im Liber Vagatorum vgl. Kapitel 5.1.3.  Ediert und kommentiert in Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 71– 73. Ähnlich verfährt auch ein Verhörprotokoll aus Rom (1595). Vgl. Camporesi: Vagabondi, S. 505 – 514, zuerst in Martin Löpelmann: Il Dilettevole Essamine de Guidono Furfani ò Calchi, Altramente detti Guitti nelle Carcari di Ponte Sisto di Rome nel 1598. Con la Cognitione della Lingua Fubesca ò Zerga Commune à Tutti Loro. Ein Beitrag zur Kenntnis der italienischen Gaunersprache im 16. Jahrhundert. In: Romanische Forschungen 34 (1915), S. 653 – 664.  Kluge: Rotwelsch, S. 52.

146

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

Robert Jütte bezeichnet es als „glücklichen Zufall […], daß wir ein historisches Dokument besitzen, welches den Realitätswert einer Vielzahl der im Liber Vagatorum genannten Bettlerkategorien am Einzelfall belegt“⁴⁰⁴ – es werden acht der Finten des ‚Gaunerbüchleins‘ genannt. Bei dieser „ungewöhnlichen (weil so gut dokumentierten) Gaunerkarriere“⁴⁰⁵ handelt es sich tatsächlich um einen bemerkenswerten Textzeugen. Im Protokoll wird notiert: Item z zeiten sey er als ain varender schüler gegangen. und den Beurin waar gesagt und sy damit um Air und annder Ring ding betrogen.⁴⁰⁶

Es ist faszinierend, dass hier dieselbe Person wie im 20 Jahre später gedruckten Liber Vagatorum auftaucht und seine ‚Kriminalbiographie‘ weitererzählt wird. Dennoch teile ich die Euphorie Jüttes nicht ganz und gebe zu bedenken, dass man sich zumindest hinsichtlich der klassifizierenden Terminologie am zirkulierenden Wissen zur ‚Bettlerfrage‘ orientiert hat. Der varende schüler scheint hier bereits einer terminologischen Klassifizierung unterzogen worden zu sein.⁴⁰⁷ Der Protokollant versteht darunter dasselbe wie der Verfasser der wohl etwa zeitgleich entstandenen Nota de fictis mendicis aus St. Gallen: einen Betrüger mittels magisch konnotierter Praktiken (Wahrsagerei), wobei er analog zur Darstellung in der ‚Gaunerliteratur‘ (und einem misogynen Weltbild folgend) Frauen, konkreter Bäuerinnen, als vermeintlich ideale Betrugsopfer hervorhebt.⁴⁰⁸ Ein ähnlich intrikates Implikationsverhältnis von literarischen und juristischen Texten liegt bei einem Vogtgerichtsartikel aus Justingen aus der Zeit um 1510 vor (also vom Geburtsort Bebels zur Zeit der Produktion des Triumphus Veneris!): Es soll auch kain amptman kain varenden schlern, würst bben oder juff bben oder allmusensamler an die kirchen oder sunst, die dem kirchherrn nit versigelt hand gezeigt haben, daß sie richt sachen füren, samlen und die leut übergan laussen.⁴⁰⁹

Der Text nennt zwar den Fahrenden Schüler, ordnet ihn aber eher allgemein in den Betteldiskurs ein, ohne magische Praktiken zu thematisieren.

 Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 71.  Robert Jütte: Der Prototyp des Vaganten. Hans von Straßburg. In: Heiner Boehncke und Rolf Johannsmeier (Hg.): Das Buch der Vaganten. Spieler, Huren, Leutbetrüger. Köln 1987, S. 117– 128, hier S. 119.  Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit, S. 73.  Wie bei den Protokollen von Zaubereiprozessen werden hier vornehmlich Bestände juristischen Fachwissens und weniger konkrete Praktiken repetiert. Vgl. Kapitel 12.3.2.  Diese Hervorhebung der vermeintlichen größeren Leichtgläubigkeit des weiblichen Geschlechts wird in der Folge topisch für Schwänke über den ‚Fahrenden Schüler‘ (z. B. schon im Triumphus Veneris), während im Liber Vagatorum noch die geschlechtsneutrale rotwelsche Bezeichnung houtzen steht.  Württembergische Ländliche Rechtsquellen. Bd. 2: Das Remstal, das Land am mittleren Neckar und die Schwäbische Alb, hg. von Friedrich Wintterlin. Stuttgart 1922, S. 562 (§ 13).

5.3 Der Fahrende Schüler als methodisch prekärer Typus – Zwischenbilanz

147

Daraus ergibt sich Folgendes: Texte und Praktiken, die Ein- und Ausgrenzungen vornehmen und damit jeweils gegenseitig inhärent einen Beitrag für die Konstitution eines spezifischen Gesellschaftsbildes leisten, sind „komplex vernetzt“.⁴¹⁰ Das Schaffen von Außenseitern, die im Gegensatz zur Gesamtgesellschaft stehen, also das Othering, stabilisiert jedoch auch die ausschließende diskursprägende Mehrheit, indem es „identitätsstiftend und identitätsfördernd“⁴¹¹ wirkt. Zu dieser soziologischmachtkritischen Perspektive kommt noch die methodische Prekarität der Inhalte bei der historischen Beschreibung von Außenseitern. Dazu resümiert Scribner: Die Vielfalt der Ein- und Ausgrenzungen stellt ein Problem der Analyse dar, wie auch ihre Uneinheitlichkeit und zeitliche Veränderbarkeit. Die Definition der Ein- und Ausgrenzung unterlag also einem komplexen Prozeß der Zeitverschiebung und Umwertung. Ältere Formen der Abgrenzung überlebten die Umstände, die sie hervorgerufen hatten oder wurden völlig neu gedeutet. Neue Formen der Abgrenzung entstanden, fanden aber noch immer ihren Ausdruck zu jedem Zeitpunkt vielschichtig und fließend.⁴¹²

Am Beispiel des Liber Vagatorum bedeutet dies, dass sich der Verfasser in seiner Darstellung aus dem zirkulierenden Wissen zum Thema aus verschiedenen Diskursen bedient. Gleichzeitig muss dieses Wissen nicht den status quo des 16. Jahrhunderts repräsentieren, sondern auch ältere Wissensbestände können durch die archivierende Kraft der Schrift aktiviert werden. Der Verfasser kann sich also auf Inhalte aus schriftlichen und mündlichen Traditionen historisch variabler Zeitpunkte berufen. Durch die Aktivierung eines traditionellen Narrativs bekommen die Anweisungen zur Fremdenfeindlichkeit sogar ein zusätzliches autoritäres Gewicht.⁴¹³ Zugleich prägt der Liber Vagatorum durch seine enorme Popularität selbst das diskursive Wissen derart, dass die Darstellungen und Konnotationen, die im gedruckten Buch nachzulesen sind, zum neuen Wissen arrivieren und das Gesellschaftsbild maßgeblich prägen. Bedingung für eine solche Popularität aber ist, dass der Text an Gesellschaftsbilder und diskursive Formationen seiner Rezipienten anschließt und als wichtig und interessant wahrgenommen wird, also den ‚Nerv der Zeit‘ trifft.⁴¹⁴ All dies schließt natürlich nicht aus, dass die genannten Phänomene auf tatsächlichen Geschehnissen beruhen, wie sie in juristischen und chronikalen Quellen überliefert sind.⁴¹⁵ So kann sowohl die Erstnennung eines konkreten Betteltyps oder  Scribner: Außenseiter, S. 23.  Scribner: Außenseiter, S. 24.  Scribner: Außenseiter, S. 23 f.  František Graus geht auch davon aus, dass aus „stereotyp wiederholten ‚gelehrten‘ Erzählungen […] historische Überlieferungen entstehen [können], […] dazu jedoch kein immanenter Zwang [besteht]“. František Graus: Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln 1975, S. 6.  Vgl. zum Liber Vagatorum Scherpner: Theorie der Fürsorge, S. 50.  Vgl. Gerd Schwerhoff: Karrieren im Schatten des Galgens. Räuber, Diebe und Betrüger um 1500. In: Sigrid Schmitt und Michael Matheus (Hg.): Kriminalität und Gesellschaft in Spätmittelalter und Neuzeit. Stuttgart 2005, S. 11– 46, hier 30 – 33.

148

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

einer Gaunervokabel durchaus auf einem überführten Fall beruhen als auch die Popularisierung des Wissens über Betrugstechniken neue Praktiken stimulieren. Die Bedeutung der Texte über Gauner und betrügerische Bettler scheint mir aber relevanter für die Kulturgeschichte als die oftmals marginale Zahl konkreter Fälle.⁴¹⁶ Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass ein dichtes – verwirrtes und verwirrendes – Knäuel von Bedeutungsdimensionen und literarischen Traditionen vorliegt. Dies ist nur durch einen Blick in die Vergangenheit zu entwirren und zu bewerten. Bevor ich nun jedoch zum nächsten Teil der Untersuchung komme, muss ich noch die konkreten Bedeutungsdimensionen aufzeigen, die sich am Terminus ‚Fahrender Schüler‘ anlagerten. Denn als Ziel dieses zweiten Teils der Untersuchung galt es ja, aus den (im weiteren Sinne) gesellschaftssatirischen Schriften um 1500, v. a. der ‚Gaunerliteratur‘, ein Muster zu extrapolieren, welches als valide Richtlinie und Vergleichsmoment für die anschließende Untersuchung der motivgeschichtlichen Tradition des Fahrenden Schülers im Mittelalter dienen kann. So komplex der Typus des Fahrenden Schülers auch ist, so einfach ist er als sich ständig wiederholendes Narrativ in seinen Zuschreibungen und Attributen gestaltet. Die einzelnen Elemente, die um 1500 das Muster ‚Fahrender Schüler‘ bildeten, will ich im Folgenden kurz zusammenfassen. Als durchaus repräsentative Grundlage dient der Kommentar zum Triumphus Veneris, den der Bebelschüler Johann Altenstaig 1510 vollendete und als Absatzkommentar mit dem Hauptwerk 1515 in Straßburg bei Matthias Schürer drucken ließ:⁴¹⁷ (1) Der ‚Fahrende Schüler‘ oder scholasticus vagans ist ein spezieller Betteltypus: Ponit nunc alios mendicos s. scholasticos quos uagantes appellant, qui postquam bellum studio indixerunt, currunt per uillas et urbes, colligendo quibus suam expere possint libidinem. Quorum conditiones et mores ibi per pulchre notat poeta.⁴¹⁸

Er zeichnet sich vor allem durch seine nicht-zielgerichtete Mobilität aus. Weiter wird er als gescheiterter Student (oder Lernender im weiteren Sinne) vorgestellt und tritt so als imaginierte Folgeerscheinung neben den verlotterten Studenten an der Hochschule. (2) Außerdem ist er heimatlos: Extorris, qui extra terram suam i. patriam est expulsus uel

 Vgl. Robert W. Scribner: Mobility:Voluntary or Enforced.Vagrants in Württemberg in the Sixteenth Century. In: Gerhard Jaritz und Albert Müller (Hg.): Migration in der Feudalgesellschaft. Frankfurt a. M., New York 1988, S. 65 – 88, hier S. 66. Er kommt bei seiner Beispielanalyse zum Württemberg des 15. und 16. Jahrhundert auf „around 300 persons who might be broadly defined as vagrants, but only 14 of them are identifiable as fake beggars.“  Heinrich Bebel: Triumphus Veneris Henrici Bebelij poetae laureati cum commentario Ioannis Altenstaig Mindelheimensis. Straßburg: Matthias Schürer 1515. Vgl. Bebel: Triumphus Veneris, S. 25 f.  Bebel/Altenstaig: Triumphus Veneris, fol. XLIVv; Übers. P. R.: ‚Er [Bebel] stellt andere Bettler dar, das sind Schüler, die Vaganten genannt werden und die, nachdem sie dem Studium den Krieg erklärt haben, durch die Dörfer und Städte ziehen, wobei sie zusammensammeln, womit sie ihre Gelüste erfüllen können. Deren äußere Umstände und Sitten beschreibt der Dicher dort sehr schön. [Kommentar zu II, 207: desertis studiis]‘ [Herv. P. R.].

5.3 Der Fahrende Schüler als methodisch prekärer Typus – Zwischenbilanz

149

eiectus, sicut exul extra solum. ⁴¹⁹ (3) Er nimmt eine intrikate Zwischenstellung zwischen einem Geistlichen (clericulos iactant se) und einem Nicht-Geweihten ein (non possint […] presbyteri fieri uel ordinari).⁴²⁰ (4) Er ist als Bettler arm (paupertas),⁴²¹ versucht aber durch verschiedene Tricks zu Reichtum zu kommen und augmenta et fomenta occasionemque illi uaganti, luxuriandi & lasciuiendi ⁴²² zu erreichen. (a) Zielobjekt sind einfache und oftmals auch einfältige Menschen: ex calamitate istorum uagantum quam prae se ferunt, quaque homines simplices fallunt. ⁴²³ (b) Mittel der Hochstapelei ist das Vortäuschen magischen Wissens und magischer Praktiken, indem er ‚sagt, dass er aus dem Berg der Venus gekommen sei und dort die Nigromantie oder Nekromantie gelernt habe‘:⁴²⁴ Magus incantator dicitur, qui non solum syderum observatione futura praedicere, sed artibus quibusdam et maleficijs et se scire omnia, et facere posse profitetur, et persica lingua dicitur sapiens, quem graeci philosophum, latini sapientes, galli dryudas, Aegyptij prophetas sive sacerdotes, Indi gymnosophistas, Assirij chaldeos uocant.⁴²⁵

Der Fahrende Schüler nimmt also die persona des Magiers an, welche seit dem Mittelalter vornehmlich durch Zukunftsprophezeiung (divinatio), Heil-, Schadens- und Schutzzauber konnotiert ist.⁴²⁶ Weiterhin schreibt Altenstaig, ‚dass jener Fahrende Schüler sich damit brüste, alle Dinge des Himmels zu wissen, das heißt alle Geheimnisse Gottes, und alles vorhersagen zu können. Um des Gewinns willen ist er also gezwungen mittels tausender Trugmittel zu lügen.‘⁴²⁷ Die einzelnen Fertigkeiten führt

 Bebel/Altenstaig: Triumphus Veneris, fol. XLIVv; Übers. P. R.: ‚Heimatlos, wer aus seinem Lande vertrieben oder verjagt ist, d. h. aus seinem Vaterland, wie der Verbannte vom Grund und Boden.‘ Die etymologische Erklärung kann in der Übersetzung nicht nachvollzogen werden. Das Adjektiv ex-torris (= extra terram) folgt denselben Wortbildungsregeln wie ex-sul (= extra solum).  Bebel/Altenstaig: Triumphus Veneris, fol. XLVr; Übers. P. R.: ‚Sie nennen sich angeberisch kleine Geistliche […] könnten aber nicht Priester oder Ordensbrüder werden.‘  Bebel/Altenstaig: Triumphus Veneris, fol. XLVr.  Bebel/Altenstaig: Triumphus Veneris, fol. XLVr; Übers. P. R.: ‚Vermehrung, Ruhepolster und die Gelegenheit für jenen Vaganten in Luxus und Ausgelassenheit zu schwelgen‘.  Bebel/Altenstaig: Triumphus Veneris, fol. XLVr; Übers. P. R.: ‚infolge des schlimmen Schicksals dieser Vaganten, das sie vor sich hertragen und durch das sie Einfältige täuschen.‘  Bebel/Altenstaig: Triumphus Veneris, fol. XLVr : uenisse ex monte Veneris ubi nigromantiam uel necromantiam didicisse ait.  Bebel/Altenstaig: Triumphus Veneris, fol. XLVr ; Übers. P. R.: ‚Magus wird ein Beschwörer genannt, der nicht nur durch die Beobachtung der Sterne die Zukunft vorhersagen kann, sondern öffentlich kundtut, dass er durch gewisse Künste und Hexereien sowohl alles wisse als auch machen könne. Auch wird der Weise auf Persisch so genannt, den die Griechen Philosoph, die Lateiner Weiser (sapiens), die Gallier Druide, die Ägypter Prophet oder Priester (sacerdos), die Inder Gymnosophist, die Assyrer Chaldäer nennen.‘  Vgl. Richard Kieckhefer: Magie im Mittelalter. München 1992, S. 70 – 108.  Bebel/Altenstaig: Triumphus Veneris, fol. XLVIr; Übers. und Herv. P. R.: illum uagantem scholasticum se iactare, omnia cœli nosse, id est omnia secreta dei, et posse diuinare. quaestus gratia cogitur mentiri per mille dolos.

150

5 Der Fahrende Schüler als Schema um 1500

der Kommentar nicht aus, auch wenn einige (aus heutiger Sicht durchaus kommentierungsbedürftige) Praktiken im Prätext vorkommen.⁴²⁸ Ein wichtiges (da kryptisches) Detail ist schließlich noch das gelbe Netz, welches bei Bebel/Altenstaig fehlt, über den Liber Vagatorum hinaus jedoch rekurrent ist. Dieser Befund entspricht freilich in nuce den Feststellungen Jakob Thomasius’ von 1675,⁴²⁹ erreicht aber ein höheres Abstraktionsniveau.

 Es handelt sich um Dämonenbeschwörung (Bebel: Triumphus Veneris, II, vv. 236 f.), Schatzfinden (II, v. 239), Fernhalten wilder Tiere (II, vv. 240 – 242) und Wetterbeherrschung (II, v. 243).  Vgl. Kapitel 2.1.

Dritter Teil (bis 1500) Die Untersuchung des Fahrenden Schülers im zweiten Teil stützt sich auf ein schmales Feld verwandter Textsorten, auf Autoren in einem kommunikativen Netzwerk und auf die Zeit um 1500. Diesen gewissermaßen mikrohistorischen Zugriff mit dem Versuch, einen speziellen Diskurs in vielen verschiedenen Nuancen abzudecken, erweitern die folgenden Kapitel um einen makroskopischen Blick auf diachrone Prozesse. Die Situation um 1500 ist dabei der heuristische Ausgangspunkt, von dem aus ich die Spuren verschiedener traditionaler Muster in einer motiv- oder mustergeschichtlichen Analyse nachvollziehe.

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II Die angesprochenen Schlagworte (Motivgeschichte, Spur, Tradition, Muster) sind zu präzisieren. Denn sowohl das Schreiben einer Literaturgeschichte im Allgemeinen als auch das Schreiben einer Motivgeschichte im Besonderen sind ambivalent diskutierte Streitfelder der literaturwissenschaftlichen Forschung. Auch wenn es hier nicht das Ziel sein kann, auf diese großen literaturtheoretischen Fragen eine Antwort zu finden, versuche ich doch einen Überblick zu schaffen, soweit er für die vorliegende Forschungsfrage relevant ist. Mein Vorschlag soll die Konzepte einer phänomenologischen Spur und eines traditionalen Musters zusammenbringen und so eine tragfähige Ergänzung für motivgeschichtliche Analysen bereitstellen.

6.1 Zu partialer Literaturgeschichtsschreibung Die literaturtheoretischen Diskussionen der letzten vierzig Jahre changieren zwischen fachlicher Notwendigkeit und theoretischer Unmöglichkeit literarhistorischer Zugriffe. Diese Situation bildete den Ausgangspunkt für eine Neureflexion der Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung.Werner Hamacher bezeichnete beispielsweise 1986 die Literatur selbst als „Unmöglichkeitserklärung der Literaturgeschichtsschreibung“¹ und prägte damit ein vielzitiertes Verdikt, dem weite Teile der poststrukturalistischen Theoriebildung folgten.² Zur Rehabilitation der Literaturgeschichte als einer der zentralen Aufgaben der Literaturwissenschaft (neben Edition, Interpretation und Literaturtheorie) unterscheidet Matthias Buschmeier zwischen einer dem unerreichbaren Ideal der Vollständigkeit folgenden „Literaturgeschichte als Archiv“ und einer „Literaturgeschichte als These“,³ welche durch objektive Selektion den Anspruch ‚wahrer‘ Geschichte dezidiert verwirft, gleichzeitig aber auch „in der Angreifbarkeit ihrer Thesenhaftigkeit das Bewusstsein des Konstruktionscharakters jeder historischen Sinnbildung offenlegt.“⁴ Indem Inkonzinnitäten und Brüche bei der Beschrei-

 Werner Hamacher: Über einige Unterschiede zwischen der Geschichte literarischer und der Geschichte phänomenaler Ereignisse. In: Wilhelm Voßkamp und Eberhard Lämmert (Hg.): Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung. Tübingen 1986, S. 5 – 15, hier S. 15.  Vgl. weiter Hans Ulrich Gumbrecht: Shall We Continue to Write Histories of Literature? In: New Literary History 39 (2008), S. 519 – 532 oder den etwas älteren Beitrag René Wellek: The Fall of Literary History. In: René Wellek (Hg.): The Attack on Literature and Other Essays. Chapel Hill 1982, S. 64– 77, hier S. 65: „something has happened to literary history which can be described as decline and even as fall. Particularly in the interval between the two world wars widespread dissatisfaction with literary history was voiced in almost every country“.  Matthias Buschmeier: Literaturgeschichtsschreibung nach dem Ende der Theorie? Theorien zu den (Un‐)Möglichkeiten einer bedrohten Gattung. In: IASL 36 (2011), S. 409 – 414, hier S. 413.  Buschmeier: Literaturgeschichtsschreibung, S. 413 f. https://doi.org/10.1515/9783110708349-007

154

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

bung von literarhistorischen Zusammenhängen nicht verborgen, sondern thematisiert werden, und zudem der Anspruch einer allgemeinen ‚Welterklärung‘ auf einen Teilaspekt eingeschränkt wird, kann eine reflektierte Literaturgeschichtsschreibung dem Verdacht einer konstruierten Meistererzählung entgehen. Um die Komplexität historischen Geschehens dennoch irgendwie abbilden zu können, ist folglich die Beschränkung auf Partialgeschichten notwendig. Als mögliche praktische Umsetzungen dieser partialen Literaturgeschichtsschreibung werden eine „Literaturgeschichte als Mikrogeschichte“⁵ oder eine „Literaturgeschichte semantischer Einheiten“⁶ diskutiert. Das Verfahren einer Mikrohistorie ist in den Geschichtswissenschaften durchaus präsent und wird vor allem mit den Namen Carlo Ginzburg und Emmanuel Le Roy Ladurie verbunden.⁷ Ansätze zur Nutzbarkeit eines mikrohistorischen Zugriffs für die Literaturgeschichte mit Konzentration auf die Vormoderne formuliert Jan-Dirk Müller. Als Voraussetzung führt er Folgendes an: Nehme man die Kritik aus der neuen Form der Literaturgeschichtsschreibung ernst, dann müsse man sich auf das literaturimmanente Avantgarde-System der Russischen Formalisten stützen. Dieses basiert auf der ständigen ‚Antwort‘ literarischer Texte auf vorliegende, wobei sich die Texte jeweils durch Innovation voneinander absetzen. Diese Sicht grenze jedoch vormoderne Texte aus dem Anwendungsbereich aus, da hier ‚Literatur‘ im modernen Sinne nicht von anderen Diskursen zu trennen sei.⁸ Außerdem sei eine Orientierung an Innovation für die Vormoderne unangebracht, da das „Neue […] keine zentrale Kategorie älterer Literatur“⁹ sei. Nach einer vergleichenden Präsentation der ‚enzyklopädischen Versuche‘ neuer diskontinuierlicher Literaturgeschichten und einem Aufzeigen des ‚positivistisch-sam-

 Jan-Dirk Müller: Literaturgeschichte als Mikrogeschichte. Zur Schwierigkeit, eine Geschichte vormoderner Literatur zu schreiben. In: Matthias Buschmeier, Walter Erhart und Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin, Boston 2014, S. 165 – 184.  Dirk Werle: Für eine Literaturgeschichte semantischer Einheiten. In: Matthias Buschmeier, Walter Erhart und Kai Kauffmann (Hg.): Literaturgeschichte. Theorien – Modelle – Praktiken. Berlin, Boston 2014, S. 63 – 85.  Carlo Ginzburg: Il Formaggio e i Vermi. Il Cosmo di un Mugnaio del Cinquecento. Turin 1976 und Emmanuel Le Roy Ladurie: Montaillou,Village Occitan de 1294 à 1324. Paris 1975. Zusammenfassend zu internationalen Positionen der Mikrogeschichte mit Literaturhinweisen vgl. Jürgen Schlumbohm: Mikrogeschichte – Makrogeschichte: Zur Eröffnung einer Debatte. In: Jürgen Schlumbohm und Maurizio Gribaudi (Hg.): Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Komplementär oder inkommensurabel?. Göttingen 22000, S. 7– 32 und Sigurður Gylfi Magnússon und István M. Szijártó: What is Microhistory? Theory and Practice. London, New York 2013. Zur literaturwissenschaftlichen Anwendbarkeit vgl. z. B. Michael Ott: Fünfzehnhundertsiebenundachtzig. Literatur, Geschichte und die Historia von D. Johann Fausten. Frankfurt a. M. 2014, v. a. S. 42 f.  Müller: Literaturgeschichte als Mikrogeschichte, S. 167 f.  Müller: Literaturgeschichte als Mikrogeschichte, S. 169. Hier grenzt sich Müller explizit von Hans Robert Jauß ab, der das formalistische Konzept auf die ältere Literatur zu übertragen versuchte. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1997, S. 144– 207.

6.1 Zu partialer Literaturgeschichtsschreibung

155

melnden‘ Vorgehens in Teilen der Frühneuzeitforschung¹⁰ fordert Müller, „eine mittlere Ebene zwischen ‚Meistererzählung‘ und historischer Einzelanalyse“ einzunehmen, auf der dann „jene vielen Geschichten angesiedelt werden […], die sich durchaus nicht einer einzigen Geschichte subsumieren lassen, sondern mehr oder weniger miteinander verknäult ablaufen.“¹¹ Auch bei einer Konzentration auf synchrone Phänomene in einer Mikrogeschichte sind also (zumindest punktuell) lange Zeiträume als relevante Traditionslinien mitzudenken. Denn Alltagsphänomene erweisen sich – mit Foucault – als „massive Phänomene von jahrhundertelanger Tragweite“.¹² Dem Verfahren einer mikrogeschichtlich ausgerichteten Literaturgeschichte folgte cum grano salis der zweite Hauptteil der Untersuchung, indem er mit den Texten des Betteldiskurses ein zeitlich und räumlich möglichst kleinräumiges Phänomen untersucht und beschreibt. Freilich beschränkt sich die vorliegende Untersuchung auf ein soziales Phänomen und seine literarischen Ausprägungen, wodurch es den Prämissen einer möglichst umfassenden Beschreibung eines möglichst kleinen (Zeit‐)Raums widerspricht. Man könnte das Vorgehen demnach eher als Mikro-Motivuntersuchung bezeichnen. Damit ist bereits das zweite literaturtheoretische Problemfeld erreicht. Denn unter einer ‚Literaturgeschichte semantischer Einheiten‘ ist im weiteren Sinne ein Überbegriff zu verstehen, unter welchen auch Stoff- und Motivgeschichte fallen. Diese Verfahren waren zwar in der literaturwissenschaftlichen Praxis stets präsent, sind methodologisch jedoch in Verruf geraten, da sie in Orientierung auf ältere Forschungsbeiträge selten über das positivistische Sammeln von Belegstellen und die Rekonstruktion von Abhängigkeitsverhältnissen hinausgingen.¹³ Dabei kann man einwenden, dass diese „Kritik […] beinahe so alt wie die Stoff- und Motivforschung selber“¹⁴ ist. So betont Manfred Beller, der eine Neuorientierung der Stoff- und Motivgeschichte unter den Auspizien einer Thematologie anstrebt, „das unausrottbare Unbehagen gegenüber aller ‚Stoffhuberei‘“ und nennt „die Differenzen zwischen begrifflicher Beschränkung, geistesgeschichtlicher Allgemeinverbindlichkeit und philologischer Ungenauigkeit“, um „der konventionellen ‚Stoffgeschichte‘ die Leich-

 Vgl. Müller: Literaturgeschichte als Mikrogeschichte, S. 171– 177. Das zentrale Beispiel für die erste Form ist David E. Wellbery, Hans Ulrich Gumbrecht u. a. (Hg.): Eine neue Geschichte der deutschen Literatur. Berlin 2007; für die zweite Form Hans Rupprich: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Erster Teil. Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1370 – 1520. München 1970.  Müller: Literaturgeschichte als Mikrogeschichte, S. 177.  Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. München 1974, S. 38.  Vgl. Rudolf Drux: [Art.] Motivgeschichte. In: RLW 2, S. 638 – 642, hier S. 642 und Hans-Jakob Werlen: Stoff- und Motivanalyse. In: Jost Schneider (Hg.): Methodengeschichte der Germanistik. Berlin, New York 2009, S. 661– 677, hier S. 663.  Werlen: Stoff- und Motivanalyse, S. 674.

156

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

abdankung zu singen.“¹⁵ Tatsächlich präzisierte die Umbenennung und Akzentverschiebung die Methode nicht.¹⁶ Einen Versuch, dieses vernachlässigte Betätigungsfeld der Literaturwissenschaft „textlich-philologisch fundiert und von theoretischen Fragestellungen und Reflexionen begleitet“¹⁷ aufzuarbeiten, unternahm die Kommission „Literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung“ an der Göttinger Akademie der Wissenschaften.¹⁸ Die Arbeitsgruppe definiert ihren Gegenstand so: Ein Motiv ist ein schematisierter Vorstellungsgegenstand von gewisser Konkretheit und Typik, der, wenn er textlich realisiert – nicht nur angedeutet oder genannt – wird, ein Werk passagenweise oder ganz prägt oder von dem der Motivanalytiker annimmt, daß dies der Fall ist.¹⁹

Der konstruierte Charakter des ‚Motivs‘ basiert auf den Annahmen Ulrich Mölks, der auch an der Kommission beteiligt war. Er stellt kurz und bündig fest: „Was ein literarisches Motiv ist, entscheidet der Interpret.“²⁰ Weiter betont er den relationalen Status eines Motivs. Es handle sich um „eine Abstraktion, eine Raffung, ein Schema dessen, was auf der Bedeutungsebene als konkret, ausgebreitet und ausgefüllt erscheint, in viel höherem Maße freilich auf der Vorstellungsebene (des Lesers)“.²¹ Wohlgemerkt geht es Mölk um die Festlegung einer inhaltlichen Binnendifferenzierung eines Textes. Der Begriff ‚Motiv‘ ist methodisch auch deshalb besonders schwer greifbar, da er zwei Kategorien abdeckt: eine textimmanente syntagmatische und eine textübergreifende paradigmatische. Auf einer syntagmatischen Ebene (1) innerhalb eines Textes bezeichnet das Motiv gemäß seiner Etymologie – abgeleitet von lat. movere bedeutet motivum schon ab dem späten Mittellatein Handlung oder Handlungser-

 Alle Zitate Manfred Beller: Von der Stoffgeschichte zur Thematologie. Ein Beitrag zur komparatistischen Methodenlehre. In: Arcadia 5 (1970), S. 1– 38, hier S. 34.  Vgl. dazu bereits John Adam Bisanz: Zwischen Stoffgeschichte und Thematologie. Betrachtungen zu einem literaturtheoretischen Dilemma. In: DVjs 47 (1973), S. 148 – 166; außerdem Werlen: Stoff- und Motivanalyse, S. 661 f. Ein Problem der Thematologie als internationale Methode ist auch, dass die postulierte terminologische Schärfe in einer komparatistischen Verwendung durch die Überschneidung mit engl. theme oder frz. thème kontaminiert wird.  Theodor Wolpers: Wege der Göttinger Motiv- und Themenforschung. In: Theodor Wolpers (Hg.): Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Göttingen 2002, S. 41– 112, hier S. 43.  Vgl. Wolpers: Motiv- und Themenforschung, S. 43.  Wolpers: Motiv- und Themenforschung, S. 76.  Ulrich Mölk: Das Dilemma der literarischen Motivforschung und die europäische Bedeutungsgeschichte von ‚Motiv‘. Überlegungen und Dokumentation. In: Romanisches Jahrbuch 42 (1991), S. 91– 120, hier S. 101.  Mölk: Das Dilemma der literarischen Motivforschung, S. 99.

6.1 Zu partialer Literaturgeschichtsschreibung

157

gebnis ²² – die „[k]leinste selbständige Inhalts-Einheit“,²³ welche die Handlung voranbringt. So besagt die strukturalistische Basisdefinition von Motiv, es handele sich um eine „proposition predicating an action (a) to a character (c)“.²⁴ Daneben steht für Mölk jedoch die paradigmatische Ebene (2) einer Motivgeschichte, die dann von einem Motiv spricht, „wenn man es wiedererkennt, im selben oder in einem anderen literarischen Werk.“²⁵ Diese Zweiteilung deckt sich mit der bekannten Definition von Motiv als „[k]leinste[s] […] tradierbares intertextuelles Element eines literarischen Werks“²⁶ – eine Auffassung, die auf die finnische Märchenforschung nach Stith Thompson zurückgeht: „A motif is the smallest element in a tale having a power to persist in tradition.“²⁷ Um in der Tradition bestehen zu können, müssten Motive etwas Ungewöhnliches oder Auffallendes aufweisen, also salient sein. Generell seien sie nach Thompson in drei Klassen einzuteilen: Akteure/Figuren, Gegenstände/Requisiten und Ereignisse.²⁸ Die Bezeichnung ‚Motiv‘ ist also nicht eindeutig. Das verdeutlicht folgendes Beispiel: Während Ophelia als Element des textimmanenten Syntagmas im Drama Hamlet wohl schwerlich als ‚Motiv‘ zu bezeichnen ist, kann man von einem Opheliamotiv sprechen, sobald andere Texte das Textelement aufnehmen und produktiv umsetzen. Für eine produktive Aneignung ist eine gewisse Variation oder Transformation des ursprünglichen Textelements zentral. Auch wenn mehrere identische Drucke des Shakespeare-Textes vorliegen, ist das noch keine paradigmatische Reihe, sehr wohl aber wenn Arthur Rimbaud oder Georg Heym das Motiv der Wasserleiche bearbeiten. Syntagmatisch wäre in dem Beispiel demnach der ‚Selbstmord der Ophelia‘ ein Motiv, d. h. ein Element des Handlungsvorgangs, nicht jedoch die Figur an sich. Diese Konfusion der beiden Dimensionen (paradigmatisch und syntagmatisch) provoziert für die Motivgeschichte die Kritik, dass, „insofern das Motiv gerade als Element der Handlung aufgefasst wird, […] dieses Verfahren besonders fragwürdig“²⁹ wird. Noch verwirrender wird es angesichts der weiteren kategorial abweichenden Wortverwendungen wie ‚Leitmotiv‘ oder ‚blindes Motiv‘.³⁰ Die Aussage ist also noch

 Vgl. Ulrich Mölk: Zur europäischen Bedeutungsgeschichte von ‚Motiv‘ vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. In: Theodor Wolpers (Hg.): Ergebnisse und Perspektiven der literaturwissenschaftlichen Motiv- und Themenforschung. Göttingen 2002, S. 11– 20, hier S. 11.  Rudolf Drux: [Art.] Motiv. In: RLW 2, S. 638 – 641, hier S. 638.  Lubomír Doležel: From Motifemes to Motifs. In: Poetica 4 (1972), S. 55 – 90, hier S. 60.  Mölk: Das Dilemma der literarischen Motivforschung, S. 101.  Drux: [Art.] Motiv. In: RLW 2, hier S. 638.  Stith Thompson: The Folktale. New York 1946, S. 415. Diese Definition wird aufgegriffen von Max Lüthi: Märchen. Stuttgart 1962, S. 19. Auf Lüthi rekurriert weiter Mölk: Das Dilemma der literarischen Motivforschung, S. 101.  Vgl. Thompson: Folktale, S. 415 f.  Werle: Literaturgeschichte semantischer Einheiten, S. 70.  Vgl. dazu Elisabeth Frenzel: Stoff-, Motiv- und Symbolforschung. Stuttgart 21966, S. 34. Zu den divergierenden Definitionsversuchen vgl. Mölk: Das Dilemma der literarischen Motivforschung, S. 100 f.

158

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

aktuell: „Eine konsensfähige Definition des Motiv-Begriffs konnte sich bis heute nicht durchsetzen“.³¹ Für eine begriffliche Konkretisierung scheint es mir daher angebracht, bezüglich paradigmatischer Zusammenhänge den Begriff des traditionalen Musters zu gebrauchen, welcher die angesprochenen Eigenschaften des Motivs in einer historischen Reihe besser beschreibt.³² In eine andere Richtung geht der Versuch einer begrifflichen Präzisierung bei Dirk Werle, der den Terminus semantische Einheit vorschlägt. Er spricht sich nicht für eine Entdifferenzierung der elaborierten Methoden zur Untersuchung von ‚Metapher‘, ‚Symbol‘, ‚Motiv‘, ‚Thema‘ und ‚Topos‘ aus, hält jedoch seinen Sammelbegriff für notwendig, gerade hinsichtlich der praktischen Anschlussfähigkeit in der Textanalyse.³³ So würden gewisse Textmanifestationen im Akt der Textproduktion, ‐rezeption oder ‐interpretation einer speziellen semantischen Kategorie zugewiesen. Das heißt, die Festlegung eines Textelements werde letztlich vom Interpreten vorgenommen. Texte können jedoch auch in dem Bewusstsein produziert sein, einen Textbaustein als Symbol, Motiv, Metapher oder Topos zu verwenden, und durch Signale eine Lenkung des Modellrezipienten vornehmen, was jedoch keine Einordnung in ein abstraktes, überstrukturiertes Kategoriensystem legitimiert.³⁴ Schließlich weist Werle darauf hin, dass die semantischen Einheiten „nicht Textereignisse darstellen, die sich rein auf der Textoberfläche ablesen lassen“, sondern dass es „sich durchweg um interpretierende Rekonstruktionen von Elementen der Bedeutungsebene des Textes“³⁵ handle. Diese Verarbeitungstiefe teilen sich semantische Einheiten und traditionale Muster. Während das Sprechen von semantischen Einheiten aber die Bedeutungen des Einzeltextes fokussiert, akzentuiert das Sprechen von traditionalen Mustern die Prozesse der Textüberlieferung und damit den diachronen Zusammenhang zwischen den semantischen Einheiten, jedoch auch den Zusammenhang zwischen anderen prozedural entwickelten Phänomenen, wie Gattungen oder Ideen.³⁶ Es kommt somit allenfalls zu einer marginalen Überschneidung, vielmehr aber zu einer sinnvollen Ergänzung der beiden Konzepte. Diese methodische Vereinigung der Konzepte von Motivgeschichte und Traditionstheorie widerspricht auf den ersten Blick dem Verdikt, welches Wilfried Barner³⁷

 Drux: [Art.] Motiv. In: RLW 2, hier S. 639.  Mehr dazu in Kapitel 6.2.  Vgl. Werle: Literaturgeschichte semantischer Einheiten, S. 72 f. et passim.  Vgl. zu den aufgezeigten Problemen: Werlen: Stoff- und Motivanalyse, S. 667.  Werle: Literaturgeschichte semantischer Einheiten, S. 71. Vgl. auch Mölk: Das Dilemma der literarischen Motivforschung, S. 100.  Über das Verhältnis von Idee und semantischer Einheit urteilt Werle: „Die Idee ist ein Teil der Textbedeutung, aber ihre textuelle Verfasstheit ist nicht konstitutiv; sie ist ein zunächst textunabhängig gedachter kognitiv-epistemischer Gehalt. Eine semantische Einheit dagegen ist eine konstitutiv textuell gestaltete Sinneinheit“; Werle: Literaturgeschichte semantischer Einheiten, S. 74.  Zur Barners einflussreicher Kategorie des literarischen Traditionsverhaltens vgl. Kapitel 6.2.1.

6.1 Zu partialer Literaturgeschichtsschreibung

159

gegen die Untersuchung der „Tradition von Textelementen“³⁸ vorbrachte. Barners Einwände sind jedoch eher fachgeschichtlich zu begründen, und zwar in dem Sinne, dass er sich vor allem gegen Zugriffe einer methodisch unreflektierten, rein positivistisch sammelnden Stoff- oder Motivgeschichte und Toposforschung richtete.³⁹ Ich teile somit die Annahme von Werle, dass durch einen reflektierten und kontrollierten Umgang⁴⁰ die literarhistorische Untersuchung semantischer Einheiten als traditionale Muster „über die von Barner angesprochenen Bereiche der Tradition von Normen und Werten, von textualer und personaler Tradition hinaus besonders geeignet [ist] für die Erforschung und Vermittlung der Vielgestaltigkeit der literarischen Tradition.“⁴¹ Als Vorzug einer Literaturgeschichte semantischer Einheiten im Gegensatz zu einer konventionellen Literaturgeschichte nennt Werle weiter die Möglichkeit, „das stets in der Gefahr der Kanonisierung und Festschreibung befindliche Bild der Literaturgeschichte durch vielfältige Perspektivierungen anzureichern und in seiner Differenziertheit kenntlich werden zu lassen.“⁴² Der notwendigen Komplexitätsreduktion dient also nicht die Konzentration auf eine einzelne Gattung, einen Autor oder eine Zeitspanne (‚Epoche‘), sondern die Einschränkung auf ein spezifisches Muster. So wird ein extensiver Blick auf verschiedene Gattungen, Zeiten, Autoren und Kontexte möglich. Gleichzeitig erleichtert der Fokus auf einen Textbaustein auch die Analyse nicht-kanonischer Texte. Bei motivgeschichtlichen Zusammenhängen gelten mithin ähnliche Prämissen wie bei der Gattungsgeschichte, da beide Verfahren rekonstruierend eine Textreihe in ihrer „historische[n] Dynamik“⁴³ beschreiben. Gerade bei der Analyse mittelalterlicher (und z.T. frühneuzeitlicher) Texte nähern sich die beiden Verfahren noch mehr an, da der „Traditionalismus des Mittelalters […] auf Autoritäten und autorisierte Muster gerichtet [ist], nicht auf Begriffe, Regeln und Systeme“.⁴⁴ Die Orientierung im Feld der mittelalterlichen Literatur ist nämlich weniger streng an gattungssystematische, sondern neben personalen Autoritäten an motivische und thematische Muster gebunden; in weiten Teilen der volkssprachigen

 Wilfried Barner: Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung. In: Wilfried Barner (Hg.): Pioniere, Schulen, Pluralismus. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1997, S. 253 – 276, hier S. 266.  So erwähnt er die „fatalen Folgen einer mechanisch-geistlosen Traditionenforschung, wie sie in der Toposforschung zu beobachten waren“; Wilfried Barner: Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland. In: Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987, S. 3 – 51, hier S. 12.  Werle führt in seinen Überlegungen in einer refutatio mögliche Nachteile und Kritikpunkte an einer Literaturgeschichte semantischer Einheiten an und positioniert sich zu diesen. Vgl. Werle: Literaturgeschichte semantischer Einheiten, S. 74– 80.  Werle: Literaturgeschichte semantischer Einheiten, S. 82 f.  Werle: Literaturgeschichte semantischer Einheiten, S. 83.  Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer (Hg.): Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Tübingen 1999, S. 193 – 210, hier S. 210.  Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 209.

160

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

Literatur existieren nicht einmal explizite Gattungskonventionen. Eine Analyse der traditionalen Muster bietet demnach bessere Möglichkeiten, um Kontinuität und Variation in einer Textreihe aufzuzeigen. Die Bedeutung von „normbildenden Werken (Prototypen)“⁴⁵ bezieht sich also sowohl auf die Institutionalisierung von Gattungen als auch von spezifischen Motivkomplexen. Mitunter gibt es Interferenzen zwischen einer Gattungsgeschichte und einer Motivgeschichte, da manche Motive Affinitäten zu speziellen Gattungen aufweisen oder sogar (mehr oder weniger) fest mit diesen verbunden sind (z. B. der Schelm mit dem Schwank- und Pikaroroman).⁴⁶ In der mediävistischen Theoriediskussion wird diese Dominanz von Wiederholungen unter der Bezeichnung „Wiedererzählen“ oder „Retextualisierung“ diskutiert.⁴⁷ Dirk Werle und Jan-Dirk Müller zeigen in ihren Überlegungen, dass es auch ‚nach der Theorie‘ möglich ist, Literaturgeschichte zu schreiben und dass eine solche Literaturgeschichte durchaus Entwicklungen und Richtungen darstellen darf. Vorbedingungen für ein solches Unterfangen sind theoretische Transparenz und methodische Selbstreflexion. Außerdem ließe sich diese Form der Literaturgeschichte am besten umsetzen, indem nur Teilelemente der Historie wie semantische Einheiten untersucht werden, um der Illusion einer universalen, homogenen Metaerzählung zu entgehen. Ich versuche diese beiden Ansätze zu verbinden. Im ersten Teil habe ich den ‚Fahrenden Schüler‘ als konkretes Muster aus den sozial- und ideengeschichtlichen Konstellationen extrahiert, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus dem Bettlerdiskurs das Figurenmotiv ausformten. Folgt man der kulturpoetischen Metapher von Text und Kultur als textum (‚Gewebtes‘),⁴⁸ welches aus Diskursfäden besteht, die einerseits den Diskurs repräsen-

 Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre, Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977, S. 27– 44, hier S. 30 [Hervorhebung im Original].  Zu Gattungsaffinitäten vgl. Wolpers: Motiv- und Themenforschung, S. 92 f. und Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 62008, S. XIV; Frenzel: Stoff-, Motiv- und Symbolforschung, S. 83. Elisabeth Frenzel geht weiter davon aus, dass es auch epochenspezifische und „nationaltypische“ Motive gebe. Frenzel: Motive der Weltliteratur, S. XIV.  Grundlegend dazu Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Walter Haug (Hg.): Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Tübingen 1999, S. 128 – 142 und Joachim Bumke und Ursula Peters (Hg.): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Berlin 2005. Vgl. auch Kapitel 6.3.  Zum sog. erweiterten Textbegriff vgl. Moritz Baßler: Einleitung: New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel 22001, S. 7– 28, hier S. 14 f. und Stephen Greenblatt: Kultur. In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Tübingen, Basel 22001, S. 48 – 59, hier S. 55: „Eine Kultur ist ein bestimmtes Netzwerk von Verhandlungen“. Diese Vorstellung basiert auf der grundsätzlichen Konfrontation von der ‚Geschichtlichkeit von Texten‘ und der ‚Textualität von Geschichte‘. Vgl. die vielzitierte Aussage in Louis A. Montrose: Professing the Renaissance. The Poetics and Politics of Culture. In: Harold Veeser (Hg.): The New Historicism. London, New York 1989, S. 15 – 36, hier S. 20: „The poststructuralist orientation to history now emerging in literary studies I characterize chiastically, as a reciprocal concern with the historicity of texts and the textuality of history.“ Sie geht

6.1 Zu partialer Literaturgeschichtsschreibung

161

tieren, andererseits gemäß ihrer reziproken Verfasstheit den Diskurs auch konstruieren, dann fände man um 1500 bezüglich des Ausdrucks und der Vorstellung ‚Fahrender Schüler‘ ein verwickeltes Knäuel vor.⁴⁹ Die motivgeschichtliche Analyse (griech. ἀναλύω ‚auflösen‘, ‚zerstreuen‘) löst im wörtlichen Sinne einen einzelnen Faden heraus, um seine Beschaffenheit und Geschichte nachzuvollziehen. Bei dieser Analyse ist die Situation des Referenzzeitpunkts mitzudenken, hier die Frühe Neuzeit um 1500. Das geschichtlich Vorherliegende kann dabei nicht als ‚Vorläufer‘ gemäß einer zielgerichteten Entwicklung aufgefasst werden, sondern allenfalls durch seine ähnliche Disposition; die Analyse der semantischen Einheit aber bietet den methodischen ‚roten Faden‘ in der komplexen und mitunter chaotischen Historie. Auch wenn eine Literaturgeschichte semantischer Einheiten ihren Untersuchungsgegenstand inhaltlich einschränken kann, ist eine Vollständigkeit der zu untersuchenden Texte nicht möglich, vor allem wenn man nicht per se eine Einschränkung auf kanonisierte Texte einer bestimmten Epoche vornimmt. Gerade im Umgang mit vormoderner Literatur ist ein Vollständigkeitspostulat ohnehin absurd, da die Textüberlieferung ebenso einer gewissen Kontingenz unterworfen ist wie die Textauswahl der Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen als Menschen, die etwas übersehen, Fehler machen oder allgemein in der Praxis zeitlich terminiert sind. Diese Unzulänglichkeiten sind nur durch philologische Präzision und eine intensive wie extensive Lektüre auszugleichen. Dennoch soll Vollständigkeit gar nicht suggeriert werden, denn – mit Stephen Greenblatt gesprochen – „there is no escape from contingency.“⁵⁰

auf die grundsätzlichen Annahmen einer Metahistory von Hayden White und die historisch-kritische Begriffsgeschichte von Reinhart Koselleck zurück. Vgl. dazu White: Metahistory und Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 102017, S. 107– 128. Die Metapher des ‚Diskursfadens‘ findet sich unter anderem auch bei Roland Barthes: „le texte est un tissu de citations, issues des mille foyers de la culture“, Roland Barthes: De l’Œuvre au Texte. In: Roland Barthes (Hg.): Le Bruissement de la Langue. Paris 1984, S. 69 – 77, hier S. 65. Außerdem bei Clifford Geertz, der seinerseits auf die Verwendung bei Max Weber rekurriert: „Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe“; Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. M. 132015, S. 9.  Wagner-Egelhaaf wählt ein ähnliches Bild, spricht aber von einer „verfilzte[n] Struktur mit offenen bzw. losen Enden“; Martina Wagner-Egelhaaf: Literaturtheorie als Theorie der Gesellschaft? In: Nikolas Buck (Hg): Literatur Macht Gesellschaft. Neue Beiträge zur theoretischen Modellierung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft. Heidelberg 2015, S. 17– 38, hier S. 37.  Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley, Los Angeles 1988, S. 3.

162

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

6.2 Traditum, depositum, vestigium Immer wieder wurde von narrativen Mustern gesprochen (z. B. Kiening),⁵¹ welche auf die individuellen Ausarbeitungen von literarischen Texten einwirken und so Erzählkerne (Müller),⁵² Motive (Wolpers)⁵³ oder einzelne semantische Einheiten (Werle)⁵⁴ prägen. Die diachronen Dynamiken von Literatur prägen folgende Begriffe: Tradition als wiederholende Übergabehandlung in der Generationenfolge, das Archiv als Ort des Zugriffs und der Reaktualisierung von Dokumenten und die Spur als semiotische und materiale Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das traditum wird also mitunter zum depositum, dessen vestigium vom Interpreten aufzuspüren ist. Mehr dazu im Folgenden.

6.2.1 Tradition Eine zentrale Kategorie in der Beschäftigung mit diachronen Textzusammenhängen ist der Begriff ‚Tradition‘. Obwohl oder gerade weil ‚Tradition‘ in Alltagssprache und Forschung präsent ist, stellt der Begriff eine Herausforderung für den wissenschaftlichen Gebrauch dar. Noch dazu ist der Begriff sehr unterschiedlich besetzt. Eine Beschränkung und Präzisierung ist daher notwendig.⁵⁵ So gilt Tradition einerseits als „Grundlage und kulturelle Präfiguration von Erfahrung“,⁵⁶ als „das größte Vermögen des Menschen“⁵⁷ und als „anthropologische[s] Spezifikum“,⁵⁸ andererseits lagern sich an dem Begriff zahlreiche Vorurteile an, die ihn in Opposition zu Rationalität, Moderne und Innovation stellen sowie ihn politisch vereinnahmen.⁵⁹ Diese intrikate Situation versucht Thomas Arne Winter zu klären, indem er eine allgemeine Traditi-

 Kiening: Unheilige Familien, S. 35; ähnlich auch Zerweck: cognitive turn, S. 222 und Eichenberger: Geistliches Erzählen, S. 88; vgl. Kapitel 4.3.  Müller: Höfische Kompromisse, S. 23 u. ö.; vgl. Kapitel 4.2.  Wolpers: Motiv- und Themenforschung; vgl. auch Kapitel 6.1.  Werle Literaturgeschichte semantischer Einheiten; vgl. auch Kapitel 6.1.  Einen grundsätzlichen Überblick zu Etymologie, Geschichte und Verwendung des Begriffs bieten Volker Steenblock: [Art.] Tradition. In: HWPh 10, Sp. 1315 – 1329, Siegfried Wiedenhofer: [Art.] Tradition, Traditionalismus. In: GG 6, S. 607– 650 und Till R. Kuhnle: [Art.] Tradition – Innovation. In: ÄsthG 6, S. 74– 117. Zu den elaborierten (v. a. soziologischen und theologischen) Traditionstheorien vgl. Aleida Assmann: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 67– 90 und Karsten Dittmann: Tradition und Verfahren. Norderstedt 2004, S. 38 – 113.  Bernd Auerochs: Tradition als Grundlage und kulturelle Präfiguration von Erfahrung. In: Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart 2004, S. 24– 37, hier S. 24.  Leonhard Reinisch (Hg.): Vom Sinn der Tradition. München 1970, S. VII.  Thomas Arne Winter: Traditionstheorie. Eine philosophische Grundlegung. Tübingen 2017, S. 2.  Zu den einzelnen Vorurteilen vgl. Winter: Traditionstheorie, S. 9 – 15. Zur konservativen Aneignung des Begriffs vgl. Dittmann: Tradition und Verfahren, S. 21– 37.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

163

onstheorie vorlegt, welche um differentielle Theorien zu ergänzen wäre.⁶⁰ Grundlage seiner Überlegungen sind phänomenologische Überlegungen Heideggers und die Hermeneutik Gadamers. Martin Heidegger interpretiert Tradition als eine Verdeckungsgeschichte, welche durch Verborgenheit, Verschüttung und Verstellung eine kontinuierliche Entfernung von einem ‚authentischen‘ Ursprung bewirkt. Dieser könne nur durch eine sukzessive ‚Destruktion‘ (lat. destruere ‚abtragen‘) wiedererkannt werden.⁶¹ Durch die Eigenschaft der ‚Verdecktheit‘ werde Tradition zum „Gegenbegriff von ‚Phänomen‘“.⁶² Dieser Position widerspricht Hans-Georg Gadamer.⁶³ Ihm zufolge werde Erkenntnis nicht durch die Destruktion einer Tradition erreicht, die ein Hindernis für die Selbsterkenntnis darstelle. Stattdessen rehabilitiert er Tradition als „Bedingung des Verstehens“ mittels der traditionalen Autorität des Vor-Urteils.⁶⁴ Diese tiefe Erkenntnis der ‚Wahrheit‘ durch seine ‚Hermeneutik des Vertrauens‘ sei jedoch aufgrund ihres hermeneutischen Idealismus nur für eine homogene Tradition unter Ausblendung externer Faktoren möglich.⁶⁵ Zwischen der Authentizitätslogik Heideggers und der Spekulationslogik Gadamers „in ihrer radikalen Einseitigkeit“⁶⁶ versucht Winter zu vermitteln, indem er fünf Leitbegriffe aufstellt: Demnach müsse Tradition (1) unabhängig von der Frage der Wahrheit und allenfalls bezüglich ihres logischen Sinns behandelt werden. (2) Sie stehe ambivalent zwischen einer Ver-Deckung (Heidegger) und einer Ent-Deckung (Gadamer) und müsse (3) in ihrer Geschichtlichkeit betrachtet werden, was auch die Möglichkeit des Traditionsbruchs einschließt. Weiter sei (4) von einer Pluralität der Traditionen auszugehen und schließlich (5) von einer Bezugsdifferenz, dass also keine absolute Korrelation dazwischen bestehe, eine Tradition zu verstehen und sich in eine Tradition zu stellen.⁶⁷ Er ordnet seine eigene Erarbeitung weiter durch fünf Grund-

 Vgl.Winter: Traditionstheorie, S. 16. Ich versuche nicht, eine differenzielle Traditionstheorie für den Bereich der Literaturwissenschaften zu erstellen, sondern beziehe nur die luziden strukturellen Ergebnisse Winters bezüglich einer mustertheoretischen Traditionstheorie in mein Vorgehen ein. Zu einigen Überlegungen zur Adaptation von Traditionstheorie und Literaturwissenschaft vgl. Thomas Arne: Tradition und Literatur. Sinngabe und Sinnentzug. In: Philip Reich und Karolin Toledo Flores (Hg.): Tradition und Traditionsverhalten. Liteaturwissenschaftliche und kultuhistorische Perspektiven. Heidelberg (in Vorb.).  Vgl. Winter: Traditionstheorie, S. 23 – 87. Vgl. v. a. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 192006 und Martin Heidegger: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, hg. von Petra Jaeger. Frankfurt a. M. 1979.  Heidegger: Sein und Zeit, S. 36.  „Heidegger ging auf die Problematik der historischen Hermeneutik und Kritik nur ein, um von da aus in ontologischer Absicht die Vorstruktur des Verstehens zu entfalten. Wir gehen umgekehrt der Frage nach, wie die Hermeneutik […] der Geschichtlichkeit des Verstehens gerecht zu werden vermöchte“; Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 270.  Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 281.  Winter: Traditionstheorie, S. 88 – 148, hier v. a. S. 148.  Winter: Traditionstheorie, S. 152.  Vgl. zu den Leitbegriffen Winter: Traditionstheorie, S. 149 – 156.

164

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

begriffe: Weitergabe, Wiederholung, Muster, Verstehen und Sinn.⁶⁸ Diese interpretiert er abschließend traditionstheoretisch, wobei er sich an Modelle der Gabentheorie anlehnt.⁶⁹ Diese allgemeine Traditionstheorie bringt verschiedene Überlegungen zu Tradition in einen konzisen logischen Zusammenhang und folgt dem Anspruch einer philosophischen Grundlegung. Dieses hochgesteckte Ziel stellt jedoch eines der größten Mankos der Arbeit dar, derer sich der Verfasser auch bewusst ist. Denn eine Spezifizierung auf einen Teilbereich und damit eine Methodisierung bleibt aus, da der Verfasser alle Phänomene abdecken will. Außerdem ist die Überbewertung (absoluter) Innovation und Traditionsstiftung für die Analyse einer Motiv- oder Mustergeschichte – zumal für die Vormoderne – problematisch. Dies zeigte sich bereits in der Diskussion zwischen Cornelius Castoriadis und Paul Ricœur über eine creatio ex nihilo.⁷⁰ Zwar ist eine petitio principii (auch bei Winter) wohl nicht intendiert, jedoch besteht die Gefahr, beim Wunsch, die Geschichte einer Tradition zu schreiben, den ältesten Beleg als Archegeten überzubewerten, auch wenn dieser auf (möglicherweise verlorenen) Prätexten beruht. Hier ist ein Abgleich mit dem phänomenologischen Bild der Spur sinnvoll, welches Paul Ricœur mit Tradition und Überlieferung engführt.⁷¹

Traditionen und Muster – semantische und methodische Differenzierungen Das Wort traditio (von lat. trans-dare) stammt aus der römischen Rechtssprache und bezeichnet im Erbrecht die „formfreie Übergabe von körperlichen Sachen“.⁷² Auf diesen Umstand bezieht sich auch Hans Blumenberg, wenn er schreibt: „Die Tradition besteht nicht aus Relikten, sondern aus Testaten und Legaten.“⁷³ Aleida Assmann sieht im Testament sogar „die Urszene der Tradition“.⁷⁴ Jedoch wird der Begriff bereits seit der Antike auch auf rein geistige Weitergabehandlungen angewandt. In diesem Sinne prägte Johann Gottfried Herder die Metapher der Tradition als einer Kette:⁷⁵ Da nun aber unser specifische Charakter eben darinn liegt, daß wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine Lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die

 Vgl. Winter: Traditionstheorie, S. 159 – 226.  Vgl. Winter: Traditionstheorie, S. 226 – 292.  Vgl. Kapitel 4.2.  Es ist erstaunlich, dass Winter trotz seinem einerseits phänomenologischen, andererseits hermeneutischen Ausgangshorizont die phänomenologisch-hermeneutische Philosophie Ricœurs nicht beachtet.  Wiedenhofer: [Art.] Tradition, Traditionalismus. In: GG, S. 609. Als einzige Belegstelle für traditio als Terminus technicus im römischen Sachenrecht verweist Wiedenhofer auf die Institutiones Gaii, ein Lehrbuch zum Privatrecht aus dem 2. Jahrhundert nach Christus. Vgl. Gaius: Institutiones, hg. von Ulrich Manthe. Darmstadt 2004, II, 19 f.  Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 31996, S. 375.  Assmann: Zeit und Tradition, S. 93.  Vgl. dazu Christian Strub: Band, Kette. In: Ralf Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Darmstadt 2007, S. 23 – 34, hier S. 30 f.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

165

Perfectibilität als die Corruptibilität unseres Geschlechts hierauf beruhet: so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d. i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom Ersten bis zum letzten Gliede.⁷⁶

Dieses letzte Glied ist bei Herder jedoch nicht definit. Er geht von einer genealogischen „Kette stets wachsender, neuer Geschlechter“⁷⁷ und einer ständigen, fortschrittlichen Weitergabe von Mensch zu Mensch und von ‚Volk‘ zu ‚Volk‘ aus.⁷⁸ Die Statik der Kettenmetapher modifizieren Hegel⁷⁹ und später Curtius⁸⁰ zum Bild des mächtigen Stromes der Tradition. Jedoch bleibt auch dieses Bild einem essentialistischen Traditionsbegriff verhaftet, demzufolge Tradition an sich ist. Paul Ricœur versucht in seiner Ontologie von Narration und Zeitlichkeit mittels einer „Hermeneutik des historischen Bewußtseins“⁸¹ der Polysemie des Begriffs gerecht zu werden und damit seine Semantik zu erhellen. Dies macht er, indem er ‚Tradition‘ in drei Begriffe aufteilt. Er unterscheidet zwischen (1) dem formalen Begriff der Traditionalität und (2) dem materialen Begriff der tradierten Inhalte, den Traditionen (im Plural).⁸² Dazu kommt (3) der normative Begriff Tradition (im Singular), der als Legitimationsinstanz Wahrheit präsumiert und beansprucht, dadurch jedoch auch

 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, hg. von Wolfgang Pross. München,Wien 2002, S. 307. Ebenso weist er selbstbewusst die „Philosophie der Geschichte […], die die Kette der Tradition verfolgt“, als die „wahre Menschengeschichte“ aus, „ohne welche alle äußere Weltbegebenheiten nur Wolken sind oder erschreckende Mißgestalten werden“; alle Zitate aus Herder: Ideen, S. 313.  Herder: Ideen, S. 295.  Herder sieht Tradition zwar als „eine an sich vortreffliche, unserm Geschlecht unentbehrliche Naturordnung“, erkennt aber auch kritisch das diktatorische Potential der Tradition, sobald sie „in praktischen Staatsanstalten als im Unterricht alle Denkkraft fesselt“ und so „das wahre Opium des Geistes sowohl für Staaten als Sekten und einzelne Menschen“ wird; alle Zitate aus Herder: Ideen, S. 470.  „Diese Tradition ist aber nicht nur eine Haushälterin, die nur Empfangenes treu verwahrt und es so den Nachkommen unverändert überliefert. Sie ist nicht ein unbewegtes Steinbild, sondern lebendig und schwillt als ein mächtiger Strom, der sich vergrößert, je weiter er von seinem Ursprunge aus vorgedrungen ist“; Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. 1, hg. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 1971, S. 21.  „Die Literatur des ‚modernen‘ Europa ist mit der des mittelmeerischen so verwachsen, wie wenn der Rhein die Wasser des Tiber aufgenommen hätte“; Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Tübingen 111993 [1948], S. 19 f. Curtius richtet sich auch gegen die Vorstellung einer Kette, da diese den Sprüngen in der Überlieferung zuwiderlaufe. Vgl. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 396.  Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit. München 1991, S. 334, v. a. auch S. 355 – 371.  Dieser Differenzierung entspricht auch die Unterscheidung der Adjektive ‚traditional‘ und ‚traditionell‘. Während ‚traditional‘ die Zugehörigkeit zur Traditionalität als Seinsweise der Tradition (1) ausdrückt, bezieht sich ‚traditionell‘ auf die Eigenschaft der Traditionalität in den einzelnen Traditionen (2). Winter: Traditionstheorie, S. 17 folgert daraus (jedoch ohne Rekurs auf Ricœur): Demnach ist die „Traditionstheorie […] die Erforschung des Traditionalen, nicht des Traditionellen.“

166

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

unter Ideologieverdacht steht.⁸³ Unter die letzte Kategorie subsumiert Ricœur den hochgradig emotional aufgeladenen Diskurs um den Begriff Tradition von Adorno, Habermas und Gadamer.⁸⁴ Die normative Dimension des Begriffs in seiner singularischen Verwendung – also die Tradition als eine ontologische Kategorie – unterscheidet er so von einer Tradition, welche (weitgehend) neutral beschrieben werden kann. Die wissenschaftliche Alltagssprache folgt meist der Ricœur’schen Semantik von den Traditionen (2), die auf eine möglichst objektive Begriffsverwendung referiert; zum Beispiel wenn man davon spricht, dass A ‚in einer Tradition‘ von B steht. Ob man von ‚Traditionen‘ jedoch überhaupt absolut objektiv sprechen kann, wurde mehrfach bestritten, da „das normative Element einer die Gegenwart prägenden Autorität aus der Vergangenheit“⁸⁵ der Begriffsgeschichte inhärent sei. Trotz oder gerade wegen dieses sprachgeschichtlichen Ballasts bietet der Begriff aber zusätzliche Möglichkeiten. Ein Vorteil und eine Unterscheidung zu einer ausschließlich intertextuellen Analyse ist, dass sich das Verfahren nicht auf die Ebene des Textes beschränkt, sondern diachrone Textzusammenhänge als soziale Praxis analysiert und von den Positionen des Produzenten und des Rezipienten (als Tradenten und Akzipienten) ausgeht.⁸⁶ Auf diese Weise bietet sich die Möglichkeit, die individuellen Ziele im Traditionsbezug zu ermitteln; man kann so auch Phänomene wie das ‚Erfinden von Traditionen‘⁸⁷ untersuchen, bei denen gar kein tatsächlicher Bezug zu einem historischen Sachverhalt oder konkreten Prätext vorliegt, die aber an der normativen Semantik partizipieren und eine lange Vergangenheit insinuieren, um Autorität und Legitimität eines kulturellen Erbes zu gewinnen. Die Unterteilung Ricœurs erleichtert eine Beschreibung dieser Zusammenhänge. Die Differenzierung der beiden Kategorien Traditionalität und Traditionen folgt der etymologischen Doppelbedeutung von ‚Tradition‘ als Überlieferungsvorgang  Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 355 – 371, v. a. S. 367 und 364 f.  Vgl. Theodor W. Adorno: Über Tradition. In: Kulturkritik und Gesellschaft I. Frankfurt a. M. 1977, S. 310 – 320; zum Disput zwischen Habermas und Gadamer vgl. Jürgen Habermas: Zu Gadamers ‚Wahrheit und Methode‘. In: Karl-Otto Apel, Claus von Bormann u. a. (Hg.): Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt a. M. 1971, S. 45 – 56, hier S. 49 f.: „Gadamer verkennt die Kraft der Reflexion, die sich im Verstehen entfaltet“ und darin zeigt, „daß sie den Anspruch von Traditionen auch abweisen kann.“ Dort auch die Replik von Gadamer, S. 283 – 317.  Auerochs: Tradition, S. 776.  Manfred Pfister macht aus der Theorie der Intertextualität eine Methode und bezieht bei seiner Skalierung intertextueller Verweise auch die Instanzen des Produzenten und Rezipienten ein, v. a. in der Kategorie der ‚Kommunikativität‘. Vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Manfred Pfister und Ulrich Broich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 1– 30. Auch bei Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Manfred Pfister und Ulrich Broich (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 31– 47 sind diese Erweitungen, die über das ‚bloße Wechselspiel der Zeichen‘ hinausgehen, zentral. Damit variieren sie jedoch die Theorie der Intertextualität. Eine Analyse der traditionalen Zusammenhänge kehrt die Gewichtung von Text zu den beiden anderen Instanzen um.  Vgl. Eric J. Hobsbawm und Terence O. Ranger (Hg.): The Invention of Tradition. Cambridge 1983.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

167

(actus tradendi) und Überlieferungsmaterial (traditum), die bereits der griechischen (παράδοσις) und lateinischen Substantivierung (traditio) inhärent ist.⁸⁸ Der Überlieferungsvorgang als „Zusammenhangsstil der historischen Abfolge“ bildet eine „transzendentale Kategorie des Denkens von Geschichte“⁸⁹ und ist von einer generellen inneren Dialektik geprägt, welche aus dem Zeitenabstand resultiert. Zum einen ist der Abstand zur Vergangenheit natürlich unüberwindbar, zum anderen ist der Abstand apriorisch überwunden, sofern man über die Vergangenheit nachdenken kann. Die Spannung beim „Affiziertwerden durch die Vergangenheit“⁹⁰ besteht demnach aus der „Wirkung der Vergangenheit, die wir erleiden und der Rezeption der Vergangenheit, die wir vollziehen“,⁹¹ also einem passiven und einem aktiven Verhältnis zur Geschichte. Durch den Akt der Tradierung wird das Zeitintervall zwischen Gegenwart und Vergangenheit überbrückt und so zu einer „sinnschöpfenden Überlieferung“⁹² im dialektischen „Wechselspiel zwischen interpretierter Vergangenheit und interpretierender Gegenwart.“⁹³ Kern der Traditionalität ist also kein strenger Konservatismus, der mit dem unbedingten Bewahren des Vergangenen verbunden ist, sondern die Relation und je gegenwärtige Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit. Diese Dopplung vom Erleiden und Aufnehmen einer Tradition vergleicht Ricœur mit dem Bild der Spur, die (in der Vergangenheit) hinterlassen wurde und (in der Gegenwart) verfolgt wird.⁹⁴ Da eine Überwindung der Kluft zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem im Prozess der Überlieferung grundsätzlich der existenziellen Erfahrung des Todes und der historischen Erfahrung von Zäsuren und Brüchen (z. B. im Generationswechsel) widerspricht, ist Tradition „eine paradoxe Figur […], die im doppelten Sinne unwahrscheinlich ist“.⁹⁵ Gleichzeitig folgt daraus eine spezifische Form der Geschichtsaneignung als ‚kulturelle Strategie der Dauer‘.⁹⁶ Diese Strategie basiert auf symbolischen Ordnungen, die in sprachliche Strukturen eingebettet sind⁹⁷ – wobei in einer zirkulären Implikation natürlich auch die symbolischen, gesellschaftlichen

 Vgl. Wiedenhofer: [Art.] Tradition, Traditionalismus. In: GG 6, S. 611.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 355.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 349.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 355.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 358 [Herv. im Orig.]. Ricœur verwendet auch im Original den deutschen Terminus „Überlieferung“.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 358.  Vgl. dazu eingehender Kapitel 6.2.2.  Assmann: Zeit und Tradition, S. 158.  Assmann betont auch die Bedeutung der Genealogie als Modell für Kontinuität.Vgl. Assmann: Zeit und Tradition, S. 99 – 106.  Natürlich ist auch das Tradieren von Nichtsprachlichem möglich, wodurch auch Traditionsmaterial und -medium zusammenfallen. Doch auch nichtsprachliches Tradieren ist von Sprache erst ermöglicht oder zumindest begleitet (vgl. Auerochs: Tradition, S. 25). Da die Tradierungsprozesse jedoch in Nuancen voneinander abweichen, kann zwischen einer Sach-, einer Oral- und einer Literaltradition unterschieden werden. Vgl. Dittmann: Tradition und Verfahren, S. 122 – 124.

168

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

Ordnungen durch Sprache generiert werden.⁹⁸ Demnach versteht Ricœur unter Tradition „das schon Gesagte, sofern es uns entlang der Kette von Interpretationen und Neuinterpretationen überliefert ist.“⁹⁹ Durch die Erfindung der Schrift als spezifischem Medium sprachlicher Vermittlung wurde es möglich, Inhalte zu fixieren, Distanzen zwischen Raum und Zeit zu überwinden und so eine „zerdehnte Kommunikationssituation“¹⁰⁰ zu generieren, die geläufige Überlieferungsform der literalen Kultur der Moderne.¹⁰¹ Zwischen der individuell erlebten (phänomenologischen) und der kosmischen Zeit steht vermittelnd die historische als „eine dritte[ ] Zeit“,¹⁰² die durch eine Überkreuzung von historischer und fiktiver Narration entsteht und Identität konstituiert.¹⁰³ Diese Formation ähnelt in nuce den Überlegungen von Alasdair MacIntyre¹⁰⁴ und Hans Blumenberg.¹⁰⁵ ‚Tradition‘ beinhaltet in allen drei Ricœur’schen Ausprägungen eine Positionierung zur Vergangenheit, die in Differenz und Verbindung zur Gegenwart steht. Dabei ist es irrelevant, ob die jeweiligen Traditionen und der zeitliche Abstand realhistorisch oder fiktiv (respektive fingiert) sind. Es kommt vielmehr darauf an, wie die einzelnen Traditionen vom Rezipienten valorisiert und mit historischer Autorität ausgestattet werden. Von semantisch oder kategorial verwandten Begriffen (Gewohnheiten, Kon-

 Vgl. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 372– 454, v. a. S. 417 u. 398 f.: „Die gesellschaftlich-geschichtliche Institution ist die Erscheinungsform des gesellschaftlichen Imaginären und zugleich dessen Mittel, sich zur Erscheinung zu bringen. […] Ein beträchtlicher Teil der Bedeutungen einer Gesellschaft wird unmittelbar oder mittelbar in der und durch die Sprache instituiert“. Vgl. sehr ähnlich auch Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 358: „Die Sprache aber ist die große Institution – die Institution der Institutionen –, die uns allen immer schon vorausgeht.“  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 358. Zur Metapher der Tradition als einer Kette siehe oben.  Konrad Ehlich: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Aleida Assmann, Jan Assmann und Christof Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München 31998, S. 24– 44, hier S. 31 f.  Edward Shils differenziert zwischen „possessions“ und „stocks“, dem, was die Mitglieder einer Gesellschaft tatsächlich und aktiv wissen, und dem, was sie nur potentiell wissen könnten. Die „stocks“ umfassen dabei die materialen (textlichen) Artefakte, wie sie in Bibliotheken und Museen konserviert und potentiell zugänglich gemacht werden. Edward Shils: Tradition. London, Boston 1981, S. 25 – 27.Während es bei schriftlosen Kulturen keinen (oder nur einen minimalen) Unterschied gibt, ist „die Differenz zwischen der Masse des nur potentiell zugänglichen kulturellen Vorrats und dem schmalen Anteil des wirklich von Einzelnen Angeeigneten […] groß“; Auerochs: Tradition, S. 31 f.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 159 [Herv. des Originals getilgt].  Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Band I: Zeit und historische Erzählung. München 1988, S. 122 – 129 und Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 11 f.Vgl. dazu Stefan Scharfenberg: Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit. Zu Paul Ricœurs „Zeit und Erzählung“. Würzburg 2011, S. 121– 135.  Er geht auch von einer narrativen Entfaltung von biographischer und historischer Zeit aus, und zwar durch einen Menschen, der „in seinen Handlungen und in seiner Praxis ebenso wie in seinen Fiktionen im wesentlichen [sic!] ein Geschichten erzählendes Tier“ sei. Alasdair C. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1995, S. 288.  Vgl. die etwa zeitgleich zu Ricœur erschienene Studie Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

169

ventionen, Praktiken, Gesetzen etc.) unterscheiden sich ‚Traditionen‘ durch diese gezielte Anbindung an die Vergangenheit: As regards receptive affirmation, or conscious attachment to the past, the transition between practices/customs/laws on the one hand, and traditions on the other, is taken to be a continuous one; in other words, adherence to customs etc. might involve, though it does not need to involve, a measure of historical consciousness.¹⁰⁶

Damit wird die Bewertung durch den Rezipienten (oder Akzipienten) für den Prozess des Tradierens hervorgehoben.¹⁰⁷ Das wird schon in der dreifachen grammatikalischen Valenz des Wortes tradere (‚übergeben‘, ‚überliefern‘, ‚tradieren‘) deutlich: aliquis tradit alicui aliquid oder ‚a übergibt b Material c‘.¹⁰⁸ Auch wenn in den meisten europäischen Sprachen im Zusammenhang mit Überlieferungsprozessen der Übergebende und damit die ältere Generation semantisch im Zentrum steht (lat. trado; griech. παραδίδωμι), ist diese begriffliche Entscheidung keineswegs notwendig, wie das Hebräische zeigt: qabbalah (hebr. ‫‚ ַק ָּבָלה‬das Überlieferte‘, ‚die Kabbala‘) von qibbel (‚empfangen‘).¹⁰⁹ Hier werden der Empfangende und damit die jüngere Generation betont. Dieser Sprachvergleich macht deutlich, dass beide beteiligten Instanzen eigentlich gleich bedeutend und meist auch gleichbedeutend für den Überlieferungsprozess sind. Denn der Akzipient wird im Zuge der traditionalen Weitergabe seinerseits zum Tradenten. Jeder Tradent muss – mit Ausnahme eines (hypothetischen) Traditionsstifters – zuvor selbst Akzipient gewesen sein. Im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Gabe¹¹⁰ ist die traditionale Weitergabe jedoch durch den Rollenwechsel irreversibel und der Stifter wie der Akt der Tradition erst retrospektiv feststellbar.¹¹¹ Das führt dazu, dass eine bewusste Stiftung einer Tradition nur emphatische Rhetorik ist, der keine Praxis folgen muss. Die Mikrostruktur dieses Prozesses setzt sich zusammen aus der Übergabe eines Traditionsmaterials an einen Rezipienten, welcher im Prozess des Tradierens nun seinerseits wieder das Material weitergibt. Damit fallen der Empfangende und der

 János K. Nyíri: ‚Tradition‘ and Related Terms. A Semantic Survey. In: Tradition and Individuality. Essays. Dordrecht, Boston, London 1992, S. 61– 74, hier S. 73.  Es gibt einen kategorialen Unterschied zwischen dem Rezipienten und dem Akzipienten. Während ein Rezipient einen Text nur lesend/hörend/sehend usw. aufnimmt, nimmt der Akzipient das traditionale Muster auf, um es (als Traditionsmaterial) weiterzugeben. Ein Akzipient ist also notwendig ein Rezipient aber nicht vice versa. Wann ein Rezipent zum Akzipienten wird, ist aber erst im actus tradendi zu ermitteln, also wenn er auch zum Tradenten wird. Da der Akzipient immer auch zum Tradenten werden muss, unterscheiden sich diese beiden Begriffe nur hinsichtlich ihrer zeitlichen Perspektive, also zur Vergangenheit (Akzipient) oder Zukunft (Tradent). Vgl. dazu Winter: Traditionstheorie, S. 164 f.  Zu Terminologie und Konzeption vgl. Winter: Traditionstheorie, S. 159 – 173.  Vgl. Auerochs: Tradition, S. 24. (Anm. 2).  Winter orientiert sich an der Gabentheorie von Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 112016.  Vgl. Winter: Traditionstheorie, S. 168 – 170.

170

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

Gebende in einer Person zusammen. Vereinfachend stellt sich die Tradition als eine Kette dar. Dieses einfache Modell muss sich jedoch auf Sachtraditionen beschränken, z. B. auf das Vererben einer Taschenuhr.¹¹² Komplexeren Traditionsprozessen wird es nicht gerecht, da es sich bei einer Tradition um keinen eindimensionalen Prozess handelt; gerade bei schriftbasierten Tradition ist viemehr eine multigenetische, dynamische Struktur anzunehmen, wie es sich im Modell von Tradition als einem (Stamm‐)Baum vorstellen ließe.¹¹³ Grundlage ist die Erkenntnis, dass im Prozess der Weitergabe verschiedene Elemente eines Traditionsmaterials verändert werden können, indem Kürzungen, Erweiterungen oder Neukontextualisierungen eine Umakzentuierung vornehmen. Doch der Rezipient (zumal als Akzipient) darf nicht als passive Instanz gedacht werden, sondern nimmt aktiv am Traditionsakt teil. Er wählt aus dem Empfangenen kritisch oder selektiv aus, er gliedert es und passt es an sein Vorwissen an. Damit entstehen potentiell unendlich viele Varianten. Die Rekonstruktion eines Stammbaums, oder Stemmas, in dem die jeweiligen Abhängigkeiten spekulativ rekonstruiert werden – wie in der philologischen Textkritik oder der älteren Stoff- und Motivgeschichte – kann also auch nicht das Ziel einer Literaturgeschichte semantischer Einheiten sein. Eher böte sich die Metapher eines komplexen Netzes oder eines ineinander verflochtenen Rhizoms an.¹¹⁴ Für eine gelingende Weitergabe ist Wiederholung eine notwendige Voraussetzung. Dabei schließt Winter jedoch die absolute oder identische Wiederholung aus dem Bereich der Tradition aus. Stattdessen sind isomorphe Abweichungen, Variationen und Transformationen grundlegend für den Prozess des Tradierens.¹¹⁵ Auf den Kontext der vormodernen Schriftlichkeit bezogen sind absolute oder identische Wiederholungen allenfalls im Druckzeitalter in der Reproduktion mit denselben Stöcken auf demselben Beschreibstoff möglich. Wie bei der Handschriftenproduktion generell ist auch bei Drucken eine isomorphe (oder variierende) Abweichung von Fassungen der Normalfall.¹¹⁶ Sobald größere Eingriffe in den Textbestand vorgenommen werden,

 Vgl. mit Bezug auf andere Forschungsansätze: Dittmann: Tradition und Verfahren, S. 132.  Vgl. Dittmann: Tradition und Verfahren, S. 132– 134.  Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Rhizom. Berlin 1977. Ähnlich operiert das Modell der Semantischen Netze. Vgl. grundlegend Ross M. Quillian: Semantic Memory. In: Marvin Lee Minsky (Hg.): Semantic Information Processing. Cambridge (Mass.) 1968, S. 227– 270 und Klaus Reichenberger: Kompendium semantische Netze. Konzepte, Technologie, Modellierung. Heidelberg 2010.  Zum Folgenden vgl. Winter: Traditionstheorie, S. 178 – 185. Diese notwendige Variation des Traditionsmaterials in der ‚authentischen Weitergabe‘ beschreibt Winter durch die Gegenüberstellung von ‚Hingabe‘ und ‚Zugabe‘, der „existentielle[n] Dimension von Weitergabe“. Das bedeutet, dass der Tradent sich selbst völlig dediziert („Selbstwidmung und Selbstrücknahme“), der Akzipient jedoch notwendig Bestehendes variiert und dazugibt, um es in sein Selbst zu integrieren.Weiter gehören dazu auch pragmatisch begründetes Weglassen oder schlichtes Vergessen. Dazu Winter: Traditionstheorie, S. 248– 253. zit. S. 248 f.  Vgl. Joachim Bumke: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Aufführung und Schrift in Mittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart 1996, S. 118 – 129.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

171

also Kürzungen, Ergänzungen oder Umstellungen, ist von einer variierenden Textwiederholung zu sprechen. Wenn der Inhalt oder die Form eines Textes oder Textelements (d. h. auch eines Motivs) in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt werden, handelt es sich hingegen um eine transformierende Wiederholung, so auch bei allen Formen von Literatur auf zweiter Stufe wie Parodien etc.¹¹⁷ Grundsätzlich sind Wiederholung und Weitergabe nur möglich, sofern eine gewisse Ordnung in die tradita gebracht wurde, z. B. durch traditionale Muster. Winter definiert Muster als ein Phänomen, das „in einer bestimmten, fixierten und relationalen Ordnung mehrerer Elemente, die sich als diese Ordnung wiederholen kann“,¹¹⁸ besteht. Das Muster ist also in Relation zu seinem (synchronen) Ko(n)text fixiert, jedoch erst durch die (diachrone) Dimension der Wiederholung als Muster erkennbar, dabei jedoch – analog zu den Überlegungen zum ‚Motiv‘ – von der Position des Interpreten abhängig.¹¹⁹ Die phänomenologische Qualität des Musters ist bereits etymologisch evident (‚Muster‘ von lat. monstrare ‚zeigen‘) inhärent; sie kann in fünf Ausprägungen differenziert werden:¹²⁰ Das Muster zeigt sich (1) selbst als Phänomen;¹²¹ gerade artifizielle Muster weisen eine hohe Auffälligkeit (Salienz) auf, die jedoch vom Vorwissen des Interpreten und vom Kontrast zum umgebenden Kontext abhängig ist. Doch ein Muster hat auch eine deiktische Funktion (Etwaszeigen): Es kann (2) auf einer semiotischen Ebene ein Objekt repräsentieren, also die verweisende Funktion eines Zeichens einnehmen. Es kann (3) als Symbol einen anderen Gehalt vertreten oder/und (4) ein Bild darstellen.¹²² Im Gegensatz zum verweisenden und vertretenden Zeigen, deren semiotische Konstellation (meist) auf einer arbiträren Setzung beruht, und dem darstellenden Zeigen, das von einem Vor-Bild abhängt, ist „dem Medium des Musters […] das Gezeigte auf natürliche oder intrinsische Weise inhärent.“¹²³ Dieses ist durch ein (5) ermöglichendes Zeigen charakterisiert, als „eine Wirklichkeit, in der ihre eigene Möglichkeit mit präsent ist.“¹²⁴ Konstitutiv ist dafür die Eigenschaft der Wiederholbarkeit. Denn durch die Wiederholung wird das Muster zum einen erst erkennbar, zum anderen auch „jene inneren Möglichkeiten des Dinges, die sein Wesen ausmachen“ deutlich.¹²⁵ Das Muster aber steht mit den anderen drei Funktionen in einem doppelten Verhältnis. Einerseits wären die Bedeutungszuschreibung und das Erkennen

 Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 72015. Da dieser Spezialfall für das vorliegende Textcorpus besonders relevant ist, beschäftigt sich ein eigenes Unterkapitel damit. Vgl. Kapitel 5.2.1.  Winter: Traditionstheorie, S. 193 [Herv. im Orig.].  Vgl. mit einigen illustrierenden Beispielen Winter: Traditionstheorie, S. 193 – 196.  Zum Folgenden vgl. Winter: Traditionstheorie, S. 189 – 202.  Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 28. Abgeleitet von φαίνω ist als „Bedeutung des Ausdrucks ‚Phänomen‘ […] festzuhalten: das Sich-an-ihm-selbst-zeigende, das Offenbare.“  Unter Bild sind wohl auch andere Tropen zu fassen, wie die Metapher oder die Metonymie.  Winter: Traditionstheorie, S. 198.  Winter: Traditionstheorie, S. 198.  Winter: Traditionstheorie, S. 199 unter Berufung auf Heidegger’sche Gedanken.

172

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

von Zeichen/Symbolen/Bildern ohne die tradierende Wiederholung von Mustern nicht möglich, andererseits überlagern die anderen dominanten Funktionen die Musterfunktion: „Weil das Muster aber als Muster zurücktritt, sobald es als Zeichen, Symbol oder Bild fungiert, wird es als solches übersehen und sein Wesensmerkmal der Wiederholbarkeit wird z. B. den Zeichen direkt zugeschrieben.“¹²⁶ Es gibt also einen kategorialen Unterschied zwischen einem traditionalen Muster und einem Zeichen, einem Symbol oder einem Bild. Ein einzelnes Textelement kann je nach Perspektive als Zeichen auf ein anderes Objekt verweisen, als Symbol einen anderen Sinngehalt vertreten, als rhetorisches Stilmittel dienen, als (strukturell-syntagmatisches) Motiv einen Plot konstituieren oder als Muster in anderen Texten tradiert werden. Diese Funktionen schließen sich nicht aus und können gleichzeitig auftreten. Die Bewertung hängt letztlich vom Interpreten ab. Neben dem musterbildenden Textelement können auch andere Formen der schriftbasierten Musterbildung differenziert werden; z. B. „Gestaltungsmuster bestimmter Textsorten“¹²⁷ und historisch standardisierter Gattungen oder der Text als ‚Werk‘ selbst, das durch die Zuschreibung eines exzeptionellen Status (Klassiker) zum stilistischen und thematischen Muster wird.¹²⁸ Was die Gesellschaft als Muster wahrnimmt, ist das Ergebnis komplexer historischer und sozialer Prozesse, die festlegen, was (im kollektiven oder kulturellen Gedächtnis) ‚archiviert‘ wird und so salient ist, dass es auch ohne explizite Markierung auffällt. Auf diese Weise konstituieren traditionale Muster literarische Reihen. Auch wenn sich dieses Konzept aufgrund seiner Herkunft aus dem Russischen Formalismus dezidiert als Gegenvorschlag zu einer (substantialistischen) Tradition versteht, widerspricht es keineswegs einem Traditionsverständnis, welches auf konstruktivistischen und mustertheoretischen Prämissen beruht.¹²⁹ Jedoch ist die Privilegierung des Neuen, die dem formalistischen Konzept der ‚literarischen Evolution‘ eignet, einzu-

 Winter: Traditionstheorie, S. 201.  Winter: Traditionstheorie, S. 238. Im Mittelalter sind explizite Gattungen meist allenfalls in lateinischen Poetiken greifbar.  Einen Überblick zur Kategorie ‚Werk‘ mit Schwerpunkt auf der mediävistischen Forschung bietet Martin Baisch: Was ist ein Werk? Mittelalterliche Perspektiven. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 34 (2002), S. 105 – 125.  Zur Geschichte des Begriffs ‚Literarische Reihe‘ vgl. Jurij Tynjanov: Über die literarische Evolution [1927]. In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 51994, S. 433 – 461. Die Grundlage bildet das Prinzip ‚literarischer Evolution‘, das einzelne Werke aufgrund ihrer ‚externen Funktion‘ in einen Zusammenhang mit den vorgängigen Werken bringt. Grundlage dieser Vorstellung ist eine textimmanente Genese neuer Formen, die sich durch die dialektischen Prozesse der Kanonisierung zur ‚Höhenkammliteratur‘, der Automatisierung und der Verdrängung in die Peripherie entwickeln, ohne einen absoluten Zielpunkt annehmen zu müssen. Die Evolution einer literarischen Reihe wird bewusst als dynamisches Gegenkonzept zu einer substantialistischen Tradition entworfen, die als entelechische Kontinuität verworfen wird.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

173

schränken, zumal bei der Interpretation vormoderner Texte.¹³⁰ An diesem „unaufhörliche[n] Kampf des Neuen mit dem Alten“¹³¹ setzt die Kritik der Rezeptionsästhetik an, die sich zwar hinsichtlich Terminologie und Prämissen der ‚literarischen Evolution‘ bedient, das Neue aber von einer wertenden ästhetischen zu einer historischen Kategorie transformiert, objektiviert und so – nach Hans Robert Jauß – auch für vormoderne Texte anwendbar macht.¹³² In der mediävistischen Forschung konzentriert sich die Diskussion literarischer Reihen auf die Gattungsfrage: So postuliert Jauß, dass „die literarischen Gattungen nicht als genera (Klassen) im logischen Sinn, sondern als Gruppen oder historische Familien zu verstehen“ seien, die „als solche nicht abgeleitet oder definiert, sondern nur historisch bestimmt, abgegrenzt und beschrieben werden“ könnten.¹³³ Es seien keine normativen (ante rem) oder klassifikatorischen (post rem), sondern nur historische Bestimmungen (in re) von Gattungen möglich.¹³⁴ Joachim Heinzle greift diese Überlegungen auf, indem er sagt, dass Textgruppen oder ‚Gattungen‘ nur erfasst werden könnten, „wenn man die Typenbildung, statt sie aus vermeintlich überzeitlichen Konstanten herzuleiten […], als einen Prozeß begreift, der in fortwährender Traditionsstiftung [Rezeption eines Textes als modellhaftes Muster], Traditionserfüllung [Wiederholung des Musters] und Traditionsveränderung [Variation oder Transformation des Musters] die Hervorbringung der Texte lenkt“.¹³⁵ Klaus Grubmüller prägt die literarhistorische Bewertung von (mittelalterlichen) Gattungen als literarische Reihen, in denen im Prozess des geistesgeschichtlichen Wandels „die Kriterien, die für den Anfang galten, am Ende nicht mehr unbedingt“¹³⁶ gültig sein müssen. Dies treffe auf mittelalterliche – zumal volkssprachige – Literatur umso mehr zu, als diese eher einer Orientierung an traditionalen Mustern als einer theoretischen Systematik folge.¹³⁷ Eine Menge oder Liste an Kriterien, die für eine Gattung zutreffen müssen, ist für das Mittelalter mithin

 Es setzt „die ‚evolutionäre‘ Bedeutung und Charakteristik einer literarischen Erscheinung […] Innovation als entscheidendes Merkmal voraus“; Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 190. Dazu auch Müller: Literaturgeschichte als Mikrogeschichte, S. 167 f. Vgl. Kapitel 6.1.  Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 191.  Vgl. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 193 f. und S. 354 f.  Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. In: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956 – 1976. München 1977, S. 327– 358, hier S. 330  Vgl. Jauß: Theorie der Gattungen, S. 331. Diesem Anspruch wird Jauß nicht gerecht, da er doch eine – wenn auch differenzierte – Gattungsklassifikation erstellt. Vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 199.  Joachim Heinzle: Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik. In: ZfdA 107 (1978), S. 121– 138, hier S. 123 [Anm. P. R.].  Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 201.  Vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 195 f. und 208 f. Mehr dazu, auch zu den unterschiedlichen Konfigurationen in volkssprachiger und lateinischer Literatur vgl. Kapitel 6.3.

174

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

unzureichend, wie auch die ausufernden Diskussionen über die volkssprachige Gattung der Versnovellistik bewiesen hat.¹³⁸ Besser ist von musterhaften Prototypen oder Textsorten zu sprechen, die als traditionale Muster besonderen Einfluss auf die Bildung einer literarischen Reihe haben.¹³⁹ Oft sind kanonische Texte durch ihre eminente Wirkung auf andere Texte auch Prototypen für eine ‚Gattung‘ oder ‚Schreibweise‘. Da diese Prototypentheorie von ‚idealisierten kognitiven Modellen‘ (ICMs) ausgeht, ist sie dezidiert nicht auf Textgattungen beschränkt, sondern bezieht sich auch auf andere Phänomene, die zur strukturellen Organisation des Wissens beitragen.¹⁴⁰ Die umfassenden literaturtheoretischen Überlegungen zu einer literarischen Reihe als Gattungsparadigma sind grundlegend auf semantische Einheiten übertragbar. Denn sowohl Gattungen als auch semantische Einheiten sind traditionale Muster. Die ICMs verfahren ähnlich wie Schemata, „organisieren also Einheiten zu Gesamtheiten“,¹⁴¹ wobei sie aus einer existierenden Textmenge eine ideale Vorstellung modellieren. Im Gegensatz zum Schema ist ein Muster einer Gattung durch einen Text vertreten, welcher die idealen Bedingungen repräsentiert. Während das Schema also nicht (notwendig) in der Literaturgeschichte existiert, muss ein Muster (als bestes Beispiel) existent vorliegen oder vorgelegen sein.¹⁴² Auch wenn das Muster von der Instanz des Interpreten abhängig ist, partizipiert es doch in viel stärkerem Maße an einer materialen Basis.

Literarisches Traditionsverhalten und Traditionsdynamiken Das Erkennen eines Musters und das differenzierende Bewerten eines erkannten Musters als traditionales Muster (und nicht als Symbol oder Zeichen) hängen von der

 Vgl. die grundlegend mengentheoretische Definition für das ‚Märe‘ in Fischer/Janota: Märendichtung, S. 62 f.  Dazu Voßkamp: Gattungen sowie Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 208 f. und Doris Tophinke: Zum Problem der Gattungsgrenze. Möglichkeiten einer prototypentheoretischen Lösung. In: Barbara Frank, Thomas Haye und Doris Tophinke (Hg.): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Tübingen 1997, S. 161– 182, hier S. 165 – 179. Eine weitere Ausarbeitung und Anwendung außerdem bei Doris Tophinke: Handelstexte. Zur Textualität und Typik kaufmännischer Rechnungsbücher im Hanseraum des 14. und 15. Jahrhunderts. Tübingen 1999, v. a. S. 28 – 76, Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos, v. a. S. 11– 16 und Eichenberger: Geistliches Erzählen, v. a. S. 23 – 27.  „The main thesis of this book is that we organize our knowledge by means of structures called idealized cognitive models, or ICMs“; George Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things. What Categories Reveal About the Mind. Chicago 1987, S. 68.  Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt a. M. 1994, S. 169.  Damit ist der Schema-Begriff anders gefasst als bei Winter, der ausgehend von der Alltagssprache das Schema als „verarmtes, weil auf seine äußere Seite reduziertes Muster“ versteht; Winter: Traditionstheorie, S. 212.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

175

Position des interpretierenden Rezipienten ab.¹⁴³ Sobald der Rezipient durch eine produktive Aufnahme des Materials, also seine Positionierung zu und Aufnahme von (Mustern aus) der Vergangenheit, am Prozess des Tradierens teilnimmt und die rezeptive Rolle des Akzipienten – diese Rolle kann freilich erst retrospektiv zugeschrieben werden – mit der produktiven des Tradenten wechselt, ist dessen (literarisches) Traditionsverhalten analysierbar.¹⁴⁴ Mit der terminologischen Unterscheidung Ricœurs ist dieses Traditionsverhalten noch aufzuteilen in das Verhalten des Akzipienten einerseits zu den (materialen/inhaltlichen) Traditionen, andererseits zur (normativen) Tradition. Damit ist (1) beschreibbar, ob und inwiefern sich ein Akzipient zu vorgängigen Inhalten und Formen als traditionalen Mustern verhält: ob er diese affirmativ aufnimmt, variiert, explizit transformiert, emphatisch negiert oder einfach ignoriert. Ebenso lässt sich (2) die Positionierung zum normativen Diskurs der Tradition untersuchen. Dieser wird je nach Ausgangspunkt als Beschränkung kreativer Möglichkeiten oder autoritative Legitimationsinstanz bewertet. Literarisches Traditionsverhalten bezeichnet also einerseits die Aufnahme oder Ablehnung poetischer oder allgemein textlicher Elemente, andererseits das (rhetorische) Verhalten zur Tradition als „Legitimitätsinstanz mit Wahrheitsanspruch“.¹⁴⁵ Diese beiden Seiten sind zwar kategorial unterschiedlich, jedoch meist wechselseitig bedingt. Beispielsweise kann durch eine emphatische Traditionsbehauptung eine charakteristische Verknüpfung mit dem Objekt des Traditionsverhaltens hergestellt werden: Man stellt sich in eine Reihe mit einer (gesellschaftlich) als vorbildhaft empfundenen Instanz und erhöht damit die Legitimität der eigenen Aussagen. Eine andere Form expliziten Traditions-

 Das betonen sowohl Winter als auch Mölk (mit dem Begriff des Motivs). Die Bedeutung des Interpreten wird auch beim Spurbegriff hervorgehoben. Vgl. Kapitel 6.2.2.  Das Konzept des literarischen Traditionsverhaltens und seine methodischen Implikationen basieren auf den Schriften von Wilfried Barner: v. a. Über das Negieren von Tradition; Tradition als Kategorie der Literaturgeschichtsschreibung. In: Wilfried Barner (Hg.): Pioniere, Schulen, Pluralismus. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1997, S. 277– 296; Traditionsverhalten als Element kultureller Orientierung. Mit Erläuterungen am Beispiel von Leibnizens Reunionsbestrebungen. In: Sylvia Heudecker, Dirk Niefanger und Jörg Wesche (Hg.): Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Tübingen 2004, S. 183 – 197. Produktiv aufgegriffen wurde das Konzept von Dirk Niefanger, der das Konzept erweitert, indem er die Bezüge auf Pierre Bourdieu vertieft und feststellt, dass „Traditionsverhalten […] letztlich der Akkumulation symbolischen Kapitals“ diene und „Variation in der Regel das symbolische Kapital zu erhöhen vermag“; Dirk Niefanger: Die Chance einer ungefestigten Nationalliteratur. Traditionsverhalten im galanten Diskurs. In: Thomas Borgstedt und Andreas Sollbach (Hg.): Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Dresden 2001, S. 147– 163, hier S. 152. Diese feldtheoretische Erweiterung hat für mittelalterliche Texte nur eingeschränkt Geltung, da sie die moderne Privilegierung des Neuen zugrunde legt. Vgl. Dirk Niefanger: Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ‚Barock‘ und ‚Aufklärung‘. In: LiLi 25 (1995), S. 94– 118 und Dirk Niefanger: [Art.] Traditionsverhalten, literarisches. In: Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie 42008, S. 668.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 367.

176

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

verhaltens ist die Abgrenzung von einer als falsch oder veraltet bewerteten Tradition, welche eine ‚Korrektur‘ durch Kommentar, Variation oder Transformation erfährt. In Opposition zu einem affirmativen Traditionsverhalten steht die emphatische Traditionsnegation, die oft mit einem Innovationspostulat oder einem affirmativen Verhalten zu einer konkurrierenden Tradition verbunden ist. Eine Häufung solcher Traditionsnegationen kann dabei als Signum für einen ‚Epochen‘-Wechsel gewertet werden – im Sinne von griech. ἐποχή: ‚Haltepunkt‘, ‚Einschnitt‘. Dieses negierende Traditionsverhalten erschöpft sich jedoch nicht im Schaffen ‚neuer‘ Muster, sondern es ist ein „programmatischer Akt“ nötig, der sich „als gewissermaßen öffentlich inszenierter Akt der Traditionsablösung, sogar des Traditionsbruchs“¹⁴⁶ zeigt. Dass der Epochenwandel weniger eine Entwicklung, sondern mehr eine Festlegung post festum ist, hat auch Hans Blumenberg betont: „Als ‚Epoche‘ gilt erst für uns, was die rhetorische Hyperbel vom Epochemachenden aufgebracht hat“.¹⁴⁷ Es ist offensichtlich, dass es vielfältige Möglichkeiten gibt, „nach denen sich Tradition und Innovation verschränken“¹⁴⁸ und auch das extremste Innovationspostulat durch das Abarbeiten an einer bestehenden Tradition generiert wird.¹⁴⁹ Diesen Umstand fasst Bernhard Waldenfels als das „Paradox der Innovation“, da diese „etwas voraussetzt, das sie erneuert. Sie bricht mit der Vergangenheit, indem sie sie fortsetzt, und sie setzt sie fort, indem sie den Gang der Dinge unterbricht.“¹⁵⁰ Daraus folgert er, dass keine creatio ex nihilo möglich sei.¹⁵¹ Auch ein „zunächst normdurchbrechendes, traditionsnegierendes Werk [kann] seinerseits traditionsbildend, Teil einer neuen, autoritativen Tradition“¹⁵² werden. Das literarische Traditionsverhalten setzt sich also aktiv mit dem kulturellen Erbe auseinander und prägt so das kulturelle Gedächtnis.¹⁵³ Sobald die Aufnahme oder Nicht-Aufnahme traditionaler Muster nun rhetorisch hervorgehoben wird, handelt es sich um ein Verhalten zu der Tradition (als Legitimitätsinstanz). Prädestiniert für die Analyse des Traditionsverhaltens sind Texte oder Textteile, die  Barner: Über das Negieren von Tradition, S. 14. Er führt im Folgenden einige Beispiele zum Zusammenhang von emphatischer Traditionsnegation und einem Epochenwandel an.  Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a. M. 21996, S. 531.  Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Traditionswandel und Traditionsverhalten. Tübingen 1991, S. V.  Zur wechselseitigen Abhängigkeit der beiden Begriffe ‚Tradition‘ und ‚Innovation‘ und zur Verwendung des „zum Topos avancierten Begriffspaars“ vgl. Kuhnle: Tradition – Innovation. In: ÄsthG 6, S. 77.  Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden. Frankfurt a. M. 1990, S. 96.  Vgl. Kapitel 4.3. Waldenfels sagt dazu: „In diesem Sinne ist sie eben keine ‚absolute Schöpfung‘, sondern – wie Castoriadis selbst oft behauptet – eine Umgestaltung, ein Umschaffen. Die neue Gestalt ist letzten Endes nichts anderes als eine neue Weise des Wahrnehmens, Redens, Handelns oder Herstellens“; Bernhard Waldenfels: Der Primat der Einbildungskraft. Zur Rolle des Gesellschaftlichen Imaginären bei Cornelius Castoriadis. In: Revue européenne des sciences sociales 86 (1989), S. 141– 160, hier S. 156.  Barner: Über das Negieren von Tradition, S. 14.  Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

177

programmatische Aussagen beinhalten wie in Paratexten (Vorreden, Kommentaren) oder Exkursen.¹⁵⁴ Wie die Behauptung absoluter Neuerung ist auch die emphatische Traditionsstiftung vom literarischen Traditionsverhalten, von rhetorischen Strategien und ihrer retrospektiven Bewertung abhängig. Der Anspruch, auf die Zukunft zu wirken, ist der Zeichenqualität des ‚Monuments‘ inhärent. Denn auch wenn Paul Ricœur mit dem Verweis auf ihre grundsätzliche Institutionalität die beiden Begriffe ‚Dokument‘ und ‚Monument‘ gleichsetzt,¹⁵⁵ gibt es doch einen (zumindest graduellen) rezeptionsästhetischen Unterschied. Während ein detektivischer Beobachter Dokumente „als Hinweise und Zeichen auf eine verborgene gelebte Realität werten“ muss, sind Monumente „konstitutiv auf den Betrachter bezogen“.¹⁵⁶ Monumente fordern also durch ihre Struktur ein affirmatives Traditionsverhalten ein. Ob dieses Ziel in der Geschichte erreicht worden ist, muss hingegen retrospektiv vom (wissenschaftlichen) Interpreten bewertet werden. Das Traditionsverhalten ist also zu unterscheiden in ein Verhalten zur Tradition (als Struktur in geschichtlichen Prozessen) und ein Verhalten zu (inhaltlich-material bestimmten) Traditionen. Diese beiden Ebenen fallen freilich oft zusammen: Ein Autor, der sich selbst als (eher) traditionsbewusst wahrnimmt, wird auch das Konzept einer autoritativen Tradition goutieren und vorgängige Muster (z. B. des Klassischen) in seine Arbeit integrieren, während ein Autor, der sich selbst als Avantgarde versteht, (zumindest bewusst) auch von traditionalen Mustern Abstand nehmen wird. Zwischen diesen beiden Polen befindet sich natürlich ein großes Spektrum und es ist gerade ein Zeichen avancierter Literatur, dass sie sich nicht restlos in eine der Schubladen einordnen lässt.¹⁵⁷ Die Verteilung dieses Spektrums ist Folge von komplexen Prozessen und Praktiken auf Grundlage von literarischen, gesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Faktoren. Je nach Zeit und Ort gibt es Traditionskonjunkturen, in denen Tradition oder Traditionen affirmativ (z. B. in der Weimarer Klassik) oder negierend expliziert werden (z. B. im Naturalismus). Diese Bewertung basiert vornehmlich auf dem rhetorisch markierten Verhalten zu der Tradition. Die besondere Konjunktur von Traditionsnegation und Affirmation abweichender Traditionen während Epochenschwellen zeigt sich auch um 1500. Neben den offensichtlichen gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen als wichtiges Zei-

 Vgl. Niefanger: Ungefestigte Nationalliteratur, S. 153.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 188 f.  Aleida Assmann: Kultur als Lebenswelt und Monument. In: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt a. M. 1991, S. 11– 25, hier S. 13. Assmann präzisiert: „Kultur als Monument meint diese Seite der Kultur, die sich inszeniert, die sich für die Mit- und Nachwelt zur Schau stellt, die gesehen, bewahrt, erinnert sein will“; Assmann: Lebenswelt und Monument, S. 13.  Vgl. René Wellek und Austin Warren: Theorie der Literatur [1949]. Frankfurt a. M. 21972, S. 212: „Der gute Dichter paßt sich zum Teil der vorgefundenen Gattung an, zum Teil dehnt er sie aus.“

178

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

chen für einen Epochenwandel vom Mittelalter in die Neuzeit¹⁵⁸ erstreckt sich dieses Bewusstsein und Verhalten zur Tradition auch auf die Literatur. Indem sich die Dichter – zumindest programmatisch – nicht mehr (affirmierend oder parodierend) in eine literarische Reihe stellen, sondern die Vergangenheit als etwas ‚Altes‘ rezipieren, also eine Abgrenzung von einer ‚neuen‘ und einer ‚alten‘ Epoche allgemein bewusst wird, zu der sie sich negierend verhalten, zeigt sich ein Epochenwandel.¹⁵⁹ Das Mittelalter endet also mit dem Beginn einer (philologisch) reflektierten Mittelalterrezeption.¹⁶⁰ Doch literarische Traditionen sind nicht unmittelbar von sozialgeschichtlichen Prozessen abhängig, wie dies eine radikale Sozialgeschichte der Literatur glauben machen könnte. Stattdessen prägen auch die Gesellschaftsbilder, welche in (literarischen) Texten (re‐) produziert werden, wieder die Gesellschaft selbst.¹⁶¹ Die beiden Instanzen stehen also in einem Verhältnis zirkulärer Implikation.¹⁶² Schließlich beinhaltet Literatur noch eine Dimension, die gänzlich abseits gesellschaftlicher Prozesse steht: eine Verewigung und Vergegenwärtigung des Ästhetischen, welches unmöglich „in eine bloße Abbildungsoder Erläuterungsfunktion hineinzuzwängen“ ist.¹⁶³ Eine Analyse des Traditionsverhaltens hebt also hervor, dass eine Tradition keine Überlieferung statischer Inhalte entlang einer ‚Traditionskette‘ ist, sondern die ständige Überarbeitung und Selektion der Inhalte im Zusammenhang komplexer Rezeptions- und Produktionsprozesse. Dabei ist das Verhalten zur Tradition, also die Grundlage für die Auswahl des Traditionsmaterials, an spezifische Normen und Autoritäten rückgebunden und dient der Interpretation der „Struktur in der Diachronie“.¹⁶⁴ Durch die Analyse der historischen Autoritäten, Normen und Ursachen für das Traditionsverhalten, aber auch die wechselseitige Wirkung der Traditionen auf diese

 Z. B. in der Medizin: vgl. Ortrun Riha: Tradition, Neuanfang und das „humanistische Paradox“. Die Epochenschwelle um 1500 in der Medizin. In: Thomas Kühtreiber und Gabriele Schichta (Hg.): Kontinuitäten, Umbrüche, Zäsuren. Die Konstruktion von Epochen in Mittelalter und früher Neuzeit in interdisziplinärer Sichtung. Heidelberg 2016, S. 93 – 110.  Vgl. Jan-Dirk Müller: ‚Alt‘ und ‚neu‘ in der Epochenerfahrung um 1500. Ansätze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten. In: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Traditionswandel und Traditionsverhalten. Tübingen 1991, S. 121– 144.  Die Zäsur um 1500/1520 gilt sowohl für die Volkssprache als auch für die Latinitas. Vgl. Johannes Klaus Kipf: Wann beginnt im deutschen Sprachraum die Mittelalterrezeption? Vergleichende Beobachtungen zu Rezeptionsweisen volkssprachiger und lateinischer mittelalterlicher Literatur (ca. 1450 – 1600). In: Mathias Herweg und Stefan Keppler-Tasaki (Hg.): Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur. Berlin 2012, S. 15 – 49, hier S. 48 f.  Diese Kategorie nannte František Graus die „historische Tradition“ als Pendant zur „literarischen Tradition“; Graus: Lebendige Vergangenheit, S. 33 f.  Vgl. Kapitel 4. Diese gesellschaftsbildende Dimension von Literatur hebt auch die Rezeptionsästhetik hervor. Vgl. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 199 – 202.  Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, S. 167. Vgl. bereits Boris Ejchenbaum: Das literarische Leben [1929]. In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 51994, S. 463 – 481, hier S. 472 f.  Barner: Über das Negieren von Tradition, S. 13.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

179

sind Aussagen über (inner- und außerliterarische) Vergangenheitsbilder möglich.¹⁶⁵ Tradition suggeriert also absolute Konstanz und Identität, transportiert diese aber nur bedingt. Aus einer semantischen Differenzierung des Begriffs nach Ricœur, den mustertheoretischen Überlegungen von Winter und einer Analyse des jeweiligen Traditionsverhaltens nach Barner tritt die Variationsfähigkeit, die dem Konzept zugrunde liegt, hervor. Weiter ist das Traditionsverhalten von gesellschaftlichen Faktoren und Interessen abhängig. Traditionen sind also durchaus dynamisch; und das nicht nur in der Opposition zu statisch, sondern – angesichts der Überlegungen zum zirkulären Implikationsverhältnis nach Castoriadis – auch in der griechischen Grundbedeutung (δύναμις): Sie haben und generieren Macht.¹⁶⁶

6.2.2 Archiv und Spur Für eine Diskussion des Phänomens ‚Tradition‘ sind weiter zwei andere Kategorien relevant, und zwar Traditionen als archiviertes Material (lat. depositum) und als Spur (lat. vestigium). Das Archiv bezeichnet als „Speichergedächtnis“ eine Form des gesellschaftlichen (kulturellen) Gedächtnisses, welches vor allem medial schriftlich gefasst ist, indem es Datenträger sicher deponiert und konserviert.¹⁶⁷ Unter depositum versteht das römische Recht eine Form der treuhänderischen Übergabe zur möglichst sicheren Verwahrung mit dem Ziel, es „in der ganzen Integrität seines Bestandes zu erhalten“¹⁶⁸ und wieder an den ursprünglichen Besitzer zurückzugeben. In einer übertragenen Bedeutung „tabuisiert das Depositum im Bedeutungsfeld der Tradition einen Bestand an Texten oder Wahrheiten, in den nicht verändernd eingegriffen werden darf“.¹⁶⁹ Das ist vor allem für heilige Texte und Glaubenswahrheiten virulent. Dieses Verständnis vom Archiv beschränkt sich jedoch auf die statische Dimension: das Speichern und Abrufen von Daten – storage and retrieval.¹⁷⁰ Tradierung als dynamisches Konzept ist so unmöglich. Eine andere Dimension hingegen macht eine Tradition erst möglich, sofern sie über eine zeitliche Zäsur reichen soll: das Zurückhalten von Daten und ihre

 Am Beispiel von frühneuzeitlichen historiae vgl. Frank Bezner und Kirsten Mahlke (Hg.): Zwischen Wissen und Politik. Archäologie und Genealogie frühneuzeitlicher Vergangenheitskonstruktionen. Heidelberg 2011.  Vgl. Kapitel 5.3 zu Überlegungen zur Konstruktion des ‚Gauners‘ in Texten um 1500.  Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 52010, zit. S. 134; vgl. auch Aleida Assmann: Das Archiv und die neuen Medien des kulturellen Gedächtnisses. In: Georg Stanitzek und Wilhelm Voßkamp (Hg.): Schnittstelle. Medien und Kulturwissenschaften. Köln 2001, S. 268 – 281, hier S. 279 und Assmann: Kulturelles Gedächtnis, S. 92 f.  Assmann: Zeit und Tradition, S. 95.  Assmann: Zeit und Tradition, S. 95.  Siegfried J. Schmidt: Gedächtnisforschung: Positionen, Probleme, Perspektiven. In: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Frankfurt a. M. 42016, S. 9 – 55, hier S. 23 f.

180

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

aktualisierende Reaktivierung – retention and recall:¹⁷¹ „Das stabile Fortbestehen weicht einer dynamischen Reorganisation von Daten.“¹⁷² Auf den zweiten Aspekt konzentriert sich Michel Foucault. Er geht über die konventionellen Zuschreibungen hinaus, nämlich die Bezeichnung als „die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer beibehaltenen Identität bewahrt hat“ sowie „die Einrichtungen, die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren“.¹⁷³ Stattdessen sieht er das Archiv als das, „was bewirkt, daß so viele von so vielen Menschen seit Jahrtausenden gesagte Dinge […] dank einem ganzen Spiel von Beziehungen erschienen sind, die die diskursive Ebene charakterisieren“.¹⁷⁴ Das Archiv umfasst also Aussagen und aus Machtdispositionen resultierende Aussage(‐un‐) möglichkeiten, die mithilfe einer ‚Archäologie‘ als Beschreibung von Diskursen „als spezifizierte Praktiken im Element des Archivs“¹⁷⁵ eruiert werden können. Eine psychoanalytische und machttheoretische Akzentuierung des Foucault’schen Archivs unternimmt Jacques Derrida, indem er davon ausgeht, dass nicht jede Spur ein Archiv, ein Archiv aber nur durch Spuren möglich sei. Denn die Spur sei das, was zurückbleibe.¹⁷⁶ Foucaults ‚Archäologie‘ dreht die Blickrichtung um. Nicht mehr die konventionelle Untersuchung von Tradition als eine Übergabehandlung von der Vergangenheit in die Gegenwart steht im Zentrum, sondern ein sukzessives Zurückgehen in die Vergangenheit. Dieselbe Bewegung nimmt eine ‚Spurensuche‘ vor. Der Begriff Spur ist aktuell in verschiedenen wissenschaftlichen Feldern präsent – v. a. in der Philosophie, Geschichts- und Literaturwissenschaft.¹⁷⁷ Allgemein handelt

 Schmidt: Gedächtnisforschung, S. 23 f.  Assmann: Archiv, S. 277.  Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, S. 187.  Foucault: Archäologie, S. 187 [Herv. P. R.].  Foucault: Archäologie, S. 190.  Vgl. Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression [1995]. Berlin 1997. Programmatisch dazu Jacques Derrida: Trace et Archive, Image et Art. In: Ginette Michaud (Hg.): Penser à ne pas Voir. Écrits sur les Arts du Visible, 1979 – 2004. Paris 2013, S. 79 – 127, hier S. 105: „toute trace n’est pas une archive, mais il n’y a pas d’archive sans trace. Donc la trace, ça part toujours de moi et ça se sépare. Quand je dis ‚reste‘, la trace part de son origine […] et reste comme trace“. Bei Jacques Derrida avanciert die Spur (trace) zum programmatischen Begriff eines metaphysikkritischen Phonozentrismus. Wie die Spur auf immer andere Signifikanten verweist, aber kein Objekt repräsentiert, verweist auch jeder Signifikant in einem ‚freien Spiel‘ immer auf einen weiteren Signifikanten: „Es gibt keine Wörter, sondern nur Spuren: jede Spur ist Spur einer Spur“; Geoffrey Bennington: Jacques Derrida. Ein Portrait. Frankfurt a. M. 2001, S. 83. Zur Forschung über Derridas Spurbegriff vgl. Nora Hannah Kessler: Dem Spurenlesen auf der Spur. Theorie, Interpretation, Motiv. Würzburg 2012, S. 22 (Anm. 29).  Vgl. v. a. die Beiträge in Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt a. M. 22016, Gisela Fehrmann, Erika Linz und Cornelia Epping-Jäger (Hg.): Spuren, Lektüren. Praktiken des Symbolischen. München 2005 und Carlo Ginzburg (Hg.): Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin 2002. Vgl. außerdem Hans-Jürgen Gawoll: Spur. Gedächtnis und Andersheit. Teil I: Geschichte des Aufbewahrens;

6.2 Traditum, depositum, vestigium

181

es sich dabei – von ahd. spor, das etymologisch verwandt ist mit spüren und Gespür ¹⁷⁸ – aber um einen alltagssprachlich geläufigen und allgemein verständlichen Begriff: Spuren sind Abdrücke, Eindrücke, Reste oder Hinterlassenschaften von Lebewesen, Gegenständen oder Ereignissen, die im Hier und Jetzt Rückschlüsse auf eine selbst nicht unmittelbar wahrnehmbare Realität erlauben.¹⁷⁹

Mehrere Spuren ergeben eine Fährte und ermöglichen damit den Nachvollzug einer Bewegung, die sowohl räumlich als auch zeitlich verläuft. Denn der Spurenleser folgt einem Weg, auf dem etwas Anderes dagewesen ist. Der Begriff als epistemologische Kategorie verweist auf drei Dimensionen: seine Materialität, Kontextualität und Semiotizität.¹⁸⁰ Nur durch eine Einwirkung auf die material dingliche Umgebung ist eine Spur möglich, denn „Spuren treten gegenständlich vor Augen; ohne physische Signatur auch keine Spur.“¹⁸¹ Das Verhältnis „zwischen Urheberschaft und Spur“ ist also das „einer Ursache-Wirkungs-Relation“.¹⁸² Das gilt für nichtsprachliche ‚Reste‘ wie zerschlagene Keramiken auf einer antiken Müllhalde ebenso wie für sprachliche, z. B. einen mittelalterlichen Codex im Archiv.¹⁸³ Dabei wird die Spur zwar nicht-intentional hinterlassen und existiert so unabhängig von der Deutung eines Interpreten,¹⁸⁴ kann

Teil II: Das Sein und die Differenzen – Heidegger, Levinas und Derrida. In: Archiv für Begriffsgeschichte 30/32 (1986 f./1989), S. 44– 69/S. 269 – 296, Thomas Bedorf: Spur. In: Ralf Konersmann (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Darmstadt 2007, S. 401– 420. Für die mediävistische Literaturwissenschaft vgl. Martin Baisch: Seitensprünge und Eisenstäbe. Blutspuren in Szenarien von Betrug und Verstellung. In: Matthias Meyer und Alexander Sager (Hg.): Verstellung und Betrug im Mittelalter und in der mittelalterlichen Literatur. Göttingen 2015, S. 9 – 33.  Dazu Sybille Krämer: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme. In: Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt a. M. 22016, S. 11– 33, hier S. 13.  Kessler: Spurenlesen, S. 30.  Zusammenfassend Marcus Müller: Geschichte als Spur im Text. In: Jochen A. Bär und Marcus Müller (Hg.): Geschichte der Sprache – Sprache der Geschichte. Probleme und Perspektiven der historischen Sprachwissenschaft des Deutschen. Berlin 2012, S. 159 – 180, hier S. 168 – 172.  Krämer: Spur, S. 15. Zur Materialität des Tradierens mit Schwerpunkt auf nontypographische Gesellschaften vgl. auch Christoffer Theis, Lisa Wilhelmi und Lothar Ledderose: Tradieren. In: Thomas Meier, Michael Ott und Rebecca Sauer (Hg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Berlin, Boston, München 2015, S. 709 – 721.  Vgl. Krämer: Spur, S. 15.  Vgl. Kessler: Spurenlesen, S. 96 – 108. Dagegen beschränkt Assmann Spuren auf nichtsprachliche Überreste. Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 209.  Vgl. Helmut Pape: Fußabdrücke und Eigennamen. Peirces Theorie des relationalen Kerns der Bedeutung indexikalischer Zeichen. In: Sybille Krämer, Werner Kogge und Gernot Grube (Hg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt a. M. 22016, S. 37– 54, hier S. 38 – 41 und Krämer: Spur, S. 16: „Spuren werden nicht gemacht, sondern unabsichtlich hinterlassen […]. Und umgekehrt: wo etwas als Spur bewusst gelegt und inszeniert wird, da handelt es sich gerade nicht mehr um eine Spur.“

182

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

jedoch nur aufgrund des Kontextes als Spur erkannt werden. Es ist also notwendig, dass eine Spur ihre geordnete Umgebung stört und durch Abweichung auffällt.¹⁸⁵ Auf einer Spurensuche aber versucht der Interpret, Ordnung und Orientierung in eine als ungeordnet und womöglich bedrohlich empfundenen Umgebung zu bringen.¹⁸⁶ Eine Spur ist dabei genuin abhängig von einem interpretierenden Spurenleser, sowohl von dessen Absichten als auch von dessen Vorwissen. Dazu sagt Umberto Eco: Wenn die Spuren Spuren von etwas sind, was ich noch niemals vorher gesehen habe (und von dem mir niemals gesagt wurde, welche Art von Spuren es hinterlässt), dann erkenne ich den Index nicht als Index, sondern interpretiere ihn als natürlichen Zufall.¹⁸⁷

Spurensucher und Spur sind also interdependent. Erst durch das Erkennen und die Bewertung eines material existierenden Phänomens als Spur wird dieses auch zur Spur.¹⁸⁸ Ludwig Jäger geht in seinem Modell der Transkriptivität sogar so weit zu sagen, dass die Zeichen, die durch historische Spuren vermittelt sind, bereits im Prozess des Erkennens in die idiosynkratische Sprache des jeweils einzelnen übersetzt/transkribiert werden. Damit geht die Spur zwar als vorgefundener Stimulus der transkribierenden Lektüre voraus, ist als semantisierte Transkription jedoch auch ihr Ergebnis. Nach Jäger konstituiert sich das Transkript aus einem Fundus von Präskripten aus dem kulturellen Gedächtnis, dem es durch Auswahl und Semantisierung erst Lesbarkeit verleiht. Das Transkript ist also gewissermaßen ein (kommentierender) Text zweiter Ebene. Zugleich ist es ein Skript und Teil des kulturellen Gedächtnisses, indem der Text wieder in den allgemeinen Fundus integriert wird. „Transkriptionen stellen also […] keine Abbilder von Skripten dar, weil sie diese in einer bestimmten Hinsicht erst erzeugen.“¹⁸⁹ Demnach ist der „Erzeuger [der Spur] eben nicht dort zu suchen, wo Spuren verursacht werden, sondern dort, wo etwas als Spur wahrgenommen und verfolgt wird.“¹⁹⁰ Die zuletzt genannten Aspekte beziehen sich bereits auf die Semiotizität der Spur: Während der Begriff ‚Zeichen‘ die Vorstellung von der Einzigartigkeit eines ‚Zeichens‘ und von der Statik in der Zuordnung von ‚Signifikant‘ und ‚Signifikat‘ nahelegt, läßt der Begriff ‚Spur‘ von

 Dazu Emmanuel Lévinas: Die Spur des Anderen [1963]. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg i. Breisgau 62012, S. 231: „Die authentische Spur […] stört die Ordnung der Welt“. Vgl. auch Krämer: Spur, S. 16.  Vgl. Krämer: Spur, S. 15. Dies gilt umso mehr im Bewusstsein einer ‚Bedrohten Ordnung‘.Vgl. Frie/ Meier: Bedrohte Ordnungen.  Umberto Eco: Einführung in die Semiotik [1968]. München 92002, S. 199.  Vgl. Albert Spitznagel: Auf der Spur von Spuren. In: Hans-Georg von Arburg, Michael Gamper und Ulrich Stadler (Hg.): Wunderliche Figuren. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften. München 2001, S. 239 – 259, hier S. 240.  Ludwig Jäger: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: Ludwig Jäger und Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München 2002, S. 19 – 41, hier S. 32.  Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a. M. 2008, S. 280.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

183

vornherein an eine Abfolge mehrerer ‚Signale‘ (vgl. ‚Fährte‘) und an deren komplexen Interpretationsprozeß (‚Spurenlesen‘) denken, der sich nicht in einer einfachen Zuordnung von ‚Signal‘ (‚Signifikant‘) und ‚Bedeutung‘ (‚Signifikat‘) erschöpft.¹⁹¹

Das Objekt, auf das die Spur verweist, entzieht sich gerade dem Zugriff des Betrachters. Spuren sind „nicht selbstevident“¹⁹² und zeigen „nicht das Abwesende, sondern vielmehr dessen Abwesenheit.“¹⁹³ Dieser Umstand verbindet die Spur mit den Vorstellungen des gesellschaftlich Imaginären. Castoriadis beschreibt das Sprechen über diese Vorstellungen treffend mit folgendem Bild: Wir verwenden jene Ausdrücke, wie ein galoppierendes Pferd Bodenrillen verwendet; uns kommt es aber nicht auf das Gelände, sondern den Galopp an. Erdboden und Spuren sind für den Lauf Voraussetzung beziehungsweise Folge; wir aber wollen gerade den Lauf verstehen. Aus den Hufspuren läßt sich gegebenenfalls die Laufrichtung des Pferdes erschließen, vielleicht seine Geschwindigkeit und das Gewicht des Reiters. Doch wir können nicht daraus entnehmen, wer der Reiter war, was ihm im Kopf herum ging und ob er der Geliebten oder dem Tode entgegenritt.¹⁹⁴

Aufgrund ihrer Polysemie kann die Spur nie eindeutig sein: Denn „[e]twas, das nur eine (Be‐)Deutung hat und haben kann, ist keine Spur, vielmehr ein Anzeichen.“¹⁹⁵ Andererseits steht die Spur im Gegensatz zum Zeichen, dessen Bedeutung auf Arbitrarität und Konventionalität beruht, in direkter (materialer) Beziehung zum Objekt, mit dem es kausal verbunden ist. Doch „[w]ährend sich das Objekt des Zeichens Spur auf die Ursache der Spur bezieht, richtet sich der Interpretant des Zeichens Spur auf das, was eine Spur in einem bestimmten Kontext und vor dem Hintergrund einer bestimmten Fragestellung bedeutet, und das ist nicht allein ihr Verursachtwordensein.“¹⁹⁶ Der Interpretant als dritte Instanz im Zeichenmodell von Charles S. Peirce ist also notwendig einzubeziehen, wobei dieser nicht notwendig ein interpretierender personaler Verstand ist.¹⁹⁷ Zwar ist der Interpretant von individuellen Faktoren abhängig, wie dem Kontext und den Zielen der Spurensuche, jedoch widerspricht er einer interpretativen Beliebigkeit. Denn die Bildung von Interpretanten, die durch die Möglichkeiten der Kultur angeregt ist, wird auch restringiert. Manche Denkmuster

 Maximilian Scherner: Textverstehen als Spurenlesen. In: Peter Canisius, Clemens-Peter Herbermann und Gerhard Tschauder (Hg.): Text und Grammatik. Bochum 1994, S. 317– 339, hier S. 322.  Kessler: Spurenlesen, S. 43.  Krämer: Spur, S. 15.  Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 462 f.  Krämer: Spur, S. 17.  Kessler: Spurenlesen, S. 45.  „Ein Zeichen ist irgendein Ding, das auf ein zweites Ding, sein Objekt, in Hinsicht auf eine Qualität in der Weise bezogen ist, daß es ein drittes Ding, seinen Interpretanten, in eine Relation zu demselben Objekt bringt, und zwar in der Weise, daß dieses dritte ein viertes Ding in derselben Form auf das Objekt bezieht, ad infinitum.Wird die Abfolge unterbrochen, bleibt die signifikante Eigenschaft des Zeichens unvollkommen. Es ist nicht notwendig, daß der Interpretant tatsächlich existiert. Ein Sein in futuro wird ausreichen“; Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 1, S. 390.

184

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

sind einfach nicht Teil des Wissens einer Kultur, also des Archivs (nach Foucault) oder der Enzyklopädie (nach Eco).¹⁹⁸ Sowohl die Konstitution eines (kulturpoetischen) Archivs als auch einer Enzyklopädie, also der Fundus von Interpretationen und Interpretationsmöglichkeiten, hängt von komplexen Tradierungsprozessen ab. Zwischen die Spekulation über die Autorintention (intentio auctoris) und die Beliebigkeit der Leserintention (intentio lectoris) setzt Umberto Eco deshalb die relative Stabilität der Werkintention (intentio operis), die die Bildung von Interpretanten steuert und damit die Möglichkeit schafft, eine Interpretation als ‚falsch‘ zu bewerten: Zwischen der mysteriösen Entstehungsgeschichte eines Textes und dem unkontrollierbaren Driften künftiger Lesarten hat die bloße Präsenz des Textes etwas tröstlich Verläßliches als ein Anhaltspunkt, auf den wir stets zurückgreifen können.¹⁹⁹

Durch die Objektgebundenheit der Spur wird demnach auch die relative Offenheit des Interpretantenbezugs eingeschränkt. Eine Spur hat hinsichtlich ihres Objekts eine einzelne, hinsichtlich ihres Interpretanten eine (nicht unendliche) Vielzahl an Bedeutungen. Denn „[w]as eine Spur bedeutet, muss in Hinblick auf das Objekt der Spur re-konstruiert, in Bezug auf den Interpretant konstruiert werden.“²⁰⁰ Bei Paul Ricœur wird die Spur als „notwendige Vorbedingung für alle Schöpfungen der historischen Praxis“²⁰¹ hinsichtlich ihrer phänomenologischen Qualität mit der Tradition enggeführt: Zwischen der hinterlassenen und verfolgten Spur und der überlieferten und rezipierten Tradition zeigt sich eine tiefe Affinität. Als hinterlassene bezeichnet die Spur – durch die Materialität der Markierung – die Äußerlichkeit der Vergangenheit, nämlich ihre Einschreibung in die Zeit des Universums. Die Tradition legt den Akzent auf eine andere Art Äußerlichkeit, auf die unseres Affiziertwerdens durch eine Vergangenheit, die wir nicht gemacht haben. Doch es gibt eine Korrelation zwischen der Signifikanz der verfolgten Spur und der Wirksamkeit der überlieferten Tradition. Beides sind vergleichbare Vermittlungen zwischen der Vergangenheit und uns.²⁰²

Wie die hinterlassene Spur in der Gegenwart sichtbar ist, da sie früher durch ihre Markierung die biologisch-pflanzliche Umgebung verändert hat, wird auch das Do-

 Vgl. Umberto Eco: Semiotik – Entwurf einer Theorie der Zeichen [1975]. München 21991, S. 143 – 145. Dazu auch Sabine Kuhangel: Der labyrinthische Text. Literarische Offenheit und die Rolle des Lesers.Wiesbaden 2003, S. 136 f.: „Ein Kernbegriff der semiotischen Theorie Ecos ist der Begriff der Enzyklopädie. Als Enzyklopädie gilt Eco die gesamte menschliche Kultur. Es ist die Art, in der die Kultur die Welt ‚sieht‘. Die Vorstellungen von der Welt werden in einer Gesellschaft zu kulturellen Einheiten, deren Bedeutung codiert oder konventionell anerkannt wird.“  Umberto Eco: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation [1992]. München 1994, S. 97. Dazu auch Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation [1990]. München 32004, S. 440 f. Vgl. auch den Überblick in Schalk: Umberto Eco, S. 164– 192.  Kessler: Spurenlesen, S. 46.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 186 [Herv. im Original].  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 369 f. [Herv. im Original].

6.2 Traditum, depositum, vestigium

185

kument durch das Überführen in einen die Tätigkeit des Menschen überdauernden Zustand gesammelt und aufbewahrt. Durch die Überführung in das institutionelle Archiv aber bekommt das Dokument die Potenz der Erweiterung des kollektiven Gedächtnisses:²⁰³ „Im Dokument ist die Spur bereits traditionsbildend.“²⁰⁴ Die Spur ist ebenso notwendige Bedingung für das Einrichten eines Archivs. Wie die erhaltene Spur ist die Tradition ein Zeichen für das Vergangene und Wirkung des Vergangenen im Jetzt. Damit ist sie ein Bindeglied zwischen zwei Zeitperspektiven²⁰⁵ und ermöglicht eine ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, also ein kalendarisches Zusammenfallen historischer Strukturen, die verschiedenen historischen Entwicklungsphasen (‚Altem‘ und ‚Neuem‘) entstammen.²⁰⁶ Da Traditionen nicht gleichzeitig verlaufen müssen und in verschiedenen Dimensionen jeweils anders valorisiert sind, ist auch in der sprachgeschichtlichen Veränderung bestimmter Codes und Bezeichnungen ein Zusammenfallen typischerweise zeitlich, räumlich, sozial oder textsortenspezifisch differenter Elemente möglich, sodass bei der Bewertung von Bezeichnungen wie Bettler, Abenteurer oder Fahrender Schüler neben der zeitlichen Dimension „mindestens auch sozialschichtige, gruppengebundene und textsortenbezügliche sowie […] sozialräumliche Komponenten“²⁰⁷ beachtet werden müssen. Diese Differenzierung erreicht die Spur/Tradition durch die Ambivalenz von Materialität und Semiotizität: „Das Vorübergehen bringt die Dynamik der Spur, das Markieren ihre Statik besser zum Ausdruck.“²⁰⁸ Die Dynamik wird durch das Zeichen evident, das verursacht wurde und Anlass zum Nachverfolgen gibt: Jemand ist dort vorübergegangen; die Spur lädt dazu ein, ihr zu folgen, sie zurückzuverfolgen, wenn möglich bis zu dem Menschen oder Tier, die dort vorübergegangen sind; man kann die Spur verlieren; sie kann sich selbst verlieren und nirgendwo hinführen; sie kann sich auch verwischen: denn die Spur ist empfindlich und muß unversehrt erhalten bleiben, sonst hat der Übergang zwar stattgefunden, ist aber ein für allemal vorüber.²⁰⁹

Die Statik aber markiert die materielle Wirkung, also das Markieren von „Materie […], die härter und dauerhafter ist als die vorübergehende Tätigkeit des Menschen“,²¹⁰ also

 Vgl. Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 191– 193.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 370.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 193.  Ricœur nennt diese Denkfigur selbst zwar nicht, referiert aber auf Marc Bloch (Hg.): Apologie der Geschichtswissenschaft oder der Beruf des Historikers. Stuttgart 22008. Zu Geschichte und Bedeutung dieser Denkfigur vgl. Falko Schmieder: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zur Kritik und Aktualität einer Denkfigur. In: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 4 (2017), S. 325 – 363.  Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 275; dort auch die Beispiele bettler (S. 276 f.) und abenteurer (S. 331) im Frühneuhochdeutschen.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 192.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 192.  Ricœur: Zeit und Erzählung III, S. 193.

186

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

Stein, Knochen, Tontafeln, Pergament und vielleicht auch USB-Sticks.²¹¹ Das Vergangene ist nach Ricœur also einerseits vorübergegangen und damit abgeschlossen, jedoch ebenso höchst wirksam für Praktiken der Gegenwart.²¹² Beim Spurenlesen werden nun Ursache und Wirkung umgekehrt. Die Spur steht nicht mehr als Ergebnis (historischer) Prozesse im Zentrum, sondern sie wird zur Ursache für Interpretationsprozesse. Es kommt zu „einer kleinen, aber bedeutsamen Akzentverschiebung von der Spur als Zeichen zum Zeichen als Spur.“²¹³ Auch einzelne Traditionen verweisen demnach einerseits als Zeichen unmittelbar auf historische Tatsachen, andererseits können sie als Spuren nur Indizien für komplexe Zusammenhänge bieten. Dabei werden die Traditionen von einem Interpreten bewusst aus der Fülle von Quellen ausgewählt und so erst zu Spuren gemacht. Während bei einer Spur/Tradition als Zeichen von ihrer Nicht-Intentionalität auszugehen ist, wird diese als Spur zielgerichtet gesucht. Das Phänomen der Bettelordnungen um 1500 kann demnach aus sich heraus als Zeichen für frühneuzeitliche Ausgrenzung und gesellschaftliche Missstände gedeutet werden, aber auch als ein Indiz für einen diskursiven Wandel hinsichtlich des Umgangs mit Arbeit und Armut – oder aber als Teil einer Spur, die zu einem konturierten literarischen Muster führt, welches in einer beträchtlichen Zahl an Texten der Frühen Neuzeit vorkommt. Das Suchen von Spuren und das Folgen einer ‚Fährte‘ bieten sich generell als Metaphern für die Interpretationsmethode der Literaturwissenschaften an. Denn die Philologien folgen gemäß Carlo Ginzburg (wie die Kriminalistik) einem „Indizienparadigma“ oder „konjekturalen Paradigma“. Dieses gelte vor allem für Disziplinen, die ihren Gegenstand nicht durch Experimente beliebig wiederholen können und demnach auf begründete Vermutungen angewiesen seien.²¹⁴ Diese Vermutungen seien nach einer intensiven Suche von Indizien auf Grundlage eines möglichst umfassenden Wissens über den Gegenstand anzustellen, um möglichst objektiv zu sein. Durch das Herausstellen der Bedeutung des Interpreten, der Sinn konstruiert, ist das Spurenlesen als Modell für (post‐)strukturalistische oder rezeptionsästhetische Methoden

 Für schrifttragende Artefakte in vormodernen Gesellschaften vgl. die Beiträge in Thomas Meier, Michael Ott und Rebecca Sauer (Hg.): Materiale Textkulturen. Konzepte – Materialien – Praktiken. Berlin, Boston, München 2015.  Vgl. Scharfenberg: Narrative Identität, S. 406 – 412. Auch aus mediävistischer Perspektive betont Christian Kiening: „Die Gegebenheiten, unter denen sich Überlieferung ausbildet, verstetigt und verändert, hinterlassen in besonderer Weise ihre Spuren im Überlieferten, seinen kommunikativen Strukturen wie materiellen Formen“; Christian Kiening: Medialität in mediävistischer Perspektive. In: Poetica 39 (2007), S. 285 – 352, hier S. 344.  Vgl. Kessler: Spurenlesen, S. 47– 54, hier S. 48.  Vgl. dazu Carlo Ginzburg: Indizien. Morelli, Freud und Sherlock Holmes. In: Umberto Eco und Thomas A. Sebeok (Hg.): Der Zirkel oder im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce. München 1985, S. 125 – 179 und Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: Carlo Ginzburg (Hg.): Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin 2002, S. 7– 44.

6.2 Traditum, depositum, vestigium

187

anschlussfähig. Es reicht aber darüber hinaus und vereint sie mit einer hermeneutischen Rekonstruktion, indem eine präsupponierte Willkürlichkeit durch die materiale Grundlage des ‚Spurerzeugers‘ entkräftet wird.²¹⁵ Denkt man das Bild der Spurensuche weiter, ergibt sich folgende Überlegung: Eine Fährte kann in zwei Richtungen verfolgt werden, entweder zum Objekt, welches Urheber der Fährte ist (beispielsweise zum Jagdwild), oder zur Herkunft des Objekts (beispielsweise dem Bau oder der Höhle). Im übertragenen Sinne als eine traditionale Überlieferung ist die Richtung nun jedoch irrelevant, da weder eine absolute Herkunft noch ein absoluter Referent eines (sprachlichen) Musters ermittelt werden kann. Das Verfolgen einer phänomenologischen Spur ermöglicht allenfalls das Erkennen weiterer Spuren mit dem Ziel gemäß dem Indizienparadigma einen Sachverhalt möglichst umfassend abzudecken. Auch wenn durch möglichst große Präzision wirkliche Zusammenhänge als Ergebnis angestrebt werden, legen Methode und Terminologie der Spurensuche die notwendige Unmöglichkeit von Gewissheiten und die Unabgeschlossenheit in der Interpretation sozialhistorischer Zusammenhänge offen. Sowohl eine wissenschaftliche Analyse als auch das ‚Erfinden von Tradition‘ sind demnach (weitgehend) konstruktive Prozesse. Diese Setzung erkennt Aleida Assmann als Scheinploblem: Traditionen, so hören wir immer wieder, sind konstruiert, sie werden gemacht. Ja bitteschön, frage ich dann, was denn sonst? Das konnte ich bisher noch nicht in Erfahrung bringen. Es gibt ja auch niemanden, der diesen Sachverhalt in ernstzunehmender Weise bestreitet. Warum reitet man dann eigentlich so emphatisch auf dieser Selbstverständlichkeit herum? Wird hier vielleicht eine unausgesprochene falsche Prämisse hartnäckig am Leben erhalten, um sich selbst mit jeder Wiederholung dieses Satzes noch einmal ein überlegenes Wissen bestätigen zu können?²¹⁶

Assmann ist weitgehend zuzustimmen, denn jedes Traditionsverhalten beruht auf (mehr oder weniger expliziten) Interessen und ist von den Handlungen der beteiligten Akteure abhängig. Es ändert jedoch die Präzision der Beschreibungssprache und damit mitunter die Ergebnisse, wenn man zwischen einer gemachten und einer erfundenen Tradition unterscheidet – ein Unterschied, den Assmanns Kritik nivelliert. Denn während gemachte oder konstruierte Traditionen auf einem historischen Substrat aufbauen und durch bestimmtes Rearrangement neue Ergebnisse zeitigen, gibt es für erfundene Traditionen keine historischen Belege für die als Autoritäten aufgerufenen Traditionsmaterialien, oder Einzelbelege werden so stark isoliert und überinterpretiert, dass ein Bezug zum historischen Kontext mehr als vage ist. Sowohl bei der Analyse gemachter als auch erfundener Traditionen liegt der Fokus auf der Tradition (nach Ricœur), also auf dem normativen Potential, wenn man sich auf die Tradition als eine Autorität beruft.

 Dazu ausführlich Kessler: Spurenlesen, S. 135 – 153.  Zitat aus Aleida Assmann: Tradition und kulturelles Gedächtnis. In: Philip Reich und Karolin Toledo Flores (Hg.): Tradition und Traditionsverhalten. Literaturwissenschaftliche und kulturhistorische Perspektiven. Heidelberg (in Vorb.).

188

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

Auch (geistes‐)wissenschaftliche Studien machen selbstverständlich Traditionen, indem sie sich einem historischen Gegenstand mit einer spezifischen Fragestellung und Methode annähern, jedoch besteht der Unterschied, dass seriöse Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen Instrumentarium und Auswahlkriterien möglichst transparent halten, nicht zu überreden oder zu täuschen versuchen und es daher nach bestem Wissen vermeiden, Traditionen zu erfinden. Das ist auch der Grund, weshalb sich wissenschaftliche Analysen idealiter auf die Untersuchung von material-inhaltlichen Traditionen oder – sofern die normative Dimension Gegenstand des Interesses ist – auf die Untersuchung von einer Tradition von der Tradition konzentrieren. Es geht also mehr um die Deskription als um die emphatische Betonung eines Wahrheitsanspruchs. Dass letztlich aber der Unterschied relativ bleibt, zeigen gerade auch die historischen Großentwürfe des 19. Jahrhunderts, die für sich Objektivität in Anspruch nehmen, aber mehr Geschichtsspekulation als ‐interpretationen sind.²¹⁷

6.3 Wiederholung und/als Erneuerung – die vormoderne Situation Bereits mit Erfindung der Schrift werden die Prozesse des Absetzens und Zusammenwirkens der beiden Kommunikationsmodi Mündlichkeit und Schriftlichkeit zentral. Jan Assmann fasst als Prinzipien der Schriftlichkeit einerseits den Kanon, der durch Wiederholung Identität und durch Kommentierung Kontinuität generiere, andererseits die Hypolepse, die durch partielle Wiederholung des Vorhergehenden unter der Prämisse der Kritik variierende Erneuerung ermögliche.²¹⁸ Diese beiden Prinzipien seien wichtige Faktoren, die das kulturelle Gedächtnis bis heute prägen. Gerade im Prinzip der Hypolepse, einem Begriff, den Assmann der Gerichtsrhetorik entnimmt und der die kritische Aufnahme von Argumenten der gegnerischen Partei bezeichnet, fallen die beiden Semantiken des Wortes ‚Erneuerung‘ zusammen: Das Wort impliziert zum einen, dass etwas noch einmal/erneut gemacht und so wiederholt wird, zum anderen aber auch die variierende Erweiterung der Handlung in dem Sinne, dass etwas neu/innovativ ist. Diese Überlegungen sind in doppelter Weise für die Mediävistik anschlussfähig: Zum einen bewegt sich mittelalterliches Erzählen (v. a. auch in epischen Kleinformen) zwischen den beiden Kommunikationsmodi (Schriftlichkeit und Mündlichkeit), zum anderen bewegen sich die mittelalterlichen Texte zwischen konventionellem ‚Wie-

 Beispielsweise Wilhelm von Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit (1855 – 1895) und Leopold von Rankes Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (1839 – 1847) schreiben nicht nur ‚objektive‘ Geschichte, sondern prägen diese auch aufgrund gesellschaftspolitischer Ziele. Vgl. zum Historismus des 19. Jahrhunderts auch Kapitel 13.1.  Assmann: Kulturelles Gedächtnis, S. 280 – 301; konzentriert auch in Aleida Assmann und Jan Assmann: Schrift, Tradition und Kultur. In: Wolfgang Raible (Hg.): Zwischen Festtag und Alltag. Zehn Beiträge zum Thema „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“. Tübingen 1988, S. 25 – 49, hier S. 46 f.

6.3 Wiederholung und/als Erneuerung – die vormoderne Situation

189

dererzählen‘ und Variation – Mouvance und Variance.²¹⁹ Galfred von Vinsauf, der wichtige Rhetoriker und Poetiker des 12. Jahrhunderts, schreibt zum Zusammenhang von Tradition und ‚Erneuerung‘: Post praedicta est notandum quod difficile est materiam communem et usitatam convenienter et bene tractare. Et quanto difficilius, tanto laudabilius est bene tractare materiam talem, scilicet communem et usitatam, quam materiam aliam, scilicet novam et inusitatam (Ars Versificandi 2, 3, 132).²²⁰

Das Wiedererzählen möglich sei, werde bereits in der Antike bezeugt, wofür Galfred Horaz’ Ars poetica zitiert.²²¹ Es sei zwar schwierig, einen bekannten Stoff wiederzubearbeiten, dennoch sei es möglich, wenn man vier Prämissen beachte. Man müsse (1) die Gewichtung der Passagen verschieben, dürfe (2) nicht den Formulierungen und der Erzählreihenfolge der Vorlage folgen, sich (3) nicht im Stoff verlieren und schließlich (4) keine überheblichen Vorankündigungen machen.²²² Was Galfred in seiner Poetik fordert, ist ein affirmatives literarisches Traditionsverhalten mit Variation des Traditionsmaterials. Diese Tendenz zur Wiederholung wird in der mediävistischen Forschung durch den Begriff des Wiedererzählens gefasst, den Franz Joseph Worstbrock einführte. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Schriftsteller nach mittelalterlichem Verständnis kein auctor, also Urheber von Neuem, sondern ein artifex sei, der eine vorgegebene materia bearbeite (tractare/dilatare). Diese Bindung mittelalterlicher Literatur an eine Autorität oder eine Vorlage ist bekannt, nämlich dass das „Auffälligste an der mittelalterlichen Dichtung und ihr Ärgernis ihre Konventionalität, ihre Schema-, Musterund Traditionsbezogenheit“²²³ sei. Die Vormoderne sieht das Konzept einer traditionalen Bindung an eine Autorität weitaus positiver als die Moderne. Auch wenn es ebenfalls im Mittelalter innovative Momente gibt,²²⁴ besteht ein (zumindest graduel-

 Zu den beiden Begriffen, die v. a. in der Lyrikforschung präsent sind, vgl. Thomas Cramer: Mouvance. In: Helmut Tervooren und Horst Wenzel (Hg.): Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Berlin, Bielefeld, München 1997, S. 150 – 181.  Geoffroi de Vinsauf: Documentum de Arte Versificandi. In: Edmond Faral (Hg.): Les Arts Poétiques du XIIe et du XIIIe Siècle. Recherches et Documents sur la Technique Littéraire du Moyen Âge. Paris 1924, S. 263 – 320, hier S. 309; Übers. P R.: ‚Nach dem Gesagten ist anzumerken, dass es schwierig ist, einen allgemein bekannten und verbreiteten Stoff treffend und angemessen zu bearbeiten. Und je schwieriger es ist, desto lobenswerter ist es, einen solchen Stoff – einen bekannten und verbreiteten – als einen anderen – einen neuen und ungebräuchlichen – treffend zu bearbeiten.‘  difficile est proprie communia dicere, tuque | rectius Iliacum carmen deducis in actus | quam si proferres ignota indictaque primus (Hor. ars vv. 128 – 130).  Vgl. Geoffroi de Vinsauf: Ars Versificandi, S. 309 f.  Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur ‚New Philology‘. In: ZfdPh 116 (1997), S. 62– 86, hier S. 82.  Vgl. Hans-Joachim Schmidt (Hg.): Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter. Berlin 2005 und Christian Hesse (Hg.): Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Ostfildern 2010.

190

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

ler) Unterschied zu moderner Literatur mit ihrer emphatischen Privilegierung oder Postulierung von kreativer Innovation unter einem „Regime des Neuen“.²²⁵ Unter diesem Begriff versteht Andreas Reckwitz die permanente (und theoretisch endlose) Notwendigkeit, Neues hervorzubringen und dadurch das Alte zu übertreffen. Diese habe sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts herausgebildet und weite Teile der Gesellschaft durchdrungen; eine wichtige Instanz dabei ist das „Kreativitätsdispositiv“, das „ein ganzes soziales Netzwerk von gesellschaftlich verstreuten Praktiken, Diskursen, Artefaktsystemen und Subjektivierungsweisen“ umfasst.²²⁶ Für das Mittelalter wäre dagegen allenfalls von einem ‚Traditionalitätsdispositiv‘ zu sprechen. Umberto Eco bringt das Verhältnis von Tradition/Innovation in Mittelalter und Moderne auf den Punkt: Die mittelalterliche Kultur bringt durchaus Neues hervor, wenngleich sie sich bemüht, es unter den Überresten der Wiederholung zu verstecken (im Gegensatz zur modernen Kultur, die auch dann vorgibt, Neues zu produzieren, wenn sie nur Altes wiederholt).²²⁷

Diese spezifische Prägung vormoderner Literatur begründet Jan-Dirk Müller mit dem „Spielraum literarischer Texte“, der noch weitaus kleiner gewesen sei, da sich noch kein „relativ selbständiges System ‚Literatur‘ ausdifferenziert“²²⁸ habe. Die Referenz auf literarische Vorlagen sei deshalb umso relevanter. Ludger Lieb meint diesbezüglich, dass materia und artificium metaphysisch verschränkt seien: „Es geht nicht in erster Linie um die Variation im Sinne einer kunstvollen Veränderung einer gegebenen und verfügbaren Materia, sondern darum, die prinzipiell unverfügbare Potenz möglichst gut zu aktualisieren.“²²⁹ Diese „wechselseitige Bedingtheit von Materia und Artificium“²³⁰ ist auch durch den kategorialen Unterschied von traditionalem Muster und der semiotischen Funktionalisierung auf Textebene (als Zeichen, Symbol etc.) evident. Um sich von der Bedeutung eines Originalität imaginierenden ‚Werkes‘ zu distanzieren, wurde in die Forschung der Begriff der „Retextualisierung“²³¹ eingeführt.

 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 52017, S. 38 – 53.  Reckwitz: Erfindung der Kreativität, S. 49.  Umberto Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. München u. a. 1991, S. 13.  Müller: Höfische Kompromisse, S. 6.  Ludger Lieb: Die Potenz des Stoffes. In: Joachim Bumke und Ursula Peters (Hg.): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Berlin 2005, S. 356– 379, hier S. 365.  Lieb: Die Potenz des Stoffes, S. 362.  Vgl. Bumke/Peters: Retextualisierung. Das GRK 1767„Faktuales und fiktionales Erzählen“ schlägt neuerdings den Begriff der „Renarrativierung“ vor, der im Gegensatz zur Retextualisierung, die auf die Wiederholung eines (materialen) Textes abhebt, die Wiederholung von Narrativen betont und versucht, Methoden aus verschiedenen Disziplinen zusammenzuführen. Vgl. dazu Thorsten Glückhardt, Sebastian Kleinschmidt und Verena Spohn: Renarrativierung in der Vormoderne. Zur Einleitung. In: Renarrativierung in der Vormoderne. Funktionen, Transformationen, Rezeptionen. Baden-Baden 2019, S. 7– 38.

6.3 Wiederholung und/als Erneuerung – die vormoderne Situation

191

Darunter sind „die verschiedensten Ebenen und Aspekte vormoderner ‚Arbeit am Text‘ als eine Interaktion von Prä- und Re-Text“²³² gefasst, wobei nicht die Aufnahme eines (heute) konkret fassbaren Prätexts notwendig sei.²³³ Anstelle einer Rückwärtsgewandtheit vormoderner Literatur sei demnach eher von einer „produktiven Rezeption“²³⁴ zu sprechen. Für diese Variationsaffinität mittelalterlicher Literatur wurden verschiedene Voraussetzungen angeführt, die sich auf die mediale Vermittlung konzentrieren: zum einen mnemotechnische Gründe in einer oralen Kultur; denn die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft ist von einer engen medialen Verflechtung mündlicher und schriftlicher Kommunikationsformen geprägt, einer „Bi-Medialität der mittelalterlichen Kommunikationsverhältnisse“.²³⁵ Dieses Zusammenwirken können auch die medialen Veränderungen zum Ausgang des Mittelalters nicht fundamental erschüttern, wie die „Überlieferungsexplosion“²³⁶ im 15. Jahrhundert oder der Übergang zum Druckzeitalter.²³⁷ Die Geltung technologischer und kommunikativer Standards ist aber nur ein Teil einer Veränderung „im größeren Rahmen epistemischer Pluralisierungen, institutioneller Differenzierungen und semantischer Umbesetzungen“.²³⁸ So bleibt die „frühneuzeitliche Gesellschaft nach wie vor eine (obschon veränderte) Präsenzgesellschaft, in der zwar immer mehr an öffentlicher und politischer Kommunikation im Medium des Drucks erfolgte, diese Kommunikation aber auf Formen der Anwesenheit bezogen blieb.“²³⁹ Über das ganze Mittelalter hinweg ist von einer doppelten, mehr ineinander als nebeneinander verlaufenden medialen Überlieferung auszugehen, wobei Bereiche, die nicht als schrift- oder literaturwürdig angesehen werden, eher zur Mündlichkeit tendieren. So bleibt der Bericht über Alltagsereignisse oder gesellschaftliche Randfiguren meist außerhalb der Schriftlichkeit. Auch witzige oder schwankhafte Erzählungen werden weitaus seltener verschriftlicht als theologische, erbauliche oder didaktische Texte. Sofern sie aber verschriftlicht werden, wird ein  Joachim Bumke: Retextualisierungen in der mittelhochdeutschen Literatur, besonders in der höfischen Epik. Ein Überblick. In: Joachim Bumke und Ursula Peters (Hg.): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Berlin 2005, S. 6 – 46, hier S. 2.  Vgl. Kiening: Unheilige Familien, S. 34 f.  Bumke: Retextualisierungen, S. 46.  Horst Wenzel: Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text. Metaphern der Medialität. In: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar 1997, S. 481– 503, hier S. 482.  Ingeborg Glier (Hg.): 1250 – 1370. Reimpaargedichte, Drama, Prosa. München 1987, S. 9 f.  Auch eine Verschiebung zum gedruckten Wort verläuft nicht plötzlich und initiiert einen gesellschaftlichen Wandel, wenn auch viele Transformationen dieser Zeit im religiösen (Reformation) oder politischen (Polizeiordnungen, Flugblätter) Diskurs durch die technischen Veränderungen ermöglicht oder beschleunigt wurden.  Kiening: Medialität, S. 351 f.  Kiening: Medialität, S. 302. Auch für die Frühe Neuzeit gilt, dass „Geschriebenes und Gedrucktes […] als Momentaufnahmen eines noch stark von Mündlichkeit geprägten Kommunikationsprozesses“ zu sehen sind. Fritz Nies: Osmosen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Feld der literarischen Genres (16.–18. Jh.). In: Frühneuzeit-Info 9 (1998), S. 209 – 212, hier S. 210.

192

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

Paratext mit nützlichem/didaktischem Anspruch ergänzt. Diese Texte „experimentieren intradiegetisch mit vielfältigen Phänomenen der Destruktion und Transgression […], die zwar im Kommentar gedeutet, nicht aber ihres Sinnüberschusses beraubt werden.“²⁴⁰ Hans Blumenberg nennt am Beispiel des Mythos einige grundlegende Aspekte, die sich in ähnlicher Weise auf literarische Formen im Grenzbereich zwischen Oralität und Literalität übertragen lassen, z. B. auf viele Schwänke und Anekdoten. So stellt er fest, „daß der gesamte uns tradierte Bestand an mythischen Stoffen und Mustern durch das Organ der Rezeption gegangen, durch ihren selektiven Mechanismus ‚optimiert‘ worden“²⁴¹ und „in gar keiner anderen Fassung als der, stets schon im Rezeptionsverfahren befindlich zu sein, überliefert und bekannt ist“.²⁴² Ähnlich wie in der Geschichte einer semantischen Einheit wird bei der ‚Arbeit am Mythos‘ permanent der Versuch unternommen, „den Kernbestand unter dem Druck der verändernden Rezeptionslage auf seine Haltbarkeit zu erproben und das gehärtete Grundmuster freizulegen“.²⁴³ Auch wenn sich Mythen als „Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns [ikonische Konstanz] und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit“²⁴⁴ einer profunden Veränderung eigentlich widersetzen, werden sie gerade dadurch jedoch zugleich „traditionsgängig“,²⁴⁵ vor allem in „Zeiten mit hohen Veränderungsgeschwindigkeiten.“²⁴⁶ Neben dieser Affinität für Prozesse der Tradierung ermöglicht die Konstanz seines narrativen Kernbestandes, dass der Mythos auch „als erratische[r] Einschluß noch in Traditionszusammenhängen heterogener Art“²⁴⁷ zu finden sei. Damit kann er bezüglich seiner ästhetischen Faktur und seiner kontextuellen Funktion angepasst werden, ohne ein grundsätzliches Verständnis zu verhindern. Eine Differenzierung zwischen einer bedeutsameren ‚UrForm‘ und späteren Literarisierungen des Mythos ist prinzipiell absurd, da sich die ‚Arbeit am Mythos‘ grundsätzlich in der Rezeption vollzieht, durch Prozesse der Verschriftlichung sichtbar wird und so auch in geschichtlich späteren Adaptationen keinen qualitativen Unterschied aufweist.²⁴⁸ „Der Grundmythos ist nicht das Vorge-

 Christian Kiening: Verletzende Worte – verstümmelte Körper. Zur doppelten Logik spätmittelalterlicher Kurzerzählungen. In: ZfdPh 127 (2008), S. 321– 335, hier S. 323.  Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 52017, S. 186.  Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 240.  Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 166. Gerhart von Graevenitz kritisiert dieses Vorgehen als „Jagd auf das ‚Wesen des Mythos‘“ und „hermeneutische Verschleierung der Wesensfrage“ (Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart: Metzler 1987, S. VIII). Die vorliegende Studie folgt aber dezidiert keinem ‚Mythenrealismus‘, sondern reflektiert und überträgt die medialen Bedingungen ‚mythenanalogen‘ Erzählens auf semiorale Traditionsprozesse.  Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 40.  Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 40  Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 41.  Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 165.  Vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 186. Vgl. dazu Jörg Villwock: Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blu-

6.3 Wiederholung und/als Erneuerung – die vormoderne Situation

193

gebene, sondern das am Ende sichtbar Bleibende, das den Rezeptionen und Erwartungen genügen konnte.“²⁴⁹ Wie beim Mythos kann es auch bei einer mustergeschichtlichen Analyse eigentlich keine absolute qualitative Privilegierung eines Textes geben.²⁵⁰ Durch den Einbezug mündlicher Traditionen, die unter Umständen weit vor einer Verschriftlichung bereits zirkulierten, und unter Berücksichtigung von möglichem Verlust schriftlicher Zeugnisse, ist eine Rekonstruktion von echten Ursprüngen literarischer Traditionen oder direkten Abhängigkeitsverhältnissen in den meisten Fällen nicht möglich. Die Betrachtung der einzelnen schriftlich überlieferten Umsetzungen einer semantischen Einheit können als Repräsentationen einer ‚Arbeit am Muster‘ dienen. Eine primäre Hierarchisierung und Stemmatisierung – z. B. durch Datierung – ist dabei nur mit Abzügen zulässig, da eine mündliche Tradition mitzudenken ist. Gegen Blumenberg merkt Jan Assmann an, dass Mythos als „Inbegriff mündlicher Traditionsform“ zu gelten habe, Blumenberg aber nur „sein Rezeptionsschicksal im ‚Späthorizont‘ der Schriftkultur“ anvisiere.²⁵¹ Diese Kritik macht die Annäherung Blumenbergs an eine materiale Dimension der Schriftlichkeit deutlich, da durch eine Konzentration auf die Oralität die Interpretation eine gewisse Beliebigkeit bekomme. Immer kann eine mündliche Tradition als ‚Original‘ stilisiert und als übermächtiger Einfluss angeführt werden.²⁵² Auch Abweichungen sind aufgrund performativer Variation nicht nachweisbar, Veränderungen im Prozess der literalen Tradierung – beim Abschreiben – aber durchaus.²⁵³ Außerdem ist Variation keine Eigenschaft von oralen Kulturen, sondern im Gegenteil versuchen diese eine (möglichst) identische Wiederholung – die in der Praxis freilich immer isomorph ist – zur Stabilität des Memorierens und der Wissensvermittlung. Bewusste Variation aber sei in literalen Kulturen, in denen die Schrift Konstanz simuliert, weitaus dominanter; die „Tradierung des Texts verselbständigt sich also gegenüber den Tradenten.“²⁵⁴ Statt der methodisch fluiden menbergs. In: Philosophische Rundschau 32 (1985), S. 68 – 91 und Udo Friedrich: Mythos und europäische Tradition. In: Manfred Eikelmann und Udo Friedrich (Hg.): Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos. Berlin 2013, S. 178 – 204, hier S. 191– 200.  Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 192, vgl. auch S. 133 u. ö.  „Der Mythos ist immer schon in Rezeption übergegangen […]. Wenn er nur in Gestalten seiner Rezeption uns vorliegt, gibt es kein Privileg bestimmter Fassungen als ursprünglicher oder endgültiger“; Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 299.  Assmann/Assmann: Schrift, Tradition und Kultur, S. 46.  Zu den Unwägbarkeiten in der (literaturwissenschaftlichen) Analyse einer oralen Kultur vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Schriftlichkeit in mündlicher Kultur. In: Aleida Assmann, Jan Assmann und Christof Hardmeier (Hg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. München 31998, S. 158 – 174, hier S. 159 u. ö.  Vgl. die Auswertung in Klaus Grubmüller: Verändern und Bewahren. Zum Bewusstsein vom Text im deutschen Mittelalter. In: Ursula Peters (Hg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450. Stuttgart 2001, S. 8 – 33, hier S. 31.  Ehlich: Text und sprachliches Handeln, S. 39. Mit Bezug zur Heldenepik: Jan-Dirk Müller: „Improvisierende“, „memorierende“, und „fingierte“ Mündlichkeit. In: Joachim Bumke und Ursula Peters (Hg.): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Berlin 2005, S. 159 – 181, v. a. S. 163 f.

194

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

Oralität muss man sich auf den konkreten materialen Überlieferungszusammenhang konzentrieren, in dem die Instanzen des Schreibers und des Kompilators einer Textsammlung eine besondere Bedeutung gewinnen.²⁵⁵ Identität und Varianz der Textgestalt sind aber auch abhängig vom Inhalt des Textes. So ist für „heilige Texte […] Textfestigkeit ein schlechterdings konstitutives Merkmal“, bei denen in Verbindung mit der Heilserwartung die „universale Geltung reklamierende göttliche materia […] vom Buchstaben nicht zu lösen“ sei.²⁵⁶ Bei profanen Texten hingegen²⁵⁷ gilt „ein anderer Ermächtigungsspielraum für die Bearbeitung und Veränderung“.²⁵⁸ Zu diesen wird „neben Lyrik, Chronistik und verschiedenen Bereichen pragmatischer Textualität auch die Kleinepik gezählt.“²⁵⁹ In der semioralen Handschriftenkultur der Vormoderne dominieren also variierende und transformierende Formen der (retextualisierenden) Wiederholung. Für die mittelalterliche Latinität – v. a. geistliche und z. T. juristische Texte – gelten diese Aussagen jedoch nur eingeschränkt.²⁶⁰ Denn diese erreichte im Bereich der literarischen Gattungseinteilung ein differenziertes System mit vergleichsweise hoher Abstraktion.²⁶¹ Die lateinischen Poetiken stellen aber „keine Beschreibung der Realität mittelalterlicher Literatur und ihrer Gattungen“ dar, „sondern eine Beschreibung der Orientierungsversuche mittelalterlicher Geisteswissenschaft.“²⁶² Sie bleiben weitgehend in einem „halbsystematischen Raum“.²⁶³ Grubmüller formuliert zugespitzt: „Die lateinische Literatur des Mittelalters verfügt – im Gegensatz zur volkssprachigen – über eine Gattungssystematik und in diesem Rahmen über ein

 Vgl. dazu: Jürgen Wolf: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert. Tübingen 2008, S. 290. Für das Textfeld der Versnovellen am Beispiel des Herzmære hat dies übernommen: Margit Dahm-Kruse: Versnovellen im Kontext. Tübingen 2018, v. a. S. 52– 83.  Bruno Quast: Der feste Text. Beobachtungen zur Beweglichkeit des Textes aus Sicht des Produzenten. In: Ursula Peters (Hg.): Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450. Stuttgart 2001, S. 34– 46, hier S. 45. Mit dem Titel stellt sich Bruno Quast programmatisch gegen Joachim Bumke, der für die Heldenepik zwar eine große Variationsaffinität diagnostiziert hat. Doch er hat auch festgestellt, dass für die Großepik ab dem 13. Jahrhundert eine erhebliche (auch verbale) Konstanz gelte. Vgl. Bumke: Der unfeste Text, S. 127 f.  Quast nennt poetische und normative Texte. Vgl. Quast: Der feste Text, S. 45 f.  Dahm-Kruse: Versnovellen im Kontext, S. 55.  Dahm-Kruse: Versnovellen im Kontext, S. 55.  Aharon R. E. Agus: Heilige Texte. München 1999, S. 43 – 46 unterscheidet zwischen „fetischistischen heiligen Texten“, die qua Objekt als Verehrungswürdige gegeben sind, und „kommunikativen heiligen Texten“, deren Bedeutsamkeit erst durch das Ereignis der Nutzung entsteht. Bei der ersten Kategorie ist freilich die Textkonstanz noch strenger.  Vgl. Kindermann: Gattungssysteme zu den Etymologiae Isidors von Sevilla (7. Jh.) und dem Speculum doctrinale Vinzenz’ von Beauvais (13. Jh).  Kindermann: Gattungssysteme, S. 303.  Frank Bezner: Zwischen „Sinnlosigkeit“ und „Sinnhaftigkeit“. Figurationen der Retextualisierung in der mittellateinischen Literatur. In: Joachim Bumke und Ursula Peters (Hg.): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Berlin 2005, S. 205 – 237, hier S. 208.

6.3 Wiederholung und/als Erneuerung – die vormoderne Situation

195

Gattungsbewußtsein – aber über ein praktisch folgenloses.“²⁶⁴ Für die Bildung von Gattungen und anderen literarischen Reihen nennt er zwei kontextuelle Bedingungen: die Anlassgebundenheit und die Orientierung an Mustern.²⁶⁵ Zur Anlassgebundenheit (1): Eine Grundlage von Kontinuität ist die Kanonisierung von Redeanlässen in den (kirchlich-liturgischen) Gattungen, z. B. Predigt, Hymnus oder Sequenz.²⁶⁶ In einem institutionellen Rahmen der Literaturproduktion steht auch der Kanon der (antiken) Schulautoren, deren Nachahmung zentraler Teil des Lehrplans war.²⁶⁷ Grubmüller macht die Negativkontrolle in seinen Überlegungen zum säkularen lateinischen Lied. Er führt an, dass die „gewisse Entfernung von der Praxis der Glaubensausübung“ der Grund sei für die „begrenzte Dauer der Klerikerkultur, wie sie uns in den ‚Carmina Burana‘ entgegentritt“.²⁶⁸ Ein institutioneller Rahmen hätte das literarische Phänomen im Wortlaut kanonisiert und ihm damit Dauer verliehen. Da dieser aber fehlte, folgte das literarische Phänomen ähnlichen Tradierungsprozessen wie die volkssprachige Literatur. Zur Orientierung an Mustern (2): Die (antiken und spätantiken) Schulautoren bieten Muster, die das Gattungswissen fundieren und (rhetorische) Formulierungen zur Verfügung stellen. Diese (Gattungs‐)Muster aber vertritt ein „autorisierter Autor“,²⁶⁹ was für das Mittelalter (auch in der Theologie) konstitutiv ist, da es „die nomina propria den appellativa vorzieht.“²⁷⁰ Im Laufe des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit ereignet sich ein epistemischer Wandel zum Bedarf einer enzyklopädischen Ordnung der Welt in abundanten Listen und Kategorisierungen wie auch den Bettlerkatalogen. Die Bedeutung eines autorisierten Prototyps nimmt zugunsten eines Sets katalogisierender Bedingungen ab.²⁷¹

 Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 198.  Vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 208 f.  Auch in der Volkssprache bildet sich ein Gattungsrepertoire heraus. Doch dieses orientiert sich viel stärker an kommunikativen als an systematischen Regeln, Medium,Vortragssituation oder Thema. Vgl. Barbara Frank: ‚Innensicht‘ und ‚Außensicht‘. Zur Analyse mittelalterlicher volkssprachlicher Gattungsbezeichnungen. In: Barbara Frank, Thomas Haye und Doris Tophinke (Hg.): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Tübingen 1997, S. 117– 136.  Vgl. Peter Stotz: Dichten als Schulfach. Aspekte mittelalterlicher Schuldichtung. In: MlatJb 16 (1981), S. 1– 16 und Tony Hunt: Teaching and Learning Latin in Thirteenth Century England. I. Texts. Cambridge 1991, S. 68 – 70.  Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 208.  Fidel Rädle: Literatur gegen Literaturtheorie? Überlegungen zu Gattungsgehorsam und Gattungsverweigerung bei lateinischen Autoren des Mittelalters. In: Barbara Frank, Thomas Haye und Doris Tophinke (Hg.): Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Tübingen 1997, S. 221– 234, hier S. 224.  Rädle: Literatur gegen Literaturtheorie, S. 224. Vgl. auch Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 208 f.  Vgl. dazu grundlegend Meier: Enzyklopädik. Zu Systematisierungsbestrebungen in frühen Enzyklopädien vgl. auch Friedrich: Grenzen des Ordo. Zu einer Poetologie der Liste jüngst Eva von Contzen: The Limits of Narration: Lists and Literary History. In: Style 50 (2016), S. 241– 260. Zu Phänomenen des Ausgreifens dieses epistemischen Wandels auf die Literatur vgl. Tobias Bulang: Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Berlin 2011 und die Beiträge in Mathias Herweg, Johannes Klaus Kipf und Dirk Werle (Hg.): Enzyklo-

196

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

Allgemein hat die lateinische Literatur im Gegensatz zur volkssprachigen Literaturproduktion in stärkerer Weise „Zugang zu den die Tradition verwaltenden Instanzen […] Wissenschaft und Kirche.“²⁷² Durch dieses Entstehensumfeld wurden Muster lateinischer Texte systematisch protegiert und stabilisiert;²⁷³ ebenso steuerte die lateinische Gelehrtenkultur die Prozesse der Überlieferung (zu einem gewissen Grad).²⁷⁴ Grund für diese dominante Position des Lateinischen ist neben der Besetzung der institutionellen Posten auch das Monopol der Schriftlichkeit, das einen beträchtlichen Einfluss auf die Steuerung von Überlieferung und Traditionsbildung hat. Diese Prozesse sind nicht exklusiv für das Lateinische und verstärken sich für die Volkssprachen im Laufe des Mittelalters durch das zunehmende Mäzenatentum nichtgeistlicher Würdenträger und die Relativierung des klerikalen Schriftmonopols. Es ist davon auszugehen, dass in der Praxis heterogene Diskurse und Wissensinhalte verschiedenartiger Herkunft verbunden und aus dem interferierenden Zusammenspiel unterschiedlicher lateinischer wie volkssprachlicher, gelehrter wie laikaler, antiker wie aktuell mittelalterlicher, höfischer wie mythischer Vorstellungen neue Sinnzusammenhänge und Traditionsansätze gewonnen werden.²⁷⁵

Für die Analyse des Wissens über einen Gegenstand oder ein soziales Phänomen sowie der gesellschaftlichen Einstellung dazu ist demnach eine vergleichende Analyse der volkssprachigen und der lateinischen Literatur obligatorisch. Da das Mittelalter keine Unterteilung in einzelne ‚Nationalliteraturen‘ kennt und allenfalls herrschaftspolitische und sprachliche Grenzen verschiedene Literaturen trennen, ist eine europäische Perspektive für die Untersuchung mittelalterlicher Literatur im Allgemeinen sinnvoll, im Fall einer lateinischen (Gelehrten‐)literatur sogar unerlässlich.²⁷⁶

pädisches Erzählen und vormoderne Romanpoetik (1400 – 1700). Wiesbaden 2019, v. a. Einleitung. Enzyklopädisches Erzählen und vormoderne Romanpoetik, S. 9 – 24, vgl. hier S. 12: Nach Herweg/Kipf/ Werle ist das Enzyklopädische durch seine quantitative Bestimmung (1), seine Ausrichtung auf die Ordnung der Menge (2) mit Blick auf eine angestrebte Vollständigkeit (3) und eine Entproblematisierung (4) sowie systematische Erfassung (5) und Förderung einer pädagogisch-didaktischen Vermittlung von Wissen (6) gekennzeichnet.  Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 207.  Vgl. Rädle: Literatur gegen Literaturtheorie, S. 226.  Vgl. Manfred Eikelmann: Wissen und Literatur im Kontext der europäischen Traditionsbildung. In: Manfred Eikelmann und Udo Friedrich (Hg.): Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen – Literatur – Mythos. Berlin 2013, S. 11– 27, hier S. 18.  Eikelmann: Wissen und Literatur, S. 18.  Dazu auch Eikelmann: Wissen und Literatur, S. 18: „Geprägt ist es [das kulturelle Erbe des Mittelalters, Anm. P. R.] hingegen durch die Auseinandersetzung mit dem verpflichtenden Erbe europäisch übergreifender und vernetzter Wissenstraditionen. Nicht nur in seinen offiziellen leitenden Diskursen – von allem dem der lateinisch-christlichen Transformation der Antike – verfügt die Epoche daher über spezifische Praktiken, die es erlauben, neue Wissenskulturen und Traditionen zu generieren und formieren.“ Die konstitutive Bedeutung des lateinischen Mittelalters für eine europäische

6.4 Zusammenfassung und weiteres Vorgehen

197

6.4 Zusammenfassung und weiteres Vorgehen Das Schreiben einer Literaturgeschichte ist möglich, sofern man sich vom Anspruch der Darstellung einer umfassenden Entwicklung in allen Facetten mit einer inhärent zielgerichteten, absoluten Ordnung verabschiedet. Es geht nicht um eine Teleologie hin zum gegenwärtigen status quo; Vollständigkeit ist nicht erreichbar. Mit Brüchen und Zäsuren in den historischen Prozessen ist zwar zu rechnen, aber auch eine absolute Neuerung (im Sinne einer creatio ex nihilo) ist aufgrund der Paradoxie absoluter Innovation nicht anzunehmen. Wiederholung und Erneuerung als semantisch verwandten Prozessen kann man sich durch die Analyse des Traditionsprozesses annähern, sofern man Tradition als soziale Praxis auffasst. Sie hängen vom Traditionsverhalten der beteiligten Akteure ab. Weiter hat eine Tradierung spezifische Gründe, die sozialer oder ästhetischer Natur sein können: Diese reichen von einer idealistischen Annäherung an eine (metaphysische) materia bis zur bloßen politischen Funktionalisierung, die Tradition als Legitimationsstrategie nutzt und nicht vor einer Erfindung von normativen Traditionen haltmacht. Dies kann bis zur aktiven Falschinformation mit täuschender Absicht reichen, die den eigenen Zielen dienlich ist – sozusagen traditionale fake news. Das Traditionsmaterial erscheint in traditionalen Mustern, welche die semiotische und rhetorische Dimension syntagmatischer Textbeschreibung (also von Zeichen, Symbolen, Bildern oder Motiven) um eine diachrone Perspektive ergänzt. Deshalb ist eine Motivgeschichte eigentlich eine Mustergeschichte. Die genaue Einschätzung und Abgrenzung von Mustern unternimmt dabei der interpretierende Rezipient. Wenn dieser vom bloßen Leser/Hörer nun zum produktiven Traditionsaktanten wird, wird er – retrospektiv als Akzipient erkannt – zum Tradenten und konstruiert durch seine Auswahl von Mustern eine Tradition. Tradition ist also etwas Gemachtes. Gleichzeitig ist diese Auswahl nicht völlig beliebig, da die Literaturproduktion vom Archiv der Kultur, also den diskursiven Sprechmöglichkeiten und Codes, abhängt. Diese stehen wiederum in einem zirkulären Implikationsverhältnis mit den Texten einer Kultur. Durch die Auswahl eines traditionalen Musters aus dem kulturellen Archiv und seine Adaptation durch den Akzipienten wird dieses bereits – gemäß den Aussagen zur Transkriptivität – verändert. Variation und Transformation sind also feste Teile von Traditionen. Die Bindung der literarischen Produktion an traditionale Muster zeigt sich besonders in der vormodernen Literatur, welche die Retextualisierung von Bestehendem nicht als minderwertig gegenüber dem Innovativen erachtet und sich (v. a. in der Volkssprache) eher an Mustern als an Gattungssystemen orientiert. Schließlich prägt die mediale Gestalt der Überlieferung den Tradierungsprozess: So ist – entgegen der spontanen Einschätzung – schriftliche Überlieferung affiner für (variierende und

Literatur ist bereits das Programm Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter von Ernst Robert Curtius (1948).

198

6 Probleme einer Motivgeschichte: Theoretische Überlegungen II

transformierende) Veränderung, da mündlicher Überlieferung eine fixierte Grundlage zur (verändernden) Interpretation entzogen ist. Für die philologische Beschreibung von Traditionen bietet sich das Bild der Spurensuche an, da es einige Prämissen mit dem Bild der traditionalen Übergabehandlung teilt, wenn auch in umgekehrter Richtung. Eine Spur ist wie ein Muster von einem Interpreten zu erkennen, indem sie durch ihre Salienz in der Wiederholung sichtbar wird. Damit macht der Interpret die Reihe von Phänomenen zur Spur. Die Phänomene aber haben eine Basis in der materialen Realität. Damit vereinen sich in der Spurensuche konstruktive und rekonstruktive Momente. Eine Spurensuche ist mithin nicht völlig beliebig, sondern material determiniert, suggeriert jedoch keine Abgeschlossenheit und Zielgerichtetheit. Sie ermöglicht vielmehr, indem sie auch zu heterogenem (Text‐)Material führt, ein Panorama ihres Gegenstandes, z. B. einer semantischen Einheit. Im Gegensatz zu einer Spur, die nicht notwendig einen Ausgangspunkt hat – sie kann sich verwischen, plötzlich enden oder im Kreis laufen – hat jede Spurensuche einen Ausgangspunkt. Dieser liegt beim interpretierenden Subjekt, welches einen Anhaltspunkt, also das erste Anzeichen einer Spur sucht. Um den Einfluss dieser Interpretenposition möglichst gering zu halten, habe ich aus historischem Material ein Panorama zu einem Teilbereich der Kultur um 1500 entworfen, welcher als heuristischer Ausgangspunkt und perspektivischer Zielpunkt der Spurensuche dienen kann: den Wandel im Bettlerdiskurs. Die folgenden Spurensuchen sind als genuin heuristische Verfahren (griech. εὑρίσκω ‚finden‘) auf das Aufspüren von Hinweisen und Indizien gerichtet, wodurch sie verstreute Bausteine in einen Argumentationszusammenhang bringen. Dabei liefern rekurrente Forschungsmeinungen unter Umständen die ersten Anhaltspunkte. Kursierendes ‚Fakten‐‘ oder ‚Allgemeinwissen‘ und gängige Sachverhalte, die als mögliche ‚Herkunft‘ des Figurenmusters ‚Fahrender Schüler‘ gelten, sind kritisch zu hinterfragen. Dabei ermitteln die einzelnen Spurensuchen mögliche Grundlagen für das literarische Muster um 1500. Als Ausgangspunkt dienen demnach einschlägige kanonische und vielrezipierte Texte der Vormoderne, von deren diskursprägendem Einfluss als Prototyp auszugehen ist (z. B. die Regula Benedicti oder Boethius’ Consolatio Philosophiae); jedoch auch im Mittelalter weniger rezipierte, in der Forschung aber rekurrente Texte wie der Codex Buranus der ‚Goliardendichter‘ sind als Ausgangspunkt der Spurensuche zu erwägen. Auch wenn der Schwerpunkt auf der Situation im deutschsprachigen Raum liegt, ist die Einnahme einer europäischen Perspektive notwendig, zumal durch den Einbezug der lateinischen Literatur, die Wissenskulturen und Tradierungspraktiken generiert und prägt. Dabei ist zu zeigen, inwiefern sich die lateinische und die deutsche volkssprachige Perspektive gegenseitig bedingen, ergänzen oder ausschließen.

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I) 7.1 Der Codex Buranus als Vagantenliederbuch? Die ältere Forschung konzentrierte sich auf eine etymologische Herleitung des Pseudonyms Golias, eine teleologische Phasenuntergliederung und den ‚Sitz im Leben‘ der Texte, deren Verfasserschaft sie biographisch fassbaren ‚Vaganten‘ oder ‚Goliarden‘ zuschrieb. Der Überblick über die neuere Forschungsdiskussion zeigt hingegen, dass die ‚Vaganten‘ als Interpretationsgrundlage für das Textfeld der weltlichen lateinischen Dichtung¹ überbewertet wurden.² Die wichtigste Sammlung mit Gedichten, die dem Feld der ‚Vagantenlieder‘ zugeordnet werden können, sind die Carmina Burana, die ein Redaktor wohl um 1230 im südostbairischen Sprachraum zusammengestellt hat (Cod. lat. mon. 4660).³ Jedoch ist unter Anbetracht von Qualität und Aufbau der Handschrift sicher, „daß die Carmina Burana nicht aufgezeichnet wurden, um als Liederbuch für herumziehende Kleriker (Vaganten) zu dienen.“⁴ Ebenso sind die Vorlagen der Lieder kleinere oder größere Liedersammlungen statt „umlaufenden Einzelliedern“,⁵ sodass die Sammlung allenfalls einen semioralen Charakter hat. Der Codex Buranus ist mithin eher mit den großen volkssprachigen Liedersammlungen (z. B. Codex Manesse) als mit einem aktiv genutzten Vagantenliederhandbuch vergleichbar.⁶ Die durchdachte themenorientierte (im Gegensatz zum Codex Manesse also nicht autorenorientierte) Komposition wird auch durch das unregelmäßige Einschieben von nicht-sangbaren versus deutlich, die aus den in der Vormoderne beliebten Florilegien moralischer und literarischer Au-

 Diese Bezeichnung in Anlehnung an Frederic J. E. Raby „secular Latin poetry“ scheint mir am passendsten. Dabei soll der Terminus nicht implizieren, dass keine theologischen oder religiösen Sachverhalte thematisiert werden, sondern nur eine Opposition zur (weitaus häufigeren) religiösen lateinischen Dichtung aufbauen, die unmittelbar oder zumindest im Weiteren mit der Liturgie verbunden ist (Hymnen, Sequenzen etc.). Frederic J. E. Raby: A History of Secular Latin Poetry in the Middle Ages. Oxford 1957 [1934]. Vgl. auch Szövérffy: Secular Latin Lyrics.  Vgl. Kapitel 2.2 und 2.3.  Zusammenfassend dazu vgl. Carmina Burana, hg. von Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt a. M. 2011 (Übers. im Folgenden: B. K. V.), S. 897– 901. Dies ist auch im Folgenden die Textgrundlage, die freilich abgeglichen ist mit der kritischen Ausgabe Carmina Burana: 2 Bde. Bd. 1: Text (1,1 Die moralisch-satirischen Dichtungen; 1,2 Die Liebeslieder; 1,3 Die Trink- und Spielerlieder, die geistlichen Dramen, Nachträge). Bd. 2: Kommentar (nur CB 1– 55), hg. von Alfons Hilka, Otto Schumann und Bernhard Bischoff. Heidelberg 1930 – 1970. Vgl. zum historischen Kontext auch Peter Godman: Rethinking the Carmina Burana (I). The Medieval Context and Modern Reception of the Codex Buranus. In: Journal of Medieval and Early Modern Studies 45 (2015), S. 245 – 286, hier S. 245 – 271.  Carmina Burana, hg. von Vollmann, S. 913.  Carmina Burana, hg. von Vollmann, S. 902.  Vgl. Lothar Voetz: Der Codex Manesse. Die berühmteste Liederhandschrift des Mittelalters. Darmstadt 2015, S. 82– 85. https://doi.org/10.1515/9783110708349-008

200

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

toritäten geschöpft sind.⁷ Diese nutzen die Redaktoren als „Trenner inhaltlich zusammengehörender Liedgruppen, vor allem aber als ‚Kommentar‘-Texte zu vorausgehenden Nummern oder auch […] geradezu als Negation der in den benachbarten Liedern vertretenen Anschauungen“.⁸ Bei den moralisch intrikaten Liedern im letzten Teil der Sammlung, den Spielerund Trinkliedern, nehmen diese Korrekturversuche erstaunlicherweise deutlich ab, sodass sie den unmoralischen oder moralisch ambivalenten „Charakter der einzelnen Lieder nicht überdecken, sondern lediglich abmildern“⁹ können. Dieser Umstand wäre dadurch zu erklären, dass im Mittelalter kein strenger Widerspruch zwischen Didaxe und Darstellung unerlaubter Ausschweifung gegolten haben muss. Denn im Bereich des Didaktischen könnte man laut Vollmann, „nach mittelalterlicher Vorstellung, nicht ganz auf die Darstellung des ‚Verkehrten‘ verzichten.“¹⁰ Deshalb sei der Codex neben dem ästhetischen Anspruch auch „ein Buch der Lebensklugheit und der Lebenslehre“¹¹ mit einer strukturalen Nähe zu „moralischen Enzyklopädien, die ihrerseits reichlich mittelalterliche Rhythmen und Verse zitieren“.¹² Dieser Interpretation widerspricht Frank Bezner, indem er das Potential der Gedichte zwischen der Reaktion „auf eine moralische Problemlage“¹³ und reiner Transgression situiert. Als eine Leitfrage spitzt er zu: Warum […] produziert und inszeniert man im gelehrten Milieu der ‚Renaissance des 12. Jahrhunderts‘ eine imaginäre Welt mit literarischen Ich-Subjekten, die fortgesetzt und mit ansteckender Freude eben die Normen brechen, die für eben dieses Milieu wichtig waren […], namentlich: sexuelle Abstinenz, Selbstkontrolle, tugendhaftes Leben und stabilitas loci. ¹⁴

Der Codex Buranus hat also viele Facetten, ein Liederhandbuch singender Goliarden ist er aber gewiss nicht.

 Carmina Burana, hg. von Vollmann, S. 901 f.; vgl dazu Galvez: Songbook, S. 25 – 33.  Carmina Burana, hg. von Vollmann, S. 911.  Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 69. Ich folge der allgemein etablierten Gliederung der Carmina Burana nach Burghart Wachinger: Deutsche und lateinische Liebeslieder. Zu den deutschen Strophen der Carmina Burana. In: Lieder und Liederbücher: Gesammelte Aufsätze zur mittelhochdeutschen Lyrik. Berlin, New York 2011 [1984], S. 97– 123; vgl. darauf aufbauend auch Carmina Burana, hg. von Vollmann, S. 905 – 914.  Carmina Burana, hg. von Vollmann, S. 910; ähnlich auch in De disciplina scholarium des PseudoBoethius. Vgl. Kapitel 9.3.2.  Carmina Burana, hg. von Vollmann, S. 910, vgl. ferner Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 54 f.  Carmina Burana, hg. von Vollmann, S. 912.  Bezner: Devianz tradieren. Überlegungen zur materialen Semantik der Vagantendichtung des lateinischen Mittelalters. In: Philip Reich und Karolin Toledo Flores (Hg.): Tradition und Traditionsverhalten. Literaturwissenschaftliche und kulturhistorische Perspektiven. Heidelberg (in Vorb.).  Bezner: Devianz tradieren (in Vorb.). Vgl. auch Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 58.

7.2 Die Imagination eines Vaganten-Ordens

201

7.2 Die Imagination eines Vaganten-Ordens In den letzten Teil der Sammlung fällt auch das anonyme Carmen Buranum 219 CUM ‚In orbem universum‘, welches die Forschung bezeichnenderweise als „Ordenslied der Vaganten“¹⁵ oder „Bundeslied des Vagantenordens“¹⁶ betitelte und einer biographischen Lesart folgend zum metapoetischen Interpretationsleitfaden einer ganzen ‚Gattung‘ machte. So wurde dieses Lied zu einem wichtigen Ausgangspunkt für die Genese des „Vagantenmythus“.¹⁷ Einen real existierenden Vaganten-Orden, der bestehende Strukturen bewusst parodierte, erwog besonders Nicolaus Spiegel (1892 u. ö.),¹⁸ wobei ihm schon früh widersprochen wurde.¹⁹ Bereits im ersten Vers des CB 219 wird das Markus-Evangelium (Mk 16,15) in seiner prominenten Form eines Responsoriums aus der Pfingstwoche zitiert.²⁰ Dieses Kirchenlied dient dann als Aufhänger dafür, die permanente Mobilität verschiedener Kleriker zu beschreiben: CVM „in orbem universum“ decantatur „ite!“, sacerdotes ambulant, currunt cenobitę et ab ewangelio iam surgunt levitę, sectam nostram subeunt, quę salus est vitę. (CB 219, Str. 1)²¹

Diesen Aufruf, die liturgische Position zu verlassen, führten Giesebrecht (1853) oder Süßmilch (1917) auf den „ungeheuere[n] Wandertrieb des Kreuzzugzeitalters“²² zurück. Eine reine kulturgeschichtliche Interpretation aber greift zu weit. Es handelt sich nämlich um den Beginn einer Reihe, die mit parodistischer Zielsetzung konventionelle klerikale Texte und Ideale verschiebt und verkehrt. Die erste Strophe bezieht neben den biblischen Zitaten gerade auch das monastische Ideal der stabilitas loci ein, wie es in der Regula Benedicti (r. 1) formuliert ist.²³ Die zweite Strophe rekurriert weiter auf die (Selbst‐)Prüfung im Pauluszitat omnia probate! (1 Thess 5,21), das ähnlich auch in der Regula Benedicti (r. 58,2) zu finden ist. Das Carmen Buranum prüft Bittsteller an der Klosterpforte und kehrt Objekt und Subjekt mit den Mitteln der Satire um: Statt an die Bettler richtet sich das Lied an die Almosengeber als pravi clerici, die das Gebot der

 Bechthum Vagantentum, S. 100, vgl. auch Schüppert: Kirchenkritik, S. 185.  Lehmann: Parodie im Mittelalter, S. 161 u. ö.  Umfassend dazu Weiß: Goliardendichtung, S. 168 (Anm. 1447) und S. 249.  Spiegel: Die Vaganten und ihr ‚Orden‘, S. 54– 73.  Süßmilch: Vagantenpoesie, S. 17 und Lehmann: Parodie im Mittelalter, S. 159 f.  Corpus Antiphonalium Officii. Bd. 4, hg. von René-Jean Hesbert. Rom 1970, Nr. 7028 (S. 257).  Ed. Carmina Burana, hg. von Vollmann, hier S. 680. Alle folgenden Übersetzungen nach der hier genannten Ausgabe: „Wenn man singt: ‚Gehet hin in alle Welt!‘, machen sich die Priester auf, eilen die Mönche, erheben sich die Leviten von der Verlesung des Evangeliums, um sich unserer Glaubensgemeinschaft anzuschließen, die das Heil des Lebens ist.“  Giesebrecht: Vaganten, S. 14; ähnlich Süßmilch: Vagantenpoesie, S. 58.  Vgl. dazu Kapitel 9.1.2.

202

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

Nächstenliebe missachteten. Gegen diese sollen die textinternen Adressaten des Liedes standhalten: contra prauos clericos uos perseuerate, qui non large tribuunt uobis in karitate! (CB 219, Str. 2, 3 f.)²⁴

Der erste Teil des Liedes ruft also durch Aktivierung verschiedener gelehrter Codes und intertextueller Verweise dazu auf, möglichst aggressiv zu betteln. Die folgenden Strophen (3 – 7) konzentrieren sich auf die Mitglieder des Ordens und betonen seine allumfassende Aufnahmebereitschaft. Jeder könne Teil der Gemeinschaft werden, gerade aber diejenigen, die von den frommen Mönchen vor die Tür gesetzt wurden (quos deuoti monachi dimittunt extra fores, Str. 3, 4) und vor allem die gutgekleideten (also vermögenden?) Scholaren: scolarem libentius tectum veste bona (Str. 4, 4).²⁵ Auch gegenüber dem Geschlecht seiner Anhänger ist der Orden indifferent, was folgendes grammatische Sprachspiel zeigt: Ordo procul dubio noster secta uocatur, quam diuersi generis populus sectatur. ergo ‚hic‘ et ‚hec‘ et ‚hoc‘ ei preponatur, quod sit omnis generis, qui tot hospitatur. (Str. 11)²⁶

Mit dem Maskulinum ordo und dem Femininum secta hat bereits die Bezeichnung der Gemeinschaft zwei Genera. Gleichzeitig bekommt die Strophe durch die explizite Herleitung des Wortes secta vom Frequentativ von sequi (sectari) eine räumliche Dynamik. Zu den Verhaltensregeln des ‚Vagantenordens‘ gehört Folgendes: Er verdammt den Geiz und die Geizigen (Str. 5, 3 f.) und ruft zu verschiedenen sündhaften Verhaltensweisen auf, zu Völlerei (gula, Str. 8, 14) und Faulheit (acedia) hinsichtlich der Frühmesse (Str. 9 f.), zumal morgens die Gespenster umgehen: sunt quedam fantasmata, quę uagantur mane (Str. 9, 2). Diese beiden Aspekte sind dezidiert auf das Mönchtum perspektiviert, indem sie zum Verzehr von Fleisch – pinguis assura (Str. 8, 3) und gallinas (Str. 10, 3) –, der gemäß der Regula Benedicti (r. 36, 9) möglichst eingeschränkt sein soll, und zur Missachtung der genau geregelten Stundengebete (Regula Benedicti r. 16) aufrufen.²⁷ Ebenso verhält es sich beim Verbot, ein zweites Ge-

 Übers. B. K.V.: „[H]altet durch in den Anfechtungen von seiten böser Kleriker, die euch nicht, wie es die Nächstenliebe fordert, großzügig unterstützen.“  Übers. B. K. V.: „am liebsten aber [nehmen wir] den gutgekleideten Studenten [auf].“ Üppige Kleidung gilt mitunter auch als Zeichen für die Todsünde der luxuria, was die Passage als AlamodeKritik ante litteram lesen ließe. Vgl. dazu auch Kapitel 9.3.3 (Hugos von Trimberg Renner) und allgemeiner Kapitel 9.2.1.  Übers. B. K. V.: „Unser Orden wird zu Recht eine Glaubensgemeinschaft genannt, weil sich zu ihr eine gemischtgeschlechtliche Gemeinde bekennt. Es kann demzufolge der Artikel ‚der‘, ‚die‘ oder ‚das‘ beigesetzt werden, weil ja, wer so viele beherbergt, jedes Geschlecht annehmen kann.“  Vgl. ebenso Schüppert: Kirchenkritik, S. 120 f.

7.2 Die Imagination eines Vaganten-Ordens

203

wand zu besitzen (Str. 12 f.), wie es ähnlich in anderen Liedern zu finden ist.²⁸ Hier wird satirische Kritik am prächtigen (seidenen) Untergewand der Cluniazenser (dupla vestis) geübt und dieser Umstand im Sinne einer Analogisierung von Innen und Außen als Heuchelei (doppeltes Herz) der Mönche bloßgestellt.²⁹ Auf der Textoberfläche im Carmen Buranum ist der Grund für das Kleidergebot allerdings materieller Mangel, da die Angehörigen des ‚Vagantenordens‘ dem Gott des Würfelspiels Decius verfallen seien (Str. 12, auch in 10 und 14). Die vorletzte Strophe reaktiviert schließlich das Narrativ der Mobilität, welches in der ersten Strophe präsent war, in den Mittelstrophen aber ausgeblendet wurde: Nemo in itinere contrarius sit ventis nec a paupertate ferat uultum dolentis, sed spem sibi proponat semper consulentis, nam post grande malum sors sequitur gaudentis. (Str. 15)³⁰

Diese Strophe ruft eindeutig das Bild eines armen, jungen und vom Schicksal gebeutelten Vaganten auf, der sich allen Widerständen zum Trotz das schalkhafte Lachen nicht von seinen Lippen vertreiben lässt. Sieht man die Strophe jedoch im Gesamtzusammenhang des Gedichtes, reiht sie sich in eine Serie von parodistischen Verkehrungen des ordentlichen Mönchwesens ein: hier durch eine Verkehrung der stabilitas loci. Das Gedicht ist also als spielerische Kritik am Mönchtum zu lesen, indem es die typischen monastischen Tugenden ironisch verkehrt und als Ständelaster reformuliert.³¹ Kommentierende versus, die diese These stützen könnten, finden sich unmittelbar bei den Strophen des CB 219 nicht. Doch die nächststehenden versus CB 214 könnten das Motto für den folgenden Abschnitt bis CB 222 bilden. Es handelt sich um Hexameter aus Marbods von Rennes Carmina. ³² Diese liefern, ohne dass parodistischer Witz erkennbar wäre, eine typische Anweisung des Lehrers an den Schüler:

 „Trunksucht, Tragen von Pelzkleidern oder zu delikate Speisezubereitung warf man den verweltlichten Mönchen auch in Reformkreisen vor“; Schüppert: Kirchenkritik, S. 186 f., vgl. außerdem S. 117 f. und 186. Hier werden die beiden Lieder De Clarevallensibus et Cluniacensibus und De Mauro et Zoilo ausgewertet. Ed. in Thomas Wright: The Latin Poems: Commonly Attributed to Walter Mapes. London 1841, S. 237– 250. Vgl. auch Kassius Hallinger: Gorze – Kluny. Studien zu den monastischen Lebensformen und Gegensätzen im Hochmittelalter. Rom 1950/51, Bd. 2, S. 710 f.  Vgl. Jörg Sonntag: Klosterleben im Spiegel des Zeichenhaften. Symbolisches Denken und Handeln hochmittelalterlicher Mönche zwischen Dauer und Wandel, Regel und Gewohnheit. Berlin 2008, S. 100 f.  Übers. B. K. V.: „Niemand soll, wenn er unterwegs ist, gegen den Wind marschieren und wegen seiner Armut eine geschmerzte Miene zur Schau tragen, vielmehr soll er immer ein hoffnungsfrohes Gesicht aufsetzen wie einer, der sich zu helfen weiß, denn auf ein großes Übel folgt ein Glückslos.“  Zu Ironie in den ‚Vagantenliedern‘ vgl. Gerd Althoff und Christel Meier: Ironie im Mittelalter. Hermeneutik – Dichtung – Politik. Darmstadt 2011, S. 194– 200.  Marbod von Rennes: Carmina Varia. In: PL 171, Sp. 1647– 1736, hier Sp. 1724 AB. Bezner erwägt, dass bei den letzten Versen des Liedes (CB 219, Str. 16, 2– 4), die ein Rügegedicht Walthers von Châtillon adaptieren, an „einem ebenso einschlägigen wie prekären ‚Moment‘ der Gattung […] letztlich ein

204

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

Si preceptorum superest tibi cura deorum, Parce, puer, nugis, dum rums colo tempore frugis. Prefigam metas, quales tua postulat etas; Quas si transgrederis, male de monitore mereris. (CB 214, vv. 1– 4)³³

Es folgen Anweisungen zu verschiedenen Tugenden. Sie beinhalten frühes Aufstehen (vv. 5 f.) sowie Mäßigkeit im Umgang beim Essen, Trinken und Ausruhen (vv. 7– 10). Nur in einem sehr eingeschränkten Zeitfenster des festen Tagesplans sei es dem Zögling gestattet zu ‚spielen‘: Si tempus superest, post cenam ludere prodest. | Sub tali meta tibi tota dieta. (vv. 15 f.).³⁴ In einer poetologischen Lesart wären in diesem ludere auch das Singen oder Dichten von Liedern wie den folgenden Carmina Burana zu verorten, die als Trink- und Spielerlieder die Tugenden im Zitat Marbods gerade verkehren. Ein deviantes Vagieren steht mithin weder für Marbod noch den Kompilator der Carmina Burana im Zentrum. Lieder, die das konkrete Vagieren oder eine Ordensgemeinschaft von Vaganten zum Thema haben, finden sich in den Carmina Burana bis auf 219 kaum. CB 222 erwähnt eine secta Decii (v. 3), also eine Gemeinschaft von Spielern, und CB 195 ganz ähnlich ein uagorum […] consortium (vgl. Str. 1, 2). Außerdem wird das ‚Vagieren‘ zum Thema in CB 199. Dieses Gedicht zerfällt in vier Strophen bei denen die ersten drei jeweils einem Thema gewidmet sind: dem Weinkonsum (Str. 1), dem Würfelspiel (Str. 2) und dem ziellosen Vagieren: numquam erit habilis qui non est instabilis et corde iocundo non sit uagus mundo et recurrat et transcurrat et discurrat in orbe rotundo. (CB 199, Str. 3)³⁵

Dass auch dieses Lied monastische Verhältnisse parodiert, wird in der letzten Strophe offensichtlich, in der die Situation einer klösterlichen Visitation entworfen wird. Die

versus in ein transgressives Gedicht integriert“ werde und eine „‚verkehrte Welt‘, die keine Anti-Welt ist, sondern ein dialektisches Spiel mit Eigentlichkeit und Institution“ auf diese Art „kalkuliert evozier[e]“; Bezner: Devianz tradieren (in Vorb.).  Übers. B. K. V.: „Wenn du noch Ehrfurcht hast vor den Weisungen der Götter, dann hüte dich vor Flausen, Knabe, während ich aufs Land gehe zur Erntezeit. Ich will dir Grenzpfähle setzen, die deinem Alter entsprechen; solltest du sie überschreiten, machst du dich schlecht verdient um deinen Erzieher.“  Übers. B. K. V.: „Ist aber noch Zeit übrig, dann empfiehlt es sich, nach dem Essen zu spielen. Nach dieser Ordnung soll sich dein ganzer Tageslauf richten.“  Übers. B. K.V.: „Niemals wird ein rechter Kerl, der immer am selben Ort hockenbleibt und nicht mit frohem Sinn in der Welt herumzieht, und hin und her, und kreuz und quer das Erdenrund durchstreift.“

7.2 Die Imagination eines Vaganten-Ordens

205

Klöster im Elsass kontrolliert ein Bruder Symon, dessen Namen hier deutlich das Verbechen der Simonie (Ämterkauf) aufruft. Ähnlich wie die Carmina Burana verfahren auch Lieder außerhalb der Sammlung. Contra monachos vagantes atque mendicantes, das durch seine unmittelbare Textumgebung in einem Codex vom Ende des 13. Jahrhunderts in die Golias-Dichtung eingegliedert ist,³⁶ weist bereits im Titel auf die satirische Zielgruppe hin. Es steht motivisch nahe an CB 199, v. a. was ziellose Bewegung betrifft. Dies thematisiert die erste Strophe mit deutlicher Ähnlichkeit zum Carmen Buranum: Nos per mundi climata ferimur vagantes, semper vagi, stabiles nunquam, set instantes, solis voluptatibus solum gloriantes, carnis desideriis et cordis instantes.³⁷

Neben einer dezidierten Absage an die stabilitas loci betont das Sprecher-Wir also auch die moralische Unbeständigkeit. Es ist körperlich und geistig unstet.³⁸ Auch wenn es nicht die Imagination eines Ordens entwirft, kehrt das Lied somit doch explizit zwei Mönchsprinzipien parodistisch um. Die folgenden fünf Strophen sind schließlich einer typischen Fahrenden-Thematik gewidmet. Lob erfahre, wer dafür bezahlt; diffamiert werde, wer nicht bezahlt: qui dat nobis, eum nos publice laudamus, qui non coram omnibus illum diffamamus. (Str. 2, 3 f.)³⁹

Gerechtfertigt wird dies mit folgendem Sprichwort, das als Autorität gelten soll, hier aber selbstironisch verwendet ist:⁴⁰ ‚Ein Schandmaul sollst du mit Geschenken stopfen.‘ Wenn man diese Regel beachte, bestehe kein Risiko: Recole, quod dicitur per verbum vulgare: ‚Os malum muneribus debes opilare‘;

 Bodleian Library, Ms. Digby 166. fol. 60v. Vgl. William Dunn Macray: Digby Manuscripts. Oxford 1999, Sp. 168: In unmittelbarer Umgebung stehen einige Gedichte, die in anderen Handschriften explizit unter dem Pseudonym Golias oder Walter Mapus stehen, wie die Apocalypsis Goliae oder die Praedicatio Goliae. Vgl. dazu Rigg: Golias, S. 89 und die Tabelle nach S. 96.  Ed. in Strecker: Zwei mittellateinische Liedchen, S. 117. Ed. auch in Szövérffy: Secular Latin Lyrics, Bd. 2, S. 443; Übers. P. R.: ‚Wir lassen uns ziellos durch alle Zonen der Welt treiben, immer unterwegs, nie ortsfest, sondern fortdrängend. Wir rühmen uns einzig unserer Gelüste und folgen unablässig den Begierden des Fleisches und des Herzens.‘  Zum Konzept der vagatio corporis et mentis vgl. Kapitel 9.1.1.  Übers. P. R.: ‚Wer uns gibt, den rühmen wir öffentlich, wer nicht, dessen Ruf zerstören wir vor allen Leuten.‘  Das Sprichwort ist (ähnlich) auch an anderer Stelle belegt. Es ist jedoch keine deutsche Übertragung bekannt. Vgl. TPMA 8, S. 271 f. und Jakob Werner: Lateinische Sprichwörter und Sinnsprüche des Mittelalters. Aus Handschriften gesammelt. Heidelberg 1966, Nr. i 159 und o 88. Hier beziehen sich beide Belege auf Paris BN Lat. 6765 vom Ende des 12. Jahrhunderts.

206

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

hunc loquax aut garulus nequid diffamare, qui novit petentibus bona data dare. (Str. 6)⁴¹

Dieses Verständnis erinnert an das Konzept des guot umbe êre nemen der deutschen Sangspruchdichtung. Es bezeichnet die rechtmäßige Entlohnung des lobenden Sängers und zielt in Verbindung mit einem Appell an die Freigiebigkeit (mhd. milte, lat. largitas) auf eine Gabenheische ab.⁴² Doch weder die Beispiele aus der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung noch lateinische Bettelstrophen (z. B. CB 223, 224 oder archipoeta VI u. a.) kommen dem vorliegenden Gedicht an drastischer Deutlichkeit gleich. Die Formulierungen, die sich einer ‚Schutzgelderpressung‘ annähern, können unmöglich dem pragmatischen Zweck einer ausreichenden Bezahlung dienen. Vielmehr nimmt der Verfasser eine Rolle ein und bedient sich damit literarischer Muster, die er in parodierendem Spiel überzeichnet. Eine ganz andere Perspektive hat Hospita in Gallia (das sog. ‚Schwabenlied‘). Es ist unikal in einer Zürcher Handschrift überliefert, die wohl ein wenig älter ist als der Codex Buranus (um 1200).⁴³ Vordergründig behandelt das Gedicht die Klage über den Aufbruch eines Schülers aus seiner schwäbischen Heimat in Richtung einer französischen Schule: Hospita in Gallia Vadam ergo; Plangite, discipuli! […] Vale! dulcis patria! Salve! dilecta Francia! Suscipe discipulum Quem post dierum circulum

nunc me vocant studia: flens a tergo socios relinquo. lugubris discidii tempore propinquo. (342, Str. 1 a u. b) suavis Suevorum Suevia! philosophorum curia! in te peregrinum! remittes Socratinum. (343, Str. 1 a u. b)⁴⁴

 Übers. P. R.: ‚Behalte stets im Gedächtnis, was im Volksmund gesagt wird: ‚Ein Schandmaul sollst du mit Geschenken stopfen‘; ein redseliger Schätzer wird den nicht verleumden, von dem er weiß, dass er denen gibt, die um gute Gaben bitten.‘  Vgl. dazu Berenike Krause: Die milte-Thematik in der mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. Darstellungsweisen und Argumentationsstrategien. Frankfurt a. M., Berlin u. a. 2005, S. 87– 92 und Franz Heinrich Bäuml: „Guot umb ere nemen“ and Minstrel Ethics. In: Journal of English and Germanic Philology 59 (1960), S. 173 – 183. Bäuml differenziert weiter zwischen der Ausdrucksweise guot umbe êre nemen, was einen rechtmäßigen Austausch impliziert und in der Dichtung vorkommt, und der Ausdrucksweise guot vür êre nemen, wie er vor allem in juristischen Texten zu finden ist und die pejorative Bedeutung annimmt, dass Sachgüter dem persönlichen Ansehen vorgezogen werden.  Zürich, ZB, Ms. C 58, fol. 148v. Werner ediert die beiden Gedichte unter den Nummern 342 unf 343, betont aber, dass sie in „engem Zusammenhang“ stehen. Siehe Werner: Beiträge, S. 135. Zu Datierung und Aufbau vgl. Henrike Lähnemann: Versus de despectu sapientis. Ein Einblick in die lateinischdeutsche Literaturszene um 1200. In: Christiane Ackermann und Ulrich Barton (Hg.): „Texte zum Sprechen bringen“. Philologie und Interpretation. Tübingen 2009, S. 19 – 33.  Ed. in Werner: Beiträge, S. 134; Übers. P. R. (z. T. nach Moser: Vaganten und Vagabunden, S. 16): ‚Als Fremder will ich nach Gallien gehen wohin mich jetzt das Studium ruft. Ich lasse meine Gefährten zurück und weine hinter vorgehaltener Hand. Klagt, ihr Schüler zu der Zeit, wenn der traurige Abschied

7.2 Die Imagination eines Vaganten-Ordens

207

Doch diese rein räumliche Reise steht nach Dietz-Rüdiger Moser, einem entschiedenen Gegner des ‚Vagantenmythus‘,⁴⁵ für einen topologischen Aufbruch des Sprecher-Ichs ins Himmlische Jerusalem und weniger in die Philosophenstadt Paris. Als Beleg führt er v. a. den Abschluss des Gedichts an, der vom Erwerb der mystischen Perle handelt: Ut misticam sufficiam | Mercari margaritam (Str. 8,7 f.). In Perle, Stadt (Ad urbem sapientiam, Str. 8,1) und Fluss (Str. 3,5 – 8) sieht er „die wichtigsten quasi-topographischen Punkte der neuen Welt Gottes, wie sie in der Apokalypse (21,1– 22,5) beschrieben werden.“⁴⁶ Eine heilsgeschichtliche Dimension mag enthalten sein, vor allem aber markiert die Überquerung des Wassers einen Grenzübertritt zwischen zwei getrennten Räumen, der dulcis patria zur urbs sapientiae. Die Reise in diesen zweiten Raum wird zwar mit der mystischen Perle der Wissenschaft belohnt, jedoch beinhaltet sie das Leid der Trennung, das sich vor allem in den programmatischen Begriffen exilium (si non in exilio | miser expirabo, Str. 4,7 f.) und peregrinatio (Str. 5,6 und 8,4) verdichtet.⁴⁷ Es ist zu einseitig, es nur als „Hinwendung zu einer Lebensreise, an deren Ende die Hoffnung auf Einkehr in den ewigen Frieden steht“,⁴⁸ zu sehen. Es werden Muster aus dem theologischen und aus dem gelehrten Diskurs rearrangiert. Generell sind alle Lieder, in denen die Sprecher als Fahrende auftreten, nur mit Vorsicht biographisch zu deuten. Vielmehr handelt es sich um Rollendichtung, die eigene Ziele verfolgt. Diese können unmittelbar pragmatisch sein, indem sie durch witzige Anspielung den Rezipienten zur Freigiebigkeit animieren. Doch sie können auch anders perspektiviert sein. Claudia Lauer ist in ihrer Analyse der (deutschsprachigen) Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts zu dem Ergebnis gekommen, dass die „sozial vorgefertigte Rolle des abhängigen fahrenden Sängers“⁴⁹ als Grundlage dafür dient, „über verschiedene Inklusions- und Exklusionsmechanismen und Äquivalenz- wie Differenzrelationen unterschiedliche perspektivische Positionen zu

naht! […] Lebe wohl, liebliche Heimat, süßes Schwaben Schwabenland! Sei gegrüßt, liebes Frankreich, Land der Philosophen. Nimm den fremden Schüler in dir auf, den du nach einigen Tagesumläufen als Sokrates entlassen wirst!‘  Er unterzieht auch die lateinischen Spieler- und Heischelieder generell einer theologischen Interpretation indem er das exilium des vagans gemäß Hebr 13,14 (non enim habemus hic manentem civitatem sed futuram inquirimus) als transzendente Pilgerschaft auslegt, z. B. in CB 129: EXUL Ego clericus ad laborem natus. nisi quod inopia cogit me cessare. (CB 129, Str. 1 f.). Eine Übersetzung als „fahrender Scholar“ – so in der Übersetzung von Carl Fischer (Zürich/München 1974, S. 433) – lehnt Moser als völlig unzureichend ab und schlägt stattdessen „heimatloser Kleriker“ vor.Vgl. Dietz-Rüdiger Moser: Vaganten oder Vagabunden? Anmerkungen zu den Dichtern der ‚Carmina Burana‘ und ihren literarischen Werken. In: Rolf Bräuer (Hg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext. Göppingen 1998, S. 9 – 25, hier S. 13. Dieser Umdeutung folgte auch Vollmann in der Neuübersetzung (S. 459).  Moser: Vaganten oder Vagabunden, S. 16.  Vgl. Kapitel 9.3.1.  Moser: Vaganten oder Vagabunden, S. 18.  Claudia Lauer: Ästhetik der Identität. Sänger-Rollen in der Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 2008, S. 300.

208

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

besetzen“.⁵⁰ Einen festen Rahmen an Rollenerwartungen umreißt auch das Feld der ‚Vaganten-‘ oder ‚Goliardendichtung‘, vor allem wenn sich das Sänger-Ich als Teil eines imaginierten Vagantenordens beschreibt, der Lizenzen für die Anklage von Eliten oder moralischer Zügellosigkeit (Promiskuität, Ausschweifung) eröffnet.⁵¹ Dass die meisten Lieder über Vaganten anonym überliefert sind, ist angesichts mittelalterlicher Autorenanonymität kein Beleg, aber symptomatisch dafür, dass die Dichter eine Maske aufsetzen, wenn es um das Leben der Vaganten geht. Ebenso ist die Maske des Schülers zu bewerten, der in einigen Liedern wie ein allegorischer Prototyp der Liebe,⁵² der Heiterkeit⁵³ oder der Armut⁵⁴ erscheint. Dennoch ist der „Kosmos der Schule […] nur eines von vielen Themen […] und quantitativ zwar markant, aber keinesfalls dominant ausgeprägt.“⁵⁵ Schließlich ist sich die Forschung weitgehend einig, dass es sich bei den ‚Vaganten-‘ oder ‚Goliardendichtern‘ trotz der möglichen Zusammenstellung von Autorencorpora um (Selbst‐)inszenierungen handelt: so beim archipoeta ⁵⁶ oder auch in der französischen Literatur bei Rutebeuf (1250 – 1285)⁵⁷ oder

 Lauer: Ästhetik der Identität, S. 301. Diese Positionen umfassen geistliche Lehre (z. B. Sündenklage, Gotteslob, Paränese), weltliche Lehre (z. B. Armutsklage, Gönnerpreis, Lasterschelte), politische Lehre (z. B. Reichs- oder Kirchenklage, Herrscherlob, politischer Rat) oder Kunstlehre (z. B. Sängerklage, Publikumsschelte, Konkurrentenschelte, Kunstbelehrung).  Zur ‚Goliardendichtung‘ als Rollendichtung vgl. Carmina Burana, hg. von Hilka/Schumann/Bischoff, Bd. 2, 1, S. 86 f. und Weiß: Goliardendichtung, S. 244– 252.  Z. B. in der Pastourelle CB 90; in CB 56, Str. 3, 1 f.: Dum alumpnus Paladis | Cyntharee scolam introissem… [Übers. B. K. V.: „Nachdem ich, Zögling der Pallas [Athene] die Schule Cynthereas [Venus’] betreten hatte…“]; in CB 147, Str. 2: Tamen cano, sed de uano | statu Veneris, | cuius Paris et scholaris | sum cum ceteris, | qui nouerunt uaria | decantare, ueri dare | sua gaudia [Übers. B. K. V.: „Ich singe trotzdem – aber über Venus’ Unbeständigkeit, deren Paris und Schüler ich mit den übrigen bin, die sich darauf verstehen, die verschiedensten Lieder zu machen und die Freuden des Frühlings zu preisen“]; außerdem in CB 162, Str. 4 u. 5.  Z. B. in CB 75, Str. 1 oder in CB 216, Str. 1, 7 f., welches den Scholaren explizit hervorhebt: et scolares maxime, | qui festa colunt optime [Übers. B. K.V.: „vor allem die Studenten, die am besten Feste zu feiern verstehen] und in ähnlichem Sinne in CB 219, Str. 4, 4.  Z. B. im Mantelgedicht CB 129. Vgl. dazu Therese Latzke: Der Topos Mantelgedicht. In: MlatJb 6 (1970), S. 109 – 131.  Weiß: Goliardendichtung, S. 364 mit einer Liste von 30 Gedichten, die explizit auf Schule, Lehrer oder Schüler verweisen.  Vor allem der archipoeta stilisiert sich als scolaris oder litteratus (CB 220, Str. 1 u. 3) und als vagus. Er sei unbeständig wie das Blatt in Wind, der Vogel oder das steuerlose Schiff: factus de materia leuis elementi | folio sum similis, de quo ludunt uenti […] Feror ego ueluti sine nauta nauis, | ut per uias aeris uaga fertur auis (CB 191, Str. 1, 3 f. und Str. 3, 1 f.). Vgl. dazu William T. H. Jackson: The Politics of a Poet. The Archipoeta as Revealed by his Imagery. In: William T. H. Jackson (Hg.): The Challenge of the Medieval Text. Studies in Genre and Interpretation. New York 1985, S. 81– 102 und Peter Godman: The Archpoet and Medieval Culture. Oxford 2014. Zu diesen und anderen Identifizierungstheorien des archipoeta mit anderen Personen vgl.Weiß: Goliardendichtung, S. 70 – 75. Alle Thesen bleiben aber am Ende spekulativ, sodass eine Untersuchung der Rolleninszenierung am fruchtbarsten ist.  Der Selbstinszenierung als Bettler und einer autobiographischen Lesart ist zu misstrauen, vielmehr dienen Topoi und traditionale Muster der Inszenierung seines Rollen-Ich: „il s’attribue […] les défauts des jongleurs et des goliards, chantres des dés, de l’ivresse et de l’insouciance“; Jean-Charles Payen: Le

7.2 Die Imagination eines Vaganten-Ordens

209

dem povre petit escollier ⁵⁸ François Villon (1431– 1463),⁵⁹ der im 19. Jahrhundert als erster Poète maudit oder infamer Dichter gefeiert wurde, da er an „der eigentümlichen Dialektik von Ruhm und Verworfensein“ Anteil nimmt.⁶⁰ Die (wenigen) Gedichte, die eine Gemeinschaft von Vaganten, einen ordo vagorum entwerfen, sind deutlich als Fiktion zu erkennen: „There were, undoubtedly, vagrants (wandering scholars, wandering monks, gyrovags, etc.) but they were hardly identifiable with the ‚Goliardic poets‘ and had nothing to do with this poetry. All this is fiction.“⁶¹ Das Muster eines Vagantenordens aber eignet sich besonders, monastische Grundgebote parodistisch umzukehren und das Mönchtum zu kritisieren.⁶² In der Folge wird es in der Polemik gegen die Bettelorden ab dem 13. Jahrhundert⁶³ und darüber hinaus aktiv aufgegriffen. Das monastische Gebot einer stabilitas loci bildet in diesem Kontext die Grundlage für die Darstellung der vagatio eines ‚verkehrten‘ ordo vagorum. Die Eigenschaften der gewitzten Listigkeit, der erotischen Potenz und der magischen Affinität, die in kleinepischen Texten oft mit dem Vaganten konnotiert sind,⁶⁴ bleiben hier allenfalls sekundär.

„je“ chez Rutebeuf, ou les Fausses Confidences d’un Auteur en Quête de Personnage. In: Henning Krauss (Hg.): Mittelalterstudien. Heidelberg 1984, S. 229 – 240, hier S. 234 f. Andererseits sind auch viele seiner Texte als explizite Parodie oder Propaganda gegen die jungen Bettelorden gerichtet.  François Villon: Le Testament Villon. Bd. 1, hg. von Jean Rychner und Albert Henry. Genf 1974, v. 1886. Die Formulierung wiederholt sich ähnlich in Louange à Marie d’Orleans. In: Le Lais Villon et les Poèmes Variés. Bd. 1, hg. von Jean Rychner und Albert Henry. Genf 1977, S. 40 – 45, hier v. 132 und Le Lais de François Villon. In: Le Lais Villon et les Poèmes Variés. Bd. 1, hg. von Jean Rychner und Albert Henry. Genf 1977, S. 11– 30, hier v. 2.Vgl. auch François Villon: Sämtliche Werke, übers. und hg. von Carl Fischer. München 22002, S. 178 f., 24 f. und 216 f.  In der Forschung wird vom „mystère Villon“ gesprochen, über dessen Biographie und Identität, die weitgehend aus den Texten selbst rekonstruiert ist, kein Konsens besteht. Beispielsweise François Villon: Poésies Completes, hg. von Pierre Michel. Paris 1972, S. XI. Gert Pinkernell: François Villon. Biographie Critique et Autres Études. Heidelberg 2002, S. 11 fasst die Forschung folgendermaßen zusammen: „selon laquelle le je des texts villoniens est normalement un moi autobiographique qui, en étant fictionnel, parle de la personne réelle de l’auteur“. Gewiss aber prägte er und seine Gedichte schon sehr bald eine eigene Legende, die ihn zu „le roi et le type des escrocs“ machte (Pierre Champion: François Villon. Sa vie et son Temps. 2. Bde. Paris 21933, Bd. 2, S. 260 – 287, zit. S. 260). Einen wichtigen Beitrag zu dieser Stereotypisierung Villons hatten zum einen die frühe Weiterdichtung von fiktiven Erlebnissen des Dichters in der Schwanksammlung Repues Franches, zum anderen der große Erfolg, den die erste gedruckte Ausgabe von Pierre Levet 1489 erreichte und der zahlreiche weitere Editionen folgten. Zur Rezeption Villons im 15. und 16. Jahrhundert vgl. Rudolf Sturm: François Villon, Bibliographie und Materialien. 1489 – 1988. 2 Bde. München, London u. a. 1990, Bd. 2, S. 25 – 45. Es ist bezeichnend, dass zwischen 1542 und 1723 keine Beschäftigung mit Villon nachzuweisen ist. Vgl. Sturm: François Villon, S. 43 – 48.  Vgl. dazu Achim Geisenhanslüke: Die Sprache der Infamie. Literatur und Ehrlosigkeit. Paderborn 2014, S. 67.  Szövérffy: Secular Latin Lyrics, Bd. 2, S. 445.  Vgl. Schüppert: Kirchenkritik, S. 185 – 188.  Vgl. dazu Kapitel 9.1.2 mit dem Beispiel des Gedichts Altitonans celicola.  Vgl. Kapitel 8.2 und 9.4.

210

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

7.3 Der Ordo vagorum als traditionales Muster Diese mönchskritische Tendenz lässt sich auch in Texten feststellen, die in einer intertextuellen Beziehung zu CUM ‚In orbem universum‘ decantatur ‚ite‘ (CB 219) stehen und als Varianten des Musters im Codex Buranus gelten.⁶⁵ Diese weisen eine starke Tendenz zu Variabilität in Wortwahl und Strophenreihung auf, was dadurch zu erklären ist, dass alle behandelten Lieder im gesungenen Vortrag memorierter Strophen oral tradiert wurden.⁶⁶ Durch die Überführung in das Medium der Schrift, folgen die Texte neuen Regeln, in deren Rahmen die konkrete Konstellation und die artifiziell gestaltete Auswahl festgelegt werden. Die romantische Vorstellung des ‚Zersingens‘ der Volkslieder im Zuge der Anwendung auf der Straße und im Wirtshaus greift dabei zu kurz und bleibt zu spekulativ.⁶⁷ Stattdessen kann man mit den Begriffen der eingeführte Terminologie versuchen, folgende Modi der (schriftlichen) Tradierung zu unterscheiden: (1) eine (nicht-intentional) verändernden Wiederholung im Redaktions- oder Produktionsprozess der Handschrift, (2) eine Variation der Ausgangsversion, die der Anpassung an die konkrete Vorführungssituation oder gesellschaftliche Umstände dient, und (3) eine intentionale Transformation – unter Umständen mit dem Ziel der (ästhetischen oder satirischen) Parodie. Es handelt sich also um eine Reihe eigener Lieder, die in einem (unterschiedlich intensiven) intertextuellen Verhältnis zueinander stehen. Der ‚Prätext‘ kann dabei in allen Modi mündlich und schriftlich vorliegen. Als Ausgangstext der Liedtradition von De vagorum ordine ist nicht CB 219 anzunehmen. Denn diese Version des Liedmusters ist in der vorliegenden Form unikal in Cod. lat. mon. 4660 überliefert, der ab dem 14. Jahrhundert wohl nur noch selten – wenn überhaupt – genutzt wurde.⁶⁸ Vielmehr partizipieren das Carmen Buranum und die spätmittelalterlichen Lieder vom Vagantenorden an einem gemeinsamen, zirkulierenden Narrativ. Da die Aktivierung dieses Narrativs aber an lexikale Impulse gebunden ist, erscheint dieses als traditionales Muster, welches durch Adaptation und intertextuelle Markierungen grundgelegt ist. Womöglich ist bereits CB 219 ein Kompilat aus mehreren (älteren) Stücken. Denn es ist in der Handschrift zwar ein zusammengehöriger Text, zerfällt aber optisch in zwei Teile, da in der siebten Strophe eine Lücke Platz für zwei fehlende letzte Verse lässt.⁶⁹ Ein weiteres (schwaches) Indiz  Vgl. Carmina Burana, hg. von Hilka/Schumann/Bischoff, Bd. 2, S. 72– 77.  Vgl. Cardelle de Hartmann: Parodie, S. 11.  Vgl. dazu Rolf Wilhelm Brednich: [Art.] Zersingen. In: EM 14, Sp. 1306 – 1310. Lutz Röhrich: [Art.] Volkslied. In: 2RLG 4, S. 761– 772, hier S. 770 beschränkt das „Zersingen“ auf eine Veränderung aufgrund eines Nicht-Verstehens der Vorlage. Daneben stellt er das intentionale „Zurechtsingens“ und „Umsingen“. Dass diese Kategorie gerade auch für lateinische Lieder unpassend ist, wird auch betont in Carmina Burana, hg. von Hilka/Schumann/Bischoff, Bd. 1,3, S. 75.  Vgl. Carmina Burana, hg. von Vollmann, S. 904 f. Vollmann spekuliert, dass Gründe dafür sein könnten, dass die Neumen nicht mehr verstanden wurden oder eine feingeistige klerikale Leserschicht im 14. Jahrhundert wegbrach.  Cod. lat. mon. 4660, fol. 95v.

7.3 Der Ordo vagorum als traditionales Muster

211

für eine Kompilation ist der lexikalische Wechsel für die Bezeichnung des besungenen Vagantenordens als secta im ersten und als ordo im zweiten Teil.⁷⁰ Durch die Funktion einer Überleitung nimmt die elfte Strophe eine Sonderstellung ein. Hier kommen beide Bezeichnungen vor, jedoch ergänzt secta hier durch den etymologischen Zusammenhang mit sequi/sectari eine zusätzliche semantische Ebene: Ordo procul dubio noster secta uocatur, | quam diuersi generis populus sectatur (CB 219, 11, 1 f.). Ob es sich nun um zwei ursprünglich eigenständige Lieder handelt oder ob diese erst im Laufe der Überlieferung separiert wurden, ist nicht zu klären. Signifikant ist jedoch, dass nur der zweite Teil des Liedes in Handschriften des Spätmittelalters begegnet. Im späteren Mittelalter entstand also ein Lied, welches auf verschiedenen anderen ‚Vagantenliedern‘ basiert. Es handelt sich nur zum Teil um eine variierende Bearbeitung des Carmen Buranum, vielmehr jedoch um eine selbständige Arbeit mit allgemein verfügbarem Textmaterial. Für diese allgemeine Verfügbarkeit und gegen eine literarische Reihe, deren Repräsentanten unmittelbar aufeinander aufbauen, spricht der hohe Grad an Variabilität in der Strophenreihung. Aufgrund dieser hohen Abweichung im Aufbau konzentriere ich mich bei der Analyse des Textinhalts auf das längste Lied in der Leipziger Variante.⁷¹ Die ersten drei programmatischen Strophen sind dort mit unterschiedlich großer Abweichung aus CB 219 übernommen. Sie behandeln die hedonistischen Speise-, Ruhe- und Kleidergebote des Ordens. Die folgenden Strophen (4– 11) sind das wohl „ursprünglich selbständige herbstliche Trinklied Plenitudo temporis“,⁷² welches die typischen Themen von Wein und Würfeln behandelt, wobei das Gefühl eines allgemeinen Carpe diem vorherrscht: Dum plenitudo temporis venit exultemus, quamvis ramus [in marg. ramos] nemoris calvari videmus licet promptuaria plena non habemus Ex quo torcularia fluere videmus. (Str. 4)⁷³

Es folgt eine weitere Trinkerstrophe (11). Den Abschluss bildet eine Variante der äußerst populären Strophen aus der ‚Beichte des archipoeta‘ (CB 191: Meum est propositum).

 Von nostra secta wird in 1,4; 2,1 und 6,1 gesprochen, vom ordo uagorum oder dem ordo noster in 8,1; 9,1; 10,1; 11,1 und 12,1.  Leipzig UB Ms. 1250. fol. 33r (um 1480). Auch Bischoff wählt diese aufgrund ihres Umfangs als Leithandschrift für das Lied De vagorum ordine. Vgl. Carmina Burana, hg. von Hilka/Schumann/Bischoff, Bd. 2, S. 75.  Carmina Burana, hg. von Hilka/Schumann/Bischoff, Bd. 1,3, S. 74.  Übers. P. R.: ‚Sobald die Zeit der Ernte kommt, wollen wir frohlocken, [Gal. 4,4] obwohl wir sehen, dass die Äste des Waldes kahl werden. Unsere Vorratskammern können gerne leer sein, wenn wir den Wein aus den Keltern fließen sehen.‘

212

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

Doch diese Reihenfolge findet sich nur im Leipziger Codex. Keiner der sieben Textzeugen aus dem 14. und 15. Jahrhundert entspricht einem anderen:⁷⁴ B (Cod. Bur.): 1, 2, 4, 5, 3, 6, Lz: M: Pr: Vo: We: Wi: Pé:

7,

9, 9, 9, 9,

9, d, 9, d, k, 9,

10, 10, l, m,

11, c, i, c, n,

8, d–h h, h d, e, f,

p, 10, c, h,

12– 16 k, i, l–n i/k, c, o, n l 4, n, q l, i, k, g, 10, m, n l, h, 10, g, c, i, n, m

Bemerkenswert ist außerdem die Überlieferungssituation. Denn im Gegensatz zum Carmen Buranum ist keines der Lieder in Sammlungen überliefert, sondern stets als Einzeltext, der in Miszellanhandschriften unterschiedlichen – oft didaktischen oder juristischen – Inhalts inseriert und nur selten in einem Faszikel mit anderen Liedern zusammengefasst ist. Im Folgenden eine kurze Beschreibung der einzelnen Überlieferungsträger: 1) Lz: Bei der Leipziger Handschrift (UB Ms. 1250. fol. 33r) handelt es sich um eine rhetorische Sammelhandschrift verschiedener Hände (um 1480), die neben juristischen, rhetorischen und metrischen Lehrtexten auch die Historica Bohemica von Papst Pius II (Enea Silvio Piccolomini) und De disciplina scholarium des Pseudo-Boethius enthält.⁷⁵ Das Lied De vagorum ordine steht hier in direktem Anschluss an die schwankhafte Erzählung Lectio cuiusdam monachi nigri secundum luxuriam (fol. 32v) – mehr dazu später. 2) M: Bei der Münchener Handschrift (Cod. lat. mon. 18910, fol. 193v) handelt es sich um ein humanistisches Schulbuch von 1494/98, in dem neben Lehrtexten auch allerlei antike Schulautoren zusammengestellt sind, sodass von einer „kleine[n] ‚Handbibliothek‘ in Buchform“⁷⁶ gesprochen wurde. Das Gedicht steht unmittelbar zwischen der Ars poetica von Horaz und einem Heroidenbrief Ovids (Sappho

 Siehe auch den Vergleich der Strophenfolge in Carmina Burana, hg. von Hilka/Schumann/Bischoff, S. 73. In der kritischen Ausgabe unbeachtet ist die ungarische Variante (Pé). Mehr dazu siehe unten.  Die aktuellste Handschriftenbeschreibung findet sich im Projekt der Kurzerfassung der mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Leipzig im Signaturenbereich Ms 1114–Ms 1715. URL http://www.manuscripta-mediaevalia.de/?xdbdtdn!%22obj%2031569973 %22&dmode=doc#|4 [zuletzt aufgerufen am 15.7. 2020].  Michael Baldzuhn: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der „Fabulae“ Avians und der deutschen „Disticha Catonis“. Berlin u. a. 2009, S. 648.

7.3 Der Ordo vagorum als traditionales Muster

213

an Phaon) und trägt die Überschrift: Statuta lenonum – also ‚Verordnungen der Kuppler‘.⁷⁷ 3) Pr: In der Prager Handschrift (Nat. Bibl. V G 17, fol. 96v), die 1419 – 1422 zusammengestellt wurde, steht das Lied zwischen Sermones de sanctis, also hagiographischen Predigttexten, die zum Teil böhmisch glossiert sind.⁷⁸ 4) Vo: Auch in einer Handschrift in Volterra, die ansonsten moralische Maximen und Sentenzen sammelt, finden sich einige Strophen des Liedes, die unmittelbar an Meum est propositum anschließen (Volterra, Bibl. Guarnacci 100 (8653), fol. 13v– 14r).⁷⁹ Bischoff geht davon aus, das Inserat stamme „offenbar von einem italienischen Schreiber, der den Text aus Deutschland mitgebracht haben kann“,⁸⁰ was zu den bilingualen deutsch-italienischen Verspassagen passt (fol. 13). Als Prätext für Vo käme aufgrund von Strophenübereinstimmungen und Bindefehlern (z. B. garruerunt, Str. 5, 4) am ehesten die Leipziger Version in Betracht.⁸¹ Wenn die Datierung der Handschrift in das 14. Jahrhundert korrekt ist,⁸² dann wäre hingegen von einem gemeinsamen Prätext von Lz und Vo auszugehen. 5) We: Eine (heute verschollene) Handschrift aus der Gräflich Stolbergischen Bibliothek zu Wernigerode (Zb 4 m, fol. 140r), die von verschiedenen Händen des 15. und 16. Jahrhunderts geschrieben wurde, enthält neben einem Arzneibuch mit astrologischen Inseraten auch Fabeln (Boners Edelstein), epische Strophen und mehrere kleine Gedichte, darunter auch De vagorum ordine. ⁸³ 6) Wi: Die Handschrift von Wittingau/Třeboň (Státní Archiv, A 7, fol. 147v–148r) wurde von verschiedenen Händen des 15. Jahrhunderts geschrieben und ist eine Mischhandschrift aus tschechischen und lateinischen Texten. Sie beinhaltet neben chronikalen, diätetischen, theologischen und alchemistischen Texten auch lateinische und tschechische Lieder.⁸⁴ Die Themen konzentrieren sich auf kirch-

 Zur Beschreibung vgl. Karl Halm, Georg von Laubmann und Wilhelm Meyer: Catalogus codicum latinorum Bibliothecae Regiae Monacensis, Bd. II,3: Codices num. 15121– 21313 complectens. Wiesbaden 1878, S. 217– 219 und Baldzuhn: Schulbücher, S. 644– 648.  Vgl. Josef Truhlář: Catalogus codicum manu scriptorum latinorum qui in C. R. Bibliotheca publica atque Universitatis Pragensis asservantur. Pars prior: Codices 1– 1665. Prag 1905, S. 969 f.  Vgl. Luigi Suttina: Due Ritmi Bacchici Giusta un Codice Volterrano. In: Studi medievali 2 (1906/ 1907), S. 563 – 567; Giuseppe Mazzatinti (Hg.): Inventario dei Manoscritti delle Biblioteche d’Italia. Bd. 2. Forlì 1892, S. 193.  Carmina Burana, hg. von Hilka/Schumann/Bischoff, Bd. 1,3, S. 72; ebenso Suttina: Due Ritmi Bacchici, S. 564.  Entgegen Suttina: Due Ritmi Bacchici, S. 567, der mangels weiterer Textkenntnis auf Wi verweist.  Vgl. Suttina: Due Ritmi Bacchici, S. 563.  Zur Beschreibung vgl. Ernst Förstemann: Die Gräflich Stolbergische Bibliothek zu Wernigerode. Nordhausen 1866, S. 103 f. und Ulrich-Dieter Oppitz: Die ‚Deutschen Manuskripte des Mittelalters ‘ (ZbSignatur) der ehemaligen Stolberg-Wernigerodischen Handschriftensammlung. In: Detlef Haberland (Hg.): Geographia spiritualis. Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 187– 205, hier S. 192 f. Ed. in Bolte: Fahrende Leute, S. 644 f.  Beschreibung in Julius Feifalik: Altčechische Leiche, Lieder und Sprüche des XIV. und XV. Jahrhunderts. Mit einer Einleitung und Anmerkungen. Wien 1862, S. 628 – 630. Die lateinischen Lieder sind

214

7)

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

liche Missstände sowie Wein, Würfelspiel und Frauenliebe. Die Variante Wi ist besonders auffallend, da sie nicht mit dem programmatischen De vagorum ordine beginnt, sondern mit dem Herbstlied Plenitudo temporis und die Beschreibung des Vagantenordens nachreicht. Außerdem steht das Gedicht hier (wie in Lz) im gleichen Abschnitt wie der schwankhafte Prosatext Passio (!) cuiusdam nigri monachi secundum luxuriam. Schließlich lässt Wi „punktuell eine gezielte, fast schon textkritische Aufbereitung verschiedener Traditionslinien erkennen“.⁸⁵ Pé: Bei dieser Handschrift aus der Bischöflichen Bibliothek [Püspöki Könyvtár] zu Pécs/Fünfkirchen handelt es sich um ein juristisches Formel- und Lehrbuch aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts (1476 – 1493), das vom notarius publicus János Magyi zusammengestellt wurde.⁸⁶ Das Lied mit dem Incipit Plenitudo temporis ⁸⁷ ähnelt zwar aufgrund des Jahreszeiteneingangs Wi, weist jedoch auch zahlreiche Abweichungen in Lexik und Strophenreihung auf. Die Variante Pé fehlt sowohl in der kritischen Ausgabe als auch im Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtungen.⁸⁸ In der Pécser Handschrift markiert das Lied den Beginn einer Recto-Seite und ist gerahmt von einer juristischen Klausel (derselben Hand) über einen Nachbarschaftsstreit, die auf der vorgehenden Verso-Seite be-

ediert in Julius Feifalik: Studien zur Geschichte der altböhmischen Literatur. V. Die altböhmischen Gedichte vom Streite zwischen Seele und Leib. Nebst Beiträgen zur Geschichte der Vagantenpoesie in Böhmen. Wien 1861, S. 38 – 74. Plenitudo temporis hier Nr. XIX, S. 60 f.  Philip Reich: Traditionales Vagieren und vagierende Traditionen. Zum ‚Fahrenden Schüler‘ in der Literatur des Spätmittelalters. In: Philip Reich und Karolin Toledo Flores (Hg.): Tradition und Traditionsverhalten. Literaturwissenschaftliche und kulturhistorische Perspektiven. Heidelberg (in Vorb.).  Pécs, Bischöfliche Bibliothek DD. III. 18, Digitalisat: Budapest, Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Staatsarchiv] Diplomatikai fényképgyűjtemény [Diplomatische Fotosammlung] 283678. Der Codex ist das einzige erhaltene Formelbuch und einer der wichtigsten erhaltenen Texte des mittelalterlichen Ungarn. Er wurde in letzter Zeit immer wieder behandelt. Die (ältere) Bezeichnung als Nyírkálloér Codex aufgrund der Nennung einiger Verse des Tamás Nyírkálloi gilt als überholt. Edition des Codex in Formulae solennes styli in cancellaria, curiaque regum, foris minoribus, ac locis credibilibus, authenticisque Regni Hungariae olim usitati, hg. von Martinus Georgius Kovachich. Pest 1799, S. VIII– XXVIII. und S. 155 – 458; Handschriftenbeschreibung in József Fitz: A Nyírkállói-kódex genetikus leírása. In: Közlemények a Pécsi Erzsébet Tudományegyetem Könyvtárából 6/7 (1931/1932), S. 12– 28; zur Geschichte des Buches und dem Prozess seiner Wiederentdeckung vgl. Eva Pohánka: Egy kalandos sorsú kódex nyomában. Magyi János formuláskönyve a Pécsi Püspöki Könyvtárban. In: Tanulmányok Pécs történetéből 18 (2006), S. 61– 76; zum Aufbau, der Funktion und Praxis der ungarischen Formelbücher vgl. György Bónis: Magyi János formuláskönyve és a gyakorlati jogtanítás. In: Jubileumi tanulmányok a pécsi egyetem történetéből. Bd. 1., hg. von Andor Csizmadia. Pécs 1967, S. 225 – 259 und Gábor Dreska: Das Formelbuch des Notars Johann Magyi aus dem 15. Jahrhundert. In: Les formulaires. Compilation et Circulation des Modèles d’Actes dans l’Europe Médiévale et Moderne, hg. von Olivier Guyotjeannin, Morelle Laurent und Silio P. Scalfati 2016.  Pécs, Bischöfliche Bibliothek DD. III. 18, S. 95. Ed.: Formulae solennes, S. XI f.  Vgl. Carmina Burana, hg. von Hilka/Schumann/Bischoff, Bd. 1,3, S. 71– 77 und Hans Walther: Initia carminum ac versuum Medii Aevi posterioris Latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtungen. Unter Benutzung der Vorarbeiten Alfons Hilkas. Göttingen 1959, Nr. 14172.

7.3 Der Ordo vagorum als traditionales Muster

215

ginnt und – mit einem Verweiszeichen markiert – unmittelbar nach dem Lied fortgesetzt wird.⁸⁹ Diese Praxis der platzökonomischen Buchgestaltung findet sich im vierten Teil des Codex immer wieder und korrespondiert mit dem heterogenen Inhalt der einzelnen Formeln.⁹⁰ Das Lied wurde wohl auf einem losen Blatt notiert, und dieses dann in den Codex eingebunden. Dafür, dass der Liedund der Gesetzestext in unterschiedlichen Stadien der Buchproduktion gefertigt wurden, spricht auch, dass das Lied sehr eng am Falz steht, während die juristischen Textblöcke eingerückt und damit leichter lesbar sind. Im Gegensatz zu Plenitudo temporis notierte der Schreiber die juristische Klausel in das bereits gebundene Buch oder zumindest mit der Intention, in ein Buch gebunden zu werden. Auffällig ist, dass der Schreiber und der Buchbinder im hedonistischen Inhalt des Liedes kein Problem sahen, sonst hätten sie das Lied tilgen oder zumindest streichen können. Jedoch achtete man beim Beschneiden darauf, dass möglichst kein Textverlust entstand. Die Analyse der einzelnen Varianten zeigt, dass das Lied De vagorum ordine keine kanonisierte Form und Strophenfolge kennt. Das vorgängige Textmuster diente vielmehr als Grundlage einer individuellen Aneignung im Prozess der re-produzierenden Ausführung. Die einzelnen Strophen sind dabei in Handschriften mit sehr heterogenem Inhalten (rhetorisch, juristisch oder didaktisch) inseriert und über unterschiedliche Regionen Zentraleuropas verteilt. Das Lied fand also eine große räumliche und gesellschaftliche Verbreitung. Auch wenn De vagorum ordine noch stärker als CB 219 zum bloßen Trinklied ohne kritische Dimension neigt, steht das Lied doch in einigen Handschriften in unmittelbarem mönchs- oder kirchenkritischem Kontext. Beide Seiten zeigt die überlieferungsgeschichtliche Verbindung des Lieds vom Vagantenorden mit der Passio/Lectio cuiusdam nigri monachi secundum luxuriam, die in Lz und Wi zusammenstehen.⁹¹ Der Schwank handelt von einem Benediktiner, der in einem Wirtshaus eine Frau trifft. Er schläft mit ihr, wird vom zurückkehrenden Ehemann jedoch ertappt und kastriert, sodass er – seines ‚Schwerts‘ beraubt – den Geist aushaucht: Et euaginato gladio emisit spiritum.⁹² Zu diesem schwankhaften Prosastück, das ähnlich auch in der deutschen

 Pécs, Bischöfliche Bibliothek DD. III. 18, S. 94 f. Vgl. Formulae solennes, S. 214 f. (Nr. 105).  Formulae solennes; S. 188 – 218 (Nr. 59 – 108), S. 286 – 308 (Nr. 228 – 255), S. 348 – 458 (Nr. 360 – 485). Vgl. Dreska: Formelbuch.  Ein Abhängigkeitsverhältnis ist bei den beiden Versionen schwer zu ermitteln. Während Lz mehr Details zu Beginn gibt (Veris in temporibus aprilis erat, fol. 33r) ist die narrative Motivation in Wi ausgeprägter. So kehrt der Mönch in beiden Versionen vor dem Stelldichein in sein Kloster zurück, jedoch nur in Wi wird diese Rückkehr dadurch erklärt, dass er Geld für die Bezahlung der Frau stiehlt, die hier als Prostituierte gestaltet ist.  Wittingau/Třeboň, Státní Archiv, A 7, fol. 147r. Ed. in Feifalik: Geschichte der altböhmischen Literatur, S. 58.

216

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

Volkssprache zu finden ist,⁹³ passt das Lied thematisch sehr gut. Beide Texte behandeln hedonistische Freizügigkeit (luxuria) von Klerikern. Während es sich beim lyrischen Text auf der Textoberfläche um ein Loblied auf den ‚Vagantenorden‘ handelt, sanktioniert der erzählende Text das Fehlverhalten des Geistlichen unmittelbar. Freilich bleibt für den Rezipienten auch im Akt der körperlichen Verstümmelung eine komische Dimension erhalten: Man lacht über den Mönch vom ‚Orden der Liederlichkeit‘, da er sich moralisch falsch und obendrein ungeschickt verhält. Diese gemeinsame Überlieferung der beiden Texte verdeutlicht mithin eine kirchenkritische Dimension des Liedes De vagorum ordine, sie zeigt aber auch, dass sich spätestens im 15. Jahrhundert das Muster vom Vagantenorden mit schwankhaften Erzählformen verschränkt. Einen anderen intertextuellen Bezug weist das CB 219 zu einem lyrischen Text auf, welcher mit der Überschrift Regula beati Libertini ordinis nostri versehen ist. Er behandelt das Muster eines ausschweifenden Vagantenordens, in dem verschiedenen kirchlichen Ämtern ‚verkehrte‘ Eigenschaften zugewiesen sind: So wird der heilige Augustinus bereits in der Überschrift zum Libertinus. Abt, Probst und Kämmerer sind Trinker, die Äbtissin eine laszive Tänzerin, der Küster ein Geizhals und der Koch tischt reichlich auf. Die Chorherren aber haben selten Schuhe an und haben als Oberbekleidung Hemden und Netze: Canonici nostri sunt raro calceati, | Sed camisijs et retibus sunt superpelliciati (vv. 7 f.). Mit diesem Netz verweist der Text auf ein Attribut, welches spätestens ab 1500 den Fahrenden Schülern zugeschrieben wird.⁹⁴ Hier scheint damit vornehmlich ein fadenscheiniges Obergewand gemeint zu sein. Wie in anderen Ordensparodien ist auch in der Regula beati Libertini der Orden für alle offen: für die kanonisierten Mönchsorden (Prämonstratenser, Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner), aber auch für Diebe und Räuber, für Schüler und Lehrer, mit denen die Gemeinschaft durch das Land streife.⁹⁵ Bei den Gewohnheiten des Ordens findet sich schließlich die Entlehnung aus CB 219 (Str. 10,1 und 4) im Gebot, die Frühmesse zu meiden. In weiteren Geboten wird der Ablauf der Liturgie parodiert, indem zur Lesung gezecht und zu Responsorium und Benedicamus gewürfelt wird. Der Text endet mit der kommentierenden Bewertung dieser Zustände als Missstände: Et sic erit nouißimus error peior priore (v. 31) – ‚und so wird jeder neue Irrtum schlimmer als der vorangehende.‘ Leider ist der Text nicht in zeitlicher Nähe zur vermuteten Abfassung überliefert, sondern nur in einer Kompilation des Humanisten und lutherischen Theologen Matthias Flacius Illyricus, dessen Intention bereits im Titel evident ist: Varia doctorum

 So zum Beispiel in „Die Rache des Ehemanns“ von Heinrich Kaufringer. Auch wenn diese Versnovelle eine weit komplexere Replikstruktur aufweist, stellt die Kastration auch hier eine Spiegelstrafe für den Ehebruch des Klerikers dar.  Ich widerspreche hier der Interpretation Lehmanns, der die Verse als „in üppigen Kleidern und Schuhwerk“ übersetzt hat. Lehmann: Parodie im Mittelalter, S. 221.  Nec spernit fures et latrones, ut spectatur. | Ordo noster suscipit cum pueris magistrum, | Vt nobiscum discurrant, et finiant registrum. (vv. 21– 23)

7.3 Der Ordo vagorum als traditionales Muster

217

piorumque virorum, de corrupto ecclesiae statu poemata, Ante nostram aetatem conscripta: Ex quibus multa historica quoque utiliter, ac summa cum uoluptate cognosci possunt (Basel: Ludwig Lucius 1557, S. 488 f.).⁹⁶ Das Lied reiht sich sehr gut in die von Flacius Illyricus ausgewählten Texte ein, die das Ziel einer antikatholischen Propaganda verfolgen. Sie sollen beweisen, dass die Missstände und die Korruption der alten Kirche auch schon in der fernen Vergangenheit erkannt und gegeißelt wurden. Dabei hat Flacius kein Interesse, Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden. Ihm dienen die Gedichte vielmehr zur theologischen Argumentation und Agitation, indem er die Goliardendichter als Reformatoren ante litteram inszeniert und idealisiert.⁹⁷ Diese kirchenkritische Intention des Flacius Illyricus legt damit – zusammen mit dem zeitgleich und ebenso in Basel publizierten Scriptorum illustrium maioris Brytanniae […] Catalogus von John Bale⁹⁸ – den Grundstein für eine bibliographische Beschäftigung mit den Goliardendichtungen, sodass Flacius „mit Fug und Recht als einer der ersten Herausgeber mittelalterlicher Verssatiren gelten“⁹⁹ kann. Alle folgenden Sammlungen bis zur textkritischen Erschließung der Codices im 19. Jahrhundert hängen von Bale/Falcius ab; damit prägten die beiden frühneuzeitlichen Gelehrten die künftige Vorstellung von Textcorpora nachhaltig und machten die (wenigen) Lieder über das Vagieren besonders prominent.¹⁰⁰ Diesen fachgeschichtlichen Umstand einer konfessionspolemischen Übergeneralisierung muss man bei der Bewertung der Verbreitung von (kirchenkritischen) Vaganten- und Trinkliedern bedenken. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass ein literarisches Muster eines parodistischen Vagantenordens in spätem Mittelalter und Früher Neuzeit existierte. Das zeigen die zahlreichen, weitgehend unabhängig voneinander entstandenen Versionen des Lieds De vagorum ordine, aber auch deutsche Adaptationen, zum Beispiel in einem Lied von Ludwig Senfl (1490 – 1543):¹⁰¹

 Übers. P. R.: ‚Veschiedene Gedichte gelehrter und frommer Männer über den verdorbenen Zustand der Kirche. Vor unserer Gegenwart verfasst: Aus diesen lassen sich viele geschichtliche Umstände auf nützliche und zugleich höchst vergnügliche Weise erfahren.‘ Olga Dobiaš-Roždestvenskaja (Hg.): Les Poésies des Goliards. Paris 1931, S. 146 f. verweist darauf, dass das Lied womöglich aus Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 1099 Helmst. (W 2) entnommen sei, jedoch findet sich dort kein Beleg.  Vgl. Gerlinde Huber-Rebenich: Die Rezeption der mittelalterlichen Satire bei Matthias Flacius Illyricus. In: Thomas Haye und Franziska Schnoor (Hg.): Epochen der Satire. Traditionslinien einer literarischen Gattung in Antike, Mittelalter und Renaissance. Hildesheim 2008, S. 173 – 190, hier S. 176 f.  John Bale: Scriptorum illustrium maioris Brytanniae, quam nunc Angliam & Scotiam vocant: Catalogus. Basel: Johannes Oporinus 1557.  Bale: Catalogus, S. 175.  Vgl. den Überblick in Rigg: Golias, S. 103 – 106. Einen ersten Wandel brachte die Edition von Wright: The Latin Poems.  Die älteste Version des Liedes ist überliefert in Johann Ott: Hundert vnd fünffzehen guter newer Liedlein. Nürnberg: Hieronymus Andreae 1544. Nr. 23. Jedoch muss es schon früher bekannt gewesen sein, was die Notitz im Neuburger Kapellinventar von 1544 belegt (Cod. pal. germ. 318, fol. 110r). Text nach der Edition Ludwig Senfl: Deutsche Lieder zu vier bis sechs Stimmen. III. Teil: Lieder aus den gedruckten Liederbüchern von Egenolff 1535, Finck 1536, Schöffer und Apiarius 1536, Forster 1539 – 1540, Salblinger 1540 und Ott 1544, hg. von Arnold Geering und Wilhelm Altwegg. Wolfenbüttel 1949,

218

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

Ein’n Abt wöll’ wir weihen, ist aus der Maßen guet; Ein Kloster wöll’ wir bauen, liegt so in großer Armuet. Darinne wohnt manicher Brueder ahn’ bar Geld, Unser Orden regiert in aller dieser Welt.

Dieses Lied imaginiert einen Orden, der die ganze Welt regiert (Str. 1, 6) und aus abgerissenen Bettlern und Spielern besteht. Was soll der Brueder für ein seltsam Gugel han? Ein Narrenkappen ziembt ihm wol, Wie soll sein Gugel sein? Zerrissen Kleider stehnd ihm wohl, Darin er wol erschein’ Schmorotzen, Bettlen thut uns armen Brüedern wohl, Trachten nur, daß wir Tag und Nacht werden voll. (Str. 2,6–Str.3,6)

Im Gegensatz zu den lateinischen Texten werden hier nicht eindeutig Institutionen oder Rituale der Kirche parodiert, und der Abt bleibt das einzige explizit angesprochene Amt des Ordens. Dieser Umstand hängt wohl damit zusammen, dass sich die lateinische Sprache für den subtilen Witz durch die sprachliche Koinzidenz von parodiertem und parodierendem Text besonders eignete.¹⁰² Auch die zeitliche Differenz spielt eine große Rolle. Denn die deutschen Texte entstanden um 1500, also in der Zeit, als sich der Armutsdiskurs veränderte und die Bettler als gemeinschaftlicher Zusammenschluss von Gaunern imaginiert wurden. Da in den lateinischen Liedern bei der Beschreibung des Vagantenordens immer wieder der scholaris tectus veste bona oder der magister cum pueris hervorgehoben wird, ist es nur ein kleiner Schritt, wenn in deutschsprachigen Liedern des 15. Jahrhunderts von einem Orden der Studenten gesprochen wird wie im Älteren Augsburger Liederbuch (Cod. germ. mon. 379, fol. 129v f.):¹⁰³

S. 40 f. Nr. 27. Kritischer Kommentar S. 123. Offensichtlich ist das Lied recht verbreitet gewesen, denn auch Johann Fischart zitiert es mit einer bewussten Umdrehung in seiner Geschichtklitterung (1575): „Ein Abt den wöllen wir weihen, Ist auß dermassen gut, Ein Kloster wöllen wir bauen, Ligt gar inn in grosser Armut, Darinn manch Bruder tringt keyn gelt, Unnd ißt keyn Wein, daß er den Orden helt.“ Fischart: Geschichtklitterung, S. 67, Z. 18 – 21. Die darauf folgenden Strophen bei Fischart stammen nicht von Senfl.  Vgl. zum Unterschied von lateinischer und deutscher Satire Henkel: Gesellschaftssatire im Mittelalter, S. 113.  Zum Codex Klaus Jürgen Seidel: Der Cgm 379 der Bayerischen Staatsbibliothek und das „Augsburger Liederbuch“ von 1454. Diss. München 1972 und Albrecht Classen: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster 2001, S. 62 f. Edition in Johannes Bolte: Ein Augsburger Liederbuch vom Jahre 1454. In: Alemannia 8 (1890), S. 97– 127 und 203 – 235, hier S. 215 f. (Nr. 69); in Classen: Liederbücher, Nr. 95.

7.3 Der Ordo vagorum als traditionales Muster

219

Ich waiß ein frisch geschlechte, das sind die bursenknechte,¹⁰⁴ ir orden stet alßo. Das macht ir freyes gemüte der schönen frawen clar, got selber sie behütte durch sein milte gütte die mynneclichen schar. (vv. 1– 8)

Zu dieser frischen, freien und mynneclichen schar passt das unmittelbar folgende Lied, welches den Studenten in Form eines meisterlichen Rats als idealen Liebhaber preist: Wer zartter mynnen pflegen well, dem gib ich ratt vnd lere, das er sich z den studenten gesell, die künnen zucht und ere (vv. 1– 4)

Diese Eigenschaften werden dann weiter in einer eindeutig sexuellen Metapher gerühmt: Nun schreib, nun schreib mein schreiber fein, nun schreibf [sic!] ein geschrifft meins hertzen! du mst auch ymmer selig sein, der federkyll ist so hertte. (vv. 9 – 12)¹⁰⁵

Von der Parodie eines Mönchsordens im engeren Sinne lässt sich nicht mehr sprechen. Wenn hier von einem orden gesprochen wird, bezeichnet dies eine beliebige Gemeinschaft oder auch nur die gesellschaftlich-ständische Stellung. Während diese Lieder des Älteren Augsburger Liederbuchs in den Kontext bürgerlicher Geselligkeit einzuordnen sind,¹⁰⁶ ist es bezeichnend, dass die erhaltenen Liedersammlungen des Spätmittelalters, die nachweislich von Studenten als „private pocketbook“¹⁰⁷ gesammelt wurden – z. B. von Liebhard Eghenvelder aus seiner Wiener Studienzeit (1420er) oder von Ambrosius Kettenacker aus Basel (um 1500) – vornehmlich höfisches und/oder geistliches Material aufzeichnen, das Muster des

 Von einer Regula bursalis spricht auch ein lateinisches Gedicht aus dem 15. Jahrhundert, welches den Opportunismus feiert: Regula bursalis est omni tempore talis: | si sint presentes plures quam deficientes, | nunquam presentes debent exspectare absentes; | absentes careant, presentes omnia tollunt; Feifalik: Geschichte der altböhmischen Literatur, S. 59.  Cod. germ. mon. 379, fol. 130r f. Ed. in Bolte: Augsburger Liederbuch, S. 216 f. (Nr. 70); in Classen: Liederbücher, Nr. 96.  Michael Curschmann: [Art.] Augsburger Liederbuch. In: 2VL 1, Sp 521– 523.  Reinhard Strohm: The Rise of European Music, 1380 – 1500. Cambridge 1993, S. 495.

220

7 Vagantenlieder als Sackgasse der Forschung? (Spurensuche I)

Vaganten(‐ordens) aber nicht behandeln.¹⁰⁸ Dieses scheint also kein fester Bestandteil studentischer Liedkultur des 15. und 16. Jahrhunderts gewesen zu sein oder man empfand es zumindest nicht der Aufzeichnung in Liedersammlungen als würdig. Erst in Drucken des 17. Jahrhunderts erreicht das Studentenlied, also Lieder für und über Studenten, eine Blüte.¹⁰⁹ In den früheren Sammlungen dominieren jedoch allgemeine Liebes- und Trinklieder, z. B. in Johann Hermann Scheins Venuskränzlein (1609) und Studentenschmaus (1626).¹¹⁰ Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Imagination eines Vagantenordens in der lateinischen Dichtung auf relativ wenigen Textquellen mit einem hohen Maß an Intertextualität beruht. Diese sind in den meisten Fällen anonym überliefert, bezüglich der Datierung nicht eindeutig und begegnen in sehr unterschiedlichen Überlieferungszusammenhängen. Die Funktion der Lieder reicht – sofern ermittelbar – von beißender Kirchen- und Mönchskritik bis zur Auflockerung in (wissensvermittelnden) Sammelhandschriften. Ab dem 16. Jahrhundert (bei Flacius Illyricus und bei John Bale) bewirkt die interpretierend-tendenziöse Aufbereitung des Textfeldes eine literaturgeschichtliche Übergeneralisierung einzelner Texte. Diese Stoßrichtung wird im 19. Jahrhundert noch verstärkt.¹¹¹ Den Status eines prägenden Motivs für eine Gattung der mittelalterlichen Dichtung kann der ‚Vagant‘ gewiss nicht einnehmen. Überblickt man die Ergebnisse zu den (wenigen) Gedichten über ‚Vaganten‘ im Mittelalters, fällt Folgendes auf: Die meisten lateinischen Lieder (vor dem ausgehenden Mittelalter) haben den Grundtenor der schwankhaften Mönchsparodie gemeinsam. Das ist wenig verwunderlich, da ja die lateinische Literatur von Klerikern verfasst wurde oder zumindest von Personen, die Latein von Anfang an mittels biblischer, liturgischer, erbaulicher und zum Teil klassischer Schriften lernten und einübten. Die Mönchsorden aber gelten als die im allgemeinen Diskurs präsenteste Form eines korporativen ordo und damit als ideales Muster. Jedoch auch strukturell bietet sich das Mönchtum als Folie an, da diese Gruppe wie kaum eine andere durch die Tradition

 Umfassend zu Eghenvelder vgl. Marc Lewon: Die Liedersammlung des Liebhard Eghenvelder. Im Ganzen mehr als die Summe ihrer Teile. In: Björn R. Tammen und Alexander Rausch (Hg.): Musikalische Repertoires in Zentraleuropa (1420 – 1450). Prozesse & Praktiken. Wien, Köln, Weimar 2014, S. 299 – 343. Zu nennen sind für das 15. Jahrhundert außerdem die Liedersammlungen Hartmann Schedels aus der Leipziger Studienzeit (1459 – 1461), das Rostocker Liederbuch (1465 – 1487) und im 16. Jahrhundert die Liederbücher von Johannes Heer von Glarus (um 1510) und Bonifacius Amerbach aus Basel (um 1500). Vgl. dazu Strohm: European Music, S. 493 – 501.  Vgl. Nimtz: Motive des Studentenlebens, S. 90 – 93.  Zum biographischen Hintergrund vgl. Johann Hermann Schein: Venuskränzlein/Studentenschmaus, hg. von Marianne Helms und Siegmund Helms. Basel, Tours, London 1970, S. VI–VIII. Zum Trinklied kommt in „Frischauf, ihr Klosterbrüder mein“, dem einleitenden Lied des Studentenschmauses, eine Mönchssatire, indem das Mönchskapitel als lyrisches Wir die Abwesenheit des Abts zum alkoholischen und sexuellen Exzess ausnutzt. In dieser Persiflage bleibt eine parodistische Umkehr von monastischen Strukturen wie in der Regula beati Libertini allerdings aus. Ed. in Schein: Venuskränzlein/Studentenschmaus, S. 58 – 60.  Vgl. Kapitel 13.

7.3 Der Ordo vagorum als traditionales Muster

221

einer idealen stabilitas loci geprägt ist. Um die Herkunft der literarischen Tradition eines ‚Vagantenmythus‘ in der mittelalterlichen Literatur zu suchen, also um die prätextuellen Konditionen der ‚Vagantenlieder‘ (v. a. CB 219) zu ermitteln, bedarf es eines Blickes in die grundlegenden Texte dieses monastischen Diskurses.¹¹² Doch bei Mönchskritik und ‚Vagantenmythus‘ handelt es sich nur um ein Muster, welches zur Konstitution einer Vorstellung vom Fahrenden Schüler beitrug. Auch wenn Schüler und Studenten der geistlichen Sphäre nahestehen, gelten für sie doch andere Regeln. Diese Unterschiede sind zu eruieren, indem ich im Folgenden die Fährte in Ständelehren und ‐satiren (Spurensuche II), juristischen und didaktischen (Spurensuche III) und kleinepischen Texten (aufgeteilt auf Spurensuche II und III) aufnehme.

 Dazu vgl. Kapitel 9.1.

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II) Student, Schüler, Scholar, Vagant Betrachtet man die Etymologie der genannten Wörter, wird deutlich, dass die trennscharfe gegenwartssprachliche Unterscheidung zwischen dem Schüler als jüngerem Besucher einer Schule und dem Studenten als älterem Besucher einer Universität keine absolute Gültigkeit besitzt: Mhd. schuolære ¹ ist meist synonym zu mhd. studente. ² Auch die lateinischen Bezeichnungen lassen keine eindeutige Differenzierung zu. So geben die lateinisch-deutschen Vokabularien, die sich vermehrt ab dem 15. Jahrhundert finden, sehr ähnliche Übersetzungen für mlat. scholaris und studens/ studiosus an, wobei studens/studiosus gemäß der Semantik von lat. studere die Bedeutungen ‚Fleiß‘ und ‚Eifer‘ konnotiert.³ Das im klassischen Latein geläufige discipulus fällt durch die Einschränkung auf ein junges lernkint aus der Reihe.⁴ Fehlt noch das Wort Scholar. Es wird im Deutschen Wörterbuch als „gelehrte nebenform zu schüler“ (DWB 15, Sp. 1448) definiert und hat eine weniger weite Bedeutung als engl. scholar, was jede Form von Wissenschaftlern/Gelehrten bezeichnet. Das Wort Scholar leitet sich wie Schüler von mlat. scholaris ab und bildet eine deglutinierte Dublette, die eine „adäquatere Entlehnung des Latinismus“⁵ – analog zu Karzer : Kerker etc. – zur Verfügung stellt. Die ersten Nachweise des Wortes datieren auf die Mitte des 16. Jahrhunderts,⁶ gerade im 19. Jahrhundert aber hat es die Bezeichnung von „im Mittelalter herumziehender Schüler oder Student“⁷ angenommen

 Schüler ist bereits als ahd. scuolāri im 9. Jahrhundert als Ableitung der mittellateinischen Substantivierung zu lat. scholāris ‚zur Schule gehörig‘ nachzuweisen. Aus dem althochdeutschen Wort entwickelt sich mhd. schuolære, schüelære (oder -er) und md. schûlêr (oder -er). Vgl. [Art.] Schule. In: Pfeifer 2, S. 1247 f., hier S. 1248, vgl. weiter DWB 15, Sp. 1937– 1940 und Solmu Nyström: Die deutsche Schulterminologie in der Periode 1300 – 1740. Schulanstalten, Lehrer und Schüler. Helsinki 1915, S. 181– 183.  Der deutsche Ausdruck ist ab dem 13. Jahrhundert belegt und leitet sich von einer Substantivierung des lateinischen Partizips studens ab. Es bezeichnete im Mittelalter vornehmlich die mlat. fratres studentes, junge Ordensbrüder bei den Franziskanern und Dominikanern, die wissenschaftlich tätig waren. Erst ab dem 15. Jahrhundert bezieht sich dieses Wort konkret auf den Besucher einer Universität. Vgl. Art. studieren. In: Pfeifer 1, S. 1385 f., hier S. 1385, vgl. weiter DWB 20, Sp. 259 – 265.  Vgl. Diefenbach S. 519c (scholaris) und 557 b (studens)  Diefenbach S. 184 c. (discipulus), zur Tendenz vgl. auch MWB 2, Sp. 723. Ein sprachgeschichtliches Fortleben im Deutschen hat dieses Wort allenfalls in der humanistischen Gelehrtensprache als Diszipel oder Diszipul, das seit dem späten 15. Jh. belegt ist. Vgl. Nyström: Schulterminologie, S. 185 f und FWB 5.1, Sp. 805.  [Art.] Schüler. In: Boris Paraschkewow: Wörter und Namen gleicher Herkunft und Struktur. Lexikon etymologischer Dubletten im Deutschen. Berlin, Boston 2015, S. 316 f., hier S. 317.  Vgl. DRW 12, Sp. 1067 f. und Nyström: Schulterminologie, S. 183 f.  Paraschkewow: Lexikon etymologischer Dubletten, S. 317. https://doi.org/10.1515/9783110708349-009

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

223

und so eine archaisierende Tendenz erhalten.⁸ Damit bezeichnet Scholar dasselbe wie der v. a. bei Goethe nachgewiesene Scholast (DWB 15, Sp. 1449). Das Grundwort der beiden Ausdrücke, lat. schola (von griech. σχολή), ist identisch. Während Scholar aber von mlat. scholaris abgeleitet ist, hängt Scholast etymologogisch von mlat. scholasticus ab (ursprünglich ‚der Gelehrte‘ und konkreter der ‚Stiftsherr einer (klösterlichen) Schule‘).⁹ Ab dem 17. Jahrhundert ist nhd. scholastisch hingegen auf die Methode der Scholastik spezifiziert oder pejorativ als ‚spitzfindig‘ oder ‚pedantisch‘ gebraucht.¹⁰ Eine ähnliche Entwicklung vollziehen die Etymologien der lateinischen Grundwörter in der Frühen Neuzeit,¹¹ wobei scholasticus dem Ausdruck scholaris vorgezogen wird,¹² zumal scholaris eine höhere Polysemie aufweist.¹³ Auch wenn sich die genannten Ausdrucke in Nuancen unterscheiden, ist allen gemeinsam, dass sie eine gelehrte Person bezeichnen. Sowohl eine Grundbedingung als auch der Inbegriff von Gelehrsamkeit ist im Mittelalter die Lese- und Schreibfähigkeit, sodass als Überbegriff aller Ausdrücke lat. litteratus steht.¹⁴ Damit wird die Gesellschaft in zwei distinkte Gruppen unterteilt: die homines illiterati vel idiotae und die homines litterati oder clerici. Schriftlichkeit und damit Bildung ist eng an die lateinische klerikale Buchkultur gebunden und unterscheidet sie so von der mündlich tradierenden volkssprachlichen Laienkultur.¹⁵ Auch mhd. schrîbære ist so als Gelehrter denotiert.¹⁶ Es zeigt sich, dass eine konkrete Unterscheidung der Personen oder Figuren anhand der volkssprachigen und lateinischen Termini nicht möglich ist, sondern nur eine tendenzielle Unterschiedlichkeit in der Begriffsverwendung. Man muss vorsichtig  Vgl. dazu auch Kapitel 13.4.  Der erste nachweisbare Beleg von mlat. scholasticus als Substantiv vom Ende des 11. oder Anfang des 12. Jahrhunderts ist in einer Aufzählung von exterior scolasticus et interior, dem Lehrer der weltlichen und der geistlichen Schüler; vgl. Cantatorium Huberti sive Chronicon Andaginense, hg. von Karl Hanquet als La chronique de S.-Hubert dite Cantatorium. Brüssel 1906, S. 21. Weitere Verweise vgl. [Art.] scholasticus. In: Niermeyer S. 946 und DRW 12, Sp. 1068 f.Vgl. dazu auch Irrgang: Scholar vagus, S. 55.  Vgl. [Art.] Scholastik. In: Pfeifer 2, S. 1235 f.  Vgl. Zedler 35 [Art.] Scholastici, Sp. 921 f. und [Art.] Scholasticker, Sp. 922– 925.  Vgl. Gottfried Voigt: Indices I-VI. In: Nomenclator Strategicus, hg. von Konrad Samuel Schurzfleisch, Gießen: Müller 1720, S. 153.  Das Wort bezeichnet auch oder vor allem Reit- und Tanzschüler sowie die Soldaten der Scholae Palatinae (spätantike Palastwachen).Vgl. Zedler 35 [Art.] Scholaren (Sp. 915 f.) und Scholares (Sp. 916). Vgl. außerdem scholaris in Niermeyer, S. 945.  Diefenbach S. 334a  Vgl. grundlegend Herbert Grundmann: Litteratus – illitteratus. Der Wandel einer Bildungsnorm vom Altertum zum Mittelalter. In: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), S. 1– 65 und dazu Georg Steer: Zum Begriff ‚Laie‘ in deutscher Dichtung und Prosa des Mittelalters. In: Ludger Grenzmann und Karl Stackmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Stuttgart 1984, S. 764– 768.  Lexer 2, Sp. 793. Zu ‚Scholaren‘ in spätmittelalterlichen Kanzleien vgl. Klaus Wriedt: Gelehrte in Gesellschaft, Kirche und Verwaltung norddeutscher Städte. In: Rainer Christoph Schwinges (Hg.): Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Berlin 1996, S. 437– 452, hier S. 444 f.

224

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

sein, aus den deutschen oder lateinischen Begriffen des Mittelalters einen Verweis auf die Stellung des Bezeichneten zu schließen. Denn je nach Region, Zeit und idiosynkratischen Umständen kann scholasticus einen ehrwürdigen Stiftherrn oder einen wandernden Bettler bezeichnen, während die Bedeutung von schrîbære zwischen einem unbedeutenden Kanzleischreiber und einem arrivierten Schriftgelehrten changiert. Bei der Untersuchung literarischer Narrationen ist also die allgemeine Bezeichnung Schülerfiguren als Sammelbezeichnung zu benutzen. Die Unschärfe in der Terminologie wiederholt sich bei der Untersuchung des geschichtlichen Hintergrunds. Denn auch hier kann man den mittelalterlichem Studenten oder Schüler nicht genau unterscheiden. Es ist bereits unmöglich, das Bild des ‚typischen Studenten‘ zu zeichnen; zu heterogen ist diese Gruppe. So kannte die mittelalterliche Universität „weder nationale noch soziale, weder intellektuelle noch sprachliche Zugangs- und Zulassungsbedingungen“,¹⁷ sodass ein minderjähriger Bauernsohn, der erst noch die Unterrichtssprache Latein lernen musste, neben einem bepfründeten Bischof studieren konnte. Ebenso ist die Unterscheidung zwischen Student und Dozent problematisch, da Studenten der höheren Fakultäten gewöhnlich als Magister in der Artistenfakultät auftraten. Die einzige Voraussetzung für den Besuch der Universität und damit Gemeinsamkeit aller Universitätsbesucher war neben der mittelalterlichen Selbstverständlichkeit eines christlichen Bekenntnisses, der Taufe und des männlichen Geschlechtes¹⁸ nur ein ‚gesitteter Lebenswandel‘.¹⁹ Ansonsten war die Universität durchaus ‚universal‘ zugänglich. Doch sie war kein freier Raum gleichberechtigter Gelehrte, wie ihn Herbert Grundmann euphorisch apostrophierte,²⁰ sondern vielmehr das „getreue Spiegelbild der sie jeweils umgebenden Gemeinschaft“ mit den „gleichen alteuropäisch-traditionalen Regeln.“²¹ So waren

 Rainer Christoph Schwinges: Die Zulassung zur Universität. In: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Bd. 1: Mittelalter. München 1993, S. 161– 180, hier S. 161.  Die Verhinderung des Frauen- oder Mädchenstudiums liegt weniger an einer kirchlichen Bindung der Universität, sondern mehr in der Vorstellung des Mittelalters, dass Frauenbildung nicht rechtmäßig sei. So bleiben wenige Beispiele von adligen Studentinnen in Südeuropa nur ein Randphänomen und es muss von einer rein männlichen Domäne ausgegangen werden. Vgl. Andrea von Hülsen-Esch: Frauen an der Universität? Überlegungen anläßlich einer Gegenüberstellung von mittelalterlichen Bildzeugnissen und Texten. In: ZHF 24 (1997), S. 315 – 346. Eine Grundbildung und vor allem eine Alphabetisierung wurden den Frauen aber meist zugebilligt, was an der Orientierung an Maria, die von den mittelalterlichen Theologen „zum Vorbild der lesenden Frau, das zur Nachahmung verpflichtete“, gemacht wurde; Klaus Schreiner: Marienverehrung, Lesekultur, Schriftlichkeit: Bildungs- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zur Auslegung und Darstellung von ‚Mariä Verkündigung‘. In: Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 314– 368, hier S. 368.  Vgl. Rainer Christoph Schwinges: Der Student in der Universität. In: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Band 1: Mittelalter. München 1993, S. 181– 223, hier S. 187.  Herbert Grundmann: Vom Ursprung der Universität im Mittelalter. Darmstadt 21976, S. 17– 20. Zu den Intentionen Grundmanns und dem Einfluss seiner Thesen vgl. Schwinges: Stand der Universitätsgeschichte des Mittelalters, S. 99 – 101.  Schwinges: Der Student in der Universität, S. 187.

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

225

Privilegien, Reihenfolgen und Karrierechancen vom Stand oder dem Reichtum des Studenten abhängig und meist nicht von seiner Begabung.²² Schwinges unterteilt die Studentenschaft nach Auswertung seiner Quellen in fünf Grundtypen: Der (1) Jugendliche an der Artistenfakultät (scholaris simplex) weist gerade die juristischen und finanziellen Mindestvoraussetzungen für den Zugang zur Universität und oft Grundfähigkeiten in lateinischer Sprache und Schrift durch den Besuch einer Lateinschule auf. Denn man kann generell davon ausgehen, dass der Besuch einer Schule der „‚normale‘ Bildungshintergrund des Hochschulbesuchs“²³ war. Dieser Typ bleibt meist nur ein bis zwei Jahre an der Universität, strebt keine Examina oder akademischen Grade an, stellt aber meist über die Hälfte der Universitätsbesucher. Daneben steht der Student, der mit dem (2) Baccalaureus artium ein akademisches Ziel hat, jedoch auch nicht in die höheren Fakultäten aufsteigen wird, und der (3) ‚Magisterstudent‘ mit 19 bis 21 Jahren, der ein Artisten-Studium absolviert hat und parallel zum Studium von Theologie, Jura oder Medizin Studienanfänger unterrichtet.Von diesen Typen hebt sich der (4) ‚Standesstudent‘ ab. Dieser hat bereits ein hohes Ansehen, ist adelig, mit Pfründen versehen oder sehr reich. Deshalb versieht er auch kein Artisten-, Theologie- oder Medizinstudium, nimmt keine Lehraufträge entgegen und strebt generell keine Grade an, da dies seiner Würde abträglich wäre.²⁴ Seine typische Fakultät ist die Rechtswissenschaft. Der letzte Typ ist der (5) ‚Fachstudent‘, der mit seinem Ziel, ein Examen und eine akademische Graduierung zu erreichen, am ehesten dem modernen Studenten entspricht, jedoch nur in niedriger Prozentzahl in der Universität vertreten war.²⁵ Bei den deutschen Studenten an den europäischen Universitäten handelte es sich vor 1380 um Standesstudenten – zumindest soweit dies anhand der Karrieren fassbar ist – wobei es wohl „auch eine

 Vgl. Schwinges: Der Student in der Universität, S. 187– 195.  Schwinges: Universitätsbesucher, S. 332.  Das Studium galt neben einer hohen Geburt als Zusatzqualifikation für die Karriere, vor allem für geistliche, später auch für weltliche Adlige. Vor allem eine Bildungsreise und ein Auslandsstudium in der Romania bedeutete hohes Prestige; vgl. Schwinges: Universitätsbesucher, S. 386 und Joachim Ehlers: Deutsche Scholaren in Frankreich während des 12. Jahrhunderts. In: Johannes Fried (Hg.): Schulen und Studium in sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Sigmaringen 1986, S. 97– 120, S. 120. Eine akademische Graduierung hingegen war eher hinderlich, da akademische Grade dem Selbstverständnis des Adels widersprachen. Erst ab 1600 sind Adel und Bildung miteinander vereinbar. Vgl. Alfred Wendehorst: Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben? In: Johannes Fried (Hg.): Schulen und Studium in sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Sigmaringen 1986, S. 9 – 33, S. 24 f. und Rainer A. Müller: Aristokratisierung des Studiums? Bemerkungen zur Adelsfrequenz an süddeutschen Universitäten im 17. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 31– 46, S. 41. Gleichzeitig wurden adlige Universitätsbesucher von der Universitätsleitung stets mit großer Freude aufgenommen und auch mit zahlreichen Privilegien angelockt, da die Anwesenheit eines hohen Aristokraten das Ansehen und die Finanzen der Schule erheblich steigern konnte; vgl. Schwinges: Universitätsbesucher, S. 375 – 379.  Zu den einzelnen Typen vgl. Schwinges: Der Student in der Universität, S. 182– 185.

226

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Migration armer Studenten gegeben haben [muss], schon jeweils im Gefolge der potenten.“²⁶ Durch zahlreiche Neugründungen von Universitäten im „regional-nationalen Zeitalter [ab dem 14. Jahrhundert] tritt dabei eine verhältnismäßig klare Zweiteilung hervor zwischen einem weiterhin adelig/patrizisch-besitzenden Scholarentyp und den nun klar ins Blickfeld kommenden meist wenig bemittelten einfachen Artisten.“²⁷ Diesem Ergebnis folgend etablierte sich die populäre Aufteilung der Studentenschaft in die Gruppen der pauperes, der divites und der nobiles. ²⁸ Den Großteil der deutschen Studenten machte ab dem 15. Jahrhundert der Studententyp aus dem mittleren und kleinen Bürgertum aus, der meist in Deutschland verblieb und zum Großteil nicht über die Artistenfakultät hinauskam, da akademischer Aufstieg stets stark an Reichtum und Herkunft gekoppelt war.²⁹ Außerdem gab es in der Zeit der Blüte der Universität andere Bildungsinstitutionen und der Unterschied zu diesen, so groß er theoretisch und normativ auch war, blieb für die meisten Besucher doch nur sekundär. In der Theologie und dem kanonischen Recht standen zuerst die Kathedralschulen³⁰ und später die studia der Bettelorden³¹ den Universitäten in nichts nach. Für die meisten Scholaren aber war ohnehin nur die Grundausbildung in den septem artes liberales von Interesse und dafür gab es – vereinzelt bereits seit dem 13. Jahrhundert – die Konkurrenz durch bürgerliche Stadtschulen als niedere und Pfarr-, Kloster-, Dom- oder Stiftschulen als höhere Lateinschulen.³² Man muss also davon ausgehen, dass für einen einfachen Studenten die Grenze zwischen Schule und Universität verschwamm, da die Privilegien eines studium generale für ihn irrelevant waren und er sich einen Aufstieg an der Universität ohnehin nicht leisten konnte.³³ Durch die Entstehung einer städtischen Bildungselite mit einem veränderten Wissenskonzept rückten Universität und Lateinschule näher zusammen, was die Gleichung von litteratus und clericus im späteren Mittelalter unhaltbar macht.³⁴ Da es keine fachlichen Bedingungen für den Eintritt in die Universität  Moraw: Der Lebensweg der Studenten, S. 239.  Moraw: Der Lebensweg der Studenten, S. 249.  Vgl. Schwinges: Der Student in der Universität, S. 191.  So haben in Deutschland im 15. Jahrhundert weniger als 3 % einen akademischen Grad erworben, unter den Graduierten aber waren vor allem reiche Bürger (divites) und später, als die Laisierung der Universität so weit fortgeschritten war, dass eine universitäre Karriere nicht mehr ihrem Standesbewusstsein widersprach, auch Adelige. Die Wahrscheinlichkeit, in der Universität aufzusteigen, war auf alle Fälle durch Reichtum oder Herkunft aus dem Adel weitaus erhöht. Vgl. Schwinges: Universitätsbesucher, S. 240.  Vgl. Ehlers: Deutsche Scholaren in Frankreich, S. 105 f.  Monika Asztalos: Die theologische Fakultät. In: Walter Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Band 1: Mittelalter. München 1993, S. 359 – 385, hier S. 363 – 365 und vgl. weiter Isnard Wilhelm Frank: Die Bettelordensstudia im Gefüge des spätmittelalterlichen Universitätswesens. Stuttgart 1988.  Vgl. Bruno Hamann: Geschichte des Schulwesens. Werden und Wandel der Schule im ideen- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang. Bad Heilbrunn 21993, S. 32– 34.  Vgl. Schubert: Fahrendes Volk, S. 255 f.  Vgl. Martin Kintzinger: Wissen wird Macht. Bildung im Mittelalter. Ostfildern 2007, S. 127.

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

227

gab, waren die „Übergänge zwischen Schule und Universität […] fließend, die Begriffe Schüler und Student nicht zu trennen.“³⁵ Im Gegensatz zu Standesstudenten und angesehenen Gelehrten entschieden die meisten einfachen Studenten nicht, eine konkrete Universität zu besuchen, weil diese einen großen Namen oder besondere Privilegien hatte, zumal sie an den süd- und westeuropäischen Juristenzentren auch nicht akzeptiert worden wären. Diese besuchten lieber die einfachen ‚Artistenschulen‘ in räumlicher Nähe zum Herkunftsort oder sozialer Nähe durch persönliche Netzwerke.³⁶ Auch der Umstand, dass der Student zum entfernten Universitätsstandort reisen musste, kann nicht als Unterscheidungskriterium gelten. Denn ebenso die Besucher einer Lateinschule mussten unter Umständen zur nächsten Stadt weit reisen und hatten so ähnliche Voraussetzungen wie die Universitätsbesucher. Eine Unterscheidung bezüglich Alter, Bildungsniveau, Reisedistanz und gesellschaftlicher Stellung ist in literarischen Texten normalerweise nicht möglich, sofern es keine konkreten Zuweisungen gibt. In der Frühen Neuzeit etablieren sich im Deutschen weitere Bezeichnungen für Schüler: Anfang des 15. Jahrhunderts Schütz oder Schütze für den Anfänger im Lernen (übers. als lat. scuto oder tiro ‚Rekrut‘) und beanus oder Bachant für den etwas älteren Schüler, der aber noch nicht zu den Studenten gehört. Doch auch diese Bezeichnungen sind bereits in ihrer undurchsichtigen Etymologie pejorativ konnotiert: Bacchant von lat. bacchari ‚im Weinrausch rasen‘ oder von vagari ‚unstet umherschweifen‘ und beanus/bejaunus von frz. bec jaune ‚Grünschnabel‘;³⁷ dies zeigt der Großteil der Wortbelege.³⁸ Das Wort Vagant, welches im Deutschen erst im 16. Jahrhundert belegt ist, geht schließlich über den Kontext der Schule hinaus und hat ausschließlich negative Konnotationen. Dabei handelt es sich bei den ‚Vaganten‘ von scholares vagantes wahrscheinlich um einen deutschen Latinismus, da mlat. nur scholares vagi überliefert ist.³⁹ Alle drei Bezeichnungen denotieren nicht nur, sondern sie werden auch appellativ gebraucht, indem sie mitunter ihr Signifikat abwerten. Damit nehmen sie Anteil an der Praxis sprachlicher Ausgrenzung.⁴⁰ Ebenso verhält es sich mit dem pejorativen Kompositum Lotterpfaffe und der Substantivgruppe Fahrender Schüler (als varent schuler etc.), die durch das Attribut als Teil der als deviant eingeschätzten

 Schwinges: Der Student in der Universität, S. 181.  Vgl. Schwinges: Universitätsbesucher, S. 465 – 486 und Irrgang: Peregrinatio academica, S. 191.  Mit dieser Bezeichnung des nicht oder neu immatrikulierten Studenten ist an den Universitäten des 15.–17. Jh. das gewalttätige und erniedrigende Initiationsritual der depositio cornuum verbunden. Erst nach der Deposition wurde der Neue nicht mehr als wildes Tier (pecus campi), sondern als Teil der Gemeinschaft angesehen. Vgl. dazu Rainer Christoph Schwinges: Mit Mückensenf und Hellschepoff. Fest und Freizeit in der Universität des Mittelalters (14. bis 16. Jahrhunderts). In: JbUG 6 (2003), S. 11– 27, hier S. 11.  Vgl. Nyström: Schulterminologie, S. 236 – 240, DWB 1 (1854), Sp. 1060 und FWB 2, Sp. 1618 – 1620 mit Verweisen auf Michael Lindener, Martin Luther, Hans Sachs, Paracelsus und andere.  Vgl. Nyström: Schulterminologie, S. 235 f.  Zu verschiedenen Verfahren einer Pragmasemantik ausgrenzenden Sprechens vgl. LobensteinReichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 23 – 148.

228

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Gruppe der Fahrenden prädiziert sind. Im Humanistenlatein heißt dieser dann scholasticus vagans. Das folgende Kapitel untersucht die Bewertung des nominalen Grundworts (Schüler) in Texten des Mittelalters hinsichtlich Indizien, die für die Situation in den Texten um 1500 (z. B. Bettlerkataloge) von Bedeutung sind. Im Kapitel 9 wird dann die Bewertung des spezifizierenden Attributs (fahrend) untersucht und im Kapitel 10 die Substantivgruppe (Fahrender Schüler).

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert Das dominante stratifikatorische Gesellschaftsbild des Mittelalters, welches die Welt in mindestens drei Stände (ordines) untergliedert, wurde bereits zum Thema.⁴¹ Diese Vorstellung einer universalen und objektiven (da gottgegebenen) Ordnung gründet mitunter auf der berühmten Augustinus-Definition: ordo est parium dispariumque rerum sua cuique loca tribuens dispositio (Aug. civ. XIX, 15)⁴² und wurde in der Scholastik umfassend ausgebaut.⁴³ Diese Ständeideologie wird in zahlreichen anderen Texten wiederholt, unter anderem im Renner Hugos von Trimberg, der ausgehend von der siebten Ekloge Vergils (Verg. ecl. VII, 65 f.) das Bild entwirft, dass jeder Baum nur an der passenden Stelle schön werde: Ein elwer schôn bî wazzer stêt, In garten ein viehte schôn ûf gêt, Eichîn loup ziert grüenen walt, Ûf bergen ein tanne ist wol gestalt. ⁴⁴

Damit impliziert eine stabilitas ordinis auch eine stabilitas loci. Augustinus macht die Ständeordnung zu einer moralisch-theologischen Forderung, wenn er formuliert, dass nur zu Gott gelange, wer den ordo befolge.⁴⁵ „Aus der objektiven Geordnetheit der Welt leitet Augustinus die Pflicht für jeden einzelnen ab, sich selbst zu ordnen; und der  Vgl. Kapitel 4.2.  Übers. von Carl Johann Perl. Padeborn 1979, S. 475: „Ordnung ist die Verteilung der gleichen und ungleichen Dinge, die jedem seinen Platz zuweist.“  Dazu zusammenfassend Wolfgang Heinemann: Zur Ständedidaxe in der Deutschen Literatur des 13.–15. Jahrhunderts. In: PBB (H) 88; 89 und 92 (1966; 1967 und 1970), S. 1– 90; 290 – 403 und 388 – 437, hier I, S. 2– 12 und Otto Gerhard Oexle: [Art.] Stand, Klasse. In: GG 6 S. 185 – 200. Die Grundlage von Oexles Ständedefinition ist Max Webers „ständische Lage [als] eine in Anspruch genommene positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung“; Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 51976, S. 179.  Hugo von Trimberg: Der Renner. Mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle. 4 Bde., hg. von Gustav Ehrismann. Berlin 1970, vv. 17377– 17380. Dazu und zu anderen Beispielen im Renner vgl. Bulang: Enzyklopädische Dichtungen, S. 91 f.  ordo est, quem si tenuerimus in vita, perducat ad deum et quem nisi tenuerimus in vita, non perveniemus ad deum (Aug. ord. I, 9, 27).

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

229

ordo vitae des einzelnen ist dann wiederum Voraussetzung für das Geordnetsein einer Gesellschaft.“⁴⁶ Das Einhalten des ordo-Gebots und der Erhalt der tranquillitas ordinis werden also begründet durch die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Dadurch wird das Überschreiten der Grenzen des eigenen ordo zur Sünde wider Gott und wider die Gesellschaft. Diese transzendente Begründung der Ständedichtung ist dabei nur ein Element – wenn auch wohl ein bedeutsames – für die Konstruktion eines mittelalterlichen Gesellschaftsbildes. Man darf sie zwar nicht verabsolutieren und so sozialen Wandel und Dynamiken im kollektiven Wissen ausschließen, doch gewiss ist dieses Moment ein wichtiger Baustein im Entwurf eines gesellschaftlichen Imaginären, welches (auch) durch Texte gebildet wird und in einem zirkulären Implikationsverhältnis zu historischen Ereignissen und realen Praktiken steht.⁴⁷ Paradoxerweise wird diese hochmittelalterliche Begründung vor allem ab dem 13. Jahrhundert rekurrent, also in der Zeit einer „ersten Krise des Feudalismus“.⁴⁸ Dieser Aussage wurde aufgrund der Tendenz zur Generalisierung und der Begründung durch die „Hoffnungen moderner Historiker auf die Aufdeckung eines biologisch-genetischen Ablaufs der Geschichte“⁴⁹ widersprochen und erkannt als eine „Imagination des 20. Jahrhunderts, das in einen ‚fernen Spiegel‘ zu schauen versucht hat und sich dort allenfalls schemenhaft selbst zu erkennen vermochte.“⁵⁰ Doch grosso modo sind spätestens ab dem 14. Jahrhundert epochale Umwälzungen und eine Häufung von krisenhaft oder zumindest als Veränderung wahrgenommenen Phänomenen evident – wenn auch mit „regionalen Unterschiede[n] im Krisenszenario“⁵¹. Diese gesellschaftlichen Veränderungen beförderten eine zunehmende Ausweitung und Differenzierung der Gesellschaft in verschiedene ordines, zuerst durch die Aufnahme des Bürgertums in die Ständepyramide und später durch die Unterteilung in verschiedenste Berufs- und Sozialgruppen.⁵² Gleichzeitig sind diese Prozesse auch „wesentliche Ursache für die seit dem 13. Jahrhundert in großem Umfang einsetzende Popularisierung ständischen Gedankenguts  Heinemann: Ständedidaxe I, S. 9.  Eine kritische Stellungnahme bei Alfred J. Hubler: Ständetexte des Mittelalters. Analysen zur Intention und kognitiven Struktur. Tübingen 1993, S. 11– 13. Als Alternative bietet dieser schließlich eine mentalitätsgeschichtliche Analyse von kollektiven Wissensbeständen an.  František Graus: Die erste Krise des Feudalismus. In: ZfG 3 (1955), S. 552– 592.  Hartmut Boockmann: Stauferzeit und spätes Mittelalter. Deutschland 1125 – 1517. Berlin 1987, S. 245 f.  Peter Schuster: Die Krise des Spätmittelalters. Zur Evidenz eines sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. In: HZ 269 (1999), S. 19 – 55, hier S. 55. Dazu zusammenfassend Peter Kriedtke: Spätmittelalterliche Agrarkrise oder Krise des Feudalismus? In: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 42– 68.  Rolf Kießling, Frank Konersmann u. a. (Hg.): Grundzüge der Agrargeschichte. Köln, Weimar, Wien 2016, Bd. 1, S. 11. Vgl. Schuster: Die Krise des Spätmittelalters, S. 41.  Vgl. Heinemann: Ständedidaxe I, S. 28 f. Den vorläufigen Fluchtpunkt bilden dabei die universal empfundenen Ständebücher im 16. Jahrhundert. Der wohl berühmteste Vertreter ist Jost Amman, Hans Sachs: Eygentliche Beschreibung Aller Stände auff Erden. Frankfurt a. M.: Sigmund Feyerabend und Georg Rab d. Ä. 1568.

230

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

mit den Mitteln der Predigt und – nicht zuletzt – der Dichtung.“⁵³ Dieses Paradoxon einer zunehmenden Textproduktion zu einem Phänomen in Zeiten seiner gesellschaftlichen Erosion ist durch die Logik der bedrohten Ordnungen zu erklären, derzufolge erst in der Bedrohungssituation die andernfalls als selbstverständlich aufgenommenen Wissensbestände bewusst werden, was so zu einer verstärkten Beschäftigung führt.⁵⁴ Es ist demnach nicht weiter verwunderlich, dass die im 13. Jahrhundert einsetzende ständedidaktische Literatur als Kisenphänomen in vielen Fällen gleichzeitig ständesatirisch ist – analog zur Situation um 1500.⁵⁵

8.1.1 Ständelehren und Sermones ad status Lateinische Sermones ad status Wie sind in diesen Texten die Schüler dargestellt? Schon in den Praeloquia Rathers von Verona (wohl 934– 936), die „den eigentlichen Beginn der universalen Ständelehre“⁵⁶ markieren, wird der Schüler zum Thema: Discipulus es? Scito te obedientiam debere magistris, eamque rem moralem existere, ut hoc quis exigat a subditis, quod se meminit exhibuisse prelatis. […] Stude humiliter subesse, ut tibi et multis aliis quandoque ualeas prodessse. Magister es? Doce humiliter quod nosti. Discipulus? Disce inhianter quae adhuc minime nosti. Magister? Opta magis amari quam timeri…⁵⁷

Indem der discipulus einem Lehrer gegenübergestellt ist und nicht den Rittern, Bauern oder Handwerkern, wird der status des Schülers sichtbar. Er steht kategorial dem Lehrer nahe, wenn auch in einer hierarchisch untergeordneten Position, was durch seine Unwissenheit und Jugend begründet ist. Dennoch besetzt er damit noch lange keine eigene ständische Kategorie. Der discipulus wird nicht als eigener Gesellschaftsstand (status ordinis), sondern als Lebensstand (status aetatis) wahrgenommen.⁵⁸ Damit folgt Rather

 Heinemann: Ständedidaxe I, S. 14  Vgl. Frie/Meier: Bedrohte Ordnungen, S. 4 f.  Bei solchen quantitativen Aussagen über Vergleiche des Hoch- mit dem Spätmittelalter muss man beachten, dass 90 Prozent der handschriftlichen Überlieferung aus dem 14. und 15. Jahrhundert stammen, was bei einem eklektischen Zugriff zu einer Verzerrung des Bildes führen kann. Vgl. Boockmann: Stauferzeit, S. 240. Tendenzen sind cum grano salis aber dennoch ermittelbar.  Heinemann: Ständedidaxe, I, S. 30.  Rather von Verona: Praeloquia, hg. von Peter L. D. Reid. Thurnhout 1984, I, XV, 30 f.; Übers. P. R.: ‚Du bist ein Schüler? Wisse, dass du den Lehrern Gehorsam schuldest und dass dieser moralische Sachverhalt zutagetrete, dass man das von den Untergebenen fordert, was man seiner Erinnerung nach von den Vorgesetzten vorgelebt bekam. Bemühe dich, demütig zu sein, um dir oder vielen anderen irgendwann einmal nützen zu können. Du bist Lehrer? Lehre demütig, was du weißt. Schüler? Lerne begierig, worüber du noch zu wenig weißt. Lehrer? Wünsche mehr geliebt als gefürchtet zu werden…‘  Oexle: [Art.] Stand, Klasse. In: GG 6, S. 189 spricht ählich von ‚Personalständen‘ (viri, mulieres, conjuges, uxores etc.). Heinemann: Ständedidaxe, I, S. 75 von ‚Lebensständen‘ (z. B. ad pueros). Den Begriff status aetatis habe ich als Gegenbegriff zu status ordinis aus der Rechtswissenschaft entlehnt.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

231

derselben Tendenz wie schuldidaktische Texte und die großen ständetheoretischen Summen der Scholastik (z. B. De sacramentis christianae fidei Hugos von St. Victor oder der Polycraticus des Johannes von Salisbury), in denen der Schüler als Stand entweder gar nicht oder in der skizzierten Weise vorkommt.⁵⁹ Explizit wird dieser Unterschied zwischen dem kategorial anderen status des Schülers und dem status eines Priesters oder Ritters bei Bonaventura (Giovanni Fidanza), der nach einer universal empfundenen Reihe die Schüler nur dahingehend in sein hierarchisches Schema integriert, dass sie sich dem Lehrer unterordnen.⁶⁰ Die Schüler sind also ein subalterner Teil des ‚Lehrstandes‘, des ordo clericus. Dieser status ist als status aetatis jedoch nur auf eine Entwicklungsphase beschränkt, wobei der hierarchische Aufstieg (für den moralisch und fachlich ‚guten‘ Schüler) explizit mitgedacht ist. Indem sich ab dem 12. Jahrhundert in Predigtanweisungen die Auffassung durchsetzt, dass jeder Hörer durch je passende Inhalte angesprochen werden müssten – mit den Worten eines Predigthandbuches Diversa diversis ⁶¹ – etablierte sich die Textgattung der Sermones ad status, z. B. in den homiletischen Hilfsbüchern des Honorius Augustodunensis (Speculum Ecclesiae, 1100/1110) und des Alanus ab Insulis (Summa de arte praedicatoria, Ende 12. Jh.). Diese Predigten dienen weniger der systematischen Durchdringung des Themas, sondern sind „vielmehr durch die Pädagogisierung und Popularisierung des Ständegedankens gekennzeichnet“,⁶² wodurch sie auch eine Wirkung auf literarische Texte über Stände hatten. Sie sagen aber weniger etwas über das angesprochene Auditorium der Predigt aus, sondern mehr über das Bild von den Ständen, das der Prediger hatte.⁶³ Während die ersten Musterpredigten an die verschiedenen Stände die Schüler allenfalls als implizite Adressaten der Predigten anführt, widmen andere Sermones ad status, die vor allem in der Romania des 13. Jahrhunderts entstanden sind, den Schülern ganze Musterpredigten. Der Wandel in der Darstellung der Studenten und Magister in den Sermones ist ein Zeichen für eine Veränderung des Gesellschaftsbildes im 13. Jahrhundert.⁶⁴ Die wichtigsten Sammlungen mit solchen Sermones ad status

 Vgl. Heinemann: Ständedidaxe I, S. 46 – 51.  Bonaventura: Illuminationes Ecclesiae, hg. von A. C. Peltier. Paris 1867, Serm. XXII, S. 140. Sunt ergo in Ecclesia præsidentes, et subditi; docentes et disciplinati; regulantes, et regulati […] Debent enim plus esse subjecti regulares suo superiori, quam discipuli magistro, quam subjecti præsidenti; vgl. Heinemann: Ständedidaxe I, S. 54– 57.  Humbert de Romans: De eruditione religiosorum Predicatorum, hg. von Margarinus de la Bigne. Lyon 1677, S. 424– 567. Vgl. Sarah Khan: Diversa diversis. Mittelalterliche Standespredigten und ihre Visualisierung. Köln 2007, S. 102.  Heinemann: Ständedidaxe I, 65 – 78, hier S. 65.  Vgl. Carolyn Muessig: Audience and Preacher. Ad status Sermons and Social Classification. In: Carolyn Muessig (Hg.): Preacher, Sermon, and Audience in the Middle Ages. Leiden, Boston 2002, S. 255 – 276, hier S. 275 f.  Dazu Antonio Marson Franchini: Studenti e Maestri sotto la Lente dei Predicatori. Il XIII Secolo come Spartiacque. In: I quaderni del m.æ.s. Journal of Mediæ Ætatis Sodalicium 15 (2017), S. 95 – 119, hier S. 95: „Ai fini di questa trattazione l’analisi si concentrerà sull’immagine che ci viene restituita di

232

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

stammen von Jacques de Vitry (1160/70 – 1240)⁶⁵, Humbert de Romans (1190/1200 – 1277),⁶⁶ Guibert de Tournai (~1200 – 1284),⁶⁷ Luca Lettore († vor 1287)⁶⁸ und Federico Visconti (1253 – 1277).⁶⁹ Diese beinhalten Anweisungen darüber, welche Inhalte gelernt werden sollen, Ermahnungen zu einem tugendhaften Leben sowie Appelle an den Arbeitseifer (studiositas) der Schüler und Studenten. Eine Predigt von Jacques de Vitry (sermo XV) will ich hier genauer untersuchen. Dabei handelt es sich weniger um ein bestes Beispiel der Gattung, vielmehr hat diese Musterpredigt einen exzeptionellen Status, da sie Schüler (und implizit auch der Lehrer) sowie deren vagatio eingehend behandelt. Die beiden Predigten an die Scholaren (XV und XVI)⁷⁰ stehen an einer Scharnierstelle zwischen den Geistlichen im engeren Sinne (Nr. I–VIII: Prälaten und Priestern; Nr. IX–XIV: Kanonikern und anderen Klerikern) und den Gelehrten (Nr. XVII f.: Richtern und Advokaten; Nr. XIX–XXI: Theologen und Predigern). Darauf folgen Predigten für die verschiedenen Mönchsorden (Nr. XXII–XXIX). Die Gelehrten werden als ein Teil des ordo clericus, die Schüler hingegen als logisch eigener ‚Stand‘ angesehen. Die erste Scholarenpredigt (XV) nimmt den Bibelvers Si videris sensatum, evigila ad eum, et gradus ostiorum illius exstudenti e professori universitari da testi coevi come i sermones ad status e altri contributi di ambiente laico.“  In den Sermones vulgares (~1226), einer der populärsten Predigtsammlungen des 13. Jahrhunderts, sind zwei Predigten, Nr. XV und XVI, Ad scolares gerichtet.Vgl. dazu Jacques de Vitry: Iacobi de Vitriaco Sermones vvlgares vel ad statvs, hg. von Jean Longère. Turnhout 2013, Muessig: Audience and Preacher, S. 265 – 270. Heinemann: Ständedidaxe I, S. 73 – 75 und Franchini: Studenti e Maestri, S. 99 f. (v. a. Anm. 25).  Im zweiten Teil seines Predigthandbuches De eruditione praedicatorum stehen 100 meist sehr kurze Impulse für Musterpredigten, die an spezielle Studentengruppen adressiert sind. Die Predigt LXII ist an alle Scholaren adressiert (Ad omnes Scholares), die folgenden Predigten an gewisse Gruppen: Nr. LXIII Ad scholares in Grammatica, Nr. LXIV Ad Scholares de Cantu, Nr. LXV Ad Scholares in Logica, et in artibus liberalibus, et Philosophicis, Nr. LXVI Ad Scholares in Medicina, Nr. LXVII Ad studentes in iure communi, Nr. LXVIII Ad studentes in Iure Ciuili, Nr. LXIX Ad Studentes in iure Canonico, Nr. LXX Ad Studentes in Theologia. Ed. Humbert de Romans, De eruditione, S. 424– 567. Für weitere Informationen vgl. Edward Tracy Brett: Humbert of Romans. His life and Views of Thirteenth-Century Society. Toronto 1984 sowie Muessig: Audience and Preacher, S. 270 – 275, Heinemann: Ständedidaxe I, S. 75 – 78 und Franchini: Studenti e Maestri, S. 99 f. (v. a. Anm. 26).  Hier finden sich drei Predigten ad scolasticos et scolares (Nr. XXXIII–XXXV). Ed. Marjorie Burghart: Remploi Textuel, Invention et Art de la Mémoire. Les Sermones ad status du Franciscain Guibert de Tournai († 1284). 2 Bände. Univ.-Diss. Lyon 2013. Für mehr Informationen vgl. Franchini: Studenti e Maestri, S. 99 – 101 (v. a. Anm. 27).  In seiner Predigtsammlung Ad status et de diversis richtet sich eine Modellpredigt [a]d magistros et scolares.Vgl. Emanuele Fontana: Luca Lettore da Padova Omin. E i Sermoni del Codice Antoniano 466. In: Il Santo 47 (2007), S. 7– 104 und Franchini: Studenti e Maestri, S. 99 – 101 (v. a. Anm. 28).  Die Predigt Nr. LIX behandelt das Studium. Vgl. Les Sermons et la Visite Pastorale de Federico Visconti Archevêque de Pise, 1253 – 1277, hg. von Nicole Beriou. Rome 2001 und Franchini: Studenti e Maestri, S. 99 – 101 (v. a. Anm. 28).  Muessig: Audience and Preacher, S. 266 f. analysiert Sermo XVI und erkennt als Aussageabsicht, dass der Prediger versucht, die aufkommende Aristoteles-Begeisterung durch einen Appell an konservative Modelle zu zügeln.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

233

terat pes tuus (Sir 6,36)⁷¹ zum Thema und widmet sich zuerst der Frage, was einen würdigen Lehrer ausmache, welchen sensatus (klugen Mann) der Schüler also besuchen solle. Das ist gar nicht so einfach. So führt die Predigt aus, dass die Schüler närrisch und arm dran seien, welche die Schulen von (schlechten) Lehrern besuchten, um im Land der Blinden als Einäugige zu scheinen, und die dafür sogar weite Wege über Land und Wasser auf sich nähmen.⁷² Der Hauptteil der Predigt nennt die Eigenschaften, die ein Lehrer nicht haben solle: Er solle nicht eitel (vanus; XV, 3) sein, also die Wissenschaft ohne einen Bezug zu Gott um ihrer selbst willen praktizieren;⁷³ er solle nicht im Überfluss leben und nicht neugierig sein (superfluus und curiosus; XV, 5), da ein unmäßiger Lebensstand das eigene Lernen nur behindere,⁷⁴ die curiositas aber die Zeit und Energie der Studierenden verschwende und sie auf falsche Pfade führe;⁷⁵ er solle nicht unzuverlässig und lügnerisch sein (infidelis und dolosus; XV, 8), da er mit leerer Rhetorik mehr den Schein pflegen als dem Schüler nützen wolle⁷⁶ und – damit verbunden – solle er anderen gegenüber nicht neidisch oder missgünstig sein (invidus und malitiosus; XV, 9), also versuchen den guten Ruf anderer zu schmälern oder deren Schüler abzuwerben.⁷⁷ An dieser Stelle besonders hervorzuheben ist die Anweisung, der Lehrer solle nicht unbeständig sein (vagus und inconstans; XV, 4), wobei sich diese Anweisung vornehmlich auf eine übermäßige, oberflächliche und eklektische Lektüre bezieht, der eine fundierte und repetierende vorzuziehen sei: sicut illi qui multa perfunctorie et in transitu legunt, sed cibum non ruminant nec sibi incorporant […] Non simus igitur uagi et profugi de uno in aliud properantes et nihil retinentes. Sicut cribrum in aqua plenum uidetur, sed quando extrahitur apparet uacuum, ita isti, dum multa transeundo

 Übers. P. R.: ‚Wenn du einen verständigen Mann findest, dann steh früh auf und geh zu ihm und komme so oft, bis deine Schritte seine Schwelle abgenutzt haben.‘  Quam fatui et miseri scolares qui, ut in regione cecorum monoculi appareant, talium scolas frequentant! […] Multique alii mare transierunt, longos terrarum tractus circumierunt, ut sensatos magistros reperirent; Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 2; S. 268.  Vanus est qui scientiam suam ad Deum non refert, qui de scientia sua in seipso et non in Domino gloriatur; Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 3; S. 269.  Vnde Seneca [Sen. epist. 48, 12]: ‚Etiamsi multum superesset etatis, parce dispensandum erat, ut sufficeret necessariis. At nunc que dementia est superflua discere in tanta temporis egestate; Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 3; S. 269.  Multi quidem curiosi scolares defecerunt, scrutantes scrutinio, et in uanis atque inutilibus dies suos inaniter consumpserunt. […] Multi quidem propter curiositatem et falsi nominis scientiam corrupti sunt et abhominabilis facti sunt in studiis suis. Et quia a ueritate declinaverunt, omnes huiusmodi simul inutiles facti sunt; Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 5; S. 273 f. Der Sermo XVI der Sammlung (S. 286 – 306) konzentriert sich auf die Frage des richtigen Wissens, gibt Anweisungen für die richtige Lektüre und verwirft falsche Bücher.  Non enim fideles sunt sed dolosi qui querunt apparere, non prodesse; qui querunt gloriam suam, npn discipulorum utilitatem; qui uerborum perplexitatibus detinent auditores, quasdam subtilitates et nouitates sine fructu excogitantes; Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 8; S. 278.  Multos enim uidimus qui, aliorum fame inuidentes, detrahebant illis quos a multitudine scolarium frequentari dolebant, cum ipsi paucos haberent, licet aliis scolares subtrahere conarentur, crimen plagii committentes; Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 9; S. 280.

234

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

legunt, licet pleni uideantur, ex aquis Scripturarum remotis libris uacui remanent et inanes. Igitur utiliora ex multis debemus excerpere et diu masticando memorie commendare, ut tandem docendo effundere ualeamus. Fructus quidem arboris secundum legem esibiles erant anno quinto.⁷⁸

Den doctores wird also weniger eine Verletzung des Prinzips der stabilitas loci (vagatio corporis) unterstellt, sondern vielmehr ein oberflächliches Umherschweifen (vagatio mentis) wie auch in anderen moraldidaktischen Texten aus dem Umfeld der Schule.⁷⁹ Durch diese Ratschläge an die Schüler nimmt die Predigt dezidiert Kritikpunkte auf, die oft gegen (angehende) Gelehrte vorgebracht wurden und die sich vor allem um die Ablehnung der Gier nach weltlichem Ruhm (vanitas, apparentia) drehen.⁸⁰ Ebenso betont sie, dass Verstellung (dolus), und übermäßige Neugier (curiositas) dem Studium schaden, Sparsamkeit (parcitas) aber nützt. Der Umstand, dass sich diese Aspekte in sehr vielen Predigten in unterschiedlicher Intensität wiederholen, führt zu dem Befund, dass die Inhalte mit einem spezifischen Bild zusammenhängen, welches die Prediger (oftmals Angehörige der Bettelorden) vom Objekt ihrer Rede, den doctores, hatten oder konstruieren wollten. Denn bei vielen Kritikpunkten handelt es sich um schematisierte Muster oder rhetorische Topoi, welche auf Grundlage eines (Text‐) Vorbilds tradiert wurden.⁸¹ Demnach ist die Gier nach äußerem Schein und irdischem Ruhm abzulehnen. Der Schüler (als status aetatis) solle Gott und dem Lehrer gehorsam folgen. In der behandelten Predigt von Jacques de Vitry wird die rekurrente Ablehnung einer geistigen Instabilität (der Lehrer) um die örtliche Instabilität der Scholaren erweitert. Der Titel der Passage lautet: Contra uagos scolares qui assidue studere nolunt et

 Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 4; S. 271 f.; Übers. P. R.: ‚Wie jene, die viel oberflächlich und im Vorbeigehen lesen, aber die (Geistes‐)Nahrung nicht ordentlich kauen und sich einverleiben. […] Lasst uns nicht wie Herumstreifende oder wie Flüchtige sein, die vom einen Ort zum anderen rennen und nichts behalten. Wie ein Sieb im Wasser voll erscheint, aber, sobald man es herausnimmt, sich als leer erweist, so mögen auch die, solange sie vieles im Vorbeigehen lesen, voll erscheinen, doch vom Wasser der heiligen Schriften bleiben die entlegenen Bücher leer und nichtig. Also müssen wir das Nützliche aus vielen Büchern exzerpieren und dem Gedächtnis übergeben, nachdem wir es lange wiedergekäut haben, damit wir es endlich bei der Lehre ausgießen können. Die Früchte des Baumes sind ja dem Gesetz nach erst nach dem fünften Jahr essbar.‘  Zum Unterschied einer vagatio corporis und einer vagatio mentis vgl. Kapitel 9.1.1, zu schuldidaktischen Texten (v. a. von Pseudo-Boethius und den Predigten von Guibert de Tournai) vgl. Kapitel 9.3.2.  Dieses Herausstellen der Gier nach weltlichem Ruhm als Kennzeichen des Fehlverhaltens der Gelehren wird dadurch deutlich, dass sich die exempla, die gegen Ende der Predigt geboten werden, auf dieses Thema konzentrieren: (1) die Anekdote von Herostratos, der den Artemistempel in Ephesos niederbrannte, damit sein Name unsterblich werde (Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 10; S. 280 f.), (2) das Gleichnis vom Mann, der die gefangene Nachtigall in der Hoffnung auf größere Beute freilässt (XV, 14; S. 283 f.) und (3) die Fabel vom Frosch, der platzt, da er sich zu sehr aufbläst (XV, 15; S. 284 f.).  Dieselbe Meinung vertritt auch Franchini: Studenti e Maestri, S. 108 f. Mit seinen Geboten folgt Jacques de Vitry mithin dem allgemeinen mittelalterlichen Lehrkonzept, wie es auch in den deutschen Texten (z. B. dem Renner Hugos von Trimberg) deutlich wird. Vgl. Kapitel 9.3.3.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

235

qui in apparentia student. ⁸² Auf den ersten Blick scheint es ein Oxymoron, wenn hier von beständigen (assiduus) Unsteten (vagus) gesprochen wird, doch dies unterstreicht das Phänomen, dass Instabilität und Wandelhaftigkeit zum festen und beständigen Attribut des Schülers avancieren. Der Schwerpunkt dieser Textstelle, die einen zweiten Themenblock einleitet, der weitaus kürzer ist als die Warnungen vor falschen Lehrern, liegt auf der zweiten Hälfte des Bibelverses, also darauf, was darunter zu verstehen ist, dass die Türschwelle des guten Lehrers vom Fuß des Schülers abgewetzt werden solle: id est diligenter et assidue intende doctrine, non sicut quidam scolares qui in hyeme sunt in scolis et in estate recedunt. Alii autem euagando magistros mutant de scolis ad scolas transeuntes et nunquam libros integros uel certas audiunt lectiones. Immo atqui tantum, ut scolares reputentur et redditus ab ecclesiis quas debitis officiis defraudant hac occasione recipiant, uix semel uel bis in ebdomada scolas intrant. Et quia decretiste hora tertia legere consueuerunt, ut satis dormire possint, huiusmodi doctores sibi eligunt, ponderosa quidem uolumina coram se ad ostentationem deferri faciunt, ex quibus parum aut nichil proficiunt, quia non student ex corde sed omnia faciunt in apparentia et fraude.⁸³

Die Predigt stellt überaus detailliert und in fast schwankhaftem Ton die listigen Verhaltensweisen der Scholaren dar, dass diese nämlich ständig die Schule wechselten oder diese nur besuchten, um ein Almosen zu ergaunern. Auch ihre schweren Bücher hätten sie nur dabei, um die ‚normalen‘ Menschen (die Rezipienten der Predigt) zu täuschen. Durch diese Ausgestaltung sind weiter Momente einer Transgression der Predigt zum Satirischen hin feststellbar. Außerdem folgt die Passage einem Narrativ, das sich später im Gaunerdiskurs um 1500 findet: die betrügerische Verstellung eines ‚gelehrten Bettlers‘, der das Ziel verfolgt, sich seinen Lebensunterhalt durch ein (kirchliches) Almosen zu erschwindeln. Die Sermones ad status sind keinesfalls deskriptiv und objektiv, sondern deutlich interessengeleitet.⁸⁴ Dennoch oder gerade deshalb können sie als Merkmal für einen Wandel des gesellschaftlich Imaginären von Schülern und Studenten im 13. Jahr-

 Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 11; S. 281; Übers. P. R.: ‚Gegen fahrende Scholaren/ Schüler, die sich beständig weigern zu studieren und solche, die nur für den äußeren Schein studieren.‘  Jacques de Vitry: Sermones vulgares, XV, 11; S. 281 f.; Übers. P. R.: ‚Das heißt: Richte deine Aufmerksamkeit sorgfältig und beharrlich auf die Lehre nicht wie manche Schüler, die im Winter in der Schule sind und im Sommer wieder von dort zurückkehren. Andere aber wechseln beim Herumstreifen ihre Lehrer, wenn sie von Schule zu Schule gehen und nie unverdorbene Bücher oder bestimmte Vorlesungen gehört haben. Ja sie betreten die Schulen vielmehr nur ein- oder zweimal pro Woche, um als Schüler zu gelten und durch diese Gelegenheit Einkünfte von den Kirchen zu bekommen, die sie durch diese Verbindlichkeiten betrügen. Und weil die Dekretisten es gewohnt waren zur dritten Stunde [vormittags] zu lesen, um ausreichend schlafen zu können, wählten sie sich derartige Gelehrte aus und machten sich daran, schwere Bücher öffentlich zu Schau mit sich zu führen. Mit Hilfe dieser Bücher machten sie nicht sonderlich große oder gar keine Fortschritte, da sie das alles ja nicht aus vollem Herzen machten, sondern nur um des äußeren Scheins willen mit betrügerischer Absicht.‘  Vgl. dazu Franchini: Studenti e Maestri, S. 108 f. und 118 f.

236

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

hundert bewertet werden, als Wendepunkt und Geburt einer neuen Denkweise,⁸⁵ die auch allgemein als „Zeitalter der Stände“ bezeichnet wurde.⁸⁶ Bezüglich der Schüler betrifft diese Innovation einen Wandel von der Zuordnung als Teil des ordo clericus hin zu einem eigenen ordo. Während hier die formalrechtliche Zugehörigkeit zum Rechtskreis der Kirche – wenn auch als eigene Gemeinschaft – noch betont wird, kommt es mit dem Rückgang geweihter Schulbesucher und -lehrer schon ab dem 12. Jahrhundert zu einer Problematisierung der Identifizierung von Geistlichkeit und Bildungsträger, die im Spätmittelalter immer weiter erodiert. Während im frühen Mittelalter Alphabetisierung die hinreichende Bedingung für den Kleriker war,⁸⁷ löst sich durch die Zunahme der Lese- und Schreibfertigkeit die Bezeichnung clericus (wie auch das volkssprachige Pendant pfaffe)⁸⁸ vom geistlichen Stand und geht allgemein auf den Schriftkundigen und Gebildeten über wie im gegenwärtigen Sprachgebrauch mancher Sprachen, z. B. frz. clerc, engl. clerk. ⁸⁹ Gewiss standen die Universitätsangehörigen der Kirche nahe. Die meisten hatten vor, während oder nach ihrem Studium die niederen Weihen empfangen und die Kirche blieb „‚Arbeitgeber und Entlohner‘ mittelalterlicher Studenten, oft auch dann, wenn diese in den Dienst der Könige, Fürsten, Herren und Städte eintraten“,⁹⁰ da jeder die Universitätsabgänger mit kirchlichen Pfünden zu versorgen plante. Die Statuten der Universität und der Studentenhäuser zeigen weiter, dass ihrer Mitglieder dem Zölibat folgen sollten. ⁹¹ All diese normativen Aspekte

 „funge da spartiacque per la nascita di un nuovo modo di pensare“; Franchini: Studenti e Maestri, S. 119.  Heinemann: Ständedidaxe II, S. 308.  Zur Gleichung von clericus und litteratus vgl. die Aussage von Philipp von Harvengt († 1182): De institutione clericorum. In: PL 203, Sp. 665 – 1206, hier Sp. 816: interrogamus eum utrum clericus sit, non quaerentes scire utrum sit ad agendum altaris officium ordinatus, sed tantummodo, utrum sit litteratus. At ille ad interrogata consequenter respondens, dicit se clericum esse, si litteratus est; conversum vero laicum, si illiteratus est; Übers. P. R. ‚Wir fragen ihn, ob er ein Kleriker sei und wollen dabei nicht wissen, ob er als ordentlich Geweihter den Altardienst versehe, sondern nur ob er gelehrt sei. Und jener wird folgerichtig auf die Frage antworten und sagen, dass er ein Kleriker sei, wenn er gelehrt ist, umgekehrt aber dass er ein Laie sei, wenn er nicht gelehrt ist.‘ Diese Stellungnahme soll nicht insinuieren, dass clericus vornehmlich die Semantik des ‚Gelehrten‘ aufnimmt und die Semantik des ‚Geistlichen‘ völlig ablöst. Vgl. dazu [Art.] clericus. In: MWB 2, Sp. 713 – 717.  Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München 12 2008, S. 682 f.  Vgl. Schwinges: Der Student in der Universität, S. 185 f. und Peter Classen: Studium und Gesellschaft im Mittelalter. Stuttgart 1983, S. 17 f. Dazu passt auch die Bezeichnung der „Klerisei“ für die Gesamtheit der gelehrten Elite v. a. in anglophoner Kulturgeschichte. Vgl. Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 22014, S. 25 – 35.  Schwinges: Universitätsbesucher, S. 410.  Vgl. Wolfgang Eric Wagner: Verheiratete Magister und Scholaren an der spätmittelalterlichen Universität. In: Frank Rexroth (Hg.): Beiträge zur Kulturgeschichte der Gelehrten im späten Mittelalter. Ostfildern 2010, S. 71– 100, hier S. 71 f. und S. 98 – 100: Wagner geht umfangreicher auf die Frage der clerici uxorati ein. Er erkennt, dass das zölibatäre Leben als Forderung der Universität das Zusammenleben der Universitätsangehörigen mit den Städtern und das Zusammenleben in der universitären

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

237

rückten die Studenten in die Nähe der Geistlichkeit und sagen dennoch wenig aus. Der Rechtsstatus des clericus beinhaltete nämlich, sofern keine kirchlichen Pfründen erreicht wurden, keine Verpflichtung gegenüber einem kirchlichen oder einem geistlichen Leben.⁹² Das zeigt auch die hohe Zahl an clerici uxorati, also verheirateten Magistern, Rektoren und Scholaren. Auch wenn die Anbindung an den ordo clericus nicht völlig aufgelöst wurde, bildete sich doch die Auffassung, dass der ‚klerikale‘ Student zwischen den konventionellen Ständen zu verorten sei. Die Distanz zum Priester wurde durch die zunehmende Laisierung der Universitäten aber immer größer.⁹³ Diesem Umstand tragen Aussagen von Geistlichen Rechnung, wie bei Rupert von Deutz, der sich beklagt, dass es allgemein üblich geworden sei, jeden – gleich welchen Standes und welchen Ranges – als clericus zu bezeichnen.⁹⁴

Deutsche Predigtliteratur Es ist wenig verwunderlich, dass die weitaus größere Zahl an Texten über die Mobilität von Schülern und Studenten auf Latein abgefasst sind, da diese als clerici ja auch dem Wirkkreis der Kirche angehörten. Tatsächlich finden sich deutsche Beschäftigungen mit dem Phänomen erst in den Bußpredigten des 13. Jahrhunderts und auch hier sind sie wenig explizit. Beispielsweise kritisiert Berthold von Regensburg⁹⁵ ganz allgemein das Tragen von langen Haaren bei pfaffen und schuolern als Zeichen der Todsünden superbia (hôhvart) oder acedia (lôsheit).⁹⁶ Nur an einer Stelle in den edierten deutschen Predigten wird ein devianter ‚Fahrender Schüler‘ behandelt, und zwar in der Predigt XXIX Wie man die Werlt in zwelfiu teilt unter der Rubrik der unkiusche. Jedoch ist diese Passage textkritisch äußerst problematisch. In der Handschrift Cod. pal. germ. 24 (fol. 187v f.) heißt es:

Gemeinschaft gefördert habe und dass für viele Fachstudenten eine kirchliche Pfründe für die Finanzierung des Studiums wichtig gewesen sei. Mit einer Bepfründung aber seien die Geistlichkeit und damit der Zölibat verbunden. Im Laufe des Spätmittelalters aber hätten ausgehend von den Fakultäten der Medizin und der Rechtswissenschaften die Häufigkeit und die Akzeptanz gegenüber verheirateten Studenten und Magistern deutlich zugenommen.  Vgl. Schwinges: Universitätsbesucher, S. 410.  Vgl. Moraw: Der Lebensweg der Studenten, S. 238 und 250 f. sowie J. R. Strayer: The Laicization of French and English Society in the Thirteenth Century. In: Speculum 15 (1940), S. 76 – 86.  quo nomine designari mos est cujuscumque ordinis vel habitus valenter litteratum; Rupert von Deutz: Commentaria in Evangelium s. Joannis. In: Opera Omnia. Paris 1894, Sp. 201– 828, hier Sp. 203/204. Vgl. dazu Bumke: Höfische Kultur, S. 682.  Ich beziehe mich auf: Berthold von Regensburg: Vollständige Ausgabe seiner Predigten. 2 Bde., hg. von Franz Pfeiffer und Joseph Strobl.Wien 1862/1880. Trotz aller Unzulänglichkeiten dieser Edition wie der Beschränkung auf meist nur zwei Handschriften aus Unkenntnis der übrigen Überlieferung und die Übertragung in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch ist sie noch immer das opus citandi. Zum Handschriftenbefund und zu Abhängigkeiten vgl. Dieter Richter: Die deutsche Überlieferung der Predigten Bertholds von Regensburg. Untersuchungen zur geistlichen Literatur des Spätmittelalters. München 1969.  Vgl. Berthold von Regensburg: Predigten, Bd. 1, S. 114, Z. 19 – 21; ähnlich in Bd. 2, S. 119, Z. 15 – 21.

238

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Man seit nur ein ungleplichez mer, daz ein dirnelin mit einem si hin weg gelaufen, daz ist nüwer aht iar alt. Ir sült vwer kinde hüten; alse sie zu frevelich gebarn, so sult ir ir war nemen, vnd sült vwer dohter in flisze haben so ir zur kirchen gent ir frauwen, oder an swelhen enden ir gent. Wanne die schüllerlin wartent vil eben wanne ir usgent, daz sie vwer kint verratent. Seht von einem rate der uf unküsch geraten wart, da worden wol vier vnd zweintzig tusent libe vnd sele verlorn, daz ir niemer mere rat wirt.⁹⁷

Diese Lesart von ‚Fahrenden Schülern‘, den schüllerin die junge Mädchen verführen, wird jedoch durch den anderen Zweig des Handschriftenstemmas relativiert. So nennt die Lesart in einer Brüsseler Handschrift stattdessen diu trullerin,⁹⁸ die Kupplerin oder Betrügerin (von trüllen ‚gaukeln‘, ‚spielen‘, ‚betrügen‘, ‚betören‘), eine Vokabel die bei Berthold von Regensburg vielfach bezeugt ist, während für schüelerlin nur diese eine Stelle angeführt wird.⁹⁹ Eine endgültige Entscheidung muss ausbleiben, jedoch passt die Kupplerin besser in den aufgespannten Rahmen der Unkeuschheit, auch wenn der Schüler die lectio difficilior darstellt. Die Vorstellung von Schülern als ordnungsgefährdende Elemente des Fahrenden Volkes ist in Bertholds Predigten aber gewiss noch kein geläufiges Stereotyp. Dagegen findet man bei Berthold immer wieder Anzeichen einer konventionellen Abneigung gegen ein deviantes ‚Fahrendes Volk‘. Betrachtet man die rekurrenten Polemiken gegen die Mendikantenorden als vagierende clerici,¹⁰⁰ dann scheint es nicht weiter verwunderlich, dass der Franziskaner Berthold von Regensburg gerade dieses Bild, das auf ihn selbst zurückfallen könnte, weitgehend ausspart. Die Invektiven gegen die gumpelliute hingegen stehen eher im Kontext eines Wettkampfes um die Aufmerksamkeit des Laienpublikums, den die (mendikantischen) Wanderprediger gegen die (Sangspruch‐)Dichter führten.¹⁰¹ Dabei bedient sich Berthold einer alternativen Möglichkeit der Ständerüge: Anstatt sich an den Todsünden zu orientieren oder die negativen Derivate der einzelnen Stände hervorzuheben, stellt der Prediger alle devianten Elemente als ‚letzten Stand‘ einer Reihe von ‚ordentlichen‘ Ständen gegenüber, v. a. in seiner Predigt Von den zehen kœren der engele unde der kristenheit:

 Cod. pal. germ. 24 fol. 187v f. Die normalisierte und an vielen Stellen durch Konjekturen von der Leithandschrift abweichende Predigt findet sich auch in Berthold von Regensburg: Predigten, Bd. 1, S. 470, Z. 2– 11.  Brüssel, Königl. Bibl., ms. 11083 – 84 (Kat.-Nr. 2042) Die Handschrift wird am Rand durch den Bearbeiter Bruder Wolfhart kommentiert Am puch der chunig vinst daz gesriben (die Stelle bezieht sich aber wohl auf Num 25, 9). Vgl. Berthold von Regensburg: Predigten, Bd. 2, S. 477.  Vgl. Lexer 2. Sp. 1543 (Art. trüllen und Art. trüllerinne, trüllerin) und Sp. 823 (Art. schuolerlîn, schüelerlîn).  Vgl. die Beispiele in Kapitel 2.2.  Vgl. Hannes Kästner: „Sermo vulgaris“ oder „Hövischer Sanc“. Der Wettstreit zwischen Mendikantenpredigern und Wanderdichtern um die Gunst des Laienpublikums und seine Folgen für die mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts (am Beispiel Bertholds von Regensburg und Friedrichs von Sonnenburg). In: Michael Schilling (Hg.): Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Heidelberg 1996, S. 209 – 243.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

239

Daz sint nû die niun kœre, dâ der almehtige got due kristenheit mite geordent hât: die êrsten drî kœre und die nidern sehs, die den obern alsô dienen sulnt mit ir amten. […] Daz sult ir mit untriuwen niht velschen noch lestern, als her Luzifer. Wære der getriuwe gewesen, sô wær er niht aptrünnic worden der himelischen engelschar unde dem almehtigen gote. Wan er wolte sich ze hôhe dünken unde dankte gote der hôhen êren niht, die er an in geleit hete […] Und alsô verstôzet man etelîche von den niun kœren und alle die von der heiligen kristenheit, die ungehôrsam sint und aptrünnic sint worden an triuwen und an wârheit […]; wan der zehende kôr ist eht gar von uns gevallen und aptrünnic worden. Daz sint die gumpelliute, gîger unde tambûrer, swie die geheizen sîn, alle die guot für êre nement.¹⁰²

In Opposition zu den neun ordnungsgemäßen und gottgefälligen ‚Chören‘ steht der zehnte ‚Chor‘, der in Analogie zu Luzifer aus Hochmut von der Ordnung und damit von Gott abgefallen sei. Teil dieses ‚Chores‘ sind zuvorderst die Schausteller. Deviante Schülerfiguren sind damit aber nicht gemeint. Signifikant dafür, dass es in Bertholds deutschen Predigten noch keine feste Imagination vom ‚Fahrenden Schüler‘ gibt, ist weiter folgender Umstand: Der Erzähltyp vom ‚Mann aus dem Paradies‘ ist noch nicht – wie im beliebten Schwank des 16. Jahrhunderts „Der Schüler aus dem Paradies“ – fest mit dem Fahrenden Schüler verbunden, sondern wird unspezifisch einem trügener und lieger zugeschrieben.¹⁰³ Ab dem Anfang des 14. Jahrhunderts knüpfen an die Praxis der Ständepredigten die ‚Schachzabelbücher‘ an, welche im Bild des (zum Teil verfemten) Brettspiels eine neue Gesellschaftsmetapher etablierten. Im ersten (lateinischen) Schachzabelbuch, Liber de moribus hominum et de officiis nobilium sive de ludo scaccorum (um 1300) des Genueser Dominikaners Jacobus de Cessolis,¹⁰⁴ wird diese Tradition durch die Inszenierung als tatsächlich gehaltene Predigten im Prolog evident.¹⁰⁵ Entgegen der Einschätzung der älteren Forschung¹⁰⁶ war das Schachbuch aber nicht zur pragmatischen Umsetzung geschrieben,¹⁰⁷ sondern es handelt sich um einen „hybride[n] polygenerische[n] Text“¹⁰⁸ zwischen allegorischer Ständelehre und Exempelsammlung. Schließlich wurde der Liber de ludo scachorum sehr populär und dadurch zum traditionalen Muster für zahlreiche Nachdichtungen in verschiedenen Volksprachen, deren berühmteste für den

 Berthold von Regensburg: Predigten, Bd. 1, S. 154.  Vgl. Berthold von Regensburg: Predigten, Bd. 2, S. 18, Z. 7– 21 und S. 34, Z. 8 – 27. Dazu weiter Kapitel 12.1 und 12.2.  Zum Verfasser und zur Datierung vgl. Oliver Plessow: Mittelalterliche Schachzabelbücher zwischen Spielsymbolik und Wertevermittlung. Der Schachtraktat des Jacobus de Cessolis im Kontext seiner spätmittelalterlichen Rezeption. Münster 2007, S. 46 – 51.  Vgl. Plessow: Schachzabelbücher, S. 46.  Vgl. Ferdinand Vetter (Hg.): Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen, Mönchs und Leutpriesters zu Stein am Rhein. Nebst den Schachbüchern des Jakob von Cessole und des Jakob Mennel. Frauenfeld 1892, S. XXXVIII–XLIV und Heinemann: Ständedidaxe II, S. 316.  Vgl. Plessow: Schachzabelbücher, S. 47.  Plessow: Schachzabelbücher, S. 70.

240

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

deutschsprachigen Raum das Schachzabelbuch Konrads von Ammenhausen ist.¹⁰⁹ Durch ihre ungemeine und bis in die Frühe Neuzeit – die Bücher wurden auch in den Druck überführt – reichende Wirkungsdauer „können sie geradezu als Paradebeispiel wirkungsmächtiger didaktischer Literatur gelten.“¹¹⁰ Das Symbolpotential der Schachmetapher reiht sich ein in die älteren Metaphern der Gesellschaft als Körper oder als Schiff und in die jüngeren Metaphern als ein Räderwerk.¹¹¹ Dabei ist das Schachspiel jedoch exzeptionell durch seine Repräsentation eines gradualistischen Gesellschaftsbildes (gradus), da die einzelnen Figuren hinsichtlich ihrer Aufteilung (v. a. Bauern und Offiziere) und deren Konstellation beschrieben werden können. Während der Schwerpunkt der Körpermetapher auf dem Zusammenhalt der Gesellschaft liegt (vgl. die berühmte Parabel vom Magen und den Gliedern des Menenius Agrippa, Liv. 2, 32), hebt die Schachmetapher die ständische Trennung hervor. Die einzelnen ‚edlen Schachfiguren‘ ebenso wie die Bauern (lat. populares; mhd. venden), die die niederen Stände symbolisieren,¹¹² erfahren Lob und Kritik, werden außerdem aber stets hinsichtlich ihrer Stellung in der Gesellschaft interpretiert. Der achte vende nimmt dabei eine Sonderstellung ein, da zwei gesellschaftliche Außenseiter in das Bild aufgenommen werden, die sich noch dazu „nicht durch ihren Stand bzw. durch ihren Beruf, sondern durch ihre moralischen Verfehlungen als Gruppe konstituieren“,¹¹³ nämlich die Spieler und Verschwender.¹¹⁴ Im Gegensatz zu den anderen Schachfiguren handelt es sich bei dem achten venden also um einen Vertreter des ‚letzten Standes‘, die personifizierte deviante Randgruppe, den Außenseiter. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die Bebilderung der (lateinischen und volkssprachigen) Schachzabelbücher, die in den meisten Fällen vorliegt oder zumindest durch Aussparung intendiert ist. Dieser Umstand hängt auch damit zusammen, dass der Text konkrete Bildbeschreibungen bietet und so eine ikonographische Ausgestaltung motiviert. Die Illustrierung ist durch den Übergang in den  Der Traktat Jacobs von Cessolis ist in über 130 Handschriften allein im deutschen Sprachraum überliefert. Konrad von Ammenhausen vollendete sein Schachzabelbuch bereits 1337 und ist damit ein sehr frühes Zeugnis einer produktiven Rezeption. Die deutsche Dichtung selbst ist auch recht populär gewesen, was die 22 überlieferten Handschriften beweisen. Vgl. Plessow: Schachzabelbücher, S. 97 f. und S. 269 – 408.  Plessow: Schachzabelbücher, S. 12 und zur Rezeption vgl. S. 96 – 109.  Vgl. Plessow: Schachzabelbücher, S. 18 f.  Neben dem König und der Königin, werden die Läufer gewöhnlich als Richter/kirchliche Würdenträger oder Gelehrte, die Springer als Ritter und die Türme als Landvögte interpretiert. Die ersten sieben Venden sind der Bauer, der Handwerker (Goldschmied, Maurer, Zimmermann), der Woll- und Lederarbeiter (Weber, Scherer, Schneider, Friseur, Färber, Gerber, Sattler, Kürschner, Metzger und Schreiber wegen des Pergaments), der Händler, der Arzt, der Schank-/Gastwirt und der Stadthüter (Büttel, Wärter, Amtmann, Zöllner). Siehe die vergleichende Tabelle in Heinemann: Ständedidaxe II, S. 381– 385.  Plessow: Schachzabelbücher, S. 212.  Dass als dritte Gruppe noch die Boten als Teil dieses ‚Standes‘ wahrgenommen werden, ist verwunderlich und auch nicht explizit motiviert. Eine Erklärung könnte jedoch die Mobilität sein, die den Boten explizit, den anderen beiden Gruppen implizit zugesprochen wird.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

241

Frühdruck, sogar zum konstitutiven Merkmal des Textes geworden: Alle fünf Inkunabeldrucke der deutschen Prosaübersetzung des Schachbuches – nur diese wurde im deutschen Sprachraum überhaupt gedruckt – sind illustriert und stehen mit Ausnahme der niederdeutschen Version in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis.¹¹⁵ In der deutschen Prosafassung wird der achte vend folgendermaßen beschrieben: Vnd sol auf dem schachtzabel gestalt sein als ain man, das er hab auf seinem hawpt ain raitz, praitz har, vnd in der rechten hant drey würfel, vnd in der lenken hant ein wenig pfening, vnd an seiner gürtel ain priefvas vol prief. Pey den wurfeln in der rechten hant sind bedawtet spiler, loter vnd rufyan. Pey den pfenyg in der lenken hant sind wedawt die güftigen prodigi. Das priefuas mit priefen pedawt lawffer vnd brieftrager.¹¹⁶

Teile der historischen Forschung identifizieren diesen achten venden nun als „fahrende[n] Scholar[en]“.¹¹⁷ Diese Interpretation hat keinen unmittelbaren Rückhalt im Text, sondern rekurriert allenfalls auf die Darstellung von Außenseitertum und Mobilität. Zwar entlehnt Konrad von Ammenhausen in seiner mittelhochdeutschen Versbearbeitung das Exempel vom Sohn des Lucrêtius als Muster für einen Verschwender aus der disciplina scholarium des Pseudo-Boethius und erweitert so seine Vorlage (vv. 17094 – 17174);¹¹⁸ doch in diesem Beispiel wird allenfalls auf die Jugend und die fehlende Lenkung durch den Vater abgehoben, welche zum moralischen Abgleiten des Protagonisten und schließlich zum Tod am Galgen führt. Der Status als Schüler ist sekundär. Die Illustration und wohl sogar derselbe Druckstock wurden abseits der Gattungsreihe der Schachzabelbücher in der Kölner Inkunabel Der Boiffen Orden aus der Offizin Johann Koelhoff d. Ä. genutzt. Diese parodistische niederdeutsche Reimpaarrede aus dem Mund eines vagierenden Sprechers demonstriert neben einer Anlehnung an die oberdeutsche Texttradition des Schachbuches auch die semantische Offenheit der Darstellung für jede Außenseiterfigur. Diese Semantik einer ‚Figur des Dritten‘ übernimmt ab dem 16. Jh. der Narr, was der (ebenfalls Kölner) Neudruck des Bovenorden bei Heinrich von Neuß (um 1508) verdeutlicht, wenn er auf das Titelblatt einen Holzstich mit einem Schiff voller Narren setzt.¹¹⁹ Die Untergliederung des Gesellschaftsbildes zeigt sich schließlich im 15. Jahrhundert, wenn in Verlautbarungen der Universitätsstädte die Gesamtheit der Bevöl-

 Vgl. allgemein Plessow: Schachzabelbücher, S. 181 f. Für Überlegungen zu den konkreten materialen und ideellen Tradierungsprozessen vgl. Philip Reich: Tradierende Drucker. Überlegungen zum Traditionsverhalten in den Schachzabelbüchern deutscher Frühdrucker. In: Daphnis 47 (2019), S. 380 – 406.  Das Schachzabelbuch des Jacobus de Cessolis, O. P. in mittelhochdeutscher Prosa-Übersetzung, hg. von Gerard F. Schmidt. Berlin 1961, S. 108.  Irsigler/Lassotta: Bettler und Gaukler, S. 13 f. und ähnlich Arno Borst: Lebensformen im Mittelalter. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1973, S. 341– 346.  Vetter: Schachzabelbuch, Sp. 701– 703. Vgl. dazu Kapitel 9.3.2.  Vgl. Reich: Tradierende Drucker, S. 399 f. mit der Abb. auf S. 398.

242

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

kerung angesprochen und die Studenten explizit hervorgehoben werden.¹²⁰ Das konventionelle pfaffen unde leien ¹²¹ wurde beispielsweise in den Kölner Ansprachen um 1400 (und wieder 1435) zu pfaffe, studente, leye, vrauw off man ¹²² erweitert. In Erfurter Prozessionsplänen von 1483 heißt es schulere, pristere, studenten, monche, leyen, juncfrouwen unde frowen. ¹²³ In Leipzig und Rostock wird diese ständische Zwischenstellung der Studenten sogar durch die lexikalische Neubildung von halfpapen, also halbe pfaffen, realisiert.¹²⁴ Aus einer Zuordnung der Schüler und Studenten zum ordo clericus, in dem sie allenfalls als status aetatis erscheinen, der durch ihre spezifische Lebenssituation (Jugend und Abhängigkeit vom Lehrer) geprägt ist, wird so im Laufe des Spätmittelalters ein eigener status ordinis, der ergänzend neben die konventionellen drei (Adel, Klerus, Bauern) oder zwei (Klerus, Laien) Ständegruppen tritt. Ursache für diese Entwicklung ist dabei unter anderem die problematische Zwischenstellung des Gelehrtenstandes. Eine Gleichsetzung, dass jeder Schriftkundige auch Geistlicher war, ließ sich nicht mehr aufrechthalten. Die Eingliederung in ein stratifikatorisches System, verbunden mit einer Säkularisierung des ordo der Schüler, stellt wichtige Weichen für die Imagination des Musters vom Fahrenden Schüler, wie er ab dem Spätmittelalter in erzählenden Texten zu finden ist.

8.1.2 Ständesatiren Die Schreibform des Satirischen wurde bereits thematisiert.¹²⁵ Nun hat Ulrich Gaier in seiner einflussreichen Monographie die Ständesatire eigentlich aus dem Feld des Satirischen verbannt, indem er in der „positiv-materialistische[n] Einstellung zu Sünde und Laster“ die „Auseinandersetzung mit dem bedrohlich Unbekannten“ als Konstituens der Satire unzureichend umgesetzt sieht.¹²⁶ Dieses Verdikt Gaiers ist zu relativieren, beruht es doch auf einer qualitativen Absetzung der vorgängigen Texte,

 Vgl. zum Folgenden: Rainer Christoph Schwinges: Pfaffen und Laien in der deutschen Universität des späten Mittelalters. In: Eckart Conrad Lutz und Ernst Tremp (Hg.): Pfaffen und Laien – ein mittelalterlicher Antagonismus? Freiburg (Schweiz) 1999, S. 235 – 249, hier S. 236 f.  Vgl. Lexer 1; Sp. 1866, [Art.] leie, leige und zu Belegstellen in der Versnovellistik vgl. Beine: Wolf in der Kutte, S. 98 f.  Hermann Keussen: Regesten und Auszüge zur Geschichte der Universität Köln 1388– 1559. Köln 1918, S. 12. Es handelt sich um Morgensprachen über ein Ausgeh- und Versammlungsverbot nach 23 Uhr.  Horst Rudolf Abe: Die mittelalterliche Universität Erfurt im Spiegel der zeitgenössischen Chroniken des Hartung Cammermeister († 1467) und des Conrad Stolle († 1505). In: Beiträge zur Geschichte der Universität Erfurt 3 (1957), S. 7– 18, hier S. 12.  Paul Kretschmann: Universität Rostock. Köln, Wien 1969, S. 21 und Wilhelm Bruchmüller: Der Leipziger Student 1409 – 1909. Leipzig 1909, S. 9 f.  Vgl. Kapitel 5.2.1.  Ulrich Gaier: Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreibart. Tübingen 1967, S. 340 f.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

243

welche die innovative, epochemachende Kraft von Brants Narrenschiff hervorzuheben versucht.¹²⁷ Gewiss unterscheidet sich Brants Text von Ständesatiren wie Des Teufels Netz hinsichtlich der Offenheit der rahmenden Allegorie, der Imagination einer stabilen Gesellschaftsordnung oder der narrativen Gliederung. Der Unterschied zwischen Brant und seinen Vorgängern ist aber nur graduell, was Gaier auch selbst einräumt.¹²⁸ Zu einer Negierung des Satirischen in der Ständedidaxe besteht kein Grund, allenfalls ist von einer Konventionalisierung zu sprechen, die gewisse feste Formen ausprägt. Prinzipiell gelten dieselben Aussagen für die mittellateinische und mittelhochdeutsche Gesellschaftssatire, wobei generell eine enge Abhängigkeit der deutschen satirischen Dichtung von den lateinischen Texten nachgewiesen wurde.¹²⁹ Im Folgenden geht es – einer chronologischen Ordnung folgend – um einige Texte, in denen der Student/Schüler als Stand satirisch behandelt wird. Dabei klammere ich das weite Textfeld der Fabel, das durch semantische Verzerrung ebenso der Gesellschaftssatire dient, weitgehend aus. Hier erscheinen neben Wölfen und Hasen vor allem auch Esel als Schul‐ und Universitätsbesucher,¹³⁰ wie der Esel Burnellus im populären Speculum stultorum des Nigellus Wireker (1179/80).¹³¹  Vgl. Gaier: Satire, S. 221– 226. Damit widerspricht er ausdrücklich Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Hamburg 31967, S. 228, Rainer Gruenter: Die ‚Narrheit‘ in Sebastian Brants Narrenschiff. In: Neophilologus 43 (1959), S. 207– 221, hier S. 209 und Barbara Könneker: „Eyn wis man sich do heym behalt“. Zur Interpretation von Sebastian Brants Narrenschiff. In: GRM NF: 14 (1964), S. 46 – 76, hier S. 48. Diese drei gehen von einer engen Bindung des Narrenschiffs an die moralund ständedidaktische Satire aus.  Vgl. Gaier: Satire, S. 224.  Vgl. dazu Henkel: Gesellschaftssatire im Mittelalter, S. 110 – 114 und Heinemann: Ständedidaxe I, S. 14: „Die deutsche Dichtung ständischen Charakters steht in der Tradition einer umfangreichen lateinischen Ständeliteratur.“  Verbreitet ist die Erzählung vom Wolf, der in die Schule (auch konkret nach Paris) geht, aber nur ans Fressen denkt, daher nichts lernen kann und ohne Erfolg zurückkehrt. Erster Beleg diese Fabel ist Nivardus Gandavensis: Ysengrimus, hg. von Jill Mann. Leiden 1987 V, 541– 566. Besonders akzentuiert ist sie in der frühneuhochdeutschen Version „Der Wolf in der Schule“ (Von dem wolff vnd seinem wyb). Vgl. dazu Gerd Dicke und Klaus Grubmüller: Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen. München 1987, Nr. 644, S. 751– 755. Zum Esel vgl. Dicke/Grubmüller: Fabeln, Nr. 122, S. 132 f. Ab dem 16. Jahrhundert kommt dann noch der Hase dazu. Zu den Scherzdisputationen zur ‚Haserei‘ vgl. Tobias Bulang: [Art.] Hasenkopff, Leppisch. In: VL16, 3, Sp. 170 – 174.  Der Text ist in mindestens 40 Handschriften überliefert und wurde in mehreren Auflagen bis ins 17. Jh. gedruckt. Der Esel Burnellus gelangt auf der Suche nach einem längeren Schwanz nach Salerno, wo er einem Scharlatan (Truffator, v. 786) aufsitzt und nach Paris, wo er studieren will, aber nur das Wohlleben genießt und nichts lernt. Am Ende gründet er einen ‚Patchwork‘-Orden mit den Vorteilen verschiedener bestehender Mönchsorden. Damit erweist sich der Text sowohl als Mönchs- als auch als Gelehrtenparodie. Dies betont der Verfasser in einem beigegebenen auslegenden Brief. Ed. der satirischen Fabel in Nigellus de Longchamp: Speculum stultorum, hg. von John H. Mozley und Robert R. Raymo. Berkeley 1960, Der Brief ed. in John H. Mozley: The ‚Epistula ad Wilhelmum‘ of Nigel Longchamps. In: Medium Ævum 39 (1970), S. 13 – 20. Übers. von Fabel und Brief in Nigellus Wireker: Narrenspiegel oder Burnellus, der Esel, der einen längeren Schwanz haben wollt, hg. und übers. von Karl Langosch. Leipzig 1982.

244

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Sermones nulli parcentes und das Buch der Rügen Eine enge Verbindung der bereits besprochenen homiletischen und satirischen Schriften bieten die Sermones nulli parcentes, die ungenau in das 13. oder beginnende 14. Jahrhundert zu datieren sind.¹³² Dieser Text inszeniert sich selbst als Predigtanleitung, ist jedoch eher als unabhängige Gesellschaftssatire zu lesen. Dabei sind die Sermones in einer doppelten Reihe von vierzehn Ständen angeordnet; die eine umfasst ausgehend vom Papst die klerikale Sphäre, die andere ausgehend vom Kaiser die laikale Sphäre. Der vierzehnte und der siebenundzwanzigste Stand sind dabei jeweils aus dem hierarchischen Muster ausgenommen, da sie die klerikalen (Nonnen) respektive laikalen Frauen behandeln.¹³³ Die Ständereihen folgen also weitgehend hierarchisch absteigend folgender Reihenfolge: Papst (1), Kardinäle (2), Patriarchen (3), Bischöfe (4), Prälate (5), Mönche (6), Kreuzherren/Kreuzritter (7) und Laienbrüder (8) zu den Wandermönchen (9), weltlichen Priestern (10), Gelehrten, also Juristen und Medizinern (11), Schülern (12) und schließlich Vaganten (13). Neben der hierarchischen Gliederung wurde von Alfred Hubler auch eine Unterteilung zwischen den institutionell und räumlich gebundenen und den relativ ungebundenen Ständen postuliert, sodass die „Forderung nach stabilitas […] in diesem Gedicht also nicht auf die Mönche beschränkt“¹³⁴ bleibe. Mehrfach betont der Text, dass seine Darstellung sine omni palliatione vel adulatione (‚ohne Ummäntelung und Schmeichelei‘), also möglichst objektiv sein solle.¹³⁵ Die Frage der Diffamierung von Mobilität und der Objektivität bleiben zu diskutieren. Neben dem Umstand, dass die Sermones nulli parcentes eine prototypische Ständereihe zur Verfügung stellen, wurden sie in der Forschung auch schon früh beachtet, da sie im einzigen überlieferten Textzeugen vom Ende des 14. Jahrhunderts (Berlin, SB, Ms. germ. oct. 138) gemeinsam mit ihrer deutschen Übertragung, dem sog. Buch der Rügen (um 1320) überliefert sind.¹³⁶ Der fundamentale Unterschied zwischen dem lateinischen und dem volkssprachigen Text besteht darin, dass das Lateinische „ganz selbstverständlich auf die Tradition sowohl der antiken Literatur wie auf die der

 Die Datierung von Theodor von Karajan auf ca. 1220 entbehrt konkreter Argumente. Zur Datierung vgl. Nikolaus Henkel: „Sermones nulli parcentes“ und „Buch der Rügen“. Überlegungen zum Gattungscharakter und zur Datierung. In: Walter Haug, Johannes Janota und Timothy R. Jackson (Hg.): Zur deutschen Literatur und Sprache des 14. Jahrhunderts. Heidelberg 1983, S. 115 – 140, hier S. 122.  Buch der Rügen, hg. von Theodor von Karajan. In: ZfdA 2 (1842), S. 6 – 92, hier S. 15: quoddam opusculum sermonum rigmice compositum continens xxviij capitula minio assignata, incipiens a papa usque ad ultimum clericum et ab imperatore usque ad ultimum rusticum, tam monialibus quam aliis mulieribus non oblitis, quod unicuique nulla palliatione vel adulatione mediante debeat vindicari.  Hubler: Ständetexte, S. 179.  Buch der Rügen, S. 15.  Vgl. Nikolaus Henkel: Eine verschollene Handschrift aus St. Paul. Zur Geschichte der ehemaligen Kuppitsch-Handschrift des Buchs der Rügen. In: Peter Krämer (Hg.): Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Wien 1981, S. 67– 85. Zur Datierung vgl. Henkel: „Sermones nulli parcentes“ und „Buch der Rügen“, S. 121 f. Im Folgenden sind die Sermones nulli parcentes im Text abgekürzt als Snp und das Buch der Rügen als BdR.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

245

Bibel- und Liturgiesprache zurückgreifen“¹³⁷ kann, was dem satirischen Sprechen ganz andere Räume ermöglicht, die der Volkssprache weitgehend versperrt sind. Trotz oder gerade wegen dieser Differenzen sollen die mobilen ‚Letzten‘ der klerikalen Reihe in den beiden Texten parallel zueinander besprochen werden. Auf die Mönche, Kreuzritter und Konversen folgen also die Wandermönche. Mit einer Abwertung, die kaum stärker sein kann, werden diese mit der (nach der Benediktsregel) degenerierten Form des Mönchtums gleichgesetzt, den Sarabaiten und Gyrovagen (Snp: Ad sarabyatas et girovagos, vv. 377– 396; BdR: Den umblaufærn, vv. 591– 622).¹³⁸ Um die lateinischen Worte in Verse zu gießen, was dem Übersetzer wichtig war, wird der Beginn des Kapitels deutlich erweitert: Heizt die sarabâiten in die helle rîten und mit in gyrovagos. die tiuvel werdent iriu ros, si bessern danne ir valschez leben daz in der vînt hât gegeben. (BdR vv. 591– 596)¹³⁹

Es folgen die Vergehen der als filii perversitatis (Snp v. 391) angesprochen Standesgruppe: vor allem das Schneiden der Tonsur zum Zweck des Betrugs (mentientes per tonsuram, v. 381) und die Völlerei (pro deo ventrem elegistis, Snp v. 386). Die deutsche Übertragung hingegen stellt die Eigenschaft der Verlogenheit daneben, die mit der instabilitas der Gruppe verbunden ist: ir heizt iu schern die blatten, daz ir mügt gesatten iuwer biuche ze aller zît, loufet durch die werlde wît, swâ ir danne belîbet den valsch ir ouch trîbet. swaz iu kumt in den muot, daz dunket iuch unmâzen guot: swaz iu niht gevallet wol, das muoz bôsheit wesen vol. (BdR vv. 605 – 614)

Damit adaptieren die Texte die satirischen Darstellungsweisen in den Mönchsregeln des 6. Jahrhunderts (v. a. der Regula Magistri), die zur Diffamierung der instabilitas auch Verlogenheit und Völlerei betonen.¹⁴⁰

 Henkel: Gesellschaftssatiren im Mittelalter, S. 112.  Vgl. dazu Kapitel 9.1.2.  In den Snp heißt es dagegen: Dicite sarabaytis, | girovagis quos malos scitis: | Emendari ni velitis, | in damnationem itis. (vv. 377– 380)  Vgl. Kapitel 9.1.2.

246

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Das nächste Kapitel ist Den werltleichen priestern zugeschrieben (BdR vv. 623 – 702; Snp: Ad sacerdotes saeculares, vv. 397– 464). Als Sünden werden dieser Gruppe Simonie auf Grundlage ihrer superbia und ausschweifendes Leben, welches nicht mit ihrem Stand zusammenpasse, angelastet. Sie sind trinksüchtig, jähzornig, ausschweifend (semper estis ebriosi, | semper nimis furiosi, | semper et luxuriosi, Snp vv. 413 – 415) und brechen ständig das Gelübde der Keuschheit (continentiam vovisti, | et saepissime fregisti, Snp vv. 447 f.). Auf eine ordnungsgefährdende Mobilität hebt das Kapitel nicht ab. Nicht weniger negativ wird der Stand im nächsten Kapitel gezeichnet, welches Den artzden und den juristen (BdR vv. 703 – 754; Snp: Ad iurisperitos et phisicos, vv. 465 – 496) gewidmet ist. Die prägende Anklage wird in den Sermones nulli parcentes in der Ansprache als Filii cupiditatis (Snp v. 467) deutlich. Die Ärzte und Juristen seien nämlich so gierig, dass sie die Bedürftigen beraubten und den Antichrist damit reich machten: egenos semper spoliatis | Antichristumque ditatis. (Snp vv. 471 f.). Damit hätten sie die Menschen öfter betrogen, als ihnen geholfen: non dimittitur peccatum donec redditur ablatum?‘ […] immo, credo, decepistis multo plures quam iuvistis (Snp vv. 491– 496)¹⁴¹

Die deutsche Übertragung hält sich im Kern an den lateinischen Prätext und überträgt sogar das juristisch-gelehrte Sprichwort (‚wil du âne sünde leben, | dû muost genomenz wider geben?‘, BdR vv. 25 f.), baut jedoch die Darstellung erheblich aus. So wird die Gier durch das Bild des bodenlosen Meeres verstärkt, das ebenso topisch ist wie die Geldgier der angeführten Berufsgruppen: ir meister von der erzenî und die juristen derbî, wie sît ir sô grundelôs als daz mer, dâ wazzer grôz stæte in vliezent und sich dar in besliezent, und kan doch nimmer werden vol! (BdR vv. 709 – 715)

 Übers. P. R.: ‚Man erhält keine Sünde, solange man Erhaltenes zurückgibt? Ich jedenfalls glaube, dass ihr mehr getäuscht als geholfen habt.‘ Der zitierte Rechtssatz bezieht sich ironisch auf die Regulae iuris von Bonifacius VIII. (1298), Reg. 4 (Sp. 1122), welche sich vom Decretum Gratiani II, C. 14, q. 6, c.1 ableitet: Si res aliena, propter quam peccatum est, reddi possit, et non redditur, penitencia non agitur, sed simulatur. Si autem ueraciter agitur, non remittetur peccatum, nisi restituatur ablatum. Emil Friedberg (Hg.): Decretum Magistri Gratiani. Leipzig 1879 (ND Graz 1959), Sp. 742. In der vorliegenden Version scheint die Aussage Sprichwortcharakter zu haben.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

247

Die dilatio in der volkssprachigen Version durch Integration weiterer Topoi aus dem reichen Fundus mittelalterlicher Juristenkritik ist bezeichnend.¹⁴² Weiter wird den Gelehrten die apologetische Selbstvergewisserung in den Mund gelegt, dass sie doch so lange studiert hätten, dass sie jetzt auch gut verdienen müssten. Deshalb sei es auch legitim, zahlungsunfähige Bedürftige abzuweisen: swenne ir den armen ane seht, in iuwerm herzen ir des jeht ‚ich hân verzert ze schuole vil, daz ich wider haben wil. dû maht wol umb sust gân, ich trû dir niht gewinnen an.‘ (BdR vv. 733 – 738)

Durch die Erwähnung der entbehrungsreichen Schulzeit bindet der deutsche Text die gelehrten Juristen und Ärzte explizit an die folgende Kategorie der Schüler an, was der lateinische Text allenfalls implizit macht. Wie bei den anderen Ständen bleibt auch bei den Schülern (BdR: Den schuolæren, vv. 755 – 796; Snp: Ad scolares, vv. 497– 536) eine kritische Stellungnahme zur Missachtung einer stabilitas loci aus. Außerdem ähnelt die Musterpredigt eher einer Reihe guter Ratschläge und weniger einer strengen Standesschelte wie in den ‚Predigten, die keinen schonen‘: Haec scolaribus dicatis: Si ad gradum dignitatis promoveri cupiatis, toto nisu studeatis in virtutibus pollere. iam doceri, iam docere, semper qualiter sincere possitis domino placere. mulierculas vitetis, ne vos ipsos maculetis, sed si maculam habetis

 Hugo von Trimberg beschreibt beispielsweise im Renner den Juristenstand (vv. 8275 – 8800) und stellt die rechtmäßigen Juristen (auch hier der deutsche Erstbeleg!) den Judisten gegenüber, deren Namen er vom Verrat Judas’ und mittels einer antijudaistischen Sekundärstigmatisierung von den Juden ableitet: Juristen stênt dem rehten bî, | Judisten sint niht valsches frî (vv. 8527 f.). Vgl. dazu Erich Genzmer: Hugo von Trimberg und die Juristen. In: L’Europa e il Diritto Romano 1954, S. 290 – 336. Einige Beispiele zur mittellateinischen und -englischen Juristenkritik, die ab der Wiederaufnahme des Römischen Rechts und der Etablierung der Rechtsschulen und Universitäten in der Romania einsetzt und oftmals auch in der Kombination mit den Ärzten zu finden ist, finden sich in James A. Brundage: Vultures, Whores, and Hypocrites. Images of Lawyers in Medieval Literature. In: Roman Legal Tradition 1 (2002), S. 56 – 103, v. a. S. 66 – 87. Vgl. mit weiteren Verweisen außerdem Rebekka Nöcker: vil krummer urtail. Zur Darstellung von Juristen im frühen Nürnberger Fastnachtspiel. In: Klaus Ridder (Hg.): Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten. Tübingen 2009, S. 239 – 283, hier S. 245 – 248.

248

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

precor amodo cessetis. a taberna caveatis, quia, credo, si intratis, vix vel numquam exeatis, nisi vestibus ablatis. ibi mali sunt lusores pessimique deceptores, qui vos ducunt in errores et in maximos dolores. dolebitis, quod introistis, et ingressi quod lusistis, ludendo quod perdidistis, perdendo scolam neglexistis. et sic dolor non cessabit, sed vos amplius gravabit, donec malum findem dabit, de quo nemo vos iuvabit. ex vobis quidam procurati sunt vel beneficiati, nimis tamen inclinati sunt servire vanitati. recedentes ab altari tamen volunt honorari, cupientes plus damnari in eternum, quam salvari. elemosinis viventes, nil pro eis servientes, habent inter omnes gentes hi perversiores mentes. (Snp vv. 497– 536)¹⁴³

Den Schülern wird also der wohlwollende Rat gegeben, sich um ihr Studium zu bemühen sowie Huren, Wirtshäuser und Glücksspiel zu meiden. Zur Abschreckung werden Ehrlosigkeit und Armut als schlimme Folgen erwähnt. Außerdem sollen die Schüler nicht der Vergnügungssucht (luxuria) oder einem hochmütigen Ehrgeiz (su Übers. P. R.: ‚Folgendes sollt ihr zu den Schülern sagen: Wenn ihr auf der Karriereleiter aufsteigen wollt, müsst ihr euch mit ganzer Kraft bemühen, tugendhaft zu sein. Sowohl wenn ihr belehrt werdet als auch wenn ihr lehrt, könnt ihr immer das Wohlwollen des Herrn erreichen, wie aufrichtig auch immer. Ihr sollt die leichten Mädchen meiden, um euch selbst nicht zu beflecken, aber wenn ihr schon befleckt seid, bitte ich euch, sie von nun an zu meiden. Hütet euch vor dem Wirtshaus, weil ihr – wie ich glaube – sobald ihr eintretet, kaum oder nie wieder mit euren Kleidern herauskommt. Dort sind die üblen Spieler und die schlimmsten Betrüger, die euch in die Irre und den größen Kummer führen. Ihr werdet es schmerzlich bereuen eingetreten zu sein und, wenn ihr eingetreten seid, gespielt zu haben und im Spiel verloren zu haben und für diesen Verlust die Schule vernachlässigt zu haben. Und so wird der Schmerz nicht ausbleiben, sondern euch recht schwer belasten bis zum bitteren Ende, aus dem euch niemand helfen kann. Für manche von euch ist gesorgt oder manche sind begütert, dennoch sind sie allzu sehr geneigt, der Eitelkeit zu dienen. Sobald sie vom Altar zurückkehren, wollen sie dennoch Ehre, wobei sie eher wünschen in Ewigkeit verdorben als gerettet zu werden.Wer von Almosen lebt und überhaupt nicht für sich selbst sorgt, der ist unter allen am verdorbensten.‘

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

249

perbia) verfallen. Alle diese Aspekte sind schon häufiger in schul- und ständedidaktischen Texten deutlich geworden und erscheinen konventionell. Das Buch der Rügen hat auch hier einzelne Erweiterungen und Kürzungen. So wiederholt sich die Mahnung vor dem Bordell und dem Wirtshaus. Jedoch werden luxuria und superbia nicht gesondert thematisiert, sondern der Zorn des Lehrers und der Hass der Eltern bei pflichtvergessenem Verhalten hervorgehoben: ir kleit daz ir habt verlorn, die schuole versûmt, des meisters zorn, vater unde muoter haz (BdR vv. 785 – 787)

Insgesamt ist der Ton der deutschen Übertragung noch positiver gegenüber dem Stand der Schüler. Schon der Beginn des Kapitels rekurriert weniger auf den Aufstieg auf der Karriereleiter, sondern auf die Freude am Lernen und den allgemeinen Nutzen der Tätigkeit der jungen (oder auch älteren) Schüler: Sagt den schuolæren swâ sie sint, sie sîn michel oder kint, ‚ir sült zuo der lerne frœlich unde gerne komen zuo aller zît, wan grôzer nutze dar an lît. (BdR vv. 755 – 760)

Recht lebensweltlich scheint der Einwand des fictus interlocutor, der die Dauer des Studiums kritisiert, wobei der Text mit ausgesprochenem Selbstbewusstsein für die Sache die Bedeutung der Gelehrsamkeit betont. Denn ein gelehrter Mann könne mehr wert sein als ein König oder Kaiser, wenn der Herrscher die Gelehrten nicht als Ratgeber nutzt: lât iuch niht betrâgen ob man beginnet vrâgen ‚wie lange wil dû schuoler sîn?‘ ich spriche bî der triwe mîn, ez mac ein wol gelêrter man vür künec und vür keiser gân, sô ein leige hin dan sêt und nindert zuo ir râte gêt. (BdR vv. 761– 768)

Wie in der lateinischen Version wird am Ende des Kapitels auch auf die Bettelstudenten verwiesen und diese gewissermaßen als Folge und Inbegriff eines falschen Studiums bewertet: iuwer etelîcher hât von almousen alle rât, kirchen oder phrüenden vil, des er niht verdienen wil,

250

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

er ist an allen sinnen toup und izzet rehten rêroup.‘ (BdR vv. 755 – 796)

Zu den sinnen toup (perversiores mentes) kommt hier noch das Bild dessen, der den rêroup frisst, der seinen Lebensunterhalt also gewissermaßen aus Leichenfledderei verdient. Dieses Kausalverhältnis, demgemäß moralisches Fehlverhalten an den Bettelstab bringt, ist allgemeiner Gegenstand der gelehrten Diskussion.¹⁴⁴ Weder in den Sermones nulli parcentes noch im Buch der Rügen ist eine Instabilität bezüglich des Ortes oder der fachlichen Interessen Teil des Fehlverhaltens. Der letzte Aspekt leitet bereits zur letzten und hierarchisch tiefststehenden Gruppe der Klerikerreihe über, die auch als die moralisch tiefststehende Gruppe erscheint. Das Kapitel über diese Gruppe wird lateinisch als Ad vagos (Snp vv. 537– 548) überschrieben, während im deutschen Text der spezifisch volkssprachige Begriff Den lotter phaffen (BdR vv. 797– 828) steht, über den noch gesondert zu sprechen sein wird.¹⁴⁵ Der Sermo hält sich bei der Beschreibung dieses Standes sehr kurz. Als Grund wird angeführt, dass diese Gruppe ohnehin nur sehr geringe Chancen habe, der Hölle zu entgehen: Vagis breviter dicatis vilibus et desperatis: Iubet deus, ut eatis Ad infernum cum damnatis, nisi cito relinquatis viam verae pravitatis et de male perpetratis sibi satisfaciatis. quorum mala neque fari possunt nec excogitari, si ergo nolunt emendari, permittantur condemnari. (Snp vv. 537– 548)¹⁴⁶

Vergleicht man die vagi nun mit dem korrespondierenden Part in der laikalen Ständereihe, dann fällt auf, dass diese Passage weniger mit den aufmüpfigen Bauern des letzten Kapitels (Cap. 26: ad rusticos qui sunt rebelles) kongruiert – allenfalls die Prohezeiung höllischer Schrecken ist gleich (vv. 983 – 991) –; vielmehr entspricht die Passage, z. T. wörtlich, dem Kapitel 24 über Schergen und ihre Gesellen (Ad praecones et socios suos):

 Vgl. Kapitel 9.3.  Vgl. Kapitel 10.1.  Übers. P. R.: ‚Zu den Vaganten sollt ihr nur kurz sprechen, da sie minderwertig und ein hoffnungsloser Fall sind: Gott befiehlt, dass ihr mit den Verdammten in die Hölle fahrt, wenn ihr nicht ganz schnell den Pfad der wahren Schlechtigkeit hinter euch lasst und euch selbst etwas Gutes tut, indem ihr mit dem Bösen aufhört. Deren Schandtaten kann man weder aussprechen noch sich ausdenken. Wenn sie sich also nicht bessern wollen, sollen sie verdammt werden.‘

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

251

Post haec dicite praeconi usurario, cauponi, lusori, furi et latroni, feneratori et lenoni: Mandat daemon, ut eatis ad infernum cum damnatis, cui fidem conservatis atque bene militatis. non habere cupit gratis laborem vestrae probitatis: idcirco citius curratis, ne ingressum negligatis. (Snp vv. 929 – 940)¹⁴⁷

Die gehorsamen, ‚guten‘ Bauern im zwischenliegenden Kapitel 25 (Ad rusticos obedientes; Snp vv. 941– 972) sind bei weitem nicht so negativ dargestellt. Die Struktur des Ständegedichtes Sermones nulli parcentes – und analog des Buchs der Rügen, welches dessen Aufbau übernommen hat – ist also keine kontinuierliche degressive Doppelreihe, die vom hierarchisch (und womöglich moralisch) höchstgestellten zum niedersten absteigt. Vielmehr zeigen die einzelnen Befunde, dass sich die Struktur an etablierte Standeseinteilungen anlehnt und diese weiter ausdifferenziert. So wird bei den Laien zuerst der Adel in einer Reihe vom Kaiser über die Könige, Fürsten und Grafen, Ritter, Knappen bis zum Schildknecht besprochen (cap. 15 – 20), dann das Bürgertum, in dessen Reihe nach den Kaufleuten und Krämern die Schergen und ihre Gesellen den Abschluss bilden (cap. 21– 24). Die abschließenden Kapitel der Reihe¹⁴⁸ öffnen schließlich noch eine letzte Rubrik, und zwar die Bauern, die wieder unterteilt werden in die gehorsamen und die rebellischen Bauern (cap. 25 f.). Die Ordnung folgt mithin der konventionellen spätmittelalterlichen Aufteilung in vier Stände, die in sich hierarchisch gegliedert sind, jedoch selbst wieder eigene Rubriken erstellen, in denen eine hierarchische Binnendifferenzierung vorgenommen wird. Das heißt, dass der Wucherer zwar die letzte Position in der Ordnung der Bürger einnimmt, deshalb aber nicht unbedingt höhergestellt ist als der gehorsame Bauer. Überträgt man diese Ergebnisse auf die Klerikerreihe, kommt man zu folgender Aufteilung: die kirchlichen Würdenträger (cap. 1– 5), die (Mönchs‐)Orden und niederen Kleriker (cap. 6 – 10) und die Gelehrten (cap. 11– 13). Die Sarabaiten und Gyrovagen stehen damit zusammen mit den weltlichen Priestern am Ende der Reihe der Geistlichen (im engeren Sinne), während die Gelehrten eine neue Rubrik darstellen, an  Übers. P. R.: ‚Sagt danach dem Schergen, dem Wucherer, dem Wirt, dem Spieler, dem Dieb und dem Räuber, dem Geldverleiher und dem Zuhälter: Der Dämon, dem ihr die Treue haltet und dem ihr loyal dient, befiehlt, dass ihr mit den Verdammten in die Hölle fahrt. Er wünscht nicht, dass ihr umsonst an eurer Redlichkeit arbeitet. Rennt daher schneller, damit ihr den Einlass nicht verpasst.‘  Das 27. Kapitel steht außerhalb dieser Ständeordnung, indem es parallel zu den Frauen in der Klerikerreihe, den Nonnen, konstruiert ist. Das abschließende 28. Kapitel aber schließt an die Einleitung an und ist an die Prediger selbst gerichtet: De ipsis fratribus qui populo praedicant.

252

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

deren Ende die Vaganten stehen. Diese Aufteilung lässt den Schluss zu, dass hier eine bewusste Differenzierung zwischen Klerikern im engeren Sinne und den Gelehrten unternommen wird, was auf eine Sensibilisierung für das Problem einer ständischen Zuordnung der Gruppe der Gelehrten hinweist. Der Meinung, dass der Text nur einer konservativen bipolaren Unterteilung von Klerus und Laien folgt und dass „[v]on den drei Ordnungen […] offenbar beide Autoren noch nichts gehört haben“¹⁴⁹ ist demnach dezidiert zu widersprechen. Vielmehr folge ich der Forschungsmeinung, die den innovativen Charakter des Textes hervorhebt. So sei „neben der fast systematisch geordneten Reihung die Berücksichtigung von Ständen, die bisher noch nicht oder nur am Rande behandelt worden waren [sc. Wanderprediger und Vaganten]“,¹⁵⁰ auffallend, wie auch die Forderung nach einer Aktualisierung des Predigtstils.¹⁵¹ Es verwundert kaum, dass mittellateinische Predigten schon sehr früh auch explizit an Schüler adressiert sind. Doch diese beziehen sich auf die Zielgruppe als status aetatis, die dem erwachsenen Lehrer gegenübersteht. Im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts und ganz dezidiert in den Sermones nulli parcentes (und ihrer deutschen Übertragung im Buch der Rügen) erscheinen Schüler jedoch als status ordinis neben anderen. Die Schüler sitzen dabei ‚zwischen den Stühlen‘ des Laien und des Klerikers. In den beiden Texten wird noch ein anderer status zum Thema, und zwar die scholares vagi oder lotterpfaffen als ‚letzter Stand‘ (der clerici) und verdammenswerte Negativfolie des Schülers. Diese sind gekennzeichnet durch ihre (ziellose) Mobilität. Ein offenes Verdikt gegen das (örtliche) Vagieren bleibt aber meist implizit und wird nur sehr untergeordnet zum Gegenstand der Standesschelte. Von einer doppelten Gliederung gemäß der Hierarchie und einer Unterscheidung in mobil : immobil ist daher nicht auszugehen. Ganz im Gegenteil wird Mobilität als Eigenschaft der Wanderprediger hervorgehoben, die gemäß der Inszenierung des Gedichts als Adressaten der Predigtanleitung zu gelten haben. Zu Beginn des Prologs heißt es: Fratres, mundum qui transitis totum atque circuitis praedicantes imperitis, cum ad hoc electi sitis, rogo semper intendatis loqui verbum veritatis (vv. 1– 6)¹⁵²

 Winfried Frey: wie lange wil dû schuolær sîn? Hochschuldidaktische Überlegungen zum Buch der Rügen. In: Karl-Friedrich O. Kraft und Eva-Maria Lill (Hg.): Triuwe. Studien zur Sprachgeschichte und Literaturwissenschaft. Heidelberg 1992, S. 243 – 262, hier S. 249.  Heinemann: Ständedidaxe II, S. 313.  Vgl. Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250 – 1350. München 51997, S. 396 f.  Übers. P. R.: ‚Brüder, die ihr die ganze Welt durchquert und im Kreise herumlauft, um den Unerfahrenen zu predigen, weil das eure Bestimmung ist, euch fordere ich auf, darauf zu achten, immer die Wahrheit zu sagen.‘

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

253

Wie bei den Sermones ad status scheinen die beiden untersuchten satirischen Ständereihen primär im Umkreis der Bettelorden (hier z. B. Dominikaner) verortet, andererseits nehmen die Ständesatiren wohl Elemente aus den populären Ständepredigten auf und überzeichnen diese parodistisch. Gewiss aber sind die Musterpredigten und ihre satirischen Transgressionen wichtige Zeugnisse für die Veränderung der Möglichkeit des Sprechens über den Schüler und Studenten als spezifischen Stand.

Occultus Erfordensis Dass eine Unterscheidung von satirischem und didaktischem Schreiben im Mittelalter nicht trennscharf möglich ist, zeigt der sog. Occultus Erfordensis (1282/84) des Nicolaus von Bibra.¹⁵³ Schon der tradierte Titel als Carmen satiricum ¹⁵⁴ gibt einen Hinweis auf die Rezeptionsweise des Textes, die – wie die Forschungsgeschichte zeigt – keineswegs eindeutig ist. Nikolaus Henkel kam aufgrund inhaltlicher und stilistischer Argumente zu dem Ergebnis, dass der Verfasser der Satire „die Sermones [nulli parcentes] gekannt und benutzt“¹⁵⁵ habe. Zumindest haben sich beide Texte offensichtlich derselben konkreten Muster bedient. Der Occultus Erfordensis provoziert bereits in der Einleitung eine extrem kritische Rezeptionshaltung, indem er seine ironische Erzählhaltung betont: Sim quod yperbolicus, homo forte putabit iniquus, Vel quod ob invidiam mea scripta ferant yroniam, Aut est fortasse, qui me putat antifrasasse; […] Cedite, ficta, retro! Sint vera placentia metro! (I, 5 – 7)¹⁵⁶

Durch die übertriebene Zurückweisung der uneigentlichen Rede macht sich der Text implizit der genannten Stilmittel verdächtig. Dass der Text auch so rezipiert wurde, zeigen die Definitionen nach den Etymologiae Isidors von Sevilla, die am Rand notiert sind: Yperbole est figura excusans veritatis excessum und Yronia est figura inducens derisionem und Antifrasis est figura signans contrarium eius, quod dicitur. ¹⁵⁷ Das macht den Occultus Erfordensis zu einem „Paradezeugnis für Ironie im Mittelalter.“¹⁵⁸ Diese rhetorische Strategie wird dann im breit erzählten Ausbildungsweg des Erfurter Ju-

 Ed. und Übers.: Der „Occultus Erfordensis“ des Nicolaus von Bibra. Kritische Edition mit Einführung, Kommentar und deutscher Übersetzung, hg. von Christine Mundhenk. Weimar 1997 (Übers. im Folgenden: C. M.). Zur Datierung vgl. Mundhenk (Hg.): Occultus Erfordensis, S. 57– 60.  Zum Titel vgl. Mundhenk (Hg.): Occultus Erfordensis, S. 13 – 25.  Henkel: Gesellschaftssatire im Mittelalter, S. 106.  Übers. C. M.: „Vielleicht wird ein böswilliger Mensch denken, daß ich übertreibe oder daß mein Werk aufgrund von Mißgunst ironisch sei; vielleicht gibt es auch jemanden, der glaubt, ich sagte das Gegenteil von dem, was ich denke. […] Weg mit euch, ihr Lügen! Dem Vers soll die Wahrheit gefallen!“  Dazu Mundhenk (Hg.): Occultus Erfordensis, S. 75.  Althoff/Meier: Ironie, S. 155.

254

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

risten Heinrich von Kirchberg (dist. 1 und 2) vorgeführt¹⁵⁹ und ist auch in der Beschreibung Erfurts während des Kirchenbanns 1281– 1284 (dist. 3 und 4) präsent, v. a. in einer revuehaften Darstellung der Studenten von Erfurt, einer der wichtigsten deutschen Universitätsstädte des 13. Jahrhunderts.¹⁶⁰ Er unterteilt die Studenten in drei Gruppen: die Spieler (primo dicit de illis, qui sunt lusores et non vadunt ad scolas), die Faulen (Secundo dicit de illis, qui vadunt ad scolas et nichil proficiunt) und die Fleißigen (Tertio de illis, qui student die et nocte).¹⁶¹ Die erste Gruppe entspricht der bereits aus den Sermones ad status bekannten Identifizierung der Studenten als Betrüger und Gauner: Ex hijs sunt aliqui truffatores et iniqui, Tessere ludentes, in fraude dolove studentes, Discere nolentes, tantummodo nomen habentes. Tales seducunt alios et ad improba ducunt, Et fiunt plures decurso tempore fures. (IV, 1572– 1576)¹⁶²

Diese trügen nur wegen gesellschaftlicher Vorteile den Namen des Studenten, lernten jedoch nichts außer dem Würfelspiel. Diese Gruppe wird noch brisanter, da sie auch andere Studenten zum Bösen verführte. Als Zukunftsaussicht bleibe ihnen dann nur die Kriminalität, was die gesellschaftliche Ordnung zunehmend gefährde, da die Zahl der Diebe immer weiter zunehme. Die zweite Gruppe referiert die oppositionelle Verbindung von studium und acedia: Quidam proficere bene possent, si removere Vellent torporem; sed enim quia ferre laborem Nec studium possunt, aliquando rudes quasi bos sunt.

 Auch die ältere Forschung bewertete den Text sehr unterschiedlich. Einmal wurde er dafür gelobt, weil er „das Leben eines leuchtenden Sternes unter den deutschen Juristen im Zeitalter der Abfassung des Sachsen- und Schwabenspiegels enthält“; Constantin Höfler: Carmen historicum occulti autoris saec. XIII (aufgefunden in einer Handschrift der Prager Universitäts-Bibliothek). In: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Classe 37 (1861), S. 163 – 262, hier S. 187. Bald darauf jedoch beschreibt man diesen Protagonisten Heinrich von Kirchberg als „einen rabulistischen, um seiner Erfahrung und Bildung willen um so gefährlicheren Rechtsverdreher, der um Geld für jede Sache zu haben war“; Theobald Fischer (Hg.): Nicolai de Bibera Occulti Erfordensis Carmen Satiricum. Eine Quelle des XIII. Jahrhunderts, neu herausgegeben und erläutert. Halle 1870, S. 172. Die ironische Schreibhaltung ist hier jedenfalls unzureichend berücksichtigt.  Dazu vgl. Sönke Lorenz: Studium generale Erfordense. Zum Erfurter Schulleben im 13. und 14. Jahrhundert. Stuttgart 1989, S. 1– 58. Auch das Carmen satiricum hebt die größe der Universität Erfurt hervor. Hier heißt es: Restant adhuc nova res: ibi sunt bene mille scolares (IV, 1571); Übers. C. M.: „Eine neue Sache steht noch aus: Es gibt dort wohl tausend Studenten.“  Diese drei Rubriken stehen in unterschiedlichen Handschriften in margine. Vgl. Mundhenk (Hg.): Occultus Erfordensis, S. 238 und 240.  Übers. C. M.: „Von diesen sind etliche Betrüger und moralisch völlig verkommen, die nur Würfel spielen, Betrug und List studieren und nichts lernen wollen, sondern nur den Namen von Studenten haben. Diese verführen die anderen und verleiten sie zum Bösen, und im Laufe der Zeit werden die Diebe immer zahlreicher.“

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

255

Cattis esse pares tales ego credo scolares, Qui prandere volunt piscem, sed prendere nolunt. Quid faciet talis, si fortan presbiteralis Ordo negetur ei? Confusio fit faciei! Discat pulsare vel sacre serviat are; Sit campanista, qui noluit esse sophista! (IV, 1577– 1585)¹⁶³

Die studiositas kann schnell in die Todsünde umschlagen, mit der ja auch die curiositas verbunden ist;¹⁶⁴ in der vorliegenden Textstelle beschränkt sie sich aber freilich auf die lähmende Untätigkeit. Diese Studenten werden mit verschiedenen Tieren verglichen: dem dummen Ochsen, der mit dem Brauch der depositio cornuum im frühen 15. Jahrhundert zum Topos für den angehenden Studenten (beanus) wird,¹⁶⁵ und der Katze, die zwar den Fisch will, aber nicht weiß, wie sie ihn erreichen soll. Da er kein guter Gelehrter (sophista) werden könne, werde ihm womöglich auch der Stand des Priesters versagt (ordo presbiteralis), sodass er eine niedrige Kirchenaufgabe als Glöckner oder Mesner übernehmen müsse (campanista). Alle vier Gruppen – Student, Gelehrter, Priester und Kirchendiener – gehören also dem Rechtskreis der Kirche an, werden jedoch als einzelne Gruppen/Stände differenziert. Während der Mesner hierarchisch unter dem Priesterstand steht, kann der Student als status aetatis in der Reihe der Jugend vor dem Priesterstand stehen. Indem jedoch die Priesterwürde als Möglichkeit für den faulen Studenten eingeräumt wird, der nicht zum Gelehrten taugt, wird eine satirische Spitze gegen den Weltklerus gesetzt, die sich an anderen Stellen im Occultus Erfordensis wiederholt. Die dritte Gruppe umfasst schließlich die fleißigen Studenten: Quidam sunt hilares ad queque legenda scolares, Hijs que dicuntur, vigili mox aure bibuntur Nec cito labuntur, memori sed corde teruntur. Hij sicco pane sustentant corpus inane, Surgentes mane non ducunt tempora vane. Hij de fonte bibunt et synkathegreumata scribunt Fontem cottidie sitientes philosophie; Nocte dieque pari non desistunt operari. (IV, 1586 – 1593)¹⁶⁶

 Übers. C. M.: „Andere könnten gute Fortschritte machen, wenn se nur ihre Trägheit überwinden wollten; aber weil sie weder Arbeit noch Mühe ertragen können, sind sie bisweilen dumm wie ein Ochse. Diese Studenten kommen mir vor wie Katzen, die zwar Fisch fressen möchten, ihn aber nicht selbst fangen wollen. Was wird so einer machen, wenn ihm vielleicht die Priesterwürde verweigert wird? Ein langes Gesicht! Er soll lernen, die Glocken zu läuten oder den heiligen Altardienst zu versehen; Glöckner soll sein, wer nicht Gelehrter werden wollte!“  Vgl. Kapitel 9.1.1.  Der beaunus wird im Rahmen dieses gewalttätigen Initiationsrituals als ungehobeltes Tier (pecus campi) inszeniert, dessen ‚Hörner‘ abgeschliffen‘ werden mussten. Vgl. dazu Schwinges: Mückensenf und Hellschepoff, S. 11– 15 und Marian Füssel: Riten der Gewalt. Zur Geschichte der akademischen Deposition und des Pennalismus in der frühen Neuzeit. In: ZHF 32 (2005), S. 605 – 648, hier S. 615 f.  Übers. C. M.: „Etliche Studenten sind munter dabei, alles zu lesen. Was ihnen gesagt wird, wird mit aufmerksamem Ohr aufgenommen und nicht gleich wieder vergessen, sondern im Herzen, das nichts

256

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Diese Gruppe folgt ausgesprochen intensiv den Geboten der studiositas und der parcitas, wobei ihr übertriebener Fleiß zwar gelobt wird, diese Übertreibung jedoch einseitig die actio betont und damit das Gleichgewicht zur contemplatio gefährdet, also auch nicht uneingeschränkt positiv zu bewerten ist.¹⁶⁷ Die fleißigen Studenten könnten verschiedenste Berufe erlangen, die anaphorisch aneinandergereiht werden, teilweise jedoch nicht so ganz zusammenpassen wollen: Die Reihe (IV, 1597– 1604) beinhaltet nämlich neben (hohen) kirchlichen Ämtern (Prälat, Bischof, Propst, Priester, Dekan, Kanoniker) auch die amici virtutis (Tugendfreunde?), Rompilger (romipete), Privatsekretäre (magnorum scripores […] dominorum) und sogar Dichter (poete). Darauf, dass die Reihenfolge der verschiedenen Ämter des fleißigen Studenten wie auch der drei Arten von Studenten insgesamt satirisch gebrochen ist, weisen folgende Verse hin. Horum doctores posuissem iure priores, Utpote maiores; nec in hoc sunt deteriores, Nam puto non esse, servetur ut ordo, necesse. ¹⁶⁸

Da eine feste Reihenfolge oder ein regulärer ordo als unnötig verworfen wird, verliert auch das Lob der fleißigen Studenten seine Eindeutigkeit. Die ergebnisorientierte Strebsamkeit, der die Kontemplation und Durchdringung des Gelesenen im Herzen fehlt, wird so auch zum Objekt der Satire. Damit deckt sich die implizite Kritik bei Nicolaus von Bibra mit der expliziten in den deutschen schuldidaktischen Texten, z. B. bei Hugo von Trimberg.¹⁶⁹

Der Kleine Renner Hugo von Trimberg verfasste 1300/1314 mit seinem Renner einen universalen und überaus populären schuldidaktischen Text.¹⁷⁰ Jedoch orientiert er sich nicht an einer

vergißt, zermahlen. Sie ernähren ihren ausgemergelten Körper mit trockenem Brot, stehen früh auf und vergeuden keine Zeit. Sie trinken nur Quellwasser, schreiben philosophische Abhandlungen und dürsten täglich nach dem Quell der Weisheit; Tag und Nacht gleichermaßen hören sie nicht auf zu arbeiten.“  Dazu z. B. der recht einflussreiche Traktat De contemplatione (Benjamin Maior) des Richard von St. Victor († 1173). Vgl. Marc-Aeilko Aris: Contemplatio. Philosophische Studien zum Traktat Benjamin Maior des Richard von St. Victor. Mit einer verbesserten Edition des Textes. Frankfurt a. M. 1996, S. 5 und 131 f.  Übers. C. M.: „Ihre Lehrer [oder die Gelehrten] hätte ich eigentlich an erster Stelle behandeln müssen, da sie ja ranghöher sind. Aber in dieser Sache stehen die Studenten ihnen in nichts nach, und so halte ich es nicht unbedingt für nötig die Reihenfolge einzuhalten.“ [Anm. und Herv. P. R.].  Vgl. oben und Kapitel 9.3.3.  Mit über 65 Textzeugen gehört der Renner zu den meistverbreiteten deutschsprachigen Texten des Mittelalters, wobei die meisten Handschriften auf die Zeit von 1400 bis Mitte des 15. Jh. zu datieren sind. Vgl. Rudolf Kilian Weigand: Der „Renner“ des Hugo von Trimberg. Überlieferung, Quellenabhängigkeit und Struktur einer spätmittelalterlichen Lehrdichtung. Wiesbaden 2000, S. 143 – 152. Das Repertorium

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

257

ständischen Gliederung und behandelt die Schüler durchgehend als status aetatis. ¹⁷¹ Anders verfährt ein späterer Text, der bereits im Titel plakativ auf die didaktisch-enzyklopädische Dichtung Hugos von Trimberg bezogen wird: der anonyme sog. Kleine Renner, der 1330/50 in Franken oder Thüringen entstand.¹⁷² Er nimmt einige Formulierungen aus seinem Prätext, verhält sich also traditionsaffirmativ; dennoch steht er inhaltlich den Ständereihen der Sermones ad status und (lateinischen und deutschen) Ständesatiren näher als seinem Namensverwandten.¹⁷³ Die intradiegetische Ausgangssituation bildet eine kontemplative Reflexion des Erzählers ähnlich einem ‚Kamingespräch‘: Ein abents do was ich gesessen Alleine Inn meinem gemach Vnd gedachte an vil wunderliche sache, Die ich hab gesehen und erfarn […] Wan leider nuͤ der prieserschafft In den geseczin nicht mer behafft, Das man yczundt moge herkennen hie bay, Wer do pfaff oder leye sey. (vv. 8 – 20)

Dieser konventionellen Zweiteilung in Pfaffen und Laien folgt ganz grob auch der Text. Eine Besonderheit in der Reihung ist jedoch, dass er nicht nur die Gesellschaftsstände aneinanderreiht, sondern auch einige abweichende Personen- oder Lebensstände eigens aufnimmt und damit eine feste Ordnung des Klassifizierungsmusters verhindert.¹⁷⁴ Die thematisierten Stände sind im ersten Block (1) der Papst, (2) die Amtleute, (3) die jungen Leute, (4) das einfache Volk, (5) die Prälaten, (6) Mönche und (7) Schüler und in einem zweiten Block (8) die Ritter, (9) Richter, (10) Handwerker, (11) Bediensteten, (12) Bauern, (13) Eheleute und (14) Witwen. Das Gedicht endet mit dem Jüngsten Gericht, auf das die Unsitten der Stände verweisen: Hyr an habt ir wol vernomen, Das der ende crist wol komen, Wan diß alles vorspil sindt. (vv. 391– 393)

https://handschriftencensus.de/werke/653 [Stand 5.10. 2020] listet sogar 70 Handschriften (davon 17 Fragmente).  Zur Darstellung der Mobilität von Schülern und Lehrern im Renner vgl. Kapitel 9.3.3.  Zum Titel, zur Lokalisierung und zur Datierung vgl. Wolfgang Bührer: Der kleine Renner. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Ständesatire. Mit kritischer Ausgabe des Textes nach der einzigen Handschrift. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 105 (1969), S. 1– 201, hier S. 70 – 83.  Vgl. Bührer: Der kleine Renner, 126 – 145.  „Die Aufnahme von Lebensständen […] und ihre Stellung im System der Stände […] entsprechen der mittelalterlichen Vorstellung vom ‚Stand‘-Charakter der Lebensstände, für die – wie etwa für die verschiedenen Gruppen der Religiosen – eine bestimmte regula bindend sein sollte“; Heinemann: Ständedidaxe II, S. 338.

258

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Im Kleriker-Block werden die Schüler als eigener status als letzte behandelt (7). Jedoch bekommen die jungen Leute (3) eine gesonderte Rubrik. Hier klagt der Sprecher, dass die jungen Leute keine Disziplin mehr hätten, dass sie das schändliche Verhalten aber von ihren Eltern gelernt hätten, die nur darüber lachten. Wie die Disziplin seien auch die Weisheit und Frömmigkeit von damals vergangen: Die czucht ist gar von den Iungen, Sie werdenn czu tugend geczwungen. Nun leren sie die eltern vort Böse sitten vnd schentliche wortt. Irre vntugent sie nuͤ lachen Vnd sich mit In czu schanden machen. Ettwan die leute phlegen, Das sie ire kindt cziehen Czu weyßheit vnd frombkeit, Do sein sie nun wenig czu bereitt. Wer nun nicht spilt vnd boßlich spricht, Der taugt In Irer geselschafft nicht. Das clage ich heüt vnd ymmer mere, Das tugent vnd czucht also sol vergen. (vv. 69 – 82)

In dieser laudatio temporis acti kommen zahlreiche Elemente vor, die in anderen Thematisierungen dieses Standes Schülern zugesprochen werden, wie fehlende Disziplin (Fluchen, Glückspiel) oder mangelnder Gehorsam gegenüber den Eltern. Von den Iungen behandelt also explizit einen status aetatis. Die Schüler (7) hingegen werden für ihre Verschwendungssucht (luxuria) kritisiert, die sich vornehmlich in Kleidergewohnheiten niederschlägt: Die schuler leyden nun keynen getwangk. Die kappen breit, die czipfel lang, Die sie vumb die keppffe binden. Die hende sie mit prysem [Besatz am Gewand] bewinden. (vv. 193 – 196, Anm. P. R.)

Mit Studium und Büchern hätten die Schüler gar nichts mehr zu schaffen, stattdessen widmeten sie sich dem Glücksspiel, amourösen Beziehungen und begingen nächtliche Ruhestörung, weshalb sie den Hass der normalen Leute (leyen) auf sich zögen: Nach taffeln vnd griffeln sie wenig fragen, Gelt vnd wurffel sie bey in tragen. Der fleiß vnd der bucher lere Ist von den schulernn gar. Man findt sie ee bei den weyben, Denn das sie lesen oder schreiben. Sie singen die reyen auff der gassen, Darvmb sie die leyen hassen. (vv. 197– 204)

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

259

Auch ansonsten definieren sich die Schüler vornehmlich über äußere Merkmale und würden, sobald sie irgendwelche Fertigkeiten (Singen, Lesen oder Schreiben) erworben hätten, sofort voll prahlerischen Übermuts die Schule verlassen. Auch wenn es solche Schüler zu einer bepfündeten Pfarre brächten und pfaffen würden (der Begriff wird hier also exklusiv für den ordentlichen Geistlichen genutzt), blieben sie doch Narren: Wann der schuler het einen rock, So ist er mutig rech sot. Hat er dann einen schonen hut, So dunckt er sich czu mal gut. Kan er dann ein muttetten gesingen, So wil er sich nymmer lassen czwingen. Kan er dann einen brieff geschreiben, So wil er nicht In der schule bleiben. Also bleiben sie thoren vnd narren Vnd sten danoch noch grossen pfarren Vnd wollen pfaffen werden. (vv. 205 – 215)

Das Kapitel endet mit einer Weltklage und der Frage, wie es so weit hatte kommen können, dass solche Narren, die die Heilige Schrift beim Tanz mit der Kupplerin gelernt hätten, die Pflichten eines Priesters übernehmen könnten. Dabei hebt der Text vor allem auf den Predigtdienst ab. Die Schüler sprächen dabei über die Sünden der anderen, ignorierten aber die eigenen. Denn sie seien wie die Schafe und Ziegen am Jüngsten Tag (vgl. Mt 25,31– 46).¹⁷⁵ Diese Kritik an der Überheblichkeit der Schüler deckt sich mit einigen Textstellen bei Hugo von Trimberg,¹⁷⁶ die Darstellung des Fehlverhaltens der Schüler aber ist in dieser Explizitheit und so früh einzigartig in der deutschen Literatur und sie erinnert vielmehr an die ausufernde Standesschelte der Studiernarren in der späteren Narrenliteratur, die in die Alamode-Kritik übergeht.¹⁷⁷ Im Kleinen Renner verdichten sich also Anhaltspunkte dafür, dass es eine Tendenz gibt, den Schüler oder Studenten nicht mehr als Repräsentanten einer Lebensphase zu sehen, sondern als eigenen status ordinis.

 Als vbel stet sie dann auff erden. | Wer hat sie denn die schrifft gelertt? | Frawe mecze, die an dem tancze get! | Wan sie kunen ein meß gesingen, | Noch kunst vnd weyßheit sie weig ringen, | Vnd kunnen die heiligen tag verkundigen | Vnd sagen den lewten von grossen sunden. | Sie sagen den leuten, si sollen czu himele komen, | Sie gedencken als an Iren frommen. | Gar wenig stellen sie sich, | Das sie selber wollen czu himelreich. | Sie gedencken, das die schaf werden geschorn, | Vnd nicht, das sie darvmb sein verlorn, | Vnd das er muͤ ße fur due garnn | Vnd nicht kunne sein sele bewarnn. (vv. 216 – 230)  Vgl. Kap. 9.3.3.  Vgl. dazu z. B. Weltspiegel oder Narrenschiff 1574 in Kapitel. 5.2.2.

260

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Des Teufels Netz Einen vorläufigen „Höhepunkt deutscher Ständedichtung“¹⁷⁸ bildet hinsichtlich äußerem Textumfang und innerem Differenzierungspotential das Lehrgedicht Des Teufels Netz (Des tüfels segi) aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts.¹⁷⁹ Den allegorischen Rahmen bildet eine Verführungssituation durch den Teufel. Dieser versucht einem Eremiten durch die schiere Menge der ihm Verfallenen zu imponieren und diesen von seiner Macht über die Welt zu überzeugen. Nach einem Disput, der analog zu anderen homiletischen und didaktischen Texten an den Todsünden und den Zehn Geboten orientiert ist (vv. 267– 2823), folgt im quantitativen Hauptteil eine Liste all jener Stände und Gruppen, die dem Teufel ins Netz gehen: Wan ich dir in ganzer warheit sag Das ich all die welt in min sege jag, Gaistlich und weltlich die züch ich allsampt an mich. (vv. 2826 – 2829)

Als Grund für seinen Erfolg nennt der Teufel – ähnlich wie im Buch der Rügen ¹⁸⁰ – die Auflösung der ständischen Ordnung: Nun wisset das uns nie als wol ist worden, Won es halt nieman sin rechten orden. (vv. 2887 f.)

Für die Frage der Standeszugehörigkeit der Schüler ist interessant, dass diese als eigene Gruppe zwar nicht vorkommen, jedoch die ‚Schulmeister‘ (vv. 11705 – 92) und damit der ganze Bereich der Schule in die weltliche Texthälfte oder durch die Anbindung an die ‚Kirchenpfleger‘, ‚Küster‘ und ‚Pfaffenweiber‘ zumindest in die klerikale Peripherie gerückt wird. Interessant ist weiter, dass ansonsten dezidierte Zuschreibungen an den Studenten auf den Schulmeister übergehen: Wan so si soltind singen, lesen, studieren, | So gand si lieber ze nacht hofieren | Und land die schuoler gan irre, | Als der wolff die schaf tuot wirren. (vv. 11713 – 16). Außerdem wird im Lehrgedicht offensichtlich, dass es im 15. Jahrhundert und damit in der Inkubationszeit der Bettelordnungen entstanden ist. So verdichten sich verschiedene Stereotype von den weltlichen Bettlern, nämlich der Unterschied zwischen ‚würdigen‘ Bettlern (vv. 6305 – 33) und ‚falschen‘ Bettlern, die durch Verstel-

 Heinemann: Ständedidaxe II, S. 332.  Ed. Des Teufels Netz. Satirisch-didaktisches Gedicht, hg. von Karl August Barack. Stuttgart 1863. Ich folge dieser Edition, auch wenn diese nach heutigem Stand eigentlich unzureichend ist. Vgl. dazu Georg Hofer: Zur Arbeit am Teufelsnetz. In: Alessandra Molinri (Hg.): Mittelalterphilologien heute. Eine Standortbestimmung. Teil 1: Die germanischen Philologien. Würzburg 2016, S. 203 – 213. Zur Überlieferung und Datierung vgl. weiter Anke Ehlers: Des Teufels Netz. Untersuchung zum Gattungsproblem. Stuttgart 1973, S. 16 – 25.  Viele Parallelen zwischen den beiden Texten analysiert Ehlers: Gattungsproblem, S. 120 – 125.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

261

lung,¹⁸¹ Verschwendung¹⁸² und Faulheit¹⁸³ gekennzeichnet werden. Die falschen Bettler seien vagierende Landstreicher, die durch das Vorspiegeln falscher Tatsachen und fingierter Behinderungen ein unrechtmäßiges Almosen ergaunern: Tag und nach uf daz bettlan stat, Davon er denn niemer mer lat. Das land wil er durchstrichen, Er wolt nit sin so richen Das er des bettelns möcht enbern. Er begert nit mer kainr ern. Landstricher und stirnenstöffel Sind tag und nacht vol: Das tuond si armen lüten abstraiffen Mit hinken, biegen und graiffen, Das si vor den lüten tuond. Wenn si über land gand Zuo den ainfaltigen lüten, So kummend si in abbetüten Flaisch, salz, smalz und kæs So tragend darzuo das bœst hæs. (vv. 6350 – 65)

Neben dem Simulieren einer falschen Behinderung oder Krankheit (krumppfen und gel) gehen sie einem Gelderwerb durch mantische und magische Praktiken nach, wie der Astrologie und Wetterzauberei. Beide Verhaltensweisen werden dabei mit Betrügerei (lekri und lottri) gleichgesetzt: Si kunnen sagen vom vinstern sternen Und tuond die lüt segen lernen Für den donder und den hagel. Si kunnen sich machen kumppfen und gel Und susz vil ander lekri: Das alles ist ain recht lottri (vv. 6366 – 71)

Diese Formen der Hochstapelei rufen verschiedene Imagination von Betteltypen auf, und zwar zum einen den ‚normalen‘ Betrüger und zum anderen den Hochstapler, der magische Gelehrsamkeit vorspielt. Im Epilog seiner Rede zählt der Teufel einige besonders verworfene Gruppen auf, wobei sich diese zu einer langen konnotativen Reihe devianter Gesellschaftsgruppen auswächst. So nennt er zuerst den Spieler in seinen verschiedensten Ausprägungen: spilar, rasslar und topplar, […] | Walar, bosar mit unrecht

 Si tuond ain haller umb ain krützer geben. | Si muossend gebett und andacht pflegen | Ald es stünd gar falsch ir leben (vv. 6288 – 6290).  Die ir hab uppklich hand vertan | Und muossend nun bettlen gan. | An denen wirt gerochen | Was si ie wider got hand gesprochen | Und das ir uppklich hand verzert, | Damit si sich soltind han genert. | Das tuot inan nun ze handen gan, | Das si grossen mangel muossend han (vv. 6297– 6304).  Liederliche und recht fulkait | Tuot den lüten vil ze laid | Und bringt si zuo armuot (vv. 6338 – 6340).

262

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

triben | Die sind all in die segi geschriben, | Würffelleger, bretlicher und zuoluoger | Sind mir all nit gar unmær (vv. 13319 – 24). Darauf folgen verschiedene Gruppen des schaustellerischen Gewerbes. Unter diese zählt der Teufel auch die ‚Fahrenden Schüler‘: Schellenslaher, gogler und affer Sind mir all nit unmær. Varend schuoler und buoban Sind all uppig man. Sprecher, schelter und varend lüt. Stekend recht in ainr hüt. Riffion und all bübsch man Muos ich all in der segi han. (vv. 13336 – 43)

Zu diesem Potpourri unehrlicher Berufe kommen noch die Räuber (Schecher, röubar und dieb […] | Kilchenbrecher und och brenner, vv. 13344 – 46), die Lügner, Heuchler und Betrüger (Main swerer und main tæter, | Lotter, glisner und verræter, | Klaffer, lüssmer und speher, Landzwinger und heller […] | Darzuo trieger und och lieger, | Bieger, zaner und trieger | Lugnar, trugnar und spottar, vv. 13348 – 59). Dieses ganze Feld jedoch bezeichnet er – noch mehr als die ‚verdorbenen‘ Vertreter der anderen Stände – als des tüfels hoffgesind (v. 13362). Gerade der ausgebreitete Ständeteil von Des Teufels Netz bietet eine differenzierende und laiendidaktische Ausweitung eines Schemas, das durch den Anspruch, möglichst alle Stände mitsamt ihren Lastern (und zum Teil Besserungsvorschlägen) vorzuführen,¹⁸⁴ zur ständeenzyklopädischen Dichtung¹⁸⁵ wird. Dabei ist einerseits eine wechselseitige Beeinflussung durch den Stil der Predigtliteratur, andererseits eine Rückwirkung auf diese festzustellen, indem sie ein reiches Stoffreservoir für Ständepredigten bereitstellt; der Text verfährt ähnlich wie die Sermones ad status und überträgt deren Strukturschema auf die Volkssprache.¹⁸⁶ Auch wenn die Bezeichnung ‚Fahrender Schüler‘ hier nur am Rand vorkommt, ist doch auffällig, dass diese – wie auch lotterpfaffe – in großer Nähe, wenn nicht synonym, mit den Gauklern und anderen Schaustellern genutzt wird. Auf jeden Fall benennt sie eine Personengruppe, die dezidiert deviant und dem Teufel verfallenen ist.

Die Teufelsszenen im Geistlichen Spiel Eine große Schnittmenge mit Des Teufels Netz ¹⁸⁷ haben die Teufelsszenen im Geistlichen Spiel.¹⁸⁸ Neben dem (sesshaften) Bürgertum, dem Klerus und arrivierten Gelehr-

 Vgl. Ehlers: Gattungsproblem, S. 151 f.  Der Begriff ist formuliert in Anlehnung an Bulang: Enzyklopädische Dichtungen.  Vgl. Heinemann: Ständedidaxe II, S. 341.  Vgl. zu den Parallelen Ehlers: Gattungsproblem, S. 110 – 114 und 133 – 135.  Dieser Exkurs zum mittelalterlichen Theater beschränkt sich auf das Geistliche Spiel, da sich dieses inhaltlich eng an die Ständereihen und die Predigtliteratur anschließt, die in diesem Kapitel

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

263

tentum konnten gerade auch Schüler und Studenten, also angehende Gelehrte, durch die Analyse von Rollenverzeichnissen und anderen Quellen als zentrale Trägerschichten des spätmittelalterlichen (vorreformatorischen) deutschsprachigen Geistlichen Spiels ermittelt werden.¹⁸⁹ Trotzdem (oder genau deshalb) gehören die Schüler auch nicht zu den typischen Rollen. Die Ständereihen, die sich im Gegensatz zum lateinischen Geistlichen Spiel als ein fester Bestandteil des volkssprachigen Osterspiels etablierten,¹⁹⁰ nehmen eine interessante literarhistorische Stellung ein, welche die historische Transformation traditionaler Muster an einer Textreihe vorführt. Fester Teil der Teufelsspiele, die untrennbar mit dem geistlichen Osterspiel verbunden sind, ist eine (satirische) Ständerevue.¹⁹¹ Diese Ständereihe schließt unmittelbar an das österliche Geschehen an, indem sie die Aussendung der Teufel thematisiert, die nach der Befreiung der Altväter aus der Vorhölle ‚frisches Material‘ unter den Menschen suchen sollen.¹⁹² Auch wenn die Überlieferung dramatischer Literatur des Mittelalters sehr fragmentarisch und deshalb problematisch ist, lässt sich dennoch eine (vage) Abfolge innerhalb der Ständereihen dahingehend rekonstruieren, ob und wie Schülerfiguren vorkommen. In den meisten älteren Teufelsspielen fehlen Schüler.¹⁹³ Im Brandenburger Osterspiel-Fragment (um 1400)¹⁹⁴ werden zwar in einer Reihe geistlicher Stände (vv. 46– 67) scholasticos (wohl Gelehrte) und scolere genannt, es bleibt aber bei dieser Nennung. Das ältere Innsbrucker Osterspiel (ludus de resurrectione domini) aus

besprochen wurden. Die zweite große Gattung mittelalterlicher Dramentexte, die Fastnachtspiele, sollen im nächsten Teil (vgl. Kapitel 10.2.2) besprochen werden, da diese durch ihre schwankhafte Schreibart eher an die Versnovellen anknüpfen. Von Hans Sachs wurde das Fastnachtspiel schließlich fortgesetzt und maßgeblich geprägt. Vgl. dazu Kapitel 12.2.  Zum Beispiel verzeichnet ein Rollenverzeichnis aus dem 15. Jahrhundert einen „Bacc[alaureus]“; vgl. dazu Bernd Neumann: Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. München 1987, Bd. 1, S. 122 u. ö. Dazu auch Glier: Reimpaargedichte, S. 170 f. Sie betont außerdem, dass keine Fahrenden als Trägerschicht des mittelalterlichen Theaters anzunehmen sind. Im lateinischen Theater würde sich der Befund, dass es sich um Schüler-, Studenten- oder Gelehrtendichtung handelt, wohl noch verstärken. Dies zu analysieren würde jedoch den Rahmen sprengen.  Vgl. Rolf Max Kulli: Die Ständesatire in den deutschen geistlichen Spielen des ausgehenden Mittelalters. Einsiedeln 1966, S. 18  Vgl. Rainer Warning: Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels. München 1974, S. 74 f. Warning betont ferner, dass das Teufelsspiel „nicht etwa die Feier säkularisiert, sondern daß es ebenso wie jene einen kultischen ‚Sitz im Leben‘ hat.“  Zur Verortung vgl. Kulli: Ständesatire, S. 18 f. und Ute von Bloh: ‚Spielerische Fiktionen‘. Parasitäre Verselbständigungen einzelner Szenen aus Geistlichen Spielen (‚Erlauer Magdalenenspiel‘, ‚Melker Salbenkrämerspiel‘,Vigil Rabers ‚Ipocras‘. In: Ursula Peters und Rainer Warning (Hg.): Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Paderborn 2009, S. 407– 432, hier S. 414 f.  Eine Übersicht zu den Ständen in den Oster- und Passionsspielen bieten Ludwig Wirth: Der Stil der Oster- und Passionsspiele bis zum 15. Jahrhundert. Halle a. Saale 1888, S. 38 und Kulli: Ständesatire, S. 134 f.  Ed. Das Brandenburger Osterspiel. Fragment eines neuentdeckten mittelalterlichen geistlichen Osterspiels aus dem Domarchiv in Brandenburg/Havel, hg. von Renate Schipke und Franzjosef Pensel Berlin 1986.

264

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts folgt zumindest dem Schema eines ‚letzten‘ deviant-sündigen Standes, wenn es unter den sieben Seelen, die Luzifer vorgeführt werden, auch den helser anführt. Dieser bittet: Gnade, here Luzifer, | ich waz eyn helser, | ich helste dye mayt umb eyn lot | dye frawen umb eyn brot (vv. 402– 405). Sein Wunsch wird ihm auch aus ganz pragmatischen Gründen gewährt, da sich Luzifer vor dessen Promiskuität und sexueller Potenz fürchtet: Sathan, lyber gesele, | den brenge nicht in dye helle, | kommt her in dye helle myn, | wir musten alle kebes kinder sin. (vv. 406 – 409). Es ist auffallend, dass sich dieses Narrativ in den späteren Teufelsszenen wiederholt, wenn eine Seele vom Höllentor abgewiesen wird. Nur einmal (im Redentiner Osterspiel) ist die Geistlichkeit der Grund für die Ablehnung, da sie den Teufeln unangenehm ist.¹⁹⁵ Die für den Teufel als gefährdend empfundene Promiskuität aber begegnet in zwei Texten: im Wiener Passionsspiel vom Anfang des 14. Jahrhunderts bei der Figur des Dominikanermönchs¹⁹⁶ und im Erlauer Magdalenenspiel (ludus Marie Magdalene in gaudio, Erlau IV) im 15. Jahrhundert bei Schülern/Schreibern (und einem Mädchen!).¹⁹⁷ Es ist signifikant, dass schwankhafte Darstellungen devianter Schülerfiguren erst im chronologisch letzten Dramentext vorkommen. Das Erlauer Legendenspiel ist eine Kombination aus dem österlichen Teufelsspiel und Szenen aus den Passionsspielen, welche die Verführung von Maria Magdalena durch den Satan auf die Bühne bringen (Magdalenenspiel). Das Teufelsspiel bietet hier gewissermaßen einen ‚Prolog in der Hölle‘. Es stellen sich zuerst einige Dämonen vor, wobei ihre Eigenschaften und Fähigkeiten vor allem auf den Bereich der voluptas und das Verführen des weiblichen Geschlechts gerichtet sind. Im zweiten Teil des Vorspiels bringen die Dämonen dann Seelen vor Luzifer. Die einzelnen Berufsstände (Schneider, Schuster, Bäcker, Wirt und sogar Räuber, vv. 160 – 207) werden selbstverständlich in die Hölle aufgenommen. Den letzten vier ‚Ständen‘ aber wird eine Aufnahme verweigert. So wird die schone maid zurückgewiesen, da sie chainen chnaben […] nie versait (vv. 228 f.) habe. Auch die anderen drei Seelen werden wegen ihrer vom Teufel als bedrohlich empfundenen sexuellen Energie zurückgewiesen: ein ‚braver‘ Schüler, ein Schreiber und ein ‚verdorbener‘ Schüler. Der erste Schüler beschreibt sich selbst als gottesfürchtig und züchtig: Ich pin gewesen ein schueler und der gotsdiener und dient iem mit züchten und mit ern und gedacht iem sein dienst ze mern: dar umb sol ich nicht in di hellen mit den pösen gesellen. (vv. 208 – 213)

 Das Redentiner Osterspiel, hg. von Brigitta Schottmann. Stuttgart 1975, vgl. Wirth: Oster- und Passionsspiele, S. 38.  Vgl. Das Wiener Passionsspiel. In: Richard Froning (Hg.): Das Drama des Mittelalters. Teil 2: Passionsspiele. Stuttgart 1891, S. 302– 324, hier vv. 219 – 238.  Ed. Wolfgang Suppan (Hg.): Texte und Melodien der „Erlauer Spiele“. Tutzing 1990, S. 117– 151.

8.1 Status aetatis und status ordinis – ein neuer Stand im 13. Jahrhundert

265

Trotz dieser Selbstbewertung wird der individuelle Schüler vom Stereotyp des generischen Liebhabers eingeholt und von Luzifer aus Furcht davor, von ihm Stiefbrüder zu bekommen, lieber abgewiesen:¹⁹⁸ so han ich wol vernomen mär, das di schueler sein schoner fraun diener, wan si sind all guet minner, es sein greileich chnecht, si mügen mir sein nicht gar recht und füercht, chämen sie mier in di hellen zu den andern mein gesellen, si würden mier prüeder mach an der mueter mein; das müeßet mier ein gros laster sein: si chumen hin ein nicht, ich hab mit in chain phlicht (vv. 217– 227)

Dasselbe Narrativ wiederholt sich beim Schreiber, der selbst das Risiko anführt, dass er die Teufel zu seinen Stiefkindern (stefchinder, v. 257) mache, was Luzifer im Wortlaut wiederholt. Der zweite Schüler betont mit derben Worten und einer redundanten Menge an Synonymen für das weibliche Geschlechtsorgan seine sexuelle Freizügigkeit, die auch vor dem Nonnenkloster nicht haltmacht: Ich pin auch gewesen ein schueler und ein hübsch minner: si hies Mätzel oder Trugart, ich var ier in iern rauhen part; si haiß Chuendel oder Täuschl ich var ir in den rauch räuschl; dar zu so haiß ich der Smekchenstrützel, chum ich ier auf iern hützel, ich rüer ir den part, das si wänt, ich haiß Ekchart. wan mein vater wänd, ich wär ze schuel, so was ich in der loterfuer; als mein mueter wänt, ich les den salter, so mint ich ein nunn hinter dem alter, ich fuerts in das glokchhaus und machts jung münich dar aus. (vv. 266 – 281)

Wieder bleibt aus Angst vor ‚kleinen Teufeln‘ das Höllentor verschlossen und Luzifer sagt zum Abschied: chain schueler ich nicht wißen wil, | wan si chünnen aller lotrei vil. | ge hin zu den hübschen weiben, | mit den solt du dein zeit vertreiben! (vv. 290 – 293) und der Schüler antwortet im Weggehen (es heißt in der Regieanweisung vor v. 294: currit

 Eine Bewunderung für den Schüler kann ich hier nicht erkennen. Dies postuliert Bloh: Spielerische Fiktionen, S. 409 – 414.

266

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

via et dicit) provokativ: Da mit so lauff ich enwekch | her teufl, habt euch mein drekch (vv. 294 f.). Als Erklärung für diese unikale Multiplikation der abgewiesenen Seelen gibt Bernd Neumann ein produktionsorientiertes Argument, indem er feststellt, dass es sich bei den Erlauer Spielen um die „Kompilation aus mehreren Spieltexten“¹⁹⁹ handelt: „Diese hohe Zahl der Abgewiesenen läßt zusammen mit den auch hier vorliegenden Text- und Motivdoppelungen deutlich die Kompilation der Szene aus mehreren Vorlagen erkennen.“²⁰⁰ Dazu kommt, dass es deutliche (zum Teil wörtliche) Entlehnungen aus älteren Osterspielen wie dem Innsbrucker Osterspiel gibt.²⁰¹ Auch wenn keine direkte Intertextualität notwendig ist, besteht doch eine Orientierung an traditionellen Schreibformen, die dem Verfasser oder Kompilator bekannt waren. Jedoch lassen sich die Doppelungen auch textimmanent erklären: Denn die Vervielfachung steigert gleichzeitig die Intensität des zentralen Themas: sexuelle Ausschweifung. Damit hat die Ständereihe eine vorbereitende Funktion für den zweiten Teil des Dramas, die sündhafte Sexualität Maria Magdalenas, die (spätestens seit Gregor I. im 6. Jh.) mit der fußwaschenden Sünderin (Lk 7,36 – 50) gleichgesetzt und als Prostituierte interpretiert wurde. Die Forschung erklärte die Textstelle auch kulturanthropologisch. So betont Rainer Warning in seiner Habilitationsschrift, dass von einer zeitlichen und räumlichen Variabilität des Teufels- und Magieglaubens auszugehen sei und man „mit der Annahme einer epochalen Obsession vorsichtig zu sein“²⁰² habe. Denn der „Teufel war eine Realität, aber immerhin eine solche, die zu ‚spielen‘ man die Freiheit hatte.“²⁰³ Diese Aspekte bleiben recht widerspruchsfrei. Jedoch folgert Warning daraus, dass gerade in den Niederlagen des Teufels „die Entlastungsfunktion eines archaischen Rituals“²⁰⁴ erkennbar sei, welches in Konfrontation mit der „terroristischen Realität teuflischer Allmacht, die in ihm hinweggespielt ist,“²⁰⁵ stehe. Diese Argumentationsrichtung wird von Christoph Petersen aufgegriffen, indem er im Verhalten der Teufelsfigur dessen „Ohnmacht“²⁰⁶ und eine die „Teufelsfurcht kompensierende Ermächtigung über den Teufel“²⁰⁷ feststellt. Durch die Vervielfachung des Sünders, der die Ordnung der Hölle durch seine sexuelle Ausschweifung gefährden könnte, werde

 Bernd Neumann: [Art.] Erlauer Spiele. In: 2VL 2 Sp. 592– 599, hier Sp. 593.  Neumann: [Art.] Erlauer Spiele, Sp. 597.  Vgl. dazu Kulli: Ständesatire, S. 47 f.  Warning: Funktion und Struktur, S. 75.  Warning: Funktion und Struktur, S. 75.  Warning: Funktion und Struktur, S. 76.  Warning: Funktion und Struktur, S. 75.  Christoph Petersen: Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter. Tübingen 2004, S. 205.  Petersen: Ritual und Theater, S. 215.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

267

nun jedoch laut Bruno Quast „die Kippwirkung, das Befreiende, das vom helser im Innsbrucker Osterspiel ausging,“²⁰⁸ aufgehoben. Ute von Bloh unternimmt einen Perspektivwechsel und konzentriert sich auf die Zurückgewiesenen. Indem die promisken Figuren wieder auf die Welt geschickt werden, dienten diese als verlängerter Arm des Teufels und als diabolische Verführer. Damit setze „sich im Erlauer Magdalenenspiel die höllische Macht perfide fort.“²⁰⁹ Diese Interpretation scheint mir für die schone maid zutreffend, da diese vom Satan expliziert zu seinem eigenen Vorteil in die Welt entlassen wird:²¹⁰ si sol fliehen da hin, | das ist unser gewin (v. 238). Sie bekommt schließlich sogar den ‚Missionsauftrag‘ von Luzifer, auch gegen den Widerstand von anderen damit fortzufahren, die Knaben zu betören: nue spring hin gar pald und gewer die chnaben manigvald, und cher dich nicht an der welt chaffen, und schaffe, was du hast ze schaffen! (vv. 240 – 243)

Bei den Schülern überwiegt jedoch die Angst des Teufels. Es ist dabei gewiss kein Zufall, dass die Fähigkeit, Macht über den Teufel zu erlangen, von einem Schüler ausgeht und dieser – mit dem Schreiber als verwandtem Figurenmotiv – als prädestinierte Figur für amouröse Beziehungen und für den Umgang mit infernalen Mächten erscheint. So zeigt sich (als Erweiterung des Warning-Zitats), dass die Schüler nicht nur die Freiheit haben, (in der Aufführung) den Teufel spielen, sondern auch textimmanent mit dem Teufel zu spielen. Diese Erklärung ist auch durch die Kompilationsthese Neumanns nur bedingt zu entkräften. Vielmehr bestärkt diese These durch eine hypothetische Vervielfachung der Textgrundlage nur die feste Attribution von Narrativen an Schülerfiguren.²¹¹

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik Vorannahmen zur Textsorte Die mittelhochdeutsche Kleinepik setzt sich aus einem gattungsmäßig diffusen Feld verschiedener Formen zusammen, die nur schwer nach konkreten äußeren Kriterien differenziert werden können. Die Diskussion texttypologischer Fragen dominierte

 Bruno Quast: Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen 2005, S. 136.  Bloh: Spielerische Fiktionen, S. 416.  Von der „Naivität“ eines „gute[n] Teufels“ kann hier nicht gesprochen werden; so bei Kulli: Ständesatire, S. 50.  Diese Bewertung des (Fahrenden) Schülers als jemand, der mit dem Teufel spielt, zeigt sich auch in der mittelhochdeutschen Versnovellistik, z. B. in „Der Teufel und der fahrende Schüler“ Heinrich Kaufringers. Vgl. Kapitel 10.2.1.

268

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

dabei lange Zeit die Forschung und verstellte andere Zugänge.²¹² Man erwog neben einer Einteilung in Autorencorpora (z. B. dem Stricker oder Hans Folz) auch eine Gliederung nach der äußeren Form (Vers, Strophe, Prosa), dem Umfang in Abgrenzung zum Roman bzw. Epos oder nach der narratologischen Gestalt als erzählendem, nichterzählend-spruchhaftem oder dialogischem Text.²¹³ Ein Fundament der Kleinepik als gattungsgeschichtliche Reihe wurde im exemplarischen Erzählen ermittelt; von einer generischen Nähe zu lateinischen und volkssprachigen exempla, bîspeln, Fabeln und ‚Predigtmärlein‘ ist auszugehen,²¹⁴ was sich mit stofflichen, motivischen und überlieferungsgeschichtlichen Übereinstimmungen deckt. Exempla können sich auf historische oder auf (mitunter fiktive) alltagsweltliche Kontexte beziehen und die Funktion einer narrativen Illustrierung eines Predigt- oder Lehrinhalts übernehmen, wodurch sie Teil argumentativer Persuasion werden.²¹⁵ Das Predigtmärlein ist freilich nur ein pragmatisch situierter Sonderfall der (universalen) exemplarischen Erzählfunktion. Eine besondere Konjunktur erlebte die schriftliche Fixierung exemplarischer Erzählungen im 13. und 14. Jahrhundert, einer Zeit, die auch als das „goldene Zeitalter der illustrativen moralischen Erzählung“²¹⁶ bezeichnet wurde. Es entstehen die

 Ausgehend von der berühmten Mären-Definition von Hanns Fischer in Fischer/Janota: Märendichtung, S. 62 f. entzündete sich eine Forschungsdiskussion, die hier nicht eigens ausgebreitet werden muss, da umfangreiche Auswertungen vorliegen. Vgl. Timo Reuvekamp-Felber: Mittelalterliche Novellistik im kulturwissenschaftlichen Kontext. In: Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber und Christopher Young (Hg.): Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Berlin 2006, S. X–XXXI und Dahm-Kruse: Versnovellen im Kontext, S. 15 – 20. Zur Frage mittelalterlicher Gattung überhaupt vgl. Kapitel 6.3.  Vgl.Wolfgang Achnitz: Das Feld der literarischen Kleinformen im Mittelalter. In: Wolfgang Achnitz und Mathias Herweg (Hg.): Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Band 5: Epik (Vers – Strophe – Prosa) und Kleinformen. Berlin, Boston 2013, S. XXVII–XLI. Auch Ziegeler unternimmt eine Differenzierung von volkssprachigen Versnovellen/Mären, Bîspeln, Minnereden und Romanen anhand narratologischer Kriterien. Vgl. Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen. München 1985 und Hans-Joachim Ziegeler: [Art.] Maere. In: RLW 2, S. 517– 520.  Für diesen Zusammenhang vgl. Reinhold Wolff: Unterwegs vom mittelalterlichen Predigtmärlein zur Novelle der Frühen Neuzeit: die Erzählsammlung ‚Compilatio singularis exemplorum‘. In: MlatJb 41 (2006), S. 53 – 76 und konkret für den Stricker: Maryvonne Hagby: Parturiunt montes, et exit ridiculus mus? Beobachtungen zur Entstehung der Strickerschen Kurzerzählungen. In: ZfdA 132 (2003), S. 35 – 61. Joachim Heinzle betont, die Kleinepik sei abgesehen von einigen wenigen Beispielen rein unterhaltender Texte „fest verwurzelt in der Tradition des exemplarischen Erzählens“; Heinzle: Märenbegriff, S. 131.  Vgl. Peter von Moos und Gert Melville: Rhetorik, Kommunikation und Medialität. Berlin 2006, S. 107 f. Unter Einbezug von Aristoteles auch Fritz Peter Knapp: Fabulae, parabolae, historiae. Die mittelalterliche Gattungstheorie und die Kleinepik von Jean Bodel bis Boccaccio. In: MlatJb 44 (2009), S. 97– 117, hier S. 99 f.  John Magretts: ich han den mut und den sit/ den mich min herze leret. Eigen-Sinn beim Stricker? In: Emilio González und Victor Millet (Hg.): Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme. Berlin 2006, S. 117– 133, hier S. 131.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

269

wichtigen lateinischen Exempelsammlungen (z. B. die Compilatio singularis exemplorum, die Gesta Romanorum, die Sammlungen des Étienne de Bourbon, Jacques de Vitry u. a.)²¹⁷ und die ersten (mittelhochdeutschen) kleinepischen Sammelhandschriften.²¹⁸ Die zeitliche und personale Koinzidenz der Exempelliteratur mit der Textgattung der Sermones ad status, z. B. bei Jacques de Vitry, ist kein Zufall. In den mittelhochdeutschen Versnovellen oder Mären werden exemplarische Wahrheiten oft transgressiv relativiert. Das führt zu einer höheren Ambiguität der Texte und ist der Grund dafür, dass in der Forschungsgeschichte das Groteske, Sinnlose oder Karnevaleske dieser Textgruppe als Gattungsmerkmal herausgestellt wurde. Walter Haug sieht in den Versnovellen ein „Erzählen im gattungsfreien Raum“.²¹⁹ Diese Texte verbinde der Umstand, dass ihr Sinn in einer „konstitutionellen Sinnlosigkeit“ liege, indem sie in Opposition zu erstarrten, leeren Ordnungen träten.²²⁰ Als Spielarten dieses Sinnlosen nennt er „Zufall, Gewalt, Lust und Intellekt“.²²¹ Diese spannten den narrativen Rahmen auf, in dem die Kurzerzählung unterschiedlichen Erzählprinzipien folgend (z. B. einfache Replik, serielle Weiterentwicklung, Kombination zur mehrstufig-komplexen Handlung) „auf eine brüchig, leer und verlogen erscheinende Ordnung“²²² reagiere. Klaus Grubmüller nimmt die These von einer Oppositionsrolle des ‚Märe‘ gegen eine geordnete Welt von Haug zwar auf, schränkt dessen Prämisse aber auf die letzte Entwicklungsstufe der Gattung ein, in der diese ins „Groteske“ oder ins „Karnevaleske“ tendiere.²²³ Jedoch widerspricht er Haug dahingehend, „daß es sich [bei der Versnovellistik] nicht um eine zufällig nach be-

 Es dominieren etwa ein Dutzend der Kompilationen und umfassen nahezu alle Erzähltypen der lateinischen exempla-Tradition. Vgl. Claude Bremond, Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt: L’Exemplum. Turnhout 21996, S. 58 – 60.  Vgl. Arend Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter. Heidelberg 1967, S. 45.  Walter Haug: Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 1– 36, hier S. 6  Vgl. Haug: Kurzerzählung S. 33.  Haug: Kurzerzählung, S. 21.  Haug: Kurzerzählung, S. 21.  Klaus Grubmüller: Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik. In: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hg.): Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Tübingen 1993, S. 37– 54. Die Textreihe konkretisiert er in der einflussreichen Monographie: Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Zum Karnevalsken vgl. Klaus Grubmüller: Wer lacht im Märe – und wozu? In: Werner Röcke und Hans Rudolf Velten (Hg.): Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Berlin 2005, S. 111– 124, hier S. 122 f. und Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 241– 245. Außerdem Williams: Tricksters and Pranksters, S. 5 – 21, Sebastian Coxon: das geschach zu ainer fasnacht. Shrovetide in Late Medieval German Comic Tales. In: Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber und Christopher Young (Hg.): Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Berlin 2006, S. 192– 206, hier S. 192– 206 und Sebastian Coxon: Laughter and Narrative in the Later Middle Ages. German Comic Tales 1350 – 1525. London 2008, S. 37 f.

270

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

liebigen Kriterien zusammengewürfelte Gruppe handelt“.²²⁴ Vielmehr handle es sich um „eine Textreihe, die sich in historischer Kontinuität aufbaut, different und immer wieder sich differenzierend, aber doch jeweils bezogen auf die gemeinsamen oder auf die vorausliegenden Muster: so dürfen wir sie eine Gattung nennen.“²²⁵ Kleinepische Texte formieren durch Prozesse der Retextualisierung eine literarische Reihe und erreichen so Konstanz in der Diachronie. Voraussetzung und Folge dieser Retextualisierung ist das Herausbilden von Textmustern. Außerdem verweist die Auswahl und (isomorphe, variierende oder transformierende) Wiederholung eines Prätextes auf ein besonderes Verhalten zur Tradition.²²⁶ Ein Problem in Grubmüllers Prämissen ist die notwendige Vorstellung eines literargeschichtlichen ‚Stifters‘ der literarischen Reihe, den er im Stricker sieht. Mit der Problematisierung der Vorstellung vom Einzelautor Stricker als Prototyp einer Gattung erwog man eine funktionalistische Dimension auf Grundlage der Systemtheorie²²⁷ und eine pragmatische Dimension auf Grundlage von Prämissen der New Phililogy. ²²⁸ Beide Annäherungen haben gemeinsam, dass sie eine mittlere Reichweite anstreben „auf einem intermediären Niveau oberhalb der je empirisch-konkreten einzelnen Handlungen und Kommunikationen, aber unterhalb der gesamtgesellschaftlichen Ordnungen und ihrer diskursiven Systeme.“²²⁹ Waltenberger sieht diesen Median in der Kategorie der Situation. Die ‚Situationalität‘ bewege sich zwischen den Polen einer gebundenen, (körperlich) involvierten Präsenz der Mündlichkeit und einer abstrakten, (im Zeichen) distanten Repräsentanz der Schriftlichkeit. Diese beiden Instanzen – die narrative Aktualisierung in der Interaktion und das Anknüpfen an das (sowie die Arbeit an dem) offiziellen ‚Gesellschaftsbild‘ – sind im ‚Märe‘ (in Abgrenzung zu einfacheren exempla) aktiv.²³⁰ Das (re‐)produzierte Gesellschaftsbild muss sich keineswegs mit offiziellen Positionen decken. Kiening spricht hier von einer „doppelte[n] Logik der Kurzerzählungen […]. Diese suspendieren einen sozialen Sinn nicht einfach, wohl aber umspielen sie die Fragilität seiner Bedingungen.“²³¹ Zwischen den Polen einer innerliterarischen Pragmatik, welche „die Tendenz exemplarischen Erzählens zur Situationsabstraktheit durch die Öffnung der Sinn-

 Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des Mittelalters. Texte und Kommentare. Berlin 22014, S. 1007.  Grubmüller: Novellistik, S. 1007.  Vgl. Kapitel 6.2.  Vgl. Silvan Wagner: Grenzbetrachtungen. Paradoxie, Beobachtung und Sinn in Mären. In: Silvan Wagner (Hg.): Mären als Grenzphänomen. Berlin, Bern u. a. 2018, S. 13 – 40, zur Kritik an Grubmüller S. 17 f.  Vgl. Michael Waltenberger: Situation und Sinn. Überlegungen zur pragmatischen Dimension märenhaften Erzählens. In: Elisabeth Andersen, Manfred Eikelmann und Anne Simon (Hg.): Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2005, S. 287– 308; Waltenberger beruft sich auf Strohschneider: Situationen des Textes.  Waltenberger: Situation und Sinn, S. 290.  Vgl. Waltenberger: Situation und Sinn, v. a. S. 289 f. mit Beispielen im Folgenden.  Kiening: Verletzende Worte, S. 326.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

271

stiftung auf einen Kontext hin ausgleicht“²³² und einer (mitunter didaktischen) Referenz auf ein Gesellschaftsbild bewegen sich die folgenden Analysen. Es geht also um die Frage, wie literarische Welten in einer (zeitgenössisch allenfalls implizit und vage definierten) Gattung mit sozialen Determinanten experimentieren. Durch welche Mittel lassen sich Schülerfiguren in ein stratifikatorisches Gesellschaftsbild eingliedern und in welchem Verhältnis stehen sie zu anderen (etablierten) Figurentypen?

Allgemeines zum Schüler in der Versnovellistik Das Lernen und der Status als Schüler werden in der großepischen mittelhochdeutschen Literatur des höfischen Kontexts allenfalls am Rande oder als figurenbiographische Episode zur höfischen Vervollkommnung thematisiert (z. B. im Tristan). Die Figur des Schülers ist kein integraler Teil des höfischen Figurenrepertoires. In kleinepischen Texten dagegen sind Schülerfiguren als fester Typus präsent. Insgesamt finden sich Schülerfiguren als Protagonisten in 22 der überlieferten Texte des ‚Mären‘Corpus, das etwa 150 novellistische Kurzerzählungen im Reimpaarvers umfasst.²³³ Die Grundlage für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Schülerfiguren in der sog. Märendichtung bildet die Pionierstudie von Hanns Fischer. Er schreibt: In der Nähe des Pfaffen steht der angehende Kleriker, den wir in ihm (aber nicht immer) sehen müssen, der Student, obgleich er gewissermaßen als einer eigenen ständischen Gruppe zugehörig betrachtet wird. Der schulaere – wegen seiner diesbezüglichen Fertigkeit auch gerne als schrîbaere bezeichnet – ist entschieden eine Lieblingsgestalt des Märes; auf keine andere werden mit gleicher Ausschließlichkeit positive Züge gehäuft. Zweimal begegnet er als Liebhaber im höfischen Märe, seine eigentliche literarische Heimat jedoch ist der Schwank, dessen Intellektualismus keine bessere Verkörperung als den ebenso witzigen wie lebensklugen Scholaren finden könnte.²³⁴

Der Student oder Schüler stehe also in der Nähe des pfaffen, bezeichne aber eine eigene ständische Gruppe. Dieser Befund deckt sich mit den Anhaltspunkten, welche die Analyse der ständedidaktischen- und satirischen Schriften ergab, dass sich nämlich im Laufe des 13. Jahrhunderts die Einstellung gegenüber Schülern als status ordinis verfestigt habe. In zeitlicher Nähe liegt auch der Anfang der volkssprachigen Kleinepik in Deutschland (Stricker-‚Mären‘) und Frankreich (‚Fabliaux‘).²³⁵ In den

 Waltenberger: Situation und Sinn, S. 308.  Vgl. die Liste in Beine: Wolf in der Kutte, S. 225 f. und die Ergänzungen in Coxon: schrîber, S. 24 (Anm. 14).  Fischer/Janota: Märendichtung, S. 121 f. Ähnlich auch Hansjürgen Linke: Das Gesellschaftsbild der deutschen Märendichtung. In: Artur Bethke (Hg.): Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung. Greifswald 1986, S. 166 – 179, hier S. 167.  Die intrikate Diskussion von Abhängigkeitsverhältnissen in der volkssprachigen Dichtung soll hier nicht Gegenstand sein. Vgl. dazu Frauke Frosch-Freiburg: Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoffund Motivvergleich. Göppingen 1971, Ingrid Strasser: Vornovellistisches Erzählen. Mittelhochdeutsche

272

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

frühen deutschsprachigen Versnovellen des Strickers kommen Schülerfiguren jedoch nicht vor, respektive werden explizit vermieden. So behandelt „Der kluge Knecht“ des Strickers zwar den Stoff vom ‚Teufelsbannen‘, ersetzt den clericus aber durch den in die ständische Hierarchie eingebunden Knecht eines Herrn, des betrogenen Bauern, während das Fabliau Le povre clerc und lateinische exempla einen clerc/clericus auf der Rückreise aus Paris nennen.²³⁶ Erst aus dem 13. Jahrhundert ist mit dem „Studentenabenteuer A“ eine deutsche Versnovelle mit Schülern bzw. Studenten in den Hauptrollen. Das folgende Kapitel geht der Frage nach, wie sich Schülerfiguren in der kleinepischen Dichtung zwischen den konventionellen Ständen als literarischer Typus positionieren. In seinem Aufsatz über „Literate Protagonists“ in mittelhochdeutschen Kurzerzählungen begründet Sebastian Coxon die narrative Präferenz der Figur in der mittelhochdeutschen Versnovellistik mit den folgenden Konnotationen: Bildung und intellektuelle Fähigkeiten („education and ponounced intellectual capability“), eine genuine Unstetheit aufgrund der Reise zur Universität („an itinerant mode of life (to and from university or in search of employment)“), seine Jugend („youth“), sexuelle Aktivität/Frivolität („frivolity“) und materielle Bedürftigkeit („material need or impoverishment“).²³⁷ Neben etwaigen Referenzen auf eine außerliterarische Wirklichkeit haben diese Figureneigenschaften auch eine narrative Funktion in der Schwankerzählung. Armut und sexuelle Vitalität dienen als natürliche Motivation des Protagonisten, der versucht, sein Bedürfnis nach materiellen Gütern (Geld, Essen) zu befriedigen und seine sexuelle Potenz zu beweisen. Dies betont auch Andrea Moshövel: Der fahrende Student eigenet sich zum Schwankhelden deshalb besonders gut, weil er aufgrund seiner phasenweise bedingten Mobilität und Armut als ‚armer Schlucker‘, ‚Wanderbettler‘, ‚listiger Betrüger‘ und ‚Überlebenskünstler‘ von einer sozial untergeordneten Position aus agiert, zugleich aber über ‚Klugheit‘ und ‚Wissen‘ verfügt, mit deren Hilfe er als geistvoller Unterhalter, geschickter Frauenverführer und Liebhaber den Sieg davon trägt.²³⁸

Zentral ist also auch die ausgeprägte Intelligenz des litteratus, die er zur Listhandlung und zur Übertölpelung seines Gegenspielers einsetzt. Durch seine (schulische/universitäre) Ausbildung und die Kenntnis des Lateinischen hat der litteratus aus der Perspektive des Laien Anteil an exklusivem Geheimwissen, welches neben theologischen und medizinischen Feldern, auch Bereiche verbotenen Wissens (artes magicae

Mären bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts und altfranzösische Fabliaux. Wien 1989 und Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 41– 111.  Le povre clerc (ed. in NRCF, Bd. 7, 79). In der lateinischen Tradition Compilatio singularis exemplorum Nr. 282, ed. Carsten Wollin: Geschichten aus der ‚Compilatio singularis exemplorum‘. In: MlatJb 41 (2006), S. 77– 91, S. 83. In der Scala coeli Nr. 7, ed. Johannes Gobi Junior: La scala coeli de Jean Gobi, hg. von Polo de Beaulieu, Marie Anne. Paris 1991, S. 254. Mehr zum Stoff-Muster in Kapitel 10.2.1 und 12.2.  Alle Zitate aus Coxon: schrîber, S. 23  Moshövel: Von ‚hübschen‘ Studenten, S. 178.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

273

oder incertae) abdeckt. Denn „die hohe Schule überhaupt stand im Ruf, die Magie zu lehren“.²³⁹ Außerdem liefert die genuine Unstetheit des Protagonisten eine selbsterklärende narrative Struktur, indem der Plot mit dem unvermittelten und nicht notwendig motivierten Erscheinen des Schülers beginnt und mit der Abreise nach der Schwankhandlung endet.²⁴⁰ Zwei wichtige Eigenschaften der Schülerfiguren in der fiktiven Welt der Versnovellistik sind also einerseits seine Gelehrsamkeit und Intelligenz, andererseits seine Mobilität.²⁴¹ Vergleicht man die Figur mit dem konventionellen Figurenrepertoire der Kleinepik, fällt auf, dass sich die Schülerfigur einerseits dem ritter, andererseits dem pfaffen annähert, aber zwischen den beiden Ständen verbleibt. Die Eigenschaft der Gelehrsamkeit und des exklusiven Wissens verbindet Schülerfiguren mit dem Klerus, dem sie auch außerliterarisch (zumindest im weiteren Sinne) zuzuordnen sind. Die Eigenschaft der Mobilität teilt der Student mit dem Ritter: Beide sind nach der textinternen Logik von einer festen Ortsbindung befreit und so legitimiert mobil – der eine wegen seiner Reise zum Hochschulort, der andere wegen der höfisch motivierten Suche nach Aventiure.

8.2.1 Der schuoler als Ersatz des ritters Ausgehend von der Hypothese, dass der Student in seiner kleinepischen Darstellung zwischen ritter und pfaffe tritt, ist seine Stellung im Kontext des höfischen Gesellschaftsideals zu diskutieren.²⁴² In der mittelalterlichen Kultur stehen nach Hans Ulrich Gumbrecht die beiden Systeme ‚ritterlicher Adel‘ und ‚christlicher Klerus‘ in einem Verhältnis asymmetrischer Negation.²⁴³ Ein wichtiger Unterschied bestehe in den höfischen Liebesregeln, durch welche die außereheliche Liebesbeziehung legalisiert und die christliche Ehe angegriffen werde,²⁴⁴ ein anderer aus höfisch-ritterlicher  Adolf Jacoby: [Art.] Kunst (schwarze, weiße Magie). In: HdA 5, Sp. 817– 836, hier Sp. 826. Allgemein standen die artes magicae im Volksglauben nahe an den artes liberales (vgl. ebd. Sp. 817). Schwarze Magie wird auch in anderen Mären verhandelt, z. B. in „Der Teufel und der fahrende Schüler“, „Der fahrende Schüler“ oder „Die Wahrsagebeeren“. Doch die Darstellung von ‚zaubernden‘ Studenten ist meist entmystifiziert und sie spielen nur mit den Vorurteilen ihrer Umwelt. Vgl. dazu Kapitel 10.2.  Vgl. Coxon: schrîber, S. 23.  Beispiele zur Gestaltung und Bewertung der Mobilität des Studenten werden gesondert im Kapitel 9.4.2 erörtert. Auch auf das „Studentenabenteuer A“ und „Die treue Magd“, die hier als Beispiel dienen, werde ich in einem zweiten Durchgang noch einmal gesondert eingehen.  Vgl. grundlegend Bumke: Höfische Kultur, S. 381– 582 und Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 15 – 47.  Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Literarische Gegenwelten, Karnevalskultur und die Epochenschwelle vom Spätmittelalter zur Renaissance. In: Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer und PeterMichael Spangenberg (Hg.): Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Heidelberg 1980, S. 95 – 144.  Vgl. Gumbrecht: Gegenwelten, S. 111.

274

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Perspektive in der „Weltferne seines intellektuellen Lebens.“²⁴⁵ Gumbrecht urteilt dazu: „Aber nie geriet das Bild der Kirche für die höfische Welt zur Antikultur oder zur Unkultur.“²⁴⁶ Das Negationsverhältnis zwischen Student und Ritter muss auf den zweiten Aspekt beschränkt bleiben, da der Student trotz seiner Zugehörigkeit zum ordo clericus nicht strikt an den Zölibat gebunden war. Anders als beim Pfaffen, dessen Haupteigenschaft in schwankhafter Kleinepik oft seine Sexualität ist, steht der sexuell aktive Körper bei Ritter und Student „nicht im Kontrast zu seiner Bestimmung, sondern in voller Übereinstimmung mit ihr.“²⁴⁷ Daher können beide Figurentypen „in typischer Weise Ehebrecher- […] und Verführerrollen“²⁴⁸ besetzen und dennoch positiv bewertet sein. Außerdem entstammt der Student der Versnovellen des 13. und v. a. 14. Jahrhunderts oft aus dem Adel – mitunter sogar dem europäischen Hochadel – und sucht selbst (Liebes‐)Abenteuer. In „Schampiflor“ wird dez konigez bruder von Engelant (DVN 2, Nr. 77, v. 10) zum Protagonisten, in „Der Schüler zu Paris A“ uon geschlechte | auss Engellanndt, von hoher artt (DVN 2, Nr. 75, Red. h1, v. 40 f.), in „Der Schüler zu Paris B“ ein edler graf (DVN 3, Nr. 91, v. 33), in „Der Schüler zu Paris C“ ein freyer herr (DVN 3, Nr. 112, v. 38) und im „Bussard“ von Engelant, eines koniges barn, der wolt da hin gein Paris farn (DVN 2, Nr. 80, vv. 60 f.). Dass mit der adligen Herkunft sowohl spezifische Lizenzen als auch die Gefahr von Statusdestabilisierung und -verlust verbunden sind, wird zum beliebten Gegenstand kleinepischer Dichtung.²⁴⁹ Durch die Tendenz einer Reduktion des Ritterlichen auf den minne-Körper sind Student und Ritter sogar weitgehend austauschbar. Im Laufe des Spätmittelalters hat sich (verstärkt in schwankhaften Texten) eine Bedeutungsverengung vollzogen, welche âventiure auf das amouröse ‚Abenteuer‘ und minne auf den Geschlechtsverkehr einschränkt.²⁵⁰ Dieser Bedeutungswandel von âventiure/abenteuer verläuft in der Frühen Neuzeit „von der noch mhd. geprägten ‚ritterlichen Bewährungsprobe‘ über die ‚militärische Auseinandersetzung‘ über ‚Merkwürdigkeit‘ in den Bereich von ‚Lüge‘, ‚Unrechtmäßigkeit‘ in einer ganzen Anzahl von Spezialisierungen […] über eine lange zeitliche Überlappungsphase“.²⁵¹ Gerade die Kleinepik bietet ein Experimentierfeld für diesen Bedeutungswandel. Dabei schließen die (klerikalen) Schülerfiguren explizit an höfi-

 Gumbrecht: Gegenwelten, S. 110.  Gumbrecht: Gegenwelten, S. 110.  Klaus Grubmüller: Wolgetan an leibes kraft. Zur Fragmentierung des Ritters im Märe. In: Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer und Volker Mertens (Hg.): Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Tübingen 2002, S. 193 – 207, hier S. 207.  Fischer/Janota: Märendichtung, S. 122.  Vgl. z. B. Jan-Dirk Müller: Die ‚hovezuht‘ und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ‚Halber Birne‘. In: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 3 (1984/ 1985), S. 281– 311 und Grubmüller: Wolgetan an leibes kraft.  Vgl. dazu u. a. Hansjürgen Linke: Wertewandel im Widerschein kleinepischer Versdichtung des späten Mittelalters. In: ZfdA 135 (2006), S. 450 – 473, hier S. 451.  Lobenstein-Reichmann: Sprachliche Ausgrenzung, S. 331. Vgl. mit Belegen auch FWB 1, Sp. 61– 68.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

275

sche Maximen an und referieren so auf kulturelle Codes und Probleme, die ohne die Einnahme einer verfremdenden Veränderung nicht beobachtbar wären.²⁵² Denn ein Verweis auf die höfische Standeskultur ist nicht auf dezidiert adlige Figuren beschränkt, sondern alle Studenten im ‚Mären‘-Corpus bis 1400 werden als ‚höfisch‘ (oder gleichbedeutend) ‚hübsch‘ bezeichnet. Im „Studentenabenteuer A“ appelliert einer der Väter an die höfische Gesinnung der Söhne: ir seit schoͤ n (Hs. d: hübsch) juͤ ngelinge, | nu tuet so wol iurem dinge! | dez habt ir immer mere | baidiu frum und ere (DVN 1/1, Nr. 18, Red. B2, vv. 77– 80; ähnlich in Red. w, vv. 93 – 95); sogar der Gastgeber, bei dem die beiden auf ihrer Reise einkehren, wird ain huͤ bsch man (Red. B2, v. 207) genannt, da er die Studenten reich bewirtet und sich freigiebig zeigt. Ähnlich nennt auch das „Studentenabenteuer B“ die Protagonisten mit zuchtin hubesljiche (DVN 2, Nr. 70, v. 25), also kundig in höfischer Lebensart, weswegen sie auch überall hochgeschätzt werden – wer si in der werlde gesach, | der in ie des besten jach (vv. 39 f.) – und in „Die treue Magd“ ist die hovesscheyt (DVN 4, Nr. 173, Red. b3, v. 317) des Studenten explizit gebunden an dessen Etikette. Es handelt sich also um dezidiert ritterlich-höfische Verhaltensweisen, die hier auf Figuren übertragen werden, die teils explizit, teils implizit aus dem gehobenen Bürgertum kommen. Gleichzeig leuchtet in den Mären die Bedeutungsverengung und -verschiebung des Begriffes ‚höfisch‘/‚hübsch‘ durch, die in Vokabularien des 14. und 15. Jahrhunderts zu verzeichnen ist: Aus dem weiten curialis (‚zur Verhaltensweise des Hofes gehörig‘) wird honestus (‚ehrbar‘ und synonym zu zuchtig), urbanus (‚städtisch kultiviert‘) oder sogar facetus (‚gelehrt, humorvoll‘). Diese Veränderung trägt auch dem außerliterarischen Aufstieg der bürgerlichen Stadt gegenüber dem Adel als Trägerschicht der Literaturproduktion Rechnung.²⁵³ Während nun in den frühen ‚StudentenMären‘ noch die Anlehnung an das ritterliche oder stadtbürgerliche Ideal zu erkennen ist, ist der Begriff in den späten Versnovellen, z. B. in Rosenplüts „Der fahrende Schüler“, von jeder moralischen Konnotation losgelöst und muss als ‚Klugheit‘ oder ‚Intelligenz‘ verstanden werden: hübscheit ist mir von im bekant (v. 4).²⁵⁴ Die Bedeutung von ‚höfisch‘ wandelt sich also von der Leitkategorie eines Kultursystems zur Bezeichnung der allgemeinen Eigenschaft listiger Gewitztheit. Doch die Diskussion ständischer Rollenzuordnung ist nicht auf die Terminologie beschränkt, sondern ist in einigen Erzählungen auch zentrales Thema.

 Vgl. dazu Wagner: Grenzbetrachtungen, S. 25 – 28, der das Phänomen mit einem systemtheoretischen Terminus als re-entry bezeichnet.  Vgl. Klaus Grubmüller: höfisch – höflich – hübsch im Spätmittelalter. Beobachtungen an Vokabularien I. In: H. L. Cox,V. F.Vanacker und E.Verhofstadt: wortes anst – verbi gratia. donum natalicium gilbert a. r. de smet. Leuven 1986, S. 169 – 181, hier S. 171– 179. Alle anderen wortgeschichtlichen Arbeiten konzentrieren sich auf das 13. Jahrhundert und nehmen das 14./15. Jahrhundert nur am Rande in den Blick. Vgl. dazu den Forschungsüberblick in Stefan Erlei: ‚Höfisch‘ im Mittelhochdeutschen. Die Verwendung eines Programmworts der höfischen Kultur in den deutschsprachigen Texten vor 1300. Frankfurt a. M., Berlin u. a. 2010, S. 39 – 54.  Ed in Grubmüller: Novellistik, S. 916 – 927; vgl. v. a. die Anm. auf S. 1316.

276

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Substitution: „Der Rosendorn“ und „Der Sperber“ Am deutlichsten wird die Austauschbarkeit von Ritter und Schüler in Texten desselben Erzähltyps, bei denen in unterschiedlichen Versionen einmal eine Ritter- und einmal eine Schülerfigur in der Rolle des galanten Verführers auftreten. In der Versnovelle „Der Rosendorn“ (aufgrund neuer Erkenntnisse datiert auf das 13. Jh.) geht eine Frau, nachdem sie sich im Streit von ihrem Genitale getrennt hat, zu einem Verehrer, um zu prüfen, ob sie ohne diesen Körperteil irgendwelche Nachteile habe. Als Kontrollinstanz dient in der ursprünglichen Version ein ritter (DVN 4, Nr. 175, zuerst v. 176), während die Frau in der späteren Handschrift d (15. Jh.) zu einem schuͤ ler geht (Red. d, zuerst v. 177).²⁵⁵ In allen Redaktionen verachten die Männer die Frau aufgrund des körperlichen Mangels und verspotten sie öffentlich. Beide Figuren sind in der narrativen Funktion identisch und austauschbar.²⁵⁶ Auch in der verbreiteten Versnovelle „Der Sperber“ (wohl aus der 1. Hälfte des 13. Jh.) tritt ein ritter (DVN 1/2, Nr. 46, Red. H, zuerst v. 81) als Verführerfigur einer Klosterschwester auf. Dieser wird in der ripuarischen Fassung B1 (Ende 14. Jh.) durch einen schriuer (Red. B1, zuerst v. 65) ersetzt. Da diese Substitution aber keine weiteren Veränderungen im Text nach sich zieht, entsteht eine semantische Konfusion; denn das titelgebende Attribut, der Sperber, verweist als Zeichen auf den ritterlichen Stand. Wenn nun ein Schreiber, Schüler oder Student diesen Jagdvogel mit sich führt, entsteht ein Bruch in der Standeszuweisung; denn der semantische Verweis auf die Ritterschaft bleibt trotz Figurenwechsel bestehen. Das Handlungsmuster der überlieferten Versnovelle hat ein größeres Gewicht als die Logik der Einzelerzählung. Dass der Sperber als Requisit keinen semantischen Eigenwert hat und ohne weiteres ersetzt werden könnte, zeigt die narrativ ähnliche Versnovelle „Das Häslein“ (DVN 2, Nr. 63). Der Unterschied zwischen dem Schreiber/Schüler und dem Ritter schien für den Redaktor zwischen Mitte und drittem Viertel des 14. Jahrhunderts marginal und die Figuren daher austauschbar. Wailes erklärt diesen Wechsel des Protagonisten literatursoziologisch als Anpassung an den Geschmack des Publikums, das von den Abenteuern eines clericus vagus lesen wollte.²⁵⁷ Doch auch textimmanent ist der Wechsel interessant: In der ursprünglichen Lesart verführt der typischerweise weltkluge, aber nicht gebildete Ritter das nach Klostersitte gebildete, aber einfältige Mädchen.²⁵⁸ Wegen ihrer Naivität

 Dass es sich bei k1 um die ursprünglichere Fassung handelt, machen die Anhaltspunkte im auf 1300 datierten Melker Fragment (M17), das erst 2019 gefunden wurde, deutlich. Hier ist [t]ter (Red. M17, v. 85) zu erkennen und damit belegt, dass die ritter-Version älter ist. Vgl. dazu weiter Nathanael Busch: Höfische Obszönitäten? Ein ‚Rosendorn‘-Fund und seine Folgen. In: ZfdA 148 (2019), S. 331– 347.  Ebenso in „Die Buhlschaft auf dem Baume A“, die als Liebhaber einen schüler (Deutsche Märendichtung, hg. von Hanns Fischer, Nr. A7, zuerst v. 36) nennt, während die Fassung B diesen nicht spezifiziert.  Vgl. Wailes: Students as Lovers, S. 210.  so leirde ir schoilmeisterin | de iungen singen inde lesen | inde mit schonen zgten wesen (DVN 1/2, Nr. 46, Red. B1, vv. 24– 26) und si leuede in eynueldicheyt | rechte na cloisters sede (vv. 58 f.).

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

277

und trotz der Gelehrsamkeit wird die Novizin von der situationsadäquaten listigen Klugheit des Ritters übertölpelt. Neben der misogyn-patriarchalen Bevorzugung des Mannes und Ridikülisierung der Frau, werden hier auch die Wissenssphären des Rittertums und des monastischen Klerus gegenübergestellt. Praktische Weltklugheit siegt also über die alte ‚traditionelle‘ und klerikal gebundene Klosterbildung. Wenn die Hs. B1 den Ritter durch den Studenten, den weltlichen clericus, ersetzt, verschiebt sie diesen Konflikt nur marginal. Durch seine narrative Affinität zum Ritter gelingt es Schülerfiguren also in einigen Erzählungen den Ritter zu ersetzen. Dies ist aber weniger das Resultat eines sozialhistorischen Niedergangs des Rittertums,²⁵⁹ sondern eher – laut Grubmüller – die Folge „einer generellen Entgrenzung der Redeweisen und der Vermehrung der verfügbaren literarischen Anschlüsse“.²⁶⁰ Jedoch auch er konstatiert, dass die somatische Prävalenz des Ritterlichen im Gegensatz zum Geistlichen bestehe: „Aus der geistlichen Aufgabe des Priesters ist kein körperliches Heldentum abzuleiten, aus der gesellschaftlichen Aufgabe des Ritters schon. Ritterliche Tat ist immer auch körperliche Tat.“²⁶¹ Der Ritter sei demnach maßgeblich über seine Körperlichkeit definiert. Wenn ein Schüler seine Rolle einnimmt, geht diese Hervorhebung des Körperlichen auf ihn über.

Umdichtung: „Der zurückgegebene Minnelohn“ und „Fünfzig Gulden Minnelohn“ Ein tieferer Eingriff in die Erzählungstruktur ist zu beobachten, wenn Claus Spauns „Fünfzig Gulden Minnelohn“ (Ende 15. Jh.) Heinrich Kaufringers „Der zurückgegebene Minnelohn“ (um 1400) bearbeitet.²⁶² Bereits bei Kaufringer ist die Reduktion auf den Körper und eine sozialhistorische Marginalisierung des Ritters ein zentrales Thema.²⁶³ Hier wird ein junger Ritter aus verarmter Familie von einem reichen Nachbarn subventioniert. Der junge Ritter sucht Aventiure in beiden Aspekten ritterlicher Selbst So in Rüdiger Krohn: Zeugnisse des Niedergangs. Zum Wandel des Ritterbildes in der deutschen Märendichtung. In: Werner Hoffmann, Waltraud Fritsch-Rössler und Liselotte Homering (Hg.): Uf der mâze pfat. Göppingen 1991, S. 255 – 276, hier S. 276: „Der soziologische Wandel […] hat die adelige Personage funktionslos und überflüssig gemacht. Der Ritter, der […] abgebaut und entlarvt wurde, ist für die Gattung kein Thema mehr.“  Grubmüller: Wolgetan an leibes kraft, S. 207.  Grubmüller: Wolgetan an leibes kraft, S. 207. Die Aussagen über den Priester lassen sich mit der Einschränkung einer starken Bindung an den Zölibat auch auf die Schülerfiguren übertragen.  Die folgenden Zitate beziehen sich auf Heinrich Kaufringer „Der zurückgegebene Minnelohn“ in: Werke. Bd. 1 Text, hg. von Paul Sappler. Tübingen 1972. S. 53 – 72 und Claus Spaun „Fünfzig Gulden Minnelohn“ in: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts, hg. von Hanns Fischer. München 1966, S. 351– 361. Für einen motivischen und narratologischen Vergleich der beiden Erzählungen vgl. Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter, S. 306 – 310 und Marga Stede: Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer. Trier 1993, S. 48 – 58.  Andere Mären, in denen die Körperlichkeit des Ritters sehr deutlich hervorgestellt wird, sind beispielsweise „Die halbe Birne“ und „Ritter Beringer“ Vgl. dazu Grubmüller: Wolgetan an leibes kraft, S. 203 – 206.

278

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

entfaltung: Turnier und Frauendienst. In einem Burggarten trifft er nachts eine Dame. Diese hält den Neuankömmling für ihren Liebhaber, auf den sie wartet und gibt sich ihm hin. Als sie die Verwechslung bemerkt, muss sie der Protagonist der Erzählung durch seine gesamte Barschaft beruhigen, erhält von ihr als Gegengabe aber einen goldenen Ring. Wieder in ökonomischer Notlage wird er von einem älteren Ritter – unerkannterweise dem gehörnten Ehemann – mit finanziellen Mitteln versorgt und zieht mit ihm auf ein Turnier. Dort erzählt der junge Ritter von seiner amourösen aubentür (v. 423). Der ältere Ritter aber kann die Minnedame der Erzählung aufgrund des Rings als seine Gattin identifizieren. Anstatt den Standesgenossen jedoch offen bloßzustellen, arrangiert er ein Treffen im privaten Raum seiner Burg. Dort bekommt der junge Ritter sein Geld zurück und auch seine Frau wird für den Minnedienst bezahlt, implizit aber freilich kritisiert; zugleich „negiert er den Geschäftscharakter der Leistung, indem er die Bezahlung in Form von Belohnung vornimmt“²⁶⁴ und so die ritterlich-höfische Ordnung weitgehend rehabilitiert. Die Eigenschaft des jungen Ritters, die er in der Geschichte einbringt, „ist allein seine körperliche Kraft: als Kämpfer und als Liebhaber“.²⁶⁵ Ihn konstituiert also (wie den jungen ritterlichen Galan in anderen Versnovellen auch) seine sexuelle Vitalität und seine Eignung zum Kampf: minne und strît. Die Versnovelle „Fünfzig Gulden Minnelohn“ des Augsburger Kaufmanns Claus Spaun behandelt denselben Stoff.²⁶⁶ Auch hier verliert der Protagonist seine gesamte Barschaft, um mit einer verheirateten Frau zu schlafen, erzählt die Geschichte dann unwissenderweise ihrem Ehemann und erhält schließlich von diesem sein Geld zurück. Doch „Fünfzig Gulden Minnelohn“ weist drei zentrale Veränderungen auf: Das obszöne und skatologische Register wird beim Liebestreffen voll ausgespielt, was der Tendenz entspricht, dass im Mären-Corpus ab der Mitte des 14. Jahrhunderts Merkmale des Gewalttätigen, Grausamen und Ordinären vermehrt werden.²⁶⁷ So trifft sich die Frau mit dem Liebhaber auf dem scheußhaus (v. 116), während ihr Ehemann daneben auf ein Becken klopfen muss, da die Frau vorgibt, sich vor der Stille zu fürchten. Der dreimal wiederholte Geschlechtsverkehr selbst wird dann auch im Gegensatz zu den schamhaften Umschreibungen in vielen älteren Versnovellen²⁶⁸ expliziert: dem gsellen gar vast wol mit was. der gab ir manch herten stoß.

 Stede: Schreiben in der Krise, S. 58.  Grubmüller: Wolgetan an leibes kraft, S. 197.  Vgl. dazu Stede: Schreiben in der Krise, S. 48.  Vgl. Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos, S. 193.  Beispielsweise wird der sexuelle Akt im „Studentenabenteuer A“ übergangen: diu enpfie in minnecleich, | do ward er freudenreich. (DVN 1/1, Nr. 18, Red. B2, v. 259 f.), was in der Redaktion w nur erweitert wird um vnd het chürtzweil vil. | die red ich ew kürtzen will (vv. 333 f.). In „Die treue Magd“ heißt es: vnd legt sie an den arm sein. | do wurd ym grosse lieb schein. | was sie alles thaten, | das moͤ ht ain kint wol erraten (DVN 4, Nr. 173, Red. m, vv. 243 – 246).

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

279

der arbait in gar wenig verdroß, biß er ain wenig was worden matt. (vv. 140 – 143)

Die zweite Veränderung betrifft die Verschiebung ins städtisch-bürgerliche Milieu. Das Geld wird nicht wie eine höfische Belohnung rückerstattet, sondern die Replik ist „durch ein sich an den Gesetzen des Marktes orientierendes Handeln gekennzeichnet.“²⁶⁹ Jeder bekommt die seiner Dienstleistung entsprechende Bezahlung: 20 Pfennig an die Magd als Kupplerin, nur dreimal zwei Pfennig an die ‚prostituierte‘ Ehefrau für den dreifachen Geschlechtsverkehr, und dreimal acht Pfenning an ihn selbst für die musikalische Beteiligung. Der Rest geht an den Protagonisten zurück (vgl. vv. 326 – 365). Im Protagonisten selbst zeigt sich die dritte Veränderung. Der junge Ritter bei Kaufringer wird durch einen Studenten ersetzt, der die titelgebenden fünfzig Gulden von seinem Vater bekommen hatte, um den Doktorgrad zu erwerben. Zwar bekommt der Student in „Fünfzig Gulden Minnelohn“ nicht das Attribut ‚höfisch‘, jedoch ist er der Sohn eines ehrbaren, reichen Bürgers, der ihn zur Steigerung des Familienansehens zur Universität schicken will: In ainer statt ain burger saß. der selb reich und erber was und hett ain sun, was stolz und gail. zu dem hett er gesetzt sein hail, wann er ain wenig was gelert. („Fünfzig Gulden Minnelohn“, vv. 1– 5)

Der Referenzrahmen wird vom höfischen Belohnungssystem in die bürgerliche Ökonomie verschoben. Eine Tendenz, die bei Kaufringer beginnt, wird bei Spaun fortgesetzt. Aventiure wird bereits in „Der zurückgegebene Minnelohn“ weitgehend auf die Liebesbeziehung reduziert, was einer Marginalisierung des ritterlich-höfischen Turniers gleichkommt.²⁷⁰ In der Begegnung des jungen Ritters mit der Ehefrau wird der Aventiure-Begriff dissoziiert und es kommt zu einer „krassen Isolierung der sexuellen Begegnung, die aus der Sicht des Helden das Konzept der Aventiure befriedigt“:²⁷¹ ich pin auch ain ritter guot ich haun gesuocht aubentüre ie; die haun ich auch gefunden hie. ritterschaft hat mich außpracht; auch haun ich mir des gedacht, verzeren meinen werden leib ze dienst durch alle raine weib. („Der zurückgegebene Minnelohn“, vv. 190 – 196)

 Stede: Schreiben in der Krise, S. 57.  Vgl. Grubmüller: Wolgetan an leibes kraft, S. 196.  Grubmüller: Wolgetan an leibes kraft, S. 196.

280

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Durch die Kombination von Strukturelementen des höfischen Romans und des Ehebruchschwanks verschränken sich eine höfisch-ritterliche und eine schwankhaftsubversive Wertebene.²⁷² Es ist nur ein kleiner Schritt, wenn „Fünfzig Gulden Minnelohn“ den Kampf dann ganz streicht und den Protagonisten durch den alternativen Verführer im Figurenrepertoire des Schwanks ersetzt. Folgerichtig tritt an die Stelle des repräsentativen Turniers dann die Institution der Universität, an die Stelle des höfischen Ehrkonflikts der finanzielle Ruin. Die Aventiure des Studenten ist demnach nicht durch Minne und Kampf geprägt, sondern durch Minne und Bildung. Beide Typen, der Ritter wie der Student, sind legitimiert mobile Typen auf der Suche nach Liebesabenteuern. Durch eine Erweiterung des tradierten Figurenrepertoires kann ein Student die Rolle des Ritters übernehmen, zumal das Märe nicht mehr als Prüfinstanz für das höfische System (als re-entry) dienen muss. So wird die Erzählung in die an außerliterarischer Bedeutung zunehmende Sphäre bürgerlich-kaufmännischer Ökonomie gerückt. Damit stehen die beiden Typen im Verhältnis asymmetrischer Negation mit dem Gegensatzpaar Kampf : Bildung.

8.2.2 Die (Zwischen‐)Stellung von Schülerfiguren „Studentenabenteuer A“ Eine Prävalenz listiger Gewitztheit gegenüber körperlicher Stärke liegt auch in den Versnovellen vor, die konstitutiv mit Schülerfiguren verbunden sind, wie der Versnovelle „Studentenabenteuer A“. Dabei handelt es sich um die mittelhochdeutsche Version des Erzähltyps von der ‚Verstellten Wiege‘.²⁷³ Der Plot der Verführungs- und Verwechslungsgeschichte ist im Kern konstant: Zwei junge Besucher schlafen im selben Raum wie die Familie des Gastgebers – je in einem Bett die beiden Fremden, Vater und Mutter, deren Tochter und ein Säugling in einer Wiege am Fuße des elterlichen Bettes. Einer der Fremden schläft mit der Tochter des Gastgebers, der andere mit der Ehefrau, indem er sie durch das Verstellen der Wiege in sein Bett lockt. Diese List des einen Gastes führt jedoch dazu, dass der andere nach der Rückkehr der Tochter im Bett des Gastgebers landet. Dort kommt es zu einer Rauferei, wobei der Gastgeber den Neuankömmling für seine betrunkene Frau hält. Als die Ehefrau Licht holen geht, gelangt jeder wieder in sein ursprüngliches Bett, sodass die Fremden keine Konsequenzen aus ihren Taten ziehen müssen. In den französischen Fabliaux Gombert et les deus clers (Ende 12. Jh.) und Le meunier et les deux clercs (Mitte 13. Jh.)

 Vgl. Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter, S. 306 f. und Udo Friedrich: Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer. In: IASL 21 (1996), S. 1– 30, hier S. 17.  ATU 1363. Zu den verschiedenen Versionen vgl. Hans-Joachim Ziegeler: Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: ‚The Tale of the Cradle‘. In: Klaus Grubmüller, Leslie Peter Johnson und Hans-Hugo Steinhoff (Hg.): Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborn 1988, S. 9 – 31 mit einem Überblick auf S. 18.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

281

werden die Protagonisten als gerissene clerici eingeführt, ebenso im mittelniederländischen Bispel van .ij. clerken, ene goede boerde (um 1400) und Geoffrey Chaucers The Reeve’s Tale aus den Canterbury Tales (Ende 14. Jh.).²⁷⁴ Einzig in der entsprechenden Erzählung IX, 6 im Decamerone Boccaccios (1349 – 53) wird der Hintergrund als clericus oder Schüler getilgt und die Protagonisten durch den eher tölpelhaften Florentiner Edelmann Pinuccio und seinen gewitzten Gefährten Adriano ersetzt.²⁷⁵ Der Gastgeber lebt in allen genannten Fällen in einfachen Verhältnissen, als Müller, Bauer oder armer Häusler. Das mittelhochdeutsche „Studentenabenteuer A“ (vor 1300)²⁷⁶ ist jedoch geprägt durch eine vom Muster des Erzähltyps in den anderen europäischen Literaturen abweichende Figurenkonstellation. Hier ist der Plot um einige individuelle Merkmale ergänzt, v. a. um eine Vorgeschichte, die Fischer ein „Paradigma für das Arbeiten mit funktionslosen Geschehniselementen“²⁷⁷ nannte. Doch gerade in dieser Vorgeschichte werden die Transformationen der Erzählung mit spezifischem Gestus prononciert und die damit einhergehenden strukturellen Probleme motiviert. Diese hängen vor allem mit der Herkunft der Protagonisten zusammen. Denn die Väter der Protagonisten sind tüchtige Kaufleute, zwen piderb man (v. 3), die nicht nur nach materiellem Reichtum, sondern auch nach gesellschaftlichem Aufstieg streben: die gesellen woren bede reich und wurben vaste noch eren. do von begund sich meren ir erbe und ir varent gut (vv. 6 – 9)

 The Reeve’s Tale ist eine Reaktion des Gutsverwalters auf die vorgehende Erzählung des Müllers (Miller’s Tale). Die beiden Erzählungen sind außerdem durch das Figurenpersonal miteinander verschränkt. Denn der Zimmermann John in The Miller’s Tale wird – wie auch der Müller in The Reeve’s Tale – von einem Studenten, dem hende (‚netten‘, ‚gerissenen‘) Nikolas, übertölpelt und betrogen. Der Name des Studenten ist wohl bewusst gewählt und rekurriert auf den Hl. Nikolaus als Patron der Schüler. Vgl. dazu Michael Harry Blechner: Chaucer’s Nicholas and Saint Nicholas. In: Neuphilologische Mitteilungen 79 (1978), S. 367– 371 zu den Nikolaus-Legenden weiter Kapitel 9.4.1.  Giovanni Boccaccio: Decameron. 2 Bde., hg. von Vittore Branca. Turin 21992, Bd. 2, S: 1073 – 1079. Auch ansonsten kommen in den Novellen des Decamerone keine expliziten Schülerfiguren vor, allenfalls ein Gelehrter in VIII, 7.  Das „Studentenabenteuer A“ ist in fünf Handschriften überliefert, die drei Redaktionen erkennen lassen. Darüber, welcher Textzeuge am nähesten am Ursprung steht, sind keine eindeutigen Aussagen möglich. Ich folge der ältesten vollständigen Handschrift B2, die erst 2012 entdeckt wurde, und in Ausnahmefällen (und dann eigens gekennzeichnet) der Redaktion w oder der Handschrift d. Textgrundlage ist im Folgenden: DVN 1/1, S. 72– 102 (Nr. 18); hier im Kommentar (bearb. von Christian Seebald) auch zur Überlieferung und Datierung. Vgl. zur Handschrift außerdem Reinhard Berron und Christian Seebald: Die neue Berliner Handschrift mgo 1430. Ein bedeutendes Zeugnis zur Märenüberlieferung des 14. Jahrhunderts. In: ZfdA 145 (2016), S. 319 – 342.  Fischer/Janota: Märendichtung, S. 132. Dass hingegen die Vorgeschichte ein konstitutiver Bestandteil und keine ‚funktionslose‘ spätere Ergänzung der Erzählung ist, zeigt der Umstand, dass sie in allen (nicht fragmentarisch) überlieferten Handschriften und Redaktionen enthalten ist.

282

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Mit ihrem Wunsch nach Ansehen haben die beiden Patrizier ein Ziel, das ursprünglich der höfischen Sphäre des Adels zukommt. Êre ist überhaupt ein Leitwort der ganzen Erzählung: Bereits zu Beginn wird die Schulausbildung als Möglichkeit für das Erreichen von Ansehen für den nicht-adligen Städter angeführt und damit die êre implizit zum Movens der Handlung. In der Schule lernen die beiden Knaben singen und lesen (v. 18), also eigentlich klerikale Fähigkeiten, und dazu Grundzüge der Dialektik (lernt man si den widerstreit, v. 19).²⁷⁸ Als ihnen ihr Schullehrer nichts mehr beibringen kann (in der maister ward ze cranch, v. 22) und sie die pesten da (v. 23) sind, erfahren sie von ein schuel von gantzer maisterschaft, | und da waͤ r pfaffen chunst und craft: | die wær Paris genant (vv. 25 – 27). Sie fassen sogleich den Plan, dorthin zu reisen und zu studieren. Dazu sagt einer der Schüler, er waͤ r gern da ein jar (v. 32), um frum und ere (v. 34) zu erlangen. Der Aufenthalt in der Ferne soll also nicht dem Ziel akademischer Graduierung und nur nachrangig der Fortbildung dienen, sondern vornehmlich das Prestige vergrößern. Diese Motivation deckt sich mit dem typischen Verhalten adliger ‚Standesstudenten‘.²⁷⁹ Als die beiden Freunde von der Schule zurückkehren und ihre Eltern über ihrem Plan informieren, kommt es zu einem Streitgespräch zwischen den beiden Generationen. Dieses entzündet sich vor allem am Unterschied von klerikaler und laikaler Bildung. Denn während die Ausbildung in der Schule den ganzen Bereich laikalen Wissens abdeckt (ir seit als wol geleret, | swaz ein lay kunnen schol, vv. 56 f.), wird das Studium in Paris der klerikalen Sphäre zugewiesen und so von den bürgerlichen Vätern abgelehnt. Die Söhne setzen aber apodiktisch fest „wir sein an jar do pfaffen sint“ (v. 59), die Väter hingegen verunglimpfen das Studium und widersprechen dem Plan: ir schuͤ li niht mer ze schaffen | haben mit den pfaffen (vv. 61 f.). Mit dieser Gegenüberstellung der beiden Stände werden zwei verschiedene Vorstellungen von êre aufgerufen.²⁸⁰ In der Vätergeneration ist Prestige mit körperlicher Arbeit und materiellem Reichtum verbunden, was sich darin zeigt, dass sie sich rühmen swaz uns unser vater lie, | daz hab wir iu gemeret (vv. 54 f.). Die jüngere Generation hingegen weiß damit nichts anzufangen:

 An dieser Stelle weichen die Redaktionen B2 und w voneinander ab. In w steht: er lert sy singen vnd lesen, die knaben, wider strit (vv. 18 f.). In w scheint durch den adverbialen Gebrauch von wider strit die Übersetzung als „um die Wette“, die angemerkt wurde, zuzutreffen. Als Objekt ohne Präposition ist diese Form jedoch nicht überliefert. Die Übersetzung als ‚Streitrede‘ oder ‚Dialektik‘ motiviert auch die folgende engagierte Diskussion der Söhne mit ihren Vätern.  Vgl. Wendehorst: Lesen und schreiben, S. 24 f.  Ein ähnliches Argument liefert auch „Bürgermeister und Königssohn“ Heinrich Kaufringers. Der Erzähler kritisiert im Promythion den voreiligen Entschluss mancher Adliger, ihre Kinder auf die Universität zu schicken, um êre zu erlangen, aber nicht zu bedenken, dass damit die Gefahr des Standeswechsels in den Klerus möglich wäre: Nu secht ir wol, wau herren sind, | die sendent oft ire kind | zuo den hohen schuolen hin | und habent doch des kainen sin, | das si ze pfaffen süllen wern. (vv. 17– 21). Die Vorbehalte gegenüber dem Klerus sind hier also auf den adligen Protagonisten perspektiviert, während „Studentenabenteuer A“ (groß‐)bürgerliche Protagonisten hat.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

283

daz wȧ re ain michel vnsin, das wir durch das belyben vnd vnser tage also vertriben mit arbait vnd mit sorgen. (Red. w, vv. 72– 75; im Vgl. zu Red. B2 erweitert)

Diese Vorrangstellung des Reichtums motiviert auch das Vorurteil der Väter, wenn sie sagen, dass bei den Franzosen niemand etwas tauge, der kein Geld dabeihabe: so wert ir den Walhen als ein bast | und gar ein unmarer gast. | wan swer zu in an silber vert | der ist in […] gar unwert (vv. 69 – 74).²⁸¹ Endlich geben die Eltern dem Wunsch der Söhne nach, da sie im Universitätsbesuch auch eine Potenzierung des eigenen Ansehens erwarten (vgl. vv. 75 – 81). Sie statten ihre Kinder reich mit dem aus, was vermögende Studenten für eine standesgemäße Reise benötigen, und geben ihnen phaͤ rde und claider (v. 99) und dazu zwei Diener (zwen knaben, v. 84) mit. Deren Aufgabe es ist, für eine standesgemäße, aber nicht ausschweifende Unterbringung zu sorgen: daz si ir gu iht verluͤ rn und daz si in frum wirt erchuͤ ren, daz si zerten ritterlich unde doch o bei weschaidenlich. (vv. 87– 90)

Viele Aspekte der Vorgeschichte sind für den Kern der eigentlichen Schwankhandlung, die Verführungs- und Verwechslungsgeschichte, weitgehend irrelevant. Die erwähnten Diener sind sogar für den Plot nicht nur unwichtig, sondern sogar hinderlich, sodass deren Anwesenheit im Folgenden schlicht unterschlagen wird.²⁸² Diese Elemente dienen nur der höfischen Umdeutung der Protagonisten. Denn im Gegensatz zu anderen Erzählungen der Stofftradition kommen hier keine zwei verarmten, aber gerissenen clerici zu einem Bauern, sondern reiche und höfisch verfeinerte junckheren (Red. w, v. 107) zu einem wohlhabenden Gastgeber.²⁸³ Diese Veränderung in der Figurenkonstellation wirft das Problem auf, wie man „in einem solch reichen Haushalt alle in die notwendige eine Kammer, die sonst den sozialen Rang des bäuerischen Gastgebers bestimmte“,²⁸⁴ bringen soll. Die Erzählung versucht dieses Problem, das

 Diese Aussage wird zumindest in Red. w bereits textimmanent als Klischee widerlegt, da ihr Gastgeber im nordfranzösischen Arras (Red. w, Aras, v. 114) die beiden Studenten gerne aufnimmt und reich bewirtet (ich schaff ew guten gemach, | laẅ ten lieber nie gesach (Red. w, vv. 167 f.). Dafür fordert er auch keine Gegenleistung. Dass die Studenten prôt vnd wein (Red. w, v. 162) besorgen, ist ihr eigenes Angebot. B2 gibt als Ort nur unspezifisch ain stat (v. 91) an; dass diese in Frankreich liegt, ist allenfalls zu mutmaßen.  Eine Erklärung für diesen Logikfehler im Plot, den alle überlieferten Handschriften teilen, könnte darin liegen, dass die Vorgeschichte vom Autor des ‚Märes‘ an den bestehenden altfranzösischen Fabliau-Plot hinzugefügt wurde, in dem die Studenten bereits ihr gesamtes Gut durchgebracht haben. Vgl. Frosch-Freiburg: Schwankmären und Fabliaux, S. 122.  Vgl. Ziegeler: ‚The Tale of the Cradle‘, S. 23 – 25.  Ziegeler: ‚The Tale of the Cradle‘, S. 25 [Herv.im Orig.].

284

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

aus der Tradition des Erzähltyps übernommen wurde, zu erklären. So wird schon beim Aufbruch der beiden Protagonisten die Frage der Beherbergung angesprochen (siehe oben vv. 87– 90) und auch später nochmals konkret thematisiert. Als mehr oder weniger schlüssige Erklärung dient das Argument, dass sie nur finanzielle Mittel für ein Jahr dabei hätten und deshalb bei der Beherbergung auf der Reise kein Geld ausgeben könnten. Außerdem müssten sie einen Ort wählen, an dem ihr Vermögen sicher sei: wir wellen hintz schuel varen und muͤ zzen uns do vor bewaren, daz wir uns wirtte erchi[ese]n, dez wir icht verliesen, dez wir dort bedurfen an jar. (vv. 227– 231)

Darauf antwortet der Gastgeber, dass sie in seiner Kammer schlafen könnten. Denn dort sei es am sichersten (vv. 296 – 298). Die umfassende Vorgeschichte ist ein zentrales Element des „Studentenabenteuer A“, der ältesten mittelhochdeutschen Versnovelle des tradierten Erzähltyps, der so einen umfassenden Hintergrund bekommt, welcher auch ein ständisches Gesellschaftsbild reflektiert. Möglicherweise ist dies dem außerliterarischen Umstand geschuldet, dass Studenten und die Institution der Universität in Deutschland noch nicht allgemein bekannt waren und für das nicht-gelehrte Publikum erst eingeführt werden mussten. Das könnte dann auch ein Grund dafür sein, dass Paris in allen deutschen Versnovellen vor dem 15. Jahrhundert standardisiert als der topische Universitätsstandort gilt.²⁸⁵ Das bleibt jedoch Spekulation. Sicher ist aber, dass diese Veränderung ein wesentliches Anliegen der mittelhochdeutschen Erzählung ist, da sie einiges an Aufwand betreibt, um die veränderte Ausgangslage der Figuren im Vergleich zur Erzähltradition zu motivieren. Doch auch nach dem Prolog verliert sich die Standesdiskussion nicht. Denn die Protagonisten vereinen Eigenschaften des Höfisch-Laikalen und des Klerikalen. Das wird vor allem in der Szene deutlich, in welcher der eine Schüler und seine Geliebte das erste Mal alleine zusammenkommen, um am Psalter das Lesen zu üben (vv. 160 – 206). Da die Tochter beim Vorlesen der Psalmen Schwierigkeiten hat, löst sie der Schüler ab und zeigt sich dadurch als an gelert man (v. 147). Zugleich qualifiziert er sich als Privatlehrer, da die Mutter den Schüler lachend bittet, ob er nicht die Tochter unterrichten könne: dez begond ir muter lachen, si sprach: „chond er daz gemachen, daz du chondest lesen alsam er, so wær er dir ze saͤ lden her chomen und uͤ berhuͤ be dich slege […].“ (vv. 153 – 157)

 Vgl. Wailes: Vagantes and the Fabliaux, S. 57 f.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

285

Damit ist die Mutter indirekt die Kupplerin der Liebesbeziehung. Denn sie ist die Urheberin der Situation am pastourellenhaften locus amoenus, als sie in die lauben fuͤ r di thuer (v. 159) gehen. Dort vermittelt der Schüler ihr weniger das Lesen des Psalters, sondern daz si gevie der minne bant (v. 180). Im Gespräch werden verschiedene Register höfischer Minnedarstellung gezogen, der pathologische minnetwanc beim Mann (v. 211 in Red. w) und der Frau mitsamt den typischen somatischen Symptomen (vv. 185 f.).²⁸⁶ Das Gespräch der beiden Verliebten thematisiert weiter die (höfische) êre.²⁸⁷ Der Begriff wird vierfach semantisiert: Zuerst appelliert der Galan an die weiplich ere (v. 265) des Mädchens als Minnedame, als libiu fraw (v. 163), die seinen Kummer lindern und sich ihm hingeben solle. Dann konnotiert das Mädchen in ihrer Entgegnung ihre êre mit ihrer Keuschheit, die auf der Geheimhaltung der Beziehung zu gründen scheint (vv. 172– 175). Diesen Aspekt greift später der zweite Student auf, wenn er fragt: „will du all dein ere | hie verliesen und dein leben, | daz wildu umb diu magt geben? […]“ (vv. 190 – 192). Heimlichkeit bietet also eine Möglichkeit trotz Normverletzung das gesellschaftliche Ansehen sowohl des Mädchens als auch des Liebhabers zu erhalten. Dieser Umstand wird umso brisanter, wenn die geheimen und explizit im Dunklen gehaltenen Machenschaften der Nacht aufzufliegen drohen. Ein letztes Verständnis von êre wirft schließlich der Im-Bett-Gebliebene auf, als sich sein Gefährte zur Tochter begibt: er gedaht: ‚ich vil boͤ ser man, daz ich nicht werben kan, und daz mir dehein er widervert und daz mein [mein Hab und Gut] doch wirt verzert!‘ (vv. 263 – 265)

Um seines ‚Ansehens‘ willen und nicht aus Geilheit verführt er die Hausherrin und löst die Verwechlungshandlung aus; er hält sich für ‚ehrlos‘, wenn er in dieser Nacht ohne sexuellen Verkehr bliebe. Höfisches Verhalten wird also darauf reduziert, beim Verführen von Frauen nicht zu versagen; zugleich wird es zur ökonomischen Rechnung, die seine eigenen Aufwände mit dem erreichten Nutzen vergleicht. Durch ihre Lesefertigkeit und den Psalter als Dingsymbol²⁸⁸ sind die Protagonisten offen als klerikal ausgewiesen, sie zeigen aber auch höfisch-ritterliche Verhaltensweisen in einer grundsätzlich bürgerlich-städtischen Umgebung.

 Vgl. dazu im Vergleich zum „Studentenabenteuer B“ und mit einigen Parallelstellen aus der höfischen Literatur Theodore M. Andersson: Rüdiger von Munre’s ‚Irregang und Girregar‘: A Courtly Parody? In: PBB 93 (1971), S. 311– 350, hier S. 315 – 322.  Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf Wailes: Students as Lovers, S. 198 f., der freilich Red. w folgt.  Der Psalter dient auch in den inhaltlich ähnlichen Debatten zwischen Rittern und Klerikern über die Vorrangstellung des jeweiligen Standes in der lateinischen und französischen Literatur als identifikatorisches Dingsymbol. Siehe in Florence et Blancheflor v. 112, Hueline et Aiglantine v. 56, Melior et Ydoine v. 164; Les Débats du Clerc et du Chevalier dans la Littérature Poétique du Moyen Âge, hg. von Charles Oulmont. Paris 1911, dazu S. 26 und Wailes: Students as Lovers, S. 210 (Anm. 4).

286

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

„Die treue Magd“ Am ausführlichsten und explizitesten ist die ständische Zwischenstellung des Studenten in der niederdeutschen Überlieferung von „Die treue Magd“.²⁸⁹ Der erste Teil (vv. 1– 183) beschreibt in einer Exposition die Herkunft des jungen Protagonisten und wirft die Frage nach dem ‚besten Stand‘ auf.²⁹⁰ Im zweiten Teil (vv. 184– 624) folgt die eigentliche Schwankhandlung, und zwar der Ehebruch des durchreisenden Studenten und dann die Rettung des Liebespaars durch die Magd: Diese zündet die Scheune an, um den zurückkehrenden Ehemann wegzulocken und der Herrin und ihrem Liebhaber die Flucht aus der delikaten Situation zu ermöglichen. Die Gestaltung des Protagonisten in „Die treue Magd“ entspricht der im „Studentenabenteuer A“. Der Schüler stammt aus reichem Hause: sin vader were eyn here ho | und des gudes also ryk (vv. 32 f.). Er ist fleißig in der Schule (vv. 36 – 42), togentzam (v. 43) und betet jeden Tag zwei Gebete an die Heilige Gertrud.²⁹¹ Schließlich interessiert sich der Schüler aber für die weltliche Pracht, der werlde syrheyt (v. 49). Die Vorgeschichte der Erzählung handelt davon, wie der junge Protagonist die Knechte seines Vaters danach befragt, welcher Stand der Beste sei. Der erste Knecht lobt die adligen Ritter: vorsten unde edele hern (v. 63). Deren Stand definiere sich durch Ansehen, Turnier und Wohlstand: „[…] de leven an groten eren unde ok to allen tyden durch lust dustern unde stryden. se hebben durch leve steten mud und an dem lande manige tucht gud, beyde sulver unde golt, dure stene, kleder manichvolt; de sint stolt unde vrisch.“ (vv. 64– 71).

Der zweite Knecht lobt den geistlichen Stand mit seiner Gelehrsamkeit und seinem bequemen Leben ohne Mangel:

 „Die treue Magd“ ist zwar erst im 15. Jahrhundert überliefert und würde demnach diese Chronologie sprengen, die Überlieferung beruht aber wahrscheinlich auf einem Archetypus aus dem 14. Jahrhundert. Über die Abhängigkeitsverhältnisse der niederdeutschen (Red. b3) und der oberdeutschen (Red. m) Version sind keine gesicherten Aussagen möglich. Vgl. Hartmut Beckers: [Art.] Die treue Magd. In: 2VL, 9, Sp. 1034– 1036. Textgrundlage ist die niederdeutsche Redaktion in DVN, Bd. 4, S. 508 – 527 (Nr. 173), Red. b3.  Die Standesdiskussion beschränkt sich in der oberdeutschen Version m auf drei Verse: einer sagt von hoher eͤ r, | der ander von guter leͤ r | der dritt von schoͤ nen frawen (vv. 53 – 55).  Die Heilige Gertrud von Nivelles gilt als Patronin für gute Herberge.Vgl. AA.SS. 7 (1668) 17. März und Ferdinand Wrede: [Art.] hl. Gertrud. In: HdA 3, Sp. 699– 706. Die Heilige wurde aber auch mit Magie und vor allem dem Schatzheben konnotiert. Vgl. Adolf Jacoby: [Art.] Gertrudenbüchlein. In: HdA 3, Sp. 706– 708. Zur Figur und ähnlichen Motiven in „Der Reiher“, Le meunier et les deux clers, Speculum stultorum von Nigellus Wireker und Decamerone II, 2 vgl. weiter Wailes: Students as Lovers, S. 208 f.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

287

ein ander sprak: „yk geven den papen hogeren pris, de syk vlyten jummermere an hogen kunsten sere; so leven se myd gemake und hebben nenes dinges brake. se vorwervͮ en myd der lere van den luden loff unde ere […]“ (vv. 72– 78)

Der dritte Knecht verlegt sich schließlich auf die Frauenliebe, da die Frauen vor ritter unde vor knapen | unde vor den lerden papen | […] alle sorge swaken | unde manige vraude maken (vv. 83 – 88). Die Knechte stellen die beiden Stände miles und clericus gegenüber und imitieren damit Strukturen aus der Tradition der Débats du clerc et du chevalier, erweitern diese aber freilich um eine dritte Instanz.²⁹² Der Protagonist entscheidet sich für keinen der Stände, sondern kombiniert die letzten beiden Optionen, den Frauendienst mit der Wissenschaft, indem er sich dafür entscheidet, Student zu werden: den der, de geleret sint, | de dat vorwar menen, | dat se hovesschen vrauwen denen (vv. 99 – 101). Aus dieser Wahl folgt, dass der Student in höfischer Liebe vor dem Ritter steht, und laut Wailes „finally, that academics are the real champions of courtly love.“²⁹³ Im Gegensatz zum „Studentenabenteuer A“ entsprechen die Studienpläne dem Wunsch des Vaters: „yk hedde dy lange gesant | to Padawe [Padua] ydder to Paris, | wiste yk […] | dat du woldest lern“ (vv. 107– 111). Er stattet den Sohn mit einem Pferd (v. 116) und ausreichend Geld aus: vifftich gulden, de sint hir (v. 124).²⁹⁴ Der junge Student reist ein Stück in Richtung Paris mit Kaufleuten, nächtigt aber aus Sparsamkeit nicht bei ihnen in der Stadt, sondern zieht weiter und bittet schließlich bei einer jungen Frau, auf die er zufällig trifft, um Herberge. So treffen die beiden Hauptfiguren zusammen: de scriver hovesch unde walgetan | sach de vrauwen boven ome stan | so eyn rose, de men des morgens sut up gan (vv. 199 – 201). Auch wenn anders als im „Studentenabenteuer“ keine der beiden Seiten eindeutige Avancen macht, legt diese Konstellation sofort offen, dass die beiden zum Liebespaar werden. Der Protagonist inszeniert sich jedoch selbst zuerst als armer Schüler:

 Siehe dazu Oulmont (Hg.): Les Débats. Edmond Faral geht weiter davon aus, dass andere Bearbeitungen vom lateinischen Gedicht De Philide et Flora, das auch im Codex Buranus (CB 92) überliefert ist, abhängen. Edmond Faral: Les Débats du Clerc et du Chevalier dans la Littérature des XIIe et XIIIe Siècles. In: Romania 164 (1912), S. 473 – 517, hier S. 516. Diese Meinung liegt ebenfalls der Einschätzung Paul Sapplers zugrunde, der dies als ein „vagantisches Motiv“ bezeichnet. Paul Sappler: Zur Lehrhaftigkeit der ‚Treuen Magd‘. In: Henrike Lähnemann und Sandra Linden (Hg.): Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin 2009, S. 253 – 264, hier S. 260. Dazu auch Wailes: Students as Lovers, S. 207: „Die treue Magd is the old dispute about knights, clerics, and ladies exemplified in a story.“  Wailes: Students as Lovers, S. 207  Die Menge von Fünfzig Gulden scheint prototypisch für ‚viel Geld‘ zu stehen; vgl. auch die Versnovelle „Fünfzig Gulden Minnelohn“.

288

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

he sprak: „neyn twar, vrauw, jo bin yk ein arm elende scholere. wil gy my herbergen ume unser vrauwen ere?“ (vv. 215 – 217)

Der skriver hovesch und walgedan mimt also den gelehrten Bettler, wobei er sich mit dem ‚armen Schüler‘ eines Klischees zu bedienen scheint. Aufgrund dieses niedrigen Standes weist die Frau den Gast zuerst ab, indem sie vorschützt, dass sie wegen der Abwesenheit ihres Gatten üble Nachrede fürchte: „eya, vil hertze leve kint, yk dede dat gerne, went nu sint de lude also unslicht, dat dar nemant blifft unvordicht. […]“ (vv. 233 – 336)

Erst als ein Reisender, der zufällig des Weges kommt, die Identität des Schülers aufdeckt – er erkennt ihn als den Sohn seines ehemaligen, wohlhabenden Dienstherrn –, lenkt die Frau ohne weitere Einwände ein und bewirtet ihren Gast. Der Stand des Schülers muss offensichtlich werden, damit das Gebot der Gastfreundschaft oder eher eine ständische Verpflichtung bindend wird. Auch die Herberge ist nicht das Haus eines armen Häuslers, sondern enes ryken rydders hoff (v. 186). Der Student als armer clericus wird aus Angst vor übler Nachrede abgewiesen, als Sohn eines angesehenen Bürgers aber aufgenommen; die Ehefrau antizipiert Erzählmuster des Schwanks, der den jungen Studenten als Verführerfigur kennt. Diese werden jedoch zugunsten der erzählstrukturell notwendigen Gegenüberstellung von klerikalem und ritterlichem Frauendienst, wie sie schon in der Vorgeschichte zum Thema wurde, zurückgestellt. Sowohl der Schüler als auch der (zunächst absente) Gastgeber gehören also einer (einfluss‐)reichen Sphäre an, in der höfische Normen virulent sind, und unterscheiden sich nur hinsichtlich ihrer Zuschreibung in ‚Ritter‘ und ‚Gelehrte‘. Auch wenn die Vorerzählung suggeriert, dass die Gegenüberstellung von der Stärke des Ritters und der listigen Klugheit des Schülers handelt, wird diese Erwartung nicht erfüllt. Der Schüler bleibt weitgehend passiv:²⁹⁵ Ein Passant (und damit der Zufall) verhilft ihm zur Herberge, nachdem der Schüler schon aufgeben und weiterreisen will (vv. 275 – 286), die Frau sucht das Bett des Schülers auf (vv. 356 f.) und die Magd deckt die beiden Ehebrecher, indem sie den zurückgekehrten Gatten durch ihre geschickte List aus dem Haus lockt (vv. 461– 529). Ebenso das Epimythion interessiert sich nicht für das Verhalten des Studenten, sondern nur für die Tat der ‚treuen Magd‘, die als Thema der Versnovelle angegeben wird: dat wy an truwen vaste stan, | als disse maget orer vrauwen (vv. 618 f.). Damit wird die Erzählung ‚von hinten‘ anders moti-

 Vgl. dazu Coxon: schrîber, S. 38 f.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

289

viert²⁹⁶ als im Promythion, in dem der Erzähler vor dem Hintergrund einer unsicheren Welt dazu aufruft, im Gebet konstant zu bleiben, wie der Protagonist der Geschichte: neyn man weyt der werlde mud; se ys leyder los genoch, doch sal ein man wesen kluch unde don, als ein scriver dede: he sprak alle dage twe bede. (vv. 8 – 12)

Die beiden Themen, das Gebet zur heiligen Gertrud um gute Herberge und die Treue der Magd, sind verbunden, indem die Heilige der Magd bei ihrer Handlung hilft; der Erzähler kommentiert: yk mene, min vrawe sunte Gertrud, | de de scriver des avendes an bat, | de gaff der juncvrauwen eynen rad (vv. 501– 503). Das fromme Gebet des Schülers ist also indirekt der Grund für seine Rettung.²⁹⁷ Der Stand der Studenten als „champion[ ] of courtly love“,²⁹⁸ wie er in der Vorerzählung konstruiert wurde, wird brüchig. Die Erzählung basiert auf zwei Grundannahmen gegenüber der Schülerfigur: seiner unerschütterlichen Frömmigkeit und seinem höfischen Frauendienst. Das fromme Gebet um gute Herberge führt beide Aspekte zusammen, indem mit Hilfe der Heiligen der Ehebruch verhüllt und ihr Schützling gerettet wird. Dafür kann ihr der Student nur danken – bezeichnenderweise im Verborgenen: hemelik sprak de sine beden, der he plach herde sere, in sunte Gertrudis ere. (vv. 563 – 565)

Auch den Abschied von seiner Minnedame begleiten verborgene Handlungen (de edele vrauwe togenlik | deme scrivere begunde vaken, vv. 574 f.); neben Kosungen schenkt die Gastgeberin dem Schüler einen wertvollen Ring (vv. 577– 580), einerseits als Minnegabe, andererseits als Schweigegeld. Sie beschwört ihn: „eija, leve scrivere, yk bidde ju, dat gy disse mere nemande openbarn. wen gy willen weder to hus varn, so komet weder to myr.“ (vv. 582– 586)

 Zur ‚Motivation von hinten‘, die sich von Clemens Lugowski (1932) ableitet und zum Bezug auf vormoderne Literatur vgl. Harald Haferland: ‚Motivation von hinten‘. Durchschaubarkeit des Erzählens und Finalität in der Geschichte des Erzählens. In: Diegesis 3 (2014), S. 66 – 95.  Damit folgt die Erzählung eigentlich Strukturen geistlichen Erzählens: Vgl. Kapitel 9.4.1. Jedoch auch in anderen schwankhaften Texten findet sich namentlich St. Gertrud (von Nivelles), als Fürsprecherin für gute Herberge (z. B. in „Der Reiher“). Damit nimmt St. Gertrud dieselbe Rolle ein, wie sie in anderen Erzählungen St. Julian und St. Martin, z. B. in Le Meunier et les deux clers, Nigellus’ Speculum stultorum und Boccaccios Decamerone. Vgl. dazu Wailes: Students as Loves, S. 207– 209.  Wailes: Students as Loves, S. 207.

290

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Darauf antwortet dieser: „yk weyt wol, wes yk swygen sal.“ (v. 588). Im Gegensatz zu den Liebhabern in den Erzählungen „Der zurückgegebene Minnelohn“ und „Fünfzig Gulden Minnelohn“, deren Replik durch die mangelnde Schweigsamkeit des Studenten erst initiiert wird, kann sich der Protagonist in „Die treue Magd“ selbst kontrollieren und wird nicht textimmanent selbst zum Erzähler der schwankhaften Erzählung. Im Rückblick entsprechen die Ereignisse dem Plan Gottes und der höfischen Minne, wie es aus der Sicht des Protagonisten mitgeteilt wird: myd vruntheyt he jo der vrauwen dachte, de ome gut hadde gedan. deme god noch der salde gan, deme mach an hovesschen dingen noch rechte wal gelingen. (vv. 601– 605)

Den göttlichen Plan bemüht auch der gehörnte Ehemann, wenn er davon spricht, dass der Gast ein großes Unglück erlebt hätte, wenn er selbst nicht rechtzeitig zurückgekommen wäre: de wert sprack: „gy mochten alle sin vorbrant. god hefft uns hire heime gesant, dat wy gelesschet hebt de schune; hus, hoff hedde gebrant und de schune.“ (vv. 548 – 551)

Die Komik dieser Aussage wird für den Rezipienten offensichtlich, da er genau weiß, dass die frühzeitige Rückkehr des Ehemanns überhaupt der Grund für den Brand und die Probleme des Liebespaars war. Zugleich konterkariert der Figurenkommentar die Aussagen im Epimythion. Nach Paul Sappler gliedert sich diese Passage ein in eine Reihe von „Schiefheiten“, die deutliche „Distanz zum Exemplarischen“²⁹⁹ demonstrieren. Er sieht in der Versnovelle eine Form von Lehrhaftigkeit, die durch eine „Übererfüllung des Exemplarischen mit unerwarteter Aussparung der Explikation in einem Teilbereich“³⁰⁰ geprägt ist. Der exemplarische Charakter tritt in der Konfrontation verschiedener Stände im Rahmen des Frauendienstes (v. a. in der umfangreichen Vorgeschichte) hervor, wird durch die integrierten Widersprüchlichkeiten aber entkräftet. Das „Aussetzen der Explizitheit“ verweise auf „ein leichthin veranstaltetes Lustspiel zu einem ernsten Thema, wenn nicht gar eine feine Ironisierung des literarischen Typus“.³⁰¹ Sappler marginalisiert dabei jedoch, dass hier – in der Logik des Schwanks am Prüfstein sexueller Prävalenz – die Frage nach der ständischen Position

 Sappler: Lehrhaftigkeit, S. 261.  Sappler: Lehrhaftigkeit, S. 261 (Anm. 7). Mit dieser Rubrik ergänzt er das Schema in Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos, dem sich „Die treue Magd“ zu entziehen scheint.  Sappler: Lehrhaftigkeit, S. 261.

8.2 Der schuoler in der mittelhochdeutschen Kleinepik

291

des Schülers gestellt wird.³⁰² Auch wenn dieser zwischen Klerus und Ritterschaft verortet wird, bleibt seine genaue Position unbestimmt.

Geschlechtliche Zwischenstellung Diese indifferente Zwischenstellung hinsichtlich des sozialen Standes (class) wiederholt sich in der Relativierung der Grenzen des natürlichen Geschlechts (sex) und des sozialen Geschlechts (gender).³⁰³ Die Versnovellistik gibt allgemein recht große Spielräume für experimentierende Transgression geschlechtlicher Normen (z. B. cross-dressing, Geschlechtertausch), um „Handlungsmöglichkeiten wie identitätsstiftende Muster von Geschlechtlichkeit überprüfen, dabei Grenzen antasten und zur Diskussion stellen“³⁰⁴ zu können. Die Darstellung von Schreibern, Schülern oder Studenten betont immer wieder eine geschlechtliche Uneindeutigkeit. Einerseits sind sie erfolgreiche Liebhaber und Verführer, andererseits erscheinen sie als androgyn und sind überdurchschnittlich häufig in cross-dressing-Handlungen verwickelt. Jedoch kommt es nie zu einer sozialen Degradierung oder Demütigung wie bei anderen Figuren.³⁰⁵ Als Beispiele sollen vor allem die beiden zuvor diskutieren Versnovellen dienen: Im „Studentenabenteuer A“ hält der Gastgeber, als einer der Studenten während der Bettverwechslung an seiner Seite landet, diesen für seine Gattin und verprügelt ihn in der Meinung, seine Frau sei betrunken und spreche wirr: „du bist trunchen als an hunt!“ und sluch den schuler in den munt (er wont, ez wær sein weip). (vv. 303 – 305)

Diese Verwechslung wird in der um einige Szenen erweiterten Version „Studentenabenteuer B“ noch gesteigert, indem einer der Studenten freiwillig zum Gastgeber ins Bett geht, um dem Gefährten eine ungestörte Nacht mit der Hausherrin zu ermöglichen.³⁰⁶ Dafür unternimmt er einen vestimentären Geschlechtswechsel, indem er sich mit gewande, sam ein wip | […] mit einr hubin und mit gebende (vv. 1095 – 1097) kleidet.³⁰⁷ Als sich der Herbergswirt nun seiner (vermeintlichen) Ehefrau annähert, be-

 Dazu Sappler: Lehrhaftigkeit, S. 260 f.  Vgl. dazu Andrea Schallenberg: Spiel mit Grenzen. Zur Geschlechterdifferenz in mittelhochdeutschen Verserzählungen. Berlin 2012, S. 349 f.  Schallenberg: Spiel mit Grenzen, S. 409  Vgl. Andrea Moshövel: wîplîch man. Formen und Funktionen von „Effemination“ in deutschsprachigen Erzähltexten des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2009, S. 310 f. und Schallenberg: Spiel mit Grenzen, S. 312.  Ed. in DVN, Bd. 2, S. 257– 296 (Nr. 70). Für eine gendertheoretische Interpretation der Versnovelle vgl. Moshövel: wîplîch man, S. 228 – 247.  Vgl. dazu Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen 2006, S. 270 – 285. Insgesamt erkennt man Identität in mittelalterlicher Literatur weniger an Physiognomie und Stimme, sondern mehr an der „sozialen Hülle des Körpers – an Kleidung, Kopfbedeckung,

292

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

merkt er erst nach haptischer Untersuchung die männlichen körperlichen Geschlechtsmerkmale. Er beschwert sich: ‚wer hat mir vorvelschit das wip? | si hat nu mannis lip!‘ (vv. 1137 f.). Der Student betont aber die Weiblichkeit seiner Rolle unter Verweis auf die langjährigen sexuellen Erfahrungen mit dem Ehepartner: nen ich, sware, ich bin ein wip! | nu hastu doch minen lip | manich jar wol bechant (vv. 1169 – 1171). Diese Aussage der vermeintlichen Ehefrau widerspricht der dreifachen haptischen Untersuchung (vv. 1127 f., 1134 und 1175 f.) und führt zur inkommensurablen Gegenüberstellung zweier ‚Wahrheitsgaranten‘, die einerseits durch Aktion, anderseits durch Sprache generiert werden: Die ‚Wahrheit‘ der ‚phallischen Frau‘ besteht somit aus dem Widerspruch, dass ihr Körper unter dem Vorzeichen der heterosexuellen Norm in jedem Akt ehelicher Sexualität in der Vergangenhet als weiblicher Körper bestätigt worden ist, und dem plötzlich entdeckten männlichen Geschlechtsmerkmal, das diesen Körper als Objekt des männlichen Begehrens ausschließt.³⁰⁸

Diese geschlechtliche Indifferenz kann sich der Mann nur durch Dummheit, wie sie im Text den Westfalen zugesprochen wird (vgl. vv. 1180, 1189), oder durch ein magisches Zwitterwesen erklären: ich sehe wol, das du elbis bist (v. 1185). Die performativ erreichte Umkehr der Dominanzverhältnisse bleibt auch, nachdem der effeminierte Student mittels einer geschickten List wieder die Position mit der richtigen Ehefrau tauscht. Sie bleibt die ‚phallische Frau‘ und erreicht zusammen mit ihren Komplizen mittels weiterer Listhandlungen, die in einem Exorzismus gipfeln, eine „Demontage der hausherrlichen Macht.“³⁰⁹ Die geschlechtliche Indifferenz ist auch zentraler Gegenstand in „Die treue Magd“. Als der Schüler mit der Ehefrau engumschlungen im Bett liegt und ihn der zurückkehrende Gatte mit seinen beiden Schwagern³¹⁰ erblickt, meinen alle, es handle sich um eine einzelne Person: do lege de twe alumme bevangen unde wern al na to samende komen unde hadden syk lefflik ummenomen, dat se alle hedden gesworn, dat dar nene twe in dem bedde warn. (vv. 425 – 429)

Als die Magd auf den hohen Stand des schlafenden Schülers verweist, beschließt der Hausherr den Gast schlafen zu lassen (v. 438). Dennoch beobachten sie den Körper des Schlafenden voyeuristisch und urteilen über ihn, v. a. über den unter der Decke herWappen, Rüstung – und an dauerhaften Versehrungen der daneben sichtbaren Haut“; Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik. Tübingen 2008, S. 3.  Moshövel: wîplîch man, S. 243.  Moshövel: Von ‚hübschen‘ Studenten, S. 183. Zum „Studentenabenteuer B“ aus der Perspektive der Bewegung der Protagonisten vgl. weiter Kapitel 9.4.2.  Zur Frage, ob es sich um einen oder zwei Schwäger handelt und welche der in der Überlieferung konkurrierenden Lesarten zu bevorzugen ist, vgl. Sappler: Lehrhaftigkeit, S. 262– 264.

8.3 Der Schüler als Typus zwischen ritter und pfaffe – Zusammenfassung

293

vorschauenden Arm der Frau, den sie aber für den des Schülers halten. Der eine Schwager weist darauf hin, dass der Arm ganz weiß, van witter hut (v. 445), sei, worauf der Ehemann entgegnet: „swager, yk segge dy dat, dat nenen luden ys bat. se endorvͮ en nicht vele sorgen unde ok nicht borgen. dat mach wal wesen ore hogeste qual, wo se schonen vrauwen denen wal.“ (vv. 446 – 451)

Der Schüler habe also einen sorgenfreien Lebenswandel, der nur auf den Frauendienst ausgerichtet sei. Mit dieser Entgegnung erklärt der Ehemann – natürlich ohne es zu wissen – die tatsächlich vorliegende Situation des Ehebruchs. Auch als der zweite Schwager auf die feine Hand (ene hand so suverlick, v. 454) hinweist, nimmt der Hausherr den Gast durch eine Erklärung in Schutz: he sprack: „swager, weystu nicht, dat scriver weke hende han, wente se gripen selden an exen unde hauwen. dar umme lat din schauwen unde lat ome hebn sin gemack!“ (vv. 456 – 461)

Sowohl das natürliche (sex) als auch das soziale Geschlecht (gender) des Schülers wird als unmännlich attribuiert. Dabei überdeckt die soziale Erwartung beim gehörnten Ehemann die eigene Wahrnehmung. Auf der Handlungsebene erzeugt die Szene durch den Wissensvorsprung des Rezipienten erhebliches komisches Potential.³¹¹ Gleichzeitig werden in der Diskussion der drei Männer einige Vorurteile gegen (angehende) Gelehrte transportiert und der ganze Stand effeminiert. Auf dem Schüler vereinen sich so Eigenschaften der äußersten Feminität – gepflegtes, weiches Aussehen durch den Mangel körperlicher Arbeit – und der äußersten Maskulinität – Held der (höfischen) Liebe und perfekter Verführer.

8.3 Der Schüler als Typus zwischen ritter und pfaffe – Zusammenfassung Es gab bereits seit dem Aufkommen elaborierter ständischer Differenzierungen im 10. Jahrhundert (Rather von Verona) die Tendenz, den Schüler auch als eigenen status in das System einzugliedern. Diese verstärkte sich durch die Predigtanleitungen und die

 Das Verhältnis von Figuren- und Rezipientenwissen und die Folgen für die Narratologie der ‚Märendichtung‘ untersucht Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter, S. 91 f.

294

8 Schüler: Zur sozialständischen Position (Spurensuche II)

Sammlungen mit Musterpredigten ad status, jedoch konzentrierte sich die Darstellung auf die spezifische Lebensphase des Schülers,v. a. also auf den Umgang mit dem Lehrer. Vom 13. bis ins 15. Jahrhundert verschob sich die Behandlung des Schülers/Studenten als status aetatis sukzessive – v. a. in den Universitätsstädten – immer mehr hin zu der Wahrnehmung als einen gesellschaftlichen Stand, einen status ordinis. Dieser Prozess ist mit der problematisch gewordenen Einordnung des Gelehrtenstandes in den ordo clericus verbunden. Die Gleichung von lese- und schreibkundig mit geistlich, ließ sich nicht mehr aufrechthalten. Dieser Wandel bedingt auch eine Veränderung des Gesellschaftsbildes und damit der kulturellen Muster und Codes, die für eine literarische Verarbeitung zur Verfügung standen, aufgrund des zirkulären Implikationsverhältnisses aber selbst wieder Muster und Codes zur Verfügung stellten. In der deutschsprachigen Versnovellistik des 13.–15. Jahrhunderts führte dies zu einer Erweiterung des Figurenpersonals um Schülerfiguren, welche die Eigenschaften der etablierten literarischen Figur des Ritters mit den neuen kulturellen Bedingungen (Veränderung des ‚Bildungssystems‘ durch die Entstehung der Universitäten etc.) vereinen. In den Versnovellen sind dabei unterschiedliche Modi literarischer Traditionen zu erkennen: (1) Ritterfiguren in bestehenden deutschsprachigen Texten werden durch Schülerfiguren ohne größere Eingriffe substituiert und übernehmen deren narrative Funktion, es kommt also zu einer Verschiebung im selben literarischen System oder (2) Stoffe aus anderen Sprachsystemen werden adaptiert und in das deutsche integriert, vornehmlich aus dem Lateinischen und Französischen. Gerade beim „Studentenabenteuer“, das auf einem französischen Prätext beruht, ist auffällig, dass der mittelhochdeutsche Text die finanzielle Prekarität der povres clers nicht übernimmt, sondern bürgerliche oder höfische Attribute betont, was z. T. mit erheblichen Eingriffen in den Text verbunden ist. Auch in den anderen Versnovellen ohne ermittelbaren Prätext finden sich keine armen Kleriker. Trotz der Tendenz (ritterlich‐)höfischer Schülerfiguren ist es eines der Hauptintentionen einiger Texte, die ständische Prävalenz von Rittern oder Gelehrten zu diskutieren, gemäß den Maximen der Schwankdichtung meist auf sexueller Ebene. Der Student steht in seiner spezifischen literarischen Gestaltung also zwischen dem adligen Ritter/miles, der durch seine legitime räumliche und sexuelle Freizügigkeit gekennzeichnet ist³¹² und dem gelehrten Geistlichen/clericus (nicht dem pfaffen als Schwankfigur!)³¹³ mit seinem Fachwissen (auch Lese- und Schreibfähigkeit) und dem

 Nur die bürgerlichen Kaufleute als Figur im Märe scheinen ähnlich mobil zu sein wie die Ritterund Schülerfiguren.  Der pfaffe versieht eine gänzlich unterschiedliche narrative Funktion als der Student. Der mobile Student sucht im Gegensatz zum pfaffen seine erotischen Abenteuer in der Fremde. Außerdem ist er durch seine relativ lockere Bindung an den Zölibat und die Regeln der Geistlichen geprägt. Während der litteratus weder obligatorisch geweiht war noch ein Theologiestudium aufgenommen haben musste, hat der geweihte Priester als Ehebrecher eine größere Fallhöhe und erzeugt so größere Komik. Schließlich kommt der Student als Verführer und Ehebrecher immer gut weg, während der Pfaffe „sehr

8.3 Der Schüler als Typus zwischen ritter und pfaffe – Zusammenfassung

295

Einblick in die freien und/oder verbotenen Künste. Diese ständische Zwischenstellung mündet in einigen schwankhaften Texten aufgrund der Kombination der sexuellen Potenz des Ritters und der Physiognomie des Gelehrten auch in eine geschlechtliche Uneindeutigkeit der (durchwegs männlichen) Schülerfiguren. Diese stehen als transgressive ‚Figuren des Dritten‘ also zwischen konventionellen Instanzen. In der Predigtliteratur und den (motivisch und konzeptuell nahestehenden) Satiren geht die Verschiebung von der Darstellung einer Lebensphase (status aetatis) zum Sozialstand (status ordinis) mit einer Differenzierung in verschiedene, meist hierarchisch geordnete gesellschaftliche (Sub‐)Stände einher. In diesem Kontext konturiert sich nun auch ein als deviant empfundenes Derivat des Schülers als scholaris vagus. Dabei reicht die sprachliche Ausgrenzung von der allgemeinen Konstruktion eines ‚letzten‘, gottverlassenen Standes (z. B. bei Berthold von Regensburg) über eine Differenzierung in fleißige und faule Studenten (z. B. im Occultus Erfordensis) bis zur abundanten Ausdifferenzierung in verschiedenste Erscheinungsformen des Devianten (z. B. in Des Teufels Netz). Dieser Prozess verstärkt sich bis ins 15. Jahrhundert und führt zu einer Imagination ständischer Differenzierung von Devianz und Delinquenz, die analog zur ständischen Ausdifferenzierung des offiziellen Gesellschaftsbildes geschieht (vgl. das Ständebuch von Amman und Sachs 1568) und die Grundlage für das Material und die Struktur der ‚Gaunerbüchlein‘ von Beginn des 16. Jahrhunderts legt. Mit der genuinen Zwischenstellung der Schülerfiguren, dem durch das Stereotyp begründeten Zugang zu arkanem Geheimwissen und der allgemeinen Tendenz einer Denunzierung von Randgruppen ist dann auch die Affinität des armen Fahrenden Schülers zum Teufel motiviert, wie sie in einzelnen Geistlichen Spielen rekurrent ist.

häufig für die Rolle des ertappten, bloßgestellten und schmählich bestraften Buhlers […] herhalten muss“; Fischer/Janota: Märendichtung, S. 120.

9 Schüler als Fahrende: Bewertungen (studentischer) Bewegung (Spurensuche III) Reisen, Wandern, Fahren Genauso wie der konkrete Bildungshintergrund historisch und begrifflich uneindeutig bleibt,¹ ist es auch nicht leicht, die Bewegung von der Heimat zum (Hoch‐)Schulort begrifflich festzulegen.² Als neutrale Bezeichnung hat sich der Oberbegriff ‚Akademische Mobilität‘ durchgesetzt. Der Begriff kann in räumliche und soziale Mobilität und die soziale weiter nach Pitirim Sorokin in eine vertikale und eine horizontale Mobilität differenziert werden.³ Bezogen auf die akademische Mobilität bezeichnet dabei die horizontale Mobilität einen Hochschulwechsel ohne explizite intellektuelle Progression oder sozialen Aufstieg, während vertikale Mobilität einen Anstieg des Anspruchs und normalerweise einen Fortschritt in der Karriere sowie einen Wechsel der gesellschaftlichen ‚Schicht‘ impliziert.⁴ Auch wenn das permanente Umherwandern der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Studenten und Gelehrten als Ausnahmezustand erkannt und als Mythos enttarnt wurde,⁵ ist doch die Bedeutung von Mobilität vor allem im Kontext des Universitäts- oder Schulbesuchs unbestritten. Man muss zwar einräumen, dass Konstanz und Beständigkeit, also eine stabilitas (loci), zu den Idealen der mittelalterlichen Gesellschaft gehörten, jedoch handelte es sich bei der Vorstellung, dass im Mittelalter Veränderung ausgeschlossen und (räumliche und soziale) Immobilität der Normalfall waren, um eine simplifizierenden Generalisierung und ein Verdikt der Moderne. Es ist also zu „unterscheiden zwischen modernen Narrativen über vormoderne Geschichte einerseits und zeitgenössischen Ideen von Selbstbestimmung andererseits.“⁶ Gerade der vormoderne Student ist genuin mobil – was keineswegs einschließt, dass er permanent mobil war. Zur Spezifizierung des sehr weiten Begriffes Mobilität wurden auch andere Begriffe verwendet: Migration ist aufgrund seiner soziologischen Implikationen nur eingeschränkt einsetzbar, da der Aufenthalt am Hochschulort im Falle einer Migration  Vgl. Kapitel 8.  Michael Maurer: Reisen interdisziplinär. Ein Forschungsbericht in kulturgeschichtlicher Perspektive. In: Michael Maurer (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin 1999, S. 287– 410, hier S. 409 sieht die Bildung von klaren Kategorien als „ein Desiderat ersten Ranges“. Allgemein zur Diskussion der verschiedenen Begriffe Knut Schulz: Unterwegssein im Spätmittelalter. Einleitende Bemerkungen. In: Peter Moraw (Hg.): Unterwegssein im Spätmittelalter. Berlin 1985, S. 9 – 15, Schubert: Fahrendes Volk, S. 29 – 31 und Irrgang: Scholar vagus, S. 56 – 59.  Vgl. Pitirim A. Sorokin: Social Mobility. New York 1927.  Vgl. Tina Maurer und Christian Hesse: Von Bologna zu ‚Bologna‘. Akademische Mobilität und ihre Grenzen. In: Christian Hesse (Hg.): Von Bologna zu „Bologna“. Akademische Mobilität und ihre Grenzen. Basel 2011, S. 5 – 22, hier S. 6 f.  Vgl. Kapitel 2.1.4.  Martin Kintzinger: Gelehrte und Schüler. In: Michael Borgolte (Hg.): Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch. Berlin 2014, S. 279 – 290, hier S. 280. Ähnlich auch Schubert: Fahrendes Volk, passim. https://doi.org/10.1515/9783110708349-010

9 Schüler als Fahrende: Bewertungen (studentischer) Bewegung (Spurensuche III)

297

mit einer langfristigen Veränderung des Lebensmittelpunkts verbunden sein muss und „nicht wegen Problemen oder Konflikten […], sondern wegen ihres persönlichen Wissensinteresses und ihres eigenen Karrieremanagements“ ⁷ geschieht, also dezidiert zielgerichtet und intendiert ist. Die Zahl solcher akademischen Migrationen blieb während der Vormoderne sehr gering.⁸ Ebenso intendiert und zielgerichtet sind Reise und Wanderung. Reise fokussiert dabei sowohl gegenwartssprachlich als auch sprachgeschichtlich (mhd. ‚Aufbruch zum Krieg‘)⁹ die eingeschränkte Dauer am Zielort,Wanderung hingegen den Prozess der kontinuierlichen Fortbewegung über die Grenzen des eigenen Zuhauses hinaus in eine fremde Umgebung. Auch der Terminus Unterwegssein konzentriert sich auf den Prozess der Bewegung, jedoch handelt es sich hier um eine Form der Bewegung, die nicht notwendig zielgerichtet ist und die Bewegung des Soldaten ebenso umfasst wie die des Studenten, des Pilgers oder des ‚Fahrenden‘.¹⁰ An die Pilgerreise knüpft der lateinische Terminus peregrinatio an, der als peregrinatio academica in der Forschungsliteratur vielfach verwendet wird.¹¹ Gegen diesen Begriff wurde angeführt, dass er „den Eindruck zeitgenössischer Authentizität“¹² mache, selbst jedoch nicht auf das Mittelalter, sondern auf die Frühe Neuzeit zurückgehe. Weiter sei der Begriff normativ aufgeladen. Es handelt sich um eine „Metapher“,¹³ die ausgehend vom Privilegium scholasticum Friedrichs I. Barbarossa (1155/ 1158) den Studenten als exul in einer terra aliena apostrophiere. Diese Vorstellung eines exilium des Studenten prägte das wirkmächtige Narrativ vom Studenten, der für die Weisheit zahlreiche Entbehrungen in der Fremde auf dich nehmen müsse.¹⁴ Die sozialgeschichtliche Forschung relativierte dieses Bild, indem sie erkannte, dass der vormoderne Student meist auch am Hochschulort in (heimatliche) soziale Netzwerke von Gelehrtendynastien eingegliedert war, was das evozierte ‚Martyrium für die Weisheit‘ minimiert.¹⁵ Durch die Möglichkeit akademischer Kommunikation an ver Kintzinger: Gelehrte und Schüler, S. 288. So unterscheidet sich auch die Migration von der Flucht. Während