Zur Genese des Sozialen: Mimesis, Performativität, Ritual [1. Aufl.] 9783839404157

Im Zusammenwirken mimetischer, performativer und ritueller Prozesse konstituiert sich das Soziale, das ohne diese Dimens

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Zur Genese des Sozialen: Mimesis, Performativität, Ritual [1. Aufl.]
 9783839404157

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I Mimesis
1. Mimetische Grundlagen des Subjekts
Mimesis als anthropologischer Begriff
Die Macht der Mimesis
Weltaneignung und Subjektkonstitution
Psychogenese durch Mimesis
Gestik, Körper und Institution
Ritual, Subjektkonstitution und Gemeinschaft
Mimetische Grundlagen kulturellen Lernens
Perspektiven
II Performativität
2. Mimesis und performatives Handeln
Mimesis und performatives Wissen
Die mimetische Verfassung menschlicher Körper
Bewegung als Verkörperung von Kultur
Gesten als signifikante Bewegungen des Körpers
Ausblick
3. Der performative Körper: Sprache – Macht – Handlung
Sprache als Handlung
Handeln als körperliche Aufführung
Rituale als performatives Handeln
Der mimetische Erwerb performativen Wissens
4. Die Performativität von Raum und Zeit
Raumerfahrungen im Umbruch: Körper, Bewegung, Globalisierung
Ritual und Zeit
III Ritual
5. Rituelle Praxis
6. Ritual und Religion
7. Ritual und Recht
Der Gerichtsprozess als Ritual
Der performative Charakter rituellen Handelns
8. Ritual, Macht und Performanz – die Inauguration des amerikanischen Präsidenten
Rück- und Ausblick
Literatur

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Zur Genese des Sozialen

2005-07-05 09-36-44 --- Projekt: T415.sozialtheorie.wulf.genese / Dokument: FAX ID 020b88557794238|(S.

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Christoph Wulf (Dr. phil.) ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft und Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie sowie des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin Von ihm sind u.a. erschienen: »Anthropologie der Erziehung« (2001); »Körperteile. Eine kulturelle Anatomie« (hrsg. mit Claudia Benthien 2001); »Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften« (2001); »Grundlagen des Performativen« (hrsg. mit Michael Göhlich 2001); »Logik und Leidenschaft. Erträge Historischer Anthropologie« (hrsg. mit Dietmar Kamper 2002); »Mimetische Weltzugänge« (mit Gunter Gebauer 2003); »Die Kultur des Rituals« (hrsg. mit Jörg Zirfas 2004); »Bildung im Ritual« (mit Birgit Althans und Kathrin Audehm 2004); »Formen des Religiösen (hrsg. mit Hildegard Macha und Eckart Liebau 2004); »Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie« (2004); »Ikonologie des Performativen« (hrsg. mit Jörg Zirfas 2005).

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Christoph Wulf

Zur Genese des Sozialen Mimesis, Performativität, Ritual

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Projektmanagement: Andreas Hüllinghorst, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-415-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I Mimesis

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1. Mimetische Grundlagen des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mimesis als anthropologischer Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Macht der Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weltaneignung und Subjektkonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychogenese durch Mimesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gestik, Körper und Institution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ritual, Subjektkonstitution und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mimetische Grundlagen kulturellen Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II Performativität

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2. Mimesis und performatives Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mimesis und performatives Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mimetische Verfassung menschlicher Körper . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegung als Verkörperung von Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesten als signifikante Bewegungen des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Der performative Körper: Sprache – Macht – Handlung . . . . . . . . . . . Sprache als Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handeln als körperliche Aufführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rituale als performatives Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der mimetische Erwerb performativen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Die Performativität von Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raumerfahrungen im Umbruch: Körper, Bewegung, Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ritual und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III Ritual

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5. Rituelle Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Ritual und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Ritual und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Gerichtsprozess als Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der performative Charakter rituellen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Ritual, Macht und Performanz – die Inauguration des amerikanischen Präsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rück- und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung | 7

Einleitung

Im Zusammenwirken mimetischer, performativer und ritueller Prozesse konstituiert sich das Soziale, das ohne diese Dimensionen nur unzulänglich begriffen werden kann. Zwar entsteht es in allen Gesellschaften in mimetischen, performativen und rituellen Prozessen, doch sind es die Geschichtlichkeit und Kulturalität dieser körperlichen Prozesse, welche die Vielfalt sozialer Handlungen erzeugen. Soziale Handlungen werden in konkreten sozialen Situationen vollzogen. Ihre jeweilige Rahmung weist darauf hin, wie sie zu verstehen sind. Zu den für die Genese sozialer Handlungen wichtigen Faktoren gehören auch Raum und Zeit, in deren Rahmen sich der historische und kulturelle Charakter sozialer Handlungen herausbildet. Soziales Handeln beruht auf einem inkorporierten Wissen und bildet sich in Sprach- und Handlungsspielen. Es ist gestisch und entsteht im Gebrauch. Es widersetzt sich der Reduktion auf Intentionalität und Funktionalität, denn es ist auch expressiv und ludisch. Soziales Handeln emergiert in Raum und Zeit; daher ist es in Machtund Beziehungsstrukturen eingebettet, von denen es wesentlich beeinflusst wird; es ist wertgebunden, häufig hierarchisch strukturiert und auf die Gestaltung der Gegenwart bezogen. Soziales Handeln ist nicht ohne Bezugnahme auf vorausgegangene und erwartete zukünftige soziale Konstellationen und Arrangements möglich. Es ist häufig repetitiv und nur in der Sequenzierung verständlich. Soziales Handeln ist körperlich, symbolisch und entsteht unter Bezug auf das individuelle und kollektive Imaginäre der Handelnden. Sein Bedeutungsüberschuss, der mit Hilfe von Deutungen nicht eingeholt werden kann, erzeugt seine Komplexität. Soziales Handeln beruht auf einem enkorporierten praktischen Wissen, das mimetisch erworben wird und dessen Performativität die sozialen Beziehungen und Verhältnisse gestaltet. Als körperliche Inszenierung und Aufführung gibt es der Interpretation nach

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8 | Zur Genese des Sozialen wie vor Rätsel auf. Indem Handlungsformen, Schemata und Bilder inkorporiert und in neuen Situationen angewandt werden, wird soziales Handeln gelernt. Das dabei entstehende Möglichkeitsspektrum sozialen Handelns ist weit und wird von den subjektiven und kollektiven Bedingungen des sich körperlich manifestierenden sozialen Handelns bestimmt. Ein Erwerb praktischen sozialen Handlungswissens erfolgt selbst dann, wenn Menschen sich dessen nicht bewusst sind. Ohne ein Bewusstsein von den Regeln sozialen Verhaltens zu haben, verhalten sich Menschen regelhaft. Sie lernen soziales Handeln dadurch, dass sie den Körper in sozialen Situationen gebrauchen und ein verkörpertes praktisches Wissen erwerben, das regelhaft ist und zu sozialem Handeln führt, ohne dass die Handelnden sich seiner Regeln bewusst sind. Menschen handeln auf der Grundlage der Materialität ihrer Körper und deren praktischem Wissen, das ein implizites Wissen ist, das für seine Wirksamkeit keiner Repräsentation im Bewusstsein bedarf. Soziale Handlungen werden verstanden, weil sie sich im Rahmen eines symbolisch strukturierten Beziehungsnetzes vollziehen, das den körperlichen Inszenierungen und Aufführungen des sozialen Handelns ihre Bedeutung gibt. Insofern mit dem Erwerb körperlicher Handlungsformen, Schemata und Bilder auch immer deren symbolische Bedeutung gelernt wird, erfolgt seit früher Kindheit im sozialen Handeln eine Verschränkung von Körper und Kultur, von Natur und Geschichte. Dadurch entsteht ein Amalgam, dessen Genese nur schwer rekonstruiert werden kann.

Mimesis Soziales Handeln wird mimetisch gelernt. Dabei wird eine Beziehung zu anderen Menschen und deren Handeln hergestellt. Man sieht sie handeln und ist dabei durch den sozialen Kontext mit ihnen verbunden. Man erlebt, wie sie ihr Handeln inszenieren und aufführen, nimmt an ihren Handlungen teil, erfährt deren Ziele, deren Sinn und die Art und Weise ihres Verhaltens sowie seine Kontextgebundenheit. Man ist von ihrem Handeln betroffen, an ihm beteiligt oder aber man ist unbeteiligt und nimmt lediglich das Geschehen wahr. In mimetischen Prozessen wird eine Beziehung zu einer anderen Welt hergestellt. Häufig beruht diese auf einer Ähnlichkeitsbeziehung, die in der Ähnlichkeit der Anlässe, der handelnden Personen und der sozialen Situation besteht. Entscheidend ist jedoch nicht die Ähnlichkeit, sondern die Herstellung einer Beziehung zu einer anderen Welt. Wird eine soziale Handlung auf eine frühere bezogen und in Ähnlichkeit zu dieser durchgeführt, dann besteht der Wunsch, etwas wie die sozial Handelnden zu ma-

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chen, auf die sich die Bezugnahme richtet, und sich ihnen anzuähneln.1 Diesem Wunsch liegt ein Begehren zugrunde, wie die anderen zu werden, zu dem außerdem der Wunsch nach der Erzeugung von Differenzen hinzukommt. Trotz des Begehrens, ähnlich zu werden, besteht ein Verlangen nach Unterscheidung und Eigenständigkeit. Aus dieser Ambivalenz entsteht soziale Vielfalt. Keine soziale Handlung ist mit einer anderen identisch. Dennoch sind soziale Handlungen auf einander bezogen und einander ähnlich. Was hier unter Ähnlichkeit verstanden wird, lässt sich mit Hilfe von Wittgensteins Konzept der »Familienähnlichkeit« verdeutlichen. Bezogen auf das menschliche Gesicht entsteht »Familienähnlichkeit« durch eine Ähnlichkeit der Nase, der Augen oder des Mundes. Mit ihr geht stets die Unähnlichkeit anderer Körperteile einher. Damit entsteht eine »Familienähnlichkeit«, die sich mal aus der einen, mal aus der anderen Entsprechung herleitet. Beim Sozialen ist das Spektrum der Ähnlichkeiten und Differenzen noch umfangreicher als beim menschlichen Gesicht. Kein soziales Phänomen, keine soziale Situation ist mit einer anderen identisch; jede ist einmalig, gleicht jedoch anderen Situationen aufgrund phänomenaler und struktureller Entsprechungen, die sich als »Familienähnlichkeiten« beschreiben lassen. In dem für das Erlernen praktischen rituellen Wissen konstitutiven mimetischen Begehren liegt die Dynamik sozialen Handelns begründet.2 Sie drängt gleichzeitig auf Wiederholung und Differenz im sozialen Handeln und erzeugt damit Energien, welche die Inszenierungen und Aufführungen von Handlungen vorantreiben. Bei der Wiederholung geht es darum, in einem mimetischen Prozess gleichsam einen »Abdruck« früherer sozialer Handlungen zu nehmen und diesen auf neue Situationen zu beziehen. Die Wiederholung sozialen Handelns führt nie zur genauen Herstellung des früheren Arrangements, sondern stets zur Erzeugung einer neuen Situation, in der die Differenz zur früheren ein konstruktives Element ist. In dieser Dynamik liegen die Gründe für die Produktivität sozialer Handlungen. Unter Wahrung der Kontinuität bieten sie Raum für Diskontinuität. Soziale, insbesondere rituelle Arrangements machen es möglich, das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität auszuhandeln. Dabei spielen die jeweiligen Bedingungen der Individuen und Gruppen, Organisationen und Institutionen für die unterschiedlichen Handhabungen der sozialen Muster und Schemata eine wichtige Rolle. Solche Muster und Schemata werden in einem mimetischen Prozess 1 | Vgl. G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek 1992; dies., Spiel, Ritual, Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998; dies., Mimetische Weltzugänge, Stuttgart 2003. 2 | Vgl. R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987.

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10 | Zur Genese des Sozialen inkorporiert. Dies kann sich mit der unmittelbaren Teilhabe am sozialen Handeln oder aber mit Hilfe der Einbildungskraft vollziehen. In beiden Fällen machen Menschen die ihnen vorgängige soziale Welt noch einmal als ihre Welt. Mit diesen Handlungen stellen sie eigene soziale Welten her und fügen sich dadurch in die Gemeinschaft ein. Sie nehmen an dieser Welt teil und geben ihr eine körperliche Existenz. Wie sie in der von ihnen erzeugten sozialen Welt enthalten sind, enthalten sie die soziale Welt in ihrer Vorstellungswelt. Bei der Inszenierung sozialen Handelns geht es nicht um die mechanische Reproduktion vorgefundenen sozialen Verhaltens, sondern um die Erzeugung neuer Inszenierungen und Aufführungen sozialen Handelns unter Bezugnahme auf frühere soziale Situationen und Arrangements. Bei dem für die Inszenierung und Aufführung sozialen Verhaltens erforderlichen performativen Wissen handelt es sich nicht um ein theoretisches oder reflexives Wissen, sondern um ein mimetisches Wissen. Als solches ist dieses Wissen körperlicher Natur und eng mit sinnlichen Prozessen verbunden. Wenn Menschen an szenischen Aufführungen sozialer Handlungen teilnehmen und wahrnehmen, wie andere Menschen in sozialen Szenen handeln, wird dieses Wissen erworben. Dabei kommt der Art und Weise, in der sich diese Prozesse vollziehen, eine zentrale Bedeutung zu. Das Wie der szenischen, die sozialen Handlungen konstituierenden und konkretisierenden Arrangements wird sinnlich aufgenommen und verarbeitet. Indem Menschen sich den sozial konstituierten Außenwelten anähneln, überführen sie diese mit den Sinnen und der Einbildungskraft in innere Bilder, Klangkörper, Tast-, Geruchs-, und Geschmackwelten und inkorporieren sie in ihre eigene Vorstellungswelt. Aufgrund der zentralen Rolle, die die Imagination bei der Inszenierung und Aufführung des Sozialen spielt, haben soziale Arrangements oft eine ludische Komponente; diese bezeichnet einen spielerischen Ernst, der gewisse Grenzen wahrt, und verbindet so Regelkonformität mit Freiwilligkeit. Im rituellen Handeln ergeben sich Spielräume für spontanes und kreatives Handeln, bei dem die bestehenden Normen der Gemeinschaft außer Kraft gesetzt oder modifiziert werden. Spielerisch können hier alte Komponenten weggelassen und neue hinzugefügt werden. Mit Hilfe ludischer Elemente wird vermieden, Gemeinschaftsbeziehungen auf kausale oder funktionale Sinnstiftungen zu reduzieren. Die spielerische Seite dient in nicht reflexiver Weise einer körperlich-inszenatorischen Selbstvergewisserung der Gemeinschaften. Sie verweist auf die Rolle, die die Imagination für die Erzeugung der heterogenen Formen und Ausprägungen sozialer Performativität spielt.3 3 | Vgl. J. Bilstein/M. Winzen/Ch. Wulf (Hg.), Anthropologie und Pädagogik des Spiels, Weinheim 2005.

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Performativität Wenn soziales Wissen ein praktisches, mimetisch erworbenes performatives Wissen ist, dann spielen die Körperlichkeit der Handelnden sowie der inszenatorische und der Aufführungscharakter ihres Handelns eine zentrale Rolle. In dieser Perspektive sind soziale Handlungen symbolische Arrangements des menschlichen Körpers. Wenn von ihrem performativen Charakter die Rede ist, dann geht es um die für soziales Handeln konstitutiven Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Die Performativität sozialen Handelns umfasst mindestens drei Dimensionen.4 Einmal lassen sich soziale Handlungen als kulturelle Aufführungen begreifen. Als solche sind sie das Ergebnis von Inszenierungen und Prozessen körperlicher Darstellung. In ihrem Verlauf geht es um das Arrangement sozialer Situationen. Indem sozial Handelnde sich im Sprechen und Handeln aufeinander beziehen, erzeugen sie soziale Situationen. Diese sind das Ergebnis kulturellen Handelns, in dessen Verlauf heterogene gesellschaftliche Kräfte in eine soziale Ordnung gebracht werden. Zum anderen kommt dem performativen Charakter der Sprache bei sozialen und vor allem bei rituellen Handlungen zentrale Bedeutung zu. Deutlich wird dieser z.B. bei den Ritualen der Taufe, der Konfirmation und des Übergangs, in denen die beim Vollzug des Rituals gesprochenen Worte wesentlich dazu beitragen, eine neue soziale Wirklichkeit zu schaffen. Entsprechendes gilt auch für soziale Handlungen, in denen das Verhältnis der Geschlechter zueinander organisiert wird und in denen die wiederholte Ansprache eines Kindes als »Junge« oder »Mädchen« dazu beiträgt, Geschlechtsidentität herauszubilden.5 Schließlich umfasst das Performative auch eine ästhetische Dimension, die für künstlerische performances konstitutiv ist. Diese Perspektive verweist auf die Grenzen einer funktionalistischen Betrachtungsweise der Performativität sozialer Handlungen. Wie die ästhetische Betrachtung künstlerischer performances dazu führt, dass diese nicht auf intentionsgeleitetes Handeln reduziert werden, so erinnert sie auch daran, dass soziale Handlungen »mehr« sind als die Verwirklichung von Intentionen. Zu diesem »Mehr« sozialen Handelns gehört z.B. die Art und Weise, in der in sozialen Arrangements Handelnde ihre Ziele verfolgen. Trotz gleicher Intentionalität zeigen sich bei der Inszenierung ihrer körperlichen Aufführung häufig erhebliche Unterschiede. Zu den Gründen 4 | Vgl. Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas (Hg.), Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim, München 2001. 5 | Vgl. J. Butler, Körper von Gewicht, Frankfurt/Main 1997.

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12 | Zur Genese des Sozialen dafür gehören allgemeine historische, kulturelle und soziale sowie besondere, mit der Einmaligkeit der Handelnden verbundene Bedingungen. Das Zusammenwirken beider Faktorengruppen erzeugt den performativen Charakter sprachlichen und sozialen Handelns einschließlich seiner ungewollten Nebenwirkungen. In dem Ereignis- und Prozesscharakter werden die Grenzen der Planbarkeit und Voraussehbarkeit sozialen Handelns deutlich. Bei der Berücksichtigung der ästhetischen Dimension des Performativen wird die Bedeutung des Stils sozialer Arrangements sichtbar. Die zwischen der bewussten Intentionalität und den vielfältigen Bedeutungsdimensionen des szenischen Arrangements der Körper erkennbar werdende Differenz ist offensichtlich. Der performative Charakter sozialen Handelns bietet Anlass zu unterschiedlichen Deutungen und Interpretationen, ohne dass es dadurch seine Wirkungen verliert. Vielmehr besteht gerade ein Teil seiner Effekte darin, dass die gleiche soziale Handlung unterschiedlich gedeutet werden kann, ohne dass dadurch ihre soziale Kraft zerstört würde. Soziale Beziehungen hängen wesentlich davon ab, wie Menschen bei ihrem sozialen Handeln ihren Körper einsetzen, welche körperlichen Abstände sie einhalten, welche Körperhaltungen sie zeigen, welche Gesten sie entwickeln. Über diese Merkmale vermitteln Menschen anderen Menschen viel von sich. Sie teilen ihnen etwas mit von ihrem Lebensgefühl, ihrer Art und Weise, die Welt zu sehen, zu spüren und zu erleben. Trotz ihrer zentralen Bedeutung für die Wirkung sozialen Handelns fehlen diese Aspekte körperlicher Performativität in vielen Handlungstheorien, in denen die Handelnden unter Absehung der sinnlichen und kontextuellen Bedingungen ihrer Handlungen noch immer auf ihre kognitiven Seiten reduziert werden. Um diese Reduktion zu vermeiden, muss man untersuchen, wie soziales Handeln emergiert, wie es mit Sprache und Imagination verbunden ist, wie seine Einmaligkeit durch gesellschaftliche und kulturelle Muster ermöglicht wird und wie sich sein Ereignischarakter zu seinen repetitiven Aspekten verhält. Man muss der Frage nachgehen, wie weit sich Sprechen und Kommunikation als Handeln begreifen lassen und welche Rolle Ansprache und Wiederholung für die Herausbildung geschlechtlicher, sozialer und ethnischer Identität spielen. In einer solchen Perspektive wird soziales Handeln als körperlich-sinnliche Nachahmung, Teilnahme und Gestaltung kultureller Praktiken begriffen. Soziales Handeln wird als performance, Sprechen als performatives Handeln, und Performativität als ein abgeleiteter, diese Zusammenhänge übergreifend thematisierender Begriff verstanden.6 6 | Vgl. Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas (Hg.), Grundlagen des Performativen; E. Fischer-Lichte/Ch. Wulf (Hg.), Theorien des Performativen. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 10/1, 2001; dies. (Hg.), Praktiken des Performativen. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie

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Das Ineinandergreifen körperlicher, sprachlicher und ästhetischer Aspekte sozialen und vor allem rituellen Handelns hat Bourdieu untersucht.7 Nach seiner Auffassung erzeugt diese Verbindung die Magie, die vor allem bei Ritualen eine bedeutende Rolle spielt. Die performative Magie sozialer und vor allem ritueller Handlungen entsteht dadurch, dass alle an den Sinn und die Rechtmäßigkeit der durch das Handeln geschaffenen Bedingungen glauben. Besonders wichtig wird dies, wenn z.B. rituelle Handlungen Grenzen ziehen, die soziale Unterschiede erzeugen, deren Akzeptanz für die Herausbildung gesellschaftlicher Hierarchien und der mit ihnen verbundenen Identität zentral ist. Die durch die Inszenierung und Aufführung körperlicher Arrangements und sprachlicher Handlungen erzeugte performative Magie ist Voraussetzung für das Gelingen sozialen und vor allem rituellen Handelns und für die Erzeugung der in ihnen entwickelten Machtverhältnisse. Im rituelle Arrangements begleitenden Sprechen wird die Macht der Sprache zur Macht der Sprechenden.8 Die Macht sozialen und vor allem rituellen Handelns verändert die in eine soziale Ordnung eintretenden Menschen. Obwohl z.B. Kinder schon nach der Einschulung als Schüler gelten, werden sie zu solchen erst mit der Zeit. Soziale Handlungen erzeugen und strukturieren nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft; in ihrer Performativität verbinden sie Vergangenes und Zukünftiges. Ihr performativer Charakter bewirkt, dass alle Beteiligten die in sozialen Arrangements inszenierten Machtverhältnisse anerkennen. Dadurch erhalten diese den Anschein von »Natürlichkeit«. Dieser Eindruck verdeckt die in sozialen Handlungen enthaltenen gesellschaftlichen Hierarchien und deren gesellschaftlichen, prinzipiell veränderbaren Charakter.

Ritual Vieles von dem, was sich über den performativen Charakter sozialer Handlungen sagen lässt, gilt in besonderem Maße für Rituale. Nach wie vor ist der Begriff des Rituals in Deutschland vor allem negativ besetzt. Denkt man 13/1, 2004; Ch. Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim, Basel 1997; ders., Anthropologie der Erziehung. Eine Einführung, Weinheim, Basel 2001; ders., Anthropologie. Kultur, Geschichte, Philosophie, Reinbek 2004. 7 | P. Bourdieu, »Les rites comme actes d’institution«, in: Actes de la recherche en sciences sociales 32 (1982), S. 58-63. 8 | Vgl. K. Audehm: »Die Macht der Sprache: Performative Magie bei Pierre Bourdieu«, in: Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas (Hg.), Grundlagen des Performativen, S. 101-128.

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14 | Zur Genese des Sozialen an die Verwendung von Ritualen in totalitären Systemen, so ist eine kritische Sicht auch berechtigt. Rituale können dazu dienen, Menschen zu unterdrücken, sie gleichzuschalten sowie gesellschaftliche Machtverhältnisse zu verschleiern. Auch in Demokratien ist daher eine skeptische Perspektive auf Rituale erforderlich. Doch ein solches Ritualverständnis, wie es sich nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus herausbildete und durch die 68er-Bewegung verstärkt wurde, wird dem komplexen Charakter von Ritualen nicht gerecht. Für Kommunität und Gesellschaft, Gemeinschaften und Individuen ist die Bedeutung von Ritualen viel zu groß, als dass man die Auseinandersetzung mit ihnen auf Ritualkritik beschränken dürfte. Die allmählich verstärkte Aufmerksamkeit gewinnende internationale und interdisziplinäre Ritualdebatte macht dies deutlich. In dieser ist die Ritualforschung schon lange nicht mehr auf vormoderne Gesellschaften beschränkt. Vielmehr geht es in vielen Untersuchungen um die Bedeutung von Ritualen für moderne bzw. spätmoderne Gesellschaften. Im Zentrum des Interesses steht die oft übersehene produktive Seite rituellen Handelns. Rituale konstituieren Gemeinschaften; ohne sie ist Soziales nicht möglich. Deshalb spielen sie in allen gesellschaftlichen Bereichen eine Rolle.9 Nach wie vor gibt es keine einheitliche Ritualtheorie; vielmehr ist das Feld der ritual studies durch eine produktive Heterogenität der Ansätze gekennzeichnet. Für diese Situation gibt es mehrere Gründe. Zum einen führen die Wissenschaftstraditionen in den verschiedenen Disziplinen zu unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunktsetzungen. Zum anderen zeigen viele ethnographische Untersuchungen, dass die Vielschichtigkeit von Ritualen mit einem theoretischen Zugriff allein nicht erfasst werden kann. Sodann steht das Bewusstsein vom historischen und kulturellen Charakter von Ritualen der Bildung universalistischer Ritualtheorien entgegen. Je nach Zeit, Raum, Kultur und Gegenstandsfeld kommt es zu unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Ritualbegriffs. So kann es sinnvoll sein, im Rahmen eines eher allgemein verwendeten heuristischen Ritualbegriffs zusätzlich zwischen Ritualisierung, Konvention, Zeremonie, Liturgie und Feier zu unterscheiden. Auch eine Differenzierung zwischen verschiedenen Ritualtypen wie Übergangsritualen, Ritualen der Amtseinführung, der Intensivierung, der Rebellion und Interaktionsritualen ist sinnvoll. Die Fokussierung von Raum, Zeit und Alterität in rituellen Beziehungen führt zu wichtigen Erkenntnissen über die Gemeinschaft erzeugende Funktion von Ritualen. Trotz der genannten Einschränkungen lassen sich weitere allgemeine 9 | Vgl. Ch. Wulf u.a., Das Soziale als Ritual: Zur performativen Bildung von Gemeinschaften, Opladen 2001; Ch. Wulf u.a., Bildung im Ritual. Schule, Familie, Jugend, Medien, Wiesbaden 2004.

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Merkmale von Ritualen angeben. Zu diesen gehören der herausgehobene Charakter der Handlung, die Zeitlichkeit, die Örtlichkeit, die Kollektivität und die Öffentlichkeit. Rituale sind komplex; sie sind regelhaft. Ihre Regelhaftigkeit ist an ein praktisches Wissen gebunden, das seinerseits Regelmäßigkeiten erzeugt. Rituale sind soziale Dramen, in denen Differenz bearbeitet wird. Sie sind Inszenierungen und Aufführungen des Sozialen, in denen Gemeinschaften performativ gebildet werden. Ihre Wirkungen entfalten sie durch die Verbindung von performativen und symbolischen Elementen. Am Beispiel von Familienritualen wie gemeinsamem Essen, von rituellen Familienfesten wie Weihnachten, Geburtstag, Taufe, Konfirmation und Hochzeit wird dies deutlich. In diesen rituellen Feiern und Festen vergewissern die Mitglieder der Familie einander ihre Zugehörigkeit zur Familie. Auch wenn Dauer, Intensität und Stil der Mahlzeiten in Familien sehr unterschiedlich sind, so ähneln sie dennoch einander in ritueller Hinsicht. In den meisten Familien gehören Tischgespräche zu den wichtigsten Formen familiärer Erziehung. Unter den vielen dort täglich verhandelten Themen nimmt der Erfolg bzw. Misserfolg der Kinder in der Schule eine zentrale Stelle ein. Während der Tischgespräche artikulieren die Eltern ihre Lebensvorstellungen und vermitteln diese gleichsam beiläufig den Kindern. Orientierungskriterien im Hinblick auf Leistung, moralisches Verhalten und Geschlechterrollen werden geäußert und zwischen den Familienmitgliedern erörtert. Dabei kommen unterschiedliche Auffassungen, potentielle und reale Konflikte zum Ausdruck und werden bearbeitet. Unabhängig von den jeweils erörterten Inhalten bestimmen die Mitglieder der Familie in diesen Gesprächen auch ihre Beziehungen untereinander und zur Welt außerhalb der Familie. Für die Inkorporierung der familiären Werte, Einstellungen und Vorstellungen ist der rituelle Charakter dieser Tischgespräche unerlässlich.10 Soziale Gemeinschaften konstituieren sich durch verbale und nonverbale ritualisierte Formen der Interaktion und Kommunikation. Diese werden ständig auf einer »Bühne« aufgeführt; auf diesem performativen Weg werden Rollen, Zusammenhalt, Intimität, Solidarität und Integration der Gemeinschaft als Gemeinschaft erst möglich. Das heißt, Gemeinschaften zeichnen sich nicht nur durch ein kollektiv geteiltes symbolisches Wissen aus, sondern sie handeln auch, indem sie dieses Wissen durch Rituale inszenieren, die eine Selbstdarstellung und Reproduktion der sozialen Ordnung und Integrität bestätigen. Gemeinschaften sind dramatische Hand10 | Vgl. A. Keppler, Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien, Frankfurt/Main 1995; K. Audehm/J. Zirfas, »Familie als ritueller Lebensraum«, in: Ch. Wulf u.a., Das Soziale als Ritual, S. 37-116.

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16 | Zur Genese des Sozialen lungsfelder, die durch Rituale als symbolische Inszenierungen in konjunktiven Erfahrungsräumen konstituiert werden und die ein Interaktionssystem darstellen, das seine Einheit aus den – durchaus auch divergierenden – Interaktionen gewinnt.11 Institutionen, Organisationen und Rituale können ihre Aufgaben nur dadurch erfüllen, dass sie sich verändern. Ihnen wohnt eine Tendenz inne, ihre Inhalte und Formen den sich wandelnden Bedingungen anzugleichen. Nur wenn Rituale dabei erfolgreich sind, erfüllen sie ihre Aufgaben. Gelingt ihnen dies nicht, erstarren sie, werden sinnlos und müssen reformiert werden. Viele rituell erzeugte Welten haben einen demonstrativen und einen ludischen Charakter. Die ostentative Seite von Ritualen ergibt sich aus ihrem Aufführungscharakter. Wo rituell Handelnde von anderen wahrgenommen werden wollen und sollen, inszenieren sie ihre rituellen Arrangements dementsprechend. Das gilt etwa für Rituale der Einsetzung in neue Funktionen innerhalb der Gemeinschaft oder des Übergangs von einem lebenszeitlichen Stadium in ein anderes. Diese demonstrative Öffentlichkeit des szenischen Arrangements ist hier eine wesentliche Voraussetzung der Legitimation des rituellen Handelns und seines Auftrags der Gemeinschaftsstiftung. Mit dem Aufführungscharakter hängt auch die ludische Seite ritueller Handlungen zusammen. Wie es von Theaterstücken viele Inszenierungen gibt, so sind auch von einem Ritual mehrere Inszenierungen und Arrangements möglich. Je nach Kontext werden sie unterschiedlich gestaltet, ohne dass dadurch das Ritual seine Funktion verliert. Die Vielfalt ritueller Inszenierung ist daher keine Unzulänglichkeit, sondern gerade ein Charakteristikum des Rituals, das seine Komplexität ausmacht. Das Spielerische rituellen Handelns ergibt sich aus seiner mimetischen Konstitution sowie der Rolle, die die Imagination für die Performativität von Ritualen spielt. Sie ermöglicht unterschiedliche Formen und Ausprägungen. Entscheidend ist, dass der Rahmen der rituellen Handlung eingehalten wird, der bei aller Divergenz der verschiedenen Aufführungen auch Kontinuität ermöglicht. Das Ludische im Ritual bezeichnet einen spielerischen Ernst, der gewisse Grenzen wahrt und so Regelkonformität mit Freiwilligkeit verbindet. Im rituellen Handeln ergeben sich dadurch Spielräume für spontanes und kreatives Handeln, bei dem die bestehenden Normen der Gemeinschaft auch außer Kraft gesetzt oder modifiziert werden können. Spielerisch können alte Elemente weggelassen, neue hinzugefügt werden. Diese ludische 11 | Vgl. Ch. Wulf/J. Zirfas (Hg.), Rituelle Welten. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 12, Heft 1 und 2, 2003; dies. (Hg.), Die Kultur des Rituals, München 2004.

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Seite dient in nicht reflexiver Weise einer körperlich-inszenatorischen Selbstvergewisserung der Gemeinschaften. Zusammenfassend lassen sich Rituale charakterisieren als körperlich, performativ, expressiv, symbolisch, regelhaft, nicht-instrumentell, effizient; sie sind repetitiv, homogen, liminoid, öffentlich und operational; Rituale sind institutionelle Muster, in denen kollektiv geteiltes Wissen und kollektiv geteilte Handlungspraxen dahingehend inszeniert werden, dass eine Selbstdarstellung und Selbstinterpretation der institutionellen bzw. gemeinschaftlichen Ordnung bestätigt wird. Rituelle Handlungen haben einen Anfang und ein Ende und damit eine zeitliche Struktur. Sie finden in sozialen Räumen statt, die sie gestalten. Rituelle Prozesse verkörpern und konkretisieren Institutionen und Organisationen. Sie haben einen herausgehobenen Charakter. Sie sind ostentativ und werden durch ihre jeweilige Rahmung bestimmt. In ihnen werden Übergänge zwischen sozialen Situationen und Institutionen gestaltet und Differenzen zwischen Menschen und Situationen bearbeitet. Rituale sind in Machtbeziehungen eingebunden und strukturieren soziale Wirklichkeit; sie schaffen und verändern soziale Ordnungen und Hierarchien. Ihre Inszenierung und Aufführung erfordert rituelles Wissen. Dieses ist praktisches Wissen, das in der Beteiligung an rituellen Situationen mimetisch erworben wird. Als solches ist es sinnliches Wissen, dessen mimetischer Charakter seine performative Macht sichert. Wie die Berliner Ritualstudie gezeigt hat, kommt Ritualen für die Verwirklichung von Reformen in Institutionen erhebliche Bedeutung zu. Die Veränderung von Institutionen gelingt nicht ohne die Entwicklung neuer Rituale. Erst diese ermöglichen den Zusammenschluss mehrerer sozialer Subjekte zu gemeinsamem Handeln. Wenn neue Handlungs- und Verhaltensformen an die Stelle bisheriger treten sollen, müssen sie inszeniert, arrangiert und aufgeführt werden, d.h. sie müssen performativ werden. Dazu bedarf es eines ritualisierten Handelns, in dem die Tätigkeiten mehrerer Menschen zusammengeführt werden. Nur durch die rituelle Koordination der verschiedenen Aktivitäten ist eine Veränderung der institutionellen Strukturen und der sozialen Beziehungen möglich. Um institutionelle Veränderung zur realisieren, muss das dazu erforderliche Verhalten performativ werden. Dazu bedarf es seiner Wiederholung, Einübung und Routinisierung – seiner Ritualisierung.

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1. Mimetische Grundlagen des Subjekts

Mimesis als anthropologischer Begriff Der Begriff der Mimesis ist in der Ästhetik geläufig, in der er vor allem in der Bedeutung von Nachahmung und Naturnachahmung verwendet wird. Dieser Gebrauch des Begriffs ist jedoch zu eng; er bedarf einer Erweiterung. Die Bedeutungsvielfalt von Mimesis lässt eine Einschränkung auf »Nachahmung« nicht zu. Desgleichen überzeugt die Eingrenzung auf »Ästhetik« nicht. Begriffsgeschichtliche Untersuchungen1 haben gezeigt: Bereits in der Antike hatte Mimesis eine anthropologische und damit eine umfassendere als die ästhetische Bedeutung. So wird Mimesis zur Kennzeichnung sozialer und erzieherischer Prozesse verwendet. Noch in Platons »Staat« kommt Mimesis in diesem Sinn vor. Doch kündigt sich hier schon eine Eingrenzung auf den Bereich der Kunst und der »Ästhetik« an, deren Eigenständigkeit durch Mimesis begründet wird.2 Aristoteles hingegen erkennt die fundamentale Bedeutung der Mimesis für die menschliche Entwicklung, wenn er ihren anthropologischen und pädagogischen Gehalt bestimmt: »Sie zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in 1 | Vgl. H. Koller, Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck, Bern 1954; G.F. Else, »›Imitation‹ in the 5th Century«, in: Classical Philology 53/2 (1958), S. 73-90. 2 | Vgl. Ch. Wulf, »Mimesis«, in: G. Gebauer/D. Kamper/D. Lenzen/G. Mattenklott/K. Wünsche/Ch. Wulf, Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung, Reinbek 1989, S. 83-125; ders., »Mimesis und Ästhetik. Zur Entstehung der Ästhetik bei Platon und Aristoteles«, in: G. Treusch-Dieter/W. Pircher/H. Hrachovec (Hg.), Denkzettel Antike, Berlin 1989, S. 192-200.

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22 | I Mimesis besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch durch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.«3 Diese besondere mimetische Fähigkeit ist in anthropologischer Hinsicht gebunden an • • •

die Frühgeburt des Menschen und die dadurch bedingte Angewiesenheit auf Lernen, die residuale Instinktausstattung und den Hiatus zwischen Reiz und Reaktion.

Verstanden werden kann Mimesis als anthropologische Fähigkeit lediglich in ihrer historischen Ausprägung. Wie sich mimetische Prozesse vollziehen und was sie in einer bestimmten Periode bedeuten, ist von deren gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen und der eigenen unhintergehbaren historischen Position abhängig. Das Bedeutungsfeld von Mimesis erschließt sich angemessen nur einer historisch-anthropologischen Analyse.4 Dieses Bedeutungsfeld ist prinzipiell ambivalent. Einerseits können mimetische Prozesse als Prozesse der Mimikry zur Anpassung an Vorgegebenes, Erstarrtes, Lebloses führen;5 andererseits können sie viele Hoffnungen auf sich ziehen. Sie können zur »lebendigen Erfahrung« (Adorno) der Außenwelt, des Anderen und der eigenen Person führen. Mimetische Prozesse können Bewegungen mit gebrochener Intention initiieren, Raum für das Nicht-Identische bieten, Möglichkeiten zu einem nicht-instrumentellen Umgang mit der Welt schaffen, in dem das Partikulare gegenüber dem Universellen geschützt und den Dingen und Menschen Schonung gewährt wird. Beim gegenwärtigen Stand gesellschaftlich-kultureller Entwicklung ist die Ambivalenz mimetischer Prozesse nicht aufhebbar. Die mimetischen Fähigkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sind eng mit körperlichen Prozessen verbunden und wirken gesellschaftlichen Abstraktionstendenzen entgegen. Sie schlagen eine Brücke zum Außen, zur Welt und zu anderen Menschen; sie tendieren dazu, die harte Subjekt-Objekt-Spaltung und die Schärfe des Unterschieds zwischen Sein und Sollen zu mindern. Es geht um ein Verständnis des »Zwischen«,6 das in der »Anähnlichung« (Adorno) des Subjekts an eine Außenwelt bzw. an einen anderen Menschen erfahren wird. Mimetische Prozesse enthalten 3 | Aristoteles, Poetik, hg. v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1984, S. 11. 4 | Vgl. G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimesis; dies., Spiel, Ritual, Geste. 5 | Vgl. M. Horkheimer/Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1971. 6 | Vgl. J. Derrida, La Dissémination, Paris 1972; ders., »Economimésis«, in: S. Agacinski u.a. (Hg.), Mimésis des articulations, Paris 1975, S. 55-93.

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rationale Elemente, erschöpfen sich jedoch nicht in ihnen. In mimetischen Prozessen tritt der Mensch aus sich heraus, gleicht sich der Welt an, hat er die Möglichkeit, die Außenwelt in seine Innenwelt hineinzuholen und seine Innenwelt auszudrücken. Mimetische Prozesse führen zu einer Annäherung an Objekte und an den Anderen und sind somit notwendige Bedingungen von Verstehen. Während das moderne rationale Denken auf das einzelne isolierte Erkenntnissubjekt bezogen ist, ist Mimesis immer eine Angelegenheit eines Beziehungsgeflechts von Personen. Die mimetische Erzeugung einer symbolischen Welt nimmt Bezug auf andere Welten und ihre Schöpfer und schließt andere Personen in die eigene Welt ein. Sie anerkennt den Austausch zwischen Welt und Mensch und den darin enthaltenen Aspekt der Macht. Die Geschichte der Mimesis ist eine Geschichte der Auseinandersetzungen um die Macht über die Erzeugung symbolischer Welten, um die Macht, sich und andere darzustellen und die Welt nach den eigenen Vorstellungen zu deuten. Insofern gehört Mimesis, insbesondere im Bereich der Erziehung und der Sozialisation, zur Geschichte der Machtverhältnisse. Mimetische Prozesse sind keine bloßen Imitations-, Reproduktionsoder Prägungsprozesse. Im Gegenteil, sie verlangen eine individuelle Gestaltung durch das Kind, den Jugendlichen oder den Erwachsenen. Dabei variiert das Ausmaß individueller Differenz aufgrund unterschiedlicher Bedingungen. Viele mimetische Prozesse sind unauflösbar mit den Prozessen des Begehrens und Wünschens, der sinnlichen Wahrnehmung und der Erfahrung verbunden. Unsere Frage nach der Bedeutung mimetischer Prozesse in den Bereichen »Bildung und Erziehung«, »Sozialisation« und »soziales Handeln« konstituiert ein komplexes Forschungsfeld, aus dem im Weiteren beispielhaft einige Aspekte behandelt werden sollen.

Die Macht der Mimesis Bereits in der Antike, in der vorplatonischen Zeit, lassen sich mehrere Bedeutungsschwerpunkte von Mimesis unterscheiden, die bis heute für den Bereich der Persongenese und der Erziehung relevant sind. Aus einer Untersuchung aller aus dieser Zeit überlieferten Textstellen zum Begriff »Mimesis« ergeben sich folgende Bedeutungsvarianten: 1.

2.

»Mimetisches Verhalten meint die direkte Nachahmung des Aussehens, der Handlungen und der Äußerungen von Tieren oder Menschen durch Rede, Lied und/oder Tanz […] Die ›Nachahmung‹ der Handlungen einer Person durch eine andere in einem ganz allgemeinen Sinne […]

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24 | I Mimesis 3.

Die Nachschaffung eines Bildes oder eines Bildes einer Person oder einer Sache in materieller Form […].«7

Im dritten Buch von Platons »Staat« findet erstmals eine Übertragung des Mimesisbegriffs auf die Erziehung statt. Nach der dort entwickelten Auffassung erfolgt Erziehung weitgehend durch Mimesis. Den mimetischen Prozessen wird eine außerordentliche Macht zugeschrieben. Sie basiert auf der starken mimetischen Veranlagung des Menschen, die besonders im frühen Kindesalter die motorische, sinnliche und sprachliche sowie die geistige, soziale und personale Entwicklung ermöglicht. Nach Platons Auffassung erfahren und erwerben Kinder und Jugendliche soziales Verhalten in der Begegnung mit anderen Menschen und im Erleben ihrer Verhaltensweisen. In diesen Prozessen werden Werte und Einstellungen mit allen Sinnen aufgenommen und inkorporiert. Neben den visuellen kommt den auditiven Sinneswahrnehmungen eine besondere Bedeutung zu. So betont Platon die Bedeutung der Musik und ihrer mimetischen Verarbeitung für die Entwicklung der seelischen Erlebnisfähigkeit. Er unterscheidet verschiedene Formen der Musik, denen er vielfältige Wirkungen auf die »Seele« junger Menschen zuschreibt. Ähnlich nachhaltige Auswirkungen haben Vorbilder, die die Jugend zum Nacheifern herausfordern. Diese können reale Menschen, aber auch literarische Gestalten und fiktive Bilder sein. In dieser Zeit werden die Vorbilder der Erziehung vorwiegend durch die Dichtung, vor allem durch Homer, geschaffen. An ihnen kritisiert Platon die mangelnde Eindeutigkeit und den »vermischten« Charakter. So werden Götter mit unzulänglichen Seiten, Helden mit menschlichen Schwächen dargestellt. Diese »vermischte« Darstellung beeinträchtige den Vorbildcharakter der Götter und Helden für die Erziehung der Jugend. Da die Literatur keine eindeutigen Vorbilder schaffen könne, solle sie aus dem »Staat« ausgeschlossen und durch die Philosophie ersetzt werden, in deren Mittelpunkt die Suche nach dem »Schönen«, »Guten« und »Wahren« stehe. Diese platonische Position der Kontrolle und des Ausschlusses, die auch in anderen Gesellschaftsutopien und normativen Erziehungstheorien vertreten wird, ist an folgende Voraussetzungen gebunden: Aufgrund der mimetischen Veranlagung des Menschen entfalten Vorbilder eine nachhaltige Macht über den jungen Menschen, gegen die es keine erfolgreiche Gegenwehr gibt. Vorbilder wecken das mimetische Begehren und »zwingen« den jungen Menschen, ihnen nachzueifern. Der Vorbildcharakter verweist auf einen Mangel, den das Begehren überwinden möchte. Das mimetische Begehren8 bringt den jungen Menschen dazu, 7 | G.F. Else, Imitation, S. 79.

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wie sein Vorbild sein zu wollen. Daher versucht er, sich dem Vorbild ähnlich zu machen, sich ihm anzugleichen. Nach Platons Auffassung ist die Macht der Vorbilder anthropologisch begründet; sie verweist auf eine »conditio humana«, die mit der »exzentrischen Positionalität« (Plessner) und der »Weltoffenheit« (Scheler) einhergeht. Das nur geringfügig instinktgebundene menschliche Begehren wird durch Vorbilder »angesteckt« und führt zu einer Mimesis des Vorbilds. Durch diesen Mechanismus werden Lebensformen und Lebenswelten an die nachwachsende Generation weitergegeben. Nach der im »Staat« entwickelten Auffassung ist die Vervollkommnung des jungen Menschen durch sein mimetisches Begehren möglich, das seine Angleichung an ein Vorbild »erzwingt«. Durch die Auswahl richtiger Vorbilder sollen menschliche Unzulänglichkeit überwunden und Verbesserung erreicht werden. Strittig ist lediglich die Radikalität dieser Position, mit der auf der Basis einer normativen Anthropologie und einer normativen Erziehungstheorie das Leben und die Erfahrungen junger Menschen bestimmt werden. Bereits Aristoteles hat dieser platonischen Auffassung widersprochen. Zwar war er in gleicher Weise von der Macht mimetischer Prozesse überzeugt, doch zog er daraus andere Schlussfolgerungen. Nicht dürfe das Unvollkommene und Unverbesserliche aus dem Erfahrungsbereich ausgeschlossen werden; vielmehr müsse man sich diesem stellen, sich mit ihm auseinandersetzen und sich dadurch gegen seine Ansteckungsmacht »immunisieren«. Schutz gegen die Macht negativer Vorbilder biete nicht ihre Vermeidung, sondern die Auseinandersetzung mit ihnen. Andernfalls bleibe der junge Mensch gegenüber negativen Einflüssen anfällig und wehrlos. Nur wenn eine Bearbeitung der negativen Vorbilder stattfinde, könnten sich Widerstandskraft und personale Stärke entwickeln. Ähnliche Überlegungen spielen bis heute in der politischen Bildung eine Rolle. Danach entstehen gefestigte politische Einstellungen nicht durch die Abwehr ihnen widersprechender Auffassungen, sondern durch deren kritische Bearbeitung. Gleiches gilt für Einstellungen und Werte in anderen Bereichen der Erziehung. Diese Position wird heute durch psychoanalytisches Wissen gestützt, das die negativen Folgen von Vermeidung und Abwehr für die Psychogenese herausgestellt hat.9 Wegen der nachhaltigen Wirkungen mimetischer Prozesse auf Erziehung und Bildung verlangt Platon eine strenge Kontrolle der Einflüsse auf die Imagination und fordert Aristoteles die intensive Bearbeitung ihrer 8 | Vgl. R. Girard, Das Heilige. 9 | Vgl. D. Wyss, Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Entwicklung, Probleme, Krisen, Göttingen 1977.

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26 | I Mimesis Wirkungen. Seit Platon ist klar: Nicht nur Vorstellungen, Einstellungen und Werte, sondern auch soziale Lebens- und Handlungsformen werden über mimetische Prozesse gestaltet.10 Aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen junger Menschen entsteht keine bloße Kopie des Vorbilds; der mimetische Prozess führt zu einer Differenz, die die Eigenständigkeit und den kreativen Charakter seiner Ergebnisse ausmacht. Das im mimetischen Akt angeeignete Vorbild ist also keine bloße Abbildung aufgrund äußerer Ähnlichkeit, sondern eine Konstruktion des sich mimetisch Verhaltenden, in der Raum für Differenz, Partikularität und Kreativität ist. Für die Konstitution des Subjekts spielt Mimesis eine zentrale Rolle. Als nicht nur ästhetische, sondern anthropologische Fähigkeit ist sie für das Lernen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen von außerordentlicher Bedeutung. Dies wissen Eltern, Lehrer und Erzieher seit langem. Dennoch hat dieses Wissen kaum Eingang in das Nachdenken über die Konstitution des Subjekts und in das Nachdenken über seine Erziehung und Bildung gefunden. Eher schon handelt es sich um ein praktisches Wissen der in der Erziehung Tätigen. Sie wissen, wie wichtig mimetische Bezugnahmen zur Außenwelt, zu anderen Menschen und des Menschen zu sich selbst sind. Sie wissen, welche zentrale Rolle Vorbilder für die Entwicklung des Subjekts spielen und wie wichtig Übung und Wiederholung dafür sind, dass neue Fähigkeiten und Fertigkeiten entstehen. Selbst bei komplexen geistigen und sozialen Prozessen spielt Mimesis eine konstitutive Rolle. Mimesis ist weit mehr als bloße Imitation; Mimesis ist kreative Nachahmung. Sie bezeichnet Prozesse des Sich-in-Beziehung-Setzens zu anderen Menschen, zu deren und zu den eigenen Handlungen sowie zu szenischen Inszenierungen, Bildern und Texten. Durch institutionsspezifische Gesten und Rituale initiieren und fördern Familie, Schule, Hochschule mimetische Prozesse. Mit ihrer Hilfe werden die Anforderungen der Institutionen erfüllt und ihre Werte und Normen verinnerlicht. Sie werden inkorporiert und dadurch zu einem praktischen Wissen, das eine Bedingung sozialer und institutioneller Kompetenz ist. Viele menschliche Fähigkeiten im Bereich von Bildung, Arbeit und Kommunität werden mit Hilfe mimetischer Prozesse entwickelt. Was verstehen wir nun nach dem Gesagten unter Mimesis? Eine einfache Definition ist kaum möglich. Mimetische Prozesse sind komplex und widersetzen sich einfachen Bestimmungen. Um jedoch ein Vorverständnis zu sichern, lässt sich mimetisches Handeln zunächst begreifen als »nachahmen«, »nacheifern«, »sich ähnlich machen«, »sich angleichen«. Mimetisches Handeln bedeutet aber auch etwas »ausdrücken«, etwas »zur Darstel10 | Vgl. P. Bourdieu, Sozialer Sinn, Frankfurt/Main 1987; G. Gebauer/Ch. Wulf (Hg.), Praxis und Ästhetik, Frankfurt/Main 1993.

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lung bringen« oder sogar »vor-ahmen«. Mimesis berührt Begriffe wie Mimikry, Reproduktion, Repräsentation, Simulation. Im Kontext der Konstitution von Subjekten und von Erziehung und Bildung kommt die in dem Begriffsspektrum von Mimesis zum Ausdruck kommende Weite des Bedeutungsfeldes durchaus zum Tragen. Das prinzipiell ambivalente Bedeutungsfeld von Mimesis beinhaltet einerseits, dass mimetische Prozesse als Prozesse der Mimikry zur Anpassung an Vorgegebenes, Erstarrtes, Lebloses führen können. In der Dialektik der Aufklärung haben Horkheimer und Adorno diesen Aspekt mimetischer Prozesse immer wieder herausgestellt. Im Kontext der Konstitution des Subjekts bedeutet dieser Umschlag der Mimesis in Mimikry die Degeneration mimetischer Prozesse zu Prozessen bloßer Anpassung an Vorgefundenes ohne die Möglichkeit gestalterischer Mitwirkung. In vielen ritualisierten Prozessen in Familie, Schule und Arbeitswelt ist dies der Fall. Im Fall ritualisierter Interaktion in der Schule geht es z.B. häufig nur um eine Anpassung der Schüler an unterrichtlich vorgegebene Inhalte und um das Auswendiglernen dieser Inhalte für Prüfungszwecke. Dadurch werden unterrichtliche Inhalte häufig nicht um ihrer selbst willen zum Thema der Auseinandersetzung; vielmehr werden sie zu Prüfungsgegenständen umdefiniert und für diesen Zweck funktionalisiert. Eine Erschließung des Bildungswerts der Unterrichtsinhalte für die geistige und soziale Entwicklung jugendlicher Subjekte findet nicht statt. Die in der mimetischen Fähigkeit enthaltenen Bildungsmöglichkeiten werden nicht entfaltet. Mimesis degeneriert zu Mimikry. Andererseits ziehen mimetische Prozesse viele Hoffnungen auf sich. Sie können zur lebendigen Erfahrung der Außenwelt, des Anderen und der eigenen Person führen. Mimetische Prozesse lassen sich als Prozesse mit gebrochener Intention beschreiben. Sie widersetzen sich einer engen Unterordnung unter Ziele und damit einer Funktionalisierung für außerhalb ihrer selbst liegende Zwecke. Sie sind nur in begrenztem Maße planbar und in hohem Maße experimentell. Ihr Ausgang ist offen. Mimetische Prozesse haben ihr Ziel und ihren Wert weitgehend in sich selbst. Sie schaffen Möglichkeiten für einen nicht-instrumentellen Umgang mit der Welt, in dem das für die Subjektkonstitution so wichtige Partikulare gegenüber dem Universellen geschützt und den Dingen und Menschen Schonung gewährt wird. Mimetische Prozesse bieten Raum für Erfahrungen des Nicht-Identischen, in denen der Auseinandersetzungsprozess mit dem Außen selbst zum Ziel wird. Die Grenzen der Realisierbarkeit dieses emphatischen Anspruchs an mimetische Prozesse in Bildungsinstitutionen liegen auf der Hand. Doch müssen sich die Bedingungen institutionalisierten Lernens an den prinzipiell gegebenen Möglichkeiten kreativen Lernens messen lassen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass mimetische Prozesse nur stattfinden,

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28 | I Mimesis wenn die in der Mimesis enthaltenen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Auch unterhalb dieser Möglichkeiten vollziehen sich in Bildungsinstitutionen fortwährend mimetische Prozesse hoher Wirksamkeit. Im Folgenden soll an drei Beispielen die Bedeutung der Mimesis für die Konstitution des Subjekts dargestellt werden. Zunächst soll unter Bezug auf einen autobiographischen Text von Walter Benjamin gezeigt werden, wie Menschen sich ihre Welt mimetisch erschließen. Sodann soll die für die Gemeinschaft konstitutive Funktion sozialer Mimesis in Ritualen dargestellt werden. Schließlich sollen thesenartig weitere Perspektiven zur sozialen Bedeutung von Mimesis entwickelt werden.

Weltaneignung und Subjektkonstitution In zahlreichen Erinnerungsbildern beschreibt Benjamin in seiner Autobiographie »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« Orte, Räume, Wege, Häuser, Gegenstände, Ereignisse aus der Kindheit und stellt ihre Bedeutung für seine innere Entwicklung als Kind dar. Indem er sich an Gegenstände, Szenen, Ereignisse erinnert, vermittelt er eine besondere Sicht seiner Kindheit. Seine Erinnerungsbilder fügen sich nicht in die Programmatik traditioneller Autobiographien und deren Suche nach der Entstehung von Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein ein. Sie bestehen aus einzelnen Texten, die von Glücksgefühlen und Ängsten aus der Kindheit erzählen, die aber in diesen Selbstzeugnissen das Kind als Subjekt unerkannt lassen. Die Rahmenbedingungen dieser dennoch höchst individuellen Erinnerungen werden durch die Angabe des Ortes »Berlin« und der Zeit »um Neunzehnhundert« gegeben. Durch ihre implizite Berücksichtigung entsteht eine historisch-anthropologische Analyse avant la lettre. Benjamins autobiographischer Text bricht mit der auf Augustinus und Rousseau zurückgehenden Tradition der Selbstdarstellung eines sich erforschenden Subjekts und der damit verbundenen »Zentralperspektive« eines seiner Lebensdynamik bewussten Subjekts. An ihre Stelle treten Bilder, Szenen, Geräusche, die sich nicht in eine Ordnung des Subjekts einfügen. Diese Texte bestehen aus einer »Kette von Zeichen«, in der die einzelnen Zeichen in ein metonymisches Spiel treten und ihre Wahrheit in sich finden. Mit ihrer metonymischen Bewegung setzen sie tradierte Zeichensysteme außer Kraft und explorieren neue Möglichkeiten von Schrift und Erfahrung.11

11 | Vgl. M. Schneider, Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986.

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Diese Erinnerungsbilder stehen im Spannungsfeld zwischen Stadt, Kindheit und Zeit. Schon auf den ersten Seiten erscheint die Stadt als Labyrinth, als eine in sich verschlungene Welt, in der das Kind auf zahlreiche Hindernisse stößt, die Übersicht verliert, sich verirrt und in der es immer wieder in unvorhergesehene Situationen gerät. Die als Labyrinth bezeichnete Stadt weckt Erinnerungen an Unwegsamkeiten, Gefahren, bedrohliche mythische Mächte und Ungeheuer. Die Erfahrung des Labyrinths ist nicht auf die Stadt begrenzt; sie setzt sich im Elternhaus und in der sich mühsam einen Weg in die Kindheit suchenden Erinnerung fort. Für den Erwachsenen ist die Kindheit vergangen; lediglich mit Hilfe der Sprache werden Erinnerungen an diese Zeit möglich. Für diese autobiographischen Texte ist daher die Differenz zwischen der erlebten Kindheit und ihrer nachgängigen Repräsentation und sprachlichen Darstellung konstitutiv. Zwischen der gelebten, der erinnerten und der dargestellten Kindheit gibt es Verschiebungen, die biographische Eindeutigkeit verhindern. Auch mit Hilfe früher Aufzeichnungen, Fotos und Filme bleibt der biographische Text Rekonstruktion. Die aus der Kindheit auftauchenden Bilder sind flüchtig. Um sie zu Erinnerungen zu machen, müssen sie gelesen, in den Zusammenhang des Lebens eingebettet und in ihrer Bedeutung entschlüsselt werden. Erinnerungen sind auf Gegenwart und Zukunft gerichtete Versprechungen, in deren Konstruktion das später Eingelöste enthalten ist. Daher gilt es, den Ort und den Zeitpunkt genau zu bestimmen, an dem und zu dem sich Erinnerungen bilden. In diesen Texten Benjamins werden Erinnerungen zu Denkbildern mit Allegorien und Emblemen verdichtet, die der entziffernden Lektüre harren. Nach Auffassung Benjamins erlebt das Kind die Welt mimetisch. Wie der Magier früherer Zeiten stellt es Ähnlichkeiten zwischen sich und der Außenwelt her; das Kind »liest« die Welt und »schafft« in diesem Prozess Korrespondenzen. So wird es zu einer »Windmühle«, indem es die Arme ausstreckt und rotieren lässt und dabei mit seinem Mund den dazu benötigten Wind erzeugt. Dadurch erweitert es seine Erfahrungen: Das Kind begreift, wie der Wind eine Mühle antreibt; es erfährt etwas von der Macht des Windes und der Macht menschlicher Naturnutzung; es erfasst die Faszination menschlicher Produktivität. Im mimetischen Akt der Verwandlung zur »Windmühle« erlebt es seine Möglichkeiten – wenigstens im Spiel –, Macht über die Natur auszuüben. Indem das Kind mit seinem Körper zur »Windmühle« wird, macht es sich mit einer ersten Form der Maschine und dem Maschinencharakter des menschlichen Körpers vertraut. Zugleich erfährt es seinen Körper als Instrument der Darstellung und des Ausdrucks. Dabei gewinnt es nicht nur konkrete Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten; es macht auch die Erfahrung, seinen Körper für bestimmte Zwecke

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30 | I Mimesis einsetzen zu können und damit soziale Anerkennung zu erhalten. Derartige mimetische Prozesse sind von symbolischen Deutungen begleitet, sodass in ihnen auch Denken und Sprechen entwickelt werden. Benjamins autobiographischer Text enthält zahlreiche Beispiele für die mimetische Erschließung der Straßen und Plätze und des Elternhauses mit seinen Räumen und Kammern. Die magische Weltdeutung des Kindes, in der die Welt der Dinge belebt ist und dem Kind antwortet, vollzieht sich über Prozesse der Angleichung und Anähnlichung an Bilder aus der Kindheit. Sie werden mit vom Kind bereits geahnten, sich lebensgeschichtlich jedoch erst später artikulierenden Bedeutungen verbunden. So heißt es in der Erinnerung an den Eingang zum Elternhaus: »Unter den Karyatiden und Atlanten, den Putten und Pomonen aber, die mich damals angesehen hatten, waren mir nun die liebsten jene angestaubten aus dem Geschlecht der Schwellenkundigen, die den Schritt ins Dasein oder in ein Haus behüten. Denn sie verstanden sich aufs Warten. Und so war es ihnen eins, ob sie auf einen Fremden warteten, die Wiederkehr der alten Götter oder auf das Kind, das sich vor 30 Jahren mit der Mappe an ihrem Fuß vorbeigeschoben hat.«12 Bei der Erstellung dieses Erinnerungsbildes werden die als Kind wahrgenommenen Figuren neu gesehen und gedeutet. In einer mimetischen Annäherung entfalten sie die Erfahrungen des Kindes überlagernde neue Bedeutungsschichten. Die Figuren warten auf das Kind, die Götter, den Fremden, und dies gleichzeitig. Dabei verschwinden die Unterschiede zwischen der Welt des Kindes und der mythischen Welt der Götter. Beide Welten verschränken sich in der mimetischen Belebung der dargestellten Figuren miteinander. In der einen Welt sind die Figuren beseelt, in der anderen werden sie zu Allegorien und Emblemen. In einer archäologischen Bewegung werden Bilder aus Ablagerungen der Kindheit herausgebrochen, als Kostbarkeiten gesammelt und mit neuen Sinngehalten verbunden. Es werden Sinnbilder und Symbole gebildet, die als biographische Miniaturen zum Ausdruck persönlicher Geschichte werden. Die Bilder, Embleme und Schriften werden zu Trägern der Erinnerung, in denen sich Individuelles und Allgemeines überlagern. Thema dieser Erinnerungsbilder ist die Bedeutung der Dinge, Räume und Ereignisse der Kindheit. Manche dieser frühen Erinnerungen an die Welt sind rauschhaft. In dem Erinnerungsbild zu den »Loggien« heißt es dazu: »Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt, ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit. Nichts kräftigte die meine inniger als der Blick in Höfe, von 12 | W. Benjamin, »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, Bd. 4.1, Frankfurt/ Main 1980, S. 235-304, hier S. 238.

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deren dunklen Loggien eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurde, für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte.«13 Das Denken des Kindes in seinem noch plastischen Wesen wird durch diese ersten Eindrücke bestimmt, die später die Wahrnehmungs- und Erlebnismöglichkeiten präformieren. Über die symbolisch kodierten Dinge, Bilder und Allegorien, die sich in das Innere des Kindes senken, wird das Empfinden und Denken des Erwachsenen geprägt. In diesen ersten Erfahrungen von Raum und Zeit, Kultur und Geschichtlichkeit wurzelt das Leben des Kindes. Da seine Welt voller Ungewissheit, Unsicherheit und Schrecken ist, muss es versuchen, sie zu deuten und sich dadurch mit ihr vertraut zu machen. Von Erwachsenen übernommene, zunächst nicht verstandene Benennungen und Begriffe werden so interpretiert, dass Ordnung und Sinn entsteht, sodass die Welt ihren unbekannten und bedrohlichen Charakter verliert. Aus einem solchen Prozess geht das »bucklichte Männlein« hervor, das zu einem Gegenüber wird, welches das Kind anschaut und sich Bilder von ihm macht. »So kam es, […] daß sich nachts der Spieß umkehrte und ich selbst im Traum dingfest gemacht wurde von Blicken, die aus solchen Kellerläden nach mir zielten. Gnomen mit spitzen Mützen warfen sie. Doch kaum war ich vor ihnen bis ins Mark erschrocken, waren sie schon wieder fort.«14 Solche Erfahrungen lassen sich als Ausdruck unbewusster Selbstdistanz begreifen, die in dem Augenblick notwendig wird, in dem das Kind mit der Erwachsenenwelt zusammenstößt und ins Unrecht gerät. Das »bucklichte Männlein« wird zu einem Bild für Angst machende Hindernisse. Mit dem Älterwerden des Kindes verändern sich die Dinge. Sie werden der Erwachsenenwelt des »bucklichten Männleins« einverleibt, das dem Kind überall zuvorkommt. In den Erinnerungen an die Welt der Kindheit spielen nicht nur Bilder, sondern auch Töne, Laute und Geräusche sowie Gerüche und Tasterfahrungen eine große Rolle. Oft transzendieren diese nicht-visuellen Eindrücke die Bilder ins Unbekannte und Unbewusste. So ist von dem »berauschenden Geräusch der Luft« die Rede; so wird das Summen des Gasstrumpfs zur Stimme des »bucklichten Männleins«, das beschwörende Worte über die Jahrhundertschwelle flüstert; so endet die Welt des Sichtbaren und Greifbaren im Nachhall des Telefons, in den »Nachtgeräuschen«, im Unsichtbaren, Unerkennbaren, Anonymen. Über mimetische Prozesse setzen sich manche Bilder und Geräusche früher Kindheit im »tieferen Ich« fest, aus dem sie mit Hilfe optischer oder akustischer Anstöße wieder ins Bewusstsein gerufen werden können. Manchmal vollziehen sich diese Erinnerungen selbst wieder mimetisch. Im 13 | Ebd., S. 294. 14 | Ebd., S. 302.

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32 | I Mimesis Akt des Erinnerns findet ein mimetischer Bezug zum Material der Erinnerung statt, der dieses jeweils in einer spezifischen, situativ unterschiedlichen Weise zur Darstellung bringt. Erinnerungen unterscheiden sich beispielsweise in Intensität und Bedeutung im Augenblick des Erinnerns. Die Differenz zwischen verschiedenen Akten des Erinnerns der gleichen Begebenheit lässt sich auch als Differenz in der erinnernden Konstruktion und mimetischen Repräsentation begreifen. In der Welt des Kindes spielen nicht nur Sehen und Hören, sondern auch Tasten, Riechen und Schmecken eine wichtige Rolle. So finden sich in diesen Texten Erinnerungen an Schränke, Wäsche und Strümpfe. »Nichts ging mir über das Vergnügen, meine Hand so tief wie möglich in ihr Inneres zu versenken. Und nicht nur ihrer wolligen Wärme wegen. Es war das ›Mitgebrachte‹, das ich immer im eingerollten Innern in der Hand hielt und das mich derart in die Tiefe zog. Wenn ich es mit der Faust umspannt und mich nach Kräften in dem Besitz der weichen, wollenen Masse bestätigt hatte, fing der zweite Teil des Spiels an, der die atemberaubende Enthüllung brachte.«15 In dieser Szene findet eine erotische Überlagerung sinnlicher Erfahrung statt. Die wollige Wärme des Strumpfs verbindet sich mit dem »Mitgebrachten«, das das Kind aus seiner Tasche wickelt. »Form und Inhalt, Hülle und Verhülltes«, das »Mitgebrachte und die Tasche« waren Eins, und zwar ein Drittes, jener Strumpf, in den sie sich beide verwandelt hatten. Im Kind wirkt etwas von dem frühen Zwang, sich der Welt ähnlich zu machen, um in ihr zu überleben und sich in ihr zu beheimaten; es entdeckt Ähnlichkeiten zwischen sich und der Welt, die für das Kind nicht leblos, sondern belebt ist. Erst in zunehmendem Alter schwindet seine Fähigkeit, die Welt zu verzaubern und sich von ihr verzaubern zu lassen, sowie die Faszination des Spiels mit seiner Identität von Form und Inhalt. Im mimetischen Umgang mit der Welt werden »Zauberpraktiken« entwickelt, die erst allmählich ihre Kraft verlieren. In der Schmetterlingsjagd, bei der das Kind in Gefahr ist, zum Schmetterling zu werden und dadurch sich selbst zu verlieren, gewinnt es die Grenze zum Außen und zu seiner Andersartigkeit erst dadurch, dass es den Schmetterling tötet. Nun ist es nicht mehr in Gefahr, sich ins Fremde und Unstete des Schmetterlings aufzulösen. Indem es ihn tötet, vollzieht es die Abgrenzung gegenüber dem Tier. Es schafft die Subjekt-Objekt-Trennung, die es vor dem Selbstverlust schützt. In der Tötung des Schmetterlings vollzieht das Kind einen »zivilisatorischen Gewaltakt«, durch den es, vom Zwang zur Mimikry befreit, zum Subjekt werden kann. Die mimetische Fähigkeit des Kindes, sich in Bezug zur Welt zu setzen, 15 | Ebd., S. 284.

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sich ihr ähnlich zu machen, sie zu lesen, geht nach Benjamins Auffassung in die Sprache und in die Schrift ein. Dabei schafft sich die »mimetische Begabung«, die früher das »Fundament der Hellsicht« war, in Sprache und Schrift das »vollkommenste Archiv unsinnlicher Ähnlichkeit«. Unter dieser Perspektive wäre die vom Kind erlernte Sprache die »höchste Verwendung des mimetischen Vermögens: ein Medium, in das ohne Rest die früheren Merkfähigkeiten für das Ähnliche so eingegangen seien, daß nun sie das Medium darstellt, in dem sich die Dinge nicht mehr direkt wie früher in dem Geist des Sehers oder Priesters, sondern in ihren Essenzen, flüchtigsten und feinsten Substanzen, ja Aromen begegnen und zueinander in Beziehung treten.«16 Das Ähnlichsein und das Ähnlichwerden stellen zentrale Momente kindlicher Entwicklung dar, über die sich das Verhältnis zur Welt, zur Sprache und zu sich selbst allmählich bildet. Mit Hilfe dieser Prozesse findet die Einfügung in die in der symbolisch kodierten Welt zum Ausdruck kommenden Struktur- und Machtverhältnisse statt, denen gegenüber erst später Distanz, Kritik und Veränderung möglich werden. Mit Hilfe seines mimetischen Vermögens übernimmt das Kind die Bedeutung der Gegenstände, Darstellungs- und Handlungsformen. In einer mimetischen Bewegung schlägt das Kind eine Brücke nach außen. Im Zentrum der mimetischen Aktivität steht der Bezug auf das Andere, das es nicht einzuverleiben, sondern dem es sich anzugleichen gilt. In dieser Bewegung gibt es ein Innehalten der Aktivität, einen Moment der Passivität, der für den »mimetischen Impuls« charakteristisch ist. Die mimetische Begegnung mit der Welt erfolgt mit allen Sinnen, die im Verlauf dieser Prozesse ihre Sensibilität entfalten. Diese kindliche Möglichkeit einer mimetischen Welterschließung bildet eine Voraussetzung für die Qualität der sinnlichen und emotionalen Empfindungsfähigkeit des späteren Erwachsenen. Das gilt besonders für die Entwicklung seiner ästhetischen Sensibilität und seiner Fähigkeit zu Mitempfinden, Mitleiden, Sympathie und Liebe. Die mimetischen Fähigkeiten führen dazu, Empfindungen anderer Menschen nachzuvollziehen, ohne sie zu vergegenständlichen oder sich gegen sie zu verhärten. Das mimetische Vermögen verweist auf das Geheimnisvolle der Dinge, das auratische Moment in ästhetischen Erlebnissen und die Möglichkeiten »lebendiger Erfahrungen« (Adorno).

Psychogenese durch Mimesis Ging es im vorherigen Abschnitt darum zu zeigen, wie sich Kinder Räume und Gegenstände mimetisch erschließen, so soll nun unter Bezug auf eine 16 | Ebd., S. 209.

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34 | I Mimesis Untersuchung Lacans zur Psychostruktur der Familie an drei Beispielen dargestellt werden, welche Rolle mimetische Prozesse für die Psychogenese spielen. In seiner Einschätzung der Unabweisbarkeit und Nachhaltigkeit der psychischen Formung von Kindern durch ihr mimetisches Verhältnis zu ihren Eltern ähnelt Lacan dem Rigorismus Platons. Weniger die Freiheitsmöglichkeiten als die Abhängigkeiten und Prägungen durch mimetische Prozesse stehen im Mittelpunkt seiner Analyse. So sieht er in der Familie eine gesellschaftliche Institution, in der für das kleine Kind mimetisch-erzieherische Prozesse organisiert werden. Familie entsteht nach Lacan wesentlich durch eine Reihe von Komplexen. Unter »Komplex« wird ein »Gesamt von Reaktionen« verstanden, »die alle organischen Funktionen von der Emotion bis zum gegenstandsangepassten Verhalten betreffen können«.17 Ein »Komplex« reproduziert eine bestimmte Realität der Umgebung. »Erstens repräsentiert seine Form diese Realität in dem, was sie an objektiver Distinktheit zu einer gegebenen Etappe der psychischen Entwicklung hat; diese Etappe spezifiziert seine Entstehung. Zweitens wiederholt seine Wirksamkeit im Erleben die so fixierte Realität, immer wenn bestimmte Erfahrungen eintreten, die eigentlich eine höhere Objektivation jener Realität erfordern würden; diese Erfahrungen spezifizieren die Konditionierung des Komplexes.«18 Als »Komplex« lässt sich vor allem ein Ensemble unbewusster Faktoren mit hoher Einheitlichkeit bezeichnen, das zu psychischen, vom Bewusstsein nicht gesteuerten Wirkungen führt, zu denen Fehlleistungen, Träume, Symptome gehören, die in einem kontingenten Verhältnis zueinander stehen. Diese Überlegungen führen zur Annahme der Existenz einer »unbewussten Vorstellung« – einer Imago, deren Entwicklung durch mimetische, sich dem Bewusstsein entziehende Prozesse erfolgt. Wie die Entstehung einer Imago ist die Bildung eines »Komplexes« durch kulturelle Faktoren bestimmt, die seinen Gehalt, seine Form und sein Auftreten als Ausdruck von Mangel in einer aktuellen Situation beeinflussen. In seinem Gehalt ist der »Komplex« repräsentativ für ein Objekt, d.h. er steht in einem mimetischen Bezug zu diesem Objekt. In seiner Form wird er durch die jeweilige Situation der physisch-psychischen Entwicklung bestimmt, die sich partiell als Ergebnis der entsprechenden mimetischen Prozesse begreifen lässt. Schließlich ist der »Komplex« auch als Ergebnis eines Mangels das Resultat mimetischer Prozesse. Lacan identifiziert drei für die psycho-soziale Struktur der Kleinfamilie bezeichnende »Komplexe«, in deren Ausbildung mimetische Prozesse eine zentrale Rolle spielen: 1) den Komplex der Entwöhnung; 2) den Komplex 17 | J. Lacan, »Die Familie«, in: ders., Schriften III, Weinheim 1986, S. 45. 18 | Ebd.

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des Eindringlings; 3) den Ödipuskomplex. Sie finden ihre Ausformung in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation und sind daher im Sinne historisch-pädagogischer Anthropologie zu relativieren.

Der Komplex der Entwöhnung Der Komplex der Entwöhnung umfasst biologische, psychische und kulturelle Aspekte, die eine unauflösbare Verbindung miteinander eingehen. Trotz biologischer Gemeinsamkeiten unterscheidet sich der Komplex in Gehalt und Form von Kultur zu Kultur, von Familie zu Familie, von Kind zu Kind. Die Entwöhnung hinterlässt in der menschlichen Psyche die bleibende Spur eines abgebrochenen »biologischen Bezugs«, oftmals führt sie zu einer Krise, einem psychischen Trauma. Die vitale Krise verdoppelt sich in einer ersten psychischen Annahme und Verweigerung der Entwöhnung. Annahme und Verweigerung »können als eine Wahl« begriffen werden; sie bilden »koexistierende und konträre Pole« einer daher ambivalenten Haltung. Nach Lacans Auffassung ist die »Verweigerung der Entwöhnung es, die das Positive am Komplex begründet: die Imago des Säuglingsbezugs, den die Verweigerung wieder aufzunehmen sucht«.19 In ihrem Gehalt wird diese Imago durch eine diesem frühen Alter entsprechende Körper-Mimesis ermöglicht, die zunächst zur Einprägung der mütterlichen Brust und des mütterlichen Körpers in mentale Strukturen führt, die spätere psychische Erfahrungen modellieren und sich in Bewusstseinsinhalten repräsentieren. Diese Mimesis des mütterlichen Körpers ist eng mit der Entstehung der kindlichen Bedürfnisse und ihrer Befriedigung durch die Mutter verbunden. Im ersten Lebensjahr spielt die Körper-Mimesis insofern eine entscheidende Rolle, als es noch keine koordinierten Außen-, Eigen- und Innenwahrnehmungen des kleinen Kindes gibt. In ihr ist noch ungetrennt, was sich später als Außen-, Eigen- und Innenwahrnehmung differenziert. Nach Lacans Überzeugung reaktiviert die Entwöhnung die Not der Geburt, die das »parasitäre Gleichgewicht des uterinen Lebens« plötzlich und verfrüht beendet und das Kind »einer völligen vitalen Ohnmacht« aussetzt. Die Entwöhnung des Kindes ist eine Wiederholung der noch schmerzlicheren Trennung durch die das »extrauterine Frühjahr« einleitende Frühgeburt des Menschen.20 Sie steht in einem mimetischen Verhältnis zu der durch die geburtliche Trennung entstandenen Not, die keine mütterliche Sorge jemals ausgleichen kann. Frauen haben nach Lacans These die Möglichkeit, eine Sättigung ihrer 19 | Ebd., S. 49. 20 | Vgl. A. Portmann, Biologie und Geist, Zürich 1956.

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36 | I Mimesis Mutterbrust-Imago im Säugen, Umarmen und Anschauen des Kindes zu finden. So kann die Mutter das »Ursprünglichste aller Begehren« erfahren und befriedigen. Selbst das Aushalten der Schmerzen bei der Geburt lässt sich als »repräsentative Kompensation« der mit dem »Leben geborenen Angst« begreifen. »Einzig die Imago, die dem Tiefsten des Psychismus die mit der Geburt des Menschen gesetzte Entwöhnung einprägt, kann Macht, Reichtum und Dauer des Muttergefühls erklären.«21 Auf unsere Fragestellung bezogen bedeutet das: Sogar das Muttergefühl hat einen mimetischen Ursprung. Es antwortet auf die Mangelerfahrung der Mutter bei ihrer Geburt und ihre Entwöhnung und versucht, das als kleines Kind selbst erfahrene Leid für das eigene Kind zu minimieren. Dabei findet der Bezug zum eigenen Kind über die »Erinnerung« an die Situation des gerade geborenen und sodann entwöhnten Kindes statt. In der Umkehrung dieser Situation kann eine Kompensation des einst erfahrenen Leids erfolgen. In dem mimetischen Bezug auf ihre Mutter-Imago kann die Mutter in ihrem für das Kind sorgenden Handeln ein hohes Maß an Befriedigung finden. Zugleich sichert diese Möglichkeit der Mutter die Zuwendung zum Kind. Im Unterschied zu vielen bisher thematisierten mimetischen Formen handelt es sich hier um die Mimesis unbewusster Bilder, die aufgrund ihrer frühen Entstehung eine das Begehren und Wünschen nachhaltig strukturierende Macht haben. Darüber hinaus spielt die Imago des Mutterschoßes für die Erhaltung des häuslichen Bandes eine wichtige Rolle. Ihre dem Bewusstsein entzogenste Form, die der pränatalen Behausung, findet im Haus und in der Wohnung ihr angemessenes Symbol, dessen Bedeutung für die Psychogenese im vorherigen Abschnitt am Beispiel der Erinnerungsbilder Benjamins behandelt wurde. Zu dieser häuslichen Einheit der Familie besteht eine Zuneigung, die sich von der Zuneigung unterscheidet, die jedes einzelne Mitglied der Familie zu einem anderen hat. »Dadurch hat das Aufgeben der Sicherheiten, die die familiale Ökonomie gewährt, die Tragweite einer Wiederkehr der Entwöhnung; und zumeist wird dann der Komplex auch erst bei dieser Gelegenheit zureichend liquidiert.«22 Es entsteht eine psychogenetische, von mimetischen Prozessen getragene Entwicklung, in der die Sättigung des Komplexes das Muttergefühl begründet, seine Sublimierung zum Familiengefühl beiträgt und seine Liquidierung zu Spuren führt, die sich in der Sehnsucht der Menschheit nach universaler Harmonie ausdrücken.

21 | Lacan, Familie, S. 51f. 22 | Ebd., S. 53.

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Der Komplex des Eindringlings Die erste Erfahrung mit dem Komplex des Eindringlings und mit der Eifersucht als einem »Archetyp des Sozialgefühls« macht das kleine Kind, wenn es seine Geschwister kennen lernt. Die Bedingungen in dieser Erfahrung sind in verschiedenen Kulturen und Familien unterschiedlich und hängen auch von individuellen Kontingenzen wie dem Platz in einer Geschwisterreihe ab. So macht es einen erheblichen Unterschied, ob das kleine Kind die Rolle des Inhabers oder des Usurpators im Geschwisterverhältnis hat. Selten hat die Eifersucht zwischen Geschwistern ihren Grund in einer vitalen Rivalität; in der Regel ist sie das Ergebnis mimetischer Prozesse, im Rahmen derer es meistens zu einer stärkeren Angleichung des jüngeren an das ältere Kind kommt. Das jüngere möchte so sein wie das ältere. Zumal wenn es noch nicht über dessen Fähigkeiten verfügt und sich unterlegen fühlt, erlebt es das ältere Kind als Rivalen. Das ältere Kind steht seinerseits häufig ebenfalls in einem Rivalitätsverhältnis zum jüngeren Kind um die Aufmerksamkeit der Eltern; es möchte wie dieses sein und die gleiche Zuwendung erfahren; nicht selten führt dieses mimetische Begehren zur Regression des älteren Kindes. Lacan erklärt diese Prozesse durch die Annahme einer »Imago des Ähnlichen«, die besonders bei großer Altersnähe zwischen den Geschwistern wirksam wird. In solchen Situationen kann man von einem »Zwang« zur Ähnlichkeit ausgehen. Girard23 hat in diesem einen Ursprung der Gewaltausbrüche gesehen, wie sie zwischen Geschwistern häufig stattfinden. Auch hier zeigen die mimetischen Prozesse ihre grundsätzliche Ambivalenz: Einerseits bewirken sie Annäherung und Anähnlichung; andererseits zwingen sie Kinder und Erwachsene zu Unterschied und Differenz, damit sie in ihrer Partikularität existieren können. Die Ambivalenz dieses Gefühls besteht im mimetischen Begehren nach Angleichung und im gleichzeitigen Wunsch nach Unterscheidung. Mimetische Prozesse richten sich nicht nur auf andere Menschen; sie können auch selbstbezüglich sein, sodass eine Selbstmimesis entsteht. Eine erste Phase der Selbstbezüglichkeit sieht Lacan bereits im frühen Kindesalter nach dem Ende der Entwöhnung gegeben; er hat sie als »Spiegelstadium« bezeichnet. In dieser Zeit, in der das kindliche Körpergefühl noch durch eine mangelnde Koordinierungsfähigkeit der Organe, durch ein Gefühl der Zerstückelung und Zergliederung gekennzeichnet ist, erblickt das Kind, wenn es zufällig in einen Spiegel schaut, sein Bild als körperliche Einheit. Diese Wahrnehmung ist mit einem »jubilatorischen« Glücksgefühl verbunden. Das Spiegelbild ist dem Kind ähnlich; es ist zugleich aber imaginär; ihm entspricht nicht die Körperlichkeit des Kindes. Doch verweist das 23 | Vgl. R. Girard, Das Heilige.

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38 | I Mimesis Spiegelbild auf eine Einheit, die das Kind vor der Geburt gekannt hat und die es auf einer neuen Ebene wieder herzustellen sucht. Dieses im Spiegel geschaute Bild einer Einheit wird bezogen auf eine Imago der Einheit, die aufgrund seiner vorgeburtlichen Situation dem Kind innewohnt. Es bildet die Energiequelle des mentalen Fortschritts des Kindes und strukturiert seine Suche. Insofern das Spiegelbild auf einen erstrebten, jedoch noch nicht erreichten Zustand verweist, der im Bild als erreichbar erscheint, löst es ein hohes Glücksgefühl aus. In der Folge versucht das Kind, das mit der Imago eines verlorenen Zustandes verbundene, im Spiegel geschaute Bild mimetisch einzuholen. Das geschaute Bild wird zum »Vorbild«, dem das Kind nacheifert und dessen Einheitlichkeit es zu erreichen bestrebt ist. Das Spiegelbild gibt ein Bild der Realität des Kindes ab, »ihres affektiven Werts, der illusorisch wie das Bild ist, und ihrer Struktur, die wie es selbst ein Reflex der menschlichen Gestalt ist. Die Wahrnehmung der Gestalt des Ähnlichen als mentaler Einheit ist beim Lebewesen an ein korrelatives Niveau von Intelligenz und Gesellschaftlichkeit gebunden.«24 Von dieser Zeit an nimmt das Streben nach der Wiederherstellung der verlorenen Einheit mit sich selbst eine zentrale Stellung im Bewusstsein ein. In seiner Suche nach einer affektiven Einheit fördert das Kind Figurationen zutage, die ihm seine Einheit repräsentieren. Unter diesen nimmt in dieser frühen Zeit das Spiegelbild einen besonderen Platz ein. »Was das Subjekt in ihm begrüßt, ist die ihm inhärente Einheit. Was es im Spiegelbild wiedererkennt, ist das Ideal der Imago des Doppelgängers. Was es in ihm akklamiert, ist der Triumph der rettenden Strebung.«25

Der Ödipuskomplex Für die Entwicklung der Geschlechtsidentität und die weitere Psychogenese spielt der Ödipuskomplex eine zentrale Rolle. In der Ödipuskonstellation verhält sich das Kind mimetisch zum gleichgeschlechtlichen Elternteil; es kommt zur Mimesis des Begehrens des gleichgeschlechtlichen Elternteils nach dem gegengeschlechtlichen Elternteil, ohne dass es zur Erfüllung des Triebes kommt. Der gleichgeschlechtliche Elternteil erscheint im Kind »als Agent des sexuellen Verbots und als Beispiel seiner Übertretung«.26 Die Unterdrückung des Begehrens führt zu einer doppelten affektiven Bewegung: Das Kind fühlt Aggressionen gegenüber dem Elternteil, mit dem es aufgrund seines sexuellen Begehrens rivalisiert; zugleich empfindet es 24 | Lacan, Familie, S. 58. 25 | Ebd., S. 59. 26 | Ebd., S. 63.

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Furcht vor einer ähnlichen Aggression. Gefühle der Zerrissenheit und Angst, die die Erfahrung der Geburt und der Entwöhnung aktualisieren, sind unvermeidlich. Überschneidungen zwischen dem Kastrationsphantasma und den Erinnerungen an den zerstückelten Körper sind naheliegend. Für die Sublimation der Realität ist im ödipalen Dreieck die kindliche Mimesis des gleichgeschlechtlichen Elternteils entscheidend, der nicht das Objekt des Begehrens, sondern das Subjekt des Begehrens ist und der sich dem Begehren des Kindes widersetzt. Durch die Verhinderung der Erfüllung des Begehrens entsteht hier das Objekt, dessen Position damit als Widerstand gegen das Begehren bestimmt wird. Das Ende der Krise wird nach psychoanalytischer Auffassung durch die Entwicklung des Über-Ichs und des sublimierenden Ich-Ideals sowie durch eine verstärkte Realitätserfahrung bestimmt. Man geht sicher nicht zu weit, in dieser mimetischen Konstellation zwischen Eltern und Kindern einen Grund für die dem Generationsverhältnis inhärente Gewalt zu sehen, die nach folgendem Mechanismus entsteht. Das Kind verhält sich dem Erwachsenen gegenüber, der das geworden ist, was ihm noch zu werden bestimmt ist, mimetisch, d.h. es strebt, auch vom Erwachsenen unterstützt, dahin, das zu werden, was dieser schon ist. Zugleich aber können weder der Erwachsene noch das Kind es aushalten, einander gleich zu werden und die Differenz zu verlieren, die ihre jeweilige Einmaligkeit sichert. Daher ist ihr Verhältnis zwischen dem Wunsch, einander ähnlich zu sein, und dem Wunsch, sich zu unterscheiden und einmalig zu sein, gespalten. Wie wir gesehen haben, ist das mimetische Begehren keine einfache Bewegung von einem Subjekt zu einem anderen. Vielmehr verläuft es über einen Dritten, über das Begehren des Dritten. Wenn das Begehren mimetisch ist, dann geht ihm das Begehren eines Anderen voraus, auf das es sich richtet und zu dem es sich mimetisch verhält. Also ist die Grundstruktur des Begehrens mimetisch. Das mimetische Begehren richtet sich auf den Anderen bzw. auf das Begehren des Anderen, von dem her sich das Subjekt mit seinem Selbstgefühl bildet. Am Anfang gibt es für das Kleinkind keine Erfahrung seiner selbst, auch nicht der Ich-Du-Beziehung, sondern nur die Erfahrung des Anderen. Es gibt keinen direkten Weg zur Entwicklung des Selbst; er läuft stets über den Anderen. Der Andere schafft das Kind, das von ihm erwartet, dass er ihm zeige, was es zu begehren habe, um sich selbst zu finden. Das kleine Kind weiß noch nicht, dass es begehrt und was es begehrt. Beides erfährt es vom Anderen. Das Kind imitiert den Anderen, weil es noch nicht zwischen sich und ihm unterscheiden kann. Es hat keine Selbstwahrnehmung und kein Gefühl von sich; es lässt sich vom Anderen und von Gegenständen erfüllen. Der Erwachsene zeigt dem Kind, das auf der Suche nach sich selbst ist

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40 | I Mimesis und ein Defizit empfindet, wer es ist bzw. wer es zu werden in der Lage ist. Denn das Kind hat von sich aus nicht die Möglichkeit, sich zu finden. Der Erwachsene verdeutlicht ihm, wie es zu sich kommt. Ein entscheidender Weg ist die Mimesis des Begehrens des Erwachsenen, durch die das Begehren des Kindes selbst entwickelt wird. Da zunächst nicht ein Subjekt, sondern eine soziale Beziehung existiert, stellt Mimesis die undifferenzierte Beziehung zwischen dem Körper des kleinen Kindes und dem als Modell dienenden Erwachsenen her. Es kommt zu einer mimetischen Korrespondenz zwischen dem eigenen Körper und dem des Anderen, die zur Repräsentation des Anderen im Kleinkind führt, welche die Voraussetzung zur Herausbildung des Subjekts ist.

Gestik, Körper und Institution Gesten lassen sich als mimetische Bewegungen des Körpers begreifen, mit denen sich der Mensch der Welt ähnlich macht und sie sich aneignet und in denen er sich zur Darstellung bringt und ausdrückt. Sie gehören zu den wichtigsten Darstellungs- und Ausdrucksformen menschlicher Subjekte. Da menschliche Körper stets in einer historisch-kulturellen Zurichtung in Erscheinung treten, müssen auch ihre Gesten in ihrem jeweiligen Kontext gelesen werden. Der Versuch, Gesten als universelle Körpersprache zu begreifen, hat nicht die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt. Historische und kulturanthropologische Studien zeigen, wie unterschiedlich Gesten in verschiedenen Kulturen und historischen Zeiten verstanden werden.27 Gesten sind signifikante Bewegungen des Körpers, denen eine Intention zugrunde liegt, ohne dass sich ihre Darstellungs- und Ausdrucksformen aus dieser vollständig erklären ließen. Die Differenz zwischen Gesten als körperlichen Darstellungs- und Ausdrucksformen und der sprachlichen, mit Hilfe von Interpretationen ermittelten Bedeutung von Gesten ist unaufhebbar. Gesten enthalten einen über ihre Intentionalität hinausgehenden Gehalt, der im mimetischen Nachvollzug erfahrbar wird. Gesten spielen im Prozess der menschlichen Selbstdomestikation eine wichtige Rolle. In ihnen fallen Innen und Außen zusammen. Der Weltoffenheit des Menschen geschuldet, schränken sie diese Bedingung des Menschseins gleichzeitig durch Konkretisierungen ein. Diese Begrenzung der kulturell und historisch zugelassenen gestischen Ausdrucksmöglichkeiten schafft soziale Zugehörigkeit und Sicherheit. Über die Vertrautheit mit bestimmten Gesten stellt sich Vertrautheit mit einzelnen Menschen und 27 | Vgl. J. Bremmer/H. Roodenburg (Hg.), A Cultural History of Gesture, Ithaca, London 1992.

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Gruppen ein. Man weiß, was bestimmte Gesten bedeuten, wie sie einzuschätzen, wie sie zu beantworten sind. Gesten machen menschliches Verhalten kalkulierbar. Sie sind Teil der Sprache des Körpers, die den Angehörigen einer Gemeinschaft viel über einander mitteilt. Selbst wenn diese Botschaften eher Teil der unbewussten Fremd- und Selbstwahrnehmung sind, als dass sie zu bewusstem Wissen über den Anderen, seine Empfindungen und Intentionen werden, ist ihre soziale Bedeutung äußerst groß. Sie gehen in das soziale Wissen ein, das der Einzelne im Laufe seiner Sozialisation erwirbt und das für die angemessene Steuerung seines sozialen Handels eine große Rolle spielt. Die Bedeutung von Gesten ändert sich in Abhängigkeit von Raum und Zeit. Unterschiede lassen sich im Hinblick auf Geschlecht und Klasse feststellen. Manche Gesten sind geschlechts- oder klassenspezifisch; andere scheinen keine geschlechts- und klassenspezifischen Differenzen zu enthalten. Wieder andere Gesten sind an soziale Räume, Zeitpunkte und Institutionen gebunden. Institutionen wie Kirchen, Gerichte, Krankenhäuser und Schulen verlangen den Gebrauch bestimmter Gesten und sanktionieren deren Vernachlässigung. Über die Forderung, institutionsspezifische Gesten zu vollziehen, setzen Institutionen ihren Machtanspruch durch. Im Vollzug dieser Gesten werden die institutionellen Werte und Normen in die Körper der Angehörigen bzw. der Adressaten der Institutionen eingeschrieben und durch wiederholte »Aufführungen« in ihrer Gültigkeit bestätigt. Zu diesen institutionsspezifischen Ausdrucksformen des Körpers gehören noch heute Gesten der Demut (Kirche), der Achtung (Gericht), der Rücksichtnahme (Krankenhaus), der Aufmerksamkeit und des Engagements (Schule). Bleiben diese ritualisierten Gesten aus, empfinden die Vertreter von Institutionen dieses Ausbleiben als Kritik an der sozialen und gesellschaftlichen Legitimität ihrer Institutionen. In der Regel sind Sanktionen die Folge. Da sich in diesen Institutionen häufig Menschen befinden, die von ihnen abhängig sind, hat die Androhung von Sanktionen ihre Wirkung. Über die Mimesis institutionsspezifischer Gesten unterwerfen sich die Angehörigen der Gesellschaft dem normativen Anspruch der Institutionen. Auch geschlechtsspezifische Unterschiede werden über Gesten inszeniert, wiederholt und bestätigt. So zeigen sich etwa geschlechtsspezifische Unterschiede in der Art, wie Frauen und Männer sitzen, welchen Raum sie beim Sitzen einnehmen und wie sie Ihre Beine beim Sitzen arrangieren. Entsprechendes kommt beim Sprechen, Essen und Trinken zum Ausdruck. Auch klassenspezifische Unterschiede zeigen sich in der jeweiligen Verwendung von Gesten. Im Hinblick auf Fragen des Geschmacks hat Bourdieu diese Differenzen untersucht und deutlich gemacht, dass sich über

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42 | I Mimesis »feine Unterschiede« soziale Hierarchien etablieren und verfestigen.28 Für die Wahrnehmung dieser Unterschiede spielen Differenzen in den körperlichen Gesten und Ausdrucksformen eine wichtige Rolle. In seinen Untersuchungen zum Zivilisationsprozess hat Elias gezeigt, wie die Gesten des Hofes vom Bürgertum nachgeahmt und allmählich übernommen und dabei verändert werden.29 Molières Komödien thematisieren die in diesem Transformationsprozess auftretenden Schwierigkeiten und spotten über die lächerlich wirkenden Gesten der Bürger, die um vermehrte soziale Anerkennung buhlen. Wie sich die Macht in den Körpern festsetzt und auch ihre Ausdrucks- und Darstellungsformen, ihre Gesten in ihrem Sinne zurichtet, hat Foucault in »Überwachen und Strafen« gezeigt.30 Körpergesten dienen somit dazu, soziale und kulturelle Differenzen herzustellen, ausdrücken und zu erhalten. Sie vollziehen sich in einem historisch-kulturellen machtstrukturierten Kontext, aus dem heraus sich erst ihre Bedeutung erschließt. Gesten geben Auskunft über zentrale Werte einer Gesellschaft und erlauben einen Einblick in Mentalitätsstrukturen. Am Beispiel des Gestengebrauchs im Mittelalter lässt sich zeigen, welche Funktion Gesten in unterschiedlichen Bereichen einer Gesellschaft haben und wie sich aus ihrer Verwendung Aufschlüsse über das Verhältnis von Körper und Symbol, Gegenwart und Geschichte, Religion und Alltag gewinnen lassen. Gesten begleiten die gesprochene Sprache, haben aber auch ein »Eigenleben« ohne unmittelbaren Bezug zum Sprechen. Oft sind ihre Bedeutungen nicht eindeutig. Verschiedentlich transportieren sie Botschaften, die das Gesprochene ergänzen, sei es, dass sie einzelne Aspekte verstärken, relativieren oder durch Widerspruch in Frage stellen. Häufig sind die in Gesten zum Ausdruck gebrachten Gehalte dichter mit den Gefühlen des Sprechenden verbunden als seine verbalen Aussagen. Sie gelten als deutlich »sicherer« Ausdruck des inneren Lebens eines Menschen als die stärker vom Bewusstsein gesteuerten Worte. Um Gesten lesen und entschlüsseln zu können, müssen sie mimetisch erfasst werden. Wer eine Geste wahrnimmt, versteht sie, indem er sie nachahmt und so den spezifischen Charakter ihrer körperlichen Ausdrucks- und Darstellungsform begreift. Obwohl Gesten bedeutungsvoll und einer Analyse zugänglich sind, erfasst erst der mimetische Nachvollzug ihren symbolisch-sinnlichen Gehalt. So wichtig die Differenzierung unterschiedlicher 28 | Vgl. P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 1987. 29 | Vgl. N. Elias, Der Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Frankfurt/Main 1979. 30 | Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main 1979.

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Bedeutungsaspekte von Gesten ist, erst mit Hilfe der Mimesis kann die körperliche Darstellungs- und Ausdrucksweise der Geste aufgenommen werden. Über die Mimesis der gestischen Inszenierung erfolgt deren körperliche Verarbeitung, die sich demgemäß in einem anderen Medium als dem der verbalen Kommunikation vollzieht. Über die mimetische Perzeption der Geste wird der spezifische Charakter des körperlichen Selbstausdrucks eines anderen Menschen erfasst. In der Anähnlichung an die Gesten eines Anderen werden seine Körperlichkeit und seine Gefühlswelt erfahren. In der Mimesis der Gesten eines anderen Menschen findet eine Überschreitung der personalen Grenzen des sich mimetisch verhaltenden Subjekts in Richtung auf die körperliche Darstellungs- und Ausdruckswelt des Anderen statt. Die Erfahrung eines Außen wird möglich. Dieses »Heraustreten« des sich mimetisch verhaltenden Subjekts aus seinen Strukturen in die gestische Darstellungs- und Ausdruckswelt eines anderen Menschen wird als bereichernd und lustvoll erlebt. Es führt zur Erweiterung der Innenwelt durch die aisthetisch-mimetische Aufnahme eines Außen und ermöglicht lebendige Erfahrungen. Lebendig sind diese Erlebnisse, weil die mimetischen Kräfte es erlauben, die Eigenart des anderen in der Wahrnehmung zu erfassen. In diesem Prozess erfolgt weniger eine Reduktion der Gesten des Anderen auf den Bezugsrahmen des sich mimetisch verhaltenden Subjekts als vielmehr eine Ausweitung der Wahrnehmung auf die Gesten und die Bezugspunkte des Anderen. Obwohl beide Bewegungen nicht eindeutig voneinander abgrenzbar sind, liegt der Schwerpunkt der Bewegung in einer Erweiterung des mimetisch Wahrnehmenden in die Darstellungs- und Ausdruckswelt anderer hinein. Durch diese Orientierung der mimetischen Bewegung erfolgt weniger eine Einverleibung des Wahrgenommenen als eine Ausweitung des sich mimetisch verhaltenden Subjekts auf die Körpergesten des Anderen hin. Diese Erweiterung nach Außen führt zu einer lustvollen Bereicherung des Lebens, in der bereits Aristoteles ein besonderes Merkmal der Mimesis sah. Es führt zur Erweiterung der Innenwelt durch die sinnliche Aufnahme eines Außen und ermöglicht »lebendige Erfahrungen« (Adorno). Lebendig sind diese, weil die mimetischen Fähigkeiten dazu führen, die Eigenart des Anderen in der Wahrnehmung zu erfassen. In diesem Prozess erfolgt keine Reduktion der Gesten auf den Bezugsrahmen des sich mimetisch Verhaltenden, sondern eine Ausweitung der Wahrnehmung auf die Gesten des Anderen. Obwohl beide Bewegungen nicht eindeutig voneinander trennbar sind, liegt der Schwerpunkt der mimetischen Bewegung in einer Erweiterung des Wahrnehmenden in die Darstellungs- und Ausdruckswelt des Anderen hinein. Diese Wendung nach außen führt zu einer (lustvollen) Bereicherung des Lebens. In sozialen Situationen sind Gesten Mittel der Sinngebung. Sie drü-

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44 | I Mimesis cken Gefühle aus und artikulieren Stimmungen. Sie lassen sich als deren körperlich-symbolische Darstellungen begreifen. Häufig sind die sich in den Gesten artikulierenden Gefühle und Stimmungen weder denen bewusst, die die Gesten vollziehen, noch gelangen sie ins Bewusstsein derer, die diese Gesten wahrnehmen und auf sie reagieren. In dieser Wirkung unterhalb des Bewusstseins liegt ein wesentlicher Teil ihrer sozialen Bedeutung. Dies gilt auch für die von Institutionen suggerierten Gesten und die in ihnen enthaltenen Werte, Normen und Machtansprüche. Auch sie werden von denen, die mit den Institutionen in Berührung kommen, wahrgenommen und mimetisch verarbeitet, ohne dass dieser Prozess über das Bewusstsein läuft. Häufig stellen Institutionen Typen von Gesten bereit, die in ihrem Rahmen über lange Zeiträume entstanden sind und mit deren Hilfe ihre Vertreter die gesellschaftlichen Ansprüche der Institutionen zum Ausdruck bringen. Indem die Repräsentanten dieser Institutionen sich der »bereitstehenden« Gesten bedienen, stellen sie sich in die Tradition dieser Institutionen und ihrer sozialen Ansprüche. Dieser Prozess führt zum einen zur Übernahme der in der Institution bereits vorgeformten sozialen Gesten. Zum anderen bewirkt sein mimetischer Charakter, dass die zum institutionellen Potential gehörenden Gesten nicht bloß reproduziert, sondern von den Vertretern der Institutionen in der Übernahme gestaltet werden können. Die Mimesis von institutionell vorgeformten Gesten eröffnet den Repräsentanten der Institutionen ein hohes Maß an gestalterischer Freiheit. Dieser Freiheitsspielraum führt zu einer allmählichen Veränderung gestischer Darstellungs- und Ausdrucksformen und ihrer Bedeutung. In der Mimesis institutionell bereitstehender Gesten findet gleichzeitig eine Darstellung vorhandener Traditionen und ihre Veränderung statt. Dieser Prozess beinhaltet keine bloße Nachahmung der Gesten, sondern ihre kreative Ausgestaltung in Form und Bedeutung. So verändern in der Form gleichgebliebene Gesten im Verlauf neuer gesellschaftlicher Entwicklungen ihre soziale Bedeutung. Untersuchungen zur Geschichte von Gesten und ihrer Entwicklungen haben dies eindeutig belegt.31 Insofern Institutionen ihre Machtansprüche in den Gesten ihrer Repräsentanten verkörpern, werden diese Machtansprüche auch über die Mimesis dieser Verkörperungen wahrgenommen und aufrecht erhalten. Die Adressaten dieser Ansprüche werden in den mimetischen Prozess der Übernahme und kreativen Ausgestaltung der institutionellen Werte und Normen einbezogen. Wie die Adressaten institutioneller Handlungen in der Mimesis institutioneller Gesten deren Wirkungen mitgestalten, wirkt auf Form und Gehalt der Gesten der Repräsentanten der Institutionen zurück. Die31 | Vgl. J. Starobinski, Gute Gaben, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten, Frankfurt/Main 1994.

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sem Wechselverhältnis zwischen den Vertretern und den Adressaten institutioneller Gestik kommt für das Verständnis der sozialen Funktion von Gesten eine zentrale Bedeutung zu. Über die Mimesis der institutionellen Gesten stellt sich bei den Vertretern und den Adressaten von Institutionen eine Identifikation mit der Institution her, deren Ansprüche und Geltung durch den Vollzug der Gesten jedes Mal bestätigt werden. Gesten werden zu Emblemen von Institutionen, über die sich die Abgrenzung zu anderen Institutionen und sozialen Feldern vollzieht. Wer Form und Bedeutung derartig emblematischer Gesten teilt, identifiziert sich mit der Institution, in deren Rahmen sie erzeugt werden. Über den mimetischen Vollzug von Gesten wird eine soziale Gemeinsamkeit erzeugt, in deren Rahmen die sozialen Beziehungen unter anderem mit Hilfe von Gesten geregelt werden. Gefühle der Zugehörigkeit werden durch den rituellen Vollzug von Gesten erzeugt und bestätigt. Dies gilt nicht nur für Institutionen, sondern auch für professionelle, schichten-, geschlechts- oder funktionsspezifische Gruppen. Gesten sind Ausdruck und Darstellung körperbezogenen praktischen Wissens. Mit Hilfe von Analyse, Sprache und Denken können sie nicht erworben werden. Vielmehr bedarf es zu ihrem Erwerb der Mimesis. Durch die Nachahmung von Gesten und Anähnlichung an sie gewinnt das sich mimetisch verhaltende Subjekt eine Kompetenz, Gesten szenisch zu entwerfen, einzusetzen und je nach den Umständen zu verändern. Historische Untersuchungen ihrer anthropologischen Funktion verdeutlichen die starke gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung szenischen Verhaltens. Mit Hilfe von Gesten werden soziale Kontinuität erzeugt und gesellschaftliche Veränderungen angekündigt und im menschlichen Verhalten durchgesetzt. Unter Beibehaltung des gestischen Arrangements werden häufig tiefgreifende, auf den ersten Blick kaum bemerkte Bedeutungsveränderungen durchgesetzt. Der historische Wandel von Gesten erstreckt sich auf ihre Bedeutungen, ihr körperlich-sinnliches Arrangement oder auf beides. Der mimetische Erwerb gestischer Kompetenz sichert die Fähigkeit, Gesten mit Hilfe von Körperbewegungen aufzuführen, sie in unterschiedlichen sozialen Kontexten einzusetzen und an die jeweiligen Erfordernisse anzupassen. Im mimetischen Erwerb werden Gesten inkorporiert. Sie werden Teil der Körper- und Bewegungsphantasie und damit eines körperbezogenen praktischen Wissens. Dieses gestische Körperwissen entsteht weitgehend unabhängig vom Bewusstsein und damit von den Distanzierungsmöglichkeiten der Beteiligten, entfaltet aber gerade deswegen nachhaltige Wirkungen.

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Ritual, Subjektkonstitution und Gemeinschaft Prozesse sozialer Mimesis sind sinnlich; sie vollziehen sich mit Hilfe von Wahrnehmung, lassen sich aber nicht auf Aisthesis begrenzen. Sie reichen in die Welt der inneren Vorstellungen, der Imagination, in der sie die Verbindung zwischen außen und innen herstellen, indem sie die Außenwelt in Innenwelt überführen. Über diesen Prozess entfaltet Mimesis ihre Bedeutung für das Soziale, für Erziehung und Sozialisation. Auf dieser »Funktionsweise« von Mimesis beruht auch die sozialisierende Kraft von Ritualen und Ritualisierungen. Indem Menschen in Familie, Schule, Kommunität und Politik an Ritualen und Ritualisierungen teilnehmen, sie wahrnehmen und in der Wahrnehmung nachvollziehen, überführen sie deren szenische Inszenierung mit ihren Wert-, Einstellungs- und Handlungselementen in ihre Vorstellungswelt, in der diese dann ihre Wirkung entfalten. In einer ersten Annäherung lassen sich Rituale als Handlungen ohne Worte begreifen, die sich in Gesten ausdrücken. Lévi-Strauss hat sie als eine Sprache neben der Sprache (paralangage) bezeichnet, die als Handlung nicht auf Worte reduzierbar ist. Rituale sind körperliche Bewegungen, die einen Anfang und ein Ende haben, die gerichtet sind und den Beteiligten eine Position zuweisen. Rituale lassen sich als symbolisch kodierte Körperprozesse begreifen, die soziale Realitäten erzeugen und interpretieren, erhalten und verändern. Sie vollziehen sich im Raum, werden in Gruppen ausgeführt und sind normativ bestimmt. Sie umfassen standardisierte Elemente und ermöglichen Abweichungen von diesen. Im Vollzug von Ritualen werden durch die Körperbewegungen Emotionen erzeugt, die ihrerseits zur Veränderung der rituellen Handlungen beitragen. Dadurch entsteht das konstruktive soziale Potential von Ritualen. Über rituelles Handeln und Verhalten werden soziale Normen in die Körper eingeschrieben. Mit diesen Einschreibungsprozessen werden auch soziale Machtverhältnisse inkorporiert. Diese Prozesse verlaufen weitgehend außerhalb des Bewusstseins der Beteiligten und entfalten daher um so nachhaltigere Wirkungen. Ritualisierungen erzeugen komplexe soziale und häufig konfliktreiche Situationen, für deren Entwirrung es häufig erheblicher Anstrengungen der Beteiligten bedarf. Rituale erzielen ihre pädagogische und sozialer Wirkung dadurch, dass sie sich der Körper der Kinder und Jugendlichen bedienen. Wenn Rituale symbolisch kodierte Bewegungen des Körpers sind, finden sie in einem historischen und kulturellen Kontext statt, doch können sie nicht auf ihre symbolische Bedeutung reduziert werden. Sie stellen körperliche Handlungen dar. Als solche sind sie unmittelbar mit der Wahrnehmung verbunden. Es gibt kein Ritual, zu dessen Vollzug und Verständnis es nicht der Sinne bedarf. Rituale stellen gleichsam »Fenster« dar, durch die hindurch die Dy-

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namik betrachtet werden kann, mit deren Hilfe Menschen ihre kulturelle Welt einschließlich Familie und Schule schaffen, erhalten und verändern. Rituale sind Konstrukte der Forschung, deren konstruktiver Charakter manchmal die Gefahr mit sich bringt, das Verhältnis von Handlung und Handlungsdeutung in unzulässiger Weise zu vereinfachen. Konstrukte gehen von bestimmten konzeptuellen Voraussetzungen und den in ihnen enthaltenen Werten und Normen aus. Angesichts dieser Situation kommt der Kontextualisierung von Ritualen besondere Bedeutung zu. Sie relativiert deren herausgehobenen Charakter und führt zur Vorsicht gegenüber der Generalisierung von Aussagen über ihre soziale Funktion. Im Rahmen der kulturanthropologischen Erforschung von Ritualen und Ritualisierungen lassen sich drei Schwerpunkte unterscheiden. Beim ersten steht die Erforschung von Ritualen im Zusammenhang mit Religion, Mythos und Kultus (Max Müller, Herbert Spencer, James Frazer, Rudolf Otto). Beim zweiten Schwerpunkt dienen Rituale dazu, Strukturen und Werte der Gesellschaft zu analysieren; herausgearbeitet werden soll der Funktionszusammenhang zwischen Ritual und Gesellschaftsstruktur (Fustel de Coulanges, Emile Durkheim). Beim dritten Schwerpunkt werden Rituale als Texte gelesen; Ziel ist die Entschlüsselung der kulturellen und sozialen Dynamik der Gesellschaft. Hier richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Ritualen für kulturelle Symbolisierung und soziale Kommunikation (Victor Turner, Clifford Geertz, Marshall Sahlins). Insofern das Lesen von Ritualen eine mimetische Tätigkeit ist, gehören die folgenden Überlegungen über das Verhältnis von Mimesis und Ritual zunächst in den Zusammenhang des dritten Schwerpunktes, der kulturelle Phänomene zunächst als Text und darüber hinausgehend als Aufführung zu lesen versucht. Subjekte machen die Erfahrung sehr unterschiedlicher Rituale. So bietet es sich an, Rituale anlässlich zentraler Lebenseinschnitte von kalendarischen Ritualen zu unterscheiden. Beiden kommt eine zentrale Bedeutung für die Konstitution des Subjekts innerhalb von Gemeinschaften zu. Zu den von Ritualen begleiteten zentralen Lebenseinschnitten gehören z.B. Geburt, Pubertät, Heirat, Scheidung, Tod. In diesen Zusammenhang gehören auch Rituale der Statuserhöhung, etwa am Ende der Schulzeit, des Studiums oder bei der Übernahme höherer Ämter. In diesen Fällen sind die Rituale gebunden an individuelle und familiale bzw. an im Rahmen kleinerer Gruppen begangene Ereignisse. Während früher die Handlungsspielräume bei der Durchführung von Ritualen relativ gering waren, so stehen heute überlieferte Rituale zur Disposition der Individuen. Subjekte können und müssen entscheiden, in welchem Ausmaß sie sich auf Rituale einlassen, sie ändern oder neu gestalten möchten. Dabei sind – trotz Vergrößerung des Handlungsspielraums – die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen einge-

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48 | I Mimesis schränkt. In vielen Fällen gelingt es nur unter großer individueller Anstrengung, Rituale bzw. ritualisiertes Handeln zu vermeiden. Bei den kalendarischen Ritualen ist die Situation nicht anders. Im Unterschied zu den anlässlich zentraler Lebenseinschnitte eher individuell oder in kleineren Gruppen vollzogenen Ritualen handelt es sich bei den kalendarischen Ritualen um solche, die von großen Kollektiven gleichzeitig begangen werden. Zwar geht von diesen Ritualen eine starke Aufforderung zum Nachvollzug, zur sozialen Mimesis aus, doch hat sich auch in diesem Bereich der subjektive Entscheidungs- und Handlungsspielraum im Vergleich zu früher erhöht. Allerdings bedarf es schon einer ausdrücklichen Entscheidungsanstrengung, wenn in einer Familie mit kleinen Kindern das Weihnachtsfest anders als gewöhnlich begangen werden soll. In Ritualen liegen tradierte Sozialformen vor, die Jahr für Jahr und Generation für Generation Familien und Individuen auffordern, sich auf sie einzulassen und sie nachzuvollziehen. In solchen Situationen kommt es zur Mimesis von Sozialformen mit allen im mimetischen Handeln gegebenen Möglichkeiten individueller Abweichung und Ausgestaltung. Erst der im mimetischen Handeln gegebene Spielraum macht eine subjektive Aneignung von Ritualen möglich. Bestünde dieser in verschiedenen Kulturen und historischen Zeiten zweifellos unterschiedliche Spielraum zur subjektiven Aus- und Eigengestaltung nicht, würde es sich um ein kopierendes, möglicherweise sogar Simulakren herstellendes, jedoch nicht um ein mimetisches Verhalten handeln, das auch nicht die von mimetischem Verhalten erwartbaren sozialen Wirkungen hätte. Die Wirkungen sozialer Mimesis bestehen in der Selbstvergewisserung der das Ritual »aufführenden« Gemeinschaft. Durch den mimetischen Bezug auf kollektive kulturelle Traditionen erfolgt diese Selbstvergewisserung des Miteinander und der Gemeinschaft. Von diesem Prozess geht eine Kohäsionswirkung aus, die sich auch auf die Zukunft der Gemeinschaft auswirkt. Einen Schritt weiter im Verständnis der Funktion und der Struktur von Ritualen führen van Genneps Überlegungen zu den Übergangsritualen, den rites de passage. Van Gennep bestimmt sie als Riten, die einen Orts-, Zustands-, Positions- oder Altersgruppenwechsel begleiten und unterscheidet drei Phasen: die Trennungs-, die Schwellen- und die Anbindungsphase. In der ersten Phase erfolgt die Loslösung eines Einzelnen oder einer Gruppe von einem früheren Punkt in der Sozialstruktur oder von einer Reihe kultureller Bedingungen. In der zweiten Phase, der Übergangs-, Transitions-, Liminal- oder Schwellenphase gerät das Subjekt in eine ambivalente Situation, in der weder die Merkmale der vergangenen noch die der erwarteten zukünftigen Situation gegeben sind. In der dritten Phase ist der Übergang und damit die Angliederung an die neue Situation vollzogen.

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Für das Verständnis von Übergangsritualen und Prozessen sozialer Mimesis ist die Situation des Schwellenzustands, der Liminalität, von besonderem Interesse. Unsicherheit und Ambiguität sind für den Zwischencharakter dieser Transitionsphase von einem niederen zu einem höheren Zustand charakteristisch. Häufig sind diese Übergangsphasen durch ihren herausgehobenen Charakter bestimmt. So kommt es in Stammesgesellschaften z.B. in Pubertätsriten zur Einübung von ansonsten nicht geforderten Verhaltensweisen wie Demut und Schweigen, zum Verzicht auf Essen und Trinken, zu körperlichen Torturen und Demütigungen, zur Unterwerfung unter die Autorität der Gemeinschaft als ganzer. Vielfältige Formen der Erniedrigung gelten als Vorbereitung auf die folgende Statuserhöhung. Man könnte von einer eigenen Pädagogik des Schwellenzustands sprechen. In ihrem Mittelpunkt steht die Zerstörung der bisherigen sozialen Identität, die Herstellung eines Zwischenstadiums der Leere und damit die Vorbereitung auf eine neue soziale Identität. In modernen Gesellschaften gibt es ähnliche, allerdings in ihrer Ausprägung und Intensität reduzierte Übergangsrituale wie das Abitur oder die Graduierung in den angelsächsischen Ländern. In den mit diesen Ritualen verbundenen Prüfungssituationen kann man Momente einer Übergangssituation mit Formen der Erniedrigung der Prüflinge sehen, für die sie später mit einem neuen sozialen Status des Nicht-mehr-Schülers oder Nicht-mehr-Studenten bzw. des Akademikers belohnt werden. Der in Intensität und Zielrichtung sicherlich unterschiedliche Charakter dieser Rituale legt die Frage nahe, wie weit man den Begriff des Rituals, des Ritus, des ritualisierten Verhaltens fassen darf, eine Frage, der ich in diesem Zusammenhang jedoch nicht nachgehen möchte. Rituale lassen sich als eine Form sozialer Praxis, als eine Strategie sozialen Handelns begreifen, die sich durch eine Reihe von Merkmalen von anderen Formen sozialen Handelns unterscheidet. Zwar lassen sich einige für Rituale und Ritualisierungen typische Charakteristika angeben, doch liefern diese Bestimmungen keine ausreichenden Definitionen. Dies ist um so mehr der Fall, als manche von ihnen kontrovers diskutiert werden. Viele Merkmale von Ritualen sind kontextabhängig und lassen sich nur in begrenztem Maß generalisieren. Dieser Sachverhalt führt dazu, die Vorstellung vom Ritual als globaler Konstruktion, als »Schlüssel zur Kultur« (Durkheim), aufzugeben und stattdessen nach den spezifischen Möglichkeiten und Grenzen von Ritualen und Ritualisierungen zu fragen. Der komplexe Charakter von Ritualen hat ihre Erforschung immer wieder auf ihre Grenzen verwiesen. So scheint es kaum möglich zu sein, die Komplexität von Ritualen angemessen zu begreifen. Im sakralen Kontext lassen sich Rituale als Handlungen verstehen, die sich zwar von religiösen Einstellungen, Symbolen und Mythen unterscheiden, die jedoch derer auch bedürfen, um ihre sakrale und soziale Bedeutung zu entfalten. Glaubens-

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50 | I Mimesis einstellungen, Symbole, Mythen können ohne Rituale, Rituale aber nicht ohne diese existieren. Dennoch sind Rituale zunächst Handlungen, in denen etwas dargestellt und ausgedrückt wird und denen es gelingt, kollektive Glaubensvorstellungen gleichzeitig hervorzubringen, erfahrbar zu machen und als gültig zu bestätigen. Rituale lassen sich als Repräsentationen sozialen Lebens begreifen, die dem Subjekt die Möglichkeit geben, an diesen teilzunehmen. Über ihre Inszenierung stellen sich religiöse und soziale Kontinuität und Tradition her, in die auch Veränderungen und historischer Wandel eingreifen. Der mögliche Beitrag von Ritualen zum sozialen Wandel ist lange nicht gesehen worden und hat erst neuerdings Aufmerksamkeit gefunden. Im Symbolismus eines Rituals gehen die Welt als gelebte und die Welt als imaginierte ineinander über und erscheinen als eine Welt. Dadurch wird das Ritual zu einem Modell der Welt und für die Welt. Indem sich das Ritual einerseits auf die soziale und psychische Realität und indem andererseits das Ritual diese Realität auf sich bezieht, gibt es der sozialen und psychischen Realität Form und Bedeutung. Rituale verkörpern Glaubenseinstellungen, Ideen und Mythen und bringen sie zum Ausdruck und zur Darstellung. Sie stellen deren Materialisierungen und Realisierungen dar und überbrücken die Dichotomie zwischen Handlung und Gedanken. Rituale sind überdeterminierte symbolische Handlungen, die zu unterschiedlichen Deutungen herausfordern, deren Heterogenität in der rituellen Handlung gebunden ist. Rituale sind soziale Handlungen und zugleich ihre Deutung. Sie verkörpern, materialisieren, dramatisieren und inszenieren Symbolsysteme, ohne dass aus dieser Formulierung geschlossen werden darf, dass die Handlung dem Symbolsystem nachgeordnet ist. Geertz zufolge gibt es im Ritual zwei nicht aufeinander reduzierbare Elemente, die er als »Weltsicht« bezeichnet, d.h. als die kognitiven existentiellen Aspekte einer Kultur, und als »Dispositionen«, d.h. als die für jede Kultur spezifischen Stimmungsund Motivationsvoraussetzungen sozialer bzw. ritueller Handlungen. Nach dieser Sicht führt daher der Versuch in die Irre, eine Hierarchie zwischen symbolischer Weltsicht und kulturspezifischen Handlungsdispositionen zu konstruieren. Vielmehr sind beide gleich ursprünglich. Rituale bringen soziale Machtstrukturen zum Ausdruck. Häufig dienen sie dazu, bestehende Sozialstrukturen als unveränderlich zu inszenieren und zu bekräftigen. Indem sie sich den Anschein geben, eine »natürliche« Ordnung auszudrücken, verdecken sie die ihnen inhärenten Konflikte zwischen Kultur und Natur, auf die Lévi-Strauss und Bourdieu hingewiesen haben und die immer wieder im Medium des Rituals ihren Ausdruck erhalten. Rituale können dann zum sozialen Wandel beitragen, wenn sie die »na-

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türliche« taxonomische Ordnung zerbrechen und an der Entwicklung einer neuen »kulturellen« Ordnung mitwirken. Rituale tragen in der Regel bei zu einem gelingenden Umgang mit gegensätzlichen Ordnungen, etwa der Natur, der Kultur oder sozialer Systeme. Auch Victor Turner hat wiederholt auf den so häufig übersehenen innovativen Charakter von Ritualen hingewiesen. Insofern Rituale Versuche darstellen, kulturelle Ordnungen herzustellen und zu festigen, haben sie auch mit dem Ungeordneten, sich der Ordnung Widersetzenden zu tun. Turner hat diese Seite mit den Begriffen »Liminalität«, »Anti-Struktur«, »Communitas« beschrieben. Diese Dimensionen bilden eine notwendige Ergänzung der hierarchisierten und verfestigten gesellschaftlichen Struktur, die im Allgemeinen als Ergebnis von Ritualisierungen dargestellt wird. Bei dieser als liminal oder anti-strukturell bezeichneten »Communitas« handelt es sich um eine »unstrukturierte oder rudimentär strukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft«. Gesellschaftliches Leben lässt sich als dialektischer Prozess zwischen strukturierter und strukturierender Gesellschaft und Gemeinschaft, zwischen Differenzierung und Homogenität, zwischen Ungleichheit und Gleichheit, zwischen Vergangenheit und Hier und Jetzt begreifen. Bei der Ausbalancierung des Verhältnisses zwischen gesellschaftlicher Struktur und Anti-Struktur bzw. Communitas spielen Rituale eine wichtige Rolle. Insofern Rituale dazu dienen, liminale Situationen beim Übergang von einem Punkt in der gesellschaftlichen Struktur zu einem anderen zu erzeugen, in denen die Auflösung bisheriger sozialer Identität und die Vorbereitung zukünftiger sozialer Identität erfolgen, kommt ihnen für die Bestimmung des Verhältnisses von gesellschaftlicher Struktur und gemeinschaftlicher Anti-Struktur erhebliche Bedeutung zu. Aufgrund des Grenzcharakters zwischen diesen beiden Bereichen gesellschaftlichen Lebens wird in Ritualen etwas von dem Sozialen sichtbar, das sich der Sichtbarmachung widersetzt. Buber hat es in der ihm eigenen Sprache so zu beschreiben versucht: »Gemeinschaft aber […] ist das Nichtmehr-Nebeneinander, sondern Beieinandersein einer Vielfalt von Personen, die, ob sie auch mitsammen sich auf ein Ziel zu bewegen, überall ein Aufeinanderzu, ein dynamisches Gegenüber, ein Fluten von Ich und Du erfährt: Gemeinschaft ist, wo Gemeinschaft geschieht.«32 Im Unterschied zur normen- und regelgeleiteten, eher abstrakten Sozialstruktur werden in dem von Buber und Turner als »Gemeinschaft« bezeichneten Bereich mit Hilfe von Ritualen liminale Situationen geschaffen, in denen Spontaneität und Unmittelbarkeit artikuliert und entwickelt werden können. Daher ermöglichen Rituale es, diese Dimensionen des Sozialen auch in stark durch-

32 | M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 1984, S. 185.

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52 | I Mimesis strukturierten Gesellschaften zu leben. Sie stellen prinzipiell unbestimmbare virtuelle Elemente und damit ein Reservoir sozialen Widerstands und sozialer Innovation dar. Rituale lassen sich als Versuche begreifen, Unsichtbares sichtbar zu machen. Mit dieser Situation zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem korrespondiert ihr ambivalenter Charakter bei der Erhaltung bzw. Veränderung sozialer Strukturen. Rituale können sowohl zur Festigung gesellschaftlicher Machtstrukturen als auch zu ihrer Veränderung beitragen. Sie verlangen die Einhaltung tradierter Formen, geben aber auch die Möglichkeit, Variationen zu entwickeln. Besonders bei Ritualen des Widerstands werden die Möglichkeiten genutzt, neue Formen zu entwickeln und zu verbreiten. Im politischen Kampf oder in der Auseinandersetzung der Generationen werden Rituale erfunden und eingesetzt, die es bislang nicht gab, und deren Wirkung gerade in ihrem innovativen Charakter besteht. Wie tradierte Rituale binden auch diese neuen Rituale die Gemeinschaften zusammen, die sich über ihren Gebrauch von anderen Gemeinschaften und Gruppen abgrenzen. Indem diese Gemeinschaften neue Rituale schaffen, betonen sie den Unterschied zu anderen Gruppen und vergewissern sich durch die Identifizierung mit ihren Ritualen ihrer selbst. Mit Hilfe von Ritualen entsteht Sinn für die Gemeinschaft, ihre Ziele und ihr Lebensgefühl. Die soziale Wirkung der Rituale besteht darin, dass sie sehr unterschiedliche Deutungen und Empfindungen der gleichen rituellen Aufführungen möglich machen und damit den Mitgliedern der Gemeinschaft Homogenität und Differenz erlauben. Rituale lassen sich als soziale Aufführungen begreifen. Als solche haben sie Gemeinsamkeiten mit anderen sozialen Inszenierungen, zu denen z.B. Sportveranstaltungen gehören. Wie diese verkörpern und organisieren sie symbolische Inhalte an festgelegten Orten zu bestimmten Zeitpunkten in tradierten Formen und Verhaltensweisen. Rituale haben einen Anfang, eine bestimmte Dauer und ein Ende. Sie stellen symbolische Inhalte für die Handelnden und ihre Zuschauer dar. Sie organisieren und vermitteln soziale Inhalte in bestimmten Handlungen und Verhaltensweisen in verschiedenen Medien. Im Unterschied zu anderen Formen symbolischer Kommunikation verbinden Rituale Handlungen mit den Rituale entwerfenden, modifizierenden und deutenden Gedanken. In rituellen Aufführungen werden häufig soziale Situationen bzw. »soziale Dramen« dargestellt, in denen sich die wichtigsten Werte einer Kultur artikulieren. Diese die kulturelle Gemeinschaft bzw. Gesellschaft sichernden Werte sind ihren Mitgliedern häufig nur unzulänglich bewusst. In ihrer Inszenierung im Ritual werden sie sichtbar und zugänglich. Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, ob sie in der rituellen Darstellung als solche begriffen werden oder nicht. Entscheidend ist, dass die Mitglieder der

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kulturellen Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft in der rituellen Aufführung an diesen Werten und ihrer Artikulation in »sozialen Dramen« beteiligt werden. Diese Beteiligung geschieht durch die Mimesis der rituellen Inszenierung. In ihrem Verlauf kommt es zu einer »Anähnlichung« der an ihr Beteiligten oder ihr Zuschauenden. In diesem Prozess werden weniger diskursive Erkenntnisse gewonnen. Vielmehr entstehen durch die Mimesis der rituellen Handlungen Empfindungen und Gefühle. Entscheidend für die Wirksamkeit der rituellen Aufführungen ist nun, dass diese Emotionen nicht nur vom Einzelnen empfunden, sondern kollektiv erlebt werden. Über den kollektiven Charakter der Emotionen entsteht die Gemeinschaft stiftende Wirkung der Rituale. Im Ritual werden kollektiv akzeptierte Handlungs- und Verhaltensformen inszeniert, die darstellen, wie gemeinschaftlich gehandelt werden kann. Über das mimetische Vermögen entfalten rituelle Aufführungen selbst dann Wirkungen, wenn der Einzelne sich in seinem Bewusstsein von ihnen distanziert. Wahrscheinlich besteht sogar ein Teil der Wirksamkeit von Ritualen darin, dass sie Modifizierungen und Distanzierungen zulassen können, ohne dadurch ihre Wirksamkeit einzubüßen. Rituale entfalten ihre soziale Wirksamkeit vor allem dadurch, dass sie soziale, von symbolischen Deutungen begleitete Handlungen sind. Sie bringen Dinge zur Darstellung, die anders nicht ausgedrückt werden können, und sind daher irreduzibel. Wie Kunstwerke sind sie in semantischer Hinsicht überdeterminiert. Oft korrespondiert damit auch eine Redundanz der Darstellung und ihrer Ausarbeitung. Rituale sind darauf angelegt, etwas sichtbar zu machen, etwas zu zeigen, zu demonstrieren. Rituelle Aufführungen wollen etwas zur Darstellung bringen, es dramatisieren und die Zuschauer an der Darstellung beteiligen. Sie haben einen ostentativen, auf die Vermittlung intensiver Gefühle angelegten Charakter. Obwohl rituelle Aufführungen durchaus dramatische Elemente enthalten, hat man verschiedentlich versucht, sie von Schauspielen in unserem heutigen Verständnis durch den Hinweis zu unterscheiden, dass Schauspiele nicht inszeniert werden, um Wirkungen auf die Schauspieler, sondern auf die Zuschauer zu haben. Demgegenüber sind in Ritualen die Handelnden selbst die Adressaten der rituellen Aufführung. Nichtsdestoweniger kommt für die Wirksamkeit von Ritualen auch den nicht unmittelbar an den Ritualen beteiligten Mitgliedern der Gemeinschaft eine wichtige Funktion zu. Doch auch dieses Unterscheidungsmerkmal hat seine Grenzen. So sind in vielen Stammesgesellschaften nicht die rituell Handelnden, sondern die Vorfahren und Götter, Natur und Kosmos die Hauptadressaten der rituellen Handlungen. Neben diesem Differenzgesichtspunkt lassen sich eine Reihe analoger Merkmale zwischen Ritual und Drama nennen. So liegen dem Ritual und

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54 | I Mimesis dem Drama als zwei einander ähnlichen Formen »kultureller Aufführung« gemeinsame Rahmenbedingungen zugrunde. Zu diesen gehören der herausgehobene Charakter der Handlung, ihre Zeitlichkeit, ihre Kollektivität, ihre Öffentlichkeit und ihre Macht, nicht nur die Auffassungen der Menschen, sondern auch sie selbst zu verändern. Ein solcher Vergleich zwischen Ritual und Spiel und Ritual und Text bringt weitere Einsichten in die Struktur und die Funktion von Ritualen zu Tage. Die sich dabei ergebenden Gemeinsamkeiten und Differenzen beanspruchen allerdings lediglich eine relative Geltung. Das gilt z.B. für die in rituellen Inszenierungen und in Spielen anzutreffenden Momente des Selbstausdrucks und der Selbstdarstellung. In beiden Formen der Aufführung kommt es zu einer Art Selbstvergessenheit der Handelnden, die kein Vorher und Nachher kennt. Der im Ritual Handelnde zentriert sich auf das Hier und Jetzt und erfährt dabei ein hohes Maß Intensität und Lust. Diese selbstvergessene Intensität lässt sich auch als inneres Fließen beschreiben. Diese Erfahrung des Fließens vermittelt Gefühle starker Präsenz und innerer Befriedigung. Mihaly Csikszentmihalyi hat diese Prozesse näher untersucht, ihren autotelischen Charakter herausgearbeitet und für sie den Begriff des »Flow-Erlebnisses« geprägt. Für das szenische Arrangement und die Kontinuität szenischer Gestaltung von Ritualen ist dieses »Fließen« im Inneren der Handelnden von zentraler Bedeutung. Das im »Flow-Erlebnis« liegende Gefühl der Zufriedenheit stellt das Gefühl der Zusammengehörigkeit her, das sich in ritualisierten Handlungen in Gemeinschaften ergibt. Für das Erlebnis des Fließens und seine Gemeinschaft stiftenden Wirkungen sind die mimetischen Fähigkeiten der Mitglieder einer Gemeinschaft eine Voraussetzung. Sie ermöglichen eine Anähnlichung der Handelnden aneinander und lassen dadurch das gemeinsame bzw. Gemeinschaft stiftende »Flow-Erlebnis« entstehen. Das Einander-ähnlich-Werden im gemeinsamen Vollzug von Ritualen oder rituellem Verhalten geschieht über eine sinnlich-körperliche (mimetische) »Ansteckung«, die in manchen Situationen zur Zurückstellung individueller Verhaltenssteuerung und Verantwortung führen kann. In solchen Situationen kann Mimesis in Mimikry umschlagen und das potentiell Gemeinschaft stiftende Ritual zum bloßen Anpassungszwang für Individuen verkommen. Da Rituale symbolisch kodierte Handlungen sind, können sie wie Texte gelesen werden. Eine solche Betrachtungsweise erklärt nicht ihre performative Seite, doch vermittelt sie Einblick in ihre Semantik. Ein Verständnis von Ritualen als szenischen Darstellungen von Metaphern legt ebenfalls eine Lektüre von Ritualen nach dem Modell von Texten nahe. Desgleichen unterstützt Benjamins Vorstellung vom Lesen der Zukunft aus tierischen Eingeweiden ein Verständnis von Ritual als Text, bei dem es darauf ankommt, die szenische Darstellung zu lesen. Nach Benjamins Auffassung ist

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die Lektüre von Texten eine kulturgeschichtlich eher späte Form des Lesens der Welt. In der Lektüre der Welt, im Lesen von Ritualen, werden in einer Mimesis der szenischen Darstellung Ähnlichkeiten erzeugt und Korrespondenzen hergestellt, die Sinn und Bedeutung produzieren. Selbst im Fall »unsinnlicher Ähnlichkeit« kann die Lektüre von Ritualen Ordnung, Sinn und Bedeutung erzeugen. Für eine Lektüre von Ritualen sprechen weitere Gründe. Einmal sind Rituale überdeterminierte Bedeutungsgefüge, in deren Rahmen jeder Szene, jedem szenischen Element, jedem Symbol, jeder Geste erst sich aus dem Gesamtarrangement erschließende spezifische Bedeutungen zukommen. Das rituelle Arrangement ist wie ein Text gestaltet, dessen einzelne Teile ihre volle Bedeutung erst aus dem Gesamt des Arrangements bzw. des Textes erhalten. Wie Texte stellen Rituale autonome, von der Deutung der rituell Handelnden unabhängige Sinneinheiten dar, deren Bedeutungen sich erst interpretierender Lektüre erschließt. Diese Lektüre kann durch die rituell Handelnden, die Zuschauer oder andere Interpreten erfolgen. Somit besteht eine strukturelle Entsprechung zwischen den wie ein Text organisierten Ritualen und ihrer interpretativen Lektüre durch Zuschauer und Wissenschaftler. Diese Lektüre ist mimetisch. Durch Anähnlichung an die szenische Gestaltung der Rituale werden Rituale im Betrachter nachgeschaffen, werden in ihm lebendig und vermitteln ihm ihre Bedeutungen. In das so erzeugte Verständnis der Bedeutungen der Rituale gehen die jeweiligen Voraussetzungen des sich mimetisch verhaltenden Zuschauers und Interpreten ein. In Analogie zu den Erkenntnissen der Rezeptionsästhetik könnte man die Auffassung vertreten, dass sich Rituale über mimetische Prozesse erst in jedem rituell Handelnden und in jedem Zuschauer bilden und dabei unterschiedliche Wirkungen entfalten. Zwar haben Rituale Gemeinsamkeiten mit Drama, Spiel und Text, doch sind sie in erster Linie Handlung und Praxis. In den Versuchen, genauer zu bestimmen, was unter »Ritual« zu verstehen sei, werden zahlreiche Merkmale benannt. Diese Definitionsbemühungen gehen davon aus, dass sich trotz aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen eine Reihe von Kriterien angeben lässt, mit deren Hilfe rituelle von nicht-rituellen Handlungen unterschieden werden können. Im Allgemeinen wird dabei unterschieden zwischen: rituellen liturgischen Studien, religiösem und säkularem Ritual, politischem Ritual und staatlichem Zeremoniell, privatem und kollektivem Ritual, Aufstands- und Solidaritätsritual, dramatischer und ritueller Aufführung, dem formalen Charakter von Spielen und Ritualen, Ritual und Fest usw. Je allgemeiner die Definitionskriterien sind, desto weniger erfassen sie den Charakter spezifischer Rituale. Je spezifischer die Kriterien sind, desto größer sind die Schwierigkeiten, sie zu verallgemeinern. Auf diese Schwierigkeit stoßen fast alle Definitionsversuche, ob sie nun die Differenz oder

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56 | I Mimesis die Kongruenz zwischen Ritual und anderen Formen sozialen Handelns betonen. Geht man vom konstruktiven Charakter der Rituale aus, so relativiert sich die Differenz zwischen diesen Unterscheidungen. Beide werden als Konstruktionsergebnis der Erforschung von Ritualen begriffen. Im Bewusstsein des konstruktiven und damit relativen Charakters aller Definitionsbemühungen lässt sich festhalten: Wie andere Formen sozialen Handelns haben Rituale eine körperliche, szenische, expressive, spontane, symbolische Seite; sie sind regelhaft, routiniert, nicht-instrumentell, effizient. Rituale sind nicht eindeutig; im Allgemeinen verbinden sie in ihrer szenischen Gestaltung Unterschiedliches und Widersprüchliches. Einerseits wiederholen sie szenische Arrangements und mit ihnen traditionelle Ordnungen und Strukturen mit den ihnen inhärenten Machtverhältnissen. Andererseits bilden sie sich neu, sind spontan und artikulieren innovative Kräfte; Widerstandsrituale jugendlicher Subkulturen, Rituale des Lebensstils sind dafür Beispiele. Mit Hilfe von Unterscheidungen wie rational und irrational, logisch und emotional, kognitiv und affektiv lassen sich Rituale nur unzulänglich beschreiben. Als eine Form sozialen Handelns sind sie komplexer, als dass sie mit derartigen Bestimmungen angemessen beschrieben werden könnten. Weiterführend erscheinen demgegenüber Überlegungen, Ritual und Ritualisierung als Dimension des Sozialen zu begreifen. In dieser Perspektive werden die oben genannten Merkmale des Rituals als Aspekte sozialen Handelns begriffen, ohne die das Soziale gar nicht möglich wäre. Wiederholung, Routinisierung, szenisches Arrangement, symbolischer Charakter und Expressivität werden damit zu konstitutiven Elementen sozialen Handelns und des Sozialen überhaupt, dessen Wirkungen sich zu einem erheblichen Maße über mimetische Prozesse vollziehen.

Mimetische Grundlagen kulturellen Lernens Wie werden kulturelle Produkte, Praktiken und Wissensbestände erzeugt, wie von einer Generation an die nächste weiter gegeben und wie dabei umgestaltet und neu geschaffen? Nach wie vor gehört die Auseinandersetzung mit diesen Fragen zu den zentralen, nicht genügend behandelten Anliegen der Kulturwissenschaften. Nach der im Weiteren vertretenen Auffassung spielen in diesen Prozessen die mimetischen Fähigkeiten des Menschen eine entscheidende Rolle. Neuere Untersuchungen zur kulturellen Entwicklung des Denkens, die unter Bezug auf wichtige Ergebnisse der Primatenforschung durchgeführt wurden, haben dies ebenfalls nachgewiesen: Zwar kommen elementare Formen mimetischen Lernens auch bei anderen Primaten vor, doch sind Menschen in besonderer Weise fähig, mimetisch zu

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lernen. Kulturwissenschaftler überrascht diese Erkenntnis nicht. Schon Aristoteles hat in der Fähigkeit zu mimetischem Lernen und in der Freude der Menschen an mimetischen Prozessen eine besondere menschliche Begabung gesehen. Unter Bezugnahme auf die Erforschung des Sozialverhaltens von Primaten und im Vergleich zu diesen ist es Vertretern der Entwicklungspsychologie und der kognitiven Psychologie in den letzten Jahren gelungen, einige Charakteristika des menschlichen Lernens in diesem frühen Alter zu bestimmen und den besonderen Charakter des mimetischen Lernens beim Menschen im Säuglings- und Kleinkindalter herauszuarbeiten. Zusammenfassend beschreibt Michael Tomasello diese Fähigkeiten aller Säuglinge und Kleinkinder wie folgt: »Sie identifizieren sich mit anderen Personen; nehmen andere als intentionale Akteure wie sich selbst wahr; nehmen mit anderen an Aktivitäten gemeinsamer Aufmerksamkeit teil; verstehen viele der kausalen Beziehungen, die zwischen physischen Gegenständen und Ereignissen in der Welt bestehen; erkennen die kommunikativen Absichten, die andere Personen durch Gesten, sprachliche Symbole und Sprachkonstruktionen ausdrücken; lernen anhand von Imitation durch Rollentausch anderen gegenüber dieselben Gesten, Symbole und Konstruktionen hervorzubringen; und bilden sprachlich basierte Gegenstandskategorien und Ereignisschemata.«33

Diese Fähigkeiten versetzen Säuglinge und Kleinkinder in die Lage, an kulturellen Prozessen teilzunehmen. Sie können sich an den Inszenierungen der Praktiken und Fertigkeiten der sozialen Gruppe beteiligen, in der sie leben, und sich dadurch deren kulturelles Wissen aneignen. Die hier beschriebenen Fähigkeiten verweisen auf die zentrale Bedeutung des Modelllernens für die Entwicklung des Kleinkindes.34 Diese Prozesse lassen sich jedoch besser als mimetische Prozesse verstehen. Die Fähigkeiten, sich mit anderen Personen zu identifizieren, sie als intentional Handelnde zu begreifen und mit ihnen Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, ist an das mimetische Begehren des Kindes gebunden, den Erwachsenen nachzueifern, sich ihnen anzuähneln bzw. wie sie werden zu wollen. In diesem Begehren, den Älteren ähnlich zu werden, liegt die Motivation dafür, kausale Beziehungen zwischen den Gegenständen der Welt zu begreifen und die kommunikativen Absichten anderer Menschen in Gesten, Symbolen und Konstruktionen zu verstehen und wie diese Gegenstandskategorien und Ereignisschemata herauszubilden. Bereits mit neun Monaten erreichen Kleinkinder diese in den mimetischen Möglichkeiten des Menschen liegen33 | M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kommunikation, Frankfurt/Main 2002, S. 189. 34 | Vgl. A. Bandura, Self Efficacy: The Exercise of Control, New York 1997.

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58 | I Mimesis den Fähigkeiten, über die andere Primaten zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens verfügen können.35 Die hier beschriebenen mimetischen Fähigkeiten lassen Kleinkinder an den kulturellen Produkten ihrer Gesellschaft teilnehmen. Sie ermöglichen, was in der Psychologie der »Wagenhebereffekt« genannt wurde, der darin besteht, dass Kleinkinder aufgrund ihrer mimetischen Fähigkeiten die materiellen und symbolischen Produkte ihrer kulturellen Gemeinschaft inkorporieren können, diese dadurch erhalten bleiben und ohne verloren zu gehen an die nächste Generation weitergegeben werden können. Mimetische Prozesse richten sich zunächst vor allem auf andere Menschen. In ihnen nehmen Säuglinge und Kleinkinder auf die Menschen Bezug, mit denen sie zusammenleben: Eltern, ältere Geschwister, andere Verwandte und Bekannte. Sie versuchen, sich diesen anzuähneln, indem sie z.B. ein Lächeln mit einem Lächeln beantworten. Doch sie initiieren auch durch die Anwendung bereits erworbener Fähigkeiten die entsprechenden Reaktionen der Erwachsenen. In diesen frühen Prozessen des Austauschs lernen Kleinkinder auch Gefühle. Sie lernen, diese in Bezug auf andere Menschen in sich zu erzeugen und sie bei anderen Menschen hervorzurufen. Im Austausch mit der Umwelt entwickelt sich ihr Gehirn, d.h., es werden bestimmte seiner Möglichkeiten ausgebildet, andere hingegen verkümmern.36 Die kulturellen Bedingungen dieses frühen Lebens schreiben sich in das Gehirn, in die Körper der Kinder ein. Wer nicht in frühem Alter Sehen, Hören oder Sprechen gelernt hat, kann es zu einem späteren Zeitpunkt nie wieder erlernen.37 Die mimetischen Bezugnahmen der Säuglinge und Kleinkinder lassen zunächst keine Subjekt-Objekt-Trennung entstehen. Diese ist erst das Ergebnis späterer Entwicklungen. Zunächst ist die Wahrnehmung der Welt animistisch und magisch. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge werden als lebendig erlebt. In dieser im Verlauf der Entwicklung der Rationalität Bedeutung verlierenden Fähigkeit, die Welt in Korrespondenzen zu erfahren, bilden sich zentrale Möglichkeiten, die Außenwelt in mimetischen Prozessen in Bilder zu verwandeln und in die innere Bilderwelt aufzunehmen. Walter Benjamin hat in seiner Autobiographie »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« gezeigt, wie ein Kind seine kulturelle Umwelt in Prozessen der Anähnlichung inkorporiert. In mimetischen Prozessen erfolgt eine Anähnlichung an die Räume, Winkel, Gegenstände und Atmosphären des Elternhauses und eine Einfügung der von diesen Dingen als »Abdrücke« genommenen Bilder in die innere Bilder- und Vorstellungswelt des 35 | Vgl. D. Lestel, Les origines animales de la culture, Paris 2001. 36 | Vgl. W. Singer, Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt/Main 2001. 37 | Vgl. J.-P. Changeux, L’Homme de vérité, Paris 2002.

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Kindes, wo sie zu neuen Bildern und Erinnerungen werden, die dem Kind helfen, sich andere kulturelle Welten zu erschließen. In diesen Prozessen der Inkorporation kultureller Erzeugnisse und des Erschlossenwerdens durch sie wird Kultur weitergegeben. Die mimetische Fähigkeit, die materielle Außenwelt in Bilder zu überführen und sie dadurch in die innere Bilderwelt der Menschen transferierbar und den Menschen verfügbar zu machen, ermöglicht die aktive Gestaltung kultureller Gegebenheiten durch die einzelnen Menschen. Dass sich diese Prozesse nicht nur auf den Umgang mit den materiellen Produkten der Kultur beziehen, sondern sich auch auf die sozialen Verhältnisse und Handlungsformen, auf die Inszenierungen und Aufführungen des Sozialen richten, versteht sich von selbst. In besonderer Weise sind es Formen praktischen Wissens, die in körperbezogenen, sinnlichen Prozessen mimetisch gelernt werden und die es möglich machen, in Institutionen und Organisationen kompetent zu handeln. Ein wichtiger Bereich dieses praktischen sozialen Wissens stellt das rituelle Wissen dar, mit dessen Hilfe sich Institutionen in den Körpern der Menschen verankern und es möglich ist, sich in sozialen Zusammenhängen zu orientieren.38 In mimetischen Prozessen werden hier Bilder, Schemata, Bewegungen gelernt, die den Einzelnen handlungsfähig machen. Insofern sich mimetische Prozesse auf historisch-kulturelle Produkte und historisch-kulturelle Szenen, Arrangements und Aufführungen richten, gehören sie zu den wichtigen Prozessen, in denen Kultur an die nachwachsenden Generationen weitervermittelt wird. Ohne mimetische Fähigkeiten gäbe es nicht die Möglichkeit kulturellen Lernens und nicht die Möglichkeit einer »doppelten Vererbung«, d.h. einer Vererbung von Kulturgütern, die bei den Menschen neben die biologische Vererbung tritt und die so etwas wie eine verändernde Weiterentwicklung von Kultur ermöglicht.39 Walter Benjamin hat gezeigt, wie die Schrift als Ensemble unsinnlicher Ähnlichkeiten mimetische Prozesse hervorruft, mit deren Hilfe das Gelesene zum Leben erweckt wird. Das Gleiche gilt auch für andere kulturelle Güter, die erst durch eine mimetische Bezugnahme von Menschen lebendig werden. Ohne diese stellen sie lediglich ein kulturelles Potential dar, das seine Bedeutung erst in Bildungs- und Selbstbildungsprozessen entfaltet. Besonders wichtig werden solche Prozesse bei der Transferierung der Kultur von einer Generation an die nächste, in deren Verlauf Metamorphosen erforderlich sind, um die Lebendigkeit der Lebens-, Wissens-, Kunst- und 38 | Siehe unten, Teil III, Ritual; vgl. Wulf u.a., Das Soziale als Ritual; Wulf u.a., Bildung im Ritual. 39 | Vgl. H. Böhme/P. Matussek/L. Müller (Hg.), Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek 2000.

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60 | I Mimesis Technikformen zu erhalten. Insofern mimetische Prozesse nicht einfach Kopien symbolisch bereits interpretierter Welten erzeugen, sondern darin bestehen, dass Menschen gleichsam einen Abdruck dieser Welten nehmen, den sie inkorporieren, haben diese mimetischen Bezugnahmen stets die ursprünglichen Bezugswelten verändernde kreative Aspekte. So entsteht eine kulturelle Dynamik zwischen den Generationen und Kulturen, die immer wieder Neues hervorbringt. Kulturelles Lernen ist also weitgehend mimetisches Lernen, das im Zentrum vieler Prozesse der Bildung und Selbstbildung steht, das sich auf andere Menschen, soziale Gemeinschaften, Kulturgüter richtet und das deren Lebendigkeit garantiert. Mimetisches Lernen ist ein sinnliches, körperbasiertes Lernen, in dem Bilder, Schemata, Bewegungen praktischen Handelns erlernt werden, das sich weitgehend unbewusst vollzieht und gerade dadurch nachhaltige Wirkungen erzeugt, die in allen Bereichen der Kulturentwicklung eine Rolle spielen.40 Der mimetische Bezug zur Welt ist nicht eindeutig; er ist mehrdimensional und auch mit Hilfe ethnographischer Methoden erforschbar. Mit mimetischen Erfahrungen verbinden sich auch solche der Auflösung von Subjektivität in Prozessen der Ansteckung, die Chaos und Gewalt freisetzen.41 Diese Prozesse beinhalten auch die Auseinandersetzung mit Macht und Herrschaft, Gewalt und Unterdrückung, die Teil jeder Kultur sind und in die mimetische Prozesse immer wieder eingelassen sind. Der circulus vitiosus der Gewalt ist ein Beispiel für die mimetische Struktur vieler Gewalterscheinungen.42 Doch sind mimetische Prozesse auch mit Hoffnungen auf Formen und Erfahrungen gesteigerten Lebens verbunden, in denen »lebendige Erfahrungen« (Adorno) gesucht und gefunden werden. Anähnlichung an die Welt wird zur Möglichkeit, Egozentrismus, Logozentrismus und Ethnozentrismus hinter sich zu lassen und sich für die Erfahrung des Anderen zu öffnen,43 in der ein konstitutives Element von Kultur liegt.

Perspektiven Abschließend sollen thesenartig einige Überlegungen zur Bedeutung von Mimesis für die Bildung und Sozialisation von Subjekten entwickelt wer40 | Vgl. G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimesis; dies., Spiel, Ritual, Geste; dies., Mimetische Weltzugänge. 41 | Vgl. E. Canetti, Masse und Macht, 2 Bde., München 1976. 42 | Vgl. R. Girard, Das Heilige. 43 | Vgl. Ch. Wulf, Vom Menschen; ders./D. Kamper (Hg.), Logik und Leidenschaft. Erträge Historischer Anthropologie, Berlin 2002.

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den, die zum Teil bereits Gesagtes aufgreifen, zum Teil neue Perspektiven entwickeln. 1) Im Unterschied zur Imitation und zur Simulation wird mit der Verwendung des Begriffs »Mimesis« an einem Außen festgehalten, dem man sich annähert und ähnlich macht, in das hinein das Subjekt sich aber nicht »auflösen« kann, zu dem also eine Differenz bestehen bleibt. Dieses Außen, auf das sich Subjekte hinbewegen, kann ein anderer Mensch, ein Teil der Umwelt oder eine konstruierte imaginäre Welt sein. In jedem Fall findet eine Annäherung an eine Außenwelt statt. Indem dieses Außen mit den Sinnen und der Einbildungskraft im mimetischen Prozess in innere Bilder, Klangkörper, Tast-, Geruchs- und Geschmackswelten überführt wird, lässt es lebendige, an die unhintergehbare Körperlichkeit des Subjekts gebundene Erfahrungen entstehen. 2) Mimetische Prozesse sind mit der Körperlichkeit gegeben und beginnen daher sehr früh. Sie vollziehen sich vor der Ich-Du-Spaltung und der Subjekt-Objekt-Trennung und tragen wesentlich zur Psycho-, Sozio- und Persongenese bei. Sie sind eng mit frühen Komplexen (im Sinne Lacans) und Imagines verbunden und reichen hinein ins Vorbewusste. Aufgrund ihrer Verklammerung mit den frühesten Prozessen der Körperkonstitution durch Geburt, Entwöhnung und Begehren sind ihre Wirkungen sehr nachhaltig. 3) Noch bevor sich Denken und Sprache herausbilden, erfahren wir die Welt, uns und den Anderen mimetisch. Mimetische Prozesse sind an die verschiedenen Sinne gebunden. Besonders bei der Erlernung motorischer Fähigkeiten spielt die mimetische Begabung eine wichtige Rolle. Doch auch der Erwerb der Sprache ist ohne diese Begabung nicht denkbar. In der frühen Kindheit ist Mimesis die Lebensform des Kindes. 4) Über mimetische Prozesse wird das geschlechtliche Begehren geweckt und entwickelt. Eine Geschlechtsidentität wird herausgebildet und eine Geschlechtsdifferenz erfahren. Begehren verhält sich mimetisch zu anderem Begehren; es wird angesteckt und steckt selbst an; es entfaltet eine mit den Intentionen des Subjekts häufig in Widerspruch geratende Dynamik. Einmal entfaltete Vorstellungen werden modifiziert, neue werden probiert. Bezüge zu immer wieder anderen Entwürfen und Experimenten werden entwickelt. Viele dieser Prozesse vollziehen sich unbewusst. 5) Mimetische Prozesse unterstützen die Polyzentrizität des Subjekts. Sie reichen in Schichten der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit und des Begehrens, in denen andere Kräfte als im Bewusstsein bestimmend sind. Zu diesen gehören Aggression, Gewalt und Destruktion, die auch über mimetische Prozesse geweckt und entwickelt werden. In Gruppen- und Massensituationen können sie besonders wirksam werden, da in diesen das Steuerungs- und Verantwortungszentrum des Subjekts durch eine Gruppen-

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62 | I Mimesis bzw. Masseninstanz ersetzt wird, die durch eine rauschhafte Ansteckung destruktive Handlungen möglich macht, zu denen das einzelne Subjekt nie in der Lage wäre.44 6) In Familie, Schule und Betrieb werden die in diesen Institutionen verkörperten Werte, Einstellungen und Normen über mimetische Prozesse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verinnerlicht. Wie beispielsweise die Diskussion über den »heimlichen Lehrplan«45 gezeigt hat, können die in der Institution tatsächlich wirkenden Werte in starkem Widerspruch zum bewussten Selbstverständnis der Institution stehen. Institutionsanalyse und Ideologiekritik, Institutionenberatung und institutionelle Veränderungen können diese Widersprüche bewusst machen und Abhilfe ermöglichen. 7) Analoges gilt für die erzieherischen und sozialisatorischen Wirkungen von Menschen. Auch sie vollziehen sich weit mehr über mimetische Prozesse als allgemein angenommen wird. Auch hier gibt es eine Diskrepanz zwischen dem Selbstbild des Erziehers und den Wirkungen seines tatsächlichen Handelns. Nicht selten beeinflussen die unbewussten und ungewollten, sich beispielsweise über die Persönlichkeit von Lehrern und Erziehern vermittelnden Wirkungen Kinder und Jugendliche nachhaltig. Insbesondere wird die Art und Weise, in der individuelle Lehrer empfinden, denken und urteilen, mimetisch verarbeitet. Angleichung und Abstoßung spielen dabei eine in jedem einzelnen Fall unterschiedliche und in ihren Auswirkungen nur schwer einschätzbare Rolle. Die Schwierigkeit der Wirkungseinschätzung erzieherischen Verhaltens resultiert auch daher, dass das gleiche Verhalten eines Lehrers oder Erziehers in verschiedenen Lebensphasen eines Menschen unterschiedlich eingeschätzt wird. 8) In den Erinnerungsbildern Benjamins wird deutlich, wie wichtig die mimetische Aneignung von Orten, Räumen und Gegenständen für die Entwicklung des Subjekts ist. Von früher Kindheit an setzt es sich in einen mimetischen Bezug zur umgebenden, als »beseelt« erlebten Welt. In dieser Anähnlichung und Angleichung weitet sich das Kind in diese hinein aus, nimmt es sie in seine innere imaginäre Welt auf und bildet sich dadurch. Da es sich stets um eine historisch und kulturell bestimmte Welt handelt, deren Gegenstände Bedeutungen haben, also symbolisch kodiert sind, findet über diese mimetischen Prozesse auch eine Enkulturation des Kindes bzw. Jugendlichen statt. 9) Gegenstände und Institutionen, imaginäre Gestalten und praktische Handlungen sind in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet, die durch Anähnlichung und Angleichung mitvermittelt werden. Erlebt werden 44 | Vgl. E. Cannetti, Masse und Macht. 45 | Vgl. J. Zinnecker, Der heimliche Lehrplan, Weinheim, Basel 1975.

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sie in mimetischen Prozessen, durchschaut jedoch nicht. Um das mimetisch Erlebte zu begreifen, bedarf es der Analyse und der Reflexion. Nicht selten kommt es erst dann zu angemessenen Einschätzungen und Urteilen. Mimetische Prozesse stellen entscheidende Voraussetzungen für das Entstehen lebendiger Erfahrungen dar; damit sich diese entwickeln, bedarf es auch der Analyse und der Reflexion. 10) Mimetische Prozesse sind ambivalent; ihnen ist ein Impuls zur Angleichung inhärent, der sich durchaus unabhängig vom Wert der vorgängigen Welt vollziehen kann. So finden Anähnlichungen an Erstarrtes und Lebloses statt, die die innere Entwicklung des Subjekts blockieren oder fehllenken. Mimesis kann zu Simulation und Mimikry verkommen. Sie kann aber auch zur Ausweitung des Subjekts in die umgebende Welt führen, zu einem Brückenschlag zur Außenwelt. Charakteristisch für die mimetische Annäherung an die Außenwelt ist ihre Gewaltlosigkeit. Nicht ist es Ziel des mimetischen Prozesses, die Welt zu gestalten oder zu verändern. Eher geht es darum, sich in der Begegnung mit ihr zu entwickeln und zu bilden. 11) In mimetischen Prozessen kann sich ein nicht-instrumenteller Zugang zu einem anderen Menschen vollziehen. Die mimetische Bewegung lässt den Anderen, wie er ist, und versucht nicht, ihn zu verändern. Sie enthält eine Offenheit für das Fremde, indem sie es bestehen lässt, sich ihm nähert, aber nicht verlangt, die Differenz aufzulösen. Der mimetische Impuls zum Anderen akzeptiert dessen Nicht-Identität; er verzichtet auf Eindeutigkeit um der Andersheit des Anderen willen, dessen Eindeutigkeit nur durch Reduktion auf dasselbe, das Bekannte möglich wäre. Der Verzicht auf Eindeutigkeit sichert den Reichtum der Erfahrung und die Andersartigkeit des Fremden. 12) In der mimetischen Bewegung wird von einer symbolisch erzeugten Welt aus eine vorgängige Welt interpretiert, die selbst schon interpretiert ist. Es erfolgt eine Neudeutung einer bereits gedeuteten Welt. Dies gilt selbst für die Wiederholung oder einfache Reproduktion. So schafft eine Geste, die wiederholt vollzogen wird, andere Sinnstrukturen als ihre erste Ausführung. Sie isoliert einen Gegenstand oder ein Ereignis aus dem gewöhnlichen Kontext und stellt eine Perspektive der Rezeption her, die anders ist als diejenige, in der die vorgängige Welt wahrgenommen wird. Isolierung und Perspektivenwechsel sind Merkmale ästhetischer Prozesse, die an die enge Verwandtschaft anknüpfen, die seit Platon zwischen Mimesis und Ästhetik behauptet wird. Mimetische Neuinterpretation ist eine neue Wahrnehmung, ein Sehen-als (Wittgenstein). Im mimetischen Handeln ist die Absicht involviert, eine symbolisch erzeugte Welt so zu zeigen, dass sie als eine bestimmte gesehen wird.

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II Performativität

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2. Mimesis und performatives Handeln

Reduziert man soziales Handeln nicht auf Intentionalität, sondern betont seinen performativen Charakter, dann wird es als Aufführung und Inszenierung sichtbar. Damit kommt der Körper der Handelnden ins Spiel. Von Interesse sind nun seine Bewegungen, sein Rhythmus, seine Gestik. Eine neue Komplexität wird sichtbar. Soziales Handeln wird ermöglicht durch ein praktisches körpergebundenes Wissen, das auf vielfältige Weise performativ wird. Wie werden entsprechende Formen sozialen Handelns inszeniert und aufgeführt? Woher wissen Menschen in unserer Gesellschaft, wie sie z.B. Geschenke aussuchen, übergeben, annehmen und erwidern? Wie erwerben Kinder die performativen Fähigkeiten, die erforderlich sind, sich in der Institution Schule angemessen zu verhalten? Nach unserer Auffassung werden diese Formen des Wissens weitgehend über mimetische Prozesse erworben. Mit deren Hilfe lernen Menschen, sich in sozialen Situationen regelgerecht zu verhalten. Es gelingt ihnen nicht dadurch, dass sie zwischen vielen Verhaltensmöglichkeiten auswählen; selbst wenn sie prinzipiell die Freiheit haben, sich für eine von mehreren Möglichkeiten zu entscheiden, handeln sie meistens, ohne diese Möglichkeiten ernsthaft zu erwägen. Stattdessen orientieren sie sich an Modellen, Vorbildern, Vorstellungen, die ihnen nahe legen, was in einer konkreten Situation angemessen ist; im Allgemeinen handeln sie ohne größere Reflexion. Denn sie haben ein praktisches Wissen davon, was in einer bestimmten sozialen Situation »richtig« ist. Dabei verzichten sie keineswegs auf eine eigene Gestaltung ihrer Welt. Sie handeln selbständig, sind jedoch in ihrem Handeln auf andere Menschen und Welten bezogen. In einer ersten Annäherung wollen wir soziale Handlungen als mimetisch bezeichnen, wenn sie als Bewegungen Bezug auf andere Bewegungen nehmen, wenn sie sich als körperliche Aufführung oder Inszenierungen begreifen lassen und wenn sie eigenständige Handlungen sind, die aus

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68 | II Performativität sich heraus verstanden werden können und die auf andere Handlungen oder Welten Bezug nehmen. Davon zu unterscheiden sind nicht-körperliche Handlungen wie mentale Kalküle und Entscheidungen, aber auch reflexhaftes Verhalten oder einmalige Handlungen und Regelbrüche. Bevor diese Überlegungen weiter entwickelt werden, soll am Beispiel der Auswahl eines Geschenkes und der Inszenierung einer Situation des Schenkens der Zusammenhang zwischen Performativität, praktischem Wissen und mimetischem Wissenserwerb verdeutlicht werden.1 Eine Frau hat Geburtstag; ihr Lebenspartner möchte ihr ein Geschenk machen. Er überlegt, was ihr denn gefiele. Zunächst fällt ihm wenig ein. Ein Gebrauchsgegenstand soll es nicht sein; den würde sie sich selbst kaufen. Den Gedanken an ein Fondue-Set, das sie ihm in einem Katalog gezeigt hatte, verwirft er ebenfalls: Eher als ein Geburtstagsgeschenk ist dies ein Geschenk für sie beide; für seine Lebenspartnerin zu wenig persönlich. Seine Gedanken kreisen um die Frage, was ihr gefiele und womit er ihr Freude machen könne. In einem Buchladen sucht er unter den Kunstbüchern und den gerade erschienenen Romanen; da fällt ihm ein, dass sie ihm im letzten Jahr einen Photoband mit Bildern aus den Anfängen der Photographie geschenkt hatte, also ein Buchgeschenk kaum das Richtige sei; in einem Laden für Antiquitäten ist er auf der Suche nach einem Kerzenhalter oder einer alten Lampe. Was er findet, gefällt ihm, doch noch immer ist er nicht zufrieden; dann sieht er einen Granatring. Er erinnert sich, wie sie ihm einmal von einem solchen Ring ihrer Großmutter erzählt hatte, den sie als kleines Mädchen zu ihrer großen Freude verschiedentlich hatte anstecken dürfen. Nun ist er sicher, das richtige Geschenk gefunden zu haben. Am Morgen ihres Geburtstages: In einer mit Wasser gefüllten und mit Efeublättern begrünten Glasschale hat er leere Walnussschalen mit kleinen Kerzen zum Schwimmen gebracht; daneben befinden sich eine Geburtstagstorte, ein großer Strauß dunkelroter Rosen, eine Flasche Champagner und der zur Überraschung in einem großen Kasten verpackte Ring. Auf dem feierlich gedeckten Tisch steht das Frühstück; seine Frau wartet vor dem Zimmer, bis er alle Kerzen angezündet und die Champagnerflasche geöffnet hat. Er nimmt sie in den Arm; zärtliche Worte werden ausgetauscht; ihre Freude über diese Situation und das mit so viel Liebe ausgesuchte Geschenk ist groß. Beide setzen sich; sie frühstücken – ein wenig länger als sonst; der Tag beginnt. In dieser Szene erfahren wir, wie ein Mann ein Geburtstagsgeschenk sucht und nach einiger Mühe findet, wie er die Geschenkübergabe und die 1 | Vgl. das Kapitel über die Gabe in G. Gebauer/Ch. Wulf, Spiel, Ritual, Geste, S. 160ff.

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kleine morgendliche Geburtstagsfeier inszeniert und aufführt. Die Situation gelingt und schafft viel Freude. Bereits bei der Suche nach dem Geschenk vermeidet der Mann Entscheidungen, die die Bedeutung des Geschenks für seine Frau verringert hätten. So wählt er weder ein nützliches noch ein »allgemeines« Geschenk; auch vermeidet er die Ähnlichkeit seines Geschenks mit einem, das seine Lebenspartnerin ihm vor kurzem gemacht hatte; nach längerer Suche findet er ein Geschenk, das in besonderem Maße für seine Lebenspartnerin geeignet ist und ihr wie keinem anderen Menschen gefallen müsste. Seine sensible Geschenkauswahl findet ihre Fortsetzung in der liebevollen Vorbereitung der morgendlichen Situation mit den zwischen Blättern schwimmenden Kerzen, den Rosen, dem Champagner, der Geburtstagstorte, dem verhüllten Geschenk, dem feierlich gedeckten Frühstückstisch, den zärtlichen Worten und der Umarmung. Woher weiß der mit seiner Frau Geburtstag feiernde Mann, was er zu tun hat, um ihr seine Zuneigung zu zeigen und diese Situation zu einer Bestätigung der emotionalen Qualität ihres gemeinsamen Lebens zu machen? Keiner hat ihm Regeln vorgegeben, denen er beim Schenken und Feiern hätte folgen können. Und doch verfügt der Mann über ein Wissen darüber, worauf es bei der Auswahl des Geschenks und der Inszenierung seiner Überreichung ankommt. Woher weiß die Beschenkte, was das so ausgewählte Geschenk und die so arrangierte morgendliche Feier bedeuten und wie sie darauf zu reagieren hat, damit das morgendliche Frühstück zu einer Feier ihrer Gemeinsamkeit wird? Auch ihr hat nie jemand Verhaltensregeln genannt. Und doch wissen beide, was »gespielt« wird, was sie zu tun und wie sie sich aufeinander zu beziehen haben, damit der Morgen zu einer Feier ihres gemeinsamen Lebens wird. Solche Situationen gelingen nur, weil alle Beteiligten ein praktisches Wissen davon haben, was sie zu tun, wie sie sich aufeinander zu beziehen und wie sie sich aufzuführen haben. Die Performativität ihres Handelns entsteht aus dem praktischen Wissen darüber, wie sie wann welche Situationen aufführen und wie sie mit ihren Inszenierungen den Erwartungen anderer Menschen entsprechen oder auch widersprechen können. Gelernt haben sie dies bei vielen Gelegenheiten des alltäglichen Lebens, in denen sie sinnlich erleben konnten, wie ihre Eltern Geburtstage für sie, ihre Geschwister, für einander ausgerichtet haben. Sicherlich gab es in diesen Situationen keine zwischen Efeublättern schwimmenden Kerzen, auch keine Überlegungen, die zum Kauf eines Granatrings geführt hätten. Doch es gab andere Inszenierungen mit der Suche nach Freude machenden Geschenken, der liebevollen Fürsorge für den Gefeierten, dem Glück eines gemeinsamen Lebens. Es waren andere Aufführungen von Geburtstagen, bei denen z.B. die Geschwister ihre Zuneigung in neckend aggressiven Bemerkungen zum Ausdruck brachten, bei denen Geburtstagslieder gesungen

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70 | II Performativität und Geschenke auf ausgesprochene Wünsche bezogen wurden. Trotz solcher Unterschiede ähneln sich Geburtstagsfeiern in einer Reihe gemeinsamer Merkmale. In mimetischen Prozessen entstehen bei den Beteiligten innere Bilder, Gefühle, performative Sequenzen, die als Material dienen, Ausdruck und Darstellung, d.h. die Performativität des Schenkens bzw. Geschenk-Empfangens, des Feierns bzw. des Gefeiert-Werdens in ähnlichen Situationen zu gestalten. Zu einem besseren Verständnis dieser Zusammenhänge bedarf es zunächst noch einmal eines Rückgriffs auf das Konzept der »Mimesis«, seiner historischen Entstehung und der Entfaltung seiner verschiedenen Bedeutungsdimensionen. Dabei gilt es die Ambivalenz mimetischer Prozesse zwischen bloßer Anpassung in Form von Mimikry und kreativer Anähnlichung an andere Welten herauszuarbeiten und zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit als Folge von Mimikry einerseits, von Mimesis andererseits zu differenzieren. Weil diese Prozesse körperlich und sinnlich sind, gilt es zunächst ein Verständnis des menschlichen Körpers zu entwickeln, das es erlaubt, die Performativität des menschlichen Handelns als Folge mimetischer Prozesse zu begreifen. Da die Performativität sozialer Aufführungen die Folge zielgerichteter Bewegungen des Körpers ist, soll gezeigt werden, wie Körperbewegungen mimetisch gelernt werden. Der Körper wird mit Hilfe von Gesten vergesellschaftet, und eine Vielfalt mimetischer Prozesse führen zu unterschiedlichen Formen sozialen Handelns. Untersucht werden soll im Einzelnen, wie in mimetischen Prozessen performatives Wissen erzeugt wird (1); wie menschliche Körper mimetisches Wissen hervorbringen (2); wie Bewegungen in mimetischen Prozessen Kultur verkörpern (3); wie Gesten als signifikante Bewegungen des Körpers mimetisch entstehen (4).

Mimesis und performatives Wissen Mimesis ist nicht nur ein Begriff der Ästhetik, in der er dazu dient, die Nachahmung der Schaffenskraft der Natur zu bezeichnen, sondern er ist ein anthropologischer Begriff, mit dem die beim Menschen stark entwickelte Fähigkeit zur Nachahmung bezeichnet wird. Als mimetisch werden allerdings nicht Prozesse der bloßen Reproduktion oder Imitation, sondern Handlungen gekennzeichnet, in denen unter Bezug auf andere Menschen, Situationen oder Welten etwas noch einmal gemacht wird und in denen dadurch etwas entsteht, das sich vom Bezugspunkt der Handlung unterscheidet. Unter Bezug auf Vorausgehendes erzeugen mimetische Prozesse etwas, das es genau so noch nicht gegeben hat; sie bringen etwas zur Aufführung; sie sind performativ.

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Den performativen Charakter mimetischer Prozesse verdeutlicht auch ein Blick in die Sprach- und Bedeutungsgeschichte des Wortes. In den ersten Zeugnissen dieser Sprachfamilie im 5. vorchristlichen Jahrhundert im neugriechischen Sizilien bezeichnet der Begriff in seinem allgemeinen Sinne die Nachahmung von Menschen und Tieren. Hier wird Mime (mimos) genannt, wer allein oder in einer kleinen Gruppe eine Aufführung vollzieht, die bei den Festmahlen der Reichen zur Unterhaltung der Gäste stattfindet. In diesen Veranstaltungen werden Themen und Szenen aus dem Lebensalltag einfacher Leute dargestellt, die manchmal von Musik und rhythmischen Artikulationen begleitet werden und in denen Aussagen zugespitzt und Personen karikiert werden.2 Bei Platon erhält der Mimesisbegriff eine Reihe weiterer Bedeutungsdimensionen.3 So bezeichnet er das, was erscheint, und charakterisiert Prozesse der Darstellung, des Ausdrucks und der Repräsentation. Verschiedentlich wird Mimesis hier auch als Synonym für Erziehung (paideia) verwendet.4 Denn Erziehung erfolgt vor allem durch den mimetischen Bezug auf Vorbilder. Ihr zugrunde liegt das Begehren des Jüngeren, so wie der Ältere zu werden. Dieses Begehren setzt zahlreiche Aktivitäten physischer, psychischer, mentaler und sozialer Art frei. Die mimetische Handlung wird als performativer Prozess begriffen, in dessen Verlauf der Unterschied zu dem Überlegenen überwunden werden soll. Wie das Vorbild werden, wie dieses sich darstellen, aufführen und ausdrücken ist das Ziel. Aufgrund des mimetischen Begehrens haben Vorbilder eine starke Wirkung auf junge Menschen.5 Wenn sie in irgendeiner Weise ihre Erziehung gefährden, müssen sie nach Platons Auffassung von jungen Menschen fern gehalten werden. Eine Abwehr der »ansteckenden« Wirkungen der Vorbilder ist kaum möglich. Während Platon den fast zwanghaften Charakter mimetischer Prozesse betont, sieht Aristoteles Mimesis nicht auf das bloße Nachahmen begrenzt; für ihn kommt es in mimetischen Prozessen auch zur Veränderung, Verbesserung und Verallgemeinerung individueller Züge. Mimesis ist die Fähigkeit, etwas in einem symbolischen Medium zu machen, ästhetisch zu schaffen 2 | Vgl. G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimesis, S. 44ff. 3 | Vgl. ebd., S. 50ff. 4 | Vgl. Ch. Wulf, »Mimesis in der Erziehung«, in: ders. (Hg.), Einführung in die pädagogische Anthropologie, Weinheim 1994, S. 22-44. 5 | Vgl. zum mimetischen Begehren und zur Entstehung von Gewalt R. Girard, Das Heilige. Zur konkreten Bedeutung mimetischen Lernens in der Erziehung durch die Teilnahme von Kindern an Riten und Kulten in frühgriechischer Zeit vgl. C. Müller, Kindheit und Jugend in der griechischen Frühzeit. Eine Studie zur pädagogischen Bedeutung von Riten und Kulten, Gießen 1990.

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72 | II Performativität und dabei Lust zu vermitteln.6 Sie erzeugt Werke der Dichtung, deren Voraussetzungen in den praktischen Erfahrungen des Alltags liegen, auf die diese Werke wiederum Einfluss nehmen. Mimetische Prozesse oszillieren zwischen der Alltags- und der ästhetischen Welt und fördern den Austausch zwischen beiden. Wie weit führen mimetische Prozesse zur Anpassung und zur Angleichung an Vorgegebenes und wie weit ermöglichen sie Ähnlichkeit und Differenz? Fördern sie Anpassung und Angleichung, so lassen sie sich als Prozesse der Mimikry bezeichnen. Zielen sie auf Anähnlichung und Differenz, bringen sie die mimetischen Möglichkeiten zur Entfaltung, die einen Brückenschlag nach außen und ein Hin und Her zwischen Innen und Außen erlauben. In der Dialektik der Aufklärung haben Horkheimer und Adorno auf die Gefahren der Angleichung an das Versteinerte und Tote und den daraus resultierenden Umschlag von Mimesis in Mimikry verwiesen. Sie sprechen von einer dem Lebendigen tief einwohnenden Tendenz, deren Überwindung das Kennzeichen aller Entwicklung ist: sich an die Umgebung zu verlieren, anstatt sich tätig in ihr durchzusetzen, den Hang, sich gehen zu lassen, zurückzusinken in Natur. Freud nennt sie den Todestrieb, Caillois (1938) den mimetisme.7 Bei der Mimesis an die bedrohliche Natur, bei der Mimikry ans Erstarrte und Tote und bei der triebhaften »Wiederherstellung eines früheren Zustandes«, der Regression auf eine spannungsfreie Situation, findet eine Unterwerfung durch Angleichung bzw. wiederholende Angleichung statt, durch die sich allmählich ein kontrollierender Umgang mit der Natur und dem Trieb herausbildet. Solange es sich um eine Angleichung an die tote Natur handelt, ist eine Unterscheidung zwischen Natur und Mimikry und Mimesis nicht möglich. Wenn jedoch dieser Prozess steuerbar wird, lässt sich eine Differenz zwischen der Mimikry ans Tote und der Mimesis an die Natur und das Lebendige angeben. Wenn Mimesis an die Natur intendierbar und organisierbar wird, findet eine Verdopplung statt. Diese Form der Verdopplung durch eine Intention und deren Realisierung ist eine frühe Weise bewussten und rationalen Umgangs mit der Natur. Im Unterschied zu den Prozessen der Mimikry sind mimetische Prozesse eher auf die Erzeugung von Ähnlichkeit und Differenz ausgerichtet. Menschen erwerben die Fähigkeiten der Orientierung und der Selbstgestaltung durch Anähnlichung an die Umwelt und an andere Menschen. Sie leben in konkreten Zusammenhängen und nehmen teil am Leben anderer. Durch die Beteiligung an deren Lebenspraxis weiten sie ihre Lebenswelt aus und schaffen sich neue Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten. In die6 | Vgl. G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimesis, S. 81ff. 7 | Vgl. ebd., S. 389ff.

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sen Prozessen überlagern sich Rezeptivität und Aktivität; in ihnen verschränken sich die vorgegebene Welt und die Subjektivität der sich auf sie mimetisch Beziehenden. In diesen Prozessen schaffen Subjekte die Welt außerhalb ihrer noch einmal und machen sie in der Verdopplung zu ihrer eigenen. Erst in der Auseinandersetzung mit der äußeren Welt können Menschen ihre Subjektivität gewinnen. Erst in dieser Auseinandersetzung kann sich der unspezialisierte Antriebsüberschuss zu Wünschen und Bedürfnissen formen, deren Interpretation Sprache benötigt. In der Sprache, die die Auseinandersetzung mit der Welt führt, erfolgt die Entwicklung des menschlichen Antriebslebens. Selbstbildung und Auseinandersetzung mit dem Außen entstehen in demselben System. Äußere und innere Welt gleichen sich kontinuierlich an und werden nur in ihrer Wechselbeziehung erfahrbar. Ähnlichkeiten bzw. Korrespondenzen zwischen Innerem und Äußerem entstehen; es bildet sich ein mimetisches Verhältnis. Die Menschen machen sich der Außenwelt ähnlich und ändern sich in diesem Prozess; in dieser Transformation wandeln sich ihre Wahrnehmung des Äußeren und ihre Selbstwahrnehmung. Mimetische Prozesse führen dazu, Ähnlichkeiten zu empfinden und Korrespondenzen zur sozialen Umwelt herzustellen. Im Erleben dieser Korrespondenzen erfahren Menschen Sinn. Ähnlichkeiten zu erzeugen gehört auch ontogenetisch zu den frühen menschlichen Fähigkeiten. Ähnlichkeiten lassen sich auf verschiedenen Wegen entdecken. Offensichtlich sind sie bei Phänomenen, die in sinnlicher Hinsicht miteinander korrespondieren. Dort können sie zwischen zwei Gesichtern auftreten oder in Verrichtungen erscheinen, mit denen ein Mensch die Handlungen eines anderen nachahmt. Auch zwischen Lebendem und Unbelebtem lassen sich Formen der Ähnlichkeit entdecken. Schon immer dient der menschliche Körper dazu, Ähnlichkeiten herzustellen und auszudrücken. Tanz und Sprache sind dafür augenfällige Beispiele. Weder im Tanz noch in der Sprache sind Darstellung und Ausdruck, Aufführung und Verhalten verschieden. Sie bilden zwei Aspekte, die in der Mimesis nicht auseinanderfallen, sondern in einem Akt verschränkt sind. Mimetisch sind Prozesse, die sich auf andere Handlungen oder Welten beziehen, die sich als körperliche Aufführung oder Inszenierungen begreifen lassen, die eigenständige Handlungen sind, die aus sich heraus verstanden und auf andere Handlungen oder Welten bezogen werden können. Diese mimetischen Prozesse können diachron oder synchron sein. Als Formen der Erinnerung können sie sich auf Vergangenes, als Formen unmittelbarer Verarbeitung auf Gegenwärtiges richten. Sie enthalten eine Komponente, die durch die »Welt« konstituiert wird, auf die sie sich richten, und eine individuelle Komponente, die durch die Besonderheit des Einzelnen, seine historische und kulturelle Situation, seine individuelle Konstitu-

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74 | II Performativität tion und Lebensgeschichte bestimmt wird. Mimetische Prozesse sind insofern nicht bloß reproduktiv, sondern kreativ, als der Einzelne Aspekte der Welt, auf die er sich richtet, mit Aspekten seiner schon bestehenden Welt in Beziehung setzt. Dies geschieht wie beim »Spinnen eines Fadens«, indem »Faser an Faser« gedreht wird, sodass »viele Fasern einander übergreifen«.8 Welche Fäden verwendet werden, ist unterschiedlich, sodass ein kompliziertes, für mimetisches Handeln charakteristisches Netz von Ähnlichkeiten entsteht, das Wittgenstein mit Hilfe des Konzepts der »Familienähnlichkeit« beschreibt. Bezieht man diese Überlegungen auf die oben beschriebene Geschenkauswahl und Geburtstagsfeier, so wird deren mimetischer Charakter deutlich. In der Suche nach dem richtigen Geschenk vermeidet der Mann die Entscheidung für ein Buch, weil seine Frau ihm ein Buch zu seinem Geburtstag geschenkt hatte. Dieses Geschenk wäre zu ähnlich, zu »gleich«; es könnte als einfallslos gelten. Stattdessen wählt er andere Fasern für seinen Faden: die roten Rosen, die er ihr schon einmal vor einigen Monaten beim Einzug in die gemeinsame Wohnung geschenkt hatte, die diesmal die Kontinuität seiner Liebe zum Ausdruck bringen sollen; den Champagner, den sie an dem Abend zusammen tranken, an dem sie sich kennen lernten; die Glasschale mit den auf Walnussschalen schwimmenden Kerzen. Davon hatte ihm ein Freund kürzlich begeistert erzählt, sodass er dieses Element zur Gestaltung des Geburtstags seiner Frau zu verwenden beschloss. Für unseren Zusammenhang ist jedoch wichtig: Noch nie hatte sich der Mann an einem Geburtstag so wie an diesem verhalten; stattdessen hatte er eine neue Situation inszeniert und eine neue Aufführung vollzogen; doch die dazu verwendeten Elemente hatte er in anderen, z.T. ähnlichen Zusammenhängen kennen gelernt. In mimetischen Prozessen waren sie Teil seiner inneren Bilderwelt, seines Gedächtnisses, seines Körpers geworden und konnten daher in der neuen Inszenierung in sozial kreativer Weise verwendet werden. Da seine Frau Elemente seiner »Aufführung« aus anderen Situationen kannte und zu einigen sogar eine persönliche Beziehung hatte, konnte sie diese annehmen und war in der Lage, sich mit ihrem Verhalten und Handeln so an die vorgegebene Situation anzuschließen, dass die Geburtstagsfeier zu einer gemeinsamen Aufführung und Feier ihrer Beziehung werden konnte.

8 | L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Schriften Bd. 1, Frankfurt/Main 1960, § 67.

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Die mimetische Verfassung menschlicher Körper Nach Plessners Auffassung ist sich der Mensch im Modus des Leib-Seins und im Modus des Körper-Habens gegeben. Ich bin meine Hand, aber ich habe sie auch, um mit ihr etwas zu machen. Im ersten Fall bin ich in meinem Leib, im zweiten trete ich aus ihm heraus und verhalte mich zu ihm. Das Weltverhältnis beginnt mit einem leiblichen In-der-Welt-Sein: »Ich bin, aber ich habe mich nicht.« Lernen muss ich, mich herzustellen. Dazu muss ich den zweiten Modus des Körper-Habens entwickeln. In diesem kann ich mich in eine exzentrische Position zu mir selbst begeben. In ihr nehmen Menschen eine Position »außerhalb« ihres Körpers ein, blicken von außen auf ihn, wirken auf ihn ein und können sich dadurch absichtsvoll zur Welt und zu sich selbst verhalten. »In solcher exzentrischen Position wurzeln Sprechen, Handeln und variables Gestalten als die für den Prozeß der Zivilisation verantwortlichen Verhaltensweisen. […] Von Natur künstlich, leben wir nur insoweit, wie wir ein Leben führen, machen wir uns zu dem und suchen wir uns als das zu haben, was wir sind.«9 Der menschliche Körper wird in einem dieser beiden sich manchmal in einzelnen Handlungen überlagernden Modi erfahrbar. Einmal gibt es ihn als das durch die menschliche Exzentrizität bedingte Handlungszentrum, das den Körper oder einzelne seiner Teile zu einem Gegenstand bzw. Instrument macht; sodann gibt es den Körper im Modus des Leib-Seins, aus dem heraus erst die Möglichkeit des Körper-Habens und des Handelns entsteht. Diese »Existenz als Körper im Körper verwirklicht sich als ein immer erneuter Akt der Inkorporation. Mit ihr schaffen wir den Grund, auf dem wir uns zu dem erheben, woran wir uns zu halten haben: das soziale Gefüge, das uns – nun im übertragenen Sinne – als Jemanden mit Namen und Status inkorporiert. Nur so werden wir zur Person.«10 So einleuchtend dieses Körperkonzept auf den ersten Blick erscheint, bei näherem Hinsehen ergeben sich einige Einwände und Fragen, die beim Doppelcharakter des Körpers ansetzen. Zwar unterscheidet Plessner nicht mehr wie Descartes zwischen Körper und Geist, doch überwindet seine Unterscheidung zwischen Leib-Sein und Körper-Haben nicht vollends diese traditionelle Spaltung. Als körperliches Wesen ist der Mensch ein Stück Natur und darin unauflösbar an das Schicksal seines Körpers gebunden. Doch vermag er sich auch aus dieser Situation zu lösen und eine Position außerhalb des Körpers einzunehmen. Diese zweifache Positionierung nennt Plessner »Futuralsituation«, »Binnenlage meiner selbst in meinem 9 | H. Plessner, Conditio Humana, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von G. Dux/O. Marquard/E. Ströker, Bd. VIII, Frankfurt/Main 1983, S. 192. 10 | Ebd., S. 196.

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76 | II Performativität Körper«. Doch damit entsteht ein neues Problem. Wie kann sichergestellt werden, dass das Leib-Ich mit dem Ich, das den Körper hat, identisch ist? Die Übereinstimmung von beiden Ich-Teilen in einem Ich kann nicht gesichert werden. Es gibt kein inneres Kriterium für die Gleichheit innerer Entitäten; die innerpsychische Identifizierbarkeit von inneren Ereignissen oder Entitäten kann zwar behauptet, nicht aber bewiesen werden. Darauf hatte auch schon Wittgensteins Privatsprachen-Argument verwiesen. Problematisch ist Plessners Annahme, dass in der natürlichen Beschaffenheit des Leibes der Keim der geistigen und kulturellen Leistungen liegt. Zentrum dieser Konstruktion ist das Ich, das als Leib der Natur angehört, aufgrund seiner Reflexionsfähigkeit jedoch exzentrisch positioniert ist. Im »Futteral des Leibes« ist es noch ganz Teil der Natur; aufgrund seiner residualen Instinktausstattung muss es jedoch einen eigenen Handlungsantrieb entwickeln, mit dem es jenseits des Natürlichen gelangt. In dieser Konstruktion bleibt unklar, was ein naturgegebenes Ich ist und wie sich der Übergang von Natur zu Kultur vollzieht. Ein solcher Übergang kann gar nicht begriffen werden, weil nicht bekannt ist, was sich an der Stelle eines sozialen Ichs befunden hat. Ich, Person, Individuum sind soziale Konstrukte, die zwar materielle natürliche Bedingungen voraussetzen, aber von Anfang an zur gesellschaftlichen Welt gehören. Plessner läuft Gefahr, diese Konstrukte gegenüber ihrer Umwelt zu verselbständigen sowie ihre Materialität und ihre Verschränktheit mit der Umwelt zu übersehen. Er vernachlässigt die soziale Geformtheit der Welt und die kontinuierliche soziale Formung, die das handelnde Ich auf seinen Körper ausübt. In seiner nachgelassenen Schrift »Das Sichtbare und das Unsichtbare« vermeidet Merleau-Ponty diese Verkürzungen. Für ihn sind Subjekt und Welt chiastisch miteinander verschränkt. Was das Subjekt ansieht, blickt zurück. Ich und vorgängig geordnete Welt sind unauflösbar miteinander verschlungen: »Das Fleisch (jenes der Welt oder mein eigenes) ist nicht Kontingenz, Chaos, sondern Gewebe.«11 »Der Begriff ›Fleisch‹ [chair] richtet sich gegen die Vorstellung des Individuums hinter seiner Grenze: […] mein Sichtbares ist keineswegs ›Repräsentation‹ meines Ichs, sondern Fleisch. […] Der Körper vereinigt uns aufgrund seiner Ontogenese direkt mit den Dingen.«12 Diese sind nichts anderes als »die Verlängerung meines Körpers und mein Körper ist die Verlängerung der Welt; durch ihn umgibt mich die Welt«.13 »Vereinigt mit der Welt ist der Mensch, insofern er Fleisch ist. Er ist sichtbar, und er ist umgeben von Sichtbarem. […] Das heißt: Er sieht sich, und 11 | M. Merleau-Ponty, Le Visible et l’Invisible, Paris 1964, S. 192. 12 | Ebd., S. 179. 13 | Ebd., S. 308.

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ist ein Sichtbares – aber nicht sehend […] So steht der Körper aufrecht vor der Welt und die Welt aufrecht vor ihm, und zwischen ihnen besteht ein Verhältnis des Sich-Umschlingens. Und zwischen diesen beiden vertikalen Wesen gibt es keine Grenze, sondern eine Fläche des Kontakts.«14 Aus dieser Sicht muss man die Annahme eines Hiatus zwischen Denken und Ich und Körper relativieren. Man kann sich zwar im Denken vom Körper lösen und sich über ihn erheben; aber der Körper lässt sich nicht von einem in ihm befindlichen Ich unmittelbar beobachten. Er kann nicht vom Menschen beherrscht werden; man kann nicht von ihm absehen und ihn zu einem Mittel machen. Die soziale Welt bezieht sich nicht auf mich als Ich-Zentrum, sondern sie durchdringt den ganzen Körper, sodass in dieser wechselseitigen Durchdringung von Subjekt und Welt das Ich als eine mit dem Körperlichen unmittelbar verbundene Instanz gebildet wird, als eine sozial und kulturell erzeugte Konstruktion, die nur analytisch vom Körper getrennt werden kann. Im Verlauf der oben beschriebenen Prozesse setzt sich die Welt im Körper fest, wird sie Bestandteil der inneren Welt und des Körpers eines Subjekts. Sie tritt nicht mit dem Ich-Zentrum in Verbindung, sondern sie wirkt durch den ganzen Körper hindurch, sodass in dieser Durchdringung von Subjekt und Welt das Ich als eine mit dem Körperlichen unmittelbar geformte Instanz gebildet wird. So wird das Ich zu einer sozial gemachten Konstruktion, die nur analytisch vom Körper, der selbst auch ein Konstrukt ist, getrennt werden kann. Die »doppelte Inklusion« des Begriffen-Seins der Welt im Handelnden und des Begriffen-Werdens der Welt durch den Handelnden hat ihren Grund in seinem Körper. Aufgrund seiner außerordentlichen Plastizität nimmt dieser alles von außen Kommende in sich auf, umschlingt, inkorporiert, verarbeitet und verwendet es im Prozess des sozialen Handelns. Diese Prozesse sind mimetisch. In ihrem Verlauf ähnelt sich der Körper des Handelnden der Welt an und macht sie zu einem Teil seines Körpers. Dabei kommt es zu einer »Erweiterung« seines Körpers durch die Einverleibung von Welt. Diese Prozesse sind sinnlich und vollziehen sich in hohem Maße unbewusst. Sie erzeugen Material im Inneren des Körpers des Handelnden, das in der Performativität seiner Handlungen sichtbar und erforschbar wird.

14 | Ebd., S. 324.

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78 | II Performativität

Bewegung als Verkörperung von Kultur In anthropologischer Hinsicht ist der menschliche Körper durch eine minimale Instinktausstattung und eine daraus resultierende Offenheit und Plastizität gekennzeichnet, die es erforderlich machen, dass sich Menschen mit Hilfe von Bewegungen, Aktivitäten und Handlungen gestalten und selbst hervorbringen.15 Mit Hilfe dieser Tätigkeiten können sie die in ihnen angelegten Möglichkeiten entwickeln, zu denen motorische und sinnliche Fähigkeiten sowie Empfindungen und Gefühle gehören. Sie erwerben Verhaltensformen, gestalten sie in Eigentätigkeit. Wie sie dies tun, ist sehr unterschiedlich. Doch kennzeichnet diese Tätigkeiten: Sie sind körperlich, vollziehen sich zwischen dem Einzelnen und der Umwelt und sind performativ. Bei diesen Aktivitäten sind die wichtigsten Merkmale von Mimesis vorhanden. Damit sich mimetische Prozesse entfalten können, bedarf es eines Zwischenraums zwischen Welt und Subjekt, in dem zwischen beiden hin- und herlaufende Verbindungen entstehen, die beide Seiten einbeziehen und verändern. Mit Hilfe ihrer Bewegungen nehmen Handelnde gleichsam Abdrücke von der Welt, die sie dadurch formen und zugleich zu einem Teil ihrer selbst machen. Auch das Subjekt wird dabei von der Umwelt erfasst und geformt. Bewegung erzeugt die Welt im wechselseitigen Austausch; sie nutzt dabei die Plastizität des Körpers und die Formbarkeit der Umwelt. Sie ist ein Medium, in dem beide Seiten miteinander verschränkt sind. In einem gemeinsamen Spiel produziert sie die wechselseitigen Verbindungen und Veränderungen von Welt und Subjekt. In der Bewegung nehmen Menschen an den Welten anderer Menschen teil und werden Teil ihrer Gemeinschaft. Menschen bewegen ihre Körper ununterbrochen: Sie richten sich auf, setzen sich hin, ziehen sich an, gehen die Straße entlang, fahren Fahrrad oder Auto; sie sprechen, schreiben, umarmen sich; sie kochen, essen, trinken, räumen ab, machen den Abwasch; sie lächeln, lachen, weinen. Der menschliche Körper ist fast immer in Bewegungen. Werden ihm diese versagt, verkümmert er und geht langsam zugrunde. Auf Umwelt oder auf andere Menschen bezogene Handlungen erfordern den Einsatz des Körpers. Ihre Aufführung und Performativität ist eine Folge von Bewegungen. Viele von ihnen werden im Kindesalter gelernt; manche sind später kaum mehr erwerbbar. Indem Kinder wie ihre Mütter und Väter werden wollen, ihnen nacheifern und sie nachahmen, erlernen sie deren Bewegungen, deren Intentionen und die materielle Seite ihrer Handlungen. Wenn sie die Körperbewegungen ihrer Eltern mimetisch erlernen, erschließen sie sich, was ihre 15 | Vgl. G. Gebauer, »Bewegung«, in: Ch. Wulf (Hg.), Vom Menschen, S. 501-516.

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Mütter und Väter wann, wie und in welchem Kontext tun. Mit der Anähnlichung an die elterlichen Bewegungen werden die kindlichen Bewegungen in motorischer Hinsicht erworben. Zugleich wird gelernt, wie man sich ihrer zu welchem Zweck bedient. Indem das Kind solche Bewegungen allmählich nachahmt, lernt es, wie sie seinen Körper verwandeln und seine Position im sozialen Raum verändern, wie sie auf andere Menschen einwirken und wie sie die Welt der Gegenstände gestalten. Durch den mimetischen Erwerb der Körperbewegungen der Erwachsenen wird deren Mehrdimensionalität und Bedeutungsvielfalt in den Körper des Kindes eingeschrieben. Indem z.B. ein Kind lernt, den Esslöffel richtig zu gebrauchen, entwickelt es auch seine Fähigkeit, mit Hilfe mimetischer Prozesse zu lernen: Es erwirbt eine komplexe motorische Fähigkeit und lernt, in bestimmten sozialen Situationen den Löffel als Instrument der Nahrungsaufnahme einzusetzen. Während dieses Lernprozesses erhält das Kind viele affektive, sprachliche und motorische Zuwendungen vonseiten seiner Eltern, die den Erwerb dieser Handlungsmöglichkeit zu einem Prozess intensiver Kommunikation machen, in dem viel mehr als sprachlich fassbar ist zwischen Eltern und Kind ausgetauscht wird. Dazu gehören wechselseitiges Anlächeln, unterstützende und empfangende Körperbewegungen, zärtliche Ansprache und ermunternde Bestätigung. Der mimetische Erwerb dieser Bewegung hat eine individuelle Seite (kein Kind lernt diese Bewegung wie ein anderes) und zugleich eine soziale Seite (Kinder unserer Kultur lernen diese Bewegung in einem bestimmten Alter). Da in der Verkörperung dieser Bewegung die individuelle und die soziale Seite unauflösbar miteinander verschränkt sind, entsteht eine Handlung, in deren Folge sich das Kind eine soziale Technik erschließt und zugleich durch diese Technik sozial erschlossen wird. Die Fähigkeit, diese Handlung aufzuführen, ist mimetisch erworben. Das Kind reproduziert die Handlung nicht genauso, wie sie sein Vorbild aufgeführt hat. Da es sich der Handlung seines Vorbilds lediglich angeähnelt hat, unterscheidet sich die Performativität seiner Handlung von der Performativität der Handlung seines Vorbilds. Auch die verschiedenen Wiederholungen der gleichen Handlung differieren voneinander. Das Kind wird der Verdoppelung des Modells durch sich selbst gewahr und sieht die Übereinstimmung zwischen seinem und dem Handeln des Vorbilds. Dieses Gewahrwerden erfolgt erst bei einer fortgeschrittenen Stufe psychischer Entwicklung. Wenn das Kind spontan ein Modell nachahmt, hat es noch kein abstraktes Bild des Modells. Es erzeugt seine Gesten noch nicht aus inneren Bildern, sondern schafft mit Hilfe einer »mimetischen Intuition« erst allmählich eine Übereinstimmung mit dem Modell. Solche Anähnlichungen geschehen wesentlich im Medium der Bewegung und können daher von den beteiligten Personen wahrgenommen werden.

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80 | II Performativität Von früher Kindheit an wird der menschliche Körper umgebildet; er lernt es, bestimmte Anforderungen zu erfüllen und wird durch die Erfüllung dieser Anforderungen zivilisiert und diszipliniert. Beim Zähneputzen wird z.B. eine motorische Fähigkeit erworben; zugleich wird gelernt, wie wichtig Mundpflege ist und wie sehr es dabei auf Gründlichkeit und Regelmäßigkeit ankommt. Mit dem motorischen Prozess werden Tastsinn und Propriozeption entwickelt. Jede neue Bewegung führt zum Erwerb neuer Techniken; mit dem Erlernen jeder Technik erfolgt eine weitere Kultivierung und Vergesellschaftung des Körpers. In diesem Prozess werden Einstellungen, Normen und Werte gelernt, ohne dass dies ausdrücklich zum Thema wird. »Dem Körper wird mit Hilfe der von ihm verlangten Bewegungen von außen eine Form gegeben, die sich dieser im Noch-einmalMachen, in der Formgebung durch Übungen aneignet. Er wird fähig, die Dinganforderungen und -reaktionen antizipativ vorwegzunehmen. Aus dem natürlichen Organismus wird ein Können-Körper. Wenn dieser hergestellt ist, verhalten sich bei reibungslosem Objektgebrauch Körper und Dinge wechselseitig zueinander.«16 Marcel Mauss hat diese Prozesse als Technisierung des Körpers beschrieben, in deren Verlauf der Körper zu einem technischen Instrument gemacht, an Gebrauchsweisen angepasst und in unterschiedliche Praxen eingefügt wird. Mit der Beherrschung sozialer Aufgaben wird der Körper durch sie beherrscht. »Im Prozeß der Technisierung des Körpers und der Zivilisierung der Geräte werden Bewegungen in soziale Zusammenhänge eingebunden, sie werden zu zweckvollen, oft zielgerichteten, aber nicht reflektierten, habitualisierten Tätigkeiten gemacht, die stetig verfeinert und in den verschiedensten Sektoren des gesellschaftlichen Lebens spezialisiert werden, als Manieren, als Haltung, als ein Benehmen, das zu einem bestimmten Lebensstil gehört.«17 Zu den wichtigsten Formen der Zivilisierung und Habitualisierung des Körpers gehört die Herausbildung von Gesten.

Gesten als signifikante Bewegungen des Körpers Als signifikante Bewegungen des Körpers spielen Gesten bei der Kulturalisierung des Körpers und in der Aufführung sozialen Handelns eine zentrale Rolle.18 Als körperlich-symbolische Darstellungen von Emotionen und Intentionen sind sie an der Vergesellschaftung des Einzelnen und an der Entstehung und Ausgestaltung von Gemeinschaft und Gesellschaft betei16 | G. Gebauer/Ch. Wulf, Spiel, Ritual, Geste, S. 37. 17 | Ebd., S. 38f. 18 | Vgl. in Kap. 1 den Abschnitt »Gestik, Körper und Institution«.

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ligt. In sozialen Situationen sind sie Mittel der Sinngebung, die soziale Subjekte dabei unterstützen, Kontakt miteinander aufzunehmen und sich verständlich zu machen. In Gesten drücken sich Empfindungen und soziale Beziehungen aus, die häufig weder denen bewusst sind, die sie vollziehen, noch ins Bewusstsein derer gelangen, die sie wahrnehmen und auf sie reagieren. Gesten begleiten die gesprochene Sprache, haben aber auch ein »Eigenleben« ohne unmittelbaren Bezug zum Sprechen. Verschiedentlich transportieren sie Botschaften, die das Gesprochene ergänzen, indem sie einzelne Aspekte verstärken, relativieren oder durch Widerspruch in Frage stellen. Häufig sind die so zum Ausdruck gebrachten Gehalte dichter mit den Gefühlen der Sprechenden verbunden als ihre verbalen Aussagen. Gesten gelten daher als »zuverlässigerer« Ausdruck des inneren Lebens eines Menschen als die stärker vom Bewusstsein gesteuerten Worte. Den performativen Charakter von Gesten verdeutlicht ein Blick auf die Etymologie. Der Begriff »Geste« geht auf das lateinische Wort gestus zurück, das im allgemeinen Sinn eine Bewegung oder Haltung des Körpers und im besonderen Sinn eine Bewegung eines Körperteils und vor allem der Hand bezeichnet. »Gestus« ist das Partizip Perfekt von gerrere, das »machen«, »sich verhalten« bedeutet. Zwischen der mit dem Wort »Geste« bezeichneten Vorstellung der Tat und der Handlung sind die Übergänge fließend.19 In etymologischer Hinsicht bezieht sich das Wort auf den in der Welt bewegten Körper, auf Tätigkeiten der Hand, auf menschliche Handlungen, auf Empfindungen ausdrückende und darstellende Bewegungen einzelner Körperteile, auf die Performativität des Körpers und sozialer Handlungen. Über die Vertrautheit mit Gesten stellt sich Vertrautheit mit Menschen und Gruppen ein. Man weiß, was bestimmte Gesten bedeuten, wie sie einzuschätzen und zu beantworten sind. Gesten machen menschliches Verhalten kalkulierbar. Sie sind Teile der Sprache des Körpers, die den Angehörigen einer Gemeinschaft viel über einander mitteilen. Sie gehen in das soziale Wissen ein, das der Einzelne im Laufe seines Lebens erwirbt und das für eine angemessene Steuerung seines Handelns wichtig ist.20 Wie eine empirische Untersuchung über die Performativität von Gesten bei assimilierten Ostjuden und Süditalienern in New York gezeigt hat, verringert sich der an ihre Herkunftspopulation erinnernde Gestengebrauch mit dem Ausmaß ihrer Assimilation an die Lebensformen der angelsächsischen Amerikaner.21 Das Begehren, sich den Amerikanern angelsächsischen Ursprungs anzugleichen, ist so stark, dass es nicht nur zur Verände19 | Vgl. dazu und zur Logik der Gesten im Mittelalter die Untersuchung von J.-C. Schmitt, La raison des gestes dans l’occident médiéval, Paris 1990. 20 | Vgl. G. Gebauer/Ch. Wulf, Spiel, Ritual, Geste, S. 80ff. 21 | Vgl. D. Efron, Gesture, Race, and Culture, The Hague 1972.

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82 | II Performativität rung von Sichtweisen und Einstellungen führt, sondern sogar Veränderungen des körperlichen Habitus und der Gestik bewirkt. Der teilweise unbewusste Charakter dieses Prozesses verstärkt die Nachhaltigkeit seiner Wirkung. Der Erwerb von Gesten ist an das mimetische Begehren gebunden, auch im Performativen so zu werden wie die jeweiligen Vorbilder. Wer eine Geste wahrnimmt, versteht sie, indem er sie nachahmt und so den symbolisch-sinnlichen Gehalt ihrer körperlichen Ausdrucks- und Darstellungsform begreift. So wichtig das Verständnis unterschiedlicher Bedeutungsaspekte von Gesten ist, erst mit Hilfe mimetischer Prozesse kann die körperliche Darstellungs- und Ausdrucksseite der Geste aufgenommen werden. Über die Mimesis einer Geste wird der spezifische Charakter des körperlichen Selbstausdrucks eines anderen Menschen erfasst. In der »Anähnlichung« an seine Gesten werden seine Körperlichkeit und seine Gefühlswelt erfahren. Über die Mimesis gestischer Inszenierungen erfolgt ihre Inkorporierung. In diesem Prozess findet eine Überschreitung der körperlichen Grenzen des sich mimetisch Verhaltenden in Richtung auf die körperliche Darstellungs- und Ausdruckswelt eines anderen Menschen statt. Der mimetische Charakter von Gesten ermöglicht es, dass sich das soziale Subjekt in seinen Aufführungen, in seiner Performanz erfährt. In Mimik und Gestik entäußert es sich und erlebt über die Reaktionen anderer Menschen auf seine Entäußerungen, wer er ist bzw. wie er gesehen wird. Die Bilder- und Körpersprache der Gestik ist ein kulturelles Produkt, mit dessen Hilfe das soziale Subjekt geformt wird und an dessen Ausarbeitung es selbst beteiligt ist. Mit dem Erwerb von Gesten findet eine Einfügung in kulturelle Körper- und Bildtraditionen statt, die im Umgang mit Gesten artikuliert und auf jeweils gegebene Bedingungen bezogen werden. In diesem Prozess kommt das vermittelte Verhältnis des Menschen zu seiner Welt zum Ausdruck.

Ausblick Die Erforschung sozialer und erzieherischer Handlungen als Aufführungen des menschlichen Körpers macht es erforderlich, die Entstehung des Performativen zu untersuchen. Wie entsteht die Fähigkeit der Inszenierung und Aufführung sozialer Handlungen, wie ihre Performativität? Nach unserer Auffassung hat das Performative seine Grundlagen in der chiastischen Struktur des menschlichen Körpers. Sie ist zugleich Ergebnis und Ermöglichung seiner mimetischen Fähigkeiten. Mit ihrer Hilfe entsteht die Möglichkeit, soziale Handlungen aufzuführen und je nach Kontext und Zeitpunkt zu variieren. In mimetischen Prozessen werden die menschlichen

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Körper kultiviert; in ihnen werden sie vergesellschaftet und wird Gesellschaft verkörpert. In der Verschränkung dieser beiden Seiten des mimetischen Prozesses werden menschliche Gesten zu zentralen Elementen sozialer Aufführung und körperlicher Performativität. Die mimetischen Grundlagen des Performativen sind unhintergehbar. Als zentrale Kategorie sozialen und erzieherischen Handelns umfasst das Konzept der Mimesis folgende drei Dimensionen: »Zum einen entwirft sie das Individuum als Teil eines größeren sozialen Zusammenhangs, indem es zu seiner Umwelt Bezug nimmt. Zum zweiten hebt es hervor, daß am sozialen Handeln wesentlich der Körper mit seinen Sinnen beteiligt ist. Drittens rückt es das gestalterische und sinnliche Herstellen sozialer Welten in das Zentrum der Betrachtung. In mimetischen Handlungen machen die sozialen Subjekte eine je vorgängige Welt noch einmal, als ihre Welt. Mit diesen Akten stellen sie eigene Welten her und fügen sich in die Gesellschaft ein. Sie nehmen an dieser teil und geben ihr eine körperliche Existenz. Ebenso wie das Subjekt in der Welt enthalten ist, enthält es die Welt. Die im mimetischen Handeln erzeugten Welten haben einen zeigenden Charakter; sie werden in öffentlichen Aufführungen dargestellt. Auf Grund dieser Merkmale haben sie den Charakter eines Spiels.«22

22 | G. Gebauer/Ch. Wulf, Spiel, Ritual, Geste, S. 300.

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3. Der performative Körper: Sprache – Macht – Handlung

Wenn vom Performativen, von Performanz und Performativität die Rede ist, so liegt der Akzent auf der Welt konstituierenden Seite des Körpers. Diese zeigt sich in der Sprache und im sozialen Handeln. Wenn im Weiteren vom performativen Charakter des Körpers die Rede ist, soll der Schwerpunkt auf Sprache als Handlung und auf dem sozialen Handeln als Inszenierung und Aufführung liegen. Wird menschliches Handeln als aufführendes kulturelles Handeln, als cultural performance begriffen, so ergeben sich daraus Veränderungen für das Verständnis sozialer Prozesse. In diesem Fall finden die Körperlichkeit der Handelnden sowie der Ereignis- und inszenatorische Charakter ihrer Handlungen größere Aufmerksamkeit. Dann wird deutlich: Soziales Handeln ist mehr als die Verwirklichung von Intentionen. Dieses »Mehr« besteht u.a. in der Art und Weise, in der Handelnde ihre Ziele verfolgen und zu realisieren versuchen. In diesen Prozess gehen unbewusste Wünsche, frühe Erfahrungen und Empfindungen ein. Trotz der intentional gleichen Ausrichtung einer Handlung zeigen sich in dem Wie ihrer Durchführung, in der Inszenierung ihrer körperlichen Aufführung, erhebliche Unterschiede. Zu den Gründen dafür gehören einerseits allgemeine historische, kulturelle und soziale Rahmenbedingungen, andererseits besondere, mit der Einmaligkeit der Handelnden verbundene Merkmale. Das Zusammenwirken beider Faktorengruppen erzeugt den performativen Charakter sprachlichen und sozialen Handelns und dessen ungewollte Nebenwirkungen. In seinem Ereignis- und Prozesscharakter werden die Grenzen der Planbarkeit und Voraussehbarkeit sozialen Handelns sichtbar. Der Charakter und die Qualität sozialer Beziehungen hängen wesentlich davon ab, wie Menschen beim Handeln ihren Körper einsetzen, welche körperlichen Abstände sie einhalten, welche Körperhaltungen sie zeigen,

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86 | II Performativität welche Gesten sie entwickeln. Über diese Merkmale vermitteln Menschen anderen Menschen vieles über sich selbst. Sie teilen ihnen etwas von ihrem Lebensgefühl mit, von ihrer Art und Weise, die Welt zu sehen, zu spüren und zu erleben. Trotz ihrer zentralen Bedeutung für die Wirkungen sozialen Handelns fehlen diese Aspekte körperlicher Performativität in vielen Handlungstheorien, in denen die Handelnden unter Absehung der sinnlichen und kontextuellen Bedingungen ihres Tuns noch immer auf ihr Bewusstsein reduziert werden.1 Will man diese Reduktion vermeiden, muss man untersuchen, wie Handeln emergiert, wie es mit Sprache und Imagination verbunden ist, wie seine Einmaligkeit durch gesellschaftliche und kulturelle Muster ermöglicht wird und wie sich sein Ereignischarakter zu seinen repetitiven Aspekten verhält. Nachgehen muss man der Frage, wie weit sich Sprechen und Kommunikation als Handeln begreifen lassen und welche Rolle Ansprache und Wiederholung für die Herausbildung geschlechtlicher, sozialer und ethnischer Identität spielen. In einer solchen Perspektive wird Handeln als körperlich-sinnliche Nachahmung, Teilnahme und Gestaltung kultureller Praktiken begriffen. In dieser Perspektive werden künstlerisches und soziales Handeln als performance, Sprechen als performatives Handeln und Performativität als ein abgeleiteter, diese Zusammenhänge übergreifend thematisierender Begriff verstanden. Wenn von performance als körperlicher Aufführung künstlerischer oder sozialer Handlungen die Rede ist, wird damit ein einmaliges, zeitlich begrenztes Ereignis bezeichnet. Eine künstlerische performance findet zu einem festgesetzten Zeitpunkt als eine Aufführung vor bzw. mit Zuschauern statt. Sie ist ein Ereignis, das die Ordnungen des Alltags suspendiert, den Zuschauern einen Schock versetzt und ihnen eine neue Erfahrung 1 | Diese Fragen zum performativen Wissen und zum Performativen des Körpers werden zur Zeit im Rahmen unseres Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« an der Freien Universität Berlin in einem mit ethnographischen Methoden durchgeführten Projekt »Die Entstehung des Sozialen in Ritualen« weiter erforscht. Hier untersuchen wir Rituale und Ritualisierungen in den vier großen Sozialisationsfeldern Familie, Schule, Medien und Kinderkultur. In diesen Untersuchungen wollen wir die zentrale Bedeutung von Ritualen und Ritualisierungen für die Entstehung, Erhaltung und Veränderung des Sozialen zeigen und damit einen Beitrag zur Korrektur eines reduktionistischen Verständnisses von Ritualen liefern, die diese lediglich im Zusammenhang von Herrschaft, Unterdrückung, Ein- und Ausgrenzung sehen. Vgl. Ch. Wulf, Anthropologie der Erziehung. Eine Einführung, Weinheim, Basel 2001; Ch. Wulf u.a., Das Soziale als Ritual; Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas, Grundlagen des Performativen; E. Liebau/D. Schumacher-Chilla/Ch. Wulf (Hg.), Anthropologie pädagogischer Institutionen, Weinheim 2001; E. Fischer-Lichte/Ch. Wulf, Theorien des Performativen.

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vermittelt. Um ein Ereignis zu einer künstlerischen performance zu machen, bedarf es einer entsprechenden Rahmung. Zu dieser gehören u.a. die Zuschauer bzw. die Zuschauerinnen, die für das Geschehen eine konstitutive Rolle haben. Erst in der Bezugnahme der künstlerischen Handlung auf Zuschauer entsteht performance. Wenn sie mit Hilfe eines Videos aufgezeichnet wird, entsteht eine mediale Darstellung des Geschehens, in der das Ereignis in eine Bilderfolge überführt wird. Dadurch wird der flüchtige Charakter des Geschehens aufgehoben, wird es wiederholbar und dabei grundsätzlich transformiert. Eine Video-Performance ist das Ergebnis. Analog lassen sich rituelle Aufführungen wie politische Demonstrationen, Zeremonien und Liturgien oder Hochzeiten, Weihnachtsfeiern und institutionelle Einsetzungen oder Verabschiedungen begreifen. Auch in diesen Fällen wird ein Ereignis körperlich inszeniert und aufgeführt, das den Beteiligten Gefühle der Zusammengehörigkeit und der Gemeinschaft vermittelt und das über die Gegenwart hinaus gehende Wirkungen erzeugt. Im Alltag finden viele Inszenierungen und Aufführungen sozialer Situationen statt, in denen Menschen mit Hilfe eines Arrangements ihres Körpers zum Ausdruck bringen, wie sie gesehen werden und welche Rolle sie in der Gemeinschaft einnehmen wollen. Einige dieser Handlungen sind rituell und markieren besondere institutionelle und gemeinschaftliche Situationen wie Feste, Feiern oder Übergänge von einem sozialen Status zu einem anderen. Diese sozialen Handlungen sind körperlich, szenisch und expressiv. Sie haben ludische Elemente und erfordern ein inkorporiertes praktisches Wissen darüber, wie sie in bestimmten Situationen aufgeführt werden sollen.

Sprache als Handlung Während sich der Begriff der performance vor allem seit den siebziger Jahren zur Kennzeichnung innovativen künstlerischen Handelns durchsetzte, liegt der Ursprung des Begriffs des Performativen in der Sprachphilosophie Austins. Hier verweist der Begriff darauf, dass wir häufig mit Hilfe sprachlicher Äußerungen Handlungen vollziehen. In diesen Fällen ist Sprache nicht repräsentativ, sondern performativ. Als performativ bezeichnet Austin (im Unterschied zu konstativen) solche Äußerungen, die weder beschreibend sind noch als wahr oder falsch beurteilt werden können, sondern die glücken oder missglücken können (»Hiermit taufe ich dieses Schiff auf den Namen Poseidon«). Nachdem schon Austin selbst die Unzulänglichkeit seiner Unterscheidung entdeckt hatte, erfolgte in der Weiterentwicklung der Sprechakttheorie durch Searle eine Differenzierung zwischen verschiedenen Sprechhandlungen. In diesem Rahmen kommt den fünf Typen der illokutionären Akte für unseren Zusammenhang besondere Bedeutung zu.

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88 | II Performativität Jede sprachliche Äußerung ist eine Performanz, aber nur wenige Äußerungen sind performative Äußerungen. Einem Vorschlag von Bohle und König folgend können performative Äußerungen charakterisiert werden als: (1) selbstreferentiell, (2) deklarativ, (3) im Allgemeinen mit gesellschaftlichen Institutionen verknüpft, (4) vorfabriziert, unveränderbar.2 Werden nun diese Unterscheidungen auf künstlerische oder soziale Aufführungen bezogen, so ergeben sich einige Entsprechungen. Soziale Aufführungen sind in hohem Maße selbstreferentiell. Für die Entstehung, Entwicklung und Differenzierung von Kultur, Sozietät und Gemeinschaft spielt ihr deklarativer Charakter eine wichtige Rolle. Sodann haben performative Äußerungen eine enge Verbindung mit wirklichkeits-konstituierenden gesellschaftlichen Institutionen, Ritualen und Stereotypisierungen. Schließlich verwenden sie häufig bereits vorfabrizierte sprachliche Formeln, die ihre Wiedererkennbarkeit und gleichsam magische Kraft sichern. Wie das Beispiel der Schiffstaufe zeigt, sind performative sprachliche Äußerungen in soziale Aufführungen eingebettet, die eher konventionell sind und in einem inszenierten Kontext stattfinden, in dem es Akteure und Zuschauer gibt und in dem die Akteure mit Hilfe deklarativer Äußerungen Wirkungen bei den Zuschauern erzielen. Voraussetzung für das Gelingen der Äußerungen ist der von den Akteuren und den Zuschauern geteilte Glaube an die Wirkungen der Äußerungen der Akteure. Suggeriert wird dieser Glaube durch die institutionelle Einbettung und die dadurch mögliche Wiederholbarkeit der Äußerungen. Die institutionelle Wiederholung performativer Äußerungen fördert ihre Wirkungen. Bei solchen Äußerungen handelt es sich um eine sprachlich-soziale Praxis, in der die Wirkungen der Äußerungen durch den institutionellen und sozialen Status der Akteure bestimmt werden. Da sich performative Äußerungen im Rahmen körperlicher Aufführungen vollziehen, werden auch sie körperlich erzeugt. Für die Art und Weise der körperlichen Aufführung sprachlicher Äußerungen spielen Stimme, Mimik und Gestik der Akteure eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe findet eine Rahmung der Äußerungen und eine Selbstdeutung der Akteure statt. Die auf der körperlichen Seite des Geschehens erfolgende Rahmung nimmt die institutionelle Rahmung des Geschehens auf und gibt ihr eine spezifische, mit der Körperlichkeit der Akteure zusammenhängende Gestaltung. Entsprechendes gilt für die körperliche Selbstdeutung der Akteure,

2 | U. Bohle/E. König, »Zum Begriff des Performativen in der Sprachwissenschaft«, in: E. Fischer-Lichte/Ch. Wulf, Theorien des Performativen, S. 13-34, hier S. 19f.; s.a. S. Krämer/M. Stahlhut, »Das ›Performative‹ in der Sprach- und Kulturphilosophie«, in: E. Fischer-Lichte/Ch. Wulf, Theorien des Performativen, S. 35-64.

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die die sprachlichen Äußerungen begleiten und wie im Fall der Stimme sogar physisch konstituieren.3 Performative Äußerungen sind selbstreferentiell. Häufig konstituieren sie sich durch einen Bruch mit dem vorgängigen Kontext. Wie das Beispiel der Schiffstaufe zeigt, sind sie iterativ. Bereits an anderen Orten und zu anderen Zeitpunkten sind sie in gleichem Rahmen, mit gleicher Intention, in gleicher deklarativer Weise, in gleichen vorfabrizierten Formeln, in gleichem institutionellen Kontext geäußert worden. Bei der Iteration geht es nicht nur um die Wiederholung einer sprachlichen Äußerung, sondern um die Wiederholung der Performanz. Dabei finden – streng genommen – keine Wiederholungen des Gleichen, sondern lediglich Iterationen des Ähnlichen statt. In einem Fall handelt es sich um die Taufe eines großen Passagierschiffs auf einer internationalen Werft in Gegenwart des Ministerpräsidenten, in einem anderen Fall um die Taufe eines Ruderboots in einem Schülerruderverein an einem kleinen See. Zwar gibt es in beiden Fällen den gleichen Anlass, doch unterscheidet sich die Gestaltung der Feier in fast allen Punkten. Für den performativen Charakter sprachlicher Äußerungen und für ihre soziale Aufführung gilt: Es gibt kein Original einer Äußerung oder Handlung; es gibt diese immer nur in der Wiederholung. Derrida geht sogar so weit, zu behaupten, dass alles, was gesagt werden kann, immer nur in der Form der Wiederholung bzw. des Zitats gesagt wird. Doch betont Performativität als Wiederholung des Gleichen »die Wiederholung, den genitivus obiectivus, und nicht das Gleiche, den genitivus subiectivus. Sie verweist insofern über sich hinaus – in die Vergangenheit, aber auch in die Zukunft – und gleichzeitig auf sich zurück – in die Gegenwart.«4 Der die performativen Äußerungen konstituierende Wiederholungs-Charakter sichert die Vielfalt ihrer möglichen Erscheinungen. Er erzeugt die Differenz im Sinne des Aufschubs, der Verzögerung und der Nachträglichkeit, die den Anspruch auf Identität auflöst.

Handeln als körperliche Aufführung Performative Aussagen sind soziale Handlungen. Als solche sind sie eingebettet in Inszenierungen und Aufführungen des Körpers. Über diese Ein3 | Vgl. M. Göhlich, »Performative Äußerungen. John L. Austins Begriff als Instrument erziehungswissenschaftlicher Forschung«, in: Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas, Grundlagen des Performativen, S. 25-46. 4 | J. Zirfas, »Dem Anderen gerecht werden. Das Performative und die Dekonstruktion bei Jacques Derrida«, in: Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas, Grundlagen des Performativen, S. 75-100, hier S. 83.

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90 | II Performativität bettung wird deutlich: Sprache beschreibt nicht nur die Welt, sondern greift unmittelbar in die gesellschaftliche Praxis ein und gestaltet sie mit. Dies zeigt sich in der Herausbildung von Geschlechtsidentität besonders deutlich, die Judith Butler als Ergebnis »ritueller gesellschaftlicher Inszenierung« und performativer Prozesse begreift. Wird Geschlecht als Inszenierung und Aufführung des Körpers begriffen, wird das Verhältnis von innen und außen bezogen auf den Körper anders gesehen. Nicht dadurch, dass die symbolische Ordnung das Innere des Körpers, sondern dadurch, dass sie die Oberfläche des Körpers besetzt, unterwirft sie die Subjekte. Diese Sicht der Performativität des Körpers führt dazu, dass die in der Frauenforschung so lange betonte Differenz zwischen sex und gender aufgegeben wird. Nun ist nicht mehr »der Geschlechtskörper (sex) [...] bedeutsam, sondern die Performance des Geschlechts (gender performance), und Konstruktionen des Körpers bekommen nur Bedeutung, wenn sie in Akten und Situationen auf der Ebene des Körpers als konkrete Performances wiederholt werden«.5 Für die Herstellung von Geschlechtsidentität spielen nach Butlers Auffassung Anrufung und Wiederholung eine wichtige Rolle. In der Anrufung eines Neugeborenen als Junge oder Mädchen erfolgt eine Identifizierung des Geschlechts, die im Verlauf des Lebens des Kindes unzählige Male wiederholt wird. Die performative Kraft des Sprechakts und seiner Wiederholung bilden eine Geschlechtsidentität heraus, die vom Subjekt in zahlreichen Handlungen angenommen und verstärkt wird. Der Prozess der Annahme von Geschlechtsidentität vollzieht sich im Imaginären. Als ein imaginärer Prozess kann er nicht abgeschlossen werden, sondern muss immer wiederholt werden. Dabei überlagern sich Begehren, Identifizierung und Wiederholung; es kommt zu einer mehrfachen Identifizierung und zur Verkörperung der in diesem Prozess enthaltenen Normen. Auch Bourdieu hat verschiedentlich deutlich gemacht, dass der performative Charakter der Sprache mit dem performativen Charakter sozialer Inszenierungen und Aufführungen verschränkt ist. Die Gesellschaft gestaltende Macht der Sprache liegt im Glauben der sozialen Akteure begründet, »auf Grund dessen sie die Legitimität der autorisierten Sprache und die Kompetenz der Sprechenden anerkennen. Damit ist die performative Kraft der Wörter nicht in einer innersprachlichen Logik zu finden, sondern sie liegt in der Macht der Sprechenden.«6 Bourdieu verdeutlicht die performative Magie der Sprache am Beispiel von Einsetzungsriten. Diese schaffen Grenzen, zwischen denen, die in eine gesellschaftliche Funktion eingesetzt 5 | A. Tervooren, »Körper, Inszenierung und Geschlecht. Judith Butlers Konzept der Performativität«, in: Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas, Grundlagen des Performativen, S. 157-180, hier S. 160. 6 | K. Audehm, Die Macht der Sprache, S. 102.

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sind, und denen, die es nicht sind. Mit ihrer Hilfe wird Autorität delegiert; in performativen Äußerungen findet daher nicht in erster Linie die sprachliche, sondern die soziale Kompetenz der Akteure Anerkennung. Sprechen und Handeln erfolgen in einem von gesellschaftlichen Konflikten durchzogenen Raum, in dem um Macht und Einfluss gekämpft wird. Auch die menschlichen Körper sind in diese Auseinandersetzungen zwischen dem ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapital einerseits und den verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Arbeit andererseits eingespannt. Mit Hilfe des in Ritualen körperlich aufgeführten sozialen Handelns werden soziale Hierarchien etabliert und in die Körper der an ihnen beteiligten Menschen eingeschrieben. In diesen Prozessen, die in hierarchisierten sozialen Räumen stattfinden, werden entsprechende Habitusformen ausgebildet. In diesen werden die menschlichen Körper einerseits zu Produkten gesellschaftlicher Machtverhältnisse, andererseits wirken sie ebenso an deren Erhaltung und Gestaltung mit. Über die Herausbildung »feiner Unterschiede« in Geschmack und Lebensstil werden Habitusformen inkorporiert und wird das in ihnen enthaltene praktische Wissen auf Dauer gestellt. Mit Hilfe der performativen Magie der Sprache erhalten Rituale und die in ihnen impliziten Hierarchien und Machtverhältnisse den Anschein von »Natürlichkeit«. Dadurch wird ihr gesellschaftlicher, prinzipiell veränderbarer Charakter verdeckt.

Rituale als performatives Handeln In Ritualen und Ritualisierungen stellen sich Menschen dar. Wer sie sind und wie sie ihr Verhältnis zu anderen Menschen und zur Welt begreifen, bringen sie in rituellen Inszenierungen und Arrangements zum Ausdruck. Viele dieser Prozesse vollziehen sich unbewusst, manche geraten ins Bewusstsein, andere werden absichtsvoll gestaltet. Viele institutionelle rituelle Prozesse lassen sich als szenische Aufführungen performativen Handelns begreifen, in deren Rahmen den Mitgliedern der Institutionen unterschiedliche Aufgaben zufallen. Häufig konkurrieren mehrere Rituale und deren szenisches Arrangement miteinander. Neben ihren offiziellen Aufgaben haben Angehörige von Institutionen auch heimliche Ziele, Darstellungsund Ausdrucksbedürfnisse, die die Form ihrer rituellen Aufführung mitbestimmen. Manche Inszenierungen sind spontan. Sie entstehen, ohne dass erkennbar wäre, warum sie gerade in diesem Augenblick so vollzogen werden. Andere rituelle Aufführungen lassen sich nur aus ihrem Kontext heraus verstehen, zumal wenn sie im Zusammenhang mit einer identifizierbaren Vorgeschichte stehen. Bei rituellen Arrangements spielen Kontingenzen zwischen den Szenen von Ritualen eine wichtige Rolle. So bestehen

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92 | II Performativität szenische Aufführungen zwar aus spezifischen Elementen, ohne dass aber jedes von ihnen in jedem Fall unersetzbar wäre; oft hätten die rituellen Arrangements auch andere Elemente umfassen können. Wegen des ludischen Charakters ritueller Aufführungen stehen einzelne ihrer Elemente in einer kontingenten Beziehung zueinander. Werden rituelle Aufführungen als Folge von Kontingenzen verstanden, wird eine Reduktion dieser performativen Handlungen auf kausale oder finale Erklärungen vermieden. Rituale gehören zu den wichtigsten Formen performativen Handelns. Sie wirken in erster Linie über die Inszenierung und Aufführung der Körper der beteiligten Menschen. Selbst wenn die Deutung des Rituals bei diesen verschieden ist, gehen von der Tatsache, dass das Ritual vollzogen wird, gemeinschaftsbildende Wirkungen aus. Ein Blick auf die Rituale des Weihnachtsfestes verdeutlicht dies. Unabhängig von den Unterschieden in der Wahrnehmung von Weihnachten zwischen kleinen Kindern, die noch das Christkind oder den Weihnachtsmann erwarten, deren Eltern, die sich an dem Glück ihrer Kinder erfreuen, dem halbwüchsigen Sohn, der das weihnachtliche Geschehen als abgestanden und leer erlebt, der Großmutter, die sich an die Feste ihrer Jugend erinnert, hat die Inszenierung und Aufführung des Weihnachtsrituals eine alle Beteiligten verbindende Wirkung. Diese Wirkung besteht vor allem darin, dass im Vollzug des Rituals die Differenzen zwischen den am Ritual beteiligten Personen bearbeitet werden. Trotz unterschiedlicher Befindlichkeit, differenter Deutungen, grundlegender Unterschiede erzeugt die rituelle Handlung eine (Fest-)Gemeinschaft. Dies wird dann besonders deutlich, wenn das Ritual misslingt, die zwischen den Personen bestehenden Spannungen und Aggressionen die Oberhand gewinnen und damit das Weihnachtsfest destruiert wird. Zur Inszenierung und Aufführung von Ritualen gehört eine angemessene Rahmung, die erkennen lässt, in welchem Zusammenhang das Ritual mit vorausgehenden Handlungen steht, und die Hinweise darauf gibt, wie das Ritual zu verstehen ist. Die Rahmung erzeugt den Unterschied zu anderen Alltagshandlungen, schafft den herausgehobenen Charakter des Rituals und sichert den magischen Charakter des rituellen Geschehens. Dieser resultiert aus dem Glauben aller Beteiligten an das Ritual, sei es, dass es wie beim Weihnachtsfest eine Gemeinschaft schafft, sei es, dass es wie bei Einsetzungsriten eine Grenze zieht, an deren Bestehen und Legitimität die Betroffenen glauben, und dies unabhängig davon, ob sie zu den Begünstigten oder zu den Ausgeschlossenen gehören. Doch auch bei gemeinschaftsstiftenden Ritualen wird eine Grenze zwischen den an dem rituellen Arrangement Beteiligten und den davon Ausgeschlossenen gezogen. Diese Grenzziehung kann spontan erfolgen; sie kann Durchlässigkeit erlauben oder auch dauerhaft ausschließen.

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Zur Inszenierung und Durchführung vieler Rituale bedarf es der dazu gehörigen performativen Äußerungen und Requisiten: im Fall der Schiffstaufe des »Ich taufe Dich auf den Namen ...« und einer Flasche Champagner, die es im richtigen Augenblick an der Schiffswand zu zerschlagen gilt, im Fall des Weihnachtfestes bestimmter Sätze und Lieder aus der Liturgie sowie des Weihnachtsbaumes, der Geschenke und des festlichen Essens. In Ritualen erzeugen performative Handlungen Szenen und Szenenfolgen. Zu deren Gestaltung gehört nicht nur die Inszenierung der menschlichen Körper, sondern auch das Arrangement der zu dem Ritual gehörenden Umwelten. Auch sie müssen in einer den Ritualen angemessenen Weise gestaltet sein, damit das erforderliche Ensemble entsteht. In diesem »Gesamtkunstwerk« emergiert die rituelle Ordnung. Rituelle Aufführungen erfordern Bewegungen des Körpers, mit deren Hilfe Nähe und Distanz sowie Annäherung und Entfernung zwischen den Teilnehmern des Rituals in Szene gesetzt werden. In diesen Körperbewegungen kommen soziale Haltungen und soziale Beziehungen zum Ausdruck. So erfordern hierarchische, von Machtunterschieden bestimmte Beziehungen andere Bewegungen des Körpers als freundschaftliche oder gar intime Beziehungen. Durch die Beherrschung sozialer Situationen mit Hilfe von Körperbewegungen wird auch der Körper durch sie beherrscht; er wird zivilisiert und kultiviert. Mit den Bewegungen des Körpers werden soziale Situationen geschaffen. Wegen ihres figurativen Charakters sind solche Situationen besonders gut erinnerbar und bieten sich daher auch für Wiederaufführungen an. In rituellen Inszenierungen wirkt ein ostentatives Element mit; die am Ritual Beteiligten möchten, dass ihre Handlungen gesehen und angemessen gewürdigt werden. In den Bewegungen der Körper soll das Anliegen der Handelnden zur Darstellung und zum Ausdruck kommen. Unter den rituellen Körperbewegungen spielen Gesten eine wichtige Rolle. Sie begleiten als non-verbale Ausdrucksformen die performativen Äußerungen in rituellen Handlungen; Gefühle drücken sich in ihnen aus, werden in ihnen dargestellt und durch sie hervorgerufen. In rituellen Situationen sind sie Mittel der Sinngebung, die dazu beitragen, Kontakt aufzunehmen und Verständigung zu erzeugen. In Gesten drücken sich auch Empfindungen und soziale Beziehungen aus, die weder denen bewusst sind, die sie vollziehen, noch ins Bewusstsein derer gelangen, die sie wahrnehmen und auf sie reagieren. Wo Gesten in Ritualen und Ritualisierungen die gesprochene Sprache begleiten, haben sie oft ein »Eigenleben« und transportieren Botschaften, die das Gesprochene bekräftigen, relativieren oder durch Widerspruch in Frage stellen können. Da Gesten meist als direkter und enger mit den Emo-

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94 | II Performativität tionen der Sprechenden verbunden gelten als deren verbale Bekundungen, kann dies von erheblicher Bedeutung für die Inszenierung wie für die Wirkung einer rituellen Aufführung sein. Rituelle Handlungen sind körperliche Aufführungen, die an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeitpunkten stattfinden, die das Zusammenleben der Menschen in Raum und Zeit gestalten.7 Ihren szenischen Arrangements liegen gesellschaftliche Bedingungen, d.h. ökonomische, politische und soziale Voraussetzungen und die in ihnen enthaltenen Machtstrukturen zugrunde. In Ritualen und Ritualisierungen werden soziale Ordnungen und kognitive und affektive Dimensionen des Erlebens inkorporiert. Vermittelt werden Auffassungen und Sichtweisen, die dazu beitragen, die Welt als »real« zu begreifen, ohne dass die dieser Welt zugrunde liegenden Formen der Macht bewusst werden. In Äußerungen wie »Halt dich gerade!«8 wird in einer scheinbar belanglosen Formulierung die Befolgung einer Maxime verlangt, deren Wirkungen jedoch nachhaltig sind. Nicht nur ergeht eine Aufforderung, eine bestimmte Körperhaltung einzunehmen; diese Äußerung zielt zugleich auf eine soziale Einstellung, auf entsprechende Werte und Wahrnehmungsweisen. Die Wiederholung solcher Aufforderungen verinnerlicht die in der geforderten Körperhaltung enthaltenen Einstellungen und Werte. Mit Hilfe der Inszenierung ritueller Aufführungen werden Sprache, Bilder und Rhythmen, kulturelle Räume und Zeitordnungen einverleibt. Der Körper wird zum Gedächtnis der Kultur. Normen und Werte, Schemata und Strategien werden inkorporiert. Über die performative Konstruktion des Körpers wird sein Verhältnis zur Welt, zum Anderen und zu sich selbst gebildet.

Der mimetische Erwerb performativen Wissens Wie wird das für die Inszenierung und Aufführung von Ritualen erforderliche performative Wissen erworben? Zweifellos handelt es sich nicht um ein theoretisches oder reflexives Wissen, dessen Elemente in der sozialen Praxis einfach Anwendung finden könnten. Performatives Wissen ist vielmehr ein praktisches Wissen. Als solches ist es körperlich und eng mit aisthetischen Prozessen verbunden. Zu wesentlichen Teilen wird dieses Wissen in mimetischen, häufig den Subjekten nicht bewussten Prozessen erworben. Solche Prozesse entstehen, wenn Menschen an den szenischen Aufführungen so7 | Vgl. Ch. Wulf, »Zeit und Ritual«, in: J. Bilstein/G. Miller-Kipp/Ch. Wulf (Hg.), Transformationen der Zeit. Erziehungswissenschaftliche Studien zur Chronotopologie, Weinheim 1999, S. 112-122. 8 | Vgl. P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/Main 1976.

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zialer Handlungen teilnehmen und wahrnehmen, wie andere Menschen in rituellen Szenen handeln. Diesem Wie kommt bei der mimetischen Rezeption und Verarbeitung erhebliche Bedeutung zu. Erfasst wird die Art und Weise der sozialen Handlungen sinnlich. Nur mit Hilfe der Aisthesis können die szenischen, die sozialen Handlungen konstituierenden und konkretisierenden Arrangements wahrgenommen und verarbeitet werden. Die mimetische Verkörperung performativen Handelns ist ein kreativer Prozess, in dessen Verlauf eine individuelle Umarbeitung erfolgt. In der Bezugnahme des mimetischen Prozesses auf einen anderen Menschen, eine szenische Aufführung ritueller Handlungen oder auf eine imaginäre Welt entsteht jedes Mal etwas Differentes. In mimetischen Prozessen kommt es zu einer Anähnlichung: Sie zielt auf die Art und Weise, wie sich Menschen körperlich und sozial inszenieren, wie sie sich zur Welt, zu anderen Menschen, zu sich selbst verhalten. Sie richtet sich auf die Einmaligkeit des Anderen und führt dazu, dass Bilder anderer Menschen, sozialer Handlungen und Welten in die innere Bilder- und Vorstellungswelt aufgenommen werden. Mimetische Prozesse verwandeln Außenwelt in Innenwelt und führen zu einer Erweiterung der Innenwelt. Der Erwerb von soziale Handlungen ermöglichendem praktischen Wissen in mimetischen Prozessen muss nicht auf Ähnlichkeit beruhen. Wenn beispielsweise in einer Bezugnahme auf eine vorgängige Welt ritueller Handlungen bzw. performativer Aufführungen mimetisches Wissen erworben wird, dann lässt sich erst in einem Vergleich der beiden Welten bestimmen, welches der Gesichtspunkt der mimetischen Bezugnahme ist. Ähnlichkeit ist nur ein, allerdings häufiger, Anlass für den mimetischen Impuls. Doch auch die Herstellung eines magischen Kontakts kann zum Ausgangspunkt der mimetischen Handlung werden.9 Selbst für die Abgrenzung von vorhandenen Ritualen und performativen Aufführungen ist eine mimetische Bezugsnahme erforderlich. Sie erst erzeugt die Möglichkeit von Akzeptanz, Differenz oder Ablehnung vorgängiger Rituale und anderer sozialer Handlungen. Die residuale Instinktausstattung, der Hiatus zwischen Reiz und Reaktion sowie die »Exzentrizität« sind Voraussetzungen für die außerordentliche Plastizität des menschlichen Körpers und die damit verbundenen Möglichkeiten, in mimetischen Prozessen ein praktisches Wissen zu erwerben, mit dessen Hilfe rituelles und anderes performatives Handeln inszeniert und aufgeführt wird. Zu diesem praktischen Wissen gehören auch die Körperbewegungen, mit deren Hilfe Szenen sozialen Handelns arrangiert werden. Mittels der Disziplinierung und Kontrolle der Körperbewegungen ent9 | Vgl. J.G. Frazer, Der goldene Zweig. Das Geheimnis. Von Glauben und Sitten der Völker, Reinbek 1998, S. 15ff.

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96 | II Performativität steht ein diszipliniertes und kontrolliertes praktisches Wissen, das – im Körpergedächtnis aufbewahrt – die Inszenierung entsprechender Formen symbolisch-szenischen Handelns ermöglicht. Dieses praktische Wissen ist auf die im Zivilisationsprozess herausgebildeten sozialen Handlungs- und Aufführungsformen bezogen und daher ein zwar ausgeprägtes, in seinen historisch-kulturellen Möglichkeiten jedoch auch begrenztes performatives Wissen. In mimetischen Prozessen vollzieht sich eine nachahmende Veränderung und Gestaltung vorausgehender Welten. Hierin liegen das innovative und kreative Moment mimetischer Akte und ihre Bedeutung für die Inszenierung und Aufführung performativer Handlungen. Mimetisch sind performative Handlungen, wenn sie auf andere körperliche Handlungen Bezug nehmen und selbst als soziale Aufführungen begriffen werden können, die sowohl eigenständige Handlungen darstellen als auch einen Bezug zu anderen Handlungen haben. Performative Handlungen werden möglich durch die Entstehung praktischen Wissens im Verlauf mimetischer Prozesse. Das für performative Handlungen relevante praktische Wissen ist körperlich, ludisch, rituell und zugleich historisch und kulturell; es bildet sich in face-to-face-Situationen und ist semantisch nicht eindeutig; es hat imaginäre Komponenten, lässt sich nicht auf Intentionalität reduzieren, enthält einen Bedeutungsüberschuss und zeigt sich in den Inszenierungen und Aufführungen des alltäglichen Lebens, der Literatur und der Kunst.

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4. Die Performativität von Raum und Zeit

Raumerfahrungen im Umbruch: Körper, Bewegung, Globalisierung Menschliches Leben vollzieht sich in Räumen; man betritt sie, hält sich in ihnen auf, verlässt sie und kehrt zu ihnen zurück. Dynamik und Zeitlichkeit des Lebens führen zum Wechsel der Räume und machen sie zu Übergangsräumen, in denen verschiedene Ereignisse stattfinden, dauerhaftes Verweilen aber nicht möglich ist. Leben entwickelt sich im Körperraum der Mutter, in Wohnungen, Straßen und Schulen, Dörfern und Städten, in Arbeitsräumen, in der Freizeit und auf Reisen. Raum und Zeit sind Bedingungen des menschlichen Körpers, der selbst räumlich ist und der wie alle Organismen dem Gang der Zeit unterliegt. Wir leben in heterogenen Räumen mit unterschiedlichen Anforderungen und Erfahrungen. Die Beschleunigung der Zeit bewirkt nicht nur ein Schrumpfen des Raums; sie führt auch zu seiner Umgestaltung und damit zu neuen Raumerfahrungen. Wir erleben Raum in Bezug auf die Räumlichkeit unseres Körpers. Kehren wir in die Räume unserer Kindheit zurück, so erscheinen sie uns kleiner als wir sie erinnern; Maßstab für unser Raumempfinden waren Größe und Beweglichkeit unseres kindlichen Körpers. Nicht nur bezogen auf die Größe des Körpers, sondern auch auf seine Bewegung erleben wir den Raum. Bereits der Säugling beginnt, seine Wahrnehmung durch die Bewegung seines Körpers zu steuern. Bewegung wird die Form, in der wir uns unsere Umwelt vertraut machen. Ein krabbelndes Kind erschließt sich den Raum anders als ein gehendes; ein laufender Mensch erlebt ihn anders als ein Fahrrad, Auto oder Eisenbahn fahrender Mensch. Im Auto und in der Eisenbahn entsteht eine über die natürlichen Möglichkeiten des menschlichen Körpers hinausgehende Geschwindigkeit, die den Raum nivelliert und zum Bild werden lässt. Mit geringer körperlicher Anstrengung

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98 | II Performativität bewegen wir uns durch derartige »Bildräume«. Beim Fliegen wird die Geschwindigkeit nochmals gesteigert. Man durchfliegt, ja überfliegt den Raum. Was sich in ihm befindet, wird zur Miniatur. Bäume, Straßen und Seen werden zu Punkten, Strichen und Flächen. Wichtig sind nur das Ziel und der Wunsch, es schnell zu erreichen. Bei einer so beschleunigten Bewegung ist der Weg nie das Ziel. Raum wird in Abhängigkeit von den Bewegungen des menschlichen Körpers erlebt. Gehlen hat dies in seinen anthropologischen Schriften deutlich gesehen. Nach seiner Auffassung rufen Bewegungen in Räumen ein »Antwortverhalten« hervor, das als deren »Umgangsqualitäten« in der Erfahrung gesammelt wird.1 Bewegungen haben eine »Sprachmäßigkeit« und unterhalten sich mit den Dingen und Räumen. Sie sind Formen des Umgangs mit diesen und zugleich Ausdrucksverhalten. Sie bilden auf der motorischen Ebene einen »Schatz stummer Erfahrungen«. Bewegungen des menschlichen Körpers sind auf andere Bewegungen im Raum, sei es von Menschen oder Dingen, bezogen. Zusammen bilden sie einen Bewegungsraum. »Der Bewegungsraum enthält viel mehr als nur die gegebene Situation. Diese wird überlagert von antizipierten, zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht verwirklichten, also noch möglichen Bewegungen, die aber schon in jenen, die wahrgenommen werden, präsent sind. Dieses Präsent-Sein ist eine Vorwegnahme, die nicht kognitiv, also nicht durch geistige Erkenntnisakte geschieht, sondern unmittelbar durch Hinsehen: ›Man sieht es den Bewegungen an‹, was sich aus ihnen entwickeln wird. Die Dinge sind für den Handelnden ›geladen mit Umgangsvorschriften und Gebrauchsanweisungen‹.«2 Der Bewegungsraum ist symbolisch konstituiert. Das Gegebene ist eine Vorahnung dessen, was geschehen wird.3 Dieser symbolische Charakter des Bewegungsraums ist eine über die Bewegung des Körpers hinausdrängende Leistung der menschlichen Phantasie. Kinder erfahren Räume und die in ihnen enthaltenen Gegenstände als bedeutungsvoll. Indem sie sich diese mit Körperbewegungen erschließen, sedimentieren sich diese Räume und Gegenstände in ihren Körpern. Ihr symbolischer Charakter wird enkorporiert und bewirkt die Enkulturation des Kindes. In diesem Prozess sind Kinder aktiv. Mit Hilfe von Bewegungen erweitern sie ihr Kontakt- und Handlungsfeld. Mit ihrem Begehren, die Außenwelt in Innenwelt zu verwandeln, gestalten sie sowohl ihre Außenals auch ihre Innenwelt. In der Mimesis der Räume und der sich in ihnen vollziehenden Handlungen, Menschen und Dinge entsteht der symbolische, 1 | A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 1978, S. 170. 2 | Ebd., S. 223. 3 | G. Gebauer, Bewegung, S. 503.

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kulturell geprägte Charakter von Wahrnehmungen, Bewegungen und Handlungen.4 Wie diese Prozesse sich vollziehen, hat Benjamin in seiner Autobiographie »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« beschrieben: Hier spielen die Räume eine zentrale Rolle. Sie werden zu den Organisationseinheiten des kindlichen Lebens. Insbesondere Räume wie Winkel, Verstecke, Höhlen, Erker, Schränke, Kommoden, Schwellen werden zu Orten der Erfahrung und der Erinnerung. Im Öffnen eines Schranks kündigt sich an das Hin und Her von außen und innen, von Verhüllen und Enthüllen, das Prinzip der Verschachtelung. Das Innere von Schachteln und Schränken wird zum Intimsten und Intensivsten bürgerlicher Kindheit, zum Allerheiligsten der Familie. Auch das Sammeln von Schmetterlingen, Briefmarken und dergleichen sowie das Aufbewahren der Gegenstände in Schachteln verweisen auf einen Zusammenhang mit dem Heiligen, der sich nur einer mimetischen Lektüre der Räume, Sammlungen, Zeichen und Sinnzusammenhänge erschließt. Kindheit bedeutet: sich den Räumen der Umwelt ähnlich machen, Korrespondenzen lesen und entschlüsseln. In diesen Erinnerungen wird deutlich: Kulturell geprägte soziale Räume werden mit Hilfe der Sinne erschlossen und gelangen über die Sinne ins Körpergedächtnis. Nachdem Merleau-Ponty die Einsicht überzeugend dargelegt hat, dass Ich und vorgängig geordnete Welt unauflösbar miteinander verschlungen sind, ist nicht länger wie noch bei Plessner und Gehlen von einem »Hiatus« zwischen Denken und Ich und Körper auszugehen. Man kann sich zwar im Denken von der Reflexion des Körpers lösen und sich denkend über ihn erheben; aber der Körper steht keinem in ihm sitzenden Ich für unmittelbare Beobachtung zur Verfügung. Er kann nicht vom Menschen beherrscht werden; man kann nicht von ihm absehen und ihn zu einem Mittel machen. Die soziale Welt bezieht sich nicht auf mich als Ich-Zentrum, sondern sie wirkt durch den ganzen Körper hindurch, sodass in dieser wechselseitigen Durchdringung von Subjekt und Welt das Ich als eine mit dem Körperlichen unmittelbar verbundene Instanz gebildet wird, als eine sozial und kulturell erzeugte Konstruktion, die nur analytisch vom Körper getrennt werden kann, der selbst auch nur ein Konstrukt ist.5 Foucault hat die Mechanismen der Vergesellschaftung des Körpers in spezifischen sozialen Räumen wie Kliniken, Irrenanstalten, Kasernen, Schulen usw. beschrieben. Die Funktionen dieser Institutionen bestimmen ihre Räume. Sie präfigurieren die Interaktionen und normieren sie nach den ihnen inhärenten gesellschaftlichen Aufgaben und Machtverhältnissen. In institutionalisierten sozialen Räumen besteht die Erwartung, dass die in 4 | Vgl. G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimesis; dies., Spiel, Ritual, Geste. 5 | Vgl. oben, Kap. 2, sowie G. Gebauer/Ch. Wulf, Spiel, Ritual, Geste, S. 23ff.

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100 | II Performativität ihnen tätigen Menschen z.B. Rituale inszenieren, sie aufführen und sich dadurch als Mitglieder der jeweiligen Institutionen darstellen. Die sich dabei vollziehenden Prozesse bleiben partiell unbewusst und wirken daher umso nachhaltiger. Der Schulraum ist dafür ein gutes Beispiel. Ein solcher innerhalb einer Institution geschaffener Raum ist mit spezifischen gesellschaftlichen Funktionen verbunden, deren Erfüllung an diesem Ort verlangt und durchgesetzt wird. Im Schulraum erfolgt das Lernen z.B. in rituellen Inszenierungen. Mit ihrer Hilfe werden neue Verhaltensformen entwickelt und in die Körper der Kinder eingeschrieben. Es entstehen auf die soziale Funktion der Schule bezogene habitualisierte Körperbewegungen, die den Habitus des Schülers ausmachen. Diese Bewegungen werden einerseits vom Schüler auf seine persönliche Weise vollzogen, andererseits orientieren sie sich an den im Raum der Schule vorgegebenen Verhaltensmodellen, Vorschriften und Normen. Die rituellen Bewegungen und Gesten der kindlichen und jugendlichen Körper sind in doppeltem Sinne konstruktiv: »Sie erzeugen nicht nur die materielle Welt der Körper und Umweltdinge, sondern wirken auch im Inneren der Person, indem sie Haltungen, Einstellungen und Bewertungen entstehen lassen, die weit mehr sind als eine einfache psychische Begleitung oder sekundäre Effekte.«6 Raum ist für Wahrnehmung, Bewegung und Erfahrung ein konstitutives Element, das in allen Bereichen der Gesellschaft, der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Erziehung in verschiedenen Formen in Erscheinung tritt und dessen Ausprägungen sich im Verlauf geschichtlicher und kultureller Entwicklung verändern. Zur Analyse einiger Dimensionen des Raums hat Lefebvre folgende Differenzierung vorgeschlagen:7 • Räumliche Praktiken. Sie gestalten den Raum einer Gesellschaft, entwerfen, schaffen und verändern ihn im Verlauf historischer Entwicklung. Sie unterscheiden sich von Kultur zu Kultur. Mit Hilfe der Untersuchung der gesellschaftlichen Räume lassen sich die unterschiedlichen Praktiken gesellschaftlicher Raumgestaltung identifizieren. • Repräsentationen des Raums. Wie werden Räume in einer Gesellschaft repräsentiert? Welche Zuordnungen, Funktionalisierungen, Hierarchisierungen finden statt? Wie begreifen Raum- und Stadtplaner, Wissenschaftler und Künstler Räume und wie stellen sie diese dar? • Räume der Repräsentation. Welche Räume bestehen für Darstellungen und Repräsentationen? Wo und wie kann z.B. in Bildern, Photos, Filmen und Symbolen menschliches Leben dargestellt und kommentiert werden?

6 | G. Gebauer, Bewegung, S. 507. 7 | Vgl. H. Lefebvre, La production de l’espace, Paris 1981, S. 48f.

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Die mit dem Begriff der Globalisierung bezeichneten Veränderungen haben zu neuen räumlichen Praktiken, zu veränderten Repräsentationsformen des Raums und zu anderen Räumen der Repräsentation geführt.8 Bevor wir uns den mit diesen Entwicklungen gegebenen neuen Raumerfahrungen zuwenden, sei ein Blick auf einige ihrer historischen Voraussetzungen geworfen. Zu diesen Voraussetzungen gehört z.B. der Übergang von der oralen zur literalen Kultur, in dessen Folge es möglich wird, Ereignisse aus ihrer lokalen Verankerung herauszulösen und in andere geographische Räume und historische Zeiten zu übertragen und damit die Grenzen des Raums und der Zeit zu erweitern. Die Erfindung des Buchdrucks verstärkt diese Entwicklung. Unabhängig von dem Raum und der Zeit ihrer Entstehung können Texte und Bilder nun in großer Zahl verfügbar gemacht werden. Damit ist eine wichtige Vorstufe der weltweiten Verbreitung von Texten und Bildern erreicht. In der Renaissance und im Zeitalter der Entdeckungen erfolgen weitere Veränderungen im Raumverständnis. Die euklidische Geometrie wird wiederentdeckt, die camera obscura erfunden. Mit der Verbreitung der Zentralperspektive wird eine neue Auffassung vom Raum zur Norm. In der Kartographie dieser Zeit entstehen ebenfalls neue Formen der Raumrepräsentation. Am Anfang des 20. Jahrhunderts zeigt sich in der Malerei des Kubismus abermals ein Wandel. In den kubistischen Bildern werden Figurationen aus unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Perspektiven in einer Verdichtung auf einen Augenblick dargestellt. Auch in den Fotografien und Filmen dieser Zeit wird die Auflösung des perspektivischen Raums entschieden betrieben. Die als Globalisierung bezeichneten Umbrüche haben zu einem Schrumpfen der Entfernungen geführt. Diese Entwicklung ist einmal das Ergebnis moderner Transportmittel, die es möglich machen, von der einen Seite des Mittelmeers zur anderen in zwei Stunden zu gelangen, während man noch vor wenigen Jahrzehnten dazu Tage oder sogar Wochen brauchte. Diese Situation ist ferner eine Auswirkung der Beschleunigung der Bilder, Worte und Texte, der Informationen und Neuigkeiten in der Telekommunikation. Ubiquität und Gleichzeitigkeit sind die Charakteristika der neuen Medien. Radio und Fernsehen, Telefon, Anrufbeantworter und Fax, Internet und Email machen Menschen überall auf der Welt erreichbar. Im Rahmen dieser Entwicklungen kommt es zu neuen Formen der globalen Vernetzung von Kapital und Information, Warenproduktion und -disposition. Die weltweit operierenden Konzerne sind arbeitsteilig organisiert. In den großen Städten und Metropolen oder in ihrer Nähe haben sie ihre konzeptuellen und organisatorischen Zentren, an anderen Orten ihre Produk8 | Vgl. M. Castells, The Rise of the Network Society, Malden 1996.

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102 | II Performativität tions- und Distributionsstätten; an wieder anderen Stellen befinden sich ihre Firmensitze. Ziel dieser multinationalen Konzerne ist die möglichst kostengünstige Herstellung von Waren und deren weltweite Vermarktung. Um dieses zu erreichen, spielen diese transnational vernetzten Konzerne die um Investitionen und Arbeitsplätze konkurrierenden Nationalstaaten gegeneinander aus. Kein Ort, keine Region ist unersetzbar. Für den globalen Markt ist der partikulare Charakter eines Raums meistens weniger wichtig. Deshalb geraten Regierungen und Staaten immer öfter in Gefahr, die Kontrolle über ihre Währungen, Steueraufkommen und Arbeitsplätze zu verlieren. Telecommuting, Teleshopping, Computer Dating, Arbeitsplatzvermittlung über das Internet schaffen einen neuen, regionale und nationale Grenzen überschreitenden Informations- und Kommunikationsraum, in dem räumliche Entfernungen kaum eine Rolle spielen. Für die neuen Medien ist es bedeutungslos, ob sich der Gesprächspartner in Japan oder in der Wohnung nebenan befindet. Die Überwindung des Raums in der Telekommunikation erfordert die Transformation aller Ereignisse in Worte, Bilder und Texte. Nur in dieser Form können Nachrichten räumliche Entfernungen so schnell überwinden. Aufgrund ihres synthetischen Charakters bringen die elektronischen Bilder auf dem Interface des Bildschirms auch Raum zur Darstellung. Da kaum noch Zeit erforderlich ist, um räumliche Entfernungen zu überwinden, könnte man in dieser Situation nicht nur einen Bedeutungsverlust des Raums, sondern auch der Zeit sehen. Die Globalisierung von Information und Kommunikation, Kapital und Wirtschaft bewirkt auch eine Veränderung von Kultur. Waren Kulturen bisher meistens an Territorien und an die Geschichte der dort ansässigen Nationen gebunden, so unterliegt der Zusammenhang zwischen geographischem Raum und Geschichte, Nation und Kultur gegenwärtig tiefgreifenden Veränderungen. Mit dem Souveränitätsverlust der Nationalstaaten angesichts der Funktions- und Handlungsweise multinationaler Konzerne, der zunehmenden Übertragung ihrer Entscheidungsrechte auf transnationale Organisationen und der Komplexitätszunahme in der Weltgesellschaft gehen nachhaltige Veränderungen in den nationalen Kulturen einher. Auf ihren Territorien entstehen transnationale Zentren, von denen aus Politik und Medien, Finanzen und Wissenschaften, Technologien und Märkte weltweit gesteuert werden. Um in diesen globalen Zentren zu arbeiten, bedarf es besonderer Kompetenzen im Bereich von Sprache, Kommunikation, Wissenschaft und Kultur. In diesen transkulturellen Zentren der Macht, in denen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen aufeinander stoßen und in denen Entscheidungen getroffen werden, die Menschen in sehr heterogenen Gesellschaften betreffen, benötigt man neue Formen transkultureller Kooperation. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, genügt eine

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Orientierung an nationalen Kulturen oder einem regionalen Kulturkreis nicht. Es bedarf neuer Formen interkulturellen Verstehens, Wissens und Handelns. Aus diesen Erfordernissen ergibt sich die Notwendigkeit, Erziehung und Bildung heute als interkulturelle Aufgabe zu begreifen9 und entsprechend auszurichten. Infolge dieser Entwicklungen werden Formen des Austauschs zwischen den verschiedenen Kulturen für ein globales Zusammenleben immer wichtiger. Roland Robertson hat zur Kennzeichnung dieses Prozesses den Begriff »Glokalisierung« ins Spiel gebracht. Mit ihm soll deutlich gemacht werden, dass die Vielzahl und Vielfalt lokaler Kulturen nicht einer einzigen globalen Kultur weichen wird, sondern dass es eher zu einer Überlagerung und Durchmischung von Lokalem und Globalem kommt, die zu unterschiedlichen Formen der »Glokalisierung« führt. Die Arbeit am Verstehen der Gemeinsamkeiten und Differenzen der Kulturen wird daher zu einer zentralen Aufgabe von Erziehung und Bildung.10 Damit einher gehen neue Aufgaben, Inhalte, Perspektiven und Referenzpunkte; neue transnationale Loyalitäten und Allianzen werden erforderlich. Die Friedens- und Ökologiebewegung hat sich schon früh für solche kultur- und grenzüberschreitenden Werte engagiert. Bei den Aktionen anlässlich der Pläne des Shell-Konzerns, eine Ölbohrplattform in der Nordsee zu versenken, und anlässlich der Atomversuche der französischen Regierung im Südpazifik wurden neue Strategien regionaler und globaler Solidarität sichtbar. Für die Entwicklung der Europäischen Union kommt es darauf an, solche Formen transnationaler europäischer Loyalität weiter zu entwickeln. Dazu müssen allerdings die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kulturen wahrgenommen und akzeptiert sowie Gemeinsamkeiten entdeckt und entwickelt werden. Diese Veränderungen entstehen aus der Dynamisierung des Raums unter dem Einfluss der Beschleunigung der Zeit. Die Mobilität der Menschen und Symbole löst deren traditionelle Bindung an Räume auf. Die Durchmischung von Lokalem und Globalem führt zu neuen Formen kultureller Identität, die überkommene Formen überlagern. Raum, Zeit und Selbst treten in neue Beziehungen. Man weiß mehr von Ereignissen in Washington als von den Geschehnissen nebenan. Die räumliche und zeitliche Ausrichtung des Handelns erfolgt häufiger unter Bezug auf Menschen in entfernten Regionen der Welt. Virtuelle Erfahrungen mit diesen sind Teil der Pluralität und Heterogenität heutiger Raumerfahrungen, mit denen 9 | Vgl. Ch. Wulf (Hg.), Education in Europe: An Intercultural Task, Münster, New York 1995; P. Dibie/Ch. Wulf (Hg.), Vom Verstehen des Nichtverstehens. Ethnosoziologie interkultureller Begegnungen, Frankfurt/Main 1999. 10 | Vgl. Ch. Wulf (Hg.), Education for the 21st Century. Commonalities and Diversities, Münster, New York 1998.

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104 | II Performativität Kinder und Jugendliche konfrontiert sind und die die Komplexität ihrer Lebensverhältnisse ausmachen.

Ritual und Zeit Bei der kulturellen Organisation der Zeit und bei der Einführung des Einzelnen in die Zeitordnung der Gesellschaft spielen Rituale eine wichtige Rolle. Schon sehr früh versuchen Eltern, die Rhythmen des kindlichen Lebens auf die Zeitrhythmen ihres Lebens zu beziehen und so den Säugling an den gesellschaftlich normierten Umgang mit Zeit zu gewöhnen. Das Kleinkind lernt, Tag und Nacht zu unterscheiden und beiden Tageshälften unterschiedliche Tätigkeiten zuzuweisen. Aufmerksamkeit und Zuwendung erfährt der Säugling am Tag. Ruhe und Schlaf soll er in der Nacht finden. Der Tag ist die Zeit des menschlichen Zusammenseins und der kindlichen Aktivitäten. Die Nacht dient der Entspannung und Regeneration. Die Ordnung der Zeit strukturiert das Leben: Sie bestimmt den Zeitraum für den Schlaf; sie kanalisiert den kindlichen Hunger und Durst. Kindliche Bedürfnisse werden befriedigt, doch nicht unbedingt im Augenblick ihres Auftretens, sondern oft erst in zeitlichem Abstand zu ihrer Artikulation. Schon früh wird die Zeit zu der Ordnungsmacht kindlichen Lebens. Über sie werden gesellschaftliche Normen und Werte vermittelt. Mit Hilfe von Ritualisierungen werden sie im kindlichen Körper verankert. Indem das kleine Kind Zeit als soziale Zeit erfährt, inkorporiert es die mit ihrer Struktur verbundenen Schemata und Werte. Über den ritualisierten Umgang mit Zeit wird eine allgemeine Voraussetzung für das Entstehen rituellen Wissens und sozialer Kompetenz erworben. Schon in den ersten Wochen nach der Geburt erfährt der Säugling über rituelles Wissen die soziale Ordnung. Seine Bezugspersonen verwenden einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf die Regulierung seiner Wach- und Schlaf-, Tag- und Nacht-, Hunger- und SättigungsZyklen. Die (zeitlichen) Rhythmen des Säuglings sollen so verändert werden, dass sie sich denen der Erwachsenen annähern. Mit Hilfe der Ritualisierung ihres Verhaltens versuchen die Eltern, das neugeborene Kind zu beeinflussen. Selbst wenn ihre Handlungen spontan erscheinen, greifen sie oft auf ihnen vertraute rituelle Formen und Schemata zurück, mit deren Hilfe sie Muster schaffen, die sich dem Säugling einprägen und in ihm die erwünschten Erwartungen erzeugen. Wie in der Erziehung von Kleinkindern spielen Rituale, Ritualisierungen und rituelle Praxen auch in der Schule eine wichtige Rolle. Auch hier dienen sie dazu, die Kinder und Jugendlichen in die gesellschaftliche Zeitordnung mit ihren impliziten Werten einzuführen. Nicht weniger als in der Familie werden in dieser Institution Erziehung und Sozialisation in For-

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men rituellen Handelns organisiert und realisiert. Zwei Arten schulischer Rituale lassen sich unterscheiden: die alltäglichen Rituale, Ritualisierungen und rituellen Praxen des Unterrichts und des Schullebens und die Rituale bei besonderen schulischen Ereignissen wie Einschulungs- und Abschlussfeiern. Der rituelle Charakter der Schule wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie sich das Verhalten von Kindern und Jugendlichen ändert, wenn sie morgens in die Schule kommen. Bereits beim Betreten des Gebäudes lassen sie viele Verhaltensweisen hinter sich, die sie auf dem Schulweg zeigen. An der Schwelle zum Schulgebäude erfolgt der Übergang von der Freizeit zur Schul- bzw. Unterrichtszeit. In dieser Zeit sind die Bewegungen der Schüler weniger spontan, expressiv und »körperlich«; sie werden ruhiger, gesetzter, disziplinierter. Unterricht ist eine stark ritualisierte Zeit. Sein Arrangement ergibt sich daraus, dass die Schüler nach Überlieferungen und Gewohnheiten in unterschiedlicher Aufgabenverteilung zusammenarbeiten. Zum unterrichtlichen Arrangement gehören folgende rituelle Elemente: die Jahrgangsklasse, der Wochenstundenplan, das Fächerprinzip, die Relation eines Lehrers bzw. einer Lehrerin mit einer Gruppe von Schülern, die Zielbezogenheit der unterrichtlichen Interaktion, die kollektive Erarbeitung curricularer Inhalte, die methodische Anlage des Unterrichts, die Auswahl und Verwendung verschiedener Medien, die Bewertung der Schülerleistungen, der rhythmische Wechsel von Unterricht und Pause, die Hausaufgaben. Im Zusammenwirken dieser Elemente konstituiert sich Unterricht als rituelle Veranstaltung, Unterrichtszeit als ritualisierte Zeit. Zu den jahreszeitlich sich wiederholenden außerunterrichtlichen Ritualen gehören neben Sport- und Sommerfesten, Theateraufführungen und Weihnachtsfeiern die Übergangsrituale bei Aufnahme- und Entlassungsfeiern. In ihnen zeigt sich Schule als Gemeinschaft von Schülern, Lehrern und Eltern, die in ihren rituellen Feiern ihre Erwartungen an die neuen und an die abgehenden Schüler inszeniert. Der Übergang wird markiert, sei es der in die neue Schule mit ihren Ansprüchen, sei es der in die Erwachsenenwelt mit den Anforderungen der Arbeitswelt. Bei der Aufnahmefeier beispielsweise zeigen »Schulleiter«, »Schülervertreter«, »Elternvertreter«, »Orchester« und »Chor« als Akteure der rituellen Inszenierung den neuen Schülern, was es bedeutet, Angehörige dieser Institution zu werden. In solchen Feiern inszeniert sich die institutionelle Gemeinschaft und verwendet dazu typische, zum Teil bekannte, doch jedes Mal neu arrangierte rituelle Elemente. Dargestellt werden Solidarität und Differenz. Man heißt die neuen Schüler willkommen, zeigt sich mit ihnen solidarisch, inszeniert aber gleichzeitig die mit den neuen Anforderungen zu ihrem bisherigen Leben gegebene Differenz. Diese Beispiele zeigen, dass die Einführung von Kindern und Jugendlichen in die kulturelle Ordnung der Zeit wesentlich in Ritualen und Rituali-

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106 | II Performativität sierungen geschieht. Zugleich machen sie auch deutlich, dass Zeit und Zeiterfahrungen in starkem Maße in Ritualen organisiert werden. Ein wesentliches Element der Zeitorganisation in Ritualen und Ritualisierungen ist die Wiederholung. Mit ihrer Hilfe wird etwas Vergangenes in die Gegenwart geholt, in dieser aufgeführt und für die Zukunft wirksam gemacht. Durch den Rückgriff auf vergangene rituelle Situationen stellt eine Gemeinschaft Kontinuität her. Durch den mimetischen Bezug auf rituelle Handlungen in der Vergangenheit wird deren Bedeutung für die Gegenwart betont. Rituelle Praxen bilden Vor-Bilder, auf die man sich bezieht. Durch ihre Wertschätzung wird ihre Bedeutung für das aktuelle Handeln betont. Vergangenes wird von einer Gemeinschaft für ihre gegenwärtige Situation für so wichtig gehalten, dass es in einem aktuellen szenischen Arrangement mit »Leben« erfüllt wird. Infolge mimetischer, auf ein vergangenes Ritual gerichteter Prozesse wird dieses Ritual wieder aufgeführt. In diesem Prozess werden für wichtig gehaltene Beziehungen dargestellt und szenisch ausgedrückt. Einstellungen, Gefühle, soziale Verhältnisse werden in der Wiederholung früherer ritueller Szenen aktualisiert, d.h. in ihrer Relevanz für die Gemeinschaft erinnert, wiederholt und bestätigt. Der mimetische Charakter dieses Bezugs führt zur Modifikation des Vergangenen. Nicht die Herstellung einer Kopie des Vorbilds, sondern dessen Nachgestaltung im mimetischen Bezug erfolgt. Aufgabe ist nicht die Reproduktion des Gleichen, sondern die mimetische, Veränderungen implizierende neue Gestaltung des rituellen Vor-Bilds. Rituale sind mimetische Wieder-Holungen der Vergangenheit, sie modifizierende Inszenierungen für die Gegenwart, die zu Ausgangspunkten für zukünftige Handlungen werden. In der Aufführung von Ritualen wird Vergangenes in die Gegenwart transformiert und verdichtet. Rituale werden zu wichtigen Mitteln der Aktualisierung und Revitalisierung von Geschichte. Sie sind Formen der Sicherung der Vergangenheit und ihrer Weitergabe an Gegenwart und Zukunft. Sie sind Teil eines kreativen Umgangs mit der Vergangenheit, in dem deutlich wird, wie nachhaltig sie die Gegenwart mitgestalten. In der Auswahl, Inszenierung und Modifikation von Ritualen wird die Geschichte einer Gemeinschaft mit den Körpern der Lebenden aufgeführt und aktualisiert. Rituale sind gelebte und in der Gegenwart inszenierte Geschichte. Mit ihrer Hilfe versichert sich die Gemeinschaft ihrer Kohärenz und Beständigkeit. Im Unterschied zur Geschichtsschreibung, die auf der Basis von Quellen Texte erzeugt, werden Rituale mit den Körpern der Lebenden inszeniert. Wegen ihrer Körperlichkeit und Unmittelbarkeit tritt ihr Bezug zur Vergangenheit einer Gemeinschaft nicht so deutlich ins Bewusstsein, wirkt deshalb aber häufig nachhaltiger. In der Inszenierung der Körper in rituellen Handlungen wird Vergangenheit gegenwärtig. Insofern es sich um die

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»Wiederkehr des Gleichen« handelt, entsteht der für zyklische Zeiterfahrung charakteristische Eindruck der Reversibilität der Zeit. Der mimetische Charakter der Rituale, ihr Versuch, Vergangenes wiederzuholen, führt zu zyklischen Zeiterfahrungen und steht in Spannung zur linearen Zeit der Moderne. Viele Rituale sind Kalenderrituale; als solche sind sie jahreszeitlich und zyklisch. Dazu gehören alle an religiöse Feiertage gebundenen Rituale wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten etc. Dazu zählen aber auch Nationalfeiertage, Erinnerungstage usw. Diese Rituale werden durch Wiederholung konstituiert. Sie transformieren Vergangenheit in Gegenwart. Mit Hilfe mimetischer Prozesse erzeugen sie aus dem Imaginären der Religion und der Kultur jedes Jahr die gleichen Rituale. Ihre Übereinstimmung über die Jahre hinweg sichert ihre Aufgabe, die Gemeinschaft in gemeinsamen Erinnerungen und rituellen Handlungen fortwährend neu zu konstituieren. Weihnachten ist das Fest der Geburt des Gottessohnes als Mensch, an die sich die Christen in fortwährenden Wiederholungen erinnern und an dessen ritueller Inszenierung sich jung und alt beteiligen. Selbst den Menschen, bei denen die Bedeutung des Festes verblasst ist, bleibt der Anspruch des Festrituals, sich zu beteiligen, um nicht beiseite zu stehen. Bei ihnen kann das Ritual modifiziert werden. Geschenke können wichtiger als die religiöse Erinnerung werden. Und doch bewirkt die Beteiligung am Festritual die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Unabhängig von den Interpretationen des Rituals sichert die Teilnahme an seiner Aufführung die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Die großen zyklischen Rituale unserer Kultur sind durch einen Anfang und ein Ende gekennzeichnet, mit deren Hilfe sie sich aus der Gleichförmigkeit des alltäglichen Lebens hervorheben. In der dadurch bestimmten Ritualzeit vollziehen sich Handlungen, die wie im Falle des Weihnachtsfestes durch den Bezug auf Gott gekennzeichnet sind. Rituelle Zeit ist hier sakrale Zeit. Als solche ist sie eine außerordentliche Zeit, in der sich die Ereignisse in vorherbestimmter Sequenz vollziehen. Oft lassen sich im Rahmen eines großen Rituals mehrere kleinere, unterschiedlich fokussierte Rituale unterscheiden, die in zeitlicher Ordnung zueinander stehen. In vielen Familien gibt es z.B. am Weihnachtsfest eine zeitliche Abfolge für die Teilrituale »Gottesdienstbesuch«, »Festessen«, »Austausch von Geschenken«, die sorgfältig eingehalten wird, um das Gesamt des Weihnachtsrituals nicht zu gefährden. Auch in jedem Teilritual gibt es eine zeitliche Ordnung der rituellen Handlungen. Gesamtritual und Teilrituale sind sequentiell strukturiert. Meistens beinhaltet diese Strukturierung eine lineare Ordnung, zu der manchmal zyklische Handlungselemente hinzukommen. Im Fall des Weihnachtsrituals bestehen sie z.B. in der Wiederholung des Fest-

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108 | II Performativität essens oder des Geschenkaustauschs in der Familie der Eltern am ersten oder zweiten Weihnachtsfeiertag. In vielen Ritualen kommt es zur Überlagerung der zyklischen und der linearen Zeitordnung. Derartige Rituale erzeugen, bestätigen und modifizieren Gemeinschaften, im Falle des Weihnachtsfests vor allem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Familie. Dies geschieht wesentlich durch die Intensität des Erlebens der rituellen Situationen. Hier zählt nicht die Länge der gemessenen Zeit, sondern die Intensität der erlebten Zeit. Wie entsteht nun diese Intensität? Einmal bildet sie sich dadurch, dass sich Prozesse vollziehen, die sich im alltäglichen Leben nicht ereignen. Vielmehr sind es Ereignisse, die selten sind und einen Ausnahmecharakter haben. Häufig zeichnen sie sich aus durch die Erfahrung des »Fließens« zwischen den im Ritual Handelnden. Dieses wird als verbindend und befriedigend erlebt. Es löst den Einzelnen aus seiner Vereinzelung und verbindet ihn mit den anderen. Die im Ritual Handelnden teilen das Gefühl der Verbundenheit, das sich aus dem Fluss der Bewegungen und des Austauschs zwischen ihnen ergibt. Dieses »Fließen« schafft Gemeinschaft und ist zugleich ihr Ausdruck. Es entsteht die Erfahrung von Gemeinschaftszeit, die häufig als befreiend und beglückend erlebt wird. Neben den an den Jahreszyklus und seine Wiederholung gebundenen Ritualen gibt es die Rituale, die sich zwar für die Gemeinschaft zyklisch wiederholen, für den Einzelnen jedoch einmalig oder zumindest selten sind. Zyklisch sind sie, weil sie sich bei den Angehörigen einer Gemeinschaft in unregelmäßigen Abständen wiederholen. Linear sind sie, weil sie im Leben des Einzelnen einen einmaligen Punkt bezeichnen. Häufig markieren diese Rituale den Übergang von einer Zeit des Lebens in eine andere, etwa von der Zeit vor der Ehe in die Ehe oder von der Zeit ohne Kind in die Vater- oder Mutterschaft. Die erste Phase wird abgeschlossen, die zweite begonnen. Durch den Übergang ändert sich nachhaltig die Qualität des Lebens. Selbst wenn die Übergänge von einer Lebensphase in eine andere heute nicht mehr so radikal wie in vormodernen Gesellschaften sind, so werden viele von ihnen auch heute rituell markiert. Rituale bilden eine Schwelle zwischen zwei unterschiedlichen Perioden des Lebens. Mit der Geburt eines Kindes entsteht eine neue Lebenssituation, eine existentielle Vater-Kind- oder Mutter-Kind-Beziehung, die nicht auflösbar ist, unabhängig davon, wie sie gestaltet wird. Die in Verbindung mit der Geburt inszenierten Rituale markieren den Versuch, die Geburt eines Kindes hervorzuheben, ihre Bedeutung darzustellen und sie in der Erinnerung der Gemeinschaft zu verankern. Das Ritual dient dazu, die Auswirkungen der Geburt eines Kindes für die Eltern und die Gemeinschaft sichtbar zu machen. Die Anwesenheit der Angehörigen bezeugt sie und verstärkt ihre soziale Bedeu-

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tung. Die rituelle Situation schafft den Kairos, in dem sich der Übergang in eine neue Zeit des Lebens vollzieht. In ihm liegt die Möglichkeit, das »alte Leben« zu beenden und das neue zu beginnen. Im Kairos überschneiden sich Vergangenheit und Gegenwart, zyklische und lineare Zeit. Aus dieser Verdichtung emergiert für die am rituellen Geschehen Beteiligten Zukunft. Wie im hier beschriebenen Fall bilden die mit der Geburt eines Kindes verbundenen Rituale eine Schwellenphase, die weder zu der Zeit davor noch zu der danach gehört. Die Ehe- oder Lebenspartner sind nicht mehr ohne Kind, aber die neue Situation der Elternschaft ist auch noch nicht zum Lebensalltag geworden. Diese Schwellenphase zwischen zwei neuen Lebenszeiten ist durch ein Zeiterleben charakterisiert, das sich durch besondere Intensität auszeichnet. Hier werden Handlungen vollzogen, die sonst nicht oder höchst selten durchgeführt werden. Gibt es ein religiöses Ritual, wird das Kind in der Taufe in die Gemeinschaft aufgenommen und in die Obhut Gottes und der Mitglieder der Gemeinschaft gegeben. Die Zeit des religiösen Rituals ist keine säkulare, sondern ein sakrale Zeit; entsprechend unterschiedlich wird sie von den Teilnehmern des Rituals erfahren. Fehlt ein religiöses Ritual, wird dennoch häufig ein Fest veranstaltet. Die Eltern des Neugeborenen sind nicht allein; sie sind in der Gemeinschaft anderer Eltern, gemeinsam in der erweiterten Familie. Es wird gefeiert und der besondere Charakter der Situation hervorgehoben. Auch so entsteht eine andere Zeit, die sichtbar macht, dass eine einschneidende Veränderung stattgefunden hat und eine »neue Zeit« angebrochen ist. Die Zeit des Festes ist eine andere Zeit als die des Alltags. Sie enthält ekstatische Momente, die die Angehörigen der Gemeinschaft verbinden und diese Zeit so in ihre Erinnerung einschreiben, dass wiederholt von ihr erzählt werden muss. Rituale haben ihre besondere Wirksamkeit darin, dass sie kollektive, sich in einem bestimmten Zeitraum und Kontext vollziehende Inszenierungen des Körpers sind. Sie sind symbolisch organisiert, erschöpfen sich aber nicht in ihrem symbolischen Charakter. Sie lassen sich als kulturelle Aufführungen begreifen, bei denen die Zeit der Aufführung auf andere Zeiten und Zeiterfahrungen verweist. Sie vollziehen sich im Schnittpunkt verschiedener Zeiten und erzeugen eine neue Komplexität der Zeiterfahrung. Es entsteht die Erfahrung einer Zeit, die außerhalb der alltäglichen Zeit liegt. Im symbolischen Charakter eines rituellen Geschehens gehen die Welt als gelebte Zeit und die imaginierte Welt mit ihrer Zeit ineinander über und erscheinen als eine Welt mit einer Zeit. Hierdurch entsteht der Charakter des Rituals als eines Modells der Welt und für die Welt mit seiner verdichteten Zeiterfahrung. Rituale verkörpern Glaubenseinstellungen, Ideen und Mythen mit ihren jeweiligen Eigenzeiten und bringen sie zum Ausdruck und zur Darstellung.

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110 | II Performativität Angesichts des ostentativen und demonstrativen Charakters vieler Rituale, angesichts ihrer Aufführungsqualität und des damit verbundenen ludischen Charakters ritueller Handlungen erhebt sich die Frage, inwieweit die von Caillois für Spiele vorgeschlagenen Charakteristika: »nicht-obligatorisch«, »in Ort und Zeit begrenzt«, »unbestimmt«, »regelgebunden«, »auf eine andere Realität bezogen«, auch für Rituale gelten. In vielen Fällen treffen sicherlich nur einige der genannten Kriterien zu. In unserem Zusammenhang kommen noch zwei weitere Kriterien hinzu: Rituale sind häufig auf eine »andere Zeit« bezogen und erlauben die Erfahrung »ludischer Zeit«, in der Stunden als Minuten erlebt werden und die »Zeit vergessen« wird. Rituale entfalten ihre soziale Wirksamkeit vor allem dadurch, dass sie soziale, von symbolischen Deutungen begleitete Handlungen sind. Wie Kunstwerke sind sie in semantischer Hinsicht überdeterminiert und verdichten in ihrer Aufführung verschiedene Zeiten. Mit dieser Eigenart korrespondiert eine Redundanz der szenischen Darstellung. Rituelle Aufführungen wollen etwas zur Darstellung bringen, dramatisieren und zeigen. Sie haben einen auf die Vermittlung intensiver Gefühle angelegten Charakter und stellen Außergewöhnliches dar, womit sie zur Erfahrung intensiver Zeit führen. In Ritualen und Ritualisierungen überlagern sich mehrere Zeitdimensionen. Zunächst haben Rituale eine bestimmte, durch ihren Anfang und ihr Ende gekennzeichnete »Eigenzeit«. Diese ist eingebettet in eine historische Zeit, etwa am Anfang des 21. Jahrhunderts, in einer bestimmten Kultur, in der spezifische Umgangsformen mit der Zeit herausgebildet worden sind, zu denen z.B. heute die Beschleunigung der Zeit mit Hilfe der Telekommunikation und der neuen Verkehrstechnologien gehört. Sodann greifen Rituale auf Traditionen der Vergangenheit zurück, auf in einer Kultur bestehende rituelle Vor-Bilder für die Gestaltung bestimmter Situationen, Übergänge und Ereignisse. Der mimetische Bezug auf diese sichert die Kontinuität der Gemeinschaft, ermöglicht jedoch auch ihre Weiterentwicklung. Besonders in den Bereichen unserer Gesellschaft, in denen sich der Austausch zwischen Menschen in erster Linie über den Körper und seine zeitlichen Arrangements vollzieht, in denen Schrift und Schriftlichkeit eine untergeordnete Rolle spielen und die eher einem oralen Bereich unserer Kultur angehören, sind Rituale wichtige Formen und Mittel der Erinnerung. Ihr repetitiver Charakter macht deutlich, dass viele soziale Handlungen nicht ein für allemal beendet sind. Ihrem Abschluss folgt eine Wiederholung. Rituale sichern die Abfolge zeitlicher Sequenzen. Jede rituelle Handlung weckt Erinnerungen an bereits gelebte Erfahrungen. Jedes rituelle Geschehen verdichtet das bereits vorhandene rituelle Wissen. Rituelle Handlungen fördern bestimmte Erinnerungen und übergeben andere dem

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Vergessen. Wiederholung wird zum Medium der Einübung praktischen Wissens. Somit spielt im Ritual die zyklische Zeit eine besonders wichtige Rolle. Dies gilt vor allem für die jahreszeitlich bedingten Rituale, doch auch für die Rituale der Intensivierung (Feiern, Liebe, Sexualität), der Rebellion (Friedens- und Ökobewegung, Jugendrituale) und für Interaktionsrituale (Begrüßungen, Verabschiedungen, Konflikte). Es gilt auch für Übergangsrituale (Geburt, Ehe, Tod) und Rituale der Institution bzw. der Amtseinführung (Übernahme neuer Aufgaben und Institutionen). Doch kommen hier auch lineare Zeitelemente hinzu, denn für den Einzelnen handelt es sich häufig um einmalige Rituale. Bei den zyklisch wiederkehrenden Ritualen spielen Biorhythmen wie der Wechsel zwischen Schlaf und Wachsein, Hunger und Gesättigtsein, sexuellem Begehren und seiner Befriedigung eine wichtige Rolle. Viele rituelle Handlungen sind unmittelbar auf diese mit der Körperlichkeit des Menschen gegebenen Rhythmen des Lebens bezogen. Doch auch das Verhältnis der Generationen ist in beträchtlichem Ausmaß rituell organisiert. So wird »Familie« durch Rituale und rituelle Praxen konstituiert, unter anderem auch durch die erwähnten, die Generationen übergreifenden Fest- und weiteren Rituale. Generationenspezifisch lässt sich z.B. Schule als rituelle Veranstaltung begreifen11 und benötigen Jugendgruppen zu ihrer Konstitution Rituale der Gemeinschaft und des Widerstands. Im Vollzug von Ritualen überlagern sich viele Zeitformen. Diese Überschneidung macht die besondere Qualität der Ritualzeit aus. Sie ist verdichtete Zeit und wird häufig intensiver erlebt als die Alltagszeit. Manchmal wird Ritualzeit so intensiv erlebt, dass sie in ihrer Ausdehnung als Zeitraum kaum empfunden wird – wie in Momenten, in denen der ludische Charakter des Rituals stark ist, in denen ekstatische Momente ausgeprägt sind oder in denen Erfahrungen des »Fließens« die rituell Handelnden verbinden und zufrieden oder sogar glücklich machen. Mehr als bei vielen anderen Formen sozialen Handelns wird die rituelle Handlung zum Ausgangspunkt nachhaltiger, die Zukunft des Einzelnen und der Gemeinschaft beeinflussender Wirkungen. In der Zeit des Rituals werden Dispositionen für zukünftiges rituelles Handeln geschaffen. Es entsteht ein praktisches rituelles Wissen, das für die Gestaltung zukünftiger ritueller Situationen erforderlich ist. In rituellen Praxen wird dies vom Einzelnen und von der Gemeinschaft gemeinsam erzeugt. Dadurch entsteht der »modus operandi«, den nicht der Einzelne hervorbringt, sondern dem eine über den Ein-

11 | Vgl. P. McLaren, Schooling as a Ritual Performance. Towards a Political Economy of Educational Symbols and Gestures, London, New York 1993.

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112 | II Performativität zelnen hinausgehende Intentionalität zugrunde liegt. Rituale sind also Gelenkstellen zwischen Vergangenheit und Zukunft; sie gestalten die Übergänge zwischen verschiedenen Zeiten, Lebensphasen und Institutionen. Sie ermöglichen den Zusammenhalt von Gemeinschaften und die Einbeziehung des Einzelnen in sie.

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III Ritual

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5. Rituelle Praxis | 115

5. Rituelle Praxis

In den Sozialwissenschaften entwickelt sich allmählich ein neues Verständnis von Ritualen, das über ihre negative Einschätzung hinausgeht, die seit mehreren Jahrzehnten für die Einstellung zu Ritualen bestimmend war. Man ging davon aus, dass Rituale dazu dienen, die Autonomie der Subjekte zu reduzieren. Rituale wurden als stereotype, nicht authentische Handlungsformen angesehen, die die Entwicklungsmöglichkeiten von Individuen beschränken. Lange wurde nicht wahrgenommen, dass es ohne Rituale und Ritualisierungen kein Soziales und keine Gemeinschaft geben kann. Um nicht länger einem einseitigen Verständnis von Ritualen, Ritualisierungen und rituellen Praxen aufzusitzen, gilt es, sich diese konstruktive Seite von Ritualen ins Bewusstsein zu rufen, die in der Kulturanthropologie schon lange bekannt ist und im Mittelpunkt ihrer Forschungen steht. Kulturanthropologischen Untersuchungen gelang es nachzuweisen, wie zentral Rituale und Ritualisierungen für die Entstehung, Erhaltung und Veränderung von Gemeinschaften sind. Rituale wiederholen szenische Arrangements so, dass sie wiedererkennbar sind. Häufig sind sie die einzig mögliche Darstellungsform von Sachverhalten und Zusammenhängen, die nicht anders als in einem symbolischen Arrangement ausgedrückt und bearbeitet werden können. Rituale bilden ein Bedeutungsgefüge, in dessen Rahmen sich jedes szenische Element, jedes Symbol, jede Geste erst aus dem Gesamtarrangement angemessen erschließen lässt. Rituelle Handlungen stellen weitgehend autonome, von den Sinndeutungen der rituell Handelnden unabhängige Sinneinheiten dar. Im Bewusstsein des konstruktiven und damit relativen Charakters aller Definitionsbemühungen lassen sich folgende Charakteristika von Ritualen festhalten. Rituale haben eine körperliche, szenische, expressive, spontane, symbolische Seite; sie sind regelhaft, nicht-instrumentell, effizient. Sie sind nicht eindeutig; im Allgemeinen verbinden sie in ihrer szenischen Gestal-

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116 | III Ritual tung Heterogenes. Einerseits wiederholen sie szenische Arrangements und mit ihnen traditionelle Ordnungen und Strukturen mit den ihnen inhärenten Machtverhältnissen. Andererseits bilden sie sich neu, sind spontan und artikulieren innovative Kräfte; Widerstandsrituale jugendlicher Subkulturen und Rituale des Lebensstils sind dafür Beispiele. Rituale sind Formen sozialer Praxis. Der Begriff der Ritualisierung verweist auf die je nach Kontext unterschiedlichen Abstufungen ritueller Praxis. Ritualisierungen bezeichnen ein Mehr-oder-weniger-Phänomen, das in einem kontingenten Verhältnis zu Ritualen steht. Mit dem Begriff der »Ritualisierung« bzw. mit den Konzepten »rituelles Verhalten« oder »rituelle Praxis« lassen sich Formen sozialen Handelns beschreiben, die zwar rituelle Elemente wie Formalität, Fixierung und Wiederholung enthalten, die dadurch jedoch nicht zu ausgeformten Ritualen werden. Rituelles Handeln erschöpft sich nicht in der bloßen Anwendung von Gedanken, Konzepten oder Regeln. Eher schon kann es als Aktualisierung dauerhafter Dispositionen durch den Handelnden begriffen werden. Diese sind Ergebnis und Produzent rituellen Handelns. Dispositionen für Rituale werden selbst durch rituelles Handeln erworben, das sie ihrerseits hervorbringen. Die jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen schaffen die Voraussetzungen und den Rahmen für die »Hervorbringung« der Dispositionen. Ihre relative Homogenität sichert den kollektiven Charakter von Ritualen und Ritualisierungen. Der kollektive Charakter ritueller Handlungen ergibt sich daraus, dass zwar jeder einzelne Mensch rituelle Handlungen erzeugt, seine Handlungen aber das Produkt eines »modus operandi« sind, dessen Produzent nicht er selbst ist und den er nicht bewusst beherrscht, sondern dem eine über das subjektive Handeln des Einzelnen hinausweisende Intentionalität zugrunde liegt. So konstituieren Rituale Praxis. Durch ihren performativen Charakter erzeugen sie Gemeinschaft und bilden das Soziale. Die Praxis der Rituale schafft ihre Wirkungen. Doch was bedeutet Praxis? Indem ein Ritual inszeniert und aufgeführt wird, wird eine soziale Praxis geschaffen, die nie einen Anfang und ein Ende hat, und die an einem Ort stattfindet. Ohne diese Praxis gäbe es keine gesellschaftlichen Wirkungen der Rituale. Doch Rituale sind eine soziale Praxis. Die Praxis lässt sich in unterschiedlichen Institutionen, Organisationen, gesellschaftlichen Feldern verorten. So lässt sich eine wissenschaftliche von einer politischen Praxis unterscheiden. Als wissenschaftliche, politische oder erzieherische konstituiert sich Praxis in gesellschaftlichen Feldern, die jeweils durch unterschiedliche Bedingungen charakterisiert sind. Diese Felder stellen die materiellen Voraussetzungen und Bedingungen ritueller Praxen dar. Als solche sind sie historisch und kulturell bestimmt. Sie schaffen den Rahmen, in dem sich rituelle Praxis bildet.

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5. Rituelle Praxis | 117

Die materielle Praxis der Rituale ist eine körperliche Praxis. Als solche ist sie symbolisch kodiert und überdeterminiert. Sie lässt sich nicht einfach auf die Intentionen der rituell Handelnden reduzieren. Rituale sind Inszenierungen, Arrangements und Aufführungen von Körpern. Als Inszenierungen tragen sie zur Gestaltung gesellschaftlicher Felder, Institutionen und Organisationen bei. Wenn die Art und Weise ritueller Praxis durch das Wiederinszenieren gestaltet wird, so bedeutet das auch, dass rituelle Praxis nicht determiniert vorgegeben ist. Vielmehr bestehen Freiräume für die Inszenierung, in der die verschiedenen Elemente eines Rituals in Relation zueinander gesetzt werden. Die Inszenierung ritueller Praxis bedeutet eine Gestaltung der Freiräume, die Entscheidungen erforderlich macht. Diese Freiräume rituellen Handelns ermöglichen eine ludische Gestaltung der Rituale. Rituelle Praxis ist also keine ein für allemal festgelegte Praxis. Der Begriff der Praxis verweist vielmehr auf ein Handlungsfeld, dessen Bedingungen nicht so eingeschränkt sind, dass keine inszenatorische Gestaltung möglich ist. Die ludischen Elemente im rituellen Handeln sind dafür deutliche Zeichen. Doch wie vollzieht sich die Inszenierung von Ritualen? Wer oder was ist die Instanz rituellen Handelns? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, doch kann man davon ausgehen, dass die Inszenierung von Ritualen zu einem erheblichen Teil eine Leistung der Einbildungskraft ist, die Vorstellungsbilder unter Bezug auf vorausgegangene rituelle Erfahrungen präsent macht, sie in Relation zu den im jeweiligen Feld gegebenen Bedingungen, zu den Vorstellungsbildern der anderen im Ritual gemeinsam handelnden Menschen bringt. Die Inszenierung rituellen Handelns vollzieht sich unter Bezug auf Erinnerungen, reale Bedingungen und Handlungsentwürfe; in ihr werden rituelle Szenen imaginär entworfen und in eine Realisierung überführt. Dabei sind Abweichungen von vorhandenen inneren Bildern und Entwürfen im faktischen rituellen Handeln häufig. Dies ist umso mehr der Fall, als die Bedingungen der unterschiedlichen sozialen Felder den Entwürfen Widerstände entgegenbringen, die im rituellen Handeln berücksichtigt werden müssen und aus denen häufig Modifikationen und Veränderungen der Rituale resultieren. So nachhaltig der Einfluss der Inszenierung für die Gestaltung rituellen Handelns ist, so sehr kann sich die Aufführung des Rituals, die rituelle Praxis, noch einmal von der Inszenierung unterscheiden. Das ist vor allem aufgrund der Spontaneität der Handelnden und der ludischen Elemente im rituellen Handeln der Fall. Die rituelle Praxis ist eine kulturelle Aufführung. Sie ist eine Aufführung, die durch das rituelle Arrangement von Körpern ausgemacht wird. In der Aufführung treten sie in eine rituelle Relation zueinander. Das Arrangement der Körper im Ritual vollzieht sich neben der

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118 | III Ritual Sprache, als paralangage (Lévi-Strauss). In der rituellen Praxis entsteht eine Handlungsfolge, die nicht auf die Intentionalität der Handelnden reduziert werden kann, sondern vieldimensional und mehrdeutig ist. Wenn rituelle Praxis als performativ bezeichnet wird, dann spielen drei Dimensionen eine wichtige Rolle. Einmal lassen sich Rituale als kulturelle Aufführungen begreifen. Diese lassen sich als Antworten auf soziale Konstellationen verstehen, in denen Ordnungen etabliert werden müssen, um soziale Kohärenz zu erhalten oder zu erzeugen. Je nach sozialem Feld, je nach Institution oder Organisation unterscheiden sich diese rituellen Aufführungen. Bereits eine Unterscheidung zwischen Konvention, Ritualisierung, Zeremonie, Liturgie, Fest macht deutlich, dass es sich um unterschiedliche rituelle Aufführungen bzw. Praxen handelt, zwischen denen die Grenzen zwar fließend sind, die jedoch unterschiedliche Ordnungsansprüche erfüllen müssen, welche die jeweiligen kulturellen Praxen verändern. Entsprechendes gilt auch für folgende Typen von Ritualen: • • • • • •

Übergangsrituale (Geburt und Kindheit, Initiation und Adoleszenz, Ehe, Tod); Rituale der Institution bzw. Amtseinführung (Übernahme neuer Aufgaben und Positionen); Jahreszeitlich bedingte Rituale (Weihnachten, Geburtstage, Erinnerungstage, Nationalfeiertage); Rituale der Intensivierung (Feiern, Liebe, Sexualität); Rituale der Rebellion (Friedens- und Ökobewegung, Jugendrituale); Interaktionsrituale (Begrüßungen, Verabschiedungen, Konflikte).

Bei diesen Ritualen handelt es sich um unterschiedliche kulturelle Aufführungen, deren jeweilige Bedingungen eine große Variabilität aufweisen, die die Qualität der kulturellen Aufführungen bestimmt. Auch hier gilt, dass die materiellen Voraussetzungen der Rituale erheblichen Einfluss auf ihre Aufführungen haben. Deutlich wird dies z.B. bei rituellen Festen wie Weihnachtsfeiern, Hochzeiten und Taufen. In vielen Fällen hängt der kulturelle Charakter ritueller Aufführungen vom symbolischen Kapital der rituell Handelnden ab. Über welches ökonomische, soziale und kulturelle Kapital verfügen die rituell Handelnden und wie kommt ihr Anteil daran in Ritualen szenisch zum Ausdruck? Zweifellos beeinflusst das symbolische Kapital der rituell Handelnden den Charakter ihrer kulturellen Aufführung. Viele Rituale haben sogar die Aufgabe, diese unterschiedlichen Bedingungen symbolischen Kapitals zum Ausdruck zu bringen. So dienen viele Rituale dazu, unterschiedliche Verfügungsmöglichkeiten über soziales und kulturelles Kapital im Ritual zur Darstellung zu bringen und Differenzen so zu bearbeiten, dass die sozialen bzw. kulturel-

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len Hierarchien akzeptierbar sind. In rituellen Arrangements geschieht dies häufig dadurch, dass sie sich den Anschein geben, als seien sie natürlich und nicht historisch-gesellschaftlich erzeugt und damit veränderbar. Festzuhalten bleibt, dass die kulturelle Praxis vieler Rituale eng mit Fragen der Macht verbunden ist. Verdeckt werden diese Zusammenhänge durch die Magie vieler Rituale, die die an ihnen beteiligten Menschen an ihre Unveränderlichkeit und Angemessenheit glauben lässt und sie in der Illusion der Natürlichkeit festhält. Performativ sind Rituale nicht nur, weil sie kulturelle Aufführungen sind, sondern auch, weil die sie begleitenden sprachlichen Äußerungen Handlungen sind. So sind die bei der Eheschließung formulierten Äußerungen konstitutiv für die Eheschließung. So gesehen umfasst die rituelle Aufführung das szenische Arrangement der Körper und performative Äußerungen, durch die soziale Wirklichkeit erzeugt bzw. verändert wird. Rituelle Praxis ist also ein symbolisch kodiertes, häufig mit sprachlicher Magie begleitetes körperliches Handeln, dessen performativer Charakter Gemeinschaft herstellt. In der rituellen Praxis verstärken sich sprachliches und körperliches Handeln wechselseitig und erzeugen gemeinsam die sozialen Wirkungen rituellen Geschehens. Der performative Charakter ritueller Praxis hat schließlich auch eine ästhetische Komponente. Sie spielt für das Gelingen ritueller Aufführungen eine wichtige Rolle. Die ästhetische Seite ritueller Praxis ergibt sich aus ihrem inszenatorischen Charakter. Sie wurzelt jedoch in letzter Konsequenz in der Körperlichkeit der rituell Handelnden. Diese nehmen einander sinnlich wahr. In der Sinnlichkeit der Wahrnehmung wird die Vieldimensionalität der Arrangements perzipiert, ohne dass sie jedoch ins Bewusstsein gerät. Wahrgenommen wird die Qualität der rituellen Praxis. Dazu gehört die Körperlichkeit der Handelnden, einschließlich ihrer Stimmen und Bewegungen. Zentral sind die in ihrem spezifischen Charakter wahrgenommenen Gesten, die die Einmaligkeit jeder rituellen Aufführung ausmachen. Ästhetisch wahrgenommen werden ferner der Ort des rituellen Geschehens, die zeitliche Sequenzierung der rituellen Handlungen, der Ablauf des Geschehens. Dabei können durchaus Widersprüche zwischen den Intentionen des rituellen Handelns und seiner »Wirklichkeit« entstehen und wahrgenommen werden, sei es, dass es sich um körperlich inszenierte Widerstände handelt, für die im offiziellen Ritual kein Raum ist, oder sei es, dass es sich um Veränderungen handelt, die aus Irritationen und Störungen entstehen. Wegen des auf dem Arrangement von Körpern basierenden »materiellen und inszenatorischen Charakters von Ritualen« kann die ästhetische Seite ritueller Performativität kaum überschätzt werden. Wie nun wird rituelles Wissen gelernt, das Menschen befähigt, sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern, Institutionen und Organisa-

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120 | III Ritual tionen kompetent zu bewegen? Die Inszenierung und Aufführung von Ritualen setzt ein rituelles Wissen voraus. Dieses Wissen ist ein praktisches Wissen. Vergleichbar ist es dem Habitus, der erlernt wird und dann das soziale Handeln steuert (Bourdieu). Wie Dispositionen und Schemata im Prozess der Habitusentwicklung erworben werden, die Menschen dann entsprechend handeln lassen, so werden in rituellen Handlungen auch Schemata, Bilder und Dispositionen erworben, die Menschen dann befähigen, rituell zu handeln. Wie das praktische Wissen des Habitus, so wird auch das praktische Wissen rituellen Handelns in mimetischen Prozessen erworben. Dadurch, dass sich rituell Handelnde auf die Sequenzen eines Rituals beziehen, nehmen sie gleichsam einen »Abdruck« von diesen in ihre Vorstellungswelt auf, den sie – wenn erforderlich – dazu verwenden, das notwendige rituelle Handeln zu inszenieren und aufzuführen. In solchen mimetischen Lernprozessen findet eine »Anähnlichung« an aufgeführte rituelle Handlungen statt; ihre Figurationen werden nachgeschaffen und in die Vorstellungswelt aufgenommen und so verkörpert. Dadurch werden Bilder, Rhythmen, Schemata, Bewegungen inkorporiert, die in veränderten rituellen Kontexten wieder verwendet werden können. In mimetischen Prozessen entsteht so eine rituelle Kompetenz, die in unterschiedlichen Feldern, Institutionen, Organisationen benötigt wird, damit sich das soziale Subjekt angemessen bewegen kann, damit es fähig ist, in rituellen Prozessen Gemeinschaft zu erzeugen und zu kooperieren. Der mimetische Charakter dieser Lernprozesse stellt sicher, dass es sich nicht um die bloße Reproduktion einer Kopie, sondern um die Wiedererzeugung einer rituellen Handlung in einem neuen Kontext, mit anderen Menschen und unter anderen räumlichen und zeitlichen Bedingungen handelt. Dies führt zu einer Wiederholung, zu einer Handlung, in der eine inkorporierte rituelle Figuration »wiedergeholt« wird, um unter veränderten Bedingungen neu aufgeführt zu werden. So gesehen hat rituelle Praxis eine historische Dimension, die in einer Kontinuität steht, die kontingent ist, die also trotz ihres historischen Bezugs für Veränderungen, für verändernde Gestaltungen in der Zukunft offen ist. Dies zeigt der Umgang mit Widerstandsritualen. Bei diesen werden Rituale in einen neuen Kontext gesetzt und entsprechend umgestaltet. Es kommt zu performativer Kreativität, die neue, ihrerseits kontingente soziale Formen und Gemeinschaften schafft. Die »Entdeckung« des performativen Charakters von Ritualen wäre nicht möglich gewesen ohne die seit den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachtende Fokussierung des Körpers in den Humanwissenschaften. Von nun an war klar, dass Rituale und vor allem rituelle Praxis ohne Bezug zur Materialität des menschlichen Körpers nicht angemessen begriffen werden können. So wichtig die kulturellen Symbolisierungen und

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die soziale Kommunikation sind, im Zentrum des rituellen Arrangements steht der Körper mit seinen Gesten und seinen symbolischen Kodierungen. Damit gewann die inter- bzw. transdisziplinäre Orientierung in der Ritualforschung weiter an Bedeutung. Denn die Auseinandersetzung mit dem Körper als Zentrum ritueller Praxis macht deutlich, dass sich die körperliche Seite der Rituale nicht einer einzigen Disziplin erschließt. In theoretischer Hinsicht werden zwei Perspektiven wichtig: einmal der Körper als Objekt, in dem rituelle Praktiken ein praktisches Wissen verankern, und zum anderen der Körper als Subjekt, dessen praktisches Wissen ihn handeln lässt. Dieses Handeln geschieht oft unbewusst und wird lediglich in Konfliktfällen zum Gegenstand der Reflexion und Modifikation.1 Mit Hilfe von Ritualen verkörpern sich gesellschaftliche Institutionen in den Menschen, die in ihnen arbeiten und deren Adressaten die Institutionen sind. Damit sind diese Rituale eingebunden in Kontexte von Macht und Herrschaft. In dieser Perspektive enthalten ihre Arrangements stets auch Inszenierungen und Aufführungen von Machtverhältnissen. Rituelle Praxen regeln Machtfragen, ohne dass dies den Handelnden in jedem Fall bewusst wird. Sie geben sich den Anschein, als könnten ihre Aufführungen gar nicht anders sein, als seien sie »natürlich«. Dadurch verdecken sie ihren historischen und gesellschaftlichen Charakter, der gewährleistet, dass rituelle Handlungen auch verändert oder gar durch andere ersetzt werden können. Indem sich Rituale den Anschein der Natürlichkeit und der »Unschuld« geben, spielen sie eine zentrale Rolle im Gefüge der Macht, die sie so inszenieren, dass ihre Strukturen für die Beteiligten oft nicht greifbar werden. Rituelle Praxen erfüllen nur dann ihre gesellschaftliche Aufgabe, wenn alle an ihnen beteiligten Personen an ihre Angemessenheit glauben. Nicht selten ist es dieser Glaube, der die Magie ritueller Praxen erzeugt, die wiederum zur Verstärkung des Glaubens an die Rechtmäßigkeit der rituellen Handlung führt (Bourdieu). Die im Glauben an das Ritual wurzelnde Möglichkeit der Differenzbearbeitung ist ein wichtiges Merkmal ritueller Praxis. So werden in der Praxis von Ritualen Differenzen zwischen unterschiedlichen Lebensformen und –konzepten so bearbeitet, dass die in diesen Unterschieden liegenden Gewaltpotentiale nicht zum Ausdruck kommen. Vielmehr schaffen die rituellen Praxen über diese Differenzen hinweg, die sie szenisch zum Ausdruck bringen und bearbeiten, durch die Praxis des Rituals eine Gemeinschaft. Die rituelle Praxis ermöglicht diese Herstellung von Gemeinschaft trotz unterschiedlicher Deutungen der rituellen Prozesse. Es ist also der praktische Vollzug des Rituals, seine Inszenierung und körperliche Aufführung einschließlich ihrer symbolischen Elemente, 1 | Vgl. C. Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, New York, Oxford 1992.

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122 | III Ritual der die Gemeinschaft erzeugt. Dies gilt für eine Vielzahl von Ritualen, deren Spektrum von liturgischen Ritualen über Zeremonien und rituelle Feste bis zu Alltagsritualen reicht. Die Inszenierung und Aufführung ist nur möglich, wenn es ein praktisches rituelles Wissen bei den Teilnehmern von Ritualen gibt. Rituelles Wissen wird dadurch erworben, dass sich in Ritualen engagierte Menschen bei ihrem Tun auf frühere Rituale beziehen, an denen sie oder Mitglieder ihrer Gruppe teilgenommen haben. In dieser Bezugnahme geht es häufig darum, die rituelle Handlung so aufzuführen, wie sie früher vollzogen worden ist und dadurch die Kontinuität des Sozialen herzustellen. Einerseits besteht der Wunsch, die rituelle Praxis früheren Praktiken ähnlich zu machen; andererseits leben rituelle Handlungen davon, dass sie früher bereits vollzogene Rituale noch einmal inszenieren und aufführen und damit den veränderten Bedingungen anpassen und variieren. Dieses praktische Wissen besteht aus einem Know-how, wie Rituale zu inszenieren und aufzuführen sind. Es umfasst zahlreiche Bilder, Körperbewegungen und Schemata, die in mimetischen Prozessen erworben werden. Voraussetzung für den mimetischen Erwerb rituellen Wissens ist das Verlangen, sich dem anderen ähnlich zu machen und dadurch eine Gemeinsamkeit mit ihm herzustellen. René Girard hat in diesem Zusammenhang von einem mimetischen Begehren gesprochen, das dazu führt, dass Menschen eine Beziehung zu anderen herstellen und dann bestrebt sind, wie diese werden zu wollen, sich ihnen ähnlich zu machen. Dieser Wunsch der Herstellung einer Ähnlichkeit führt dazu, dass sich der Einzelne auf den Anderen hin entwirft und alles tut, was dazu führt, ihm ähnlich zu werden. Dieser Prozess einer mimetischen Anähnlichung führt zur Herausbildung bestimmter Habitusformen. Nachdem diese inkorporiert worden sind, bestimmen sie das zukünftige Verhalten der Individuen. Sie strukturieren die zukünftigen Erfahrungen der Individuen, indem sie bestimmte Erfahrungen zulassen oder gar ermöglichen, andere hingegen verhindern. Bourdieu hat darauf verwiesen, dass der Erwerb von Habitusformen eng mit Fragen der Macht und der sozialen Hierarchisierung verbunden ist.2 Über den Erwerb von Habitusformen findet eine Einordnung in soziale Räume statt, die durch gesellschaftliche Machtverhältnisse strukturiert sind. In diese fügt sich der Einzelne mit Hilfe der von ihm erworbenen Habitusformen ein. Mit Hilfe ihrer Differenzierung nach dem Prinzip der »feinen Unterschiede« erfolgt eine weitere Differenzierung im Hinblick auf die dem Sozialverhalten inhärenten Machtverhältnisse. 2 | Vgl. P. Bourdieu, Sozialer Sinn, Frankfurt/Main 1987; ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 1987.

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Was Bourdieu für die Ausbildung von Habitusformen und für die Differenzierung der Gesellschaft nach dem Prinzip der »feinen Unterschiede« gezeigt hat, gilt auch für die Praxis von Ritualen. Sie vollzieht sich stets in einem historisch-kulturellen Raum, in dem sie zur Einschließung und Ausschließung von Menschen, zur Bearbeitung von Differenzen zwischen ihnen, zur Kanalisierung von Gewaltpotentialen und zur Hierarchisierung der Sozialbeziehungen beiträgt. Insofern rituelle Praxis stets auf vorausgegangene Praktiken bezogen ist, trägt sie dazu bei, bestimmte in die Rituale eingegangene gesellschaftliche Praktiken durch die Wiederholung »lebendig zu machen«. Dieser Prozess der iterativen Aufführung bekannter Praktiken führt dazu, diese Rituale veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen und sie entsprechend zu modifizieren. Das kann so weit führen, dass neue Rituale geschaffen werden, mit deren Hilfe Widerstand ausgeübt wird und ohne deren Hilfe z.B. Institutionen nicht reformiert werden könnten. Jugendrituale oder Rituale der Friedensbewegung, in denen Menschen eine Lichterkette aus zehntausenden von Kerzen oder eine »Kette« aus sehr vielen Menschen bilden, sind ein Beispiel für Widerstandsrituale, mit deren Hilfe sich neue Gruppen bilden und ihre Auffassungen artikulieren. Der dynamische Charakter ritueller Praxis reicht aber noch weiter. Nicht nur führt er zur Bildung neuer Rituale, er bewirkt auch, dass neue rituelle Praxen entstehen, in und mit denen Institutionen reformiert werden. In historischer Perspektive können die mit dem Protestantismus entstehenden Rituale neuer Religiosität als Beispiele für den Veränderungen schaffenden Charakter von Ritualen angesehen werden.3 Andere Beispiele für neuere Ritualpraktiken haben Arbeiten zur Organisationstheorie geliefert, an denen sich zeigen lässt, dass rituelle Praktiken häufig eine ihre Formen und Bedingungen transzendierende Dynamik entfalten. Zum Teil lässt sich der dynamische Charakter ritueller Handlungen daraus erklären, dass das für ihre Inszenierung erforderliche rituelle Wissen ein praktisches Wissen ist. Als solches unterliegt es in geringerem Maße als analytisches Wissen rationaler Kontrolle. Dies ist umso mehr der Fall, als praktisches rituelles Wissen kein reflexives, seiner selbst bewusstes Wissen ist. Dazu wird es erst im Zusammenhang mit Konflikten und Krisen, in denen eine Begründung für die rituelle Praxis erforderlich ist. Wird die rituelle Praxis nicht in Frage gestellt, bleibt das praktische Wissen gleichsam »halb bewusst«. Als solches umfasst es wie das Habitus-Wissen Bilder, Schemata, Handlungsformen, die für die szenische körperliche Aufführung von Ritualen Verwendung finden, ohne dass sie auf ihre Angemessenheit 3 | Vgl. das folgende Kap. 6, »Ritual und Religion«, sowie H.-G. Soeffner, Die Ordnung der Rituale.

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124 | III Ritual hin reflektiert werden. Sie werden einfach gewusst und für die Inszenierung ritueller Praxis eingesetzt. Praktisches rituelles Wissen wird in erster Linie in mimetischen Prozessen gelernt, also durch die Teilnahme an rituellen Praktiken, sei es als Zuschauer oder als Handelnde. Wenn von mimetischen Prozessen die Rede ist, dann handelt es sich um solche, bei denen eine »Ausweitung« der beteiligten Personen auf die mimetische Handlung hin erfolgt. Vom Begehren angeregt, dazu gehören zu wollen, erfolgt eine Bezugnahme der Individuen auf die rituellen Praktiken, die dazu führt, dass eine Appropriation der rituellen Praxis erfolgt. Diese ist an die Körperlichkeit der rituellen Handlungen, ihren performativen Charakter und an die sinnliche Präsenz der Zuschauer gebunden. Mimetische Prozesse sind also vor allem körperlichsinnliche Prozesse, in denen eine Anähnlichung an die rituellen Praktiken erfolgt. Der Grund dafür kann in dem Versuch liegen, durch eine Anähnlichung an die rituelle Praxis eine Ausgrenzung aus der Gemeinschaft zu vermeiden und stattdessen zu ihr zu gehören. Dabei kann es auch darum gehen, ansonsten entstehende Gefahren der Fremdheit und Bedrohlichkeit anzuwehren.

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6. Ritual und Religion | 125

6. Ritual und Religion

Wenn der Zusammenhang zwischen Religion und Ritual thematisiert wird, ist man mit einer Reihe von Fragen, Problemen und Schwierigkeiten konfrontiert: Lässt sich von Religion sprechen, ohne etwas explizit oder implizit über die Existenz Gottes zu sagen? Kann man überhaupt in einem wissenschaftlichen Diskurs über Gott reden? Ist nicht Gott der Andere, der uns zwar sprechen lässt, der aber nicht zum Gegenstand von Sprache gemacht werden kann? Ist nicht Gott jenseits der Vernunft, der Sprache, der Imagination und daher unbegreifbar?1 Wenn die entscheidende religiöse Erfahrung nicht dem Denken, sondern nur dem Glauben zugänglich ist, was lässt sich dann im Rahmen eines wissenschaftlichen Diskurses über Gott, Religion, Glaube sagen, ohne dass dadurch nicht zugleich das Besondere der religiösen Erfahrung verfehlt wird, welches gerade darin besteht, im Glauben an Gott die Grenzen der conditio humana zu erfahren?2 Im Bewusstsein dieser nur dem Glauben zugänglichen Seite Gottes lassen sich aber Bereiche der Religion identifizieren, in denen eine wissenschaftliche Bearbeitung möglich ist.3 Das Verhältnis zwischen Religion und Ritual bildet einen Grenzbereich, der teilweise dem wissenschaftlichen Diskurs zugänglich ist und teilweise sich ihm entzieht. Seit ihren Anfängen hat der Zusammenhang zwischen Religion und Ritual die Religionsphänomenologie beschäftigt.4 Dabei wird kontrovers diskutiert, inwieweit die Inszenierung von Ritualen die religiöse Erfahrung und den Glauben erzeugt bzw. 1 | Vgl. J. Derrida/G. Vattimo (Hg.), Die Religionen, Frankfurt/Main 2001. 2 | Vgl. Ch. Wulf, Vom Menschen. 3 | Vgl. N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/Main 2000. 4 | Vgl. A. Michaels/D. Pezzoli-Olgiati/F. Stolz (Hg.), Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie? Studia Religiosa Helvetica, Jahrbuch Bd. 6/7, Bern, Berlin, Brüssel 2001.

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126 | III Ritual inwieweit der Glaube dazu führt, bestimmte Rituale zu schaffen und aufzuführen. Die so geschaffene Alternative zwischen beiden Positionen greift zu kurz; stattdessen muss man davon ausgehen, dass die Aufführung von Ritualen religiöse Erfahrungen erzeugt, zugleich aber Rituale ihnen zugrunde liegende religiöse Erfahrungen zum Ausdruck bringen und repräsentieren. Je nach Kultur und historischer Zeit ist das Verhältnis zwischen Religion und Ritualen unterschiedlich. Dies gilt bereits für die verschiedenen Kulturen Europas, noch mehr jedoch für außereuropäische Kulturen. Im Weiteren gilt es zu skizzieren, wie sich seit dem Mittelalter das Verhältnis zwischen Religion und Ritual im deutschen Kulturraum entwickelt hat. Dabei sollen mentalitätsgeschichtliche Veränderungen im Verhältnis von Religion und Ritual identifiziert werden. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Annahme, dass der Bedeutungsverlust der Religion in der Gegenwart mit Veränderungen in der Inszenierung und Aufführung von Ritualen und rituellen Strukturen einher geht, ohne dass damit behauptet wird, das Verhältnis von Religion und Ritual lasse sich kausal oder funktional hinreichend erklären. Dieser Bedeutungsverlust der Religion zeigt sich vor allem in Veränderungen in den religiösen Institutionen: in leeren Kirchen, in zahlreichen Kirchenaustritten und in Problemen der Rekrutierung von Pfarrern und Priestern. Weniger davon betroffen ist der politische Einfluss der Kirchen. Ob jedoch der Bedeutungsverlust des kirchlich-religiösen Lebens bei einer wachsenden Zahl von Menschen auch zu einem Schwinden religiöser Fragen und zu einem Verschwinden von Religiosität bei den einzelnen Menschen führt, ist eher zweifelhaft. So, wie Max Webers These von der Entzauberung der Welt in Folge der Entwicklung neuzeitlicher Rationalität einerseits zwar richtig ist, jedoch der Komplettierung durch eine Gegenthese und entsprechende Forschungen bedarf, in denen die neuen Formen der Verzauberung der Welt und die Bedeutung des Heiligen für die Gegenwart untersucht werden,5 so bedarf es auch einer Untersuchung der neuen religiösen Phänomene, die sich außerhalb des Christentums und der Kirchen ausbreiten und in mancher Hinsicht an die Stelle früher ausschließlich im Christentum und in den christlichen Kirchen verankerter religiöser Erscheinungen treten. Während langer Zeit waren es das Christentum und die christlichen Kirchen, die in Europa das Monopol hatten, Antworten zu geben auf die großen Fragen nach der Entstehung und dem Vergehen der Welt und der Menschen sowie nach den Formen und Normen des menschlichen Lebens. So lag der Ursprung der Welt und des Menschen in Gott. Auch auf die Frage, was nach dem Tode mit dem Menschen geschähe, wusste das Christen5 | Vgl. D. Kamper/Ch. Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt/Main 1997.

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tum Antwort. Gelang ein gottgefälliges Leben, so war das »ewige« Leben der Lohn. Religion und Kirche versprachen Erlösung von Leid, Schmerz und Vergänglichkeit. Sie boten eine Erklärung der kosmischen Ordnung und gaben den Menschen in dieser ihren Ort. Sie versprachen die Überwindung des Todes und einen Ausgleich für die in diesem Leben erlittenen Ungerechtigkeiten im Jenseits. Christentum und Kirche besetzten das Imaginäre der Menschen, nicht nur mit Geboten und Verboten, sondern auch mit Erzählungen vom Guten und Bösen, mit Bildern vom gelingenden Leben, von Hölle und Paradies, von Erlösung und Glück. Das Christentum war für die Menschen in Europa der große Produzent von Sinn, Geborgenheit und erfülltem Leben. Dazu hatte es viele Riten, Erzählungen und Ausdrucksformen entwickelt. Mit der Aufführung in kirchlichen und häuslichen Zeremonien entstand eine von den christlichen Werten, Normen und Leitbildern durchformte Lebenspraxis, in deren Rahmen die Menschen wussten, was sie zu tun, zu reden und zu glauben hatten. Für die Erzeugung dieses praktischen im Christentum verankerten religiösen Wissens spielen in der überwiegend oralen Kultur des Mittelalters Rituale und rituelle Handlungen eine wichtige Rolle.6 In ihnen werden die großen Ereignisse und Geschehnisse des Christentums inszeniert, aufgeführt und dadurch sichtbar gemacht. Doch werden diese nicht nur den Menschen vor Augen geführt und so als Ergänzung religiöser Texte, Lieder und Gebete verwendet, sondern in Ritualen werden die Menschen als Zuschauer oder als unmittelbar Handelnde beteiligt. Dadurch werden zentrale religiöse Ereignisse nicht nur wahrnehmbar; in den entsprechenden Aufführungen werden sie auch performativ. Durch die kontinuierliche Wiederholung dieser realen und imaginären religiösen Handlungen schreiben sich diese in mimetischen Prozessen in die Vorstellungswelt und in die Körper der beteiligten Menschen ein und erziehen bzw. bilden diese. In der kontinuierlichen Wiederholung dieser Rituale entsteht ein praktisches, alle Lebensbereiche durchziehendes christliches Wissen, das ihr alltägliches Handeln und Verhalten formt. Wegen der zentralen Rolle, die das Christentum in allen Lebensbereichen spielt, strukturieren die christlichen Rituale auch den Tages-, Wochen-, Monats- und Jahresablauf des Lebensalltags. Die in dieser Weise präsenten religiös-rituellen Handlungen brauchen nicht legitimiert zu werden. Sie sind einfach da und »überzeugen« in ihrer scheinbaren Natürlichkeit. Unbefragt schaffen sie Ordnung, Gemeinschaft und Sinn. Die das Alltagsleben normierende Präsenz, Sichtbarkeit und Performativität der christlichen Rituale führt zu einem Zwang zum Ritual. Ein Leben in Abweichung von ihnen ist unmöglich. Exklusion und Verfolgung wären die Konsequenz. Die Geschichte der Häretiker, der Katharer etwa, die 6 | Vgl. E. Muir (Hg.), Ritual in Early Modern Europe, Cambridge 1997.

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128 | III Ritual Berichte der Inquisition, des »Hexenhammers« oder Zeugnisse aus dem Kontext der Beichte machen dies deutlich. Religion und christliche Kirche erlauben kein Außerhalb ihrer Weltdeutung. Wer nicht dazu gehört, gerät in Gefahr, als Sündenbock zum Opfer religiöser und sozialer Gewalt zu werden. Zu Sündenböcken werden Abweichler; sie dienen als Projektionsfläche für die der Religion und der Gesellschaft inhärente Gewalt. Zum Sündenbock und zum Gewaltopfer wird man dadurch, dass man nicht an den die christliche Gemeinschaft erzeugenden, bestätigenden und erhaltenden Ritualen teilnimmt. Durch die Nichtbeteiligung am performativen Vollzug christlicher Rituale und Ritualisierungen wird sichtbar, dass jemand nicht dazu gehört; in der Folge verliert er den Schutz der Gemeinschaft und dient dieser dazu, sich gegen ihn noch enger zusammenzuschließen. In Gesellschaften, in denen Religion und Kirche ein zentrale Stellung für die Prozesse kultureller Sinndeutung haben, schaffen die dafür relevanten Rituale ein hohes Maß an Sichtbarkeit und Performativität. Mit der Reformation ändert sich das Verhältnis zwischen Religion und Ritual grundsätzlich. Dies geschieht in Folge des Übergangs von einem eher kollektiv organisierten zu einem auf das Individuum zentrierten Glauben. Der Weg zu Gott führt nicht mehr über Kirche, Tradition und Vermittlung des Priesters; stattdessen umfasst er die eigene Lektüre und Interpretation der Bibel und mit ihrer Hilfe die Selbstthematisierung, Selbstbeobachtung und Selbsterforschung des Individuums. Einsicht in die mit der Erbsünde verbundene menschliche Schuld und Unvollkommenheit sind das Ziel; nur auf dieser Basis entsteht der Glaube; und nur durch den Glauben, sola fide, ist die Erlösung möglich. Mit dieser neuen Akzentuierung der Christentums im Protestantismus rücken der Einzelne und sein Weg zu Gott ins Zentrum der Religion. »Luther zerstört nicht nur den Cordon sanitaire, den die Kirche zwischen Gläubigen und Gott eingerichtet hat, er löst auch ein bisher gültiges Orientierungssystem auf: wo bisher die Kirche ihre Gläubigen beobachtet und beraten hat, muss nun der einzelne sich selbst beobachten und Rat bei ›seinem‹ Gott suchen.«7 Mit dieser Orientierung nach innen wird es für den protestantischen Christen wichtig, nicht nur die Werke und Produkte der Menschen, sondern auch und vielmehr die ihnen zugrunde liegenden Motive und Gesinnungen zu sehen. Nicht die menschlichen Handlungen, sondern ihre Hintergründe werden wichtig. Gott sieht und bewertet nicht nur die Taten, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Gesinnungen. Mit dieser Wendung des protestantischen Christentums zum Individuum und zu seiner Innenwelt ändert sich auch das Verhältnis zwischen Religion und Ritual. Zwar wirken viele überkommene kollektive Rituale auf 7 | H.-G. Soeffner, Die Ordnung der Rituale, S. 45.

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die Erzeugung und Erhaltung des Glaubens weiter. So werden nach wie vor die mit den großen christlichen Feiertagen verbundenen Rituale vollzogen. Die Inszenierung und Aufführung des Tauf- und Abendmahlrituals entfaltet ebenfalls dessen gemeinschaftsbildende Wirkungen. Doch entstehen zugleich auch neue rituelle Formen, in denen sich der Glaube an Gott artikuliert und manifestiert. So bilden sich stärker auf das einzelne Individuum zentrierte Rituale heraus. Es sind Rituale, die sich wie Tagebuchaufzeichnungen, Bekenntnisschreiben, Briefe usw. der Schrift bedienen und damit neue Formen des Selbst- und Gottesbezugs sowie der Bildung erzeugen. Die sich in enger Verbindung mit dem Protestantismus entwickelnden Rituale der Literalität tragen wesentlich bei zur Entwicklung der modernen Rationalität, des historischen Bewusstseins und zur Entwicklung zielgerichteten, planvollen Handelns. Sie werden zu neuen Techniken der Erziehung und Bildung. Mehr denn je gewinnen diese nach innen gerichteten Prozesse der Selbstbildung an Bedeutung; dementsprechend sind auch diese rituellen Techniken nach innen orientiert und schaffen neue Formen des Selbst- und Gottesbezugs. So ist z.B. das rituelle Schreiben eines auf die Erfahrungen mit Gott zentrierten Tagebuchs zwar eine individuelle Tätigkeit. Doch wird diese zum Beispiel im Pietismus mit vielen anderen Menschen geteilt. Obwohl die rituelle Handlung des Schreibens eines religiösen Tagebuchs individuell vollzogen wird, entsteht gleichzeitig eine rituelle Gemeinschaft derer, die sich in diesem Ritual Rechenschaft über ihre religiösen Erfahrungen geben. Es entsteht eine imaginäre Gemeinschaft, in deren Rahmen sich jeder mit anderen verbunden weiß. Diese Gemeinschaft ist nicht an die unmittelbare körperliche Präsenz gebunden. Sie ist vielmehr eine von dieser abstrahierende imaginäre Gemeinschaft, die sich in der gemeinsamen Zielsetzung und Tätigkeit vereinzelter Individuen erzeugt. Diese Formen imaginärer kollektiver Erfahrung vereinzelter Individuen kündigen neue subjektzentrierte Bildungs- und Habitusmodelle an, die seit der Reformation immer mehr an Bedeutung gewinnen. Ihnen gemeinsam ist ihr biographischer Bezug sowie das hohe Maß an Selbstbeobachtung und Reflexivität. In diesen Ritualen verbinden sich Gottes- und Selbstsuche in unauflöslicher Form. Diese Suche ist umso quälender, als sie ihr Ziel nicht erreichen kann. Der Mensch kann sich Gottes nicht vergewissern; es ist Gott, der sich seiner annimmt; von ihm gehen Gnade und Erlösung aus; beide lassen sich nicht durch menschliche Handlungen gewinnen. Diesen bleibt das Diesseits vorbehalten. Die Suche nach Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung nimmt eine Mittlerposition zwischen beiden ein. Am Beispiel der Religionskonzeption des Briefes von Goethes Pastor aus dem Jahre 1772 lässt sich zeigen, dass es in der Aufklärung zu einer Umdeutung religiöser Schemata zum modernen Individualitätskonzept kommt. Diese Transformation ist bereits in der protestantischen Lehre von

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130 | III Ritual den zwei Reichen angelegt, nach der es dem Menschen auf der Erde obliegt, das Leben nach seinen Möglichkeiten zu gestalten. Im Diesseits kann er zwar bereits durch seinen Glauben in das Reich Christi eintreten, Erlösung kann er aber erst durch die Gnade Gottes im Jenseits finden. Die im Zusammenhang mit der Frage Luthers, »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?«, auf die Selbsterforschung gerichteten Energien und die in diesem Prozess neu entstehenden Kompetenzen tragen zur Entwicklung des differenzierten modernen Individuums bei. Für Goethe vollzieht sich die Vereinigung mit dem Göttlichen daher nicht mehr durch die vom diesseitigen Körper losgelöste Seele, sondern durch die »durch den Körper gestimmte Seele […] Das Göttliche [wird] stets mit Hilfe der Sinne und durch sinnliche Zeichen erfasst […] An die Stelle der Bedingungsfaktoren des ›irdischen Elends‹, ›Welt‹ und ›Fleisch‹, die die Seele ihrem Schöpfer und damit sich selbst notwendig entfremden, tritt nun die Gesellschaft […] Das in der religiösen Tradition vorgegebene Ziel allen Strebens, das jenseitige Heil, wird umgedeutet zur Verwirklichung der individuellen Natur im Diesseits. Nach wie vor konstituiert sich damit Individualität als Abweichung von allgemeinen Regeln und Forderungen. Aber die Bewertungsvorzeichen haben sich umgekehrt. Die allgemeinen Regeln und Forderungen haben ihre Verbindung mit dem Göttlichen gelöst und bezeichnen nunmehr das Soziale, das per se als wahrheitsfern gilt. Das Individuelle konstituiert sich als Abweichung davon, als göttlich.«8 Diese Entwicklung hat weitreichende Folgen. Es kommt zu einer Ausdifferenzierung des Sozialen und zu einer Sakralisierung des Individuums. Damit verschiebt sich zumindest im Protestantismus der Fokus der religiösen Praxis von der kirchlichen Gemeinde zum Individuum. Dessen Vervollkommnung wird zum Programm der Aufklärung. Selbstentfaltung und Selbstkonstitution, Bildung und Selbstbildung werden zu den zentralen Aufgaben des Individuums. Mit der Zentrierung der Erziehungsaktivitäten auf das Individuum tritt die im Christentum immer wieder ins Bewusstsein gerufene Unverbesserlichkeit in den Hintergrund. Die Vervollkommnung des Unverbesserlichen wird zum Ziel von Erziehung und Bildung.9 Was diesem Ziel entgegen steht, gilt es zu überwinden. An die zentrale Stelle religiöser Rituale treten die Rituale und Ritualisierungen von Erziehung und Bildung. Das menschliche Heil ist nicht mehr eine Angelegenheit Gottes, sondern 8 | M. Willems/H. Willems, »Religion und Identität. Zum Wandel semantischer Strukturen der Selbstthematisierung im Modernisierungsprozeß«, in: A. Honer/R. Kurt/J. Reichertz (Hg.), Diesseits-Religion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz 1999, S. 325-350, hier S. 337f. 9 | Vgl. Ch. Wulf, Anthropologie der Erziehung; D. Kamper/Ch. Wulf, Anthropologie nach dem Tode des Menschen.

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eine Aufgabe von Erziehung und Bildung. Mit ihrer Hilfe soll der Einzelne perfektioniert werden. Dementsprechend werden die Rituale und Ritualisierungen dieses Bereichs besonders wichtig. Die Einführung und Realisierung der allgemeinen Schulpflicht ist dabei ein wichtiger Schritt. Als rituelle Veranstaltung arbeitet die Institution Schule an dieser auf das Diesseits bezogenen Verbesserung der Menschen. Mit der Übernahme der Schulaufsicht durch den Staat erfolgt die Fokussierung von Bildung und Erziehung auf die diesseitige Welt. Während Religion zunehmend zu einer Angelegenheit des Individuums, zu seiner Privatsache wird, werden Schule und Bildung dagegen zu einer öffentlichen Angelegenheit, die ihren Ausdruck und ihre Darstellung in entsprechenden Ritualen und Ritualisierungen findet.10 In der Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts wird diese Transformation vollzogen. Ging es zunächst um die Begrenzung des Einflusses der Kirche, so wurden nun die Grenzen der Macht des Staates im Hinblick auf die Erziehung des Individuums zum Thema. Bestimmungen des Individuums von außen, die ihm nur geringe Möglichkeiten zur Selbstbestimmung lassen, verstoßen gegen die unbestimmte Bildsamkeit jedes Einzelnen, deren kreative Ausgestaltung dem Individuum obliegt. Der Zweck des menschlichen Lebens wird in der »höchste[n] proportionierte[n] Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen« gesehen. »Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus.«11 »Höchste Bildung« bedeutet nicht eine hohe allgemeinverbindliche Bildungsnorm, die es im Individuum zu verankern gilt. Ebenso wenig bedeutet »proportionierte Bildung« allgemein verbindliche Proportionen von Bildungsinhalten. Vielmehr gilt es dem Individuum die Freiheit einzuräumen, seinen Bildungsprozess selbst zu bestimmen und die Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit seiner Bildungsprozesse zu fördern. Dazu bedarf die innere Natur des Menschen eines Außen. Menschliches Denken und Handeln kann sich nur mit Hilfe der Bearbeitung eines »Nicht-Menschen, d.i. der Welt« gestalten. Nur durch die Arbeit an einem Außen kann die mit der energetischen menschlichen Struktur gegebene Unruhe befriedigt werden und eine »innere Verbesserung und Veredlung« erfolgen. Bildung heißt

10 | Vgl. Ch. Wulf u.a., Das Soziale als Ritual. 11 | W. von Humboldt, Werke in fünf Bänden, hg. v. A. Flitner/K. Giel, Bd. I, Darmstadt 1960, S. 64.

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132 | III Ritual »Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung«.12 Ging es früher um eine Verbindung zu Gott, so ist nun die Verknüpfung des Ichs mit der Welt in einer freien und regen Wechselwirkung die Aufgabe. War es einst die »imitatio Christi«, so sind es nun die mimetische Aneignung der Welt und das mimetische Verhältnis zu sich selbst, die Selbstmimesis, die für die Konstituierung von Erziehungs- und Bildungsprozessen eine zentrale Rolle spielen. Mit Hilfe mimetischer Prozesse findet eine Ausweitung des Individuums in die Außenwelt hinein und eine Anähnlichung an diese statt.13 Diese Anähnlichung an Welten außerhalb des Individuums führt zur Gestaltung der nach außen gerichteten, für das menschliche Leben charakteristischen Energien. In Humboldts Verständnis ist die Gestaltung des Außen zugleich eine Gestaltung des Innen. Insofern Bildung nicht auf Herrschaft, sondern auf die Formung der Kräfte des Individuums in einer Begegnung mit äußeren Welten zielt, ist sie mimetisch. In der Anähnlichung an äußere Welten führen mimetische Prozesse zur Aneignung des Fremden. Dadurch wird Außenwelt zur Innenwelt. Es erfolgt eine Überführung der Außenwelt in Bilder und deren Aufnahme in die innere Bilderwelt des Individuums. Mittels dieser mimetischen Verknüpfung erschließt sich das Individuum die Welt und wird gleichzeitig durch sie erschlossen. Die Anähnlichung von Geist und Welt bewirkt die Bildung des Individuums. Diese auf das Individuum zentrierten, im Diesseits verankerten Bildungsprozesse sind prinzipiell unabgeschlossen und zukunftsoffen. Einen weiteren Schritt zur Selbstermächtigung des Individuums und zu dem darin impliziten Glauben an sich selbst und seine Möglichkeiten führt die schon von Humboldt gesehene Notwendigkeit der Selbstmimesis. Ohne auf sich selbst gerichtete mimetische Prozesse ist die Selbstbildung und Selbstreflexion des Individuums nicht möglich. Nur mit ihrer Hilfe ist eine »höhere Vollkommenheit« des Selbst erreichbar.14 Mit der Wendung zur diesseitigen Welt und zum Individuum geht eine Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Sektoren, Institutionen und Organisationen einher. In diesen Prozessen verändern sich Religion und Rituale. Mit der Diesseitswendung der Religion verringert sich der sakrale Charakter der Rituale. Viele von ihnen haben keinen universellen Geltungsanspruch und werden stärker bereichs- und sektorenspezifisch. Das gilt auch für ihren Inszenierungs- und Aufführungscharakter sowie für ihre Performativität.15 12 | Ebd., S. 235. 13 | Vgl. G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimesis; dies., Spiel, Ritual, Geste. 14 | Vgl. Ch. Wulf, Anthropologie der Erziehung. 15 | Vgl. H. Willems/M. Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft, Opladen 1998; Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas, Grundlagen des Performativen.

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Als Inszenierungen des Sozialen gewinnen Rituale an Bedeutung. Ihre performative Qualität erzeugt Gemeinschaften, die nicht mehr in der Religion wurzeln. Nietzsches Hinweis auf den Tod Gottes bringt die neue Situation einer »Gesellschaft ohne Baldachin« auf den Begriff.16 Ausweitung und Pluralisierung von Wirtschaft, Politik, Recht und Verwaltung machen eine Zunahme der Individualisierung erforderlich. Mit der Diversifikation der Lebensbereiche wächst deren Komplexität und damit der Anspruch auf Bildung und Kompetenz der Individuen. So tragen einerseits Industrialisierung und Globalisierung zur Entwicklung der Individuen bei; andererseits machen Bildung und Entwicklung der Individuen erst Industrialisierung und Globalisierung möglich. Die Individualisierung des Glaubens führt zum Glauben an die Individualisierung. Bezogen auf Gesellschaft und Individuum verschiebt sich damit die Entwicklungsdynamik ins Diesseits. Nicht erst im Jenseits soll ein Leben unter paradiesischen Bedingungen geführt werden; vielmehr soll es nach Möglichkeit bereits im Diesseits realisiert werden. Es scheint zu einem Rückgang von Transzendenzerfahrungen zu kommen; beobachtbar werden stattdessen neue Formen der Weltfrömmigkeit (Plessner). Zu ihnen gehört die Heiligung des Subjekts17 und mit ihr das wachsende Interesse an Therapien18. Die Sakralisierung des Individuums führt dazu, dass von ihm erwartet wird, was früher von Gott erhofft wurde. Während einst Religion und Kirche die Aufgabe hatten, die Lebensund Sinnfragen der Menschen aufzugreifen und zu behandeln, teilt heute die Kirche mit vielen anderen Institutionen diese Aufgabe. Dazu gehören die ausdifferenzierten Bildungsinstitutionen, die Organisationen der Therapie und Beratung, aber auch Literatur und Kunst sowie die ubiquitären Neuen Medien. Diese Institutionen und Organisationen liefern Beiträge zur Klärung der Stellung des Menschen in der Welt, zu Fragen der Liebe, des Glücks, des Leids und des Todes. Sie vermitteln Orientierungshilfen und Normierungen für Gefühle, Einstellungen und Handlungen. Mit neuen Techniken vermitteln sie andere Welt- und Menschenbilder. Fast allen ist jedoch gemeinsam ihre Zentrierung auf das Individuum und ihr Anspruch, diesem bei der Bewältigung seiner Probleme in Beruf und Familie zu helfen. Selbst in den Institutionen und Organisationen, in denen über das 16 | Vgl. H.-G. Soeffner, Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist 2000. 17 | Vgl. K. Wünsche, »Wittgensteins Selbstheiligungsoperationen«, in: D. Kamper/Ch. Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt/Main 1997, S. 292-307. 18 | Vgl. M. Sonntag, Die Seele als Politikum. Psychologie und die Produktion des Individuums, Berlin 1988.

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134 | III Ritual Diesseits hinaus drängende Fragen nicht abgewehrt werden, wird die fehlende Zuständigkeit für Fragen der Transzendenz deutlich. Dementsprechend werden die von den Bildungs-, Beratungs- und therapeutischen Organisationen behandelten Probleme so konzeptualisiert und bearbeitet, dass sie der Diesseitsorientierung dieser Institutionen entsprechen. Damit treten sie einerseits an die Stelle von Predigt, Beichte und Seelsorge, lassen andererseits jedoch die mit Tod, Jenseits und Erlösung zusammenhängenden Dimensionen unberührt. Diese Grundfragen menschlichen Lebens werden eher von Problemen der Lebensgestaltung überlagert und verdrängt, sodass sich eine auf das Individuum zentrierte Diesseitigkeit durchsetzt. Mit dieser Absage an die »große Transzendenz« geraten ins Zentrum der Aufmerksamkeit das Hier und Jetzt und die Bemühungen um »innerweltliche Erlösung«. Nicht mehr die Einsicht in Schuld und die Notwendigkeit von Buße sowie das Vertrauen auf die Gnade Gottes, sondern die Überwindung der Entfremdung, die Entwicklung der Freiheit und der Autonomie sowie die Ausarbeitung vielfältiger Lebensstile sind erforderlich. Als Manager seiner selbst gehört das Individuum vielen Lebenswelten gleichzeitig an, muss diese aufeinander beziehen und im Umgang mit ihnen sein Leben entwerfen, organisieren und realisieren. Mit dieser Entwicklung verliert die christliche Religion ihren öffentlichen Charakter. Das einheitliche christliche Weltbild mit seiner geschlossenen Kosmologie und Anthropologie zerbricht unwiederbringlich. Das Christentum tritt in Konkurrenz mit anderen Religionen sowie mit politischen und wirtschaftlichen Weltanschauungen. Religion wird zu einer Wahlmöglichkeit des Individuums. Damit wird das Christentum zu einer Ware auf dem Markt der Religionen, Weltanschauungen und Glaubensauffassungen, auf dem das Individuum seine Wahl treffen kann. Statt auf das Glaubens- und Wahrheitsmonopol der christlichen Kirchen trifft das Individuum auf einen religiösen Pluralismus, der einerseits verunsichert, andererseits seine Omnipotenzphantasien nährt. Wurde der Mensch früher in eine Religion, Kultur, Sprache und Lebensform hineingeboren, die er in der Regel nicht verlassen konnte, so fördert die Sakralisierung des Individuums seine Vorstellung, die kulturellen und sozialen Grundlagen seines individuellen Lebens bestimmen zu können.19 Nicht mehr Gott wählt und erwählt den Menschen, sondern der Mensch wählt Gott und seine Religion. Religion wird zu einem Segment in der Lebenswelt der Menschen; von ihr geht kein Anspruch mehr auf eine Gesamtrahmung des individuellen Lebens und eine Gesamtprägung des Menschen aus. Stattdessen stellt sich das Individuum einen Flickenteppich

19 | Vgl. A. Hahn, Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt/Main 2000.

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von Weltanschauungen und letzten Orientierungen zusammen, sodass treffend von patchwork identity die Rede ist.20 Mit der Bedeutungsabnahme von Religion und Christentum und dem Verlust eines christlich geprägten Jenseits für immer mehr Menschen in den industrialisierten Gesellschaften der Gegenwart verliert die christliche Religion ihren universellen Charakter und damit ihre Sichtbarkeit. Das Christentum wird zu einer »unsichtbaren Religion«.21 Nur an einigen Tagen im Jahr und zu bestimmten Momenten des individuellen Lebens, insbesondere zur Weihnachtszeit, bei Geburten, Hochzeiten und Begräbnissen, wird die christliche Religion für kurze Zeit wieder sichtbar, um dann erneut in den Hintergrund zu treten. Sichtbar wird Religion in den großen religiösen Ritualen, in deren Inszenierung und Aufführung die Individuen an traditionellen kollektiven Arrangements partizipieren. Dies gilt für die religiösen Feste und Feiern, deren Gelingen durch ihren rituellen Charakter ermöglicht wird. In der Aufführung solcher Rituale kommt es zur performativen Bildung von Gemeinschaften.22 In der körperlichen Aufführung der Rituale, in ihrer Iteration erfolgt eine Selbstvergewisserung der Gemeinschaft, sei es einer Festgemeinschaft anlässlich von Weihnachten oder einer Trauergemeinschaft anlässlich des Begräbnisses eines Menschen. In der Inszenierung und Aufführung von Ritualen werden auch die Differenzen zwischen den Ritualteilnehmern bearbeitet, sodass eine Gemeinschaft entsteht. In diesen Fällen bietet die Religion den Anlass, dient sie zur Aufforderung, sich rituell im Namen Gottes zusammenzuschließen. Es entstehen Momente gesteigerten Lebens, die sich vom Alltag unterscheiden und deren herausgehobener Charakter sich der Erinnerung einschreibt und nach Wiederholung verlangt. Mit der Diesseitswendung der Individuen, dem Unsichtbarwerden der Religion, der Ausdifferenzierung der Lebensbereiche und der Notwendigkeit, in heterogenen Bezugswelten zu leben, verlieren die monolithischen, unterschiedliche Lebenswelten übergreifenden Rituale an Bedeutung. Auch in Staat und Gesellschaft, Politik und Wirtschaft werden diese Makrorituale weniger wichtig. An ihre Stelle treten kleinere, zum Teil lebensweltspezifische und segmentspezifische Rituale. Je nach Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Institutionen, Organisationen und gesellschaftlichen Bereichen ändern sich die Rituale, werden spezifischer, erreichen dafür aber auch weniger Menschen. Insofern heute alle Menschen in vielen unter20 | Vgl. H. Keupp, »Auf der Suche nach der verlorenen Identität«, in: ders./H. Bilden (Hg.), Verunsicherungen. Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel, Göttingen 1989, S. 47-69. 21 | Vgl. T. Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt/Main 1991. 22 | Vgl. Ch. Wulf u.a., Das Soziale als Ritual.

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136 | III Ritual schiedlichen Segmenten der Gesellschaft leben, haben sie auch teil an sehr heterogenen Ritualen und Ritualisierungen, von denen viele nur in der jeweiligen Lebenswelt bekannt und gültig sind. Zu solchen Partialritualen gehören z.B. auch die Rituale der Wissenschaft, mit deren Hilfe Erkenntnisse erzeugt werden, oder Rituale in Freizeitbereichen, in deren Rahmen man sich bewegen können muss, um dazu zu gehören. Mit der Ausdifferenzierung der Religion und anderer zentraler Bereiche der Gesellschaft schwinden der herausgehobene Charakter und die Sichtbarkeit der Rituale, doch nicht ihre Bedeutung. Durch diese Entwicklung ergibt sich auch eine Diversifikation und Ausdifferenzierung der Rituale. Wie das Christentum, so verlieren auch viele Rituale ihre Sichtbarkeit, nicht jedoch ihre Rolle für die mehr denn je dem Individuum obliegende Aufgabe der Herstellung von Partialgemeinschaften. Mit dem Schwinden der Monopolstellung der Religion und ihrer Rituale kommt es zur Bildung vielfältiger, nur in begrenzten Kontexten geltender, diese jedoch konstituierender Rituale. Wie an die Stelle der christlichen Religion heute zahlreiche Partialreligionen und Weltanschauungen getreten sind,23 so erfolgt die Orientierung und Sinnerzeugung durch Rituale heute nicht in wenigen sichtbaren, alle Gesellschaftsbereiche übergreifenden Ritualen, sondern eher in zahlreichen bereichsspezifischen Partialritualen, die die Individuen mit relativ weiten Handlungsspielräumen gestalten können und die ihnen dazu dienen, die Heterogenität ihrer verschiedenen Lebensbereiche zu bewältigen und aufeinander zu beziehen. Wie sich die Rolle der Religion im Verlauf der Geschichte gewandelt hat, so haben sich auch die Rituale verändert. In beiden Fällen hängt dies mit der veränderten Stellung des Individuums zusammen. Im Fall des Religiösen wählt das Individuum sich, was ihm für seine Lebensführung angemessen ist; im Fall der Rituale ist es nicht anders. Auch ihnen gegenüber hat das Individuum eine bislang nicht gekannte Freiheit, sie abzuwandeln, sie außer Kraft zu setzen, sie neu zu gestalten. Wie im Bereich der Religion geschieht es auch hier viel weniger als möglich. Wie sich das Individuum prinzipiell Religionen und Weltanschauungen wählen kann, so kann es heute auch weitgehend entscheiden, in welchen rituellen Formen es leben und wie es diese gestalten will. Im Fall der Religion und im Fall des Rituals wird seine prinzipielle Freiheit jedoch wesentlich dadurch eingeschränkt, dass in beiden Bereichen rationales und reflexives Wissen eine eher untergeordnete Rolle spielt. Stattdessen ist es ein in mimetischen Prozessen erworbenes praktisches Wissen, das den Umgang mit Religion und Ritual bestimmt und in dessen Rahmen die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten stärker begrenzt sind, als es der Mythos 23 | Vgl. H. Honer/R. Kurt/J. Reichertz (Hg.), Diesseits-Religion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur, Konstanz 1999.

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vom autonomen, sein Leben als Entrepreneur führenden Individuum zugesteht. Die verringerte Sichtbarkeit von Religion und Ritual bedeutet nicht, dass diese für die Individuen und die Gesellschaft keine Rolle mehr spielen; sie ist lediglich ein Hinweis auf tiefgreifende Veränderungen im Umgang mit dem Religiösen, die weiterer Untersuchung bedürfen.

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7. Ritual und Recht

Rituale und Ritualisierungen gehören zu den wichtigsten Formen sozialen Handelns, in denen Normen, Werte und Einstellungen inkorporiert werden.1 Unter diesen kommt den mit Recht und Gerechtigkeit verbundenen besondere Bedeutung zu. Da »Recht« ein relationaler Begriff ist, durchziehen und ordnen die rechtsrelevanten Werte und Normen alle sozialen Beziehungen. Im alltäglichen Handeln werden sie weniger in sprachlich fixierter Form wahrgenommen; vielmehr entfalten sie ihre Wirkungen eingebettet in soziale Handlungsgefüge. Ohne getrennt von sozialen Handlungen sichtbar zu werden, formen die Normen und Werte des Rechts das alltägliche Handeln. Den rituellen Handlungen bieten sie Orientierungshilfe und werden in ihren Aufführungen erkennbar. Häufig kann erst die nachträgliche Analyse ritueller Szenen diese Werte und Normen aufdecken und ihre Wirkungen verdeutlichen. In rituellen Handlungen werden rechtsrelevante Normen und Werte verkörpert. In jeder rituellen Inszenierung und Aufführung werden sie konkretisiert und modifiziert. Ohne in das Bewusstsein der Handelnden zu gelangen, haben sie nachhaltige Auswirkungen auf die Gestaltung von Ritualen und Ritualisierungen. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass Ritualen und Ritualisierungen ein praktisches Wissen zugrunde liegt, zu dem sich die Handelnden in der Regel nicht theoretisch verhalten und auf das sie sich lediglich bei Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten reflexiv beziehen. Praktisches Wissen ermöglicht es, rituelles Handeln zu inszenieren und aufzuführen. Gelernt wird praktisches Wissen in mimetischen Prozessen, in denen sich die Menschen auf rituelle Inszenierungen und Aufführungen beziehen und deren Bilder, Schemata und Situationen in ihre Vorstellungswelt aufnehmen, wo1 | Vgl. die entsprechenden Kap. oben sowie Ch. Wulf u.a., Das Soziale als Ritual.

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140 | III Ritual durch es ihnen möglich wird, bei entsprechenden Anlässen rituell zu handeln. In diesen Prozessen werden auch die sozialen und rechtlichen Normen und Werte inkorporiert, die das rituelle Handeln steuern. Ihre Verkörperung macht sie »lebendig« und führt dazu, sie neuen Situationen anzupassen und je nach Kontext zu verändern. Rituelles Handeln ist in der Regel institutionelles Handeln.2 Mit Hilfe von Ritualen und Ritualisierungen transferieren Institutionen ihre Werte und Normen in die Körper der in ihnen tätigen Personen. Darüber hinaus erzeugen sie Modelle rituellen Handelns. So schaffen Parlamente Gesetze, staatliche Verwaltungen Verordnungen und Gerichte Rechtsentscheidungen in unterschiedlichen Ritualen, deren Inszenierung und Aufführung durch die Repräsentanten der jeweiligen Institution für die Legitimierung dieser Prozesse notwendig ist. Mit Hilfe dieser Rituale werden Rechtshandlungen vollzogen, die die gesellschaftliche Rechtsordnung und das positive Recht schaffen. Der öffentliche Charakter dieser Rituale erzeugt Vorbilder und Modelle für die Anwendung von Recht und Gerechtigkeit und trägt zu ihrer Verbreitung in der Gesellschaft bei. Die Repräsentanten der Rechtsinstitutionen demonstrieren in rituellen Inszenierungen und Aufführungen die Bedeutung der Rechtsordnung für das Zusammenleben der Menschen. Dabei bringen sie ihre enge Verbundenheit mit der Macht des Staates und ihre Bereitschaft zum Ausdruck, die gesellschaftliche Ordnung mit rechtsstaatlichen Mitteln durchzusetzen. Der performative, auf dem szenischen Arrangement menschlicher Körper beruhende Charakter ritueller Handlungen trägt zur Erhaltung und zur Modifizierung der Rechtsordnung bei; in mimetischen Prozessen normiert er die in der Öffentlichkeit geltenden Rechtsvorstellungen und vermittelt deren Werte, Normen und Einstellungen an die Mitglieder der Gesellschaft. In der Inszenierung und Aufführung des Rechts werden die Wirkungen der mit ihm verbundenen Werte und Normen erfahrbar und normieren die Vorstellungs- und Handlungswelt der Menschen. Rechtshandlungen vollziehen sich in Form von Ritualen und Ritualisierungen. Ihr ritueller Charakter unterscheidet sie von anderen sozialen Handlungen. Rituelle Rechtshandlungen schaffen soziale Aufführungen, in deren Verlauf Gesetze geschaffen werden und Recht gesprochen wird. In der Inszenierung parlamentarischer oder gerichtlicher Rituale übernehmen die Beteiligten die erforderlichen Rollen. Der institutionelle Charakter dieser Rollen weist ihnen ihre rituellen Aufgaben und Einsätze zu. In Parlament und Gericht werden Rituale und Ritualisierungen auf einer »Bühne« aufgeführt, deren öffentlicher Charakter zur Legitimation des Geschehens 2 | Vgl. E. Liebau/D. Schumacher-Chilla/Ch. Wulf, Anthropologie pädagogischer Institutionen.

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beiträgt. Dieser szenische Charakter gilt für das Parlament und seine Gesetzgebung wie für die Gerichte und ihre Rechtsprechung. Am Beispiel von Gerichtsritualen soll im Weiteren gezeigt werden, wie die gesellschaftliche Rechtsordnung auf die Inszenierung und Aufführung von Ritualen der Rechtsfindung und Urteilsverkündung angewiesen ist. Ihr performativer Charakter konkretisiert Rechtsnormen und Rechtswerte und verdeutlicht die Bedeutung der körperlichen Dimension des Recht.

Der Gerichtsprozess als Ritual Die Bühne: Der Gerichtsprozess findet auf einer Bühne statt, die ihn wie Veranstaltungen des Theaters öffentlich macht. Auf der Bühne agieren die Funktionsträger: beim Strafgerichtsprozess, der im Weiteren als Modell für den Gerichtsprozess dient, die Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Angeklagte und sein Verteidiger, die Zeugen, der Nebenkläger, die Gutachter und die Mitglieder des Gerichts, die Schöffen und der bzw. die Berufsrichter. Vor der Bühne sitzen die Zuschauer, wie im Theater deutlich von den Akteuren getrennt. Recht ist, was im Verlauf einer Gerichtsverhandlung auf dieser Bühne als Recht anerkannt wird. Somit ist der sich hier vollziehende rituelle Prozess für Recht konstitutiv. Das Verfahren spielt sich in einem Saal in einem lediglich zu diesem Zweck errichteten Gerichtsgebäude ab, dessen architektonischer Charakter von Ort zu Ort unterschiedlich ist, sich jedoch nachhaltig auf die Atmosphäre auswirkt, in der das Prozessgeschehen stattfindet. Trotz erheblicher architektonischer Unterschiede zeigen sich vor allem in der Ausstattung der Gerichtssäle starke strukturelle Ähnlichkeiten, die sich bezogen auf Landgerichte wie folgt charakterisieren lassen: »Die hoheitsvoll klösterlich getönte Würde wilhelminisch-gotisierender Kreuzgewölbe des Landgerichts Aachen etwa. Oder die Holztäfelung bis zur halben Höhe der Türen und kleingesprosste farbige Fenster, die im Landgericht Bonn den Sälen den Anschein eines Refektoriums verleihen. Die funktionale Kahlheit der frühen Siebziger, die, wie im Landgericht Köln, staatliche Dienstleistung schnörkellos, sachlich einkleidet. Die funktional verspielte Post-Moderne von Konzernzentralen im Landgericht Stuttgart, der Innenhof mit einem angedeuteten Biotop und Teich garniert. Die biedere Strenge der Fünfziger in Hannover […] Geduckte Backsteinromantik in Oldenburg […] Viele verschiedene Säle, doch in der Struktur sind sich alle gleich: in der Dimension zwischen Raum und Halle, Saal eben, strukturell in zwei Hälften geteilt, die aufeinander bezogen sind. In der einen Hälfte entlang der Wände eine nach vorne offene quadratische Tischanordnung. Hinter diesen Tischen gepolsterte Stühle. Links

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142 | III Ritual und rechts in der Querwand meistens zwei einzelne Türen; vor dieser Querwand ein einzelner langer Tisch, hinter dem fünf Stühle nebeneinander stehen, der mittlere oft durch eine höhere Rückenlehne herausgehoben. Einzeln seitlich ein sechster Stuhl. Die gesamte Anordnung des Quadrats nimmt ungefähr, je nach Größe des Raumes, zwei Drittel ein; das letzte Drittel ist ausgefüllt mit den Stuhlreihen für das Publikum. Beides ist meistens räumlich oder symbolisch voneinander abgesetzt: entweder trennt eine hölzerne Brüstung oder eine Museumskordel. Vor dem Tisch an der Querwand ein kleinerer Tisch mit einem Stuhl davor, so dass, wer dort sitzt, dem Publikum den Rücken zukehrt. Dies ist die gelegentlich variierte Grundordnung […] Die Säle sind selten und kärglich geschmückt. Etwa an der Querwand in einem Saal des Landgerichts Düsseldorf ein Holzkreuz: Justiz unter’m Kreuz auch in Bonn, Coburg, Kempten und Münster.«3

In symbolischer Hinsicht kommt den räumlichen Höhenunterschieden zwischen den Prozessbeteiligten und ihren Zuschauern erhebliche Bedeutung zu; in den Gerichten wird dies in unterschiedlicher Form zum Ausdruck gebracht. Bei der Dreistufigkeit ist der Platz der Richter erhöht auf einem Podest; die anderen Prozessbeteiligten sitzen unter ihnen, doch leicht erhöht im Vergleich zum Publikum. Bei dem Modell der Zweistufigkeit sind lediglich die Plätze der Richter erhöht; die anderen Prozessbeteiligten und das Publikum befinden sich auf gleicher Ebene. In einigen Fällen sitzen die Staatsanwälte und die Richter erhöht im Vergleich zu allen anderen Anwesenden. Oft dienen Unterschiede in der Qualität der Sitze von Richtern, Staatsanwälten und Angeklagten zur symbolischen Darstellung der hierarchischen Unterschiede zwischen ihnen. Das Höhen- und Sitz- und Stuhlarrangement trägt zu den Rahmenbedingungen bei, die für die Art und Weise, in der sich die gerichtlichen Rituale vollziehen, von Bedeutung sind. Durch diesen Rahmen unterscheiden sich die Rituale der Rechtsfindung und Rechtsprechung deutlich von anderen sozialen Ritualen. Das szenische Arrangement ist Ausdruck der Verankerung der Rituale in der Institution »Gericht« und bringt deren hierarchischen und quasi-sakralen Charakter zum Ausdruck. Dazu tragen auch Requisiten bei wie die Roben der Richter, Staatsanwälte und Verteidiger, die sie als Rollenträger kennzeichnen. Für das Funktionieren der gerichtlichen Rituale ist ihre zeitliche Begrenzung wichtig. Der deutlich markierte Anfang und das ebenso klar gekennzeichnete Ende des Rituals haben strukturierende Wirkungen auf seine Sequenzierung; sie unterstützen seine Zielgerichtetheit und Rationalität. Um den besonderen Charakter des Gerichts im Prozessritual zu markieren, erheben sich beim Einzug der Richter alle 3 | A. Legnaro/A. Aengenheister, Die Aufführung von Strafrecht. Kleine Ethnographie gerichtlichen Verhandelns, Baden-Baden 1999, S. 6f.

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im Saal Anwesenden. Bei der Urteilsverkündung am Ende des Prozesses stehen sogar alle Anwesenden einschließlich der Richter. Mit dieser Haltung wird die Ehrerbietung aller Prozessbeteiligten und des Publikums vor dem Recht zum Ausdruck gebracht. Zwischen dem Einzug der Richter am Anfang des Gerichtsverfahrens und der Urteilsverkündung am Verfahrensende vollzieht sich ein Prozess, der sich als ein Übergangsritual begreifen lässt. Der Prozess als liminale Phase: Der Angeklagte lebt nicht mehr in der Situation eines unbelasteten Bürgers; es liegt eine Anklage gegen ihn vor; in vielen Fällen befindet sich der Angeklagte sogar in Untersuchungshaft; er lebt in einer Situation der Unsicherheit und Angst. War er vor der Anklage ein freier Bürger, so ist er es jetzt nur noch – auch wenn er bis zum Urteil als unschuldig gilt – unter der Voraussetzung, dass er freigesprochen wird. Von seinem bisherigen Leben getrennt, befindet er sich in einer Übergangsphase, einer liminalen Phase.4 Nach dieser kehrt er entweder in sein früheres Leben zurück, in dem dann allerdings zunächst kaum noch etwas so ist wie zuvor, oder er verliert die Möglichkeiten seines bisherigen Lebens und wird gezwungen, in der Haft eine neue persönliche und soziale Identität zu entwickeln. Der Prozess ist ein Ritual, in dem das bisherige und das zukünftige Leben suspendiert sind und der Angeklagte sich von allem abgeschnitten in einer ihn einschränkenden liminalen Situation befindet. Die Rituale des Gerichtsverfahrens unterwerfen ihn Prozeduren und Zwängen, denen er sich nicht widersetzen kann. Sie gehen auf tradierte institutionelle Vorbilder zurück, in deren Inszenierung sich die Macht des Staates ausdrückt. Die liminale Phase umfasst mehrere rituelle Sequenzen, deren Elemente und Strukturen festliegen und die nachhaltig die Interaktion vor Gericht bestimmen, deren Art und Weise jedoch von den Prozessbeteiligten bestimmt werden kann. Werden diese Rituale nach Vorschrift durchlaufen, dann steht am Ende eine Entscheidung »schuldig« oder »nicht schuldig« oder ein Freispruch »aus Mangel an Beweisen«. Der rituelle Charakter des Prozesses ist so stark ausgeformt, dass aus seiner Nichtbefolgung leicht Verfahrensfehler entstehen, die zu einer Revision führen können. Daher ist die korrekte Inszenierung und Aufführung des Prozessrituals für die Geltung der Wahrheits- und Urteilsfindung notwendig. Der Vorsitzende Richter leitet das Verfahren; ihm obliegt die Einhaltung des Prozessrituals. Bei seiner Inszenierung bezieht er sich auf eine im Imaginären und in der Praxis der Institution »Gericht« vorhandene normative Struktur, die die Rechtmäßigkeit des Verfahrens sicher stellt. Zwar gibt 4 | Vgl. V. Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, New York 1969; ders., From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play, New York 1982.

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144 | III Ritual es eine Prozessordnung; doch wie diese anzuwenden ist, lernt er vor allem durch die Beteiligung an anderen, nach dem gleichen Modell ablaufenden Prozessen. Diese Lernprozesse sind mimetisch und vermitteln das zur Prozessleitung erforderliche praktische Wissen. Die starke Ausprägung der strukturellen Elemente beeinflusst die sich auf der Gerichtsbühne vollziehenden, durch unterschiedliche Rollen charakterisierten Interaktionen nachhaltig. Der öffentliche Charakter der Kommunikation vor Gericht garantiert die Objektivität, Transparenz und Überprüfbarkeit des Verfahrens. Seine Rechtsstaatlichkeit muss sichtbar werden; kein Zweifel an seiner Angemessenheit soll aufkommen. Gerichtsrituale haben daher eine ostentative Seite, die darauf zielt, den rechtmäßigen Charakter des Verfahrens zu demonstrieren. Dieser ostentative Charakter des Gerichtsrituals führt manchmal zur Überbetonung der formalen Aspekte des Rituals und schränkt die individuellen Handlungsspielräume der Prozessbeteiligten ein. Ein Beleg dafür ist auch die Tatsache, dass sich mit Ausnahme des Angeklagten die am Gerichtsritual beteiligten Personen als Funktionsträger ansprechen und damit öffentlich darstellen, dass sie nicht als individuelle Personen, sondern als Rolleninhaber agieren. Als solche könnten sie auch von Kollegen ersetzt werden, ohne dass sich dadurch am Prozess und seinen Ritualen Wesentliches änderte. So heißt es z.B. Herr »Vorsitzender«, Frau »Staatsanwältin«, Herr »Verteidiger«, Frau »Sachverständige« etc. Mit dieser Form der Anrede bringen die Funktionsträger zum Ausdruck, dass sie mit der Angelegenheit des Angeklagten persönlich nichts zu tun haben und sich sachlich und neutral verhalten. Auch die Rolle des Publikums ist festgelegt. Es darf sich nicht einmischen, sondern muss achtungsvolle Distanz zum rituellen Geschehen wahren. Als schweigende, sich Meinungsäußerungen enthaltende »Öffentlichkeit« kann es den Prozessbeteiligten zuschauen und sie durch seine Aufmerksamkeit und Anteilnahme bei der Entwicklung ihrer Argumente beim Sprechen und der Inszenierung und Darstellung ihrer rituellen Handlungen unterstützen. Die in diesem Kontext erforderliche Sachlichkeit zeigt sich auch in dem Versuch, eine »neutrale« Bezeichnung der Handlung zu finden, die Gegenstand des Verfahrens ist. So ist die Rede vom »Ereignis«, vom »Vorfall«, vom »Tatgeschehen«; fast nie wird die Tat benannt und als genau bezeichnete in die Diskussion eingebracht. Auch die Art und der Tonfall des Sprechens, der Wortwahl und der Diktion sollen dazu beitragen, Sachlichkeit und Neutralität hervorzubringen. Die Funktionsträger des Prozessrituals halten sich emotional zurück und zeigen nur geringe Anteilnahme; sie sind höflich und zeigen sich besonnen und souverän. So entsteht eine eher kühle, sachliche Atmosphäre, die nur gelegentlich von den Emotionen des Angeklagten, des Opfers oder seiner Angehörigen durchbrochen wird. Eine solche Atmosphäre herzustellen, gehört zu den Aufgaben des Vorsitzenden, der dadurch seine Au-

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torität und Kompetenz demonstriert. Dazu trägt auch die fast feierliche Situation der Verlesung der Anklage, der Beweisanträge und der Plädoyers bei. Das Aufstehen beim Eintritt der Richter, bei der Vereidigung von Zeugen und bei der Verkündigung der Urteilsformel dient dazu, dem Gericht Achtung entgegenzubringen und seine übergeordnete Stellung performativ zum Ausdruck zu bringen. Das Aufstehen demonstriert Ehrerbietung gegenüber »Recht«, »Staat« und »Volk«. Trotz der betonten Sachlichkeit und Neutralität der Funktionsträger erzeugen die gerichtlichen Rituale und Ritualisierungen fortwährend einen Bezug zu »höheren« Instanzen, ohne den Rechtsprechung nicht möglich ist. Der Vorsitzende Richter hat die Aufgabe, die Prozessrituale zu inszenieren; sein individueller Handlungsspielraum wird dabei durch die Prozessordnung und viele sein Handeln normierende, mimetisch erworbene innere Bilder und Schemata bestimmt. Das Handeln der anderen Prozessbeteiligten ist ebenfalls durch ihre Funktionen vorgeformt. Auch sie werden tätig auf der Basis von Zuschreibungen, Erwartungen, inneren Bildern und Normen. Das rituelle Verhalten aller Beteiligten wird auf Voraussetzungen bezogen, die es stimulieren, orientieren und begründen. Die dem institutionellen Handeln zugrunde liegenden Bilder und Schemata normieren die rituellen Aktionen und Sequenzen. Sie beziehen die rituellen Handlungen auf ein kollektives Imaginäres. Dieses verleiht ihnen Sinn, Bedeutung und Geltung. Es ermöglicht die Bezugnahme auf höhere Instanzen wie Recht, Gerechtigkeit und demokratische Gesellschaft und schafft den quasi-sakralen Charakter rituellen Handelns vor Gericht, der sich auch in Teilritualen manifestiert, wie der Vernehmung des Angeklagten, der Zeugenvernehmung, der Vereidigung, der Beweisaufnahme, der Urteilsverkündung. Die Vernehmung des Angeklagten. Nach der Eröffnung des Prozesses bildet die Vernehmung des Angeklagten die erste Sequenz des Gerichtsrituals. Hier erhält er Gelegenheit, sich zu seiner Person und zur Sache zu äußern. Der Angeklagte wird aufgefordert, zu erzählen, wobei ihm Gehör zugebilligt wird; er wird aber auch auf sein Recht zu schweigen hingewiesen. Durch das Arrangement der Szene, die Zahl der Zuhörer, ihre unausgesprochenen Erwartungen, den institutionellen und rituellen Kontext wird die Erzählung des Angeklagten eingeschränkt. Seine Situation begrenzt seine Redemöglichkeiten. Erwartet wird eine der rituellen Sequenz angepasste Form des Sprechens und des sozialen Verhaltens. Manchmal gelingt es nicht, diese einzuhalten. Gefühlausbrüche können sie gefährden; dann wird die Verhandlung unterbrochen. Erforderlich ist eine Kontrolle der Emotionen, die dem Anspruch auf Sachlichkeit und Neutralität nicht widerspricht. Ein kleines Zeichen emotionaler Betroffenheit kann den Richtern von einer der Prozessparteien als Befangenheit ausgelegt werden. Distanz, Sachlichkeit, Neutralität und Besonnenheit gehören zu den fundamentalen

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146 | III Ritual Normen der Gerichtsrituale, deren Verwirklichung rituell gesichert werden muss. Nur wenn die entsprechenden rituellen Bedingungen eingehalten werden, gelten die institutionellen Bedingungen als gegeben, die Wahrheitsfindung und Rechtsprechung möglich machen. Damit die Gerichtsrituale die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen, müssen der Angeklagte und die anderen Prozessbeteiligten bei ihrer Inszenierung und Aufführung »mitspielen«. Dazu benötigen sie ein rituelles und institutionelles Wissen, mit dessen Hilfe sie sich an der Performanz der Rituale beteiligen können. Der Angeklagte kennt z.B. die Erwartungen der anderen Ritualteilnehmer und versucht, diesen zu entsprechen. Indem er dies tut, hofft er auf ein sich im Urteil niederschlagendes Wohlwollen der Ankläger und Richter. Das Ritual suggeriert seinen Teilnehmern unausgesprochen, welche Handlungen erwartet und wie diese aufgeführt werden sollen. Es liefert das den Handlungen aller Beteiligten zugrunde liegende Skript, das der Vorsitzende Richter inszeniert und für dessen Aufführung er die Zustimmung zum »Mitspielen« voraussetzt. In Fällen, in denen der Angeklagte oder sein Verteidiger nicht mitspielen, führt ihre Verweigerung meistens zu negativen Konsequenzen für den Angeklagten. Dies gilt besonders dann, wenn der Angeklagte und die Verteidigung die Legitimität des Gerichts und damit des rituellen Geschehens in Frage stellen. Nicht selten wird derjenige, der im Prozessritual mitspielt, belohnt. Nicht zuletzt liegt in der Kompetenz des Verteidigers seine Qualität und Bedeutung für den Angeklagten. Dieser benötigt jemanden, der bei der Inszenierung und Aufführung der Gerichtsrituale mitspielen kann und in der Lage ist, etwaige von den Anklagevertretern oder den Nebenklägern gestellten »Fallen« zu durchschauen und zu umgehen. Erwartet wird vom Verteidiger, dass er das rituelle Spiel kennt und es zum Vorteil des Angeklagten nutzt. Ohne ludische Fähigkeiten können die Prozessbeteiligten ihre rituellen Handlungen nicht kompetent wahrnehmen. Dies liegt daran, dass Rituale die Handlungen ihrer Teilnehmer zwar vorstrukturieren, deren Verhalten im Einzelnen jedoch nicht festlegen. Sie gewähren Spielräume für die individuelle Gestaltung der Handlungen. Rituelle Handlungen sind daher auch nicht Kopien vorausgegangener Rituale. Rituelle Aufführungen sind jedes Mal verschieden; sie schaffen ähnliche, doch nie gleiche Handlungen. In der Möglichkeit zur Abweichung liegt die Chance zur individuellen Gestaltung von Ritualen. So bieten Prozessrituale die Möglichkeit der individuellen Inszenierung der im Skript vorstrukturierten Handlungssequenzen. Dies erlaubt eine Modifikation der Rituale im Hinblick auf die spezifischen Bedingungen eines Prozesses und gewährt dabei den Ritualbeteiligten einen kreativen Gestaltungsspielraum. Die Spannung zwischen den das rituelle Handeln einschränkenden und den seine Vielfalt garantierenden Bedingungen ist für die Wirkungen von Ritualen konstitutiv.

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Die Zeugenvernehmung. Ein weiteres wichtiges Teilritual stellt die Zeugenvernehmung dar. Bereits der Begriff macht deutlich, dass es sich dabei um ein spezifisches gerichtliches Ritual handelt. Wer »vernommen« wird, wird einem durch bestimmte Regeln gekennzeichneten »Verhör« unterworfen; seinen Verlauf bestimmt der Befragende, auf dessen Vorgehen sich der Vernommene einlassen muss. Das Ritual dient dem Gewinn von prozessrelevanten Erkenntnissen, über die der Zeuge verfügt und die es zu erkunden, öffentlich zu machen und zu überprüfen gilt. Dazu dienen Fragen, Nachfragen und auf sie bezogene Antworten. Nicht zugelassen sind in diesem Ritual Rückfragen des Vernommenen (mit Ausnahme von Verständnisfragen). Das Verhör ist ein Ritual mit eingeschränkter Interaktion, in dem die Vertreter der Institution den Gang des Geschehens festlegen. Ihnen obliegt es, den Vernommenen so zu befragen, dass das Vernehmungsritual zur Wahrheitsfindung führt. Wenn es den Vertretern des Gerichts erforderlich zu sein scheint, setzen sie überdies juristische Mittel ein, den Verhörten dazu zu zwingen, seine Aussage zu machen. Die ungleiche Verteilung der Macht im Ritual der Zeugenvernehmung ist offensichtlich; sie kommt auch darin zum Ausdruck, dass Zeugen oft stundenlang auf ihr Verhör warten müssen. Die Vernehmung ist eine rituelle Sequenz, in deren Verlauf der Zeuge dazu angehalten wird, seine Erinnerungen zu rekonstruieren.5 Dazu muss das Ritual so inszeniert und aufgeführt werden, dass sich alle Beteiligten ein Bild von der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussage machen können. Trotz Berücksichtigung der vom Zeugen früher hervorgebrachten schriftlich fixierten Aussagen ist in der Regel die in der Verhandlung gemachte Aussage entscheidend. Diese wird mit weiteren Zeugenaussagen, mit den Darstellungen des Angeklagten, mit Gutachteraussagen und anderen objektiven Befunden verglichen und dabei auf ihre Konsistenz, Kohärenz und Relevanz hin untersucht. Die Vereidigung. In der Regel müssen Zeugen in Strafgerichtsprozessen vereidigt werden. Allerdings hat das Ritual der Vereidigung im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich an Bedeutung verloren. In Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft, der Verteidigung und dem Angeklagten wird heute meistens auf die Vereidigung der Zeugen verzichtet. Wird jedoch auf der Vereidigung bestanden, so geht dies meistens auf die Initiative der Verteidigung zurück, die sich dadurch eine Unterstützung ihrer Argumentation verspricht. In diesem Fall wird vom Vorsitzenden Richter dem Zeugen die Eidesformel vorgesprochen, auf die dieser mit der performativen Aussage »Ich schwöre es« und gegebenenfalls mit dem Zusatz »so wahr mir Gott helfe« antwortet. Von diesem Augenblick an haben seine vorherigen oder 5 | Vgl. M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/Main 1985.

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148 | III Ritual folgenden Aussagen den Status eines Eides und werden im Falle der wissentlichen Falschaussage mit Haft nicht unter einem Jahr bestraft. Offen ist nach wie vor die Frage, wie der heute eher gängige Verzicht auf die Vereidigung von Zeugen zu erklären ist, in Folge dessen eine höhere Instanz zur Sicherung des Wahrheitsgehalts der Zeugenaussage nicht mehr angerufen wird. Wahrscheinlich hängt diese Entwicklung mit der Säkularisierung zusammen, mit der auch eine Aufwertung des Gerichts als staatlicher Institution einher geht. Die Beweisaufnahme. Auch die Beweisaufnahme ist ein gerichtliches Teilritual; in seinem Rahmen gilt es alle Tatsachen und Beweismittel zu ermitteln und zu berücksichtigen, die für die Urteilsfindung relevant sind. Ziel ist die Erarbeitung der »prozessualen Wahrheit« (Lautmann) und die dazu erforderliche Überprüfung der von der Anklagevertretung entwickelten Hypothese über die Schuld des Angeklagten. In dieser rituellen Sequenz stellt das Gericht bestimmte Sachverhalte fest und verwirft andere, die es für irrelevant oder deren Unterstellung es für falsch hält. In der Beweisaufnahme können sich auch neue Sachverhalte ergeben. Inwieweit die Beweissicherung vor der Gerichtsverhandlung die Voreinstellungen der Prozessbeteiligten und dadurch die gerichtliche Beweisaufnahme beeinflusst, kann nicht allgemein bestimmt werden. Das Ritual der Beweisaufnahme besteht aus der Bemühung um Beweissicherung und Beweisinterpretation und zielt auf die Wahrheitsfindung. Die Urteilsverkündung. Dieses Teilritual beendet in inhaltlicher Hinsicht den Prozess. Dazu erheben sich alle Anwesenden. Ebenfalls stehend verkündet der Vorsitzende das Urteil »im Namen des Volkes«. In dieser rituellen Sequenz ist es nicht allein sein individueller Körper, der die szenische Aufführung und die performative Aussage macht. Vielmehr verkündet der körperlich präsente Vorsitzende Richter das Urteil im Namen der kollektiven Instanz »Volk«. In der Performanz dieser rituellen Sequenz wird das »Volk« als Souverän des Rechts in dem Körper, in der Geste, in der Aussage des Richters verkörpert und im Ritual repräsentiert.6 Das Urteil ist performativ. Seine Aussage ist eine szenisch-gestisch-sprachliche Aufführung, die für den Verurteilten eine neue soziale Realität schafft. Dies geschieht dadurch, dass im Akt des Urteils sein propositionaler Gehalt mit der (zukünftigen) Wirklichkeit zur Deckung gebracht wird.7 In der Performativität des Urteils wird das Recht verkörpert; diese Verkörperung erzeugt Wirk6 | Vgl. E.H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990. 7 | Vgl. J.L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1975; E. FischerLichte/Ch. Wulf, Theorien des Performativen; Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas, Grundlagen des Performativen.

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lichkeit. Außerdem erzeugt der performative, das Prozessgeschehen verdichtende Charakter des Rituals der Urteilsverkündung eine momentane Gemeinsamkeit zwischen den Prozessbeteiligten, in der der antagonistische Charakter der Positionen der Vertreter der Anklage und der Verteidigung aufgehoben ist. Die so entstandene communitas ist das Ergebnis der rituell bearbeiteten Differenzen zwischen den Prozessbeteiligten, die in der Urteilsverkündung ihr (vorläufiges) Ende gefunden haben. Die rituelle Urteilsverkündung führt zur performativen Bildung einer Rechtsgemeinschaft, die für eine Gesellschaft konstitutiv ist. Bei der im Anschluss an das Urteil sitzend vorgetragenen Begründung lassen sich je nach Eigenart des Richters unterschiedliche performative Gesten und Haltungen feststellen. Einige Richter nehmen in dieser Situation Kontakt mit dem Verurteilten auf, andere wenden sich stärker an die anwesende Öffentlichkeit, wieder andere blicken keinen Anwesenden an, sondern adressieren ihre Rede an eine imaginäre Instanz. Je nach Persönlichkeit des Vorsitzenden Richters unterscheiden sich seine Gesten und die Qualität seiner Inszenierung dieser rituellen Sequenz. Da diese rituelle Szene den Höhepunkt des Gerichtsprozesses darstellt, wird noch einmal ostentativ der Zusammenhang zwischen der Tat, dem Ritual der Gerichtsverhandlung und dem Recht dargestellt. Manchmal wird außerdem betont, dass die Voraussetzungen der Gerichtsentscheidung im Gesetz begründet liegen, für das das Parlament mit seinen institutionellen Ritualen verantwortlich ist.

Der performative Charakter rituellen Handelns Über die Inszenierung und Aufführung von Prozessritualen erzeugt und verändert sich die Institution »Gericht« kontinuierlich. In rituellen Arrangements bringen Repräsentanten des Gerichts zum Ausdruck, wie es sich sieht und wie es verstanden werden will. Viele Gerichtsrituale werden seit langem wie selbstverständlich vollzogen und geraten daher in ihrem historisch-kulturellen Charakter kaum in den Blick. Die Nachhaltigkeit ihrer Wirkungen besteht darin, dass sie sich den Anschein geben, »natürlich« zu sein, und damit verdecken, dass in ihnen gesellschaftliche Hierarchien und Machtverhältnisse zum Ausdruck kommen, die wie die Rituale selbst prinzipiell veränderbar sind. Rituelle Prozesse lassen sich als szenische Aufführungen performativen Handelns begreifen, in deren Rahmen den Angehörigen der Institution »Gericht« unterschiedliche Aufgaben zufallen. Neben ihren offiziellen Aufgaben und Funktionen haben die Repräsentanten von Institutionen bei der Inszenierung und Aufführung von Ritualen auch individuelle, in ihrer jeweiligen Persönlichkeitsstruktur liegende Ziele, Darstel-

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150 | III Ritual lungs- und Ausdrucksbedürfnisse. Rituelle Handlungen können emergieren, ohne dass sich sofort erkennen ließe, warum sie an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt und in dieser Art und Weise entstehen. Rituelle Aufführungen lassen sich nur in ihrem Kontext verstehen, zumal wenn sie in Relation zu einer identifizierbaren Vorgeschichte stehen. Auch bei rituellen Arrangements in Gerichtsprozessen spielen Kontingenzen zwischen den rituellen Szenen eine wichtige Rolle. So bestehen rituelle Aufführungen zwar aus spezifischen im Imaginären vorgeformten Elementen, die jedoch manchmal durch andere ersetzbar sind. Wegen des ludischen Charakters ritueller Handlungen stehen ihre Elemente in einer kontingenten Beziehung miteinander. Das verunmöglicht kausale oder finale Erklärungen ihrer performativen Anteile.8 Zur Inszenierung und Aufführung von Ritualen gehört eine Rahmung, die erkennen lässt, in welchem Zusammenhang die Rituale mit vorausgegangenen Handlungen stehen und die Hinweise darauf gibt, wie diese Rituale einzuordnen und zu verstehen sind.9 Die Rahmung erzeugt den Unterschied zu anderen Alltagshandlungen, schafft den besonderen Charakter der Rituale des Rechts und sichert ihre »magischen« Wirkungen. Diese resultieren aus dem Glauben aller Beteiligten an die Notwendigkeit und Geltung der rituellen Handlungen, sei es, dass sie zu rechtlichen Urteilen, zu Gesetzen oder zu staatlichen Erlassen führen, sei es, dass sie wie bei Einsetzungsriten Grenzen ziehen, an deren Existenz und Legitimität die Betroffenen glauben, unabhängig davon, ob sie zu den Begünstigten oder den Ausgeschlossenen gehören. 10 Zur Inszenierung und Durchführung von Ritualen bedarf es der dazu gehörigen performativen Äußerungen: bei der Verkündung eines Gerichtsurteils der Formulierung »Im Namen des Volkes« vor den im Gerichtssaal stehenden Anwesenden. Performative Handlungen erzeugen rituelle Szenen und Szenenfolgen. Zu deren Gestaltung gehört nicht nur die Inszenierung der menschlichen Körper, sondern auch das Arrangement der zu den Ritualen gehörenden institutionellen Rahmenbedingungen. Auch sie müssen in einer den Ritualen angemessenen Weise gestaltet werden, damit das erforderliche Ensemble entsteht. In diesem »Gesamtkunstwerk« emergiert die rituelle Ordnung. Auch rituelle Aufführungen in Institutionen des Rechts erfordern Bewegungen des Körpers, mit deren Hilfe Nähe und Distanz sowie Annäherung und Entfernung zwischen den Beteiligten in Szene gesetzt werden. In 8 | Vgl. Ch. Wulf/M. Göhlich/J. Zirfas, Grundlagen des Performativen. 9 | Vgl. E. Goffman, Frame Analysis. An Essay on the Organisation of Experience, New York 1974. 10 | Vgl. P. Bourdieu, Les rites comme actes d’institution.

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deren Körperbewegungen kommen soziale Haltungen und Beziehungen zum Ausdruck. So erfordern die in Institutionen des Rechts von Machtunterschieden bestimmten Relationen andere Bewegungen des Körpers als in freundschaftlichen oder gar intimen Beziehungen. Durch die Beherrschung ritueller Situationen mit Hilfe von Körperbewegungen wird auch der Körper von ihnen durchdrungen. Wegen ihres figurativen Charakters sind rituelle Situationen gut erinnerbar und verlangen nach Wiederaufführungen.11 Die rituellen Inszenierungen des Rechts enthalten meistens ein ostentatives Element; die am Ritual Beteiligten möchten, dass ihre Handlungen gesehen und gewürdigt werden. In der Performativität ihrer Körper kommt dieses Anliegen zur Darstellung und zum Ausdruck. Rituelle Handlungen als körperliche Aufführungen in Institutionen gestalten das Zusammenleben der Menschen in Raum und Zeit.12 Ihren szenischen Arrangements liegen gesellschaftliche Bedingungen, d.h. ökonomische, politische und soziale Voraussetzungen und Machtstrukturen zugrunde. In Ritualen und Ritualisierungen werden soziale Ordnungen, ihre Werte, Normen und Rechtsformen inkorporiert. Mit Hilfe der Inszenierung ritueller Aufführungen werden Sprache, Bilder und Rhythmen, kulturelle Räume und Zeitordnungen sowie die in ihnen enthaltenen Ordnungs- und Rechtsnormen einverleibt. Der Körper wird zum Gedächtnis der rechtlichen Ordnung, mittels derer Normen und Werte, Schemata und Strategien inkorporiert werden.13 In seiner performativen Konstruktion wird sein Verhältnis zur normativ geordneten Welt, zum Anderen und zu sich selbst gebildet. Das für die Inszenierung und Aufführung von Ritualen in der Welt des Rechts erforderliche performative Wissen ist ein praktisches Wissen und daher körperlich und eng mit aisthetischen Prozessen verbunden. Es wird in wesentlichen Teilen in mimetischen, häufig den Subjekten nicht bewussten Prozessen erworben, wenn sie an den szenischen Aufführungen sozialer Handlungen im Umkreis der Rechtsprechung teilnehmen und wahrnehmen, wie andere Menschen in solchen Szenen handeln. Dies ist ein sinnlicher Vorgang, und nur mit Hilfe der Aisthesis können die szenischen Arrangements wahrgenommen und verarbeitet werden.14 11 | Vgl. B. Dieckmann/S. Sting/J. Zirfas (Hg.), Gedächtnis und Bildung, Weinheim 1998. 12 | Vgl. E. Liebau/G. Miller-Kipp/Ch. Wulf (Hg.), Metamorphosen des Raums, Weinheim 1999; J. Bilstein/G. Miller-Kipp/Ch. Wulf (Hg.), Transformationen der Zeit, Weinheim 1999. 13 | Vgl. A. Hyde, Bodies of Law, Princeton 1997. 14 | Vgl. oben, Kap. 3; sowie G. Gebauer/Ch. Wulf, Praxis und Ästhetik; Paragrana, Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 4 (1995) 1: Aisthesis;

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152 | III Ritual Die außerordentliche Plastizität des menschlichen Körpers gewährt die Möglichkeit, in mimetischen Prozessen ein normatives praktisches Wissen zu erwerben, mit dessen Hilfe rituelles performatives Handeln inszeniert und aufgeführt wird. Zu diesem praktischen Wissen gehören auch die Körperbewegungen, wie etwa Gesten, mit deren Hilfe Szenen sozialen Handelns rechtlich einwandfrei arrangiert werden. Mittels der Disziplinierung und Kontrolle der Körperbewegungen entsteht ein diszipliniertes und kontrolliertes praktisches Wissen, das – im Körpergedächtnis aufbewahrt – die Inszenierung entsprechender Formen symbolisch-szenischen Handelns ermöglicht. Die mimetische Verkörperung performativen Wissens ist ein kreativer Prozess, in dessen Verlauf eine individuelle Umarbeitung erfolgt. Es kommt zu einer Anähnlichung, in der die Wahrnehmung sich darauf richtet, wie sich Menschen körperlich und sozial in den Institutionen des Rechts inszenieren, wie sie sich zur normierten sozialen Welt, zu anderen Menschen, zu sich selbst verhalten. Bilder anderer Menschen, Szenen sozialer Handlungen und normative Welten werden in die innere Bilder- und Vorstellungswelt aufgenommen.15 Mimetische Handlungen verwandeln Außenwelt in Innenwelt16 und führen zu einer Erweiterung der Innenwelt, insofern die sozialen Subjekte die vorgegebene Welt sich als ihre Welt aneignen. Auf diesem Wege fügen sie sich in die Gesellschaft und ihre rechtliche Ordnung ein. Sie nehmen an ihr teil und geben ihr eine körperliche Existenz. In der nachahmenden Veränderung und Gestaltung vorausgehender institutioneller und normativer Ordnungen liegen das innovative und kreative Moment mimetischer Akte und ihre Bedeutung für die Inszenierung und Aufführung rechtsrelevanter performativer Handlungen.

Paragrana, Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 4 (1995) 2: Mimesis – Poiesis – Autopoiesis; C. Douzinas/L. Nead (Hg.), Law and the Image. The Authority of Art and the Aesthetics of Law, Chicago, London 1999. 15 | Vgl. G. Schäfer/Ch. Wulf (Hg.), Bild – Bilder – Bildung, Weinheim 1999. 16 | Vgl. G. Gebauer/Ch. Wulf, Mimesis.

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8. Ritual, Macht und Performanz – die Inauguration des amerikanischen Präsidenten

Vor dem Hintergrund der Gesellschaft konstituierenden Funktion von Ritualen soll in exemplarischer Absicht ein Ritual untersucht werden, mit dessen Hilfe politische Macht transferiert wird: die Inauguration des amerikanischen Präsidenten. Bei diesem Ritual handelt es sich um ein markantes Übergangs- und Einsetzungsritual, das sich zyklisch zu einem festen Zeitpunkt wiederholt. Seine Hauptbestandteile stehen seit langem fest; doch gibt es jedes Mal bei seiner Durchführung auch Variationsmöglichkeiten, über die die Kommentatoren des Rituals in den Medien ausführlich berichten. So etwa, dass Präsident Reagan den Ort des Rituals auf die dekorative Westseite des Capitols verlegte, auf der es noch heute stattfindet. Auch wurde das Amtseinsetzungsritual eben dieses Präsidenten 1985 wegen der klirrenden Kälte von minus 14 Grad ins Innere des Capitols verlegt. Ungeachtet derartiger kleiner Veränderungen bleiben die Inszenierung und Aufführung des Rituals bestehen, auch wenn die handelnden Personen jedes Mal verschieden sind. Lang ist der Weg zur Macht: Die Aufstellung zum Präsidentschaftskandidaten; die Wahlkampagne in den Bundesstaaten mit Kundgebungen, Reden und Parties; die Wahl der Wahlmänner in den Bundesstaaten mit dem Ergebnis, dass der politische Gegner mehr Stimmen erhalten hatte; sodann die Anfechtung der Auszählung der Stimmen in Florida unter dem Zwang, diese Auszählung rechtzeitig zum Termin der Wahl des Präsidenten durch die Wahlmänner zu beenden: Urteile von Bezirksgerichten, vom höchsten Gericht Floridas und vom Obersten Gerichtshof. Die politisch höchst kon-

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154 | III Ritual troverse Entscheidung, dass die Unregelmäßigkeiten bei der Wahl keine korrigierenden Maßnahmen erforderlich machen und somit die eine Stimme Mehrheit der Wahlmänner für G.W. Bush zu Recht bestünde. Schließlich die Wahl des Präsidenten und seine Inauguration durch das Einsetzungsritual, in dessen Folge der »gewählte Präsident« zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika wird. Ohne dieses Ritual kann der gewählte Präsident sein Amt nicht antreten, kann er nicht Präsident werden. Welche rituelle Inszenierung und Aufführung ermöglicht die Übertragung der Macht vom bisherigen auf den designierten Amtsinhaber? Zunächst einige phänomenologische Beobachtungen. Dem Ritual der Amtseinsetzung gehen eine Fülle ritueller Handlungen an diesem Tag voraus: •

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ein gemeinsames Frühstück des angehenden Präsidenten mit seinem Vater, dem früheren Präsidenten der Vereinigten Staaten, und seinem Bruder, dem Gouverneur des Staates Florida, in dem die Wahl zwischen G.W. Bush und Al Gore entschieden wurde; ein Besuch im Weißen Haus mit einer Führung durch die Räume durch das scheidende Präsidentenehepaar; der gemeinsame Besuch eines Gottesdienstes durch die Familien Bush und Cheney in der »Kirche des Präsidenten« in der Nähe des Weißen Hauses; die Fahrt im repräsentativen Wagen durch die Straßen Washingtons und der gemeinsame Gang des letzten Wegstückes des designierten Präsidentenpaares zum Capitol; das Einnehmen der Plätze durch die Spitzen der Festgemeinde: Fanfaren: ein Sprecher kündigt den ehemaligen Präsidenten George Bush und seine Frau an; wieder Fanfaren: der Sprecher: die First Lady Govenor Hillary Clinton und die Frau des Vizepräsidenten Mrs. Gore; abermals Fanfaren und die Ankündigung von Mrs. Bush und Mrs. Cheney; es folgen Präsident Clinton und Vizepräsident Gore; sodann der gewählte Vizepräsident Cheney sowie schließlich der designierte Präsident G.W. Bush.

Das Ritual der Amtseinsetzung vollzieht sich auf der Westseite des Capitols in der Gegenwart einer ausgewählten Gemeinde; die Bühne des Rituals ist erhöht: die Terrasse des Capitols; leichter Regen fällt bei Temperaturen von wenig über null Grad; unterhalb der Bühne, auf der sich das Geschehen sogleich vollziehen wird, spielt die Musik und singt später der Festchor. Inszenierung und Aufführung des Rituals werden von Fernsehkameras in die ganze Welt übertragen. Unten auf der Mall stehen Tausende von Schaulustigen; die zu Hunderten gekommenen Demonstranten hatte man so weit zurückgedrängt, dass sie auch für die Fernsehkameras nicht mehr sichtbar

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sind. Die Aufführung des Inaugurationsrituals umfasst neun aufeinander bezogene rituelle Sequenzen. •



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In der Eröffnungssequenz begrüßt Mr. McConnell als Zeremonienmeister die Teilnehmer des Einsetzungsrituals des 43. Präsidenten der USA und nennt dabei ausdrücklich die Vertreter des Parlaments, des Obersten Gerichts und des Senats als die Repräsentanten der Macht. Er verweist auf die zweihundertjährige Tradition dieser Feier in Washington und darauf, dass es sich um die erste im neuen Millennium handelt. Er spricht von den zeitlosen Idealen der Verfassung und der Verpflichtung des Präsidenten, diese und mit ihnen die Demokratie zu schützen. Dann ruft Mr. McConnell Pfarrer Franklin Graham zur »invocation«, zur Anrufung Gottes auf. Dieser weist darauf hin, dass Gott groß sei und das Höchste von Allem, dass aller Reichtum, alle Ehre und alle Kraft und Stärke von ihm komme und dass man daher ihm gegenüber demütig sein müsse. Graham erbittet von Gott Macht, Weisheit, Errettung sowie Hilfe, »eine Nation unter Gott zu werden«, und Unterstützung für den Präsidenten und den Vizepräsidenten und ihre Familien. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Es folgt eine Hymne auf die Schönheit Amerikas, gesungen vom Dupont Manual Chor aus Kentucky. Dann führt der Senator von Kentucky Christopher Dodd den Obersten Richter ein, der zunächst dem Vizepräsidenten den Amtseid abnimmt. Im Beisein seiner Familie leistet Vizepräsident Cheney ihn auf eine alte Familienbibel.1 Im Zentrum steht das Versprechen, die Verfassung zu achten und zu verteidigen […] »So wahr mir Gott helfe«. Es folgt ein »American Medley«, eine Hymne auf Amerika, in der vom »sweet land of liberty« die Rede ist und Gottes Segen für Amerika erbeten wird, gesungen von Alec Maly, einem Angehörigen der Army Band in Uniform.

1 | Als »Requisite« des Rituals spielt die Bibel eine besondere Rolle, auf die bezogen mit erhobener Schwurhand Vizepräsident und Präsident ihren Amtseid ablegen. Mit dieser in der christlichen Kultur verankerten ausdrucksvollen Geste reihen Bush und Cheney sich ein in die Reihe der vielen Amtsträger, denen mit dieser Geste ein Amt übertragen wurde. Beim Vizepräsidenten ist es die Familienbibel, beim Präsidenten die Bibel, auf die vor ihm schon andere Präsidenten ihren Amtseid geleistet haben. Mit dieser Handlung, ihrer Geste, Requisite und performativen Äußerung, wird trotz des Wechsels des Amtsinhabers eine Kontinuität hergestellt, die eine zentrale Bedingung demokratisch legitimierter Macht ist. Mit dem Eid auf die Bibel erfolgt eine Anrufung und performative Verstärkung der in den USA gültigen religiösen und politischen Normen und Werte.

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Dann wird der gewählte Präsident in Gegenwart seiner Frau und seiner beiden Töchter durch den obersten Richter vereidigt. Dazu werden alle Anwesenden aufgefordert, sich zu erheben. Auch hier das Gelöbnis, die Verfassung zu achten und zu verteidigen. Als der Eid gesprochen ist, wird der Präsident ausgerufen: »The president of the United States George W. Bush«; Beifall, Glückwünsche; drei mal drei Kanonenschüsse werden abgefeuert. Die Rede des Präsidenten an das amerikanische Volk. In ihr wird dem vorherigen Präsidenten und dem Vizepräsidenten gedankt. Es werden die Ideale der amerikanischen Verfassung beschworen. Die Werte der »civil society«, in der jeder aufgefordert ist, mitzuwirken, werden angemahnt. Einheit, Mitgefühl und Bürgersinn werden gefordert. Die wichtigsten Wahlversprechen werden wiederholt: Reform des Schulwesens, der Rentenversicherung, der medizinischen Versorgung sowie Steuersenkungen. Sodann spricht Pastor Caldwell ein gemeinsames Gebet. Dank an Gott für seinen Segen und die Bitte, den Stolz sowie die Überordnung von Materialismus über moralische Gesetze zu verzeihen. Die Bitte um den Segen und die Unterstützung für die aus dem Amt scheidende und vor allem für die das Amt antretende neue Administration. Die Zeremonie endet mit dem Gesang der Nationalhymne durch alle Anwesenden, den Alec Maly intoniert.

Wie wir gesehen haben, ist dieses Ritual der Amtseinsetzung, das durch nichts ersetzbar ist, umrahmt von vielen anderen Ritualen, die es vor- und nachbereiten. Rituell sind auch die vielen Feste und Feiern, die die Inauguration umgeben. Vier Tage lang feierte Washington den Wechsel der Regierung. Es gab Bälle, Galadinners, Feuerwerk, Operngesang, Rock- und Countrymusik und die traditionelle Parade, an der fast 11000 Menschen, 45 Musikkapellen, Einheiten der Streitkräfte und Tanzgruppen teilnahmen. Besondere Aufmerksamkeit fand der »Smoking-und-Stiefel-Ball«, der am Abend vor der Amtseinsetzung stattfand und auf dem zum Abendanzug bunte Cowboy-Stiefel getragen wurden. 35 Millionen Dollar hatten Bushs Helfer für die Feiern im Umfeld der Amtseinführung des Präsidenten gesammelt. Ein Spektakel, bei dem es für jeden Geschmack etwas gab. Weniger Schauspieler, Produzenten und Musiker aus Hollywood, zu denen Clinton guten Kontakt hatte, stattdessen eher Vertreter der Country and Western-Szene. Die »Inthronisation« des amerikanischen Präsidenten ist ein alle vier Jahre stattfindendes Ritual, das den politischen Kampf zweier Rivalen um die Macht symbolisch beendet und die Rivalen nach einer langen Zeit des

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Kampfes mit rhetorischen und symbolischen Waffen in Wahlkampfveranstaltungen und den vom Fernsehen ausgestrahlten Debatten befriedet. Im Verlauf dieses Rituals wird die Macht vom vorherigen Präsidenten in Gegenwart des unterlegenen Kandidaten auf den Wahlsieger transferiert. Das Inaugurationsritual führt die Übertragung der Macht szenisch auf und legitimiert so den neuen Präsidenten. War die amerikanische Nation während des Wahlkampfes politisch gespalten und gleichsam in einer liminalen Situation, so macht das Ritual der Amtsübertragung deutlich, dass die Zeit der Unsicherheit vorbei ist und es wieder eine feste Ordnung und klare Machtstrukturen gibt, mit denen die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger rechnen können. Nach dem Selbstverständnis der amerikanischen Demokratie findet mit dem Ende der politischen Liminalität infolge der Einsetzung des neuen Präsidenten eine Inklusion der an der Macht beteiligten Personen und eine ihr entsprechende Exklusion der von der Macht ausgeschlossenen Menschen statt. Das Inaugurationsritual konkretisiert die diffusen Machtstrukturen moderner Gesellschaften und lässt sie als im Präsidenten verkörpert erscheinen; die rituelle Aufführung personalisiert Macht und lässt diese als überschaubar und handhabbar erscheinen. Die Frage ist, inwieweit der vereinfachende Charakter dieses Inaugurationsrituals nicht tiefer liegende, im Klassencharakter der amerikanischen Gesellschaft begründete Machtstrukturen verdeckt und damit zu einem affirmativen ideologischen Element des »amerikanischen Traums«, des American way of life wird. Im Verlauf des Inthronisations-Rituals übernimmt der Wahlsieger G.W. Bush den imaginären politischen Körper des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. In einem mimetischen Prozess der Aneignung dieses imaginären Körpers, in dem G.W. Bush zum Präsidenten der USA wird, kann Bush diesen imaginären Körper durch seine Akzentsetzungen mitgestalten. Dieser Prozess lässt sich unter Bezug auf Kantorowicz’ These von den zwei Körpern des Königs weiter präzisieren. Mit Hilfe dieser rituellen Inthronisierung des Präsidenten wird eine Ikone der amerikanischen Demokratie erzeugt. Sie wird zu einem Bild amerikanischer Identität, in dem scheinbar alle Differenzen aufgehoben sind. Mit ihrer medialen Inszenierung, Aufführung und weltweiten Ausstrahlung wird ein Sinnbild der amerikanischen Gesellschaft produziert. Das so medial in die Welt ausgestrahlte Inthronisationsritual ist ein imperiales Ereignis, dessen Verbreitung einen Herrschafts- und Führungsanspruch zum Ausdruck bringt. Die so erzeugte Ikone »Präsident« wird zum Bild der amerikanischen Demokratie und ihres Anspruchs auf weltweite Macht- und Autoritätsausübung. Die rituelle Inszenierung von »leadership«, Loyalität und Hingabe an Nation und Religion tragen zur Verklärung, zur Idealisierung und damit zum Ikonen-Charakter des Präsidenten bei.

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158 | III Ritual Um Präsident aller Amerikaner zu sein, ist es erforderlich, den unterlegenen politischen Gegner und die multikulturellen Minderheiten zu integrieren und zu repräsentieren. So befinden sich auf der Bühne, auf der das Inaugurationsritual abläuft, auch einige Vertreter dieser Minderheiten – allerdings viel weniger als bei der Inauguration Bill Clintons 1993. Die Inszenierung und Aufführung des Inaugurationsrituals von G.W. Bush ist weit davon entfernt, Amerika als multikulturelle Gesellschaft zu repräsentieren. Eine weitere Leerstelle wird sichtbar: Frauen sind hier fast gar nicht an der Ausübung der Macht beteiligt. Lediglich als Ehefrauen und Töchter, als Mitglieder der Familie des Präsidenten, als Zeugen der Machtübertragung sind sie zugelassen. Die politische Macht ist fest in männlicher Hand. Dies gilt für den Vizepräsidenten, den Präsidenten, die Repräsentanten des Obersten Gerichts, des Senats und des Kongresses. In diesem Inaugurationsritual wird der männliche Charakter der politischen, militärischen und religiösen Macht allen sichtbar. Zwar ist der Präsident der USA einer der mächtigsten Männer der Welt, doch unterwirft er sich demütig der Allmacht Gottes. In der Schwellenphase zwischen Machtlosigkeit und Machtfülle wird dies besonders deutlich. Nicht nur dem amerikanischen Volk, sondern auch Gott ist die Macht des Präsidenten geschuldet. Gott ist der Allmächtige, von dessen Gnade letztlich das Gelingen der Politik des Präsidenten abhängt. Gottes Güte sichert das Wohlergehen des Landes. Gott kann verderben oder erretten; er vergibt die Sünden und vereinigt alle Menschen zu einem Gemeinwesen in seinem Namen. In Übereinstimmung mit der calvinistischen Tradition zeigt sich der Segen Gottes im Erfolg und in der Qualität der Amtsführung des Präsidenten. Kaum weniger wichtig ist im Verlauf dieses Einsetzungsrituals die mythische Anrufung der Nation. Immer wieder wird sie zum Bezugspunkt der rituellen Handlung. Besonders deutlich wird dies im Gesang des Chors aus Kentucky, im amerikanischen Medley des Sängers in Militäruniform und in der Nationalhymne am Ende des Rituals. Jedes Mal erfolgt eine Verehrung der amerikanischen Nation. Zunächst ist es der Chor, der Repräsentant des Volkes, der etwas unterhalb des Ortes der heiligen rituellen Handlung die Lobpreisung vornimmt. Im zweiten Fall ist es ein Repräsentant des Militärs, der die Anrufung vollzieht und dessen weittragende helle Stimme die Gemüter bewegt. Die dritte Beschwörung der Nation erfolgt am Ende der Inauguration im Gesang der Nationalhymne durch die Inaugurationsgemeinde. War es zunächst das Volk in Form des Chors, dann das Militär in der Gestalt eines Offiziers, so sind es nun die Repräsentanten aller Amerikaner, die im Singen der Hymne an die Konstitution der Nation erinnern und in ihrer Aufführung der Nationalhymne die Einheit der Nation bestätigen. Indem alle an der rituellen Einsetzung Beteiligten die Hymne singen, ent-

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steht über die in der Inauguration gezeigte gesellschaftliche Hierarchie hinweg eine sich im gemeinsamen Gesang der Nationalhymne bildende Gemeinschaft. Im Vollzug des Gesangs entsteht eine Ausrichtung aller auf den Mythos der Nation. Wie das ihr vorausgehende Gebet, so wird auch die Nationalhymne von der Festgemeinde im Stehen gesungen; auch diese Haltung unterstreicht den in wechselseitiger Überlagerung von Religion und Nation entstehenden sakralen Charakter dieses Rituals. Die dreimalige Wiederholung der Anrufung der Nation verstärkt den performativen Charakter dieser Gemeinschaft stiftenden rituellen Sequenzen. In der Performanz und in der Rhetorik des Inthronisationsrituals wird der amerikanische Präsident als König (auf Zeit), Priester, Prophet und Sinnbild im cult of devine America inszeniert und aufgeführt. Das belegt auch die Ansprache des gerade eingesetzten Präsidenten, in der dieser seine Mission darstellt. Umrahmt von Gebet und Gesang der Nationalhymne, von Gott und Nation, erfolgt die Ansprache, in der der Präsident nach einem kurzen Dank an seinen Vorgänger die Ideale der amerikanischen Gesellschaft beschwört, die sich von einer Sklavenhaltergesellschaft zum Garanten von Demokratie und Humanität entwickelt habe. Angerufen wird der Glaube an die Zivilgesellschaft, an die Notwendigkeit, den Amerikanern, die in wirtschaftlicher Not sind, zu helfen, und an die Gleichwertigkeit der Arbeit aller, ob sie nun als Präsident oder in anderen Funktionen tätig sind. Die Wahlversprechungen »Verbesserung der Erziehung«, »Verbesserung des sozialen Systems« sowie »Steuersenkungen« werden erneuert. Sensibilität und Verantwortung für die Mitbürger und ihre Rechte sowie Engagement für die Verbesserung der Lebensmöglichkeiten aller Amerikaner werden beschworen. Abschließend wird Gottes Segen für alle und für Amerika herbeigerufen. In der Inszenierung des Inaugurationsrituals wird auch das Zusammenwirken der für die Demokratie konstitutiven Gewalten aufgeführt. Die Zeremonie vollzieht sich im bzw. vor dem House of Congress, der Legislative; zum Präsidenten, dem Zentrum der Exekutive und Administration, wird der gewählte Anwärter gemacht; seine Vereidigung wird vom höchsten Vertreter der Judikative vollzogen;2 beteiligt ist das Volk in Form des Chors, 2 | Abgenommen wird der Amtseid vom höchsten Richter des Landes, dem Repräsentanten von Recht und Gerechtigkeit. In dieser Szene tritt die dritte Gewalt, die durch ihre Entscheidungen bereits die Wahl Bushs ermöglicht hatte, als starke politische Kraft in Erscheinung. Sie hat für die Einhaltung der Grundsätze der Verfassung zu sorgen und repräsentiert die Gerechtigkeit auf Erden. Die Wahrung der amerikanischen Verfassung garantiert die Demokratie und tritt in dieser Funktion neben das Buch Gottes. In Bibel und Verfassung sind die höchsten in den USA geltenden Werte verankert.

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160 | III Ritual die Religion bei der Anrufung Gottes, das Militär in Form eines Sängers; anwesend sind die Vorgänger des Präsidenten und die Familien des Präsidenten und seines Vizes mit ihren Frauen und Töchtern als einzigen Vertreterinnen der jüngeren Generation. In den verschiedenen Sequenzen des Rituals werden alle an der Feier als Handelnde oder als Zuschauer beteiligten Personen zu einer Inaugurationsgemeinde zusammengeschlossen. Dieses Ritual der Inauguration des amerikanischen Präsidenten ist ein Einsetzungsritual. In seinem Verlauf wird der bisherige Präsident entlassen und der neu gewählte in sein Amt eingesetzt. Im Ritual wird eine Trennungslinie gezogen, durch die der neue vom bisherigen Amtsträger unterschieden wird. Im Rahmen der rituellen Handlung wird suggeriert, dass ein derartiger Wechsel seit langem so wie heute stattfindet und sich auch in Zukunft weiterhin so vollziehen wird. Im Ritual wird die Differenz zwischen der Macht der gegenwärtigen und der Nicht-mehr-Macht der früheren Amtsträger bestätigt, festgeschrieben und legitimiert. Die Einsetzung ist eine Handlung, die Differenz erzeugt, indem sie die Gemeinschaft glauben macht, dass diese Differenz natürlich ist. Mit dieser Einsetzung wird dem Präsidenten seine neue Identität und Kompetenz verliehen. Diese Einsetzung ist ein magischer Akt. Seine Magie lebt davon, dass der Präsident und alle ihn einsetzenden politischen, nationalen und religiösen Eliten daran glauben, dass die rituelle Handlung die Macht überträgt und diese dann zu Recht dem neuen Präsidenten zukommt. Diese magische Kraft des Rituals leitet sich her von Gott und Christentum, von Verfassung und Demokratie, von Recht und militärischer Gewalt, von Nationalismus und demokratischer Mission, auf die während des Rituals immer wieder verwiesen wird. Der magische Akt schafft den Unterschied zwischen der Macht und der Nicht-Macht aus dem Nichts (besonders deutlich sichtbar am Beispiel des Expräsidenten Clinton und des Beinahe-Präsidenten Gore). Mit Hilfe des magischen Charakters erzeugt das Ritual der Amtseinsetzung eine Differenz zwischen vorher und nachher; es inszeniert diese und bearbeitet sie, indem sie dem Präsidenten mit seiner Einsetzung das Recht zur Rede, zur Verkündigung seiner Mission gibt. In der Inszenierung und Aufführung seiner Ansprache verkündet der neue Präsident seinen Macht- und Führungsanspruch. Umrahmt ist diese programmatische Rede von der Unterwerfung unter die göttliche und nationale Macht durch die Anrufung Gottes und die Lobpreisungen der amerikanischen Nation und ihrer Verfassung. Erst nach der Unterwerfung unter beide symbolischen und imaginären Mächte erfolgt die Übertragung der höchsten weltlichen Macht. Wesentlich für die Wirkungen dieses und anderer Rituale ist ihr performativer Charakter. Das Ritual ist eine Inszenierung und Aufführung menschlicher Körper, die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit eine Reihe von Szenen aufführen, in deren Folge es zur Übertragung

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der Macht auf einen neuen Präsidenten kommt. Unabhängig davon, was die einzelnen Teilnehmer des Rituals über ihr Handeln denken, für die Wirkungen des Rituals ist das Gelingen seiner Aufführung entscheidend. In der szenisch-rituellen Aufführung handeln die einzelnen Ritualteilnehmer aufeinander bezogen und erfahren dadurch Gefühle der Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit. In diesem Prozess integriert das Ritual durchaus Unterschiedliches. Die rituelle Personen und Aufgaben aufeinander beziehenden Handlungen schaffen Gemeinschaft. Sie erzeugen eine Fülle symbolischer Bedeutungen, durch die über die bloße Aufführung hinaus weisende kulturelle Zusammenhänge entstehen, die die Komplexität des sozialen Ereignisses steigern. Rituale wie diese Amtseinführung werden in und durch szenische Aufführungen erzeugt, in denen Menschen ihr Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt darstellen. Wer Präsident ist, wie sein Verhältnis zu anderen Menschen und zur Welt ist und welches implizite Wissen ihn bei der Gestaltung seiner sozialen Verhältnisse leitet, wird in Szenen und Arrangements körperlich dargestellt. In diesen Prozessen spielen Kontingenzen und Kontinuitäten der Darstellung eine große Rolle. Wenn von einem Ritual als Aufführung sozialer Handlungen die Rede ist, wird damit ein wiederkehrendes, zeitlich und räumlich begrenztes Ereignis bezeichnet. Um den am Ritual Beteiligten eine stabile und kontinuierliche Erfahrung zu vermitteln, die die Konnektivität von Gemeinschaft gewährleistet, erzeugt die Aufführung des Rituals eine Differenz zu den Ordnungen des Alltags. Um ein Ereignis wie die Amtseinführung zu einer gemeinschaftlichen Performanz zu machen, bedarf es einer entsprechenden Rahmung. Zu dieser gehören neben den Akteuren und einem zeitlichen und räumlichen Kontext vor allem die Zuschauerinnen und Zuschauer, die eine für das Geschehen konstitutive Rolle haben. Erst in der Bezugnahme der sozialen Handlung auf Zuschauer entsteht eine Aufführung. Umgekehrt wird dort eine soziale und moralische Gemeinschaft deutlich, wo auf die Gemeinsamkeit der szenischen Erfahrung rekurriert wird. Diese szenische Erfahrung ist abhängig von performativen Praktiken, die in den Regelmäßigkeiten von Interaktionsrahmungen ihren Ausdruck finden und die Identität der Einzelnen ebenso bestimmen wie das Verhältnis der Gemeinschaftsmitglieder zueinander. Versteht man Rituale als Medium der Differenzbearbeitung, so zeichnet sich diese Bearbeitung zwar durch eine gewisse Stereotypie, Homogenität, gelegentlich auch formale Rigidität aus, die doch gleichwohl nie frei ist von ludischen und liminoiden Elementen. Das Ludische im Ritual bezeichnet einen spielerischen Ernst, der gewisse Grenzen wahrt, und so die Pflicht mit der Freiwilligkeit, die Solidarität mit der Individualität, aber auch die Affirmation mit Ideosynkratie und Kritik zu verknüpfen in der Lage ist.

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162 | III Ritual Häufig ergeben sich im ritualisierten Miteinander der (zuschauenden) Akteure Spielräume für spontanes und kreatives Handeln, in denen die gemeinschaftlichen Normen zeitweise außer Kraft gesetzt werden können, um sie dann erneut in das Bewusstsein und in die Körper der Beteiligten einzuschreiben; oder es werden mittels spielerischer Hinzunahme von neuen Themen und Handlungsformen in die Reinszenierung von Gemeinschaft Möglichkeiten der Kritik bestehender Zustände wie ihrer Veränderung und Subversion erprobt. Im Ludischen konvergieren Macht und Normativität mit Kritik und Kontingenz. Wie das Ritual der Amtseinsetzung haben Rituale eine normative Ordnung, die in und durch formalisierte und repetitive Praktiken der Aufführung gewährleistet wird. Die verschiedenen sozialen Formen des Performativen werden durch die ökonomischen, politischen, institutionellen und milieuspezifischen Bedingungen der Gesellschaft bestimmt und sind daher in deren Machtstrukturen eingebettet. Ohne eine Berücksichtigung der Machtbeziehungen in Ritualen und der mit ihnen einhergehenden Normen ist weder erklärbar, warum nur ganz bestimmte Handlungen ihre weltkonstituierenden Effekte entfalten, noch welche Bedingungen zu Brüchen und Veränderungen sozialer Verhältnisse Anlass bieten können. So modellieren Autoritäts- und Machtbeziehungen die rituelle soziale Ordnung und die mit ihr verbundenen Erfahrungen und tragen dazu bei, die Welt als »real« zu bestimmen und als »natürlich« und »richtig« zu erleben, ohne dass die diesen Prozessen zugrunde liegenden Mechanismen und Schemata bewusst sind. Die Macht performativer Prozesse hat den Effekt der Einverleibung von Machtstrukturen durch Strukturierung und Konstituierung von Welt und Wahrnehmung. Mit Hilfe der Inszenierung körperlicher Aufführungen werden Interaktionsformen, Sprachmuster, Bilder und Rhythmen, Räumlichkeiten und Zeitordnungen, Schemata und Strategien und die ihnen inhärenten Machtstrukturen einverleibt: Der Körper wird zum Gedächtnis des Sozialen und der es ausdifferenzierenden Machtstrukturen. In diesem Ritual der Amtseinsetzung spielt wie in vielen Makroritualen das Heilige eine entscheidende Rolle, das die Kollektivwirklichkeit der Gemeinschaft prägt und organisiert. In diesem Fall konstituiert es sich über Religion und Nation, über Demokratie und Verfassung. Hinzu kommt eine patriarchale Herrschaftsstruktur, die eng mit den anderen sakralen Werten der USA verbunden ist. Über Gebet und Gesang, Eid und Ansprache, Gestik und Inszenierung wird der sakrale, die Inauguration über die Geschäfte des Alltags hinaushebende Charakter des Rituals erzeugt und für Millionen Zuschauer aufgeführt. Durch die Intensität der Aufführung wird den Zuschauern vor Ort und in den Medien kein Raum für Zweifel an der hier inszenierten Staats- und Weltdeutung gelassen. Die Wirkungen des weltweit wahrgenommenen sakralen Charakters dieses Rituals werden durch seine

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mediale Inszenierung weiter verstärkt. Zweifellos ist der hier sichtbar werdende Kult auch mediengeneriert und aufgehoben in einer kollektiven Mythologie. Große Zeremonien wie dieses Ritual der Amtseinführung stehen in einem mimetischen Verhältnis zu früheren Aufführungen des gleichen Rituals. Sie beziehen sich auf diese und erhalten dadurch ihre Legitimität. In der Wiederholung der rituellen Struktur findet eine Erinnerung und Vergegenwärtigung statt, die die Kontinuität der Macht, des Machttransfers und damit der Gemeinschaft sichert. Die mimetische Bezugnahme richtet sich auf die szenische Organisation, die rituellen Handlungen und ihre symbolische Ausgestaltung und umfasst die sprachlichen, musikalischen und gestischen Elemente des rituellen Ereignisses. Insofern der mimetische Bezug auf ein Ritual nicht dazu führt, dieselbe Handlung wieder herzustellen, sondern lediglich bewirkt, ein ähnliches Ereignis zu erzeugen, besteht bei jeder neuen Inszenierung eines Amtseinführungsrituals die Möglichkeit der Variation der Aufführung. Ein Vergleich der Amtseinführungsrituale von Clinton und Bush macht dies deutlich. Wiederholung beinhaltet stets Veränderung. Jedoch ist es gerade die Iteration, die die performativen Wirkungen von Ritualen verstärkt. Vergliche man das Ritual der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten mit den entsprechenden Ritualen in Italien, England oder Deutschland, sähe man große Unterschiede, aus deren Vergleich sich viel über das jeweilige Verständnis von Politik, Macht, Amt, Nation und Religion erkennen ließe. Insofern Rituale Fenster sind, die einen Einblick in die Strukturen der Gesellschaften ermöglichen, erlaubt ein Ritualvergleich Einblicke in die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern. Vergleichende Ritualforschung ist daher ein wichtiger Bereich der Kulturforschung, deren Bedeutung angesichts der Ausweitung der Europäischen Union und der beschleunigten Globalisierung immer größer wird.

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Im Zentrum dieser Untersuchung stand das körperliche und soziale In-derWelt-Sein der Menschen. Von diesem ausgehend galt es zu zeigen, wie in der Genese des Sozialen mimetische, performative und rituelle Prozesse zusammenwirken. Dabei sollte deutlich werden, dass ohne die Verschränkung dieser Prozesse das Soziale nur unzulänglich begriffen werden kann. Thesenförmig sollen abschließend noch einmal wichtige Ergebnisse der Untersuchung festgehalten werden: •

Das Spektrum von Ritualen und Ritualisierungen ist groß. Es reicht von religiösen und politischen Ritualen mit eher allgemeinen Wirkungen bis zu den Interaktionsritualen von Kindern. Der Begriff des Rituals umfasst viele Formen und Ausprägungen. Sie markieren einen Anlass und erzeugen Veränderungen beim Einzelnen und bei der Gemeinschaft. In Ritualen werden Differenzen und Alterität bearbeitet. Sie haben formale Kriterien. Meistens sind sie regelgeleitet, förmlich, öffentlich und repetitiv und haben expressive, demonstrative und ludische Komponenten. Sie sind körperlich und liminal.



In der Inszenierung und Aufführung von Ritualen entsteht das Soziale. Die Wirkungen rituellen Handelns reichen über den Augenblick ihrer spezifischen Aufführung hinaus. Sie gehen in die Tiefe und Breite. Für die Kohärenz des Sozialen ist die Nachhaltigkeit ihrer Wirkungen von zentraler Bedeutung. Doch sind diese – auch nur schwer erforschbaren – Wirkungsdimensionen den Ritualteilnehmern kaum bewusst. In den Gruppendimensionen der Berliner Ritualstudie gelang es, etwas über diese Tiefenwirkung der Rituale und ihre Bedeutung für den Einzelnen und die Gemeinschaft zu erfahren.

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166 | Zur Genese des Sozialen •

Mit Hilfe von Ritualen schreiben Institutionen und Organisationen ihre Werte und Zielsetzungen in die Körper der Ritualteilnehmer ein. Dadurch erzeugen sie Ordnungsstrukturen, mit denen sie ihre Kontinuität sichern. Zwar sind Rituale in gesellschaftliche Hierarchien und Machtstrukturen eingebettet. Doch reproduzieren sie diese nicht nur. Denn sie enthalten auch eine Dynamik, die Veränderungen schafft. Dies zeigt sich besonders bei den Reformen und Institutionen und Organisationen, die ohne Veränderung der jeweiligen Rituale nicht möglich ist.



Insofern sich das Soziale in rituellen Interaktionen zwischen Menschen bildet, deren Körperlichkeit zu einem erheblichen Teil seinen spezifischen Charakter ausmacht, ist Performativität eine Grundbedingung seiner Genese. Am Beispiel von Ritualen lässt sich die Performativität sozialen Handelns besonders gut untersuchen. Sie umfasst wenigstens drei Dimensionen: Die eine betrifft das Soziale als kulturelle Aufführung, die zweite seine sprachliche und die dritte seine ästhetische Seite. Die Performativität sozialen Handelns bezeichnet die Tatsache, dass sich soziales Verhalten in Inszenierungen und Aufführungen vollzieht, deren Bedeutung nicht auf Intentionalität und Funktionalität reduziert werden kann.



Der Begriff der Performativität verweist darauf, dass soziales Handeln ohne praktisches körperliches Wissen, das immer wieder in den entsprechenden Inszenierungen und Aufführungen des Körpers erworben wird, nicht möglich ist. Im Prozess sozialen Handelns wird dieses Wissen zu einem verkörperten Wissen, das den Körper befähigt, in den entsprechenden Situationen angemessen zu reagieren und das lediglich dann bewusst wird, wenn es problematisiert und reflexiv wird.



Die Verkörperung praktischen sozialen Wissens erfolgt in mimetischen Prozessen. In diesen werden Abbilder sozialer Szenen und Handlungen genommen und inkorporiert. Diese Verkörperung geschieht in der Teilnahme an sozialen Arrangements mit Hilfe von Wahrnehmungen, Körperbewegungen und Akten der Einbildungskraft. Den mimetischen Prozessen liegt ein Begehren zugrunde, wie die anderen zu werden und zu ihrer Gemeinschaft dazuzugehören. In diesen Prozessen spielt der Wunsch, ähnlich und zugleich different zu sein, eine wichtige Rolle.



Nicht nur soziales Handeln, sondern auch die meisten anderen Formen kulturellen Wissens werden mimetisch erworben. Mimetisches Lernen nimmt Bezug auf körperliche Aufführungen, die einen Darstellungs-

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und einen Zeigeaspekt haben, die als körperliche Bewegungen sich auf andere Bewegungen beziehen und die sowohl eigene Akte des Lernens sind, zugleich aber auch auf andere Phänomene und Handlungen Bezug nehmen. Mimetisches Lernen gehört daher zu den wichtigsten Formen kulturellen Lernens. •

In der Antike umfasst der Begriff der Mimesis auch die Aspekte des Ausdrucks und der Darstellung und damit auch der Inszenierung und der Aufführung. Wegen ihrer im Zusammenhang mit der medialen Beeinflussung sozialen Verhaltens steigenden Bedeutung werden diese Dimensionen des Mimetischen heute eher ausdifferenziert und mit dem Begriff des Performativen bezeichnet Dennoch gilt nach wie vor, dass mimetische und performative Prozesse nur schwer unterscheidbar sind.



Für die Konstitution von Subjektivität kommt sozialen Handlungen und Prozessen eine größere Bedeutung zu, als dies im Allgemeinen angenommen wird. Menschen sind in erster Linie soziale Wesen. Dies gilt auch dann, wenn heute ihre Individualisierung und Subjektivierung immer stärker zunehmen. Denn die Entwicklung von Subjektivität ist ohne die Genese des Sozialen nicht möglich. Vielmehr sind Subjektgenese und die Genese des Sozialen miteinander verschränkt und bedingen sich wechselseitig.



Die Genese des Sozialen umfasst biologische, ökonomische und politische Bedingungen; sie vollzieht sich in einem historischen und kulturellen Kontext und ist so komplex, dass es unmöglich ist, alle relevanten Aspekte in den Blick zu bekommen. Doch galt es zu zeigen, dass mimetische, performative und rituelle Prozesse bei der Entstehung des Sozialen eine entscheidende Rolle spielen, deren Zusammenwirken weiterer anthropologischer Erforschung bedarf. So gilt es z.B. zu klären, welche Rolle die Einbildungskraft in den mimetischen, performativen und rituellen Prozessen spielt und wie aus der Verbindung von Körperbewegung und Imagination soziales Handlungswissen entsteht.

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Literatur | 175

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Die Neuerscheinungen dieser Reihe:

Michael Helmbrecht Erosion des »Sozialkapitals«? Eine kritische Diskussion der Thesen Robert D. Putnams Oktober 2005, ca. 100 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN: 3-89942-358-5

Gudrun Quenzel Konstruktionen von Europa Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union September 2005, ca. 240 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-414-X

Nicole Grothe InnenStadtAktion – Kunst oder Politik? Künstlerische Praxis in der neoliberalen Stadt

Georg Glasze, Robert Pütz, Manfred Rolfes (Hg.) Diskurs – Stadt – Kriminalität Städtische (Un-)Sicherheiten aus der Perspektive von Stadtforschung und Kritischer Kriminalgeographie September 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-408-5

Armin Stickler Nichtregierungsorganisationen, soziale Bewegungen und Global Governance Eine kritische Bestandsaufnahme August 2005, ca. 420 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-407-7

September 2005, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-413-1

Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie

Heike Hartung (Hg.) Alter und Geschlecht Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s

August 2005, ca. 224 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 3-89942-390-9

September 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-349-6

Sabine Brombach, Bettina Wahrig (Hg.) LebensBilder Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies August 2005, ca. 250 Seiten, kart., zahl. z.T. farbige Abb., ca. 26,00 €, ISBN: 3-89942-334-8

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

2005-07-05 12-45-05 --- Projekt: T415.sozialtheorie.wulf.genese / Dokument: FAX ID 020b88569094710|(S. 176-178) anzeige sozialtheorie juni 05.p 88569094742

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Anja Frohnen Diversity in Action Multinationalität in globalen Unternehmen am Beispiel Ford

Gerald Willms Scientology Kulturbeobachtungen jenseits der Devianz

Oktober 2005, ca. 240 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-377-1

März 2005, 422 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-330-5

Marcus Termeer Verkörperungen des Waldes Eine Körper-, Geschlechterund Herrschaftsgeschichte

Matthias Groß, Holger Hoffmann-Riem, Wolfgang Krohn Realexperimente Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft

Juli 2005, 646 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 3-89942-388-7

Christoph Wulf Zur Genese des Sozialen Mimesis, Performativität, Ritual

Juni 2005, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-304-6

Juli 2005, 178 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 3-89942-415-8

Peter Fuchs Konturen der Modernität Systemtheoretische Essays II. hrsg. von Marie-Christin Fuchs

Angela Schwarz (Hg.) Der Park in der Metropole Urbanes Wachstum und städtische Parks im 19. Jahrhundert

Juni 2005, 196 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 3-89942-335-6

Juli 2005, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 23,80 €, ISBN: 3-89942-306-2

Barbara Christophe Metamorphosen des Leviathan in einer post-sozialistischen Gesellschaft Georgiens Provinz zwischen Fassaden der Anarchie und regulativer Allmacht Juni 2005, 264 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-323-2

Hannelore Bublitz In der Zerstreuung organisiert Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur Mai 2005, 172 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 3-89942-195-7

Helmut König, Manfred Sicking (Hg.) Gehört die Türkei zu Europa? Wegweisungen für ein Europa am Scheideweg März 2005, 222 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-328-3

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2005-07-05 12-45-05 --- Projekt: T415.sozialtheorie.wulf.genese / Dokument: FAX ID 020b88569094710|(S. 176-178) anzeige sozialtheorie juni 05.p 88569094742

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Michael Guggenheim Organisierte Umwelt Umweltdienstleistungsfirmen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik März 2005, 338 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-296-1

Thomas Kunz Der Sicherheitsdiskurs Die Innere Sicherheitspolitik und ihre Kritik Februar 2005, 422 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-293-7

Uwe Lewitzky Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität Januar 2005, 138 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN: 3-89942-285-6

Jacqueline Holzer Linguistische Anthropologie Eine Rekonstruktion Januar 2005, 322 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-301-1

Karl H. Hörning, Julia Reuter (Hg.) Doing Culture Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis

Frankfurter Arbeitskreis für politische Theorie & Philosophie (Hg.) Autonomie und Heteronomie der Politik Politisches Denken zwischen Post-Marxismus und Poststrukturalismus 2004, 206 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-262-7

Johannes Glückler Reputationsnetze Zur Internationalisierung von Unternehmensberatern. Eine relationale Theorie 2004, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-265-1

Jan Kruse Arbeit und Ambivalenz Die Professionalisierung Sozialer und Informatisierter Arbeit 2004, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-230-9

Gabriele Klein (Hg.) Bewegung Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte 2004, 306 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-199-X

2004, 264 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-243-0

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