Wiederholung als Widerstand?: Zur künstlerischen (Re-)Kontextualisierung historischer Fotografien in Auseinandersetzung mit der Geschichte Palästinas 9783839442579

The use of historical photos in contemporary art in context with the history of Palestine.

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Wiederholung als Widerstand?: Zur künstlerischen (Re-)Kontextualisierung historischer Fotografien in Auseinandersetzung mit der Geschichte Palästinas
 9783839442579

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Kuratorische Praxis und Annotation
The Arab Image Foundation
1. Die AIF-Sammlung: Der Transfer vom Privaten ins Öffentliche und das Versprechen des Archivs
2. Die AIF-Onlinebilddatenbank: Browse Collection – Location – Palestine
3. Palestine before ’48: Historische Imagination
4. Akram Zataaris Objects of Study (2004-fortlaufend): Fedajin, Reproduktion, Aneignung und Performanz
5. Akram Zataaris On Photography, People and Modern Times (2010): Wandel und Skepsis
II. Evidenz und Rhetorik
Walid Raad
6. Lamia Joreiges A Journey (2006): (Zerr-)Spiegel der Zeit
7. „Yes, I did. But I won’t do it again“: Walid Raads Auseinandersetzung mit den israelischen Angriffen auf die PLO in Beirut 1982
III. Konfrontation und Repräsentation
Yasmine Eid-Sabbagh
8. Emily Jacirs In this Building (2002): Das Queens Museum und eine Matrix aus Geopolitik und Geschichte
9. Emily Jacirs Material For a Film (2004-fortlaufend): Umkreisen eines Tatbestandes
10. Ein kontinuierliches „Verhandeln“: Yasmine Eid-Sabbaghs A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp (2001-fortlaufend)
IV. Wiederholung als Widerstand und die Mannigfaltigkeit des Möglichen
Literauturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Dank

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Daniel Berndt Wiederholung als Widerstand?

Image  | Band 130

Daniel Berndt ist Kunsthistoriker. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Theorie und Geschichte der Fotografie, Kunst und Politik sowie der zeitgenössischen Kunst im Nahen Osten.

Daniel Berndt

Wiederholung als Widerstand? Zur künstlerischen (Re-)Kontextualisierung historischer Fotografien in Auseinandersetzung mit der Geschichte Palästinas

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Graduiertenkollegs »Das fotografische Dispositiv« aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung & Satz: Julia Winkler, Berlin Umschlagabbildung: Walid Raad, We decided we let them say “we are convinced” twice (Details), 2002 Courtesy the artist & Sfeir-Semler Gallery Hamburg / Beirut Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4257-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4257-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 9

I. K ur atorische P r a xis und A nnotation Akram Zaatari | The Arab Image Foundation (AIF) | 39 1. Die AIF-Sammlung: Der Transfer vom Privaten ins Öffentliche und das Versprechen des Archivs | 48 Archiv oder Sammlung?: „Verantwortung für morgen“

2. Die AIF-Onlinebilddatenbank: Browse Collection – Location – Palestine | 59 Vergleichendes Sehen: Differenzen und Gemeinsamkeiten · 0025ka00040: Inszenierung der Inszenierung · Speicherung und Abfrage: Remediatisierung, verteilte Bilder

3. Palestine before ’48: Historische Imagination | 71 Curated by Akram Zaatari/The Arab Image Foundation · „Imaginative acts of inscription“: Neue Fragen, neue Antworten · Schnappschüsse im Ausstellungskontext · Fotografien als „quasi-Akteure“

4. Akram Zataaris Objects of Study (2004-fortlaufend): Fedajin, Reproduktion, Aneignung und Performanz | 89 Der Fotograf der „breiten Masse“: Studio Practices (2004) · Ein geschlossenes Kräftefeld: „Patriots perform patriotism“ · After They Joined the Military Struggle (2006): Aneignen der Aneignung · Überlagerung und Verdoppelung: Allegorisierung von Geschichte

5. Akram Zataaris On Photography, People and Modern Times (2010): Wandel und Skepsis | 115 Fotografie und der Prozess des Erinnerns · Zwei Leben, zwei Welten: Das Prisma individueller Erinnerungen · Verfremdung und Störung: Ein intermediales Gefüge · Reinen Tisch machen: Overload und Kontemplation

II. E videnz und R he torik Lamia Joreige | Walid Raad | 131 6. Lamia Joreiges A Journey (2006): (Zerr-)Spiegel der Zeit | 140 Subjektive Reflexion: A Journey, ein Videoessay · Mom: Die Geschichte genauer betrachten · Familie und Gesellschaft: Erinnerung und Geschichte · Mentales Kontinuum: Deleuzes Zeit-Bild · Modulation, Transformation und Migration: Intermedialität und Bellours L’Entre-Images · Hier und Anderswo: Heterotopie und Utopie

7. „Yes, I did. But I won’t do it again“: Walid Raads Auseinandersetzung mit den israelischen Angriffen auf die PLO in Beirut 1982 | 183 „I say different things at different times and in different places“: The Atlas Group · „Or so it seemed, and that much is certain“: We decided we let them say, „we are convinced“ twice (2002) · We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way (2002): Wiederholung, Differenz und Emphase · Untitled 1982-2007 (2008): Anleihen aus der Kunstgeschichte · Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989–2004) (2009) und I might die before I get a rif le (1989) (2008): Kunstgeschichte als Fiktion · I feel a great desire to meet the masses once again (2005): „Political dramaturgy of history as pedagogy“

III. K onfrontation und R epr äsentation Emily Jacir | Yasmine Eid-Sabbagh | 247 8. Emily Jacirs In this Building (2002): Das Queens Museum und eine Matrix aus Geopolitik und Geschichte | 254 Räumliche Setzung und das Optisch-Unbewusste: Zusammenhänge, ein abgekartetes Spiel ·

Bedeutungsrahmen und Erinnerungsort · „Eingedenken der Gesellschaft im Subjekt“: Konfrontation, Positionierung und Aktualisierung

9. Emily Jacirs Material For a Film (2004-fortlaufend): Umkreisen eines Tatbestandes | 278



Per un palestinese: Exponieren/Porträtieren · Filmische Wirkung: Narrativ und Zeitraumkontinuum · Fotografische Modi: Display, Performanz und Spur · An- und Abwesenheit, Nähe und Distanz: Spur/Aura · Ein Monument: Zuaiter als Märtyrer · Konfrontative Gratwanderung: Zwischen Idealismus und Ideologie

10. Ein kontinuierliches „Verhandeln“: Yasmine Eid-Sabbaghs A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp (2001-fortlaufend) | 311 „Zone der Ununterscheidbarkeit“: How Beautiful is Panama! (2008) · „Sense of place“ und Krise der Repräsentation: Methodische Grundlagen · „Left to others“: Mediale Repräsentation der Palästinenser und der Flüchtlingscamps durch die UNRWA · Gedankenaustausch: Generationsübergreifender Wandel im Umgang mit Fotografie und Postmemory · 35': „Presentation that refuses representation“ · Zeigespiel und Sprechakt: Die Dringlichkeit des Unartikulierbaren · Latente Bilder: Ein Vermächtnis an die Zukunft?

IV. W iederholung als W iderstand und die M annigfaltigkeit des M öglichen | 355 Literauturverzeichnis |377 Abbildungsverzeichnis | 409 Dank | 412

Einleitung

„Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert.“ – Søren Kierkegaard1 „Nicht jeder Widerstandsakt ist ein Kunstwerk, obwohl er in gewisser Weise ein solches ist. Und nicht jedes Kunstwerk ist ein Widerstandsakt, auch wenn es in gewisser Weise einer ist.“ – Gilles Deleuze 2

Ich könnte mit der Beschreibung eines Bildes beginnen – einer Fotografie. Aber mit welcher? Mit dem Foto, das Mitglieder der Jewish Agency zeigt, wie sie während der UN-Versammlung am 12. November 1947, in der die Teilung Palästinas beschlossen wurde, auf eine Landkarte blicken? War der Teilungsplan doch eine maßgebliche Grundlage für die Entstehung Israels 1948 und damit auch ein Auslöser für den ersten arabisch-israelischen Krieg... Treten in diesem Bild nicht emblematisch die kolonialen Wurzeln und die moderne rationale Erfassung eines Territoriums zu Tage, die in Folge des Sykes-Picot-Abkommens eine weitere Grenzzie1 |  Kierkegaard, Søren Die Wiederholung/Die Krise, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsgesellschaft 1991, S. 7. 2 |  Deleuze, Gilles „Was ist ein Schöpfungsakt“, in ders. Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 298-308, hier S. 308.

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hung in der Region des sogenannten Nahen Ostens mit fatalen Folgen ermöglichten? Oder sollte ich mit dem Porträt einer jungen Frau in einem Beduinengewand beginnen, das scheinbar einen Eindruck von einer Zeit vor diesen Ereignissen, vor dem Einfluss der Moderne, vor der Fotografie liefert? Ich könnte auch mit der Beschreibung des Fotos einer Gruppe Schaulustiger beginnen, wie sie im Sommer 1982 im Ostteil Beiruts von einem Hügel aus die Angriffe der israelischen Armee auf die Stützpunkte der Palästinensischen Befreiungsorganisation im Westen der Stadt beobachten. Daran ließen sich gut einige einführende Bemerkungen zur Rolle der Betrachter*innen, deren Standpunkt und Positionierung machen. In diesem Zusammenhang könnte ich zudem auf die Fotos ganz ähnlicher Art verweisen, wie sie im Juli 2014 in Israel entstanden und Personen zeigen, die die verheerenden Luftangriffe während der „Operation Protective Edge“ auf den Gazastreifen beobachten.3 Aber vielleicht wäre das Foto eines Fedajin, eines palästinensischen Widerstandskämpfers, der eine Kafaya tragend und eine Kalaschnikow im Anschlag haltend vor der Kamera posiert, doch ein geeigneterer Einstieg, weil es den palästinensischen Widerstand in einer ikonenhaften Darstellung repräsentiert. Oder sollte ich anfangs eher auf ein Foto verweisen, welches in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon gemacht wurde, um einen Ausblick auf das Schicksal hunderttausender Palästinenser*innen zu liefern, die seit mehr als 60 Jahren in solchen Lagern leben? Denn all dies sind Bilder, um die es in diesem Buch gehen wird. Genauer sind es Bilder, auf die sich die Künstler*innen Akram Zaatari, Emily Jacir, Lamia Joreige, Walid Raad und Yasmine Eid-Sabbagh in ihren 3 |  Der Journalist Allan Sørensen veröffentlichte am 9. Juli 2014, kurz nach Beginn der Luftangriffe eines der ersten dieser Fotos auf seiner Twitterseite und kommentierte es mit: „Sderot cinema. Israelis bringing chairs 2 hilltop in sderot 2 watch latest from Gaza. Clapping when blasts are heard.“ In der Nacht, als Sørensen die Aufnahme machte, wurden mehr als 100 Ziele in Gaza beschossen, nach palästinensischen Angaben 25 Menschen – darunter zahlreiche Kinder – getötet und etwa 130 Personen verletzt. Vgl. dazu Mackey, Robert „Israelis Watch Bombs Drop on Gaza From Front-Row Seats“, in: The New York Times, July 14, 2014, http://nyti.ms/1npRbHJ [eingesehen am 19.06.2016]. In ihrem Essay „Asleep in a Sterile Zone“ schreibt die Fototheoretikerin Ariella Azoulay über ähnliche, von dem Fotografen Miki Kratsman gemachten Fotos, die bereits 2009 entstanden.

Einleitung

künstlerischen Auseinandersetzungen mit Erinnerung, Fotografie und Palästina beziehen, die Gegenstand meiner Überlegungen sind. Dabei reicht die Bandbreite der Verfahren, die diese Künstler*innen anwenden, von der Erstellung fotografischer Sammlungen bis hin zur Recherche in institutionellen Fotoarchiven, die wiederum die Grundlage für Untersuchungen historischer Gegebenheiten bilden oder als Ausgangspunkt für konkrete sowie abstrahierende und hypothetische Leseweisen fotografisch festgehaltener Ereignisse fungieren. Damit einhergehend (re-)kontextualisieren Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh historische bzw. „alte“ Fotografien mittels verschiedener Medien und künstlerischer Formate wie Ausstellungen, Videos, Publikationen, Performances und Installationen. Sie verhandeln deren Bedeutung oder stellen durch ihre Bezugnahme auf sie neue Bedeutungszusammenhänge her – wobei (Re-) Kontextualisieren hier auch mit Reproduzieren, Reaktivieren, „Rahmen“ und Zeigen, kurzum mit Wiederholen im Sinne eines nochmals Hervorbringens, eines Wi(e)derlesens und (Re-)Zitierens gleichzusetzen ist.4 Ein zentrales Anliegen dieses Buches ist es also, zunächst darzulegen, welche unterschiedlichen Perspektiven die genannten Künstler*innen im Zuge dieser Wiederholung verfolgen und wie sich diese wiederum auf die Rezeption der von ihnen verwendeten Fotografien auswirken. Es soll gezeigt werden, wie durch die von Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh erzeugten intermedialen Strukturen eine Migration und Zirkulation von Fotografien als historische Quellen evoziert wird. Dabei gehe ich von der These aus, dass die Fotografie oder weiter gefasst das Fotografische5 als Teil eines Handlungsgefüges fungiert, welches durch 4 |  Vgl. Eschkötter, Daniel „Passagen der Wiederholung:
Kierkegaard – Lacan – Freud“, in: Modern Language Notes, Volume 117, Number 3, April 2002 (Deutsche Ausgabe), S. 675-681, hier S.675. 5 |  Während die Bezeichnung Fotografie in theoretischen Diskussionen im Hinblick auf das Medium und seine Eigenschaften, seine technisch-chemische Apparatur und die damit produzierten Bilder verwendet wird, umfasst der maßgeblich von Rosland Krauss starkgemachte Begriff des Fotografischen primär eine Auffassung der Fotografie als eine „indexikalische Strategie“ und als Resultat einer technisch-automatisierten Bildproduktion. Der Status der Fotografie wird demnach nicht aus bestimmten Eigenschaften fotografischer Bilder hergeleitet, sondern aus den Funktionen bzw. den Handlungsräumen der Fotografie, die sowohl ihre Distribution als auch ihre Rezeption miteinschließen.

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künstlerische Eingriffe und Bearbeitung zwischen den Urheber*innen von Fotos, dem darauf Abgebildeten, aber auch archivarischen Strukturen und der Rezeption der Betrachter*innen vermittelt. Ein weiteres Hauptaugenmerk meiner Untersuchungen liegt auf dem inhaltlichen Schwerpunkt, den die genannten künstlerischen Praktiken mehr oder weniger explizit zum Gegenstand machen: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte Palästinas, der Palästinenserfrage und dem Nahostkonflikt. Ich möchte in dieser Abhandlung also untersuchen, wie genau der künstlerische Umgang mit historischen Fotografien im Hinblick auf diesen spezifischen historisch-politischen Kontext von den genannten Künstler*innen fruchtbar gemacht wird: Leisten Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh damit in Bezug auf Palästina einen Beitrag zur Diskursivierung geschichtsbildender und identitätsstiftender Prozesse und wenn ja, auf welche Weise? Welches kritische Potential ergibt sich gegebenenfalls daraus und welche Problemstellungen werfen ihre Arbeiten auf? Anders formuliert möchte ich erstens darlegen, wie Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh durch formalästhetische Verfahren der Wiederholung eine Verbindung zwischen palästinensischer Geschichte und Identität mit Diskursen der Fotografiegeschichte und -theorie herstellen. Zweitens möchte ich zeigen, welche Alternativen sie zur hegemonial ausgerichteten Geschichtsschreibung und insbesondere dem von zionistischer Seite vertretenen historischen Narrativ liefern. Nachdem den Palästinenser*innen in Folge der Staatengründung Israels 1948 ihre Existenz als Nation bis heute verwehrt wird, sie seither beharrlich um Sichtbarkeit und politische Anerkennung kämpfen und ihnen immer wieder die Möglichkeit, sich und ihre Geschichte im Zuge des andauernden Nahostkonfliktes selbst zu repräsentieren, strittig gemacht wird, erscheint die Schaffung solcher Alternativen dringlicher denn je.6 Es gilt jedoch zu klären, ob die genannten Künstler*innen leVgl. Krauss, Rosalind E. Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München: Wilhelm Fink 1998. 6 |  Dies gilt insbesondere in einer Zeit, in der der israelische Ministerpräsident Binyamin Netanyahu historische Fakten vor den Augen der Weltöffentlichkeit derartig verfälscht darstellt, dass er die Palästinenser*innen gar für den Holocaust verantwortlich macht. Während einer Ansprache vor Delegierten des Internationalen Zionistenkongresses in Jerusalem im Oktober 2015 behauptete er, dass der palästinensische Großmufti von Jerusalem Amin al Husseini

Einleitung

diglich historiografische Prozesse mit der vermeintlichen Authentizität historischer Erfahrung konterkarieren, um darüber affektive und sinnliche Zugänge zur Vergangenheit zu schaffen, oder ob sie dabei vielmehr sowohl die Konstruiertheit von Geschichte als auch die von Erinnerung berücksichtigen. Das heißt, es stellt sich die Frage, inwiefern sie, indem sie die historischen Bedingungen ihrer eigenen Gegenwart diskutieren, diese Gegenwart auch nach ihrer Zukunft befragen und sich damit im Kirkegaardschen Sinne der Wiederholung „nach vorwärts“ erinnern.7

Der Grenzgang der Kunst in das Feld der Geschichtsschreibung Erinnerung ist ein prominenter Topos in der Gegenwartskunst. Spätestens seit den 1990er Jahren setzen sich immer mehr zeitgenössische Künstler*innen mittels rechercheorientierter Verfahrensweisen mit vergangenen, geschichtsträchtigen Ereignissen auseinander. Sie leisten Archivarbeit, hinterfragen offizielle historische Narrative, wenden sich individuellen Erinnerungen in Form von Zeugenberichten zu oder loten das Verhältnis zwischen Geschichte und kollektivem Gedächtnis aus. Häufig ist dieses Vorgehen zusätzlich an (identitäts-)politische Agenden geknüpft, mit denen Künstler*innen etwa danach streben, einem ideologisch gesteuerten Vergessen entgegenzuwirken sowie Narrative subalterner Gesellschaftsschichten offen- und darzulegen. In Anbetracht der Tatsache, dass „die Kunst nicht nur der Geschichte unterliegt, sondern

Hitler 1941 zur systematischen Ermordung der Juden gedrängt habe. Vgl. hierzu: Beaumont, Peter „Anger at Netanyahu claim Palestinian grand mufti inspired Holocaust“, in: The Guardian, 21.10.2015, http://www.theguardian. com/world/2015/oct/21/netanyahu-under-f ire-for-palestinian-grand-muftiholocaust-claim [eingesehen am 19.06.2016]. 7 |  Kierkegaard, Søren Die Wiederholung/Die Krise, Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsgesellschaft 1991, S. 7. Laut Kirkegaard ist die Wiederholung „ein entscheidender Ausdruck für das, was ‚Erinnerung‘ bei den Griechen gewesen ist.“ Die Wiederholung wird von ihm also nicht als sinnentleerte Routine betrachtet, sondern als Erkenntnisgewinn. Er vertritt die Annahme, dass er das gesamte Leben, ebenso wie die Erkenntnis als einen Prozess der erinnernden Wiederholung auffasst, aus dem letztlich Entscheidungen für Neues erfolgen sollen.

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Geschichte auch selbst immer wieder neu zu lesen gibt“8, lesen sie die Geschichte zugleich gegen den Strich. Sie prüfen und interpretieren die Vergangenheit als etwas, das auf gegenwärtige politische, soziale und ökonomische Verhältnisse fortwirkt, ohne zwangsläufig das Ende historischer Erzählungen zu proklamieren. Ihr Grenzgang in das Feld der Geschichtsschreibung forciert vielmehr „eine Vervielfältigung historischer Narrative, die in ein Verhältnis zueinander gebracht werden müssen.“9 Eben dies ist das Anliegen von Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh. Auch wenn sie alle international etablierte Künstler*innen sind, deren Arbeiten weltweit in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt und in begleitenden Publikationen besprochen werden, mangelt es nach wie vor an konkreten kunsthistorischen Analysen ihrer Praktiken.10 Es fehlen insbesondere Untersuchungen, die nicht vorrangig von Fragestellungen hinsichtlich kultureller Differenz und einer geopolitischen Dichotomie zwischen Ost und West, Orient und Okzident ausgehen.11 Zudem werden die Arbeiten der libanesischen Künstler*innen Zaatari, Raad und Joreige überwiegend im Hinblick auf deren Auseinandersetzungen

8 |  Rebentisch, Juliane Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2013, S. 130. 9 |  Ebd. 10 |  Der Begriff der „künstlerischen Praxis“ ist trotz seiner Sperrigkeit hier bewusst gewählt, da die folgenden Analysen sich nicht nur auf Kunstwerke im klassischen Sinne beziehen. Sie umfassen auch Prozesse, die von den Künstler*innen selbst als „Projekte“ oder „Work in Progress“ bezeichnet werden. Im Fall von Zaatari schließt seine Praxis zudem sein Schaffen im Rahmen der von ihm mitbegründeten Arab Image Foundation mit ein. 11 |  Beispielhaft können dafür die Kataloge für die Gruppenausstellungen Disorientation in Berlin (2003), Tamáss. Contemporary Arab Representations in Rotterdam/Barcelona/Umeå/Berlin (2002/2003), Out of Beirut in Oxford (2006), Here and Elsewhere in New York (2014) und Too Early, Too Late. Middle East And Modernity in Bolgona (2015) gelten. Sie verhandeln primär die Schnittstellen zwischen kultureller Identität und Differenz, gegenwärtige politische Konstellationen sowie die Konstruktion orientalistischer Stereotype und thematisieren im Zuge dessen (mehr oder weniger kohärent) die problematische Dichotomie zwischen Ost und West im Kontext postkolonialer Diskurse.

Einleitung

mit der Geschichte des libanesischen Bürgerkrieges betrachtet.12 Auf die zentrale Rolle, die das Fotografische bzw. der Rekurs auf historische Fotografien in der Vorgehensweise dieser Künstler*innen ebenso wie der von Jacir und Eid-Sabbagh spielen, ging die entsprechende Literatur bis dato jedoch nur marginal ein. Unabhängig vom geografischen Kontext wurden einige der hier zur Diskussion gestellten Arbeiten in den letzten zehn Jahren im Zuge des sogenannten archival turn vermehrt in thematischen Ausstellungen gezeigt, die sich mit dem Archiv auseinandersetzen.13 Auch wurden sie in theoretischen Ausführungen mit Fragestellungen zu historiografischen Prozessen und dem Stellenwert des Dokumentarischen in Verbindung gebracht.14 Zwar sind Geschichts-, kulturelle Gedächtnis- und Archivtheorien in meinen Ausführungen zu Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh ebenfalls tonangebend. Dennoch möchte ich zeigen, dass einzig eine Berufung darauf für die Analyse ihrer Praktiken keineswegs genügt. So werde ich zusätzlich u.a. medien- und filmwissenschaftliche Ansätze hinzuziehen, um auf Aspekte der Intermedialität, Remediati12 |  Vgl. hierzu Wilson-Goldie, Kaelen Digging for Fire. Contemporary Art Practices in Postwar Lebanon, unv. Masterarbeit, American University Beirut 2005; Rogers, Sarah Postwar Art and the Historical Roots of Beirut‘s Cosmopolitanism, Disseration, Massachusetts Institute of Technology, Dept. of Architecture 2008; und Westmoreland, Mark Crisis of Representation. Experimental Documentary in Postwar Lebanon, Arbor/Michigan: Proquest, Umi Dissertation Publishing 2008. 13 |  Exemplarisch können hier vor allem Okwui Enwezors Ausstellung Archive Fever. Uses of the Document in Contemporary Art (2008) im International Center of Photography in New York aber auch die von Carolyn Christov-Bakargiev kuratierte dOCUMENTA (13) (2012) genannt werden. 14 |  Vgl. etwa Gludovatz, Karin (Hg.) Auf den Spuren des Realen. Kunst und Dokumentarismus, Wien: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig 2004; Merewether, Charles (Hg.) The Archive, Cambridge MA/London: MIT Press/Whitechapel 2006; Cotter, Suzanne „The Documentary Turn: Surpassing Tradition in the Work of Walid Raad and Akram Zaatari“, in: Sloman, Paul (Hg.) Contemporary Art in the Middle East, London 2009, S. 50-51; Farr, Ian (Hg.) Memory, Cambridge MA/London: MIT Press/Whitechapel 2012; sowie Downey, Anthony (Hg.) Dissonant Archives. Contemporary Visual Culture and Contested Narratives in the Middle East, London/New York: I.B. Tauris 2015.

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sierung und Digitalität einzugehen, die darin aufscheinen. Das Hauptaugenmerk lege ich jedoch auf die verschiedenen durch sie vermittelten Auffassungen von der Fotografie bzw. darauf, welchen Anteil das fotografische Bild an der (Re-)Konstruktion von Erinnerung und Geschichte im Modus künstlerischer Wiederholung haben kann. Basierend auf ihrer indexikalischen Eigenschaft, d.h. ihrer ontologischen Bestimmung als physikalisch-chemische Spur dessen, was sich vor dem Objektiv der Kamera befand, und dem daraus abgeleiteten Realitätsparadigma, wird die Fotografie im Zuge der Wiederholungen von Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh beharrlich auf ihre scheinbare Faktizität und Gedächtnisfunktion hin geprüft. Ihr wird oft eine Beweiskraft zugesprochen, d.h. fotografische Bilder werden als historische Dokumente erachtet. Von einigen der genannten Künstler*innen wird allerdings gerade dieser in der Ontologie des fotografischen Bildes verankerte Status als fotografisches Dokument hinterfragt und als Konstrukt bzw. Resultat „sozialer und kultureller Praktiken, Zuschreibungen und Codes“15 offengelegt. Sie hegen explizit Zweifel an dem unvermittelten Wahrheitsgehalt fotografischer Bilder und geben zu bedenken, dass die Machtwirkungen ihrer Evidenz nur auf dem Feld institutioneller und politisch gesteuerter Diskurse erzeugt werden.16 Diese gegensätzlichen Auffassungen werden von Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh jedoch keinesfalls dogmatisch vertreten. Vielmehr versuchen sie oftmals, zwischen ihnen zu changieren oder sie teilweise (ironisch) zu brechen, wobei sie nicht zuletzt auf die Phänomenologie der Fotografie und das von ihr ausgehende Affektpotential verweisen. Im Folgenden werde ich daher darlegen, wie die genannten Künstler*innen historische Fotos nicht nur als visuelle Zeugnisse „wiederholen“, um die Vergangenheit zu beleuchten, historiografische Prozesse zu dekonstruieren oder sie als Grundlage historischer Imagination zu postulieren. Mir geht es genauso darum, zu zeigen, wie sie Fotografien darüber hinaus als Objekte von sozialer Bedeutung ver-

15 |  Geimer, Peter Theorien der Fotograf ie zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2009, S. 70. 16  |  Vgl. Tagg, John „Der Zeichenstift der Geschichte“, in: Amelunxen, Hubertus v. (Hg.) Theorie der Fotograf ie IV, 1980-1995, München: Schirmer/ Mosel 1999, S. 297-322, hier. S. 310.

Einleitung

handeln und damit zugleich als Auslöser von Emotionen sowie als Ausdruck und Träger von Wünschen und Begehren thematisieren.17 Im Zuge dessen betonen Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh nicht zuletzt, wie sehr die mnemonische Funktion der Fotografie von schriftlicher Annotation und mündlicher Tradierung abhängt.18 Indem sie in ihren Arbeiten oder etwa im Kontext von Ausstellungen historische Fotos vorwiegend in Relation zu gesprochenen sowie schriftlichen Äußerungen präsentieren, stellen sie die Verknüpfung von Text und Bild als Instanz heraus, die zwischen dem fotografischen Realitätseffekt und ihrer vermeintlichen Evidenz einerseits und historischen Fakten bzw. Informationen wie Eigennamen, Ortsbezeichnungen, Datierungen anderseits vermittelt. Aber anstatt, wie es überwiegend in der akademischen Geschichtsschreibung der Fall ist, vom Text auszugehen und Fotografien vornehmlich als Illustrationen zu nutzen, nimmt ihre künstlerische Vorgehensweise beim Bild als historischer Quelle ihren Ausgang. Sie zeigen zudem auf, wie die Lesart und Bedeutung einer Fotografie nicht nur durch ihre immanente Bildrhetorik, sondern auch durch die Rhetorik ihrer sprachlichen Kontextualisierung wesentlich beeinflusst wird. Dazu setzen Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh Mittel und Strategien ein, die teilweise direkt auf kunsthistorische Vorbilder rekurrieren.

Indexikalität und Digitalität – Die Dialektik zwischen Amnesie und Gedächtnis Die künstlerische Aneignung bestehender Fotografien und deren Einbettung in intermediale Strukturen findet sich bereits in dadaistischen und surrealistischen Collage- und Montagetechniken, in der Pop-Art, in der 17 |  Einen umfassenden Überblick über verschiedene theoretische Ansätze dazu bietet Elizabeth Edwards in ihrem Aufsatz „Material beings: objecthood and ethnographic photographs“, in: Visual Studies, Vol. 17, No. 1, 2002, S. 67-75. 18 |  Allan Sekula sieht in dieser Abhängigkeit in Bezug auf die Verknüpfung von Fotografie und Archiv auch ein Zeichen des fehlenden Vertrauens in das mimetische Vermögen der Fotografie bzw. betrachtet er es als ein Mittel der „Zähmung des Fotos“, um „die Unzulänglichkeit eines rein visuellen Empirismus zu überwinden“. Vgl. hierzu ders. „Der Körper und das Archiv“, in: Wolf, Herta (Hg.) Diskurse der Fotograf ie. Fotokritik am Ende des fotograf ischen Zeitalters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 269-334, hier S. 303 und S. 324.

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Konzeptkunst und den künstlerischen Praktiken der 1990er Jahre, die unter der Bezeichnung „Kontextkunst“ gefasst wurden.19 Jedoch mangelt es auch hier an fundierten kunsthistorischen Untersuchungen, die sich diesem Phänomen fokussiert zuwenden. Benjamin Buchlohs erstmals 1993 erschienener Text „Gerhard Richters Atlas. Das anomische Archiv“20 und Mark Godfreys 2007 in der Zeitschrift October veröffentlichter Aufsatz „The Artist as Historian“ sind dafür zwei seltene Ausnahmen. Buchlohs Fokus liegt, wie es der Titel seines Textes bereits verdeutlicht, auf Richters Atlas (1962-2013), einer Sammlung von Fotografien, Zeitungsausschnitten und Skizzen, die der Künstler auf hunderten Blättern oder Tafeln präsentiert.21 Godfrey analysiert in seinem Aufsatz primär eine Auswahl von Werken des amerikanischen Künstlers Matthew Buckingham. Trotz der monografischen Ausrichtung ihrer Schriften bemühen sich beide Autoren auch darum, einen historischen Überblick über die künstlerische Verwendung historischer Fotografien zu liefern. Buchloh geht von der Beobachtung aus, dass zwischen Anfang und Mitte der 1960er Jahre eine Reihe europäischer Künstler*innen formale Verfahren der Akkumulation gefundener Fotografien aufgreifen sowie die „unendliche Vervielfältigbarkeit, Serialisierungsfähigkeit und [das] allumfassende Totalitätsstreben“ der Fotografie „als formales Organisa-

19 |  Frühe Beispiele dafür sind etwa Hannah Höchs sog. Scrapbook (ca. 1933), die Fotomontagen John Heartfields und Andy Warhols in den 1960er Jahren entstandene Death and Disaster Serie. 20 |  Buchloh, Benjamin „Gerhard Richter, Atlas: Das Archiv der Anomie“, in Gerhard Richter, vol. 2., Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 1993 – im Folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung der im Frühjahr 1999 von Buchloh im October Magazin (no. 88) veröffentlichten englischen Version des Textes: „Gerhard Richters Atlas. Das anomische Archiv“, in: Wolf, Herta (Hg.) Paradigma Fotograf ie. Fotokritik am Ende des fotograf ischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 399-427. 21 |  In der Literatur erscheinen oft unterschiedliche Angaben, was die Datierung und den Umfang von Richters Atlas betrifft. Das ist der Tatsache geschuldet, dass sich die Arbeit scheinbar weiterhin im Progress befindet. Aktuelle Informationen dazu finden sich auf der Webseite des Künstlers: https://www.gerhardrichter.com/de/art/atlas/atlas-17677/?&p=1&sp=32 [eingesehen am 19.06.16].

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tionsprinzip verwenden.“22 Sie setzen sich damit, so Buchloh, nicht nur von der Montage- und Collageästhetik des Dada und des Surrealismus ab, sondern rücken in ihren Werken ganz bewusst die „archivalische Ordnung der Fotografie in den Vordergrund“.23 Bevor er genauer auf Richters Atlas eingeht, nennt Buchloh u.a. auch Christian Boltanski als Beispiel für diese Vorgehensweise, die angesichts einer überbordenden Bilderflut und der stetigen Übersetzung der Realität in massenmedial verbreitete visuelle Klischees die Bedeutung der Fotografie für das kollektive Gedächtnis sowie der Sicherung und Affirmation von Identität verhandelt.24 Richters Atlas situiert Buchloh jedoch ausdrücklich „inmitten der Dialektik von Amnesie und Gedächtnis“25, da er nicht nur einen Überblick über die „herrschenden sozialen Verwendungsweisen der Fotografie“26 im Nachkriegsdeutschland und damit einhergehenden fotografischen Repräsentationen historischer Ereignisse wie dem Deutschen Herbst 1977 liefert, sondern die Fotografie ebenso „als eine dubiose Agentin, die die mnemische Erfahrung gleichzeitig vollzieht und zerstört“27 verhandelt. Godfrey knüpft an den von Buchloh dargelegten historischen Überblick an, indem er zusätzlich auf die in den 1960er Jahren in Nordamerika aufkommende fotokonzeptuelle Strömung verweist, im Zuge derer Künstler*innen wie Douglas Huebler ebenfalls auf bereits existierende Fotografie zurückgreifen, um darüber verstärkt ihre Bildrhetorik sowie die ethisch-politische Tragweite fotografischer Repräsentation zu hinterfragen.28 Weiterhin erwähnt Godfrey Künstler*innen der sogenannten 22 |  Buchloh, Benjamin „Gerhard Richters Atlas. Das anomische Archiv“, in: Wolf, Herta (Hg.) Paradigma Fotograf ie. Fotokritik am Ende des fotograf ischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 399-427, hier S. 400. 23 | Ebd., S. 403 f. 24 |  Vgl. hierzu Assmann, Aleida „Das Rahmen von Erinnerungen am Beispiel der Foto-Installationen von Christian Boltanski“, in: BIOS - Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, 21 (2008), 1, S. 4-14. 25 |  Buchloh, Benjamin „Gerhard Richters Atlas. Das anomische Archiv“, in: Wolf, Herta (Hg.) Paradigma Fotograf ie. Fotokritik am Ende des fotograf ischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt/Main 2002 (S. 399-427), S. 425. 26 |  Ebd., S. 416. 27 |  Ebd., S. 419. 28 |  Als weitere Vertreter*innen dieses Fotokonzeptualismus könnten u.a. auch Martha Rosler, Barbara Kruger, Victor Burgin und Allan Sekula genannt werden.

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„Pictures Generation“29, die Ende der 1970er in Anlehnung an soziologische sowie semiologische Untersuchungen und deren Kritik an der positivistischen Leseweise der Fotografie beginnen, die Konstanten des Fotografischen in einem neuem Licht zu fassen. Zwar nutzen sie in Zeitschriften und Magazinen publizierte Fotos sowie Aufnahmen berühmter „Autorenfotografen“, um mittels deren ostentativer Reproduktion bzw. Appropriation eine bereits Bild gewordene Realität zu dekonstruieren sowie modernistische Paradigmen wie Autorschaft, Originalität und den medienhierarchischen Kunstbegriff der Moderne zu unterminieren.30 Die Verwendung historischer Fotografien taucht aber auch bei ihnen vereinzelt auf. Troy Brauntuchs Triptychon Untitled (1980) etwa basiert auf einer aus dem Jahre 1934 stammenden Fotografie, welche Hitler schlafend in einem Mercedes zeigt.31 Zudem hat ihre Bearbeitung fotografischer Vorlagen, die primär die Opazität der Fotografie dazu nutzt, den „Schluss von der Repräsentation auf das Repräsentierte“ zu stören, um die Repräsentation an sich als „machtvolle[n] Bestandteil der sozialen Wirklichkeit“32 zu verdeutlichen, durchaus auch Einfluss auf die „photo-based work[s]“33 einiger der internationalen zeitgenössischen Künst-

29 |  Vgl. hierzu Crimp, Douglas „Pictures“, in: October, Vol. 8 (Spring, 1979), S. 75-88 sowie Eklund, Douglas (Hg.) The Pictures Generation, 1974 – 1984 [Ausst.- Kat.], New York/New Haven, Conn.: Metropolitan Museum of Art/Yale Univ. Press 2009. 30 |  Vgl. Elia-Borer, Nadja „Desillusionierte Blicke in der Fotografie. Heterotope Verfahren in der Medienkunst“, in: dies.; Schellow, Constanze; Schimmel, Nina und Wodianka, Bettina Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Bielefeld: transcript 2013, S. 283-302, hier S. 290. 31 |  Laut Crimp trifft Brauntuch damit keine Aussage über ein konkretes historisches Ereignis. Er mache, so Crimp, die Relation zwischen Erinnerung, Geschichte und Fotografie nur implizit zum Thema. Brauntuchs Triptychon verleihe demnach unserer Distanz „from the history that produced these images“ Ausdruck. Vgl.: Crimp, Douglas „Pictures“, in: October, Vol. 8, Spring 1979, S. 75-88, hier S. 85. 32 |  Rebentisch, Juliane Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius 2013, S. 154 und S. 160. 33 |  Godfrey, Mark „The Artist as Historian“, in: October, Vol. 120, Spring 2007, S. 140-172, hier S. 143.

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ler*innen, auf die Godfrey neben Matthew Buckingham in „The Artist as Historian“ eingeht. Gemäß dem programmatischen Titel des Textes untersucht Godfrey ihre Arbeiten und die darin vollzogene Einbettung historischer Fotos allerdings primär im Hinblick darauf, wie sie damit die Relation zwischen Fotografie, Erinnerung und Geschichte thematisieren. Er stellt dabei zwei Hauptthesen auf. Ihm zufolge streben Gegenwartskünstler*innen auf diese Weise zum einen danach, an historisierenden Prozessen teilzuhaben, um einer durch den vorherrschenden globalen Kapitalismus forcierten Amnesie und kulturellen Nivellierung entgegenzuwirken.34 Zum anderen sieht er das Aufkommen der Kultur der Digitalität35 als einen maßgeblichen Auslöser dafür, dass Künstler*innen sich vermehrt Fotografien als Träger von Erinnerung zuwenden. Denn von der Digitalisierung geht, so Godfrey, eine „Bedrohung“ für die Indexikalität filmbasierter Medien und demzufolge ihrer „Authentizität“ aus, was die Künstler*innen dazu veranlasst, ihre mnemonische Funktion zu reflektieren und daran gebunden „work about the past“ zu produzieren.36 34 |  Godfrey, Mark „The Artist as Historian“, in: October, Vol. 120, Spring 2007, S. 140-172, hier S. 146. Sich auf diese These Godfreys beziehend, stellt die Kunsthistorikerin Christine Ross ferner die mit der künstlerischen Thematisierung von Vergangenheit einhergehende Verhandlung von Zeitlichkeit als eine ästhetische Form heraus, die Zeit, Geschichte sowie die gegenwärtige Erfahrung von zeitlichem Verstreichen vereint. Dabei ermögliche jene Kunst, laut Ross, durch eine Kritik am „modern regime of historicity“ nicht nur eine gegenwartsbezogene Erneuerung historischer Zeit sondern auch eine Öffnung hin zu zukünftigen Entwicklungen. Vgl. hierzu: Ross, Christine The Past is the Present; It’s the Future Too. The Temporal Turn in Contemporary Art, New York/ London: Continuum 2012. 35 |  Vgl. hierzu Stalder, Felix Kultur der Digitalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016; Gere, Charlie Digital Culture, London: Reaktion Books 2009 und Rabinovitz, Lauren und Geil, Abraham (Hg.) Memory Bytes. History, Technology, and Digital Culture, Durham/London: Duke University Press 2004. 36 |  Godfrey, Mark „The Artist as Historian“, in: October, Vol. 120, Spring 2007, S. 140-172, hier S. 146. Der Medienwissenschaftlicher Lev Manovich äußert sich zum Verhältnis zwischen digitaler Fotografie und Historizität an andere Stelle wie folgt: „Die Logik der digitalen Fotografie ist durch historische Kontinuität und Diskontinuität gekennzeichnet. Das digitale Bild reißt das Netz der semiotischen Codes der Darstellungsformen und der eingefahrenen Betrachtungs-

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Godfreys Annahmen sind durchaus für die Betrachtung der künstlerischen Praktiken von Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh relevant.37 Das gleiche gilt für Buchlohs Feststellung, dass in der Kunst, wie im Fall von Richters Atlas, die Fotografie nicht nur als dokumentarisches und künstlerisches Medium eingesetzt wird, sondern sie in ihrem sozialen Gebrauch oftmals als potentielle Verursacherin einer gesellschaftlichen Indifferenz und Entfremdung thematisiert wird.

Koexistenz unterschiedlich gelebter Gegenwarten – Kunst als Erinnerung Ein weiterer Text, der Buchlohs und Godfreys Annahmen zur künstlerischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit über die Fotografie implizit widerspiegelt, ist Peter Osbornes 2013 erschienenes Buch Anywhere or Not At All. Philosophy of Contemporary Art. Zwar geht Osborne darin nicht genauer auf die Verwendung historischer Fotografien ein – auch wenn er sich eingehend mit Arbeiten Walid Raads beschäftigt, die diesem Prinzip zu Grunde liegen. Dennoch werfen seine Überlegungen zur Gegenwartskunst und dem, was er „postconceptual art“ nennt, sowie seine Erläuterungen zur Bedeutung des Fotografischen für die künstlerische Bearbeitung von vergangenen Ereignissen weitere Problemstellungen auf, die ebenso in der Analyse der von mir zur Diskussion gestellten künstlerischen Praktiken von Interesse sind. weisen in der modernen visuellen Kultur auseinander und webt zur selben Zeit dieses Netz sogar noch dichter. Das digitale Bild läßt die Fotografie verschwinden, während es das Fotografische festigt und verewigt. Kurzum: Diese Logik ist die der Fotografie nach der Fotografie.“ Siehe hierzu: Manovich, Lev „Die Paradoxien der digitalen Fotografie“, in: Amelunxen, Hubertus v.; Iglhaut, Stefan und Rötzer, Florian (Hg.) Fotograf ie nach der Fotograf ie, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 58-66, hier S. 58 f. 37 |  So bezieht sich Godfrey in seinem Aufsatz neben Arbeiten von Buckingham, Fiona Tan, Santu Mofokeng und Tacita Dean explizit auch auf Walid Raads The Atlas Group. In einer Fußnote verweist er zudem auf Emily Jacirs Installation In this Building (2002) als einem Beispiel für einen künstlerischen Ansatz, der im Gegensatz etwa zu Raad „found material with less direct intervention“ präsentiert. Vgl. Godfrey, Mark „The Artist as Historian“, in: October, Vol. 120, Spring 2007, S. 140-172, hier S. 145 und S. 144 (FN 8).

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Wie bei Godfrey spielt auch in Osbornes Argumentation der durch die Digitalisierung verursachte Paradigmenwechsel in der Kunst eine gewichtige Rolle. Für ihn stellt er jedoch weniger eine Bedrohung dar, als dass er vielmehr den erhöhten Stellenwert des Fotografischen in der Gegenwartskunst verdeutlicht38: Zwischen der Fotografie und postkonzeptuellen Werken, so Osborne, gibt es nämlich eine direkte ontologische Verwandtschaft. Beide teilen die Konvergenz von Information und Bild, narrativem Bildgehalt sowie visueller Repräsentation und nehmen aufgrund ihrer medialen Beschaffenheit keinen „festen Platz“ ein, sondern laden sich erst durch ihre Zirkulation in einem sozialen und kulturellen Wirkungsradius mit Bedeutung auf.39 Das bedeutet weiterhin, dass die zeitliche Fixierung, die sich scheinbar in einer Fotografie sowie analog dazu im postkonzeptuellen Kunstwerk materialisiert, immer in einer doppelbündigen Relation zur Vergangenheit bzw. dem Zeitpunkt ihrer Entstehung einerseits und der Gegenwart ihrer Betrachtung andererseits steht.40 Zeit erscheint damit, so Osborne, als „temporal unity in disjunction, or a disjunctive unitiy of present times“.41 Daraus resultiert für ihn nicht nur die „historische Zeitgenossenschaft“ der postkonzeptuellen Kunst. Zeitgenossenschaft müsse demzufolge auch gesellschaftlich „im Sinne einer Koexistenz unterschiedlich gelebter Gegenwarten“ verstanden wer38 |  Osborne, Peter Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 118 und S. 129. Osborne geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass digitale Bilder zumindest „indexikalische Effekte“ simulieren. So können sie wie die über eine mechanisch-chemische Apparatur analog hergestellte Fotografie „specific modes of temporalization of history“ artikulieren. Vgl. hierzu ebd., S. 119. 39 |  Ebd., S. 124. Vgl. hierzu auch ders. „Das verteilte Bild“, in: Texte zur Kunst, September 2015, Heft 99, S.75-87. 40 |  Vgl. Osborne, Peter Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 119. Osborne bezieht sich hier auf die von André Bazin beschriebene Ontologie des fotografischen Bildes, nach der er die Fotografie als „Übertragung der Realität des Objekts auf seine Reproduktion“ versteht. Siehe dazu Bazin, André „Ontologie des fotografischen Bildes“, in: Kemp, Wolfgang (Hg.) Theorie der Fotograf ie III, München: Schirmer/Mosel 1999, S. 59-64. 41 |  Osborne, Peter Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 17 und S. 25.

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den, „die […] in ihrer Gesamtheit wechselseitig präsent sein können“.42 Dies bringt nicht zuletzt die divergenten Geopolitiken auf den Plan, welche der Kunstproduktion und ihrer Rezeption zu Grunde liegen.43 Der künstlerischen Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Geschichte steht Osborne in diesem Zusammenhang allerdings eher kritisch gegenüber. Vor allem bemängelt er, dass solche Kunst, die er auch unter dem Begriff „memory model“ oder „model of ‚art as memory‘“ fasst, dazu neigt, unter Berufung auf Zeitzeugen Erinnerung unmittelbar mit historischer Erfahrung kurzzuschließen. Oder aber sie postuliert Erinnerung als Gegendarstellung von Geschichte, ohne ihre eigene historische Determiniertheit und den sozialen Rahmen ihrer Präsentation ausreichend mitzureflektieren.44 Daraus ergibt sich für ihn ein Widerspruch, der wiederum die Motivation zu derartigen Auseinandersetzungen grundsätzlich in Frage stellt. Zumal sich diese Kunst vornehmlich an ein inter- und transnationales Publikum richtet, obwohl sie sich überwiegend mit dem kollektiven, kulturellen oder nationalen Gedächtnis einer bestimmten Gesellschaft auseinandersetzt. Denn im Zuge der Globalisierung werde diese Kunst und damit auch die Erinnerung, die sie zu wahren und zu vermitteln sucht, schließlich unvermeidlich den derzeitigen dominanten ideologischen und ökonomischen Strukturen des globalen Kapitalismus einverleibt und in ihrem Bestehen von eben jenen Strukturen abhängig gemacht.45 Um dies zu vermeiden, müsse die Kunst, so Osborne, sich anstatt auf konkrete Gesellschaften und ihr kollektives Gedächtnis vielmehr auf „speculative collectives (non-national or ‚parastate‘ collectives)“46 beziehen, „so dass ihr 42 |  Rebentisch, Juliane Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2013, S. 186. Rebentisch widmet Osbornes Philosophy of Contemporary Art unter der Überschrift „Die Zukunft des Vergangenen: Geschichte in der Kunst“ ein ganzes Teilkapitel ihres Buches. 43 |  Vgl. Osborne, Peter „Das verteilte Bild“, in: Texte zur Kunst, September 2015, Heft 99, S.75-87, hier S. 81. 44 |  Vgl. Osborne, Peter Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 190 sowie Rebentisch, Juliane Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2013, S. 194. 45 |  Osborne, Peter Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 195. 46 |  Ebd.

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auch und gerade dort, wo sie sich der Vergangenheit zuwende, ein wesentlich zukünftiges Moment zukomme.“47 Alles andere würde – folgt man Osbornes Logik – nur darauf hinauslaufen, dass Geschichte und Gedächtnis gegeneinander ausgespielt werden und beide schließlich, zugespitzt formuliert, in einem Spektakel kulminieren. Ob die künstlerischen Praktiken Zaataris, Jacirs, Joreiges, Raads und Eid-Sabbaghs Osbornes Anspruch gerecht werden können, sei zunächst dahin gestellt. Ich komme darauf am Ende meiner Untersuchungen noch einmal zurück. Es ist allerdings wichtig darauf hinzuweisen, dass Osborne mit seiner Kritik an dem, was er „memory model“ nennt, die Tatsache vernachlässigt, dass die Gegenüberstellung von Erfahrung sowie Erinnerung einerseits und Geschichte anderseits mitunter unerlässlich ist. Dies insbesondere in Bezug auf postkoloniale Gesellschaften.48 In Anbetracht dessen, dass, wie Walter Benjamin dargelegt hat, Geschichte Siegergeschichte und somit „Apologetik des status quo“49 ist, ermöglicht diese Gegenüberstellung es erst, nicht nur die Konstruiertheit und ideologischen Implikationen von Geschichte zu durchblicken. Sie verdeutlicht zudem vor allem die Perspektivität und Standortgebundenheit von Historiografie und das mit dem Auseinandertreten von historischer Erfahrung und Historiografie einhergehende Machtgefälle.50

47 |  Rebentisch, Juliane Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2013, S. 195. 48 |  Auf diesen Punkt weist auch Rebentisch in ihrer Auseinandersetzung mit Obsorne hin. Vgl. hierzu ebd., S. 196. 49 |  Khatib, Sami „Geschichte, Retroaktivität, Text. Erkundungen zum ,Begriff der Geschichte‘ mit Walter Benjamin und Slavoj Žižek“, in: Born, Marcus Andreas (Hg.) Retrospektivität und Retroaktivität. Erzählen - Geschichte Wahrheit,
Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 235-249, hier S. 238. Khatib bezieht sich hier insbesondere auf Benjamins These, dass „[d]ie jeweils Herrschenden die Erben aller [sind], die je in der Geschichte gesiegt haben.“ Vgl. Benjamin, Walter „Über den Begriff der Geschichte“, in: Schweppenhäuser, Hermann und Tiedemann, Rolf (Hg.) Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. I/2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 693-703, hier. S. 696. 50 |  Vgl. Rebentisch, Juliane Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2013, S. 196.

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Nakba, nationale Identität und Solidarität Die Perspektivität bzw. Standortgebundenheit von Geschichtsschreibung in Relation zum individuellen und kollektiven Gedächtnis ist angesichts der Kolonialgeschichte im Nahen Osten sowie den in diesem Buch zum Untersuchungsgegenstand gemachten künstlerischen Auseinandersetzungen mit Palästina von erheblicher Bedeutung. Zumal die Geschichte Palästinas von einem komplexen Spannungsverhältnis geprägt ist. Seine extremen Pole sind dadurch gekennzeichnet, dass in Israel am 14. Mai die Verkündung der Unhabhängigkeit des Staates von 1948 als Nationalfeiertag zelebriert wird, während die Palästinenser*innen diesen Tag als Beginn der Nakba gedenken, was im Deutschen soviel wie Katastrophe bedeutet: eine Katastrophe, im Zuge derer zahlreiche Massaker an Palästinenser*innen verübt, über 400 Dörfer und Ortschaften durch die zionistische Hagana zerstört sowie hunderttausende palästinensische Araber*innen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Die Tatsache, dass, wie Edward W. Said es formuliert hat, Palästina51 nur als Erinnerung fortbesteht „or, more importantly, as an idea, a political and human experience, and an act of sustained popular will“52, macht zudem deutlich, wie untrennbar Erinnerung mit palästinensischer Identität und der Beständigkeit einer „imagined community“ – einer Nation im Sinne des Politikwissenschaftlers Benedict Anderson verknüpft ist.53 Entgegen Osbornes marxistisch inspirierter Forderung, über eine an ein „speculative collective“ gerichtete Kunst jegliche nationale Ideologien zugunsten zur Formierung einer „transnationalen Kollektivität“ 51 |  Damit ist Palästina in seiner Gesamtheit gemeint, wie es zum Zeitpunkt der britischen Mandatszeit existierte. 52 |  Said, Edward W. The Question of Palestine, New York: Vintage 1979, S. 5. 53 |  In seinem wegweisenden Buch Imagined Communities legt Anderson dar, dass es sich bei dem Phänomen der „Nation“ um ein intersubjektives, gesellschaftliches Konstrukt handelt, das mit seiner heutigen Bedeutung und politischen Tragweite erst im späten 18. Jahrhundert entstanden ist. Laut Anderson ist eine Nation „vorgestellt […] weil die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen […] werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert. […] In der Tat sind alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörf lichen mit ihren Face-to-face-Kontakten, vorgestellte Gemeinschaften.“ Vgl. hierzu Anderson, Benedict Die Erf indung der Nation, Frankfurt a.M./New York: Campus 1998, S. 14–16.

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zu entschärfen54, ist im Fall Palästinas nämlich das Insistieren auf eine nationale Identität erst die Grundvoraussetzung dafür, dass mittels der Erinnerung und dem Gegenlesen der Siegergeschichte, die Möglichkeit eines „speculative collective“ überhaupt in Betracht gezogen werden kann. Denn in diesem spezifischen Kontext stehen vor allem „die Werte des Zusammenlebens und des Gedächtnisses“ auf dem Spiel – Werte, die laut Judith Butler darin liegen, „nicht die aktiven Spuren vergangener Zerstörung zu verwischen“ und die „Geschichte der Unterdrückten vor dem Vergessen“ zu bewahren.55 Butler spricht hier ganz im Sinne Saids, der sich Zeit seines Lebens beharrlich für einen Widerstand gegen das Vergessen einsetzte.56 Sowohl Said als auch Butler werden daher auch in meinen Überlegungen eine zentrale Rolle spielen. Darüber hinaus werde ich mich auf eine Reihe anderer Autor*innen aus dem Bereich der Kulturwissenschaft und vor allem der Middle Eastern Studies wie Rashid Khalidi, Nur Masalha, Rosmary Sayigh, Ahmad H. Sa’adi und Lila Abu-Lughod berufen, welche die Beziehung zwischen Erinnerung, Geschichte und palästinensischer Identität beleuchten und deren Unterminierung durch die israelische Regierung teilweise gar als „Memoricide“ deklarieren.57 Das bedeutet zugleich, dass ich in meinen Untersuchungen zu Zaataris, Joreiges, Jacirs, Raads und Eid-Sabbaghs künstlerischen Praktiken an einigen Stellen ausführlicher auf historisch-politische Ereignisse sowie die dazu führenden Entwicklungen eingehe. Die Nakba ist in diesem Zusammenhang zweifelsohne ein Schlüsselereignis, um das Zaatari, Joreige, Jacir, Raad und Eid-Sabbagh in ihrer Kunst konzentrische Kreise ziehen, die auch in meinen Ausführungen ihre Entsprechung finden. Denn die Staatengründung Israels auf palästi54 |  Rebentisch, Juliane Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2013, S. 198. 55 |  Butler, Judith „Auf blitzen – Benjamins messianische Politik“, in: dies. Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt a.M./New York: Campus 2013, S. 119-136, hier S. 119. 56 |  Vgl. hierzu Iskandar, Adel und Rustom, Hakem „Introduction. Emancipation and Representation“, in: dies. (Hg.) Edward Said. A Legacy of Emancipation and Representation, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2010, S. 1-21, hier S. 9. 57 |  Vgl. Mashala, Nur The Palestine Nakba. Decolonising History, Narrating the Subaltern, Reclaiming History, London/New York: Zed Books 2012, S. 88 ff.

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nensischem Territorium 1948 und der darauf folgende erste arabisch-israelische Krieg stellen den Ausgangspunkt einer sich bis heute fortsetzenden Geschichte von Vertreibung, Enteignung und Unterdrückung dar. Die Nakba bezeichnet zwar ein kollektives Trauma, an sie ist jedoch auch die Hoffnung auf Restitution, oder gar für eine Wiederbelebung Palästinas geknüpft. In ihr liegt zudem das Bestehen der Palästinenser*innen auf ihr Rückkehrrecht begründet.58 Allerdings zeichneten sich bereits zuvor Entwicklungen und Ereignisse ab, die mit dem Aufkommen des Zionismus schließlich zur Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft führten und zum Teil auch von den genannten Künstler*innen angesprochen und bearbeitet werden. Die wichtigsten wären: Der erste zionistische Kongress und die Gründung der Zionistischen Weltorganisation 1897; die britische Besetzung Palästinas während des ersten Weltkrieges; die Balfour Deklaration von 1917, in der Großbritannien den Zionisten zusicherte, eine „nationale Heimstätte für das jüdische Volk“59 auf palästinensischem Boden errichten zu dürfen; der Niederschlag der palästinensischen Aufstände durch die Briten zwischen 1936 und 1939; der zweite Weltkrieg, der Holocaust und schließlich der 1947 von den Vereinten Nationen verabschiedete Teilungsplan Palästinas.60 Einige Historiker*innen, vor allem israelischer Herkunft, sind der Meinung, dass die Herausbildung palästinensischer Identität lediglich eine Reaktion auf diese Entwicklungen und den wachsenden Einfluss des Zionismus war. Ihnen zufolge festigte sich eine palästinensische Identität erst mit der Entstehung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) in den 1960er Jahren.61 Es gibt allerdings genügend Hin58 |  Vgl. Sa’adi, Ahmad H. und Abu-Lughod, Lila „Introduction: The Claims of Memory“, in: dies. (Hg.) Nakba. Palestine, 1948, and the Claims of Memory, New York: Columbia University Press 2007, S. 1-24, hier S. 7. 59 |  Morris, Benny Righteous Victims. A History of the Zionist-Arab Conf lict. 1881 – 2001, New York: Vintage Books 2001, S. 73. 60 |  Vgl. Sa’adi, Ahmad H. „Afterword Ref lections on Representation, History, and Moral Accountability“, in: ders. und Abu-Lughod, Lila (Hg.) Nakba. Palestine, 1948, and the Claims of Memory, New York: Columbia University Press 2007, S. 285-314, hier S. 288. 61 |  Aus diesem Grund bezeichnete der israelische Historiker Meir Pa’el den Zionismus auch als „one of the most successful national movements in history for it started with the aim of forming one national group, and it ended up

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weise darauf, dass sich bereits vor der Zeit des britischen Mandats über Palästina Tendenzen abzeichneten, die Palästinenser*innen von anderen arabischen Völkern differenzierten.62 Die Nakba sowie der Sechstagekrieg 1967, der zu einer weiteren Flüchtlingswelle und der Besetzung des Westjordanlands, des Gazastreifens und den Golanhöhen durch Israel führte, machten die Konsolidierung dieser nationalistischen Strömungen jedoch zu einer wesentlichen Bedingung für das Fortbestehen der palästinensischen Gesellschaft. Dennoch ist das Verhältnis zwischen palästinensischer Identität, Nationalismus und Erinnerung ausgesprochen vielschichtig, oft auch widersprüchlich und einem stetigem Wandel unterlegen.63 Die gemeinsame Erfahrung des Exils und das Leben in den Flüchtlingslagern, die im Libanon, in Syrien, Jordanien und Israel errichtet wurden, schufen zwar eine essentiell vereinigende und damit auch ideologische Basis. Das heißt, insbesondere der Flüchtlingsstatus hunderttausender Palästinenser*innen transformierte das vormals im Palästina der britischen Mandatszeit lokale und kommunale Zusammengehörigkeitsgefühl in ein nationalistisches. Im Gegensatz zur Diaspora rangen die Palästinenser*innen in with forming two.“ Vgl. hierzu Nassar, Issam „Palestinian Nationalism. The Difficulty of Narrating an Ambivalent Identity“, in: Pappe, Ilan und Hilal, Jamil (Hg.) Across the Wall. Narratives of Israeli-Palestinian History, London/New York: I.B. Tauris 2010, S. 217-234, hier. S. 220. 62 |  Vgl. Nassar, Issam „Palestinian Nationalism. The Difficulty of Narrating an Ambivalent Identity“, in: Pappe, Ilan und Hilal, Jamil (Hg.) Across the Wall. Narratives of Israeli-Palestinian History, London/New York: I.B. Tauris 2010, S. 217-234, hier S. 228. Nassar führt Quellen aus dem Jahre 1914 an, die darauf schließen lassen, dass es bereits zu diesem Zeitpunkt klare Tendenzen zur Ausbildung einer nationalen Identität in Palästina gab. Vgl. dazu auch Khalidi, Rashid Palestinian Identity. The Construction of Modern National Consciousness, New York: Columbia University Press 1997, S. 145 ff. 63 |  Vgl. Nassar, Issam „Palestinian Nationalism. The Difficulty of Narrating an Ambivalent Identity“, in: Pappe, Ilan und Hilal, Jamil (Hg.) Across the Wall. Narratives of Israeli-Palestinian History, London/New York: I.B. Tauris, S. 217234, hier. S. 218 sowie Khalidi, Rashid Palestinian Identity. The Construction of Modern National Consciousness, New York: Columbia University Press 1997, S. 177 ff. und Peteet, Julie M. Landscape of Hope and Despair. Palestinian Refugee Camps, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2005, S. 4 ff.

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der Westbank bzw. dem Westjordanland allerdings darum, eine nationale Identität unter der repressiven Politik Jordaniens zu festigen, während das Leben und damit auch die politische Selbstwahrnehmung der Palästinenser*innen unter israelischer Besetzung im Gazastreifen oder als Staatsbürger*innen Israels von ganz anderen Erfahrungen geprägt sind.64 Hinzu kommt, dass die Behauptung palästinensischer Identität abgesehen von der Geschichte Israels auch an die Geschichte anderer arabischer Nationen geknüpft ist und die Geschichte Palästinas daher nur unter Berücksichtigung dieser äußerst divergenten Perspektiven erzählt werden kann. Palästina wurde schließlich, wie es Said formulierte, zu einem Symbol für „what is best and most vital in the pan-Arab tradition of cooperation, dramatic energy, and spirit“.65 Ich werde mich, bezogen auf die Praktiken und Herkunft der von mir ausgewählten Künstler*innen, die alle – ausgenommen die gebürtige Palästinenserin Emily Jacir – libanesischer Herkunft sind, auf einige spezifische Aspekte palästinensischer Identität und Geschichte, insbesondere im Hinblick auf die palästinensische Diaspora im Libanon, beschränken. Die Verbindung zwischen libanesischer und palästinensischer Geschichte ist zunächst dadurch definiert, dass nach der Nakba mehr als 100.000 Palästinenser*innen in den Libanon flüchteten und seitdem dort leben. Weitere diese Verbindung maßgeblich bestimmenden Faktoren sind die Verlegung des PLO-Hauptstützpunktes von Jordanien nach Beirut 1970 und die Ereignisse, die sich während des libanesischen Bürgerkrieges (1975-1990) zutrugen – insbesondere die israelische Invasion in den Libanon und die Belagerung Beiruts 1982. Vor diesem Hintergrund befassen sich Akram Zaatari, Lamia Joreige, Walid Raad und Yasmine Eid-Sabbagh mit der Überschneidung palästinensischer und libanesischer Geschichte. Sie zeigen die politischen Verstrickungen auf, die einerseits im Libanon eine Solidarität mit den Palästinenser*innen, wie sie Said beschreibt, hervorrief und anderseits gleichsam zu einer fortwährenden konfliktgeladenen Spannung führ64 |  Nassar, Issam „Palestinian Nationalism. The Difficulty of Narrating an Ambivalent Identity“, in: Pappe, Ilan und Hilal, Jamil (Hg.) Across the Wall. Narratives of Israeli-Palestinian History, London/New York: I.B. Tauris, S. 217-234, hier. S. 230 f. 65 |  Said, Edward W. The Question of Palestine, New York: Vintage Books Edition 1992, S. ix.

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ten. Das Leben im Exil und die Flüchtlingsproblematik sind in diesem Zusammenhang wiederkehrende Motive, die auch Emily Jacir in ihren Arbeiten – jedoch unter weltpolitischen Gesichtspunkten – betrachtet. Obwohl in dieser Konstellation von Künstler*innen Erinnerung und Palästina als kleinste gemeinsame inhaltliche Nenner erscheinen, gehen meine Betrachtungen auf eine viel trivialere Beobachtung zurück: Akram Zaatari und Walid Raad, aber auch Lamia Joreige und Emily Jacir gehören zu der ersten Generation arabischer Künstler*innen, in deren Praxis die Verwendung historischer Fotografien eine verstärkte, zuweilen sogar eine zentrale Rolle spielt. Vor allem die in Beirut ansässige Arab Image Foundation (AIF), in der neben Zaatari auch Raad lange Zeit Mitglied war und Yasmine Eid-Sabbagh nach wie vor ist, wirkte in dieser Hinsicht wie ein Katalysator. Denn in Folge ihrer Gründung im Jahre 1997 häuft sich die hier zum Thema gemachte künstlerische Wiederholung historischer Fotografien in der Region sichtbar.

Zu den einzelnen Kapiteln Meine Abhandlung, die in vier Kapitel unterteilt ist, geht demnach auch von der Genese der AIF sowie Zaatari als einem ihrer aktivsten Mitglieder aus. Das Kuratorische, das sowohl die Praxis des Sammelns, die Verantwortung für eine Sammlung sowie ihr Ausstellen bzw. Sichtbarmachen umfasst, wird dabei ein Leitbegriff sein.66 Ein weiterer ist der der Annota66 |  Die Kuratorin Maria Lind zum Beispiel definiert das Kuratorische als „a way of linking objects, images, processes, people, locations, histories, and discourses in physical space“. Das Kuratorische fungiert für sie wie ein „active catalyst, generating twists, turns, and tensions - owing much to site-specific and context-sensitive practices and even more to various traditions of institutional critique“. Demnach wäre das Kuratorische, so Lind, auch als „an aspect of life“ aufzufassen, „that cannot be separated from divergence and dissent, a set of practices that disturbs existing power relations. At its best, the curatorial is a viral presence that strives to create friction and push new ideas, whether from curators or artists, educators or editors.“ Siehe: Lind, Maria „The Curatorial“, in: Artforum, October  2009, S. 103. Für weitere Untersuchungen zum Kuratorischen bzw. zu kuratorischen Praktiken siehe auch: Bismarck, Beatrice v., Schafaff, Jörn und Weski, Thomas (Hg.) Cultures of the Curatorial, Berlin: Sternberg Press, 2012.

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tion, anhand dessen herausgestellt werden soll, wie die AIF und insbesondere Zaatari Fotografien als historische „Dokumente“ postulieren. Die AIF ist eine Organisation, die sich für den Erhalt sowie die Erforschung des fotografischen Erbes im Nahen Osten einsetzt. Neben ihrer „Mission“, Fotografien mit einem Schwerpunkt auf dem Zeitraum von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zusammenzutragen, sie angemessen zu verwahren und zu erforschen, machen die AIF bzw. ihre Mitglieder diese Fotos im Rahmen von Ausstellungen, Publikationen und einer Onlinebilddatenbank der Öffentlichkeit zugänglich. Außer Fotografien aus dem Libanon, Ägypten, Irak, Iran, Jordanien, Syrien und Ländern wie Argentinien, Mexiko und Senegal, in denen sich eine größere arabische Diaspora ansiedelte, enthält die AIF-Sammlung, die zum heutigen Zeitpunkt mehr als 500.000 Fotografien umfasst, auch ein umfangreiches Bildkonvolut aus Palästina: Bilder palästinensischer Fotografen oder Porträts von Palästinenser*innen. Es handelt sich sowohl um Studiofotografien als auch um private Schnappschüsse, die aus unterschiedlichen Quellen in die AIF-Sammlung gelangten. Dabei gilt es zunächst zu klären, was unter der Zuschreibung „Palästina“ und der damit verbundenen nationalen Zugehörigkeit im Hinblick auf territoriale und historische Parameter im Kontext einer von panarabischen Maximen beeinflussten Geschichtsauffassung, welche die AIF durchaus vertritt, zu verstehen ist. Dies wird anhand der Ordnung und Verschlagwortung der AIF-Sammlung geschehen. Es soll ebenso darauf eingegangen werden, inwieweit die AIF über ihre Sammlung ein Gegenbild zu westlichen, insbesondere kolonialistischen und orientalistischen Diskursen und Narrativen der Geschichte Palästinas generiert. Akram Zaatari wird in dieser Hinsicht als ein Hauptprotagonist der AIF beleuchtet. Zudem möchte ich zeigen, wie er in den von ihm konzipierten AIF-Projekten und eigenen Kunstwerken, welche die Fotografiegeschichte des Nahen Ostens und die Darstellungskonventionen lokaler Studiofotografen untersuchen, immer wieder die mnemonische Funktion der Fotografie im Hinblick auf die Geschichte Palästinas, die Nakba und dem palästinensischen Widerstandkampf diskutiert. Die von Zaatari kuratierte AIF-Ausstellung Palestine before ’48 (1999) kann dafür als paradigmatisch erachtet werden. Sie wird daher exemplarisch für die Vorgehensweise der AIF, welche künstlerische, kuratorische und archivarische Methoden vereint, genauer betrachtet. Zusätzlich sollen Zaataris multimedialer Werkkomplex Objects of Study/ Studio Shehrazade (2004-fortlaufend), den der

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Künstler bis heute weiterentwickelt und der u.a. aus Ausstellungen, Publikationen und diversen Fotoserien besteht, sowie seine Videoinstallation On Photography, People and Modern Times (2010) insbesondere hinsichtlich ihrer Auseinandersetzung mit Formen individueller und kollektiver Erinnerung untersucht werden. Unter den Stichworten Evidenz und Rhetorik wendet sich das zweite Kapitel den künstlerischen Praktiken von Lamia Joreige und Walid Raad zu. Sowohl Joreige als auch Raad beziehen sich auf historische Fotos, um explizit die enge Verknüpfung der palästinensischen Geschichte mit der Geschichte des Libanons zu thematisieren, wobei sie beide auch auf den in den 1970er und 1980er Jahren vom Libanon ausgehenden Widerstandskampf der PLO eingehen. Joreige, deren Familie mütterlicherseits aus Palästina stammt und 1948 aus Jaffa vertrieben wurde, legt in ihrer Videoarbeit A Journey (2006) ihre Familiengeschichte dar, die in einer Zeit vor der Staatenbildung und den derzeitigen Grenzziehungen im Nahen Osten wurzelt und vom sozialpolitischen Wandel nach der Nakba sowie einem Leben im Exil berichtet. Zudem zeichnet sie darin die Entwicklungen nach, die zum libanesischen Bürgerkrieg führten. Ist A Journey von einem dokumentarischen Grundtenor geprägt, der einen starken – wenn auch nicht ungebrochenen – Authentizitätsanspruch vertritt und sich um die Aufarbeitung eines Aspektes der palästinensischen sowie libanesischen Geschichte anhand persönlicher Erinnerungen und Fotografien bemüht, ist Walid Raads Vorgehensweise hingegen bestrebt, eben jenen Authentizitätsanspruch ausdrücklich zu relativeren. Dies tut er, indem er historische Fotografien dem fiktiven Archiv seiner ebenfalls fiktiven Atlas Group zuordnet und sie damit fast gänzlich aus ihrem Bedeutungszusammenhang reißt bzw. ihnen durch schriftliche Ausführungen in seriell angelegten Publikationen, im Rahmen von Performances sowie als konzeptuelle Fotoserien neue Bedeutungen zuschreibt. Die Fotografien der Serie We decided to let them say, „we are convinced“ twice (2002), auf die sich meine Untersuchungen hauptsächlich richten werden, sind zwar angeblich von ihm im Jahr 1982 als Jugendlicher während des Einzuges der israelischen Armee und ihrer Angriffe auf die PLO-Stützpunkte in Beirut aufgenommen wurden. Gegen diese Zuschreibung, so werde ich herausstellen, lassen sich jedoch berechtigte Zweifel erheben. Darüber hinaus wird von Raad die Evidenz der Fotografie und die Autorität des Archivs, deren Selektionsmechanismen und die Art und Weise, wie darauf historische Fakten gestützt werden, durch eine

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radikale Resemantisierung gleichermaßen persifliert wie kritisiert und damit letztlich untergraben. Raads und Joreiges Positionen sollen daher daraufhin beleuchtet werden, wie sie Rhetoriken der Geschichtsschreibung, der Zeugenschaft und des kollektiven Gedächtnisses sowie die Rolle, die die Fotografie in diesem Zusammenhang spielt, hinterfragen. Die künstlerischen Praktiken Emily Jacirs und Yasmine Eid-Sabbaghs sind Gegenstand des dritten Kapitels. Im Gegensatz zu Zaatari, Joreige und Raad, die sich über die Jahre hinweg vereinzelt mit Aspekten palästinensischer Geschichte befassen, ist die Palästinenserfrage bzw. das Verhandeln palästinensischer Erinnerung und Identität tonangebend im gesamten Schaffen dieser beiden Künstlerinnen. Jacir produziert überwiegend installative Arbeiten wie In this Building (2002) und Material for a Film (2005-fortlaufend), anhand derer dargelegt werden soll, wie das Fotografische und – spezifischer – historische Fotografien von ihr als Teil eines multimedialen Beziehungsgeflechts zur Verhandlung palästinensischer Identität eingesetzt werden. Dabei thematisiert sie beständig den Ausnahmezustand, der bis heute den Alltag der meisten Palästinenser*innen aufgrund ihrer Nationalität und gleichzeitigen Staatenlosigkeit im Exil sowie in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten prägt.67 Auch Eid-Sabbagh befasst sich in A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp (2005-fortlaufend) mit eben jenem Ausnahmezustand. Sie tut dies anhand der Geschichte des palästinensischen Flüchtlingscamps Burj al-Shamali im Süden Libanons sowie im Hinblick auf die heutigen Lebensumstände seiner Bewohner*innen. Eid-Sabbagh bezieht sich dazu vornehmlich auf private Fotos von Einwohner*innen Burj al-Shamalis, um den Konnex zwischen Fotografie und mündlich überlieferten Erinnerungen zu ergründen und die stereotype Repräsentation der Flüchtlinge zu problematisieren. Durch den Einbezug vieler individueller Stimmen, darunter auch denen einiger Jugendlicher, mit denen sie über Jahre hinweg mittels Fotografie eine Art bildliche Konversation über deren Leben im Camp führte, versucht Eid-Sabbagh zudem über Ausstellungen und 67 |  Vgl. hierzu etwa Ophir, Adi; Givoni, Michal und Hanafi, Sari (Hg.) The Power of Inclusive Exclusion. Anatomy of Israeli Rule in the Occupied Palestinian Territories, New York: Zone Books 2009 sowie Morton, Stephen „The Palestinian Tradition of the Oppressed and the Colonial Genealogy of Israel’s State of Exception“, in: ders. (Hg.) States of Emergency: Colonialism, Literature and Law, Liverpool: Liverpool University Press 2013, S. 173-208.

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Performances eine größere Aufmerksamkeit auf den prekären und festgefahrenen Status der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon zu lenken. Dabei sind sowohl Eid-Sabbaghs als auch Jacirs Vorgehensweisen von einer aktivistischen Grundhaltung geprägt. Konfrontation und Repräsentation lauten daher die dem Kapitel titelgebenden Termini. Die den ersten drei Kapiteln übergeordneten Begrifflichkeiten vom Kuratorischen bis hin zur Repräsentation dienen in erster Linie als Anhaltspunkte für die Fokussierung der darin dargelegten Argumente. In Bezug auf die von den einzelnen Künstler*innen verwendeten Medien und Formate, die in ihrem Zusammenspiel eine Vielzahl intermedialer Gefüge generieren, finden sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. So steht im ersten Kapitel die Ausstellung als Präsentationsmodus und die AIF-Onlinedatenbank im Vordergrund meiner Betrachtungen. Im zweiten Kapitel ist es die Verknüpfung zwischen Video/Film und Fotografie, sowie von Text und Bild. Im dritten Kapitel werden vornehmlich die Installation sowie die Performance als Mittel der künstlerischen Wiederholung betrachtet. Dabei gibt es zwischen den einzelnen Kapiteln teilweise Überschneidungen, die durch Querverweise verdeutlicht werden. Darüber hinaus wird sich in der Abfolge der ersten drei Kapitel, die zwar ebenso jedes einzeln für sich eine schlüssige Sinneinheit ergeben und dementsprechend separat gelesen werden können, eine theoretische Zuspitzung erfolgen. Dies vor allem in Bezug auf den letzten Leitbegriff der Repräsentation. Denn die soll mit dem vierten, abschließenden Kapitel in eine weiter gefasste Diskussion über die Bedeutung der Fotografie und ihrer Vermittlung durch die Kunst für die Beschäftigung mit der Geschichte Palästinas münden, die insbesondere Gilles Deleuzes Repräsentationskritik in Differenz und Wiederholung aufgreift. Ich beziehe mich dabei auf Deleuze aber auch als Autor, der in Zeitschriftenartikeln und Interviews beständig seine Solidarität mit den Palästinenser*innen und ihrem politischen Widerstandskampf kundtat.68 Zudem sah er eine „grundlegende

68 |  Deleuze schrieb in den 1980er Jahren mehrere Texte für französische sowie arabische Zeitungen und Zeitschriften, darunter auch die Revue d’Etudes Palestiniennes, in denen er die Palästinenserfrage diskutierte. Sie sind im Deutschen unter den Titeln „Die Größe von Jassir Arafat“, „Die Steine“ und, „Die Indianer Palästinas“ in Deleuze, Gilles Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005 erschienen.

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Affinität zwischen einem Kunstwerk und einem Widerstandsakt“.69 Und in Anlehnung an diese Feststellung soll schließlich gefragt werden: Kann die hier zum Thema gemachte künstlerische Wiederholung tatsächlich als emanzipatorischer Akt, als Ausdruck eines politischen Widerstandes aufgefasst werden? Oder erhält sie aufgrund ihrer Repräsentationsgebundenheit zwangsläufig unterschwellige Verdrängungsmechanismen aufrecht, die sich etwa in Form nostalgischer Verklärungen, ideologischer Mythenbildung oder gar politischer Bevormundung äußern?

69 |  Deleuze, Gilles „Was ist ein Schöpfungsakt?“, in ders. Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 298-308, hier S. 307.

I. Kuratorische Praxis und Annotation

Akram Zaatari | The Arab Image Foundation

Die Fotografiegeschichte Palästinas und die des Nahen Ostens allgemein wurde im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so schien es zumindest lange Zeit aus westlicher Sicht, weitgehend von der Tätigkeit europäischer Fotograf*innen in dieser Region dominiert.1 Jene griffen zumeist eine formelhafte, von malerischen Traditionen gespeiste Bildsprache auf und bedienten mit ihren Motiven eine spätestens seit Napoleons Ägyptenfeldzug anhaltende und stetig wachsende westliche Faszination für den Orient.2 Darüber hinaus wurde die Fotografie seit ihrem Erscheinen in dem Gebiet des damaligen Osmanischen Reiches 1839 als Mittel archäologischer, geografischer und sozialanthropologischer Untersuchungen eingesetzt.3 Sie prägte somit zunächst nicht nur ein von westlichen Vorstellungen, Erwartungen und Projektionen gefärbtes Bild des Nahen Os1 |  Maxime Du Camp, Félix Teynard, Auguste Salzmann, Wilhelm Hammerschmidt, Félix Bonfils und Roger Fenton sind wohl die bekanntesten unter ihnen. 2 |  Vgl. Stapp, Will „Egypt and Palestine“, in: Hannavy, John (Hg.) Encyclopedia of Nineteenth-Century Photography, New York/London: Routledge 2008, S. 475478, hier S. 475. 3 |  Der Physiker François Arago sprach bereits in seiner Vorstellung der Daguerreotypie im Rahmen einer gemeinsamen Sitzung der Pariser Akademien der Wissenschaften und der schönen Künste 1939 von den großen Vorteilen, die das Medium für die Reproduktion ärcheologischer Artefakte für Ägyptologen und Orientalisten haben würde. Er veranlasste sogleich, dass das Institute d’Egypte mit dem nötigen Gerät ausgestattet wurde. Somit gelang die Daguerreotypie noch im selben Jahr nach Ägypten. Vgl. hierzu: Behdad, Ali „The Orientalist Photograph“, in: Behdad, Ali und Gartlan, Luke Photography’s Orientalism. New Essays on Colonial Representation, Los Angeles: Getty Research Institute 2013, S. 11-32, hier S. 14.

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I. Kuratorische Praxis und Annotation 

tens. Sie wurde auch zu einem effizienten Werkzeug einer Ideologie des Westens, die ein essentialistisches Bild vom „Anderen“ schuf und eine visuelle Form der kulturellen Aneignung bedeutete,4 welche Edward W. Said später unter dem Begriff des Orientalismus fassen sollte.5 Die Fotografie war einer der ersten modernen Erfindungen, die nach und nach in der Region Einzug hielten und zu einem massiven infrastrukturellen Wandel führten.6 Zudem brachte die Modernisierung des Nahen Ostens einen wesentlichen anfangs durch die Einflussnahme europäischer Nationen ausgelösten politischen Umschwung mit sich.7 4 |  Der Mitbegründer der Zeitschrift Revue d’études palestiniennes und heutige Botschafter Palästinas bei der UNESCO Elias Sanbar spricht davon, dass sich in der orientalistischen Fotografie eine Faszination für den Orient mit einer „kolonialen Vision“ vermengte. Vgl. hierzu Sanbar, Elias Les Palestiniens dans le siècle, Paris: Gallimard 1994, S. 21. 5 |  Said, Edward W. Orientalismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2012. In Orientalismus liefert Said weniger einen Abriss über die Geschichte europäischer Repräsentationen des Orients, als dass er, Michel Foucaults diskursanalytischen Ansatz aufgreifend, den Begriff Orientalismus vielmehr einer grundsätzlichen Reevaluierung und Umwertung unterzieht. Er fasst unter Orientalismus demnach alle Darstellungen des Orients, in denen dieser als das „Andere“ Europas repräsentiert, d.h. in denen durch einen westlichen Blick auf die Gesellschaften des Nahen Ostens ein „Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient“ (Ebd., S. 11) artikuliert wird. Im Orientialismus manifestiert sich, Said zufolge, somit nicht nur eine westliche Vormachtstellung gegenüber der arabischen Welt, sondern er trägt auch einen erheblichen Anteil am beständigen westlichen Argwohn gegenüber dem Islam. 6 |  Vgl. Nassar, Issam „Family Snapshots. Representing Palestine in the Work of the First Local Photographers“, in: History & Memory, Fall/Winter 2006, Vol. 18, Issue 2, S. 139-155, hier S. 141. 7 |  So wurde das Gebiet Palästinas, welches damals als Teil des Osmanischen Reiches noch in die zwei Verwaltungsgebiete Nablus und Jerusalem geteilt war, 1832 zunächst von Ägypten annektiert, das sich erst ein Jahr zuvor unter dem von Frankreich protegierten Muhammad Ali Pascha der osmanischen Vormachtsstellung entmündigt hatte. Im Zuge einer von Großbritannien, Russland, Österreich und Preußen unterstützten Militärintervention gelangte Palästina 1841 wieder unter osmanische Kontrolle. Konnte damit zunächst der drohende Zerfall des Osmanischen Reiches pariert werden, zeichnete sich

Akram Zaatari | The Arab Image Foundation

Dabei war Palästina, das nach dem ersten Weltkrieg zum britischen Mandatsgebiet erklärt wurde, für die europäischen Großmächte von erheblicher Bedeutung: Der Anspruch auf diesen Landstrich als Wiege der christlichen Religion – einem Grundpfeiler der westlichen Kultur – erschien ihnen zumindest besonders gerechtfertigt.8 Das spiegelt sich in den Bildern europäischer Fotograf*innen des 19. Jahrhunderts vor allem in dem romatisierenden Blick wieder, mit dem sie das „Heilige Land“ in Anlehnung an biblische Szenen festhielten.9 Ihre Bilder zeugen von einer allegorisierenden Darstellungsweise, wobei sie die Einwohner*innen Palästinas oftmals „ausblendeten“ oder sie zu archaischen Stereotypen stilisierten.10 Ihre Fotografien wurden dementsprechend weitläufig zur in diesen Ereignissen, die als Orientkrise in die Geschichte eingingen, bereits eine Weichenstellung für das zunehmende Machtstreben vor allem der Briten und Franzosen im Nahen Osten ab. So wurde nach dem ersten Weltkrieg das Gebiet des besiegten Osmanischen Reiches in französische und britische Mandatsgebiete aufgeteilt. Für einen fundierteren Überblick über diese historischen Entwicklungen bzw. der Geschichte des Nahen Ostens siehe etwa: Gelvin, James L. The Modern Middle East. A History, Oxford/New York: Oxford University Press 2004; Lapidus, Ira M. A History of Islamic Societies, Cambridge/New York: Cambridge University Press 2002 und Fromkin, David A Peace to End All Peace. The Fall of the Ottoman Empire and the Creation of the Modern Middle East, New York: Holt Paperbacks 2001. 8 |  Vgl. Nassar, Issam „Family Snapshots. Representing Palestine in the Work of the First Local Photographers“, in: History & Memory, Fall/Winter 2006, Vol. 18, Issue 2, S. 139-155, hier S. 140. 9 |  Vgl. ebd., S. 142. 10 |  Vgl. ebd., S. 147. Die orientalistische Fotografie diente nicht nur der Repräsentation von Gegensätzen, sondern verkörperte und erzeugte diese auch. Wurde sie zum Beispiel mit dem Anspruch eingesetzt die „Authentizität“ antiker Stätten und des „Heiligen Landes“ vor dem wachsenden Einf luss der Moderne zumindest in Bildern zu bewahren, so steuerte sie gerade dadurch zum Wandel dieser Landstriche bei, indem die Fotografie sie zu touristischen Souvenirs stilisierte. Die Seltenheit und oft vollkommene Abwesenheit von Menschen in diesen Darstellungen vermittelt überdies eine statische Monumentalisierung jener Landschaften im Sinne einer sterilen Historiographie und diente den kolonialen Mächten als Legitimation ihrer Intervention im Angesicht einer unterentwickelten und nur sporadisch bevölkerten Region. Vgl. Behdad, Ali „The

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I. Kuratorische Praxis und Annotation 

Bibelillustration genutzt oder als Postkarten direkt an Tourist*innen und Pilger*innen verkauft. Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich allerdings auch die erste Generation ortsansässiger Fotograf*innen in Palästina. Zwar übernahmen sie aufgrund der beständigen Nachfrage nach orientalistischen Motiven anfangs noch häufig die Bildsprache ihrer europäischen Vorreiter*innen und Kolleg*innen.11 Sie begannen aber gleichzeitig auch andere Sichtweisen zu entwickeln, indem sie zunehmend persönliche, familiäre Momente und soziale Anlässe sowie politische Ereignisse fotografisch festhielten.12 Neben der Entstehung lokaler professioneller Fotostudios fand die Fotografie zudem durch technische Innovationen wie Kleinbildkameras Anfang des 20. Jahrhunderts in privaten Haushalten Palästinas Verbreitung. Das Verhältnis zwischen der Darstellung Einheimischer als die „Anderen“ und deren Selbstwahrnehmung, d.h. die binäre Trennung zwischen westlicher Handlungsgewalt und den Einwohner*innen Palästinas als deren passive Subjekte in der orientalistischen Fotografie, glich sich langsam aus. Verschaffte die Fotografie den westlichen Großmächten in der Region vorerst strategische Vorteile für die Neudefinition und Rekonstruktion der Geschichte des „Heiligen Landes“, spielte sie einige Jahrzehnte später eine Schlüsselrolle für die Herausbildung eines kollektiven palästinensischen Gedächtnisses. Sie wurde, so der Fotohistoriker Issam Nassar, zu einem „central component of the Palestinian representation of the past.“13 Walid Khalidis einflussreiche Publikation Before Their Diaspora: A Photographic History of the Palestinians,1876–1948, macht dies als einer der ersten Bände überwiegend vernakularer Fotografien14 besonders deutOrientalist Photograph“, in: Behdad, Ali und Gartlan, Luke Photography’s Orientalism. New Essays on Colonial Representation, Los Angeles: Getty Research Institute 2013, S. 11-32, hier S. 22 und 24. 11 |  Vgl. Nassar, Issam „Family Snapshots. Representing Palestine in the Work of the First Local Photographers“, in: History & Memory, Fall/Winter 2006, Vol. 18, Issue 2, S. 139-155, hier S. 144 und 147. 12 |  Vgl. ebd., S. 147. 13 |  Ebd. 14 |  Damit ist eine lokal geprägte Fotografie gemeint. Ich habe mich an dieser Stelle für die direkte, eher ungewöhnliche Übertragung des englischen Begriffs „vernacular“ ins Deutsche entschieden, da „vernakular“ im Gegensatz

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lich.15 Es gab allerdings, mit Ausnahme des 1963 in Beirut gegründeten Institute for Palestine Studies, aus dessen Sammlung ein Teil der Bilder in Khalidis Buch stammen, im Nahen Osten so gut wie keine Institutionen, die sich für den Erhalt und die Erforschung der lokalen Fotografie einsetzten. Erst die gut 30 Jahre später ebenfalls in Beirut ins Leben gerufene Arab Image Foundation konzentrierte sich primär auf die Konservierung und Diskursivierung lokaler, in Palästina sowie in der gesamten Region des Nahen Ostens und der arabischen Diaspora seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre produzierter Fotografie. Die Idee zur Gründung der AIF kam erstmals 1995 auf. Die beiden libanesischen Fotografen Fouad Elkoury und Samer Mohdad16 traten zu diesem Zeitpunkt mit dem Vorhaben an Akram Zaatari heran, der damals, nachdem er Architektur in Beirut und Media Studies in New York studiert hatte, hauptberuflich für den libanesischen Fernsehsender Future TV arbeitete.17 Sie beabsichtigten, mit der AIF eine Initiative für die Erforschung und den Erhalt der Fotografie des Nahen Ostens zu schaffen, etwa zu „einheimisch“ weniger ideologisch konnotiert ist und mir wertneutraler erscheint. 15 |  Vgl. hierzu Khalidi, Walid Before Their Diaspora: A Photographic History of the Palestinians,1876–1948, Washington D.C.: Institute for Palestine Studies 2004. Auf der Webseite des Instituts ist das erstmals 1984 erschienene Buch mittlerweile auch online konsultierbar. Siehe dazu: http://btd.palestine-studies.org/ node/56 [eingesehen am 21.06.16]. Das vom Palestinian Museum in Ramallah im November 2014 begonnene Projekt The Family Album ist eine weitere wichtige Initiative, die sich unter dem Motto „Your Pictures, Your Memories, Our History“ dem Sammeln und Erhalt von Fotografien aus Palästina bzw. mit der Geschichte Palästinas im Zusammenhang stehende Fotos einsetzt. Siehe hierzu: http://www.palmuseum.org/projects/the-family-album#ad-image-thumb-1651 [eingesehen am 21.06.16]. 16 |  Elkoury und Mohdad waren beide längere Zeit als Pressefotografen tätig, bevor sie sich künstlerischen Projekten zuwandten. Beide veröffentichen zahlreiche Fotobände. Elkoury repräsentierte 2007 den Libanon während der 52. Venedig Biennale. 17 |  Während seiner Tätigkeit bei Future TV zwischen 1993 bis 1996 schuf Zaatari mehr als 20 experimentelle Kurzfilme und Videos. Für Informationen zu Zaataris frühen Film- und Videoarbeiten siehe: Dérives, no 2., 2010, sowie eine englische Version des Interviews mit Zaatari in dieser Ausgabe des Ma-

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I. Kuratorische Praxis und Annotation 

wobei künstlerische und wissenschaftliche Methoden gleichermaßen Anwendung finden sollten. Wie das konkret umgesetzt werden sollte, war zu diesem Zeitpunkt jedoch alles andere als klar. Es stand lediglich fest, dass die AIF kein Künstlerkollektiv im klassischen Sinne sein würde – die Autorschaft und die individuellen Vorgehensweise der einzelnen Mitglieder sollten deutlich erkennbar bleiben. Mohdad, Elkoury und Zaatari verstanden die AIF daher eher als kollektives Projekt mit künstlerischer Ausrichtung ohne kohärente Formensprache.18 Die Richtlinien zum Erhalt der Fördermittel, welche die Umsetzung des Projektes ermöglichten, setzten allerdings voraus, dass dafür ein angemessener institutioneller Rahmen geschaffen würde, der sowohl ein Konservierungsprogramm, als auch einen effizienten, auf dem Modell einer Non-Profit-Organisation basierenden Verwaltungsapparat umfasste.19 Zwei Jahre später, nachdem die AIF eine Kühlkammer in ihren ersten Räumlichkeiten20 eingerichtet sowie eine Archivarin und Zeina Arida als leitende Geschäftsführerin bzw. Direktorin eingestellt hatte, waren diese gazines:

http://www.derives.tv/IMG/pdf/interview_ Akram_Zaatari_english_

DERIVES.pdf [eingesehen am 21.06.16] 18 |  Gespräch mit Zaatari. Einige Informationen in diesem Kapitel gehen auch auf meine Tätigkeit bei der Arab Image Foundation von 2009 bis 2012 zurück. Währenddessen habe ich zahlreiche Gespräche mit Zaatari und anderen AIF-Mitgliedern sowie der damaligen AIF-Direktorin Zeina Arida über die Entstehung der AIF geführt. Abgesehen von der angestrebten künstlerischen Aussrichtung der AIF, planten ihre Mitglieder bereits kurz nach ihrer Gründung auch ein „Center for Photography“ in Beirut zu eröffnen. Es sollte ab 2001 die AIF-Sammlung beherbergen und sie durch Ausstellungen sowie „andere Aktivitäten“ der Öffentlichkeit zugänglich machen. Siehe hierzu: https://web. archive.org/web/20010221065112/http://www.fai.org.lb/english/fset-centre.htm [eingesehen am 14.08.16]. 19 |  Das Prinzip der Non-Profit-Organisation, auf der die AIF aufgebaut ist, verlangt eine organisatorische Struktur, die nicht unbedingt mit den ursprünglich

basisdemokratischen

Idealvorstellungen

ihrer

Gründungsmitglieder

korrespondiert. Eingeteilt in die verschiedenen Entscheidungsinstanzen Verwaltungsrat, Mitgliederversammlung und Direktion suggeriert sie ein hierarchisches Gefälle, das die hybride Ausrichtung der AIF verkompliziert. 20 |  Die AIF bezog seit ihrer Gründung verschiedene Räumlichkeiten. Die längste Zeit befand sie sich im sogenannten Starco-Gebäude in Downtown Bei-

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Vorraussetzungen erfüllt. Die AIF begann 1997 offiziell als eingeschriebene Organisation tätig zu sein.21 Zu den Gründungsmitglieder Elkoury, Mohdad und Zaatari, stießen 1997 und in den folgenden Jahren weitere Künstler*innen wie Yto Barrada aus Marokko, Lara Baladi und Walid Raad aus dem Libanon, der libanesisch-irakische Künstler und Autor Jalal Toufic sowie der bereits erwähnte palästinensische Fotohistoriker Issam Nassar hinzu. Mittlerweile beinhaltet die AIF-Sammlung mehr als 600.000 Fotografien. Darunter befinden sich Silbergelatineabzüge, Albumindrucke, Klein-, Mittel- sowie Großformatnegative, Dias, handkolorierte Fotografien, Stereoskopien, Farbfotos und Glasplattennegative aus dem Libanon, Ägypten, Jordanien, Irak, Iran, Jordanien, dem Maghreb, Palästina, Syrien und Ländern, in denen sich größere arabische Gemeinden angesiedelt haben (darunter Senegal, Mexiko und Argentinien). Sie stammen überwiegend aus privaten Konvoluten, Nachlässen von Fotostudios sowie Firmenarchiven. Neben der Mission der AIF, die Fotografien angemessen zu verwahren und zu erforschen, sollten sie vor allem einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.22 Dies geschah von Beginn an hauptsächlich rut. Mittlerweile ist sie nach Gemmayze, einem Viertel im östlichen Teil der Stadt, umgezogen. 21 |  Arida spielte bis 2013 als Direktorin eine zentrale Rolle für die AIF. Sie übernahm anfangs nicht nur die Verwaltung der Organisation und die Implementierung der Archivierungs- und Scanprozesse, die Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung mit internationalen Institutionen, sowie die Beschaffung von Fördermitteln. Sie hatte darüber hinaus einen großen Einf luss auf die inhaltliche und thematische Ausrichtung vieler AIF-Projekte. Nachdem Arida 2013 die Leitung an Rima Mokaiesh und Reem Akl übergeben und ihren neuen Posten am Sursock Museum übernommen hatte, war und ist sie weiterhin als Mitglied der AIF direkt in die Belange der Organisation involviert. Für mehr Informationen dazu: Berndt, Daniel und McGovern, Fiona „Nichts Anderes als Politik“, in: springerin, 2/2014, S. 37-42 sowie Allsop, Laura „Conserving memories. Zeina Arida in conversation with Laura Allsop“, in: Ibraaz, 004, November 2012, http://www.ibraaz.org/interviews/53 [eingesehen am 30.08.16]. 22 |  Vgl. Zaatari, Akram „Unmaking National Borders: Photographic Records as Tools“, in: Pijarski, Krysztof (Hg.) The Archive as Project – the Poetics and Politics of the (Photo)Archive, Warschau: Fundacja Archeologia Fotografii 2011, S. 227-242, hier. S. 227.

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durch Ausstellungen, Publikationen und Kunstwerke. Zudem steigerte eine 2004 online geschaltete, frei zugängliche Bilddatenbank die Sichtbarkeit der Sammlung.23 Schon mit ihrer Gründung begann die AIF, die von ihr gesammelten Fotografien zu scannen und digital zu speichern, wobei die Digitalisierung zum einen dazu dient, den teilweise heiklen Zustand der Originalobjekte zu sichern, indem sie, nachdem sie gescannt wurden, konstant klimakontrolliert und lichtgeschützt, d.h. möglichst frei von weiteren potentiell schädigenden äußeren Einwirkungen, verwahrt bleiben. Zum anderen erleichtert die Digitalisierung auch die logistische Handhabung der AIF-Sammlung sowie den künstlerischen und wissenschaftlichen Umgang mit ihr. Über die Jahre erzeugte die AIF auf diese Weise ein differenziertes Gegenbild zur hegemonialen Bildrhetorik der orientalistischen Fotografie, das nicht nur weiterhin dazu veranlasst, die Repräsentation und die Geschichte des Nahen Ostens unter regionalen und postkolonialen Gesichtspunkten zu betrachten. Durch ihre Expertise in der Fotografiekonservierung und ihr seit ihrer Entstehung beträchtlich gewachsenes internationales Netzwerk nimmt die AIF heute auch eine wichtige Beraterfunktion für zahlreiche Fotoarchive und -sammlungen im Nahen

23 |  Im Jahre 2010 schuf die AIF, die zu diesem Zeitpunkt bereits international etabliert, im Libanon allerdings immer noch relativ unbekannt war, mit dem „AIF Research Center“ einen öffentlichen Raum, um die Präsenz der AIF im Land zu verstärken und einem größeren heimischen Publikum zugänglich zu machen. Die amerikanische Journalistin und Kunstkritikerin Kaelen Wilson-Goldie konzipierte als „Research Center Director“ die Komponenten und Zielsetzungen des Research Centers. Es wurde außerdem eine umfangreiche Bibiliothek mit einem Schwerpunkt auf Fotografietheorie und -geschichte, sowie der regionalen Kunst, ein Residency Program für Künstler*innen und Wissenschaftler*innen eingerichtet. Nach Unstimmigkeiten unter den AIFMitgliedern darüber, wie die Aktivitäten des Research Centers besser in das Basiskonzept der AIF integriert werden können, ohne dass sie die Rezeption der von ihnen realisierten Projekte beeinf lussen oder gar beeinträchtigen würden, änderten sie die bedeutungsschwere und eine erhöhte Erwartungshaltung generierende Bezeichung „Research Center“ kurzerhand in „AIF Library“ um und stellten das Residency Program 2012 wieder ein.

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Osten ein.24 Zudem fungiert sie als Bildagentur, die für die Nutzung ihrer Fotos in Werbung, für Buchcover oder als Illustrationen in populären Magazinen Gebühren verlangt und damit einen kleinen Teil ihrer Betriebskosten deckt.25 In Anbetracht dieser verschiedenen Komponenten lässt die komplexe Gestalt, die die AIF mittlerweile angenommen hat, darauf schließen, dass es sich bei ihr um deutlich mehr als ein kollektives Kunstprojekt handelt. Auch wenn nach wie vor alle Entscheidungen, welche die Planung von Ausstellungs- und Rechercheprojekten, die öffentlichen Veranstaltungen, die Handhabung der Sammlung oder die Regulierungen zur Verwendung der Bilder betreffen, in regelmäßigen Sitzungen von allen Mitgliedern demokratisch getroffen werden, hat die AIF aufgrund ihrer Struktur als gemeinnützige Organisation und ihres aufwendigen Verwaltungsapparates über die Jahre hinweg ein institutionelles Eigenleben entwickelt. Sie ist als Hybrid aus beidem – Kunstprojekt und Institution – aufzufassen. Ihre fotografische Sammlung wird demenstprechend als Quelle für wissenschaftliche Forschung, zeitgenössische Kunstproduktion und kommerzielle Zwecke genutzt.

24 |  Das tut die AIF seit 2009 vor allem in enger Zusammenarbeit mit dem Art Conservation Department der University of Delaware, The Metropolitan Museum of Art und dem Getty Conservation Institute im Rahmen der Middle East Photograph Preservation Initiative (MEPPI). Für mehr Informationen dazu: http://www.meppi.me [eingesehen am 21.06.16]. Vgl. auch Berndt, Daniel „,Not Quite An Institutional Archive, And Not Exactly An Artist Project‘ – A Conversation With Rima Mokaiesh And Charbel Saad About The Arab Image Foundation“, in: ders., Flemming, Victoria v. und Bialek, Yvonne (Hg.) (Post-) Fotograf isches Archivieren. Wandel, Macht, Geschichte, Kromsdorf: Jonas Verlag 2016, S. 41-52. 25 |  Wie üblich bei Bildagenturen hängen die Beträge von der Art der Publikationen und ihrer Auf lage, der Größe der Reproduktionen etc. ab. Die Reproduktion von Fotos aus der AIF-Sammlung in wissenschaftlichen Publikationen erfolgt nach vorheriger Konsultation mit der AIF über deren Inhalte jedoch überwiegend unentgeltlich. Auf der AIF-Webseite findet sich unter dem Link „Copyright Licensing“ eine Auf listung von Beispielen von Bildnutzungen aus dem Zeitraum von 1998 bis 2009. Siehe: http://www.fai.org.lb/Listof Projects. aspx?ParentCatId=4&CatId=0 [eingesehen am 21.06.16].

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Ausgehend von der Genese der AIF-Sammlung soll im Folgenden das von der AIF erzeugte Bild der Region untersucht werden, das in Bezug auf Palästina auch als ein „Gegengedächtnis“26 konstatiert wird. An den Beispielen der AIF-Onlinedatenbank und der Ausstellung Palestine before ’48 lege ich dar, welche geografischen und historischen Zuschreibungen die AIF für Palästina vornimmt bzw. wie sie Fotografien aus ihrer Sammlung in Verbindung mit Annotationen und Zeugenberichten sichtbar macht. Akram Zaatari wird dabei, als eines der aktivsten AIF-Mitglieder, im Hauptaugenmerk meiner Betrachtungen stehen. Er kuratierte nicht nur Palestine before ’48 sondern thematisiert zudem in seinen eigenen Kunstwerken außerhalb der AIF-Strukturen, aber mittels AIF-Fotografien Aspekte der palästinensischen Geschichte. Sein Verhältnis zur AIF, dass sich auch auf seine künstlerische Autorschaft auswirkt, soll dabei ebenso diskutiert werden wie die konservatorischen, kuratorischen und künstlerischen Prozesse, mit der die AIF und insbesondere Zaatari fotografische Bilder als historische Quellen oder, wie Zaatari es selbst formuliert, als historische Dokumente postulieren und in Szene setzen.27

1. D ie AIF-S ammlung : D er Tr ansfer vom P rivaten ins Ö ffentliche und das V ersprechen des A rchiv s Die Sammlung der AIF bietet nicht nur eine konkrete Basis für historische, soziologische sowie ästhetische Analysen, sie ist selbst weitgehend das Resultat künstlerischer Forschung, die einen produktiven Kontra26 |  Laut Wolfgang Ernst führt ein „Gedächtnis auf der Grundlage von Aufzeichnungen“ dazu, „dass die einen das Gedächtnis zu monopolisieren, die anderen ein Gegengedächtnis aufzubauen versuchen.“ Vgl. Ernst, Wolfgang „Archive im Übergang“, in: Bismarck, Beatrice v. et al. (Hg.) Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld, Köln: König 2002, S. 137-146, hier S. 142. 27 |  Vgl. hierzu Downey, Anthony „Photography as Apparatus. Akram Zaatari in Conversation with Anthony Downey“, in: Ibraaz, Platform 06, January 2013, http://www.ibraaz.org/interviews/113 [eingesehen am 21.06.16] sowie Feldman, Hannah und Zaatari, Akram „Mining War. Fragments from a Conversation Already Passed“, in: Art Journal, Vol. 66, No. 2 (Summer, 2007), S. 48-67, hier S. 51.

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punkt zu etablierten Wissensbeständen liefert oder deren Expansion dienen soll28, indem sie Erkenntnisräume gleichermaßen „untersucht und generiert“.29 Bedeutet Forschen immer schon „ein gezieltes, systematisches Sammeln von Erkenntnissen“30, so ist die AIF-Sammlung eine Kombination bzw. ein Resultat dessen, was der Soziologe Justin Stagl als „Sammeln aus einem Erkenntnisvermögen“31 und der Philosoph Reinhard Brandt als „ästhetisches Sammeln“32 bezeichnet, das darauf ausgerichtet ist, das Sehenswerte dauerhaft zusammenzuhalten.33 Werden dazu grundsätzlich immer Objekte „aus verschiedenen räumlichen und zeitlichen Ebenen“34 an einen bestimmten Ort zusammengeführt, unter28 |  Die Kulturwissenschaftlerin Sibylle Peters sieht die Essenz der künstlerischen Forschung darin, dass sie „die Differenz zwischen Entstehung und Präsentation von Erkenntnis [problematisiert]“. Sie ist, so Peters, „daher als prozessual, revidiert, aktualisiert und erweitert gegebene Wissensstände.“ Siehe dazu: Peters, Sibylle „Das Forschen aller – ein Vorwort“, in: dies. (Hg.) Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2013, S. 7-21, hier S. 8. Weitere grundlegende Beiträge zum Thema künstlerische Forschung sind etwa: Badura, Jens et al. (Hg.) Künstlerische Forschung. Ein Handbuch, Zürich: diaphanes 2015 und Borgdorff, Henk The Conf lict of the Faculties. Perspectives on Artistic Research and Academia, Amsterdam: Amsterdam University Press 2013. 29 |  Peters, Sibylle „Das Forschen aller – ein Vorwort“, in: dies. (Hg.) Das Forschen aller. Artistic Research als Wissensproduktion zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2013, S. 7-21, hier S. 8. 30 |  Stagl, Justin „Homo Collector. Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns“, in: Assmann, Aleida; Gomille, Monika und Rippl, Gabriele (Hg.) Sammler – Bibliophile – Exzentriker, Tübingen: Narr Francke Attempto 1998, S. 37-54, hier S. 51. 31 |  Ebd. 32 |  Vgl. Brandt, Reinhard „Das Sammeln der Erkenntnis“, in: Grote, Andreas (Hg.) Macrocosmos in Microcosmo - Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450-1800, Wiesbaden: Springer Fachmedien 1994, S. 21-34, hier S. 29. 33 |  Vgl. hierzu auch Sommer, Manfred Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 12. 34 |  Heesen, Anke te und Spary, Emma C. „Sammeln als Wissen“, in: dies. (Hg.) Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen: Wallstein Verlag 2001, S. 7-21, hier: S. 15.

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nahmen die AIF-Mitglieder vor allem in den Jahren zwischen 1997 und 2001 zu diesem Zweck von ihren eigenen Interessen geleitete Recherchen und Exkursionen.35 Die ersten dieser Forschungsreisen im Libanon, nach Jordanien, Syrien und Ägypten unternahm Zaatari gemeinsam mit Elkoury. Sie begaben sich dabei zunächst auf die Suche nach Mitgliedern bürgerlicher Familien, die traditionell Teil der gehobeneren sozialen Schicht der Region waren, da sie von der Annahme ausgingen, dass diese bzw. deren Vorfahren es sich bereits in den Geburtsstunden der Fotografie leisten konnten, sich ablichten zu lassen. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war das noch relativ kostspielig und erst ab den 1930er war der Besuch in einem Fotostudio und der Erwerb einer Kleinbildkamera für eine breitere Mittelschicht erschwinglich. Elkoury und Zaatari machten zudem die Erfahrung, dass zumeist ein Familienmitglied alle älteren Familienfotos beherbergt und schließlich an einen Erben weiter reicht. Somit konnten sie in einer relativ kurzen Zeit eine Vielzahl historischer Fotografien ausfindig machen,36 die sie entweder ankauften oder für maßstabgetreue Reproduktionen der „Originalfotografien“ eintauschten. Sie protokollierten die Verläufe dieser und weiterer Reisen sowie die währenddessen geführten Gespräche, zeichneten zahlreiche Interviews auf Video und Tonband auf, wobei die gesammelten Informationen hauptsächlich der anschließenden Annotation der einzelnen Fotografien dienten. In manchen Fällen – und darauf werde ich noch genauer eingehen – wurden sie aber auch in Ausstellungen, Publikationen und Kunstwerken integriert. Später gelangten mit dem steigenden Bekanntheitsgrad der AIF mehr und mehr Fotografien auf direktem Wege von Privatpersonen oder aus Nachlässen professioneller Fotografen in die Sammlung. Auf diese Weise wächst die AIF-Sammlung bis heute stetig weiter, ohne dass dazu von ihren Mitgliedern langwierige Nachforschungen unternommen werden. Die Entscheidung darüber, welche Fotografien angekauft oder angenom-

35 |  Die einzelnen AIF-Mitglieder akquirierten damit einergehend Fotografien auch vor allem im Hinblick auf eine eigene künstlerische Auseinandersetzung mit diesen Bildern. 36 |  Interview mit Akram Zaatari in der Sendung Alam Al Sabah auf Future TV, Sommer 1998.

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men werden, wird jedoch nach wie vor von den Mitgliedern getroffen.37 Ausschlaggebend sind verschiedene Kriterien wie der Erhaltungszustand, die soziale und historische Relevanz sowie die Seltenheit und Besonderheit der Fotos. Nachdem sie in der AIF eintreffen, werden die Fotos oder Negative sorgfältig gereinigt, nummeriert, gescannt und anschließend klimatisch reguliert gelagert.38 Momentan sind davon ca. 70.000 digitalisiert und etwa 20.000 online auf einer Datenbank zugänglich, die über die AIF-Webseite nach dem Einrichten eines kostenlosen Besucheraccounts aufgerufen werden können.39 Was die Veröffentlichung der Bilder betrifft, d.h. deren Verwendung in Publikationen, im Rahmen künstlerischer Projekte oder deren Präsentation in Ausstellungen, so unterliegt sie, je nach Herkunft und Urheberschaft, unterschiedlichen Regulierungen. Bei der Übergabe der Fotos an die AIF wird vertraglich festgelegt, in welchen Kontexten bestimmte Bilder gezeigt und ob sie für kommerzielle und künstlerische Zwecke genutzt werden dürfen. Dies betrifft vor allem Fotos, die aus privaten Familiensammlungen stammen, Aktbilder oder Fotografien sonstiger Brisanz 40, deren weitläufige Präsentation evtl. negative Konsequenzen für die ursprünglichen Eigentümer*innen, die Abgebildeten oder die Urheber*innen nach sich ziehen könnte. In einigen Fällen erhalten die ursprünglichen Eigentümer*innen Tantiemen für die Reproduktion ihrer Bilder in Publikationen oder beim Verkauf eines

37 |  Viele professionelle Fotografen überließen der AIF in den letzten Jahren aber auch immer wieder ihre Nachlässe, da sie in ihrem Ruhestand auf etwas Anerkennung und auch Tantiemen hoffen, die die AIF für die Nutzung ihrer Bilder zahlt. 38 |  Dieser Vorgang kann zum Teil etwas länger dauern, je nach dem wie dringlich seine Bearbeitung und der Zustand der Bilder ist, werden sie manchmal einige Zeit „zwischengelagert“ bevor sie in die AIF-Sammlung eingehen. Da der Reinigungs- und Scanprozess sehr zeit- und kostenintensiv ist, wird je nach geplanten oder laufenden Projekten die Bearbeitung bestimmter Sammlungsbestände prioritisiert. 39 |  http://fai.cyberia.net.lb [eingesehen am 21.06.16]. 40 |  In solchen Fällen behält sich die AIF vor, die Fotografien vor der Öffentlichkeit unter Verschluss zu halten. Das betrifft vor allem Bilder, auf denen Personen des öffentlichen Lebens zu sehen sind, die etwa Familienangehörige der AIF überließen.

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Kunstwerkes, das auf ihren Fotos beruht41 und sie werden alle, insoweit nicht anders verabredet, namentlich in der Bildunterschrift im Anschluss des Titels unter dem Vermerk „Collection“ genannt.

Archiv oder Sammlung?: „Verantwortung für morgen“ Anstatt als Organisation, die eine Sammlung beherbergt, wird die AIF oft auch als Archiv, sei es künstlerischer oder institutioneller Art, rezipiert.42 Das Archiv erscheint dabei als „allgemeine Gedächtnismetapher“, unter die, so der Medientheoretiker Knut Ebeling, „alle möglichen Institutionen des kulturellen Gedächntnisses“ wie Monumente, Museen, Bibliotheken und Sammlungen gefasst werden.43 Die Mitglieder der AIF sträuben sich allerdings grundsätzlich gegen diese Vereinahmung durch den Archivbegriff. Diese Haltung geht mit einer bewussten Distanzierung vom Archiv als autoritärer, bürokratischer Instanz 44, aber auch mit dem Bestreben einher, den institutionellen Charakter der AIF nicht vor

41 |  Das ist zum Beispiel in Akram Zaataris Werkreihe Objects of Studies über den libanesischen Studiofotografen Hashem El Madani der Fall, auf die ich im Folgenden noch ausführlicher eingehen werde. 42 |  Ebeling, Knut „Archiv oder Sammlung? Kleine Epistemologie archivarischer Praktiken des fotografischen Bildes“, in: Hasenpf lug, Kristina und Seeger, Elke (Hg.) Atelier der Erinnerungen. Aspekte des Archivarischen als Ausgangspunkt künstlerischer Fotograf ie, Ludwigsburg/Essen: Folkwang Universität der Künste/Wüstenrot Stiftung, S. 27-35, hier S. 27. 43 |  Ebd. 44 |  Dies vor allem im Hinblick auf einen Archivbegriff, der sich in erster Linie am klassisch-preußischen Archivtyp orientiert und von einer behördlichen Provenienz geprägt ist. Laut Julia Fertig liegt jedoch die Definitionsmacht, was ein beliebiges „Objekt“ zu einem „Archiv“ macht, letztlich beim individuellen Sammler bzw. Archivar. Das heißt, die Künstler*innen machen es erst durch einen „sprachlich-performativen Akt“ zum Archiv, einem Akt, dem sich die AIF-Mitglieder bewusst verwehren. Vgl. hierzu Fertig, Julia „Die Archivfalle“, in: kunsttexte.de - E-Journal für Kunst- und Bildgeschichte, 01/2011, http://edoc. hu-berlin.de/kunsttexte/2011-1/fertig-julia-3/PDF/fertig.pdf, S.6 [eingesehen am 22.06.16].

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ihre künstlerische Ausrichtung zu stellen.45 Auf der Tatsache beruhend, dass sie von einer Vielzahl von Individuen, auf deren ästhetischen, persönlichen Einschätzung und Nutzen basierend, zusammengetragen wurde, möchte zum Beispiel Zaatari die AIF-Sammlung, wenn überhaupt als Archiv, dann nur als Archiv der „collecting practices that happened in the foundation from 1997 until this day“46 verstanden wissen – als eine Art Logbuch der Motivationen und Methoden der einzelnen AIF- Mitglieder, bestimmte Fotografien an bestimmten Orten zu sammeln. Korreliert dies einerseits mit der weit verbreiteten Auffassung, dass das Sammeln „Ausdruck einer kulturellen Praxis“ ist, „in der Gegenstände oder Wissen zu Symbolen der Selbstvergewisserung und zur Konservierung von Erfahrungen und Sichtweisen werden“47, relativiert Zaatari diesen Sachverhalt anderseits wiederum, indem er die subjektiven künstlerischen Motivationen des Sammelns der einzelnen AIF- Mitglieder hervorhebt und somit die „Rückgewinnung von Fragwürdigkeit hinter den Selbstverständlichkeiten des Sammelns in Gang“ hält.48 45 |  Feldman, Hannah und Zaatari, Akram „Mining War. Fragments from a Conversation Already Passed“, in: Art Journal, Vol. 66, No. 2 (Summer, 2007), S. 48-67, hier S. 51, sowie Westmorland, Mark Crisis of Representation. Experimental Documentary in Postwar Lebanon, Arbor/ Michigan: Proquest, Umi Dissertation Publishing 2008, S. 24. 46 |  Downey, Anthony „Photography as Apparatus. Akram Zaatari in Conversation with Anthony Downey“, in: Ibraaz, Platform 06, January 2013, http://www. ibraaz.org/interviews/113 [eingesehen am 21.06.16]. 47 |  Rusterholz, Sabine „Speicher fast voll“, in: dies. (Hg.) Speicher fast voll. Sammeln und Ordnen in der Gegenwartskunst [Ausst-Kat.], Zürich: Kunstmuseum Solothurn/Edition Fink 2008, S. 4-21, S. 5. 48 |  Vgl. Winzen, Matthias „Sammeln – so selbstverständlich, so paradox“, in: ders.; Schaffner, Ingrid et al. (Hg.) Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, München: Prestel 1998, S. 10-19, hier S. 10. Peter Piller, dessen künstlerische Praxis ebenfalls zu einem Großteil vom Sammeln von Fotografien bestimmt ist, kommentiert das künstlerisch motivierte Sammeln an anderer Stelle folgendermaßen: „Mir fallen als Künstler natürlich andere Dinge auf, als beispielsweise einem Politiker auffallen würden. Ich werde eher auf Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Bildern aufmerksam. Idealerweise schafft es ein Archiv, das Vergessen etwas aufzuschieben und Dinge, die sich gleichen, aber räumlich weit von einander getrennt sind,

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Aber auch wenn die AIF und insbesondere Zaatari das „Sammeln“ vor das „Archivieren“ stellen, wurden dennoch ihre institutionellen Züge und ihre konservatorische Tätigkeit, die eine wissenschaftliche Kompetenz vermitteln, zu wichtigen Prämissen, wenn nicht gar zu den Grundvoraussetzungen dafür, dass ihre Mitglieder überhaupt eine so umfang- wie facettenreiche Sammlung schaffen konnten. Als künstlerisch ambitionierte Individuen hätten sie damit höchstwahrscheinlich einen viel bescheideneren Erfolg verbuchen können. Abgesehen von Fotografien, die auf Flohmärkten und in Antiquariaten erhältlich waren, wäre ihnen gewiss der Zugang zu vielen Privatsammlungen und Nachlässen von Studiofotograf*innen verwehrt geblieben und es wäre ihnen möglicherweise nicht gelungen, detaillierte Informationen zu einzelnen Fotografien zu erlangen. Die Tatsache, dass die AIF als konservatorische Einrichtung und mit ihrer Mission49 zumindest implizit das vermittelt, was Derrida als „gespenstische Messianizität“50 bzw. als das Versprechen des Archivs bezeichnet – eine Verheißung nach Sicherheit und Garantie auf ein Nachleben für ansonsten der Vergessenheit anheimfallender Dokumente und Informationen –, hat ihnen allerdings viele Türen geöffnet und sie auch in Besitz von sehr intimen und sentimental behafteten Fotografien gebracht. Somit kann behauptet werden, dass, obwohl für die Entstehung der AIF-Sammlung kein explizites Bestreben nach einer rationalen Objektivität des Archivs ausschlaggebend war, tatsächlich erst die „Autorität“, die von dieser Ordnungsinstanz ausgeht51, und das „Begehren“ da-

so zu verdichten, dass man ihre Ähnlichkeit wahrnimmt.“ Piller, Peter „Archiv Peter Piller“, in: Bismarck, Beatrice v. et al. (Hg.) Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld, Köln: König 2002, S. 309-313, hier S. 313. 49 |  Laut eines Statements, welches auf der AIF-Webseite aufgeführt wird, beinhaltet diese Mission „to collect, preserve and study photographs from the Middle East, North Africa and the Arab diaspora. […] The Foundation makes its collection accessible to the public through a wide spectrum of activities, including exhibitions, publications, videos, a website and an online image database.“ Vgl. hierzu http://www.fai.org.lb/Template.aspx?id=1 [eingesehen am 22.06.16]. 50 |  Derrida, Jacques Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkman & Bose 1997, S. 60. 51 |  Vgl. hierzu Ernst, Wolfgang „Das Archiv als Gedächtnisort“, in: Ebeling,

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nach52, den Transfer der Fotografien aus ihren ursprünglich überwiegend privaten in einen öffentlichen Kontext ermöglichte. Zaatari und die anderen Mitglieder der AIF übernehmen neben ihrer selbstdesignierten Rolle als Ethnograph*innen, die Fotografien sowie für deren Deutung und Kennzeichnung relevante Daten sammeln53, im übertragenen Sinne somit auch die Rolle von Archivaren54 bzw. „Archonten“ ein – anerkannten Bewahrer*innen des Archivs, denen nach Derrida eine „Verantwortung für morgen“ und dessen „Gerechtigkeit“ anheimfällt.55 Knut und Günzel, Stephan (Hg.) Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009, S. 177-200, hier S. 184 f. 52 |  Derrida, Jacques Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkman & Bose 1997, S. 40. 53 |  Der „Artist as Ethnographer“ ist eine Erscheinunng, die laut Hal Foster vemehrt seit den 1990er Jahren in der Gegenwartskunst in Folge eines „ethnographic turn“ auftrifft. Künstler*innen widmen sich demnach der Feldarbeit und rekurrieren auf das Prinzip der teilnehmenden Beobachtung. Obwohl sie sich dabei überwiegend mit dem „cultural and/or ethnic other“ indentifizieren, laufen sie, so Foster, allerdings Gefahr, anstatt relationale Modelle der Differenz zu entwickeln, lediglich das „binäre“ Schema von Eigenem und Anderem zu konsolidieren. Die AIF-Mitglieder agieren jedoch eher in der Weise als Ethnographen, die dem Versuch einer symmetrischen Anthropologie im Sinne Bruno Latours, d.h. einem Versuch die Ethnologie auf die eigene Gesellschaft anzuwenden, gleichkäme. Vgl. Foster, Hal „The Artist as Ethnographer“, in: ders. The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge/London: MIT Press 1996, S. 171-203 sowie Latour, Bruno Wir sind nie modern gewesen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 54 |  Die eigentlichen konservatorischen und archivarischen Tätigkeiten übernehmen nicht die AIF-Mitglieder selbst, sondern angestellte Fachkräfte. Die AIF-Mitglieder verfügen jedoch über die Entscheidungsgewalt, wie und unter welchen Bedingungen der konservatorische Prozess abläuft. 55 | Vgl. Derrida, Jacques Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkman & Bose 1997, S. 65. Aus dieser Verwantwortung resultieren fürdie AIF vor allem Herrausforderungen logistischer Art. Die Sammlung, ihre Bearbeitung und Digitalisierung beanspruchte über die Jahre hinweg immer mehr Arbeitskräfte und Raum. Dazu kommt die Frage nach der Nachhaltigkeit des Projektes an sich und nach dem Verbleib der Sammlung bzw. dem Umgang damit, sollte die AIF in ihrer heutigen Form etwa aus finanziellen Gründen

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Und diese Verantwortung beginnt bereits mit der Deplatzierung der Fotografien, d.h. mit ihrem Übergang vom Privaten ins öffentlich Kulturelle. Bringt das Sammeln laut Jean Baudrillard mit sich, dass die Bilder ihrer ursprünglichen „Funktion“ enthoben sowie „aus dem Gebrauch“ gezogen werden,56 um damit in die denkbar engste Beziehung zu ihresgleichen zu treten, bedeutet dies im Falle der AIF, dass Fotografien, die oftmals persönliche Erinnerungsstücke waren und intime Einblicke in das Leben einzelner Individuen gewähren, nicht nur in Anlehnung an eine Bourdieusche Untersuchung der Sozialgeschichte der Fotografie57 des Nahen Ostens zueinander in Relation gesetzt, sondern darüber hinaus zu einer historischen Betrachtung des (geo-)politischen Wandels in der Region miteinander verbunden werden. Damit wird der AIF-Sammlung eine „ethisch-politische Dimension“58 zu teil, die mit ihrem Anspruch einhergeht, ein „kritisches Denken über Fotografie, künstlerische sowie archivarische Praktiken“59 zu generieren, was wiederum an Fragen bezüglich der Beziehung des Fotografischen zu „Konzepten wie Identität, Geschichte und Erinnerung“60 gekoppelt ist. In einer Region, in der nicht weiter bestehen können. Derrida fragt auch danach, „ob das Antonym zum ‚Vergessen‘ nicht ‚das Erinnern‘ sei, sondern die Gerechtigkeit“. Ebd., S. 138 (Hervorhebung im Original). 56 |  Baudrillard, Jean Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a.M./New York: Campus 2007, S. 111. 57 |  Bourdieu, Pierre; Boltanski, Luc et al. Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006. 58 |  Därmann, Iris und Thiel, Detlef „Gespenstergespräche. Über einige Archive des Vergessenen und Institutionen der Psychoanalyse“, in: Bismarck, Beatrice v. et al. (Hg.) Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld, Köln: König 2002, S. 126-136, hier S. 131. 59 |  So heißt es in einer von der AIF veröffentlichten Informationsbroschüre: „In seeking the engagement of artists and scholars, encouraging public curiosity and working in partnership with like-minded institutions, the Foundation hopes to generate critical thinking about photographic, artistic and archival practices, using the collection as a basis for research, ref lection and the creation of new works, forms and ideas.“ Siehe: AIF-Infobroschüre 2013, S. 1. 60 |  Ebd., S. 2: „In addition to building the AIF’s collection, the research projects make valuable contributions to the study of photography in the region by generating knowledge about photographers, their biographies and the condi-

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die meisten institutionellen Archive für Privatpersonen kaum zugänglich sind oder während kriegerischer Auseinandersetzungen zerstört wurden, in Ländern, in denen Geschichtsschreibung oftmals durch rigorose Zensur und durch Einschränkung der Pressefreiheit ohne eine kritische Gegenposition bleiben muss, stellt sich die AIF somit die Aufgabe, eine pluralistische politische Selbstbestimmung zu befördern, an der es gesamtgesellschaftlich im Libanon und vielen anderen Staaten des Nahen Ostens nach wie vor fehlt.61 Ihr geht es um eine „Wiederaneignung der Geschichte“62, welche in der Zeit vor der durch die kolonialen Besetzungsmächte herbeigeführten Staatengründungen in der Region sowie in Kerngedanken der Nahda-Bewegung63 und dem davon ausgehenden

tions informing their practice. Inevitably, the research projects raise questions about how images are used or their relationship to notions such as identity, history and memory.“ 61 |  Vgl. Berndt, Daniel und McGovern, Fiona ,Nichts Anderes als Politik‘, in: springerin, 2/2014, S. 37-42, hier S. 38. 62 |  Zur Problematik „Wiederangeignung der Geschichte“ stellt Elizabeth Suzanne Kassab in ihren Buch Contemporary Arab Thought über historische und aktuelle Geschichtsphilosophien im Nahen Osten folgende Fragen, die auch für die Mission der AIF maßgeblich sind: „How does one reappropriate one’s own history after it has been told and made by others? […] How can one re-create a living relationship with one’s history and heritage after one has been estranged from them by colonial alienation? […] Is it possible to modernize without becoming westernized? […] And finally, how does one affirm oneself and exercise critique at the same time?“ Siehe: Kassab, Elizabeth Suzanne Contemporary Arab Thought. Cultural Critique in Comparative Perspective, New York: Columbia University Press 2010, S. 7. 63 |  Nahda bezeichnet wörtlich übersetzt eine aufstrebende, von unten nach oben gerichtete Körperhaltung und steht im übertragenen Sinne für „arabische Renaissance“. Der Begriff wird jedoch zudem auf die zu dieser Zeit vorherrschenden politischen Strömungen im Nahen Osten angewendet. Angesichts des fundamentalen sozialen und kulturellen Wandels in weiten Teilen des Nahen Ostens löste die Nahda u.a. Debatten darüber aus, wie die europäischen Fortschritte in Technik und Wirtschaft nutzbringend in den gesellschaftlichen Kontext arabischer Länder integriert und insbesondere mit der islamischen Religion in Einklang gebracht werden konnten – ohne, dass das eigene kulturelle

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Panarabismus64 wurzelt. Die AIF – das suggeriert auch ihr Name – legt somit eine stärkere Gewichtung auf die Untersuchung und Wahrung der kulturellen Identität der so genannten „arabischen Welt“, anstatt der von einzelnen Nationen. Dennoch nimmt Palästina und die palästinensische Identität in diesem Punkt eine besondere Rolle ein. Das liegt nicht nur daran, dass sich mit der Gründung Israels 1948, so die Anthropologin Julie Peteet, „a new set of places, borders, and power relations“ im Nahen Osten abzeichnete.65 Sondern auch daran, dass aus der Herausbildung dessen, was Said als „symbioses and sympathy between Arab and Palestinian causes“ beschreibt66, ein multilateraler arabisch-israelischer Konflikt resultiert. Anhand einer Analyse der AIF-Onlinebilddatenbank soll im nächsten Schritt erläutert werden, wie sich Solidarität mit dem palästinensischen Volk bzw. der besondere Status Palästinas innerhalb der Struktur der AIF-Sammlung äußert.

Erbe in den Schatten gestellt oder gar in Vergessenheit geraten bzw. der Säkularismus der Moderne Oberhand gewinnen würde. Vgl. ebd., S. 30. 64 |  Die panarabische Bewegung bzw. der Panarbismus entstand nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und nahm während der europäischen Expansion in Folge des ersten Weltkrieges an Bedeutung zu. Sie strebte nach einer wirtschaftlichen wie politischen Zusammenarbeit aller arabischen Staaten und einer supranationalen Einheit aller Araber, die nicht zuletzt eine antikolonialistische Haltung unter der Bevölkerung dieser Länder stark machte. Siehe dazu etwa: Doran, Michael Pan-Arabism before Nasser. Egyptian Power Politics and the Palestine Question, New York/London: Oxford University Press 1999 sowie Khalidi, Rashid (Hg.) The Origins of Arab Nationalism, New York: Columbia University Press 1990. 65 |  Peteet, Julie M. Landscape of Hope and Despair. Palestinian Refugee Camps, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2005, S. 5. 66 |  Said, Edward W. The Question of Palestine, New York 1992, S. ix.

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2. D ie AIF-O nlinebilddatenbank : B rowse C ollection – L ocation – Palestine Die AIF-Onlinedatenbank, die auf der AIF-Webseite über einen mit „Browse Collection“ betitelten Link erreicht werden kann67, ist nicht nur die virtuelle Pforte, welche in Verbindung mit der Digitalisierung bzw. im Internet einen „universal access“68 zur AIF- Sammlung bietet.69 Als Display, welches zugleich „funktional und ästhetisch ist“70 und zumindest einen Teil der AIF- Sammlungsbestände 71, die nach dem Provenienz67 |  Das Interface der AIF-Datenbank ist nach den gleichen Prinzipien wie das der Webseite gestaltet und fügt sich demnach in die Gesamtästhetik der visuellen Kommunikation der AIF ein. Das Grafikdesign der Webseite, das AIF-Logo sowie alle AIF-Publikationen und institutionellen Paraphernalien, wie Visitenkarten, Broschüren und Plakate wurden und werden nach wie vor von der in Beirut ansässigen Agentur für Grafikdesign Mind the Gap entworfen – wodurch die AIF über die Jahre hinweg eine kohärente visuelle Identität, ähnlich einer Coperate Identity erhielt. Die enge Zusammenarbeit mit Mind the Gap ist vor allem dadurch begründet, dass der Teileigentümer und kreative Leiter der Agentur Karl Bassil von 1998 bis 2012 Mitglied der AIF war. 68 |  Pijarski, Krysztof „The Archive as Project – the Poetics and Politics of the (Photo)Archive“, in: ders. (Hg.) The Archive as Project – the Poetics and Politics of the (Photo)Archive, Warschau: Fundacja Archeologia Fotografii 2011, S. 10-15, hier S. 14. 69 |  Für eine ausführlichere Untersuchung zum Thema digitale Datenbanken und ihren Funktionsweisen siehe: Burkhardt, Marcus Digitale Datenbanken. Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data, Bielefeld: transcript 2015 sowie spezifisch zu Bilddatenbanken ders. „Archiv, Superarchiv, Metaarchiv“, in: Berndt, Daniel; Flemming, Victoria v. und Bialek, Yvonne (Hg.) (Post-)Fotograf isches Archivieren. Wandel, Macht, Geschichte, Kromsdorf: Jonas Verlag 2016, S. 69-80. 70 |  Vgl. McGovern, Fiona „Display“, in: Schafaff, Jörn; Schallenberg, Nina und Vogt, Tobias (Hg.) Kunst-Begriffe der Gegenwart. Von Allegorie bis Zip, Köln: König 2013, S. 43-47, hier S. 43. 71 |  Der momentan einsehbare Bildbestand ist dabei als ein andauernder Work in Progress zu verstehen, da seit der Online-Schaltung der Bilddatenbank beständig weitere Fotografien gescannt und annotiert, sie aufgrund technisch begrenzter Kapizitäten jedoch nicht online gestellt wurden. Zur Zeit plant die

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prinzip erfasst sind, visuell auf bereitet und sichtbar macht, ist sie auch ein „Aushängeschild“ der AIF: Sie demonstriert die Errungenschaften ihrer Mitglieder und deren künstlerischer Forschung. Mit Schlagworten versehen und in unterschiedliche Kategorien gefasst, erscheinen die Fotografien darin je nach Anwendung der Nutzer*innen und deren Suchkriterien in Sinneinheiten, die etwa nach geografischen, historischen, personengebundenen, gattungsspezifischen oder technischen Gesichtspunkten individuell definiert werden können. Das Interface der AIF-Onlinedatenbank ist dementsprechend in verschiedene Suchfelder wie „Photographer“, „Photographic Genre“ oder „Location“ gegliedert (wobei alle Textelemente ausschließlich in Englischer Sprache verfasst sind). Möchten Nutzer*innen zum Beispiel eine ortsgebundene Suche vornehmen, kann entweder direkt im Suchfeld „Location“ ein Ländername eingetragen oder optional über eine Länderliste ausgewählt werden. In dieser Liste erscheinen 63 Namen arabischer, europäischer, asiatischer, süd- und nordamerikanischer Länder. Darunter befinden sich auch „Kurdistan“ und „Palestine“, obwohl diese beiden Namen streng genommen keine international oder zumindest nur begrenzt anerkannte Staaten, sondern vielmehr historische Siedlungs- bzw. autonome Regierungsgebiete bezeichnen. Gibt es für Kurdistan keine Einträge, so werden für „Palestine“ nach erfolgter Suche 580 Fotografien im Kleinformat als sogenannte Thumbnails72 in einem Raster dargestellt [Abb. 1].73 Darauf hin können die Bilder individuell durch einen Mausklick auf die jeweiligen Thumbnails mit den dazugehörigen Informationen abgerufen werden. Dabei ist die einheitliche, relativ ge-

AIF eine Modizifizierung ihrer Onlinedatenbank unter Verwendung von Open Source-Software. Wann genau diese zugänglich gemacht wird, ist jedoch nach wie vor unklar. Vgl. dazu Berndt, Daniel „,Not Quite An Institutional Archive, And Not Exactly An Artist Project‘ – A Conversation With Rima Mokaiesh And Charbel Saad About The Arab Image Foundation“, in: ders., Flemming, Victoria v. und Bialek, Yvonne (Hg.) (Post-)Fotograf isches Archivieren. Wandel, Macht, Geschichte, Kromsdorf: Jonas Verlag 2016, S. 41-52. 72 |  Die Thumbnails haben eine Größe von 4 cm mal x cm im Hochformat bzw. x cm mal 4 cm im Querformat. 73 |  Die Dichte dieses Rasters kann durch die Anzahl von 12 bis 80 Bildern pro Seite variiert werden.

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Abbildung 1: Screenshot der AIF-Onlinedatenbank (Suchergebnisse „Palestine“)

ringe Größe (bei gleicher Auflösung)74 vornehmlich dem Design der Webseite bzw. der damit einhergehenden funktionalen Ordnung nach einer geometrisch strukturierten Gestaltung geschuldet, um mit der Gesamtkomposition des Displays zu harmonisieren. Das heißt, die Ästhetik des Displays basiert auf einem Pragmatismus, der vor allem dazu dienen soll, eine „Übersicht“ zu ermöglichen, um davon ausgehend detaillierte Informationen abzurufen. Die ersten 80 Bilder, die als Ergebnisse der Suche „Palestine“ erscheinen, umfassen Fotografien unterschiedlichster Herkünfte, Datierungen 74 | Die darüber erreichten einzelnen Bilder haben die Größe von 8,5 cm mal x cm im Hochformat und oder x cm mal 8,5 cm im Querformat. Die verhältnismäßig geringe Größe und Auf lösung der Bilder ist auch dadurch begründet, dass damit der Schutz vor unrechtmäßiger Reproduktion und Nutzung der Fotografien gewährleistet werden soll.

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und Genres. Darunter befinden sich das Studioporträt einer türkischen Dame von 1880 in orientalistischer Manier, ein Schnappschuss des über Jerusalem fliegenden Zeppelins Hindenburg aus den 1930er Jahren 75 [Abb. 2], zahlreiche Einzel- und Familienporträts aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch fotojournalistische Aufnahmen, die die israelisch-arabischen Kriege von 1948 und 1967 dokumentieren. Das überblicksartige Display, das formal entfernt an den Präsentationsmodus eines Bilderatlas erinnert 76, liefert somit bereits ein breites Spektrum der Fotografiegeschichte Palästinas. Ein genauer Blick auf die Entstehungsorte und -daten, die für die meisten Fotografien als Paratexte angegeben werden, macht dabei deutlich, dass sich „Palestine“ hier auf das Mandatsgebiet Palästina nach 1923 bezieht und nicht etwa auf den 1988 von der PLO deklarierten Staat Palästina oder die palästinensischen Autonomiegebiete.77 Orte wie Nazareth, Bethlehem, Jaffa, Ramla, Tabgha, Tiberias und Haifa, die entweder seit 75 |  Das Foto der Hindenburg wurde von der AIF den Angaben des Fotografen folgend mit 1936 datiert, obwohl die Hindenburg 1931 über die Region des Nahen Ostens f log. 76 |  Nachdem ab dem 19. Jahrhundert zunehmend Ansammlungen von Bildern zur Gegenüberstellung und dem Vergleich von disparaten Bildgegenständen auf Tafeln angeordnet wurden, griff in der Kunstgeschichte vor allem Aby Warburg mit seinem Mnemosyne-Atlas dieses Prinzip auf. Warburg wollte damit zeigen, inwieweit sich aus der Antike stammende Darstellungskonventionen von Gesten und Gefühlsausdrücken – er nennt sie „Pathosformeln“ – in der Kunst und in visuellen Repräsentationen der europäischen Neuzeit fortsetzten und weiterentwickelten. Ein ähnliches Ordnungsssystem kann auch mit der AIF-Datenbank generiert werden, indem die Bildersuche etwa auf Verben basierend wie „jumping“ und „kissing“ erfolgt. Zum Bilderatlas in den Künsten und neuen Medien siehe etwa: Flach, Sabine; Münz-Koenen, Inge und Streisand, Marianne (Hg.) Der Bilderatlas im Wechsel der Künste und Medien, München: Wilhelm Fink 2005; Didi-Huberman, Georges (Hg.) Atlas. How to Carry the World on One‘s Back [Ausst.-Kat.], Madrid: Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia Madrid 2010 und Schmidt, Eva und Rüttinger, Ines Lieber (Hg.) Aby Warburg, was tun mit Bildern? Vom Umgang mit fotograf ischen Material [Ausst.-Kat.], Siegen/Heidelberg: Museum für Gegenwartskunst/Kehrer 2012. 77 |  Das 1920 an Großbritianien übertragene Völkerbundsmandat für Palästina umfasste zunächst die Gebiete des heutigen Israels, des Gazastreifens, des

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Abbildung 2: Anonym, Hindenburg Zeppelin over Jerusalem, Palestine/Jerusalem, 1931; SW-Positiv auf DOP-Gelatinesilberpapier, 5,7 x 5,3 cm

1948 als israelisches Territorium beansprucht oder von Israel 1967 in Folge des Sechstagekrieges annektiert wurden, werden in diesem Zusammenhang als palästinensisch deklariert. In der Länderliste findet Israel zudem grundsätzlich keine Erwähnung. Ein weiteres Suchelement der Onlinebilddatenbank, in der die kategorische Sonderstellung Palästinas bei der Verschlagwortung und Annotation der AIF-Sammlung zum Vorschein kommt, ist die Liste der „Keywords“. Es handelt sich um eine Auflistung von insgesamt 1817 Schlagwörtern, die größtenteils vom Klassifizierungssystem des Pariser Mission du patrimoine photographique übernommen wurde – einer Fotografiestiftung, die Nachlässe bekannter Fotografen wie André Kertész

Westjordanlandes sowie des heutigen Jordaniens, das 1923 zu einem eigenständigen Königreich ernannt wurde.

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beherbergte und 2004 zusammen mit dem Centre national de la photographie unter dem Dach der Galerie nationale du Jeu de Paume fusionierte. Die AIF ergänzte dieses Klassifizierungssystem allerdings um einige Begriffe und Umschreibungen, die regionalspezifische Phänomene, Gegenstände, Kleidungstücke, Aktivitäten und Ereignisse im Nahen Osten bezeichnen.78 Darunter befinden sich zum Beispiel Termini, die in englischer aber auch in einer keinem bestimmten Standard entsprechenden Lautschrift aus dem Arabischen übernommen wurden, wie zum Beispiel „Aabaya“ [sic], „Dabkeh“ [sic], „Derbakeh“ [sic], „Druze“, „Ghoutra“ [sic], „Kuffiyah“ [sic], „Musharabieh“ [sic], „Narghile“, „Qanoun“ [sic], „Yashmak“ sowie „Palestinian“ – wobei „Palestinian“, abgesehen von „Syrian“79, die einzige Bezeichnung einer Nationalität in dieser Kategorie ist. Die Zuschreibungen „Palestine“ und „Palestinian“ werden hier also ganz bewusst als rhetorische Mittel eingesetzt. Im Konsens mit der Khartum-Resolution von 1967, in der die Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga, darunter auch Libanon, beschlossen, den israelischen Staat nicht anzuerkennen,80 wird von der AIF aus einer pro-palästinensischen Perspektive die legitime Existenz Israels nachdrücklich dementiert. 78 |  Außerdem spiegeln Umschreibungen wie „Camel back riding“, „City jobs“, „Dead leaf“, „In love“, „Play on perspective“ und „Water-related activities“ eine künstlerische Freiheit wieder, die sich die AIF-Mitglieder gewähren, um sich von konventionellen wissenschaftlichen Methoden abzusetzen. Vgl. hierzu Bowen, Dore „This Bridge Called Imagination. On Reading the Arab Image Foundation and Its Collection“, in: InVisible Culture. An Electronic Journal for Visual Culture, Issue 12 (Spring 2008), https://ivc.lib.rochester.edu/this-bridge-called -imagination-on-reading-the-arab-image-foundation-and-its-collection/

[ein-

gesehen am 21.06.16]. 79 |  Rufen die Nutzer*innen der AIF-Datenbank die Suchergebnisse für „Palestinian“ auf, so erscheinen drei aus den Jahren zwischen 1970 und 1972 stammende Porträts des libanesischen Fotografen Hashem El Madani, die palästinensische Wiederstandskämpfer mit Maschinengwehren zeigen. Bei den unter dem Suchbegriff „Syrian“ abruf baren Fotografien handelt es sich um fünf, ebenfalls von Madani Anfang der 1970er Jahre gemachte, Aufnahmen von syrischen Männern, die sich etwa zur selben Zeit dem palästinensischen Wiederstandskampf angeschlossen hatten. 80 |  Vgl. hierzu Bickerton, Ian J. und Klausner Carla L. A history of the Arab-Israeli conf lict, Upper Saddle River NJ: Pearson Prentice Hall, 2007, S. 154.

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Vergleichendes Sehen: Differenzen und Gemeinsamkeiten Die Verschlagwortung von Personen als „Palestinian“ bzw. die Ortsangabe „Palestine“ stellt die einzelnen aufgerufenen Fotografien nicht nur in einen inhaltlichen sondern ebenso in einen visuellen Zusammenhang, der zum vergleichenden Sehen anregt.81 Peter Geimer zufolge ist dies eine Art des Sehens, die sowohl nach „Kontrasten und stilistischen Differenzen“ sucht, als auch durch den „visuellen Nachweis von Gemeinsamkeiten, Analogien und Übergängen“ potentielle Typologien kenntlich macht.“82 Ist die AIF-Onlinebilddatenbank in dieser Hinsicht durchaus ein produktives Repräsentationsmittel, birgt das vergleichende Sehen jedoch immer auch die Gefahr, dass es das Einzelbild „verstellt“, wenn es, statt Besonderheiten aufzuzeigen, „sofort das Vergleichbare, Ähnliche und Analoge im Auge hat“.83 Dies wird vor allem durch das Display der digitalen Reproduktionen der Fotos begünstigt, indem es etwa A 4 große Schwarzweiß-Silbergelatineabzüge oder Glasplattennegative und Ausschnitte eines Kontaktabzuges84 als gleichformatige, an eine einheitliche Grauskala bzw. ein kohärentes Farbspektrum angepasste Abbildungen wiedergibt. Details, 81 |  Vgl. hierzu Thürlemann, Felix „Bild gegen Bild“, in: Assman, Aleida; Gaier, Ulrich und Trommsdorff, Gisela (Hg.) Zwischen Literatur und Anthropologie. Diskurse, Medien, Performanzen, Tübingen: Narr 2005, S. 163-173, hier S. 167. 82 |  Geimer, Peter „Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen“, in: Bader, Lena; Gaier, Martin und Wolf, Falk (Hg.) Vergleichendes Sehen, München: Wilhelm Fink 2010, S. 45-70, hier S. 47. 83 |  Ebd., S. 65. Wolfgang Ernst schreibt bezüglich eines durch digitale Datenbanken ermöglichten Vergleichens: „Digitzed images can be transferred into a vast image bank which then as data-set can be unified and subjected to image-based search operations such as matching of similarities, feature detection, statistical colour value compassion etc. Instead of the alphanumeric labeling and keywording of pictures, the development of ‚fuzzy‘ computer-sorting will begin to make useful comparisons of similar but not identical images on the basis of new protocols.“ Vgl. hierzu Ernst, Wolfgang „Archive, Storage, Entropy. Tempor(e)alities of Photography“, in: Pijarski, Krysztof (Hg.) The Archive as Project – the Poetics and Politics of the (Photo)Archive, Warschau: Fundacja Archeologia Fotografii 2011, S. 56-78, hier S. 65. 84  |  Negative werden infolge digitaler Bildbearbeitung als Positive wiedergegeben.

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die im Original sichtbar sind, werden in den kleinen, niedrig auflösenden Bilddateien nur schwer wahrnehmbar oder gar unkenntlich.85 Ihres Bildträgers, das heißt ihrer Objekthaftigkeit entledigt, bleiben weiterhin haptische Alterungs-, Gebrauchs- und zum Teil auch Schadspuren sowie ihre eigentliche Farbqualität auf der Strecke.86 Sie werden dadurch in ein räumlich-zeitliches Kontinuum versetzt,87 das ihre materielle Beschaffenheit unbeeinträchtig erscheinen lässt und gewissermaßen standardisiert.88 Das digitale Display und das von ihm generierte vergleichende 85 |  Dieses Verhältnis kehrt sich im Fall der hoch auf lösenden Bilddateien, die sich auf der internen AIF-Datenbank befinden, wiederum um. Durch die Digitaliserung mit Hochleistungsscannern können hier viele Details durch Zoomen und Vergrößerung evident gemacht werden. 86 |  Dabei dürfen, abgesehen von der Beschaffenheit des eigentlichen Displays, technische Wiedergabekomponenten, wie zum Beispiel die Skalierung des Bildschirms etc. nicht außer Acht gelassen werden. Ein Informationsverlust durch das Scannen der Fotografien entsteht auch, insofern die Fotos nur als Bilder und nicht als Objekte, d.h. nur deren Vorderseite gescannt und etwa Notizen auf der Rückseite u.ä. vernächtlässigt werden. In dieser Hinsicht bemüht sich die AIF in den letzten Jahren jedoch darum, die Materialität der Fotos bei ihrer Digitalisierung entsprechend zu berücksichtigen. Siehe allgemein zu diesem Thema zum Beispiel: Lager Vestberg, Nina „Archival Value. On Photography, Materiality and Indexicality“, in: Photographies 1/1, 2008, S. 49-65 und dies. „From the Filing Cabinet to the Internet. Digitising Photographic Libraries“, in: Caraffa, Costanza (Hg.) Fotograf ie als Instrument und Medium der Kunstgeschichte, München: Deutscher Kunstverlag 2009, S. 129-144. 87 |  Vgl. dazu Bührer, Valeska „An den Grenzen der Archive – Der Künstler als Archivar. Einige Fragen zu den (un)möglichen Mechanismen kultureller Bedeutungsherstellung am Beispiel der Arab Image Foundation in Beirut (Libanon) und dem libanesischen Künstler Akram Zaatari“, in: Ziehe, Irene und Hägele, Ulrich (Hg.) Fotograf ie und Film im Archiv. Sammeln, Bewahren, Erforschen, Münster: Waxmann 2013, S. 222-229, hier S. 224. 88 |  Wolfgang Ernst beschreibt diesen Vorgang auch folgendermaßen: „The photographic transformation of matter into information changes its tempor(e) ality as well. […] Physical storage of the photographic print, when professionally conserved, provides a relatively stable enduring memory, but one that is more difficult for the public to access. Once digitized, the electronic image is open to almost real time and new search options like similarity-based image retrieval;

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Sehen fördern somit – wenn auch unbeabsichtigt – einen Prozess, in dem die historische Spezifik einzelner Fotografien, vom Bildinhalt einmal abgesehen, in ihrer konformen Erscheinung visuell nivelliert wird. Denn erst der Paratext 89, der nach Anklicken eines Thumbnails neben dem isolierten und etwas vergrößerten Einzelbild wiedergegeben wird, liefert die Vergewisserung über die Datierung der Fotos, die Beschaffenheit ihres Bildträgers, ihre Herkunft und exakte Größe. Allerdings kann die Verknüpfung von Bild und Text, vor allem was die Bildtitel betrifft, nicht in allen Fällen eine eindeutige Kontextualisierung der Fotos garantieren. Dies liegt vor allem an der unterschiedlichen Art der Bildtitel, die auf Grundlage ungleicher Angaben (sie entsprechen entweder übernommenen Notizen, die sich auf der Rückseite einzelner Fotografien befinden, wurden im Rahmen der Interviews, die die AIF-Mitglieder während ihrer Recherche führten, aufgezeichnet oder sind das Resultat anderweitiger Recherche) zwischen bezeichnenden und beschreibenden Ausdrucksweisen variieren. Zudem wird der Bildgehalt der Fotos und deren Interpretation nicht unwesentlich von der teilweise arbiträren Verschlagwortung beeinflusst, die bereits eine semiotische Leseweise vorgibt.

0025ka00040: Inszenierung der Inszenierung Wird zum Beispiel das Thumbnail „0025ka00040“90 aufgerufen, das Schwarzweißpoträt einer Frau in einem orientalistischen Gewand, die stehend, ihre Arme hinter dem Kopf verschränkt, frontal in die Kameat the same time, the ‚virtual‘ essence of the electronic image becomes more fragile and subject to alteration than ever.“ Vgl. Ernst, Wolfgang „Archive, Storage, Entropy. Tempor(e)alities of Photography“, in: Pijarski, Krysztof (Hg.) The Archive as Project – the Poetics and Politics of the (Photo)Archive, Warschau: Fundacja Archeologia Fotografii 2011, S. 56-78, hier S. 64. 89 |  Der Paratext beinhaltet nicht nur den Namen des Fotografen, Titel, Entstehungsjahr und Angaben zur verwendeten Fototechnik. Es können, insoweit vorhanden, über einen an die Namen der Fotografen genüpften Hyperlink auch deren biografische Eckdaten abgefragt werden. 90 |  Die ersten vier Ziffern der Inventarnummer 0025ka00040 stehen für die Nummer der Sammlung, in der sich das Bild befindet. In diesem Fall handelt es sich also um die 25. Sammlung im Inventar der AIF. Die Buchstaben verweisen

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ra blickt [Abb. 3], erfährt man unter den „Image details“ zunächst aus den dazu gehörigen Angaben, dass es sich um das Antlitz einer gewissen Naja Kriokorian handelt, welches 1921 in Jerusalem von dem Fotografen Johannes Krikorian aufgenommen wurde. Es wird darauf verwiesen, dass das „Originalfoto“ ein 13,40 x 8,70 cm großer Abzug auf DOP-Gelatinesilberpapier ist. Die Angabe der „Keywords“ zeigt zudem an, dass – wäre die Suche nicht über die Ortsangabe „Palestine“ erfolgt – das Porträt auch unter den Schlagwörtern „Oriental clothing“, „Arms folded“, „Standing up“ und „Woman“ gefunden wird, wobei dies suggeriert, dass es sich bei dem Porträt um ein klassisch orientalistisch inszeniertes Bildnis handelt. Erst über die Angaben zum Fotografen der „Photographer’s biography“, die über einen Klick auf dessen Namen erscheint, erfahren die Betrachter*innen bzw. Nutzer*innen der AIF-Onlinedatenbank, dass die abgebildete Dame die Ehefrau Johannes Krikorians war, die ihn zuweilen bei der Handkolorierung seiner Abzüge unterstützt hat. Zwar liegt demnach der Schluss nahe, dass das Foto tatsächlich eine „Inszenierung der Inszenierung“ darstellt, für die die aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Naja Kriorian als Beduinin verkleidet vor der Kamara posierte. Allerdings wird dieser Sachverhalt über die Onlinebilddatenbank bzw. das sie determinierende Verhältnis von Ordnungsstruktur, Display, Bild und Text nur ansatzweise und indirekt deutlich.

Speicherung und Abfrage: Remediatisierung, verteilte Bilder Mit der digitalen Speicherung, Verwaltung und Abfrage der Fotografien vollzieht sich somit nicht nur ein medialer Transformationsprozess, den die Medienwissenschaftler Jay David Bolter und Richard Grusin unter dem Begriff der „Remediation“ bzw. Remediatisierung fassen: Die Bilder ursprünglich analoger Fotografie werden dabei nicht einfach übernommen, sondern gleichsam in eine neue Bildform mit veränderten Strukturen, Funktionen und Präsentationsweisen rekonfiguriert91 – eine Bildform, die Peter Osborne aufgrund ihrer beschleunigten und vereifachten auf die beiden Anfangsbuchstaben der Urheber oder ursprünglichen Eigentümer. Hier steht „ka“ für Kawar. 91 |  Bolter, Jay David und Grusin, Richard Remediation. Understanding New Media, Cambridge MA/London: MIT Press 1998, S. 45 ff.

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Verteilbarkeit online „das verteilte Bild“92 nennt. Dadurch ändert sich auch ihre Rezeption und Interpretation.93 Aufgrund der direkten Verknüpfung des digitalisierten Bildes mit den dazugehörigen Metadaten in einer Datei und ihres Displays in der AIF-Onlinedatenbank werden die Fotografien in das symbolische Regime des alphanumerischen Codes integriert94, das, so der Medienwissenschaftler Lev Manovich, keine narrative Ordnung mehr zulässt.95 Dies hat für das Display der Fotografien in der AIF-Onlinedatenbank, das eine klare Kontextualisierung mittels detaillierter Annotation bewerkstelligen soll, zur Folge, dass durch ihre in mehrere Handlungsschritte gestaffelten Anwendungsmechanismen Zuschreibungen zum Teil fragmentiert bleiben. Dennoch bietet die AIF-Onlinebilddatenbank als Display und funktionales Bindeglied zwischen der AIF-Sammlung sowie den mit den Fotografien in Zusammenhang stehenden erfassten und publizierten Daten eine Grundlage für weitere Forschungen. Sie ist eine wertvolle Quelle für

92 |  Vgl. Osborne, Peter „Das verteilte Bild“, in: Texte zur Kunst, September 2015, Heft 99, S. 75-87. Der Medienwienschaftler Peter Lunenfeld sieht in dieser durch die Digitalität ermöglichte Verteilbarkeit aber auch eine Gefahr. Ihm zufolge markiert die „systematische Zerstreuung der Fotografie keine bloße Erweiterung des bereits in der mechanischen Reproduzierbarkeit angelegten Vervielfältigungspotenzials, sondern eine Aushöhlung der fotografischen Botschaft“. Vgl. Geimer, Peter Theorien der Fotograf ie zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2009, S. 103 bzw. Lunenfeld, Peter „Digitale Fotografie. Das dubitative Bild“, in: Wolf, Herta (Hg.) Paradigma Fotograf ie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 158-177, hier S. 164. Hito Steyerl thematisiert dieses „Aushöhlen“ wiederum in einer positivistischen Leseweise in ihrem Aufsatz „In Defense of the Poor Image“, in: e-f lux journal, #10, 11/2009, http://www.e-f lux.com/ journal/in-defense-of-the-poor-image/ [eingesehen am 23.06.2016]. 93 |  Burkhardt, Marcus Digitale Datenbanken. Eine Medientheorie im Zeitalter von Big Data, Bielefeld: transcript 2015, S. 119. 94 |  Wolfgang, Ernst „Archive, Storage, Entropy. Tempor(e)alities of Photography“, in: Pijarski, Krysztof (Hg.) The Archive as Project – the Poetics and Politics of the (Photo)Archive, Warschau: Fundacja Archeologia Fotografii 2011, S. 56-78, hier S. 60. 95 |  Manovich, Lev The Language of New Media, Cambridge MA: MIT Press 2001, S. 218.

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Abbildung 3: Johannes Krikorian, Najla Krikorian, Palestine/Jerusalem, 1921; SW-Positiv auf DOP-Gelatinesilberpapier, 13,4 x 8,7 cm

historiografische Prozesse96 und macht darüber hinaus den Arbeitsprozess der AIF97, ihre kuratorische bzw. konservatorische Praxis sowie den 96 |  Laut Knut Ebeling und Stephan Günzel gehen Archive „der Geschichtsschreibung voraus, die deren Effekt ist.“ Vgl. dies. „Einleitung“, in: dies. (Hg.) Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, Berlin: Kadmos 2009, S. 7-28, hier. S. 14. 97 |  Gleichzeitig legt die AIF-Onlinedatenbank die dem Archivieren immanenten Selektierungsvorgänge offen, da es sich bei den Fotografien, die sie enthält, nur um einen Teil der gesamten AIF-Sammlung handelt, die für die Digitalisierung und Onlinestellung prioritisiert wurden. Dieser Vorgang bringt jedoch auch das Problem mit sich, das Wolfgang Ernst als „geteilte Erinnerungswelt“

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dabei stattfindenden Vorgang der Remediatisierung sichtbar.98 Wie sich diese Aspekte in den von den AIF-Mitgliedern konzipierten Ausstellungen und Zaataris Kunstwerken manifestieren, möchte ich nun anhand der von ihm kuratierten Ausstellung Palestine before ’48 und seinen Arbeiten Objects of Study und On Photography, People and Modern Times zeigen.

3. Palestine before ’48 (1999): H istorische I magination Nachdem die AIF-Gründungsmitglieder Elkoury, Mohdad und Zaatari im Zuge ihrer ersten Forschungsreisen 1998 bereits ca. 50.000 Fotografien zusammengetragen hatten,99 setzten sie sogleich erste Ausstellungs-, Publikations- und Filmprojekte mit ausgewählten Fotos dieses Sammlungsgrundstocks um.100 Dabei widmeten sich zwei dieser frühen umschreibt. Demnach werden die digitalisierten Fotografien aus Archiven in einen separaten Speicher gesammelt oder finden Verbreitung im Internet, während nicht-digitalisierte Fotografien in räumlichen Archiven weitgehend ungesehen bleiben. Vgl. hierzu Wolfgang, Ernst „Archive, Storage, Entropy. Tempor(e)alities of Photography“, in: Pijarski, Krysztof (Hg.) The Archive as Project – the Poetics and Politics of the (Photo)Archive, Warschau: Fundacja Archeologia Fotografii 2011, S. 56-78, S. 64. 98 |  Dies korrespondiert mit Wolfgang Ernsts Annahme, dass die digitale Speicherung im sogennanten „Cyberspace“ abgesehen von der Wahrung eines kulturellen Gedächtnisses mehr noch an einer Art performativen Gedächtnis in Form von Kommunikation gelegen ist. Vgl. hierz Ernst, Wolfgang „Archives in Transition: Dynamic Media Memories“, in: ders. Digital Memory and the Archive, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2013, S. 95-101, hier. S. 99. 99 |  AIF-Infobroschüre 1998, S.10. 100 |  Offiziell war Les Martyrs de Qana, die erste AIF-Ausstellung, welche bereits 1997 von Samer Mohdad und dem libanesischen Journalisten Doha Shams organisiert wurde und im Musée de l’Elysée in Lausanne sowie während dem Festival Rencontres photographiques d’Arles in Arles im selben Jahr zu sehen war. Sie bestand aus 33 Porträts von Einwohner*innen des südlibanesischen Dorfes Kana, die 1996 während eines israelischen Atelierieangriffes ums Leben kamen. Die Fotografien gelangten kurz nach der Gründung der AIF durch

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AIF-Projekte explizit der (Fotografie-)Geschichte Palästinas101: Fouad Elkoury produzierte in Zusammenarbeit mit dem französischen Filmemacher Sylvain Roumette den Kurzfilm Jours tranquilles en Palestine (1998) – eine Montage von Schwarzweissfotografien, die in Verbindung mit Kommentaren ihrer ursprünglichen Eigentümer*innen über das Leben in Palästina vor der Nakba und deren Folgen berichtet. Zaatari kuratierte 1999 die Fotoausstellung Palestine before ’48, die von einem ähnlichen Ansatz ausgeht. Sie nimmt wie Jours tranquilles en Palestine größtenteils Amateur- und Studiofotografien zum Ausgangspunkt, die, wie der Ausstellungstitel bereits verrät, überwiegend vor 1948 in Palästina entstanden und ursprünglich aus Privatsammlungen von damals in Jerusalem, Nablus, Ramallah und Jaffa ansässigen Familien stammen, um die sozialpolitischen Verhältnisse vor der Nakba zu evaluieren.102 Zudem wird diese Perspektive von Zaatari durch fotojournalistische Bilder, die den arabischen Widerstand und die Entwicklungen in der Zeit nach 1948 bis 1967 veranschaulichen, ergänzt. Nach Bernd Stiegler sind (Fotografie-)Ausstellungen nicht nur durch die Anordnung der ausgewählten Exponate bestimmt, sondern können „mitunter regelrechte Dispositive im Sinne Michel Foucaults bilden, die darauf zielen, ein theoretisches, ästhetisches oder politisches Programm performativ umzusetzen“.103 Ähnlich beschreibt Mary Anne Staniszewski Mohdad in die AIF-Sammlung, stellen aber mit ihren Entstehungsjahren – sie sind alle in den 1980er und 1990er Jahren entstanden – darin eine Ausnahme dar. 101 |  Auf einer alten Webseite der AIF, wird eine weitere von Samer Mohdad kuratierte Ausstellung mit dem thematischen Schwerpunkt Palestina genannt. Die Ausstellung Palestine, die zum 50. Jahrestag der Nakba während der International Conference on Palestine im Mai 1998 in Genf und während der sechsten Aubenades de la Photographie im Juli desselben Jahres im französischen Aubenas stattfand, wird jedoch von der AIF nicht mehr als offizielles AIF-Projekt gelistet. Siehe hierzu: https://web.archive.org/web/20010419175812/http:// www.fai.org.lb/english/fset-expositions.htm [eingesehen am 14.08.16]. 102 |  Dabei weist Palestine before ’48 inhaltliche Überschneidungen zu Jours tranquilles en Palestine auf. Einige der in der Ausstellung gezeigten Fotografien erscheinen auch in Elkourys und Roumettes Film. 103 |  Stiegler, Bernd „Pictures at an exhibition. Fotografie-Ausstellungen 2007, 1929, 1859“, in: Fotogeschichte, 29 (2009), 112, S. 5-14, hier S. 5.

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Ausstellungen als ein Zusammenspiel aus den Faktoren „history, ideology, politics – and aesthetics“,104 die dem Gezeigten eine Autorität verleihen und zu dessen Diskursivierung beitragen.105 Zaatari bedient sich mit der Ausstellung also nicht nur eines Formats, das per se vergegenwärtigt, indem es ausgewählte Dinge präsent macht. Er stellt eine Auswahl an Fotografien aus der AIF- Sammlung (her-)aus und verleiht diesen somit als kulturelle Artefakte und historische Quellen eine gesteigerte Relevanz bzw. einen größeren Aktionsradius.106

Curated by Akram Zaatari/The Arab Image Foundation Als Wanderausstellung konzipiert und mittels eines kohärenten, jedoch flexiblen Ausstellungsdisplays, das an unterschiedliche räumliche und institutionelle Rahmenbedingungen angepasst werden konnte, geschah dieses (Her-)Ausstellen im Fall von Palestine before ’48 auf internationaler Ebene. So wurde die Ausstellung erstmalig 1999 im Kontext des Festival des trois continents in Nantes und daraufhin, in ihrer räumlichen Konfiguration nur geringfügig modifiziert, in verschiedenen libanesischen Städten sowie in Ramallah, Birzeit und Nablus gezeigt. Darüber hinaus war sie 2008 in Kuwait, Kairo und in Santiago de Compostella zu sehen. Stellt das Kuratorische Beatrice von Bismarck zufolge „vor allem die Vermittlung in den Vordergrund“107, erschien Zaatari hier in der Funktion des Mediators. Zusätzlich zur Rolle des Ethnografen und Archivars 104 |  Staniszewski, Mary Anne The Power of Display. A History of Exhibition Installation at the Museum of Modern Art, Cambridge MA/London: MIT Press 1998, S. xxiii. 105 |  Diese Diskursivierung erfolgt über die Ausstellung hinaus durch dokumentierende Publikationen bzw. Ausstellungskataloge oder von Dritten verfasste Ausstellungsrezensionen. 106 |  Vgl. hierzu McGovern, Fiona Die Kunst zu zeigen. Künstlerische Ausstellungsdisplays bei Joseph Beuys, Martin Kippenberger, Mike Kelley und Manfred Pernice, Bielefeld: transcript 2016, S. 16 f. 107 |  Bismarck, Beatrice v. „Kuratorisches Handeln. Fragen und Antworten zum Versammeln, Ordnen, Präsentieren, Vermitteln von Kunst“, in: corpus. Internetmagazin für Tanz, Choreographie, Performance, Dezember 2009, http:// www.corpusweb.net/kuratorisches-handeln.html [eingesehen 23.06.16].

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Abbildung 4: Ausstellungsansicht, Palestine before ’48, Khalil Sakakini Cultural Center, Ramallah, 2007

schlüpfte er also in die Rolle des „artist as curator“.108 Der Vermerk „Curated by Akram Zaatari/The Arab Image Foundation“ als Annex zum Ausstellungstitel lässt zudem darauf schließen, dass er zugleich als Individuum und Repräsentant der AIF agierte und somit zwischen seiner eigenen Autorschaft, als demjenigen, der die Auswahl der Fotografien getroffen und zusammengestellt hat, der Mission der AIF, ihrem Sammlungsbestand und den Betrachter*innen vermittelte. Palestine before ’48 umfasste insgesamt 91 kleinformatige Fotografien aus den Jahren zwischen 1900 und 1967. Abgesehen von einigen originalen handkolorierten Fotos, handelte es sich bei den meisten von ihnen 108 |  Die Wendung vom „artist as curator“ erscheint erstmals in dem von YvesAlain Bois, Benjamin Buchloh, Hal Foster und Rosalind E. Krauss herausgegebenen Überblickswerk Art since 1900 in Bezug auf das von Fred Wilson 1992 im Museum of Contemporary Art Baltimore realisierte Ausstellungsprojekt Mining the Museum. Dabei impliziert die Rede vom „artist as...“ grundsätzlich, dass Künstler*innen nur temporär die Rolle von Kurator*innen annehmen und primär einem verhältnismäßig traditionelleren Künstler*innenbild verhaftet bleiben. Vgl. hierzu McGovern, Fiona Die Kunst zu zeigen. Künstlerische Ausstellungsdisplays bei Joseph Beuys, Martin Kippenberger, Mike Kelley und Manfred Pernice, Bielefeld: transcript 2016, S.14 f. und Foster, Hal et al. Art since 1900. Modernism, Antimodernism, Postmodernism, London: Thames & Hudson 2004, S. 626.

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um mittels des Inkjetverfahren reproduzierte Schwarzweißaufnahmen. Sie wurden in der Ausstellung einzeln, in Paaren, Dreier- oder Vierergruppen arrangiert und in insgesamt 49 schwarzen Holzrahmen mit Passepartouts von einheitlicher Größe (40 x 50 cm) und dazugehörigen Bildunterschriften präsentiert [Abb. 4]. Dazu erläuterte Zaatari in einem Wandtext, wie die frühe fotografische Stilisierung Palästinas als kargem, rückständigem Gebiet von den Zionisten oft herangezogen wurde, um die israelische Staatenbildung unter dem Diktum „A land without people for a people without land“109 im Geiste des modernen Fortschritts zu rechtfertigen.110 Im Gegensatz zu diesen orientalistischen Bildern sollten die Fotografien in Palestine before ’48, so Zaatari, jedoch zeigen, dass es in 109 |  Auch wenn dieser Ausspruch oft für einen zionistischer Slogan gehalten wird, da er von den Zionisten als rhetorische Formel beständig reproduziert wurde, stammt er eigentlich von einem christlichen Vertreter des sogenannten Restoration Movements namens Alexander Keith und geht auf das Jahr 1843 zurück. Der Vorsitzende des Zionistenkongresses Chaim Weizman griff diesen Passus 1914 in einem Schreiben wie folgt auf: „In its initial stage Zionism was conceived by its pioneers as a movement wholly depending on mechanical factors: there is a country which happens to be called Palestine, a country without a people, and, on the other hand, there exists the Jewish people, and it has no country. What else is necessary, then, than to fit the gem into the ring, to unite this people with this country?“ Vgl. hierzu Weizmann zitiert nach Litvinoff, Barnet (Hg.) The Letters and Papers of Chaim Weizmann, Vol.I, Series B, Jerusalem: Israel University Press, 1983, S.115 f. Auch die 1969 in der internationalen Presse kursierende Äußerung der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir spiegelt diese Rhetorik wieder: „There were no such thing as Palestinians. When was there an independent Palestinian people with a Palestinian state? It was either Southern Syria before the First World War, and then it was a Palestine including Jordan. It was not as though there was a Palestinian people in Palestine considering itself as a Palestinian people, and we came and threw them out and took their country away from them. They did not exist.“ Vgl. hierzu etwa Gelvin, James L. The Israel-Palestine Conf lict. One Hundred Years of War, Cambridge/New York: Cambridge University Press 2007, S. 92. 110 |  Im Originalwortlaut hieß es in dem Wandtext: „The creation of the state of Israel on what was claimed to be a deserted land in 1948, was reinforced by photographic representations of Palestine in the 19th century, as a biblical site, and an unpopulated ancient land.“

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Palästina bereits zur Zeit des Osmanischen Reiches und des britischen Mandats sehr wohl kulturelle sowie urbane Zentren und eine dynamische, multikonfessionelle Gesellschaft gab. Wie kamen im Hinblick auf diesen Anspruch die von Stiegler und Staniszewski beschriebenen Konstanten einer Ausstellung – Theorie, Geschichte, Ideologie, Politik und Ästhetik – zusammen?

„Imaginative acts of inscription“: Neue Fragen, neue Antworten Zunächst einmal trafen Theorie und Geschichte in Palestine before ’48 in der Annahme aufeinander, dass Fotografien aufgrund ihrer indexikalischen Eigenschaft als historische Zeugnisse geltend gemacht werden können – eine Auffassung, der viele Historiker*innen bis heute eher misstrauisch gegenüber stehen.111 Auch in der Fototheorie wird die Annahme, dass Fotografien unvermittelte historische Dokumente seien, 111 |  Vgl. hierzu Tucker, Jennifer und Campt, Tina „Entwined Practices. Engagements with Photography in Historical Inquiry“, in: History and Theory, 48, Dec. 2009, S. 1-8, hier S. 2 und Azoulay, Ariella „What is a photograph? What is photography?“, in: Philosophy of Photography, Volume 1, Number 1, 2010, S. 9-13, hier S. 9. Der britische Geschichtswissenschaftler Raphael Samuel war hingegen einer der ersten, der in seinem Aufsatz „The Eye of History“, die Fotografie als eine potentielle Quelle für Historiker stark machte. Vgl. ders. „The Eye of History“, in: ders. Theatres of Memory, London: Verso, 1994, S. 315-336. Mittlerweile wenden sich Historiker*innen im Zuge eines „Pictorial“ oder „Visual Turn“ der Fotografie häufiger als Quellen zu. Vgl. etwa Paul, Gerhard (Hg.) Visual History - Ein Studienbuch, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2006. In diesem Zusammenhang geben Philip Gourevitch und Errol Morris, die Autoren von The Ballad of Abu Ghraib, einer Abhandlung über die von US-amerikanischen Soldaten im Zuge ihres Gefangenenmissbrauchs im irakischen Abu-Ghraib gemachten Fotos, jedoch zu bedenken, dass Fotografien keine Geschichten erzählen können: „They can only provide evidence of stories, and evidence is mute; it demands investigation and interpretation. Looked at this way, as evidence of something beyond itself, a photograph can best be understood not as an answer or an end to inquiry, but as an invitation to look more closely, and to ask questions.“ Vgl. Gourevitch, Philip und Morris, Errol The Ballad of Abu Ghraib, New York: Penguin Books 2009, S. 148.

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oft kritisiert. So insistiert zum Beispiel Allan Sekula in seinem Aufsatz „On the Invention of Photographic Meaning“ darauf, dass die Bedeutung einer Fotografie in erster Linie kulturell determiniert ist.112 Seiner Meinung nach basiert die Idee von einer fotografischen Botschaft, die jeder Annotation vorausgeht, lediglich auf „einer bürgerlichen Folkore“, die dem fotografischen Bild „den legalen Status eines Dokuments und eines Zeugnisses“ zuschreiben will und es damit in eine „mystischen Aura der Neutralität“ hüllt.113 Die Fotografie und ihre Bedeutung, d.h. die „fotografische Aussage“, hängt demnach immer von dem spezifischen Kontext ihrer Entstehung, Verbreitung und Rezeption ab: „In other words, the photograph, as it stands alone, presents merely the possibility of meaning. Only by its embeddedness in a concrete discourse situation can the photograph yield a clear semantic outcome.“114

Werden Fotografien aus diesem Grund in historischen Abhandlungen häufig nur zur Illustration eingesetzt, um schriftlich dargelegte Argumente und Konklusionen einer wissenschaftlichen Forschung bildlich zu belegen, spricht sich hingegen die Fotohistorikerin Elizabeth Edwards dafür aus, Fotografien selbst als Untersuchungsgegenstände in Betracht zu ziehen, um „neue Antworten“ zu liefern oder „neue Fragen“ zu stellen.115 Edwards versucht mit dieser Vorgehensweise, die sie als „historical imagination“ bezeichnet, das Feld der Historiografie dahingehend zu öffnen, dass jene nicht nur als ein rein auf Fakten basierender, in sich geschlossener Diskurs aufgefasst wird.116 Unter Berücksichtigung der Fotografie erachtet sie Geschichtsschreibung vielmehr als Vermengung von „self-conscious and imaginative acts of inscription in res112 |  Vgl. Sekula, Allan „On the Invention of Photographic Meaning“, in: Burgin, Victor (Hg.) Thinking Photography, London: Macmillan Press 1982, S. 84-109. 113 |  Vgl. ebd., S. 87 sowie Geimer, Peter Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2009, S. 90. 114 |  Sekula, Allan „On the Invention of Photographic Meaning“, in: Burgin, Victor (Hg.) Thinking Photography, London: Macmillan Press 1982, S. 91. 115 |  Edwards, Elizabeth The Camera as Historian. Amateur Photographers and Historical Imagination, 1885-1918, Durham/London: Duke University Press 2012, S. 6. 116 |  Vgl. ebd.

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ponse to the material traces of the past“.117 Damit wird also einem um objektive Sachlichkeit ringenden verabsolutierenden Narrativ die subjektive Auffassung darüber, was auf individueller Ebene erinnert und demzufolge festgehalten wird, entgegengestellt. Gleichzeitig wird das reflexive Vermögen der Fotografie, „that exposes the stakes of historical study by revealing the constructed nature of what constitutes historical evidence“, hervorgehoben.118 In Palestine before ’48 wurden Fotografien explizit als historische Quellen präsentiert, wobei diese Präsentation zugleich die Ambivalenz der Geschichtsschreibung und ihrer Instrumentalisierung aufzeigte. Indem Zaatari eine Vielzahl von Fotografien unterschiedlichster Genres (darunter Porträts, Landschaftaufnahmen und Kriegsfotografie) von professionellen Studio- wie Amateurfotografen vereinte, schuf er eine subjektive wie kollektiv geprägte „historical imagination“, die darauf abzielte, eine von zionistischen und kolonialistischen Ideologien in Beschlag genommene Geschichte zu durchkreuzen und ein dezidiert von palästinensischer Erinnerung geprägtes Narrativ starkzumachen. Dabei ging Zaatari in seinem die Ausstellung begleitenden Wandtext auch genauer auf die Ursprünge einiger der in Palestine before ’48 präsentierten Fotografien ein. Zum einem gab er darin Aussagen der ursprünglichen Eigentümer*innen der Fotografien in einer Art dichten Beschreibung119 wieder, um ergänzende Informationen zu den damaligen Lebensverhältnissen in 117 |  Edwards, Elizabeth The Camera as Historian. Amateur Photographers and Historical Imagination, 1885-1918, Durham/London: Duke University Press 2012, S. 6. 118 |  Tucker, Jennifer und Campt, Tina „Entwined Practices. Engagements with Photography in Historical Inquiry“, in: History and Theory, 48, no. 4, 2009, S. 1-8, hier S. 3. 119 |  Die von Cliffort Geertz als ethnologische Methode entwickelte „dichte Beschreibung“ soll eine Interpretation eines sozialen bzw. kulturellen Phänomens liefern. Aus einem Einzelfall schließt Geertz dabei auf eine verallgemeindernde Schlussfolgerung, die anstatt eines wissenschaftlichen Grundsatzes, eher eine Vermutung oder eine subjektive Einschätzungen darstellt. Laut Geertz versetzt uns „eine gute Interpretation [...] mitten hinein in das, was interpretiert wird“. Dabei besteht „das Deuten [...] darin, das ‚Gesagte‘ dem vergänglichen Augenblick zu entreißen“. Vgl. hierzu Geertz, Clifford „Dichte Beschreibung. Anmerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur“, in: ders. Dichte Beschreibung.

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Palästina zu liefern. Zum anderen stellte er die Bedeutung der ersten beiden Generationen armenischer Fotograf*innen für die palästinensische Fotografiegeschichte heraus.120 Demnach begann bereits in den 1860er Jahren der armenische Patriarch Yessayi Garabedian im Stift der Jerusalemer Jakobskirche Fotografielehrgänge zu organisieren, um mittels der Fotografie vor allem historische Schriftstücke des Konvents zu reproduzieren.121 Einige seiner Schüler gründeten aber auch professionelle Fotostudios. Der prominenteste unter ihnen war Garabed Krikorian. Er eröffnete sein Studio 1885 in Jerusalem, das später sein Sohn Johannes Krikorian übernahm, wobei dessen Frau Naja, wie bereits erörtert, Johannes Krikorian des Öfteren bei seiner Arbeit unterstützte und für ihn Modell stand. So nahmen die Porträts Garabed und Johannes Krikorians, die größtenteils aus der Privatsammlung der Tochter Naja und Johannes Kikorians – Aida Krikorian Kawars – stammen, eine zentrale Rolle in Palestine before ’48 ein. Sie legten darin die Familiengeschichte der Krikorians dar und veranschaulichBeiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 7-43, hier S.26 und S. 30. 120 |  Armenier*innen spielten in der Zeit des Osmanischen Reiches eine essentielle Rolle für die Verbreitung der Fotografie im Nahen Osten. Für die überwiegend muslimische Bevölkerung der Region stellte Fotografie aufgrund ihres realistischen Abbildungsvermögens zunächst ein Problem hinsichtlich ihres Glaubensbekenntnisses dar. Frühe Fotograf*innen wurden oft als „Ungläubige“ bezeichnet. Die überwiegend christlichen Armenier*innen waren hingegen nicht gegen diese Art der Darstellung voreingenommen. Gegen Ende des 19. Jahrunderts begannen Armenier*innen zahlreiche Fotostudios in den meisten Städten des Osmanischen Reiches und Ägyptens zu betreiben und dominierten die lokale Fotografieproduktion bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein. Vgl. hierzu El-Hage, Badr „The Armenian Pioneers of Middle Eastern Photography“, in: Jerusalem Quarterly, 31, Summer 2007, S. 22-36; Nassar, Issam „Early Local Photography in Palestine. The Legacy of Karimeh Abbud“, in: Jerusalem Quarterly, 46, Summer 2011, S. 23-31 und Malikian, Joseph E. The Armenians in the Ottoman Empire. An Anthology and a Photo History, Beirut: Armenian Catholicosate Cilicia 2011. 121 |  Vgl. Nassar, Issam „Family Snapshots. Representing Palestine in the Work of the First Local Photographers“, in: History & Memory, Fall/Winter 2006, Vol. 18, Issue 2, S. 139-155, hier S. 145.

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ten technische Entwicklungen über zwei Generationen von Studiofotograf*innen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Ein weiterer Berufsfotograf, dessen Arbeiten vermehrt in der Ausstellung zu sehen waren, ist Khalil Raad, Naja Kriokorians Onkel und Lehrling ihres Ehemanns. Raad gilt als erster muslimischer Fotograf Palästinas und wurde später offizieller Fotograf des osmanischen Militärs.122 Zudem versammelte Palestine before ’48 Bilder des Fotografen Issa Sawabini, der vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1948 ein Studio in Jaffa betrieb, sowie von Samaan Sahar, Bedros Doumanian und Antranig Bakerdjian, die alle in den 1940er Jahren bis 1967 auch außerhalb von Fotostudios die gesellschaftlichen Entwicklungen sowie die gewalttätigen Auseinandersetzungen während des ersten arabisch-israelischen Krieges oder im Zuge des Sechstagekrieges 1967 festhielten.

Schnappschüsse im Ausstellungskontext Der Hauptteil der in Palestine before ’48 gezeigten Aufnahmen waren jedoch Schnappschüsse von Amateurfotograf*innen. Darunter befanden sich zum Beispiel das Bild von drei auf der Motorhaube eines BMW posierender junger Frauen [Abb. 5], das Porträt syrischer Wanderarbeiter mit einem Tanzbär an der Leine [Abb. 6], die Fotos eines nur mit Badehose bekleideten Bodybuilders, der vor der Kamera seine Muskeln spielen lässt [Abb. 7], sowie das Porträt einer als modernem Dandy verkleideten Frau [Abb. 8]. Stachen einige von diesen Bildern in der Ausstellung durch ihre ungewöhnlichen Sujets oder Kompositionen heraus und halten vereinzelt bedeutende historische Momente, wie etwa die Visite König Faisals I. 1924 in Jerusalem [Abb. 9], fest, sind ihre Bildgegenstände größtenteils allerdings eher banal. Meist während Ausflügen, Picknicks und Festen entstanden, sind sie, losgelöst von ihrer Bedeutung als persönliche Andenken, manchmal humorvolle oder skurrile, überwiegend

122 |  Vgl. Nassar, Issam „Family Snapshots. Representing Palestine in the Work of the First Local Photographers“, in: History & Memory, Fall/Winter 2006, Vol. 18, Issue 2, S. 139-155, S. 146.

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Abbildung 5: Hisham Abdel Hadi, Not Always on a Camel, also on the BMW, Palestine/Jericho, 1963; SW-Positiv auf DOP-Gelatinesilberpapier, 11,4 x 8,1 cm

Abbildung 6: Antoine Halabi, Syrian Workers with a Dancing Bear around Lake Tiberias, Palestine, 1947; SW-Positiv auf DOP-Gelatinesilberpapier, 10,8 x 15,4 cm

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Abbildung 7: Jad Mikhail, Ishaq Mikhail, Palestine/Ramallah, 1939; SW-Positiv auf DOP-Gelatinesilberpapier, 13,3 x 8,1 cm

jedoch triviale Zeugnisse des Alltags lokaler Hobbyfotograf*innen und deren Familien [Abb. 10].123 Verdeutlichen Schnappschüsse nach Geoffrey Batchen generell die Bestrebungen einzelner Individuen, den gegebenen sozialen Gepflogenheiten und den damit verbundenen visuellen Tropen von beispielsweise Geschlecht und Klasse zu entsprechen – „everyone simultaneously wants to look like themselves and like everyone else – to be the same but (ever 123 |  Geoffrey Batchen spricht auch davon, dass Schnappschüsse und ihre Zusammenstellungen in Familienalben generische Darstellungen „of an idealized life in pictorial form“ erzeugen. Vgl. hierzu Batchen, Geoffrey „Snaphots. Art History and the Ethnographic Turn“, in: Photographies, Vol. 1, No. 2, September 2008, S. 121–142, hier S. 135.

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Abbildung 8: Anonym, Marguerite, Dressed up as a Man, Palestine/Jerusalem, 1935; SW-Positiv auf DOP-Gelatinesilberpapier, 8,4 x 5,4 cm

so slightly) different“124 –, so kam dies auch in Palestine before ’48 zum Ausdruck. Die in der Ausstellung vertretenen Hobbyfotograf*innen griffen Darstellungskonventionen der Studiofotografie auf oder richteten sich nach den Maßstäben populärer Anleitungen zur Herstellung „gelungener“ Fotografien, wie sie zahlreich mit der Verbreitung von Kleinbildkameras international erschienen125, um intime und familiäre Momente festzuhalten. Mit dieser Art Mimikry, die stellenweise auch – wie im Por124 |  Batchen, Geoffrey „Snaphots. Art History and the Ethnographic Turn“, in: Photographies, Vol. 1, No. 2, September 2008, S. 121–142, hier S. 133. 125 |  Diese Anleitungen sind in den 1920er Jahren auch in arabischer Sprache erschienen. Vgl. hierzu Sheehi, Stephen „A Social History of Early Arab Photography or a Prolegomenon to an Archaeology of the Lebanese Imago“, in:

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trät der als Dandy posierenden Frau – ironisch gebrochen und um einen kulturellen Aspekt126 erweitert wurde, spiegeln die Schnappschüsse, die Teil von Palestine before ’48 waren, den (bewussten oder unbewussten) Wunsch wieder, einem zunehmend westlich geprägten modernen Lebensstil zu entsprechen. Somit sind derartige Bilder in Bezug auf Pierre Bourdieus These, dass Fotografie zugleich „Ausdruck und Mittel der Integration“127 sei, immer auch, wie Batchen es umschreibt, „odes to conformist individualism“.128 Was die Präsentation von Schnappschüssen im Ausstellungskontext betrifft, besteht abgesehen von ihrem bereits bildimmanenten Konformismus zudem die Gefahr, dass sie ohne einen persönlichen Bezugsrahmen in „memories without memory, stories without storytellers; in short, into enigmas“ verkehrt werden.129 Vor dieser Gefahr war Palestine before ’48 zwar nicht völlig gefeit. Jedoch wurden die darin präsentierten Schnappschüsse nicht vollkommen von ihrer ursprünglichen Funktion als familiäre Memorabilien gelöst, um ausschließlich ihren kreativen Mehrwert hervorzuheben oder sie für spekulative Interpretationen zugänglich zu machen.130 Auch wenn ihre Auswahl von einem künstlerisch ausgebildeten Auge getroffen wurde und ihre Präsentation – säuberlich und symmetrisch gerahmt im Ausstellungsraum gehängt – eine kontemplative Distanz und damit eine ästhetische Objektivierung erzeugte, hat Zaatari die Fotografien (von ihrem sichtbaren historischen Informationsgehalt über gesellschaftliche Normen, Moden und Konsumverhalten einmal abgesehen)131 vielmehr als in einen sozialen und historischen ZuInternational Journal of Middle East Studies, Vol. 39, No. 2, May, 2007, S. 177208, hier S. 194. 126 |  Vgl. Bhaba, Homi „Von Mimikry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses“, in: ders. Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenberg Verlag 2000, S. 125–136. 127 |  Bourdieu, Pierre „Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede“, in: ders. und Boltanski, Luc et al. Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006, S. 25-84, hier S. 31. 128 |  Batchen, Geoffrey „Snaphots. Art History and the Ethnographic Turn“, in: Photographies, Vol. 1, No. 2, September 2008, S. 121–142, hier S. 133. 129 |  Ebd., S. 131. 130 |  Vgl. ebd., S. 132. 131 |  Vgl. ebd.

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Abbildung 9: Anonym, Visit of King Faysal I. to Jerusalem with Rouhy Abdel Hadi Representing the Palestinian Government, Palestine/Jerusalem, 1924; SW-Positiv auf DOP-Gelatinesilberpapier, 7,3 x 8,7 cm

Abbildung 10: Anonym, Mr. Skaff in four different positions, Palestine/Bethlehem, 1922; SW-Positiv auf DOP- Gelatinesilberpapier, 8,8 x 13,9 cm

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sammenhang eingebundene (Er-)Zeugnisse zur Diskussion gestellt. Von entscheidender Bedeutung waren dafür die von ihm im Wandtext wiedergegeben Schilderungen, beruhend auf Transkripten von Interviews, die Zaatari während seiner Recherchereisen mit den ursprünglichen Eigentümer*innen der Fotografien führte. So berichtete er über Erzählungen Aida Krikorian Kawars, wie ihr Vater sie und ihre Mutter in Kostümen porträtierte, dass ihre Eltern, auch wenn sie armenischer Herkunft waren, immer Englisch und Arabisch sprachen, und zitierte sie mit der Aussage: „We didn’t think if we were Arabs or Armenians [sic]. We were Palestinians, Jerusalemites.“ An anderer Stelle gab Zaatari eine Anekdote Hisham Abdel Hadis wieder, in der er berichtet, wie er vor 1948 ohne weiteres mit seinem MG-Wagen von Jerusalem nach Beirut fahren konnte. Zaatari beschrieb zudem eine von ihm beobachtete Szene, in der Samia Sukkar Salfiti ihren Söhnen über ihre Großeltern in Jaffa erzählt und ihnen dabei Fotos von Maskenbällen zeigt, die sie in den 1930er Jahre dort regelmäßig veranstalteten. Und er endete seine Ausführungen mit Samieh Mahmouds Bericht über ihr Elternhaus, das umrandet von einem Orangenhain in der Nähe von Ramla gelegen war und welches sie und ihre Familie 1948 gezwungenermaßen verlassen mussten, als sie von der Hagana, der israelischen Militärmiliz, nach Amman vertrieben wurden. Auf diese Weise verband Zaatari die Schnappschüsse (sowie – im Falle Kawars – zum Teil auch Studiofotografien) mit mündlichen Zeugenberichten zu vollständigeren Aussagen über deren Bedeutung. Ihr sentimentaler Wert, der durch ihre Deplatzierung aus Familienalben und persönlichen Sammlungen verloren ging, wurde so zumindest ansatzweise zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus lieferte die Ausstellung mit den Bildunterschriften und Datierungen weitere Hinweise, die für die Interpretation der einzelnen Fotografien erforderlich sind.

Fotografien als „quasi-Akteure“ Dabei wurde auch erkennbar, dass fast alle dieser Schnappschüsse und privaten Bilder in der Zeit vor 1948 entstanden. Die Fotografien aus den Jahren zwischen der Nakba und dem Sechstagekrieg 1967 stammen hingegen beinahe ausnahmslos aus institutionellen Quellen bzw. sind von professionellen Fotografen zu Reportagezwecken gemacht worden. Die

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Aufnahmen Antranig Bakerdjians, der später als Fotograf für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) tätig war, dokumentierte zum Beispiel den Krieg von 1948 aus der Sicht der armenischen Gemeinde Palästinas. Bedros Doumanian, der im Dienste des jordanischen Prinzen Hassan bin Talal Bericht erstattete, fotografierte 1967 jordanische Soldaten in Jerusalem [Abb. 11]. Zudem waren in Palestine before ’48 Bilder unbekannter Fotografen aus dem Besitz des späteren syrischen Außenministers und Schriftstellers Abd al-Salam al-Ujaili zu sehen, die die Kämpfe der arabischen Widerstandstruppen 1948 in Galiläa festhielten. Dieses Verhältnis von privaten Momentaufnahmen vor 1948 einerseits und Fotografien offizieller Berichterstattung aus dem Jahre 1948 und danach anderseits erzeugte eine Gegenüberstellung zweier historischer Epochen und markierte das Jahr 1948 als einen signifikanten Wendepunkt, mit dem das Leben aller palästinensischen Bürger*innen zwangsläufig politisiert wurde. Sollten sie auch vorher keine explizite nationalistische Haltung vertreten haben, ist ihr Insistieren auf ihre palästinensische Identität in Folge der Nakba bis heute die einzige Möglichkeit, die Ungerechtigkeit ihrer Vertreibung, Enteignung und weiterhin andauernde Unterdrückung anzuklagen. Das öffentliche Teilen ihrer persönlichen Erinnerungen und das Zeigen ihrer privaten Fotografien bzw. die Entscheidung, ihre Fotos der AIF zu diesem Zwecke zu überlassen, mussten somit im Rahmen von Palestine before ’48 von den Besucher*innen der Ausstellung als politischer Akt erachtet werden, der durch Zaataris Vermittlung einen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte aus palästinensischer Sichtweise leisten sollte. Dementsprechend traten die Fotografien in Palestine before ’48 in Anlehnung an den vor allem von W.J.T. Mitchell postulierten „visual“ bzw. „pictoral turn“ selbst als „quasi-Akteure“132 in Erscheinung133, die nicht 132 |  Mitchell, William J.T. Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München: C.H. Beck, 2008, S. 66. 133 |  Beatrice von Bismarck spricht in diesem Zusammenhang und in Anlehnung an Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie von Fotografien im Ausstellungskontext auch als „Aktanten“. Vgl. hierzu dies. „Fotografie, Agentenschaft und kuratorische Begegnung. Herausforderungen des ethnologischen Archivs“, in: Berndt, Daniel; Flemming, Victoria v. und Bialek, Yvonne (Hg.) (Post-)Fotograf isches Archivieren. Wandel, Macht, Geschichte, Kromsdorf: Jonas Verlag 2016, S. 55-66, hier S. 65.

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Abbildung 11: Bedros Doumanian, Jordanian Soldiers, Palestine/Jerusalem, 1967; SW-Positiv auf DOP- Gelatinesilberpapier, 11,3 x 12,7 cm

nur die Art „in der wir denken“ und „sehen“ sondern auch „unsere Erinnerungen und Vorstellungen“ verändern.134 Sie wurden in Palestine before ’48 als Ausdruck einer kollektiven Identitätsbildung präsentiert. Gleichzeit plädierte die Ausstellung für einen kritischen Umgang mit Bildern als historische Quellen bzw. als Ausgangspunkt für eine „historical imagination“ im Sinne Edwards, um neue Erkenntnisse über die Funktionen und Bedeutungen des Visuellen in der Geschichte zu erlangen. In Zaataris Ausstellungen und Kunstwerken, die von ihm unter dem Oberbegriff „Objects of Study“ gefasst werden, spitzt sich dieser kritische Umgang mit historischen Fotografien aus der AIF-Sammlung weiter zu. Mit dieser Zuspitzung geht zudem eine veränderte Perspektive auf die von der noch in Palestine before ’48 stark gemachten Auffassung von Fotografien als historische Quellen einher, die letztlich in On Photography, People and

134 |  Mitchell, William J.T. Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur, München: C.H. Beck, 2008, S. 292.

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Modern Times in eine gesteigerte Ambivalenz gegenüber geschichtsbildenden Prozessen umschlägt.

4. A kr am Z aataris O bjects of S tudy (2004- fortl aufend): F eda jin , R eproduk tion , A neignung und P erforman z In Folge der Nakba sahen sich mehr als 100.000 Palästinenser*innen gezwungen, vor den Angriffen und dem Terror135 der israelischen Milizen in den benachbarten Libanon zu fliehen.136 Die meisten von ihnen wurden dort zunächst in notdürftigen Flüchtlingslagern untergebracht. Und obwohl die Vereinten Nationen mit der Resolution 194 bereits Ende 1948 die rechtliche Grundlage für ihre Repatriierung und Kompensation legten, wird ihnen von Seiten der isrealischen Regierung ihr Recht auf Rückkehr bis heute verwehrt. Das heißt, sie leben nach wie vor, mittlerweile in der vierten Generation, unter äußerst prekären Verhältnissen in

135 |  Die israelischen Milizen bombardierten nicht nur Städte und Dörfer, sondern verübten auch stragisch Massaker und Vergewaltigungen, um Palästinenser*innen zu vertreiben. Vgl. hierzu etwa: Nazzal, Nafez „The Zionist Occupation of Western Galilee, 1948“, in: Journal of Palestine Studies, no. 3, 1974, S. 58–76; Khalidi, Walid „Why Did the Palestinians Leave? An Examination of the Zionist Version of the Exodus of 48“, in: Middle East Forum, 34, July 1959, S. 21–24; Slyomovics, Susan „The Rape of Qula, a Destroyed Palestinian Village“, in: Sa’adi, Ahmad H. und Abu-Lughod, Lila (Hg.) Nakba. Palestine, 1948, and the Claims of Memory, New York: Columbia University Press 2007, S. 2752. Zur Verwendung des Begriffs des Terrors in diesem Zusammenhang siehe Massad, Joseph „Introduction. The opposite of terror“, in: ders. The Persistence of the Palestinian Question. Essays on Zionism and the Palestinians, London/New York: Routledge 2006, S. 1-9. 136 |  Mit der ersten Flüchtlingswelle nach dem Beginn des Krieges 1948 f lohen ca. 300.000 Menschen aus dem ehemaligen Mandatsgebiet in benachbarte Länder – die meisten von ihnen, ca. 104.000 in den Libanon. Die Zahlen varieren jedoch in unterschiedlichen Quellen. Vgl. hierzu etwa Sayigh, Rosemary The Palestinians. From Peasants to Revolutionaries, London/New York: Zed Books 2007, S. 100.

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diesen Lagern.137 Verharrten sie dort zunächst viele Jahre ohne jegliche Perspektive und politische Führung, sollte sich dies 1969 mit dem sogenannten Kairoer Abkommen ändern. Dieses Abkommen, das vom Vorsitzenden der 1964 in Jerusalem gegründeten PLO Jassir Arafat und dem libanesischen Armeekommandeur General Emile Bustani unterzeichnet wurde, ermöglichte es der PLO, einen kommunalähnlichen Verwaltungsapparat in den Flüchtlingslagern zu errichten. Zudem gestattete es den Palästinenser*innen, ihren bewaffneten Widerstand, den sie auch als „al-thawra“ (Revolution) bezeichneten, vom Libanon aus fortzuführen.138 Das Leben in den Flüchtlingslagern wurde somit zunehmend politisiert, was wiederum die Herausbildung bzw. Stärkung eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls unter ihren Bewohner*innen zur Folge hatte. Die PLO rekrutierte zudem zahlreiche Männer und Frauen aus den Lagern,139 um nach der verheerenden Niederlage im Zuge des Sechstagekrieges 1967 Vergeltungsschläge auf Israel auszuüben. Diese Kämpfer*innen, die aufgrund der Bereitschaft, ihr Leben für die Befreiung Palästinas zu opfern, auch Fedajin genannt werden (was wörtlich übersetzt soviel bedeutet wie „der/die sich Opfernde“), macht Zaatari in seinem 2004 begonnenen Werkkomplex Objects of Study/ Studio Shehrazade 140 unter verschiedenen Gesichtspunkten zum Gegenstand.141 Entspricht Pa-

137 |  Auf diesen Sachverhalt werde ich im 3. Kapitel bezüglich Yasmine Eid-Sabbaghs A Photographic Conversation from Burj al-Shamali noch genauer eingehen. 138 |  Peteet, Julie M. Landscape of Hope and Despair. Palestinian Refugee Camps, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2005, S. 7. 139 |  Vgl. hierzu z.B.: Fisk, Robert Pity the Nation. Lebanon at War, Oxford/New York: Oxford University Press 2001, S. 74. 140 |  Der Werkkomplex wird von Zaatari zuweilen auch unter dem Titel Objects of Study/ The Archive of Studio Shehrazade geführt. 141 |  Seiner Affinität zu den Fedajin verlieh Zaatari 2012 in einem Gespräch mit dem israelischen Künstler Avi Mograbi explizit Ausdruck. „I loved the Palestinian feda’i“, bemerkt er im Verlauf dessen. Sie waren seine „[…] childhood mythical fighter figures, who used to give me all sorts of bullets to collect as a kid. I loved how they lived on the streets, how they slept in the fields or in vacant buildings. I loved how they smelled. I envied them for fighting for justice; I sincerely loved them.“ Vgl. Zaatari, Akram A Conversation with an Imagined Israeli Filmmaker Named Avi Mograbi, Berlin: Sternberg Press 2012, S. 9.

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lestine before ’48 noch dem Format einer thematischen „Autor*innenausstellung“142, die diverse Genres und Bilder unterschiedlicher Fotografen vereint und für die Zaatari als Vermittler auftritt, stellt Objects of Study/ Studio Shehrazade eine fokussierte Auseinandersetzung mit dem Schaffen eines einzelnen Studiofotografen – Hashem El Madani – und dessen Portraitfotografie dar. Darüber hinaus ist Objects of Study/ Studio Shehrazade durch künstlerische Strategien bestimmt, die über ein rein kuratorisches Handeln im Sinne des Zusammenstellens und Präsentierens hinausgehen. Anstelle des „curated by...“ wie noch bei Palestine before ’48 tritt hier zunächst der Vermerk „a project by...“. Dabei rückt Zaataris Urheberschaft, was den Präsentationsmodus der gezeigten Fotografien betrifft, verstärkt in den Vordergrund. Der Bezug zur AIF erscheint oftmals lediglich im Paratext und taucht schließlich nur noch in den Bildunterschriften als Copyrightvermerk auf. War Objects of Study/ Studio Shehrazade ursprünglich als eine Reihe von Ausstellungen und Publikationen geplant, die in einer Art Bilderatlas ähnlich August Sanders Menschen des 20. Jahrhunderts kulminieren sollte,143 schuf Zaatari bis dato drei auf Madanis Fotografien beruhende Ausstellungen (zu denen begleitend jeweils eine Publikation erschien). Er selbst bezeichnet sie als „Kapitel“144: Das erste Kapitel Hashem El Madani. Studio Practices (2004) bezieht sich auf Madanis Studiofotografie, das zweite Hashem El Madani. Promenades (2006) betrachtet Madanis Tätigkeit außerhalb seines Studios als Wanderfotograf und das dritte Kapitel Hashem El Madani. Itinerary (2007) fasst Madanis Porträts von 142 |  Vgl. O’Neill, Paul „The Curatorial Turn. From Practice to Discourse“, in: Rugg, Judith und Sedgwick, Michèle (Hg.) Issues in Curating Contemporary Art and Performance, Bristol/Chicago: Intellect Books/ The University of Chicago Press 2007, S. 13-28. 143 |  Wilson-Goldie, Kaelen „Following Hashem El Madani out of the studio and into the world (of Sidon). New book shows the public face of photographer’s clientele and explores waves of sociopolitical change hitting a coastal Levantine town“, in: The Daily Star, 2. November 2007, S. 10. 144 |  So zum Beispiel in einem von den Kuratorinnen Eva Respini und Ana Janevski zum Anlass der im New Yorker Museum of Modern Art im April 2013 stattgefundenen Ausstellung Projects 100: Akram Zaatari geführten Interview: http://www.moma.org/interactives/exhibitions/projects/akram-zaatari/interview-with-the-artist/ [eingesehen am 24.06.16].

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Handelsleuten, Verkäufern, Angestellten und Handwerkern an ihren Arbeitsplätzen – darunter Krämerläden, Restaurants oder Friseursalons – zusammen.145 Werden in diesen drei Teilen Madanis Fotografien in monografisch angelegten Konglomeraten mit einem ausdrücklichen Verweis auf Madanis Autorschaft im Titel gezeigt (wobei Madani als Autor und Zaatari als Kurator erscheint), macht Zaatari weiterhin einzelne Fotos Madanis sowie aus dessen Studio stammende Objekte und Filmmaterial zum Gegenstand von Kunstwerken, für die er wiederum die alleinige Autorschaft beansprucht.146 After They Joined the Military Struggle (2006), eine Serie von Fedajin Porträts, ist ein Beispiel für ein solches Werk Zaataris. Es stellt eine Fortsetzung und Erweiterung von Objects of Study – genauer des Studio Practices Kapitels – dar. Indem sich Zaatari an die Strategien der Ende der 1970er Jahre aufkommenden Appropriation Art anlehnt, schafft er hier jedoch veränderte auktoriale Prämissen. Sind in der Ausstellung Studio Practices bereits ebenfalls Porträts von palästinensischen Widerstandskämpfern und sympathisierenden Fadajin enthalten, werden sie hier noch einmal von Zaatari verdichtet in einem von dem Ausstellungs145 |  Zu diesen drei Ausstellungsformaten ist jeweils eine Publikation erschienen. Bei Studio Practices und Promenades handelt es sich um zwei Ausstellungskataloge von gleichem Gestaltungsprinzip und Umfang. Im Zuge des Itinerary erschien eine „Location Map“, eine Faltkarte der Saidaer Altstadt, auf dem die einzelnen Stationen verzeichnet sind, an denen sich die von Zaatari installierten Fotografien Madanis befinden. Anhand ihrer wird der Betrachter angeleitet, das Stadtzentrum Saidas zu erkunden und Madanis Fotos ausfindig zu machen, um gleichermaßen, die darin abgebildete Realität mit der heutigen abzugleichen. Die bis dato aktuellste Auseinandersetzung Zaataris mit Madani und dessen Schaffen stellt die Videoarbeit Twenty Eight Nights and A Poem (2015) dar. 146 |  Bei diesen Ausläufern, Appendizes oder Kondensaten, wie ich sie bezeichne, handelt es sich um Fotoserien, einzelne Porträts und Super8-Aufnahmen, die aus Madanis Archiv stammen aber auch Fotomontagen und Installationen, die Madanis Studio und Arbeitsgeräte in einem dokumentarischen bzw. inventarischen Modus (re-)präsentieren. Dabei macht Zaatari nicht nur Madani selbst und dessen fotografische Praxis zum Gegenstand seiner „study“, sondern auch die von Madani verwendete Studioausrüstung, seine Kameras und Requisiten, anhand derer er verschiedene technische Aspekte, Gebrauchsweisen sowie das „Leben“ bzw. „Ableben“ von Fotografien thematisiert.

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prinzip bzw. der kuratorischen Vorgehensweise abweichenden Modus als „konzeptuelle Reproduktionen“147 präsentiert. Wie genau äußert sich die Entwicklung von „curated by...“ zu „a project by...“ bis hin zur künstlerischen Aneignung? Inwiefern verschiebt sich dabei die Rezeption im Vergleich zur Präsentation in Palestine before ’48? Wodurch zeichnet sich Madanis fotografische Inszenierung der Fedajin aus und inwiefern wird diese durch Zaataris Aneignung herausgestellt bzw. nochmals gesteigert? Diesen Fragen werde ich im Folgenden anhand einer Untersuchung der Fedajin Porträts im ersten Kapitel von Objects of Study mit dem Titel Hashem El Madani. Studio Practices sowie Zaataris After They Joined the Military Struggle nachgehen.

Der Fotograf der „breiten Masse“: Studio Practices (2004) 1928 in der südlibanesischen Stadt Saida geboren, ging Hashem El Madani mit 19 Jahren nach Palästina, um dort in Haifa einem jüdischen Fotografen zu assistieren. Er kehrte allerdings bereits ein Jahr später aufgrund der politischen Unruhen, die die Verkündung der Belfour-Deklaration dort auslöste, in den Libanon zurück. Kurz darauf erstand er seine erste Kleinbildkamera und begann zunächst als Wanderfotograf Passanten zu porträtieren, bevor er 1952 sein Studio Shehrazade in Saida eröffnete.148 Zaatari besuchte es schon im Kindesalter und traf Madani später erneut während seiner Recherche für die von ihm kuratierte AIF-Ausstellung The Vehicle (1999). Zu dieser Zeit begann Zaatari sich intensiver mit dem Schaffen bzw. dem Archiv des Fotografen zu beschäftigen und Madani überließ der AIF in den folgenden Jahren sukzessive sein gesamtes Konvolut aus hunderttausenden Negativen und Abzügen (er selbst behauptet,

147 |  Vgl. Römer, Stefan Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung, Köln: DuMont 2001, S. 117. 148 |  Es befand sich im selben Gebäude, wie das heute geschlossene Kino Shehrazade, nach dem Madani sein Studio benannte. Er betrieb jenes fast mehr als 50 Jahre bis er 2005 ein zweites Studio im Erdgeschoss seines Wohnhauses eröffnete. Madani verstarb im Sommer 2017.

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im Verlauf seiner Karriere neunzig Prozent der gesamten Einwohner Saidas porträtiert zu haben).149 Präsentierte Zaatari bereits einige Fotografien Madanis nicht nur in The Vehicle, sondern auch in der Ausstellung Mapping Sitting (2002)150, die er zusammen mit Walid Raad konzipierte, so widmete sich Hashem El Madani. Studio Practices erstmalig ausschließlich Madanis Porträts. Die Ausstellung wurde bisher dreimal an verschiedenen Orten gezeigt: Zunächst 2004 in der Londoner Photographer’s Gallery, daraufhin (in leicht abweichender Form)151 2005 während der dritten Ausgabe des von Ashkal Alwan – The Lebanese Association for Plastic Arts organisierten Homeworks Forums in der Beiruter Dependance der Galerie Sfeir-Semmler (die auch Zaatari repräsentiert) und zuletzt 2007 im Sala de Exposiciones Santo Domingo de la Cruz im spanischen Salamanca, wobei ich mich in den folgenden Ausführungen auf Hashem El Madani. Studio Practices beschränken werde, wie sie in der Photographer’s Gallery zu sehen war. Diese Fassung der Ausstellung beinhaltete insgesamt 104 Silbergelatineabzüge, die unter Aufsicht Madanis von dessen klein- und mittelformatigen Schwarzweißnegativen unbeschnitten in einheitlichen Größen152 reproduziert wurden, 11 originale handkolorierte Abzüge sowie dutzende 149 |  Außerhalb seines Studios hat Madani auch kontinuierlich Personen auf Spaziergängen oder während des Badens porträtiert. Er übergab ihnen anschließend einen Zettel, mit dem sie, wenn sie wünschten, ihre Porträts entwickeln lassen konnten. Die Gesamtzahl der von Madani während seiner Karriere gemachten Aufnahmen beläuft sich auf einen sechsstelligen Bereich. Dabei schwanken die von der AIF und Zaatari gemachten Angaben von 150.000 bisher durch das konservatorische Team der AIF bearbeiteten Abzüge und Negative bis hin zu insgesamt einer Million Bildträger. 150 |  Zu Mapping Sitting siehe: Bassil, Karl; Maasri, Zeina und Zaatari, Akram (Hg.) Mapping Sitting. On Portraiture and Photography, Beirut: Mind the Gap/ The Arab Image Foundation 2002 und Wilson-Goldie, Kaelen „Walid Raad and Akram Zaatari, Mapping Sitting: On Portraiture and Photography“, in: Mousse Magazine #44/The Artist as Curator #3, 2002. 151 |  Die Auswahl und die Anzahl der Fotografien bleiben dabei aber weitestgehend die gleichen. Zaatari variierte an den unterschiedlichen Ausstellungsorten allerdings das Display bzw. die Hängung der Fotografien. 152 |  Ihre Größe beträgt 22 x 15 cm, insofern sie von 35 mm Negativen abgezogen worden, und 30 x 30 cm, insofern sie auf 6 x 6 cm großen Negativen beruhen.

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Abbildung 12: Ausstellungsansicht, Objects of Study. Studio Practices, The Photographer’s Gallery, London, 2004

originale 15 x 20 cm große Schwarz-Weißabzüge. Die Reproduktionen und die handkolorierten Fotos wurden in weißen Holzrahmen und Passepartouts an den weißen Wänden der Ausstellungsräume hängend präsentiert. Die kleinformatigen Schwarzweißabzüge lagen hingegen dicht aneinander gereiht in drei Glasvitrinen aus [Abb. 12]. Abgesehen von den Bildtiteln waren alle Fotografien bzw. die Gruppierungen, Serien sowie die Vitrinen mit einem in englischer Sprache verfassten Text auf kleinen Schildern versehen, welche auf Aussagen Madanis beruhend den Bildinhalt genauer erläuterten.153 Dabei handelte es sich um kurze, in der Ichform wiedergegebene Zitate Madanis, die entweder den Entstehungskontext der entsprechenden Fotografien beschrieben oder Informationen zu den Porträtierten lieferten. 153 |  Es handelt sich dabei um Abzüge, die Madani aufgrund ihrer minderwertigen Qualität einbehielt und nicht an seine Kunden aushändigte. Der Originalwortlaut des Textes lautete: „Usually, as with all studio photographers, Madani gave the prints he produced to the client who commissioned the photographs. However, in some instances he would keep the photographs if he was not entirely happy with the results, making new prints to give his clients. These prints – produced mainly in the 1950s and 1960s in Studio Shehrazade – are a selection from the ones that Madani kept.“

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Abbildung 13: Hashem El Madani, Anonym, UNRWA school, South Lebanon, 1971

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Die Gesamtauswahl der Fotografien umfasste eine Zeitspanne von Ende der 1940er Jahre bis Anfang der 1980er Jahre. Sie waren in verschiedene Kategorien gegliedert und ihre Unterteilung in Bildserien oder Bildpaare basierte teilweise auf der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung. Dies betrifft zum Beispiel auch eine Serie von Porträts palästinensischer Flüchtlingskinder, die Madani auf Anfrage der Leitung der UNRWA-Schulen 1971 machte.154 Die einzelnen Fotos dieser Serie waren in zwei Blöcken dicht neben- und übereinander gehängt, wonach sie als Einheit betrachtet werden sollten. Dennoch wurden sie in ihrer Ordnung von einem in seinem Bildgegenstand abweichenden Porträt unterbrochen. So tauchte inmitten der Kinderporträts das Bildnis eines vermummten Fedajin mit Maschinengewehr auf [Abb. 13]. Musste die Serie dadurch auf den ersten Blick inkohärent erscheinen, vermittelte sie dennoch einen adäquaten Eindruck von Madanis Arbeitsweise. Tatsächlich wurde er während seinen Auftragsarbeiten außerhalb seines Studios öfters von Leuten behelligt, die sich ebenfalls spontan von ihm porträtieren lassen wollten. Zeugen die Porträts der palästinensischen Flüchtlingskinder ihrem Verwendungszweck der Personenidentifikation entsprechend von einem nüchternen, beinahe kargen Pragmatismus – Madani fotografierte die Kinder vor einer weißen Mauer auf einem Holzstuhl sitzend –, spiegeln die Porträts, welche in seinem Studio entstanden und die den Hauptteil der Ausstellung ausmachten, einen ausgeprägteren Sinn für Inszenierung wieder. Gleichwohl lassen auch letztere keinen technischen oder gestalterischen Perfektionismus erkennen. Madani arbeitete hauptsächlich mit handlichen 35mm Kameras sowie Mittelformatkameras, frontaler Beleuchtung oder Blitzlicht. Auch wenn er seine Porträts bewusst und teilweise unter Verwendung von Requisiten und Kostümen als Mise en Scènes gestaltete, wirken sie oft amateurhaft, die Kompositionen disharmonisch, die Kontraste „matschig“, die Posen der Abgebildeten wenig elegant, steif und etwas plump. Umso mehr bestechen seine Bilder durch das breite Spektrum ihrer Sujets. So befanden sich in der Ausstellung Hashem El Madani. Studio Practices unter anderem Hochzeitsporträts, Porträts von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen, Bildnisse von Personen, die sich neben einem Radio posierend oder Sonnebrillen tragend 154 |  Vgl. Zaatari, Akram; Bassil, Karl und Le Feuvre, Lisa (Hg.) Hashem El Madani. Studio Practices. An Ongoing Project by Akram Zaatari, Beirut: Arab Image Foundation/Mind the Gap 2007, S. 24.

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ablichten ließen, handkolorierte und retuschierte Bruststücke (darunter auch Bilder anderer Fotografen, die Madani von Negativen oder Originalabzügen reproduzierte und nachbearbeitete), Fotos von Paaren, küssend oder Szenen aus populären Illustrierten und Kinofilmen nachstellend [Abb. 14-16]. Verstand sich Madani selbst als Fotograf der „breiten Masse“, insbesondere der Arbeiter- und Mittelschicht,155 lieferten seine Bilder im Rahmen von Studio Practices zudem einen Rückblick auf die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Saida zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ein geschlossenes Kräftefeld: „Patriots perform patriotism“ Der soziologische Gesichtspunkt der Ausstellung wird von Stephen Wright in seinem Essay Falling into his Eyes hervorgehoben, welcher in der begleitenden Publikation zu Studio Practices erschien. Habitus und das Performative („performance“) sind darin die Schlüsselbegriffe: „A single photograph“, so Wright, „arrests an instant, tears it from time, but in their proliferation, the photographs provide an image of habitus.“156 Bezeichnet laut Bourdieu der Habitus „das Körper gewordene Soziale“157, vermitteln Madanis Fotografien zum einen, wie sich der Habitus bzw. in diesem konkreten Fall das soziale Gefüge der Stadt Saida und ihre Geschichte in den Denk- und Sichtweisen, im Handeln sowie den Gesten der Menschen verdinglicht. Zum anderen vermengen sich die Aufnahmen in Studio Practices als Ansammlung (inszenierter) Moment155 |  Madani spricht in diesem Zusammenhang von sich selbst als einen bodenständigen populären Fotografen, der gewöhnliche Leute ablichtet. Vgl.: Zaatari, Akram „Interview with Hashem el Madani“, in: ders. und Bassil, Karl Hashem El Madani: Promenades. A project by Akram Zaatari, Beirut: Mind the Gap/The Arab Image Foundation 2007, S. 5-7, hier. S. 7. 156 |  Wright, Stephen „Falling into his Eyes“, in: Zaatari, Akram; Bassil, Karl und Le Feuvre, Lisa (Hg.) Hashem El Madani. Studio Practices. An Ongoing Project by Akram Zaatari, Beirut: Arab Image Foundation/Mind the Gap 2007, S. 3-7, hier S. 5. 157 |  Bourdieu, Pierre „Die Ziele der ref lexiven Soziologie“, in: ders. und Wacquant, Loïc J.D. Ref lexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 95-249, hier S. 161.

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Abbildung 14: Hashem El Madani, Palestinian couple from Ain El Helweh, Studio Shehrazade, Saida/Lebanon, 1973-74

aufnahmen aus den Leben hunderter Einwohner Saidas in Anlehnung an Sanders typologische Strukturierung zu einem Gesamtbild158 der Saidaer Gesellschaft oder, wie Wright es formuliert, zu einer „collective physiognomy of the city“.159 158 |  Lange, Susanne „Editorische Vorbemerkung zur Neuausgabe von August Sanders Werk Menschen des 20. Jahrhunderts“, in: Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur (Hg.) August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts Band I: Der Bauer, Köln/München: Schirmer/Mosel 2002, S. 8. 159 |  Wright, Stephen „Falling into his Eyes“, in: Zaatari, Akram; Bassil, Karl und Le Feuvre, Lisa (Hg.) Hashem El Madani. Studio Practices. An Ongoing Project by Akram Zaatari, Beirut: Arab Image Foundation/Mind the Gap 2007, S. 3-7, hier S. 4.

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Abbildung 15: Hashem El Madani, Anonym, Studio Shehrazade, Saida/Lebanon, 1970er Jahre

Geht Geschichte im Habitus „ein Verhältnis mit sich selbst ein“, wonach ein „Akteur […] und die soziale Welt […] in einem regelrechten ontologischen Einverständnis vereint“ sind160, so präsentierte Zaatari Madanis Fotografien von Zaatari in Studio Practices gleichermaßen als historische Belege dieser reziproken Beziehung. Dabei ist das Bindemittel zwischen den „Akteuren“ und der „sozialen Welt“ die „soziale Kompetenz“161, welche durch Performanz verlautbar wird bzw. in Augenschein tritt. Stammen beide Begriffe, Kompetenz und Performanz, ursprünglich aus der Sprachphilosophie, um damit den Sprechakt162 analytisch zu erfassen, 160 |  Bourdieu, Pierre „Die Ziele der ref lexiven Soziologie“, in: ders. und Wacquant, Loïc J.D. Ref lexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 95249, hier S. 161. 161 |  Zum Begriff „soziale Kompetenz“ siehe auch: Bourdieu, Pierre Soziologische Fragen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 227 f. 162 |  Searle, John R. Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge/New York: Cambridge University Press 1969.

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Abbildung 16: Hashem El Madani, Tarho and El Masri, Studio Shehrazade, Saida/Lebanon, 1958

wurde vor allem dem Performanzbegriff bzw. dem des „Performativen“ als Resultat einer „kulturwissenschaftlichen Wende“ eine veränderte Bedeutung zuteil.163 Er bezeichnet demnach nicht nur die Ausführung eines Sprechaktes, sondern auch die Art und Weise, wie Menschen in der Öffentlichkeit (inter-)agieren und ihre Überzeugungen durch „wahrnehmbares Verhalten“164 zum Ausdruck bringen sowie den Aufführungs163 |  Vgl. Wirth, Uwe „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: ders. (Hg.) Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 9-62, hier S. 34. Zum „Performative Turn“ in der Kunst bzw. in der Kunstwissenschaft siehe auch Fischer-Lichte, Erika Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004 sowie dies. Performativität. Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2012. 164 |  Zum Verhältnis zwischen Kompetenz und (visueller) Performativität siehe auch: Huber, Hans Dieter „Visuelle Performativität“, in: ders.; Lockemann, Bettina und Scheibel, Michael (Hg.) Visuelle Netze. Wissensräume in der Kunst, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 31-38, hier S. 36: „An den spezifischen Formen und Modellen visueller Performativität können wir als externe Beobachter, die keinen epistemischen Zugang zum Inneren einer anderen Person besitzen, modellhaft beobachten, wie sich visuelle Kompetenz in spezifisch visuellen Handlungsformen formuliert.“

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charakter von Handlungen, die sich über einen Kommunikationspartner hinaus „an die Gesellschaft“165 richten. Performanz ist demnach auch für die (Studio-)Fotografie ein wesentlicher Faktor. Sie definiert das Zusammenspiel zwischen den Parametern des Fotografischen (dem Fotografen, der Kamera- und Lichttechnik, dem Studio, der Kulisse, den Requisiten, der Perspektive, dem Anlass des Porträtierens und der Verwendung der Fotografie etc.) und dem Gebaren der Porträtierten, ihren individuellen Posen, Gesten, ihrer Kleidung – ihrer (Selbst-)Inszenierung innerhalb eines spezifischen soziokulturellen Rahmens. Roland Barthes bezeichnete die Porträtfotografie daher auch als „ein geschlossenes Kräftefeld“, indem sich „vier imaginäre Größen“ überschneiden, aufeinanderstoßen und sich verformen: „Vor dem Objektiv bin ich zugleich der, für den ich mich halte, der, für den ich gehalten werden möchte, der für den der Photograph mich hält, und der, dessen er sich bedient, um sein Können vorzuzeigen. In anderen Worten, ein bizarrer Vorgang: ich ahme mich unablässig nach, […].“166

Wird das Posieren vor der Kamera dabei als eine mehr oder weniger bewusste Aufführung – eine, wie Barthes es formuliert, Nachahmung „seiner selbst“ bzw. ein auf soziale Codes basierendes Sich-Präsentieren (im Gegensatz zum bloßen Anwesendsein)167 – herausgestellt, betont Wright im Hinblick auf Madanis Fotografien, wie darüber nicht nur soziale Konventionen und kulturelle Besonderheiten, Gender und Sexualität, sondern auch religiöse und politische Überzeugungen zum Ausdruck gebracht werden:

165 |  Krämer, Sybille Sprache, Sprechakt, Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 144. 166 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 22. Zum Verhältnis des Performativen zur (Porträt-)Fotografie siehe auch Schusterman, Richard „Photography as Performative Process“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, Vol. 70, Issue 1, Winter 2012, S. 67-77. 167 |  Huber, Hans Dieter „Visuelle Performativität“, in: ders.; Lockemann, Bettina und Scheibel, Michael (Hg.) Visuelle Netze. Wissensräume in der Kunst, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 31-38, hier S. 36.

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Abbildung 17: Hashem El Madani, Palestinian Resistant, Studio Shehrazade, Saida/Lebanon, 1968-72

„Though it was not their initial intent, Hashem El Madani’s photographs offer one of the most extensive and fascinating laboratories of how, for instance, Christians perform Christianity, or patriots perform patriotism, and perhaps most strikingly, how men perform masculinity and women perform feminity in their daily poses, gestures and conduct, […].“168

„Patriots perform patriotism“ und „men perform masculinity“ sind die zwei Attributierungen, die augenscheinlich am ehesten auf Madanis Porträts der Fedajin in Studio Practices und After They Joined the Military 168 |  Wright, Stephen „Falling into his Eyes“, in: Zaatari, Akram; Bassil, Karl und Le Feuvre, Lisa (Hg.) Hashem El Madani. Studio Practices. An Ongoing Project by Akram Zaatari, Beirut: Arab Image Foundation/Mind the Gap 2007, S. 3-7, hier S. 6. Wright bezieht sich an dieser Stelle explizit auf Judith Butlers Performanzbegriff. Vgl. dazu Butler, Judith Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 sowie dies. Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.

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Abbildung 18: Hashem El Madani, Ringo, a Palestinian Resistant, Studio Shehrazade, Saida/Lebanon, 1968-72

Struggle zutreffen. Die Zusschreibung „men perform masculinity“ ist auf den ersten Blick in beiden Fällen gegeben und wird durch die souveränen, fast konfrontativen Posen der Poträtierten und die Tatsache, dass sie überwiegend Maschinengewehre in den Händen halten zu einer Hypermaskulinität169 gesteigert. Der Patriotismus stellt sich hingegen vor allem in den Fedajin-Porträts, die Teil der Studio Practices Ausstellung waren, jedoch zunächst weniger augenscheinlich, heraus [Abb. 17 & 18]. Denn ein Großteil davon zeigt junge Männer in Zivilkleidung, die der Mode der 1970er Jahre entsprechend weite Schlaghosen und Stoff hemden mit großen Spitzkragen, markante Koteletten und Schnurrbärte tragen. Wür169 |  Bekanntlich ist nach Sigmund Freud das Gewehr ein Phallussymbol und die Performanz des Maskulinen wird hier in Verbindung mit dem teilweise heroischen Gebaren der Fedajin als Machismus exponiert. Vgl. hierzu Freud, Sigmund Die Traumdeutung, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1996, S. 348. Zum Begriff der Hypermaskulinität siehe etwa: Beere, Carole A. Gender roles: a handbook of tests and measures, New York: Greenwood Press 1990.

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Abbildung 19: Hashem El Madani, Zarif, a Palestinian Resistant, Studio Shehrazade, Saida/Lebanon, 1968-72

den die meisten von ihnen nicht mit einer Kalaschnikow posieren, ließe sich beim Betrachten der Fotografien nicht darauf schließen, dass es sich bei den Abgebildeten um palästinensische Widerstandskämpfer handelt. Ebenso gut könnte das Gewehr eine Studiorequisite Madanis gewesen sein, mit der die jungen Männer etwa Charaktere aus Gangster- oder Actionfilmen mimten. In Studio Practices ließen lediglich das Porträt mit dem Titel Zarif, Palestinian Fighter [Abb. 19] sowie die Serie Syrian Resistants [Abb. 20] von insgesamt sieben Hüftbildern syrischer Männer, die sich zu Beginn der 1970er Jahre dem palästinensischen Widerstandskampf anschlossen170, sofort die Annahme zu, dass es sich um eine Performanz 170 |  Die Anhänger der Syrischen Sozial-Nationalistischen Partei (SSNP) kämpften zunächst an verschiedenen Fronten gemeinsam mit der PLO sowie den Truppen des Lebanese National Movement (LNM). Nachdem Syrien später begann, millitärisch in den libanesischen Bürgerkrieg einzugreifen, und das Verhältnis zwischen der PLO und der LNM zunehmend kriselte, stellten auch die Mitglieder der SSNP ihr Untersützung der PLO ein. Zaatari zitiert

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von Patriotismus handelt. Denn jeder der abgebildeten Männer trägt eine rot-weiß oder schwarz-weiß gemusterte Kufiya, die nach der Nakba zum Symbol für den palästinensischen Widerstandskampf wurde171: Der Mann Namens Zarif hat sie um seinen Kopf, die sitzend porträtierten Syrier haben sie demonstrativ um ihren Hals und über ihre Brust gebunden. Allerdings waren es letztlich wiederum die Bildtitel, die einen verlässlicheren Aufschluss über die Porträts boten. Insoweit nicht namentlich benannt, wie Zarif, erhielten sie alle die Bezeichnung Palestinian Resistant(s) oder eben Syrian Resistants. Wurde damit abermals Benjamins These bestätigt, nach der die Beschriftung der Fotografie ihr „wesentlichste[r] Bestandteil“ ist, ohne die jede „photographische Konstruktion im Ungefähren steckenbleiben muss“172, war auch in Studio Practices die Madani in der Publikation Studio Practices dazu auch folgendermaßen: „These are Syrians. In the early 70s many Syrians joined resistance and other patriotic parties in Lebanon.“ Siehe: Zaatari, Akram; Bassil, Karl und Le Feuvre, Lisa (Hg.) Hashem El Madani. Studio Practices. An Ongoing Project by Akram Zaatari, Beirut: Arab Image Foundation/Mind the Gap 2007, S. 28. Für einen konzisen Überblick über die verschiedenen in den libanesischen Bürgerkrieg involvierten Parteien und Milizen sowie den Ablauf des Krieges siehe: Maasri, Zeina Off the Wall. Political Posters of the Lebanese War, London/New York: I.B. Tauris 2009, S. 25-33. 171 |  Ursprünglich wurde die Kufiya von palästiensischen Bauern als Kopfschutz getragen, um sich damit von der den osmanischen Tarbush tragenden Elite abzusetzen. Es war also bereits zur Zeit des Osmanischen Reichs ein bewusster Ausdruck einer regionalen und konfessionellen Differenzierung. Mit den Aufständen gegen die Briten 1936 wurde das Tuch zu einem nationalen Symbol und Zeichen der Identifikation, der Treue, Zugehörigkeit und Solidarität mit Palästina. Die Kufiya gibt es in verschiedenen Farbkombinationen, wobei das schwarz-weiß gemusterte Tuch oft als Signifikat palästinenischen Nationalismus und das rot-weiß gemusterte Tuch von den Anhängern der marxist-leninistischen Volksfront zur Befreiung Palästinas getragen wurde. Vgl. hierzu Swedenburg, Ted Memories of Revolt. The 1936-1939 Rebellion and the Palestinian National Past, Minneapolis: University of Minnesota Press 1995, S. 10 und S. 35. 172 |  Benjamin, Walter „Kleine Geschichte der Fotografie“, in: ders. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S.45-64, hier S. 64.

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Abbildung 20: Hashem El Madani, Syrian Resistants, Studio Shehrazade, Saida/Lebanon, um 1970

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Verbindung von Bild und Text bzw. die Annotation der Fotografien, wie bei der AIF-Bilddatenbank und der Ausstellung Palestine before ’48, zum Zwecke ihre Kontextualisierung entscheidend. In der Ausstellung Studio Practices präzisierten zudem die Zitate Madanis, die in schriftlicher Form neben den einzelnen Porträts und der Serie der syrischen Widerstandskämpfer angebracht waren, ähnlich wie es bereits im Fall der Zeugenberichte geschah, die im Wandtext von Palestine before ’48 wiedergeben wurden, den historischen Kontext ihrer Entstehung. Darüber hinaus lieferten sie weitere Informationen zu Madanis Arbeitsweise und den Beziehungen, die er mit seiner Kundschaft pflegte. So erfährt der Betrachter zum Beispiel, dass die syrischen Widerstandskämpfer unbewaffnet ins Studio kamen, während ein Mann namens Hassan Jawhar, obwohl er kein Fedajin war, mit dem Gewehr von Ringo, der wiederum mit Zarif verwandt war, posierte.

After They Joined the Militar y Struggle (2006): Aneignen der Aneignung Auch Zaataris 2006 entstandene Fotoserie After They Joined the Military Struggle [Abb. 21] wird von einem ausführlicheren Zitat Madanis begleitet. Darin berichtet der Fotograf, wie sich die Palästerinser*innen im Libanon Ende der 1960er Jahren zunehmend militarisierten und dies auch demonstrativ in seinem Studio zur Schau stellten: „[It] became very common to see armed men on the streets in Saida. They used to come to the studio with their arms and very often other customers would borrow the guns and pose with them, as an act of showing off – a display of power.“173 173 |  Das vollständige Zitat lautet: „People started to carry guns during the events that took place in 1958 when popular resistance was formed to oppose the government under Chamoun’s presidency. Some of them used to come to the studio, but were not numerous. In the late 60s, Palestinians started to be armed, and it became very common to see armed men on the streets in Saida. They used to come to the studio with their arms and very often other customers would borrow the guns and pose with them, as an act of showing off – a display of power. When Nasser died in 1970, members of patriotic militias left their beards unshaven for 40 days as a sign of mourning, and came to be photographed

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Präsentierte Zaatari die Fedajinporträts in Studio Practices noch als seine „Auslese“ bzw. als Teil einer größer angelegten thematischen Ausstellung, die sich Madanis Studioporträts im Allgemeinen widmete, ist After They Joined the Military Struggle vielmehr ein Kondensat des bereits in der Ausstellung erschienen Sujets des Widerstandskämpfers. Die Serie umfasst insgesamt sechzehn 30 x 30 cm große Schwarzweißabzüge, die in einem quadratischen Raster von 4 x 4 Reihen gehängt werden. Sie zeigt 14 verschiedene junge Männer, die vergleichbar mit den Fedajinbildnissen in Studio Practices allein, zu zweit oder zu dritt mit einem Maschinengewehr vor einem monochromem Hintergrund posieren.174 Allerdings tragen sie im Gegensatz zu den Fedajin in Studio Practices überwiegend Militäruniformen, zwei von ihnen auch eine Kufya. Sie stehen frontal in die Kamera blickend auf einem runden Podest, sitzen auf einer Art Schemel oder hocken mit einem in die „Weite“ gewandten Blick, ihre Gewehre im Anschlag haltend. Dabei unterscheidet sich die Präsentation der Abzüge formal nicht von den Fedajinporträts in Studio Practices. Sie haben die gleiche Größe, sind in identische weiße Holzrahmen gefasst und weisen auch sonst keine sichtbaren Eingriffe auf, die sie von den Bildnissen in Studio Practices absetzten würden. Inhaltlich markieren sie die Schnittstelle zwischen rituellem Handeln und theatralem Transformationsprozess: Wie die Bildnisse in Studio Practices können sie in Bezug auf die darin vermittelte Performanz als eine Art „Inszenie-

with grown beards. It was all show off. They came and acted sad faces. It was fashionable to be sad when Nasser died.“ Siehe dazu: http://www.sfeir-semler. com/gallery-artists/zaatari/view-work/?galAlbum=164&what=gallery&numbr =4&imageTitle=bottom&imageDesc=bottom&back=gal_163

[eingesehen

am

25.06.16]. Das Zitat stammt ursprünglich aus einem Interview, das Zaatari mit Madani führte und in der Studio Practices-Publikation erschein. Vgl. hierzu auch Vgl.: Zaatari, Akram „Interview with Hashem el Madani“, in: ders.; Bassil, Karl und Le Feuvre, Lisa (Hg.) Hashem El Madani. Studio Practices. An Ongoing Project by Akram Zaatari, Beirut: Mind the Gap/The Arab Image Foundation 2007, S. 9-15, hier S. 12 f. 174 |  Dabei sind drei der in After They Joined the Military Struggle abgebildeten Männer ebenfalls in Fotos der Studio Practices Ausstellung zu sehen (darunter auch Zarif ). Als Pendant zu After They Joined the Military Struggle schuf Zaatari zudem die Serie Before they joined their military training. Saida. Early 1970s (2006).

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rung kultureller Handlungen“ oder „Verkörperungen von Botschaften“175 betrachtet werden. Es sind die Zusammenstellung, das Arrangement, vor allem aber Zaataris Aneignungsgestus, welcher sie zu seinem Werk erklärt, die sie jedoch auf eine andere Rezeptionsebene heben. Während in Studio Practices die Fedajinporträts im Rahmen der Ausstellung deutlich als Abzüge bzw. Reproduktionen Madanis Negative unter dessen Autorschaft gezeigt wurden, wird der Aneignungsprozess sowie der Übergang der Fotografien Madanis in die AIF-Sammlung in After They Joined the Military Struggle von Zaatari noch einmal gesteigert inszeniert. Standen die Fotografien Madanis in der Studio Practices Ausstellung bereits in enger Verbindung zu Zaataris künstlerischem Schaffen – sie sind Teil einer Ausstellung, die auch als „eine Arbeit“ im Rahmen von Zaataris Werkkomplex Objects of Study aufgefasst werden kann – so akzentuiert Zaatari diese Relation in After They Joined the Military Struggle noch stärker. Ohne den Verweis auf Madanis Autorschaft werden nicht nur dessen Fotografien als Ausstellungsobjekte zum Gegenstand von Zaataris „Studie“: Vielmehr werden dadurch Madani als Fotograf und das Fotografische als Präsentationsform zum Thema gemacht. Zaatari selbst bemerkt dazu: „I am the artist. He is the photographer. He is the subject of my work. I start my work at the same place where he stopped his.“176 Es bleibt dabei allerdings fraglich, wo und wie genau diese Grenze zwischen Madanis und Zaataris Schaffen gezogen werden soll. Offensichtlich hat After They Joined the Military Struggle zwei Autoren (Madani und Zaatari) und zwei Entstehungsdaten (das des Fotos, und das des Kunstwerks). Dennoch bleibt das Verhältnis zwischen Zaataris und Madanis Autorschaften relativ unklar. Ging Zaatari in Studio Practices als Künstlerkurator noch eine stärker dialogisch geprägte Be175 |  Stiegler, Bernd „Performanz als Stategie“, in: Deppner, Martin (Hg.) Fotograf ie im Diskurs performativer Kulturen, Heidelberg: Kehrer 2009, S. 38-51, hier S. 47. Vgl. hierzu auch Wirth, Uwe „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: ders. Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 9-62, hier S. 9. 176 |  Downey, Anthony „Photography as Apparatus. Akram Zaatari in Conversation with Anthony Downey“, in: Ibraaz, Platform 06, January 2013, http:// www.ibraaz.org/interviews/113 [eingesehen am 21.06.16].

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Abbildung 21: Akram Zaatari, After They Joined The Military Struggle, Saida, Early 1970’s, 2006; 16 Silbergelatine-Abzüge, je 30 x 30 cm

ziehung zu dem Fotografen ein, ist After They Joined the Military Struggle hingegen verstärkt „monologisch“ gefasst. Er strebt damit nach mehr Autonomie gegenüber Madani sowie gegenüber seiner Rolle und Funktion als AIF-Mitglied, das forscht, sammelt, präsentiert und vermittelt. Dieses widersprüchliche Vorgehen – erst macht Zaatari Madani „ausfindig“ und exponiert ihn in Studio Practices als Autor, um im nächsten Schritt dessen Souveränität strittig zu machen und seine (bzw. „die“) Kunst über Madanis (bzw. „die“) Fotografie zu stellen – ist dabei nicht unproblematisch. Im Hinblick auf Zaataris Verständnis, dass die Sammlung der AIF (die auch Madanis Archiv enthält) bereits das Resultat des künstlerischen Schaffens ihrer Mitglieder ist, stellt die Aneignung in

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After They Joined the Military Struggle, zumindest was Zaataris eigene künstlerische Praxis betrifft, jedoch durchaus eine konsequente Pointierung dieser Ansicht dar. So veranschaulicht After They Joined the Military Struggle nicht nur die Beziehung zwischen ihm und der AIF (sowie Madani). Die darin angewandte potenzierte Aneignung verkompliziert auch die Relation zwischen Präsentation und Repräsentation und stellt sie gewissermaßen auf den Prüfstand. Liegen der Fotografie und dem Sammeln bereits ein Aneignen zu Grunde, wird dies in After They Joined the Military Struggle durch ein „Aneignen der Aneignung“177 zum Thema gemacht. Durch die Überlagerung oder Verdoppelung eines visuellen Textes mit einem zweiten erfolgt zudem eine Verschiebung von einer rein „sinnlichen Wahrnehmung“ zu einem „Akt des Lesens“, der anstatt des sichtbaren Inhaltes des Kunstwerks und seiner „Gestalt“ den „Rahmen“ seiner Präsentation178 bzw. seine „immateriellen Komponenten“179 in den Vordergrund stellt. Zaataris angewandte Strategie der Aneignung weist damit deutliche Parallelen zur Approriation Art der späten 1970er Jahre, insbesondere zur ersten Generation der sogenannten „re-photographer“180, auf. Sie setzt sich allerdings gleichzeitig wiederum durch ihre Einbettung in Zaataris Werkkomplex Objects of Study und deren inhaltliche Ausrichtung davon ab. Zwar sind im übertragenen Sinne Zaataris „Aneignungen“ in After They Joined the Military Struggle ebenfalls Fotografien von Fotografien: Es handelt sich dabei um Scans der Originalnegative. Auch geht es in der Arbeit implizit, 177 |  Vgl. Crimp, Douglas „Das Aneignen der Aneignung“, in: ders. Über die Ruinen des Museums, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1996, S. 141-151. 178 |  Vgl. Buchloh, Benjamin H.D. „Allegorical Procedures. Appropriation and Montage in Contemporary Art“, in: Alberro, Alexander und Buchmann, Sabeth (Hg.) Art After Conceptural Art, Cambridge MA/London: MIT Press 2006, S. 27-51, hier S. 31. 179 |  Daniels, Alejandro Perdomo Die Verwandlung der Dinge. Zur Ästhetik der Aneignung Entfremdung des Eigenen, Bielefeld: transcript 2012, S. 279. 180 |  Vgl. Welchman, John C. „Introduction. Global Nets: Appropriation and Postmodernity“, in: ders. Art after Appropriation. Essays on Art in the 1990s, London/New York: Routledge 2003, S. 1-64, hier S. 10. Die Begriffe „re-photography“ und „re-photographer“ wurden laut Welchman zuerst überwiegend von Hal Foster verwendet. Vgl. hierzu Foster, Hal Recordings. Art, Spectacle, Cultural Politics, New York: The New Press 1998.

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wie es zum Beispiel bei Sherrie Levines Appropriationen der Fotografien von Walker Evans in After Walker Evans: 1–22 (1981) der Fall ist, um die Erzeugung einer inhaltlichen Ambivalenz und der Formulierung einer Institutionskritik über eine ostentative Reproduktion und die damit evozierte „Absenz des Originals“.181 Dennoch ist dies nicht vordergründig das Thema von After They Joined the Military Struggle. Richtet sich Levines Form der Appropriation in erster Linie gegen eine Kanonisierung von Kunst und ihre Kommodifizierung über eine durch die Moderne geprägte Vorstellung von Originalität,182 Autorschaft und dem darauf beruhenden Wertesystem,183 so bezeichnet Zaataris Aneignungsprozess, den er After They Joined the Military Struggle zu Grunde legt, vielmehr eine selbstkritische Aussage sowie eine Reflexion über das Vorgehen der AIF. Dies bezieht sich vor allem auf die Funktion der AIF, die über ihr Sammeln und Annotieren, ihre Publikations- und Ausstellungsformate sowie an ihren selbstverordneten „Bildungsauftrag“ eine Kanonisierung der Fotografiegeschichte des Nahen Ostens lanciert. Fügte sich Studio Practices noch stärker in dieses Prinzip ein, relativiert Zaatari die historisch instruktive und zuweilen didaktische Position der AIF in After They Joined the Military Struggle, indem er eine Einheit zwischen Madanis Fotografien und seinem Kunstwerk postuliert. Zudem verweist das Zitat Madanis über die Entstehungsumstände der Fedajinbildnisse, das fester Bestandteil von After They Joined the Military Struggle ist, darauf, dass für die Deutung der Arbeit nicht primär wie bei Levine eine 181 |  Crimp, Douglas „Die fotografische Aktivität des Postmodernismus“, in: ders. Über die Ruinen des Museums, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1996, S. 123-140, hier S. 136. 182 |  Rosalind E. Krauss etwa beschreibt die Originalität der Avantgarde wie folgt: „Die Originalität der Avantgarde ist nicht bloß eine Zurückweisung oder Zerstörung der Vergangenheit, sie wird buchstäblich als ein Ursprung begriffen, ein Anfangen vom Nullpunkt, eine Geburt. […] Das Selbst als Ursprung ist die Möglichkeit, eine absolute Unterscheidung zwischen einer de novo erfahrenen Gegenwart und einer traditionsbeladenen Vergangenheit zu treffen. Der Anspruch der Avantgarde ist genau dieser Anspruch auf Originalität.“ Siehe: Krauss, Rosalind E. „Die Originalität der Avantgarde“, in: dies. Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Hamburg: Philo Fine Arts 2000, S. 197-219, hier S. 205. 183 |  Vgl. ebd., S. 204-205.

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durch den Aneignungsgestus ausgelöste Wahrnehmungsverschiebung ausschlaggebend ist, sondern mindestens ebenso, wenn nicht sogar noch mehr, eine Auseinandersetzung mit ihrem Sujet. Ich möchte daher vorschlagen, dass Zaatari die Aneignung in Bezug auf den Bildgegenstand der After They Joined the Military Struggle konstituierenden Fotografien vielmehr als ein performatives Prinzip einsetzt, das Bernd Stiegler auch als „doppelte Inszenierung“184 bezeichnet. Demnach bilden die Fotografien nicht nur eine Inszenierung ab, sondern sie werden zudem mittels ihrer Präsentation in Szene gesetzt.185 Der daraus resultierende „performative Effekt“ der Fotografien, der laut Stiegler „von ihrer Größe, ihrer Hängung in einer Ausstellung, ihrem jeweiligen Kontext, von den ggf. begleitenden Texten und Kommentaren und nicht zuletzt von der Einbettung in den Kunstmarkt“ abhängt,186 veranlasst, dass die Bilder in After They Joined the Military Struggle nicht ausschließlich auf ihren „Wirklichkeitsbezug“ und an eine Autorschaft gebunden zu deuten sind. Denn beides wird ebenso wie die darin „aufgeführten“ Identitäten und Ideologien als konstruiert entlarvt. Als „performative images“187, wie sie Hannah Feldmann bezeichnet, werden Madanis Fotografien bzw. die darin festgehaltene Präsentation der Fedajin von Zaatari zu einer Performanz von Geschichte allegorisiert: Waren die Fedajinporträts ursprünglich das Produkt von Madanis alltäglicher Berufstätigkeit und dienten sie den Fedajin zur Inszenierung ihrer Maskulinität, Kameradschaft, ihres Patriotismus und wurden von ihnen auch als Mittel der Mobilisierung und Rekrutierung weiterer Sympathisanten eingesetzt.188 So werden sie als Teil von Zaataris After They Joined the Military Struggle zu emblematischen Zeitdokumenten mit ikonischen 184 |  Stiegler, Bernd „Performanz als Stategie“, in: Deppner, Martin (Hg.) Fotograf ie im Diskurs performativer Kulturen, Heidelberg: Kehrer 2009, S. 38-51, hier S. 47. 185 |  Ebd. 186 |  Ebd., S. 50. 187 |  Feldman, Hannah und Zaatari, Akram „Mining War. Fragments from a Conversation Already Passed“, in: Art Journal, Vol. 66, No. 2 (Summer, 2007), S. 48-67, hier S. 63. 188 |  Vgl. hierzu Khalili, Laleh Heroes and Martyrs of Palestine. The Politics of National Commemoration, Cambridge/ New York: Cambridge University Press 2006, S. 122 sowie Sayigh, Yezid Y., Armed Struggle and the Search for State.

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Zügen, die retrospektiv betrachtet auch dem Typus des fotografischen Märtyrerbildes entsprechen, wie er spätestens in den 1980er Jahren im Nahen Osten zum privaten Andenken oder zur öffentlichen Ehrerbietung weite Verbreitung fand.189

5. O n P hotography, P eople and M odern Times (2010): W andel und S kepsi s Ähnlich wie After They Joined the Military Struggle ist Zaataris 2010 entstandene Videoarbeit im Format einer Zweikanalprojektion On Photography, People and Modern Times190 kein AIF-Projekt mehr, wie es Palestine before ’48 und zumindest teilweise Objects of Study/ Studio Shehrazade bzw. die Studio Practices-Ausstellung noch waren. Sie ist ein Kunstwerk Zaataris, das von verschiedenen Bildgruppen aus der AIF-Sammlung ausgeht und diese in Verbindung mit narrativen Elementen zu einer Darstellung über – wie es der Titel der Videoarbeit bereits suggeriert – Fotografie und den gesellschaftlichen Wandel im Nahen Osten im Umbruch der Moderne strukturiert.191 Dabei treten die Urheber*innen sowie die The Palestinian National Movement, 1949–1993, Oxford: Oxford University Press 1997, S. 111 und S. 122. 189 |  Vgl. Khalili, Laleh Heroes and Martyrs of Palestine. The Politics of National Commemoration, Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 32 und S. 121 f. 190 |  On Photography, People and Modern Times wurde erstmals 2010 in Form einer aus einem großen Spitscreen und 15 Monitoren bestehenden raumübergreifenden Installation im Rahmen der Ausstellung Told/Untold/Retold, im Mathaf, dem Arab Museum of Modern Art in Doha gezeigt. Ich werde mich im Folgenden auf die Version der Arbeit beschränken, die nur aus dem Splitscreen besteht. 191 |  Zaatari äußert sich dazu selbst wie folgt: „With time, I realized that what draws me is not only individual images, but photographic bodies. For long, I worked at trying to read images as texts, as cultural texts, trying to analyze them while looking particularly at the modern period, how photographs served to diffuse notions related to modern times, not necessarily modernity as a whole.“ Ders. „Unmaking National Borders: Photographic Records as Tools“,

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ursprünglichen Eigentümer*innen dieser Fotos als Protagonist*innen in Videointerviews auf, die Zaatari größtenteils Ende der 1990er Jahre filmte. Die in On Photography, People and Modern Times hergestellte Relation zwischen Fotografie und mündlicher Tradierung dient zunächst ähnlich wie in Palestine before ’48 der Einbettung von Fotografien als historische Quellen in einen größeren Sinnzusammenhang. Die Videoarbeit liefert dadurch nicht nur Auskünfte über die Zeit, in der die Aufnahmen entstanden. Sie vermittelt anhand einer Verhandlung regionsspezifischer fotografischer Darstellungskonventionen ferner verschiedene Aspekte der Fotografiegeschichte des Nahen Ostens. Beleuchtete Zaatari in Palestine before ’48 unter Bezugnahme auf Fotografien und Zeugenberichten die Geschichte Palästinas aus individuellen Gesichtspunkten bzw. weitgehend an persönliche Erinnerungen geknüpft. Und synthetisierte er jene damit in der Ausstellung zu einer klaren politischen Aussage bzw. Absage an den zionistischen Revisionismus, ist On Photography, People and Modern Times hingegen von einer Zwiespältigkeit angesichts einer derartigen idiologisch gesteuerten Konstruktion historischer Narrative geprägt. Es soll demnach untersucht werden, wie Zaatari dieser ambivalenten Haltung gegenüber historiografischen Prozessen, der er bereits tendenziell in After They Joined the Military Struggle Ausdruck verlieh, in der Videoarbeit noch deutlicher in einer immanenten Antinomie postuliert. Abgesehen davon setzt On Photography, People and Modern Times auf formaler und technischer Ebene Fotografie und Video – die beiden maßgeblichen Medien Zaataris künstlerischer Praxis – in ein reziprokes Spannungsfeld. Genauer werden die Pole dieses Spannungsfeldes durch die unbewegten, stummen Bilder der analogen Fotografie einerseits und den audiovisuellen Videos in On Photography, People and Modern Times andererseits repräsentiert, wobei die Videoarbeit wiederum selbst eine mit einer Tonspur unterlegte Stopmotionmontage digitaler Fotografien ist. In Bezug darauf schließt sich somit ferner die Frage danach an, welche Auswirkungen die mediale Verschränkung von Fotografie und Video auf die Wahrnehmung der in der Arbeit gezeigten Fotos hat.

in: Pijarski, Krysztof (Hg.) The Archive as Project – the Poetics and Politics of the (Photo)Archive, Warschau: Fundacja Archeologia Fotografii 2011, S. 227-242, hier S. 228.

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Fotografie und der Prozess des Erinnerns On Photography, People and Modern Times beginnt mit einem Blick in das Innere der Kühlkammer, welche die Sammlung der AIF beherbergt. Auf dem Splitscreen der Videoinstallation erscheint, simultan aus zwei verschiedenen Kamerawinkeln aufgenommen, das Interieur eines beengten dunklen Raumes: Durch einen schmalen Gang fällt der Blick auf Aluminiumregale, in denen sich säuberlich angeordnete und mit Referenznummern versehene graue und weiße Pappkartons, Ringordner, Umschläge und transparente Plastikboxen befinden. Die Sterilität, die diese Ansichten vermitteln, wird durch das konstante Rauschen einer Klimaanlage verstärkt und hinterlässt einen beinahe klaustrophobischen Eindruck [Abb. 22]. Liefert diese Eröffnungsszene zunächst ein beklemmendes Bild, werden die Betrachter*innen mit der nächsten Szene sogleich in einen von natürlichem Tageslicht gefluteten Raum versetzt: Auf der geteilten Leinwand ist nun eine weiße Tischplatte zu sehen, auf dem sich ein Camcorder mit aufgeklapptem Display sowie zwölf parallel zu einem Fernseher aufgereihte MiniDV- Kassetten befinden. Die linke Seite gibt eine Aufsicht dieses Arrangements wieder, die rechte zeigt sie dem Betrachter en face. Auf dem Camcorder, der mit dem Fernseher verbunden ist, wird eine der Kassetten abgespielt. Es lässt sich auf dessen kleinem Display links erkennen, was gleichzeitig auf der rechten Leinwand auf dem Fernsehbildschirm vergrößert erscheint: Ein älterer Herr mit Brille und kurzen braunen Haaren spricht mit ruhiger ernster Stimme. Auf Arabisch erklärt er: „Ich sammle seit 1979 Fotos und habe mich stets gefragt, warum ich das eigentlich mache. […] Wahrscheinlich habe ich keine Antwort darauf. Was ich weiß, ist, dass die Begeisterung für Fotografie mich wie ein Fieber überkam und ich bis heute an dieser Krankheit leide.“192

Währenddessen legt eine Archivarin mit weißen Stoff handschuhen zwei Papierumschläge rechts neben dem Fernseher auf den Tisch. Sie öffnet einen Umschlag nach dem anderen und präsentiert zwei Schwarzweißfotos, die in der Aufsicht des linken Bildschirms von der Kamera erfasst werden. Es handelt sich um Studioporträts von zwei Männern, die jeweils 192 |  Meine Übersetzung.

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in schweren Lederstiefeln, mit Turban, Schnurrbart und geschultertem Gewehr vor einer auf Stoff gemalten Bergkulisse stehen. Dieser Ablauf – eine Person erscheint auf dem Fernsehbildschirm und spricht, während die Archivarin außerhalb des Kaders des Fernsehers Fotografien aus Umschlägen und Schachteln zieht – wird insgesamt elf weitere Male wiederholt. Wie bei dem Clip des ersten Herren, der von seiner Sammelleidenschaft berichtet193, wird im Zuge dessen auch bei den Videointerviews der anderen Protagonist*innen deutlich, dass es sich bei ihnen entweder um Studio- und Hobbyfotograf*innen oder die ursprünglichen Eigentümer*innen der gezeigten Bilder handelt. Sie thematisieren zum Beispiel die Emanzipation von religiösen Vorurteilen gegenüber der Fotografie als einer als häretisch aufgefassten Technik194 oder sie erörtern Schönheitsideale, wie sie in Ländern des Nahen Ostens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschten. Gut ein Drittel der in On Photography, People and Modern Times gezeigten Interviews und Fotografien beziehen sich explizit auf die Geschichte Palästinas und 193 |  Es handelt sich dabei um den libanesischen Fotografiesammler und Autor Mohsen Yammine, der nicht nur der AIF Teile seiner Privatsammlung zur Archivierung und Digitalisierung überließ, sondern auch mit seinem umfangreichen Wissen über die lokale Fotografiegeschichte zu verschiedenen Ausstellungsprojekten und Publikationen der Foundation beitrug. Yammine sowie die anderen Protagonist*innen von On Photography, People and Modern Times bleiben zwar für die Betrachter*innen anonym. Ihre Identitäten können jedoch über die präsentierten Bilder mittels der AIF-Onlinedatenbank und der Tatsache, dass einige der Fotos und Auszüge der Interviews in paraphrasierter und zitierter Form bereits in den begleitenden Publikationen und den Wandtexten von Objects of Study/ Studio Shehrazade und Palestine before ’48 erschienen, in Erfahrung gebracht werden. 194 |  Hashem El Madani erklärt darin etwa bezüglich Zaataris Frage, ob sein Vater, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine religiöse Autorität in Saida gewesen ist, sich jemals negativ gegen seinen Beruf äußerte: „Nein, er hatte nichts dagegen. Er wurde einmal gefragt: Dein Sohn fotografiert – ist das nicht eine Sünde? Er sagte: Wenn man in eine Wasserlache schaut und sein eigenes Antlitz darin ref lektiert sieht: Das ist Fotografie, das fügt niemanden Schaden zu. Wenn du dich in der Wasseroberf läche widerspiegelt betrachtest, ist das keine Sünde.“ (Meine Übersetzung).

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die Palästinenserfrage, wobei die meisten dieser Fotos sowie der von den Protagonist*innen in den entsprechenden Videoaufnahmen gemachten Aussagen bereits in Palestine before ’48 erschienen. So schildert im Verlauf von On Photography, People and Modern Times Aida Krikorian Kawar ihre Erinnerungen an das Studio ihres Vaters in Jerusalem und erwähnt die Requisiten, mit denen es ausgestattet war [Abb. 23]. Sie erzählt, dass es unter den Städter*innen sehr beliebt gewesen sei, sich in traditioneller Bauern- und Beduinenkleidung porträtieren zu lassen. Ihr Vater hatte zu diesem Zweck zahlreiche altertümliche Kopf bedeckungen und regionale Trachten sowohl für Frauen als auch für Männer gesammelt. Das Studio bestand fast vollständig aus Glas und es gab Vorhänge, mit denen ihr Vater den Lichteinfall für die Beleuchtung seiner Kunden regulieren konnte. Erst in den 1940er Jahren – gegen Ende seiner Karriere – begann er, elektrische Scheinwerfer zu benutzen. Der Amateurfotograf Hisham Abdel Hadi zeigt Fotos von palästinensischen Landschaften, die er während seiner Spritztouren in seinem Sportwagen machte. Er spricht über die damalige Freiheit, bevor die heutigen Grenzen und politischen Konflikte existierten. Shahwar Hegazi erzählt von ihrem Besuch am Suezkanal, nachdem 1973 das ägyptische Militär die BarLev-Linie überwunden hatte. Samia Mahmoud schildert die Geschichte ihres Sohnes, der das Haus seines Großvaters in Ramla im jetzigen Israel besuchte und feststellen musste, dass dessen Anblick, an den er sich noch aus seiner Kindheit als sehr beeindruckend erinnern konnte, mittlerweile sehr frustrierend war. Die Videosequenz von Samia Sukkar Salfiti zeigt die zuvor im Wandtext von Palestine before ’48 beschriebene Szene, in der sie ihren Söhnen Fotografien ihrer Großeltern aus Jaffa erläutert. Im Unterschied zur Ausstellung und ihrem Wandtext hat die audiovisuelle Verbindung zwischen den Fotos und den Aussagen ihrer ursprünglichen Eigentümer*innen in On Photography, People and Modern Times jedoch zur Folge, dass der Blick auf die Fotografien nicht mehr vorrangig durch die geteilten Erinnerungen im Rahmen eines historischen Narrativs geleitet wird. Vielmehr wird von Zaatari in der Videoarbeit der Prozess des Erinnerns, Tradierens, aber auch die (Selbst-)Darstellung der Interviewten195 und deren affektive Bindung an einzelne Bilder heraus195 |  Der Kunsthistoriker Christoph Lichtin betrachtet das Interview daher auch „als theatralische Inszenierung, in der der Interviewte zugleich Hauptfigur und Regisseur seiner eigenen biografischen Erzählung ist“. Vgl. Lichtin,

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Abbildung 22: Akram Zaatari, On Photography, People and Modern Times, 2010; Zweikanal-Videoinstallation (Farbe/Ton), 38:43 min (Videostill)

Abbildung 23: Akram Zaatari, On Photography, People and Modern Times, 2010; Zweikanal-Videoinstallation (Farbe/Ton), 38:43 min (Videostill)

Abbildung 24: Akram Zaatari, On Photography, People and Modern Times, 2010; Zweikanal-Videoinstallation (Farbe/Ton), 38:43 min (Videostill)

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gestellt. Dies geschieht in erster Linie durch den Kontrast, der durch die Darstellung erzeugt wird, wie unterschiedlich die Protagonist*innen der Videointerviews und die Archivarin außerhalb des Kaders des Fernsehers mit den Fotos umgehen. Während erstere durch Alben blättern, Fotografien in den Händen halten und auf bestimmte Bilder zeigen, packt die Archivarin kontinuierlich Umschläge, Ordner und Schachteln aus, um sukzessive die Fotografien, auf die sich die Protagonisten beziehen, behutsam neben dem Fernseher zu präsentieren [Abb. 24]. Dabei verweisen ihre Handschuhe, die Umschläge und Archivboxen, im Gegensatz zum leichtfertigen Umgang der Protagonist*innen mit ihren Fotos in den Videointerviews, auf die konservatorischen Bedingungen, unter denen die Bilder als Teil der AIF-Sammlung betrachtet und gehandhabt werden.

Zwei Leben, zwei Welten: Das Prisma individueller Erinnerungen Tatsächlich geht es Zaatari in On Photography, People and Modern Times darum, die „zwei Leben“ und „zwei Welten“, die die Fotografien in der AIF-Sammlung „erfuhren“, gegenüberzustellen.196 Rückt in dieser Gegenüberstellung zunächst die Materialität der Fotos in den Vordergrund, befragt On Photography, People and Modern Times jedoch vor allem den sich mit dem Übergang der Fotografien aus ihrem ursprünglich privaten Kontext in die AIF-Sammlung vollziehenden Bedeutungswandel. Sie werden darin gleichsam als private Memorabilien mit Kultwert und als Artefakte mit Ausstellungswert bzw. als „Forschungsgegenstände“ und „historische Dokumente“ postuliert. In Verbindung mit den Zeugenberichten wird mittels dieser Gegenüberstellung zudem die Rolle individueller Erinnerungen innerhalb eines kollektiven Gedächtnisses thematisiert. Zaatari macht auf diese Weise deutlich, „wie die abstrakte und kollektive Dimension […] die wir“, so Aleida Assmann „„Geschichte“ nennen, sich

Christoph Das Künstlerinterview. Analyse eines Kunstprodukts, Bern/Berlin: Peter Lang 2004, S. 49. 196 |  Downey, Anthony „Photography as Apparatus. Akram Zaatari in Conversation with Anthony Downey“, in: Ibraaz, Platform 06, January 2013, http:// www.ibraaz.org/interviews/113 [eingesehen am 21.06.16].

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im Prisma individueller Erinnerungen und Lebensläufe bricht“.197 Die „abstrakte Dimension“ der „Geschichte“ wird dabei von ihm durch den strengen Bildauf bau der An- bzw. Aufsicht auf den beiden Screens von On Photography, People and Modern Times hervorgehoben. Die gezeigten Gegenstände im Raum und das statische Arrangement auf dem Tisch, die eine geradezu schematische Linienführung erzeugen, bewirken eine mediale Verschachtelung von Fotografie und Video und verkehren diese gleichzeitig in eine rasterartige Fläche. Außerdem bewirkt die Gegenüberstellung und das Ineinandergreifen der abgebildeten „Realitäten“ in den Fotografien und den Videos ein simultanes Sich-Entfalten und Ineinanderkippen von Bild- und Zeiträumen. Das Szenische dieses Settings, welches entfernt auch an das Modell einer Theaterbühne erinnert, auf dem die Protagonist*innen in Form medialisierter Abbilder in Fotografien und Videos erscheinen, wird ferner durch den Einsatz von Musik gesteigert. So ertönt gegen Ende von On Photography, People and Modern Times eine stark von Delay- und Reverbeffekten gedehnte Klavierkomposition, die gepaart mit Straßengeräuschen sich mit einer melancholischen Schwere über die Tonspur legt und den letzten Interviewten, den armenischen Studiofotografen Van Leo, verstummen lässt. Der Affekt, auf den die Musik abzielt, steht dabei einerseits im Kontrast zur Sterilität und dem mechanischen Rauschen der Kühlkammer zu Beginn der Videoarbeit, den darin im weiteren Verlauf gezeigten Archivmaterialien und der technischen Apparatur. Andererseits wird die emotionale Bindung der Eigentümer*innen und Urheber*innen an ihre Fotos dadurch wesentlich betont. Es entsteht somit der Eindruck, als wolle Zaatari zeigen, dass die Fotografien mit ihrem Erhalt und der künstlerischen Reanimation in ihrem „zweiten Leben“ nicht nur ihren ideellen Wert, sondern ihre eigentliche Bedeutung verloren haben. Das von „Photography“ und „Modern Times“ flankierte „People“ in der Aufzählung des Titels der Videoarbeit nimmt damit auch in seiner Thematik eine zentrale Stellung ein.

197 |  Assmann, Aleida Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck 2003, S. 365.

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Verfremdung und Störung: Ein intermediales Gefüge Darüber hinaus setzt sich On Photography, People and Modern Times aber auch mit den Übertragungsprozessen, welche die Reanimation bzw. Aktualisierung der Fotos ermöglichen, auseinander, d.h. mit den Methoden und der Technik, welche ihre Konservierung, Ansicht, Verbreitung und Reevaluierung innerhalb der AIF-Struktur gewährleisten. Die Kühlkammer, die Archivmaterialien, die audiovisuelle Aufzeichnung als Grundlage für die Annotation einzelner Fotografien und die Aufsicht auf die Fotoobjekte, die einem Abfotografieren gleicht, verweisen auf die Tätigkeit der Foundation bzw. auf die Prämissen ihrer Mission: die Bewahrung, Ordnung, Digitalisierung und „Sichtbarmachung“ von historischen Fotos. Neben der Fotografie, die in On Photography, People and Modern Times in Form historischer Prints, Negative und Alben erscheint, nimmt allerdings auch das Medium Video, in Form des Sony Handycam Camcorders und der MiniDV-Kassetten, die nach und nach sichtbar auf dem Fernsehmonitor wiedergegeben werden, eine ebenso prominente Rolle ein. Dabei generiert die Videoarbeit eine filmische Beobachtungsperspektive auf beide Medien und macht sie „historisch beschreibbar“.198 Die Differenz zwischen bewegtem und unbewegtem Bild, Fotografie und Videofilm wird allerdings aufgrund der Tatsache, dass es sich bei On Photography, People and Modern Times um eine Stopmotionmontage digitaler Fotografien handelt, sogleich spielerisch wieder aufgehoben und die „Vermessungen von Abstand und Nähe zwischen den dergestalt relationierten Medien“199, auf die eine solche medienreflexive Relation prinzipiell abzuzielen scheint, verunklärt. Der reflexive Bogen, der in On Photography, People and Modern Times gespannt wird, manifestiert sich schließlich als ein intermediales Gefüge, in dem Mediengrenzen rigoros unterlaufen werden: Das Video macht die Fotografie zum Thema, die Fotografie mittels der Stopmotionmontage das Video. Dieses Spannungsfeld impliziert daher „einen Verzicht auf Einzelmedienontologien und betont demgegenüber, dass sich in intermedialen Konstellationen Medien immer nur 198 |  Vgl. Engell, Lorenz und Siegert, Bernhard „Editorial“ in: Archiv für Mediengeschichte I, 2002, S. 5-8, hier S. 8. 199 |  Kirchmann, Kay und Ruchartz, Jens „Einleitung: Wie Filme Medien beobachten. Zur kinematografischen Konstruktion von Medialität“, in: dies. (Hg.) Medienref lexion im Film: Ein Handbuch, Bielefeld: transcript 2014, S. 9.

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bildhaft, nie aber materiell konkretisieren.“200 Der Medienwissenschafler Jens Schröter verdeutlicht diesen Sachverhalt anhand des Beispiels, dass die filmische Darstellung einer oder vieler Fotografien zwar zeigen kann, „wie eine Fotografie alltäglich benutzt wird.“ Ihm zufolge sind „die alltäglichen Verwendungen von Medien“ in der Regel allerdings „gerade dadurch ausgezeichnet, dass die Medialität des Mediums sich verbirgt, um Inhalte zu kommunizieren.“ Daraus ergibt sich, dass nur „durch irgendeine Art von Verfremdung – oder eben Störung – die Medialität des repräsentierten Mediums eigens ausgestellt werden [kann]“.201 In On Photography, People and Modern Times findet sich solcher Art „Verfremdung“ oder „Störung“, die reziprok auf die medialen Eigenschaften der Fotografie und des Videofilms verweist, insbesondere an zwei Stellen: erstens in den Unschärfen, die durch die Bewegungen der Archivarin in den einzelnen Frames erzeugt werden; und zweitens in der ellipsenhaften Syntax der Stopmotionmontage, welche nicht nur eine ruckartige Dynamik des filmischen Ablaufs sondern auch „Leerstellen“ im Video generiert. Zaatari vermittelt in On Photography, People and Modern Times somit „ein Wissen über das repräsentierte und ein reflexives Wissen über das repräsentierende Medium“202 und legt die Mittel seines eigenen künstlerischen Schaffens dar. Daran gekoppelt wirft On Photography, People and Modern Times einen medienarchäologischen Blick 203 zurück auf verschiedene Techniken der Bildproduktion. Die darin gezeigten Schwarzweißfotos zeugen von einer analogen Technik, die im digitalen Zeitalter weitgehend obsolet geworden ist, die Videointerviews von einem Format der videografischen Aufzeichnung, das bei der Entstehung von On Photography, People and Modern Times bereits veraltet war. Der 200 |  Scheid, Torsten Fotograf ie als Metapher. Zur Konzeption des Fotograf ischen im Film, Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms 2005, S. 24. 201 |  Schröter, Jens „Das ur-intermediale Netzwerk und die (Neu-)Erfindung des Mediums im (digitalen) Modernismus. Ein Versuch“, in: ders. und Paech, Joachim (Hg.) Intermedialität analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen, München: Wilhelm Fink 2008, S. 579-601, hier S. 589. 202 |  Ebd., S. 590. 203 |  Zum Begriff der Medienarchäolgie siehe etwa: Zielinski, Siegfried Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens, Reinbek: Rowohlt 2002 sowie Parikka, Jussi What Is Media Archaeology?, Cambridge/ Malden: Polity Press 2012.

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Wandel der Zeit, der sich in den verschiedenen Bildräumen – den Fotografien (die zwischen 1860 und 1960 entstanden), den Videos im Video (welche Ende der 1990er Jahre aufgenommen wurden) und dem digitalen Video bzw. der Stopmotionmontage (die 2010 entstand) – ablesen lässt, ist demnach in der Evolution der Technik seiner (audio-)visuellen Erfassung eingeschrieben. Das bedeutet, dass auch die Videointerviews von einer historischen Perspektive eingeholt wurden und Zaatari sie dementsprechend wie die Fotografien aus der AIF-Sammlung gleichermaßen als Forschungsobjekte präsentiert. On Photography, People and Modern Times bietet also erstens einen Einblick in die konservatorischen Methoden der AIF sowie zweitens einen Rückblick auf Zaataris Wirken innerhalb der AIF und deren Bedeutung als Repositorium und Organisation, die sich für den Erhalt und das „Fortleben“ von Fotografie einsetzt, um darüber (foto-)historische Zusammenhänge aufzudecken und zu erkunden. On Photography, People and Modern Times ist einerseits eine Arbeit über das Sammeln und Konservieren und die damit verbundene Erschließung eines „zweiten Lebens“ oder „einer zweiten Welt“ von Fotografien. Anderseits macht Zaatari darin kenntlich, welche Konsequenzen sich daraus für die Präsentation bzw. für die Betrachtung der Fotos ergeben. In diesem Zusammenhang illustrieren die in der Videoarbeit dargestellte repetitive Abfolge visueller Signifikanten des Bewahrens das auf eine erneute Sichtbarmachung und Diskursivierung abzielende Wiederholungsprinzip, auf dem die Mission der AIF und Zaataris Auseinandersetzung mit historischen Fotografien basieren.204 Das Gleiche gilt für das abermalige Zeigen einzelner Bilder, die zuvor bereits im Rahmen von Palestine before ’48 präsentiert wurden sowie für das der Stopmotionmontage zugrundeliegende Abfotografieren und die intermediale Struktur der Videoarbeit. On Photography, People and Modern Times hebt damit die durch die AIF und Zaatari begünstigte Zirkulation der Fotos aus der AIF-Sammlung hervor. Diese Zirkulation trägt nicht nur zur Kanonisierung und der Formierung bzw. Festigung

204 |  Zaatari setzt das Prinzip der Wiederholung bereits in Objects of Study/ Studio Shehrazade ostentativ als künstlerisches Mittel etwa mit dem seriellen Arrangement der Porträts der palästinensischen Flüchtlingskinder sowie im Fall der „doppelten Inszenierung“ der Fedajinbilder in After They Joined the Military Struggle ein.

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eines kollektiven Bildgedächtnisses205 bei. Sie etabliert vor allem auch ein Gegenbild zur westlich dominierten Fotografiegeschichte.

Reinen Tisch machen: Overload und Kontemplation Dennoch werden in On Photography, People and Modern Times mit der Betonung der affektiven Bindung seiner Protagonist*innen an einzelne Bilder, die Funktion der AIF bzw. die Beweggründe ihres Sammelns von Zaatari mit einer gewissen Skepsis betrachtet. Einer Skepsis, welcher der Kunsthistoriker Matthias Winzen auch in seiner Annahme davon Ausdruck verlieh, dass es grundsätzlich ungewiss ist, ob ein institutionalisiertes Sammeln und Ausstellen, wie es die AIF betreibt, Identität „gegen den permanent verändernden Fluss der Zeit“ analog zum privaten Fotoalbum oder Tagebuch, „sicherstellen“ kann.206 Denn beim Sammeln geht, so Winzen, eine „Beschädigung oder Beeinträchtigung des zu sammelnden Gegenstands“ immer damit einher, „dass er aus seinem vorherigen Kontext […] gerissen wird.“ Er schreibt dem Sammeln demzufolge auch eine „Paradoxie der bewahrenden Zerstörung“ zu.207 Somit macht Zaatari in On Photography, People and Modern Times evident, wie sich dieses Paradox auf die Fotografien der AIF-Sammlung vor allem hinsichtlich ihrer Bedeutung als Träger persönlicher Erinnerungen und der damit verbundenen Affekte auswirkt. Schließlich können insbesondere letztere – auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass die Fotografien nach ihrem Übergang in die AIF-Sammlung bzw. im Zuge ihrer kuratorischen und künstlerischen Rekontextualisierung wiederum Affekte bei „unbefange205 |  So hat Zaataris Auseinandersetzung mit Madanis Archiv beispielsweise bewirkt, dass Madani zu einem prominenten Protagonisten der Fotografiegeschichte des Nahen Ostens avancierte und seine Porträts – insbesondere die der Fedajin, die Teil der Sammlungen renommierter Museen wie dem Tate Modern in Londen und dem Centre Pompidou in Paris sind – einen fast ikonischen Status erhielten. 206 |  Winzen, Matthias „Sammeln – so selbstverständlich, so paradox“, in: ders.; Schaffner, Ingrid et al. Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst [Ausst.-Kat], München: Prestel 1998, S. 10-19, hier S. 10. 207 |  Ebd., S. 12.

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nen“ Betrachter*innen auslösen – nur ansatzweise übertragen und vermittelt werden. Zaataris Skepsis beschränkt sich jedoch nicht auf institutionelle Sammlungs- und damit einhergehende Historisierungsprozesse. Sie steigert sich, so legt zumindest das Ende von On Photography, People and Modern Times nahe, in einen regelrechten Medienpessimismus hinein, wie er bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Siegfried Kracauer in Bezug auf die Fotografie geäußert wurde. Für Kracauer hängt „die Fähigkeit des Invididuums zur Konstruktion von Gedächtnisbildern von der unmittelbaren Beziehung zu materiellen und kognitiven Objekten“ ab und er vertritt die Auffassung, „dass die Allgegenwart des fotografischen Bildes Kognitions- und Erinnerungsvorgänge überhaupt zunichte machen.“208 Böte die Fotografie sich, so bemerkt Kracauer, „dem Gedächtnis als Stütze an, so müßte das Gedächtnis ihre Auswahl bestimmen. Doch die Flut der Fotos fegt seine Dämme hinweg. So gewaltig ist der Ansturm der Bilderkollektionen, daß er das vielleicht vorhandene Bewußtsein entscheidender Züge zu vernichten droht.“209

Aus diesem Grund besteht für ihn in der „Wendung zur Fotografie“ auch ein Risiko. Er bezeichnet sie demenstprechend als „das Vabanque-Spiel der Geschichte.“ 210 Die Schlussszene von On Photography, People and Modern Times scheint diesen Pessismus auch im Hinblick auf die Remediatisierung der Fotografie und die mnemonische Funktion audiovisueller Medien allgemein zu unterstreichen: Nach und nach verschwinden alle Gegenstände von der Tischplatte – erst die Fotografien, daraufhin gemeinsam mit den MiniDV-Kassetten der Camcorder und zuletzt der Fernsehapparat – bis nur noch der leere Tisch in Auf- und Ansicht auf den beiden Hälften des Splitscreens zu sehen ist. Zaatari gibt mit dieser abschließenden Geste des „Tabula rasa“ zu bedenken, wie visuelle Medien die Erinnerung an vergangene Ereignisse maßgeblich beeinflussen, aber 208 |  Buchloh, Benjamin „Gerhard Richters Atlas. Das anomische Archiv“, in: Wolf, Herta (Hg.) Paradigma Fotograf ie. Fotokritik am Ende des fotograf ischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 399-427, hier S. 414 f. 209 |  Kracauer, Siegfried „Die Fotografie“, in: Kemp, Wolfgang (Hg.) Theorie der Fotografie II, 1912-1945, München: Schirmer/Mosel 1999, S. 101-112, hier. S. 109. 210 |  Ebd., S. 111.

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auch wie sie dadurch potentiell zu einem kollektiven Vergessen beisteuern. So haben heutzutage vor allem digitale Medien einen wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise, wie unsere individuellen und kollektiven Vorstellungen von Vergangenheit geformt werden. Zwar dient auch die Digitalität unserem beständig währenden Begehren, Zeit, Erinnerung und Traumata zu rationalisieren.211 Mit dem Zeitalter der Digitaliät zeichnet sich allerdings in dieser Hinsicht ein neues Problem ab: „the self-fulfilling prophecy of information overload, speed and connectivity.“212 Denn das Haushalten mit diesen Faktoren stellt die Menschheit vor immer größere Herausforderungen bezüglich eines dauerhaften Speicherns und stetigen Transfers von Daten: „Keeping track, recording, retrieving, stockpiling, archiving, backing-up and saving are deferring one of our greatest fears of this century: information loss.“ 213 Die von Zaatari in On Photography, People and Modern Times ausgeführte „Tabula rasa“ scheint nicht nur auf diese Gefahr hinzudeuten, auf die bereits Kracauer gut 100 Jahre zuvor aufmerksam machte. Sie kann gleichermaßen – und das insbesondere in Bezug auf die konfliktgeladene Geschichte des Nahen Ostens und die Rolle, die Palästina darin spielt – als Ausdruck des Verlangens danach gelesen werden, angesichts des Overloads an Informationen und Eindrücken eine nachhaltigere Form des Erinnerns, der Tradierung und damit letztlich eines Austauschs und Zusammenlebens zu kontemplieren.

211 |  Garde-Hansen, Joanne; Hoskins, Andrew und Reading, Anna „Introduction“, in: dies. (Hg.) Save As... Digital Memories, Hampshire/New York: Palgrave Macmillan 2009, S. 1-21, hier S. 4. Vgl. dazu auch Broderick, Mick and Gibson, Mark „Mourning, Monomyth and Memorabilia“, in: Heller, Dana (Hg.) The Selling of 9/11, New York: Palgrave Macmillan 2005, S. 200–220, hier S. 207. 212 |  Garde-Hansen, Joanne; Hoskins, Andrew und Reading, Anna „Introduction“, in: dies. (Hg.) Save As... Digital Memories, Hampshire/New York: Palgrave Macmillan 2009, S. 1-21, hier S. 5. 213 |  Ebd.

II. Evidenz und Rhetorik

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„Wichtig ist“, so betont Roland Barthes, „daß das fotografische Bild eine bestätigende Kraft besitzt und daß die Zeugenschaft der PHOTOGRAPHIE sich nicht auf das Objekt, sondern auf die Zeit bezieht.“1 In Anbetracht ihrer Fähigkeit, Gegenstände als eine „Emanation des vergangenen Wirklichen“ zu erfassen, gibt er ihrem „Bestätigungsvermögen“ demnach Vorrang gegenüber ihrer „Fähigkeit der Wiedergabe“.2 Ging Barthes zuvor in seinem Aufsatz „Die Photographie als Botschaft“ noch primär davon aus, dass Fotografie durch ihre Indexikalität Bilder ohne Code produziere,3 macht er in die Die Helle Kammer deutlicher, dass dies nicht ausschließlich der Fall ist. Er wendet ein, dass Codes „selbstverständlich ihre Lektüre steuern“. Dennoch beharrt er darauf, dass das analogische Wesen der Fotografie „nicht von der Hand“ zu weisen sei.4 Diese Evidenz, welche auf dem fotografischen Grundprinzip der indexikalischen „REFERENZ“5 beruht, das Da-Gewesensein der oder des Abgebildeten zu bezeugen – ein Vorgang aus dem Barthes sein berühmtes „Noema“ des „Ça a été“6 ableitet 1 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 99. 2 |  Ebd. 3 |  Vgl. Barthes, Roland „Die Photographie als Botschaft (1961)“, in: ders. Auge in Auge. Kleine Schriften zur Fotografie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S. 77-92. 4 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 99. 5 |  Ebd., S. 87. 6 |  In der deutschen Ausgabe von Die Helle Kammer wurde „ça a été“ mit „Esist-so-gewesen“ übersetzt. Katharina Sykora weißt darauf hin, dass der Einschub des „so“ „die mimetische Funktion der Ähnlichkeit unterstreicht“. „Barthes“, so Sykora, „ging es jedoch um den indexikalischen Zeigegestus des „das

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II. Evidenz und Rhetorik

– ist seines Erachtens „so mächtig“ und ausschlaggebend dafür, dass sich die Fotografie nicht vollends „ergründen“ und rationalisieren lässt.7 Das schließt zwar auch die Reduktion eines Fotos auf einen Informationsgehalt und eine Bedeutung ein – Barthes zufolge ist das Verhältnis zwischen Fotografie und Konnotation keineswegs von einer einseitigen Bewegung bestimmt. Er gibt jedoch zu bedenken, dass im fotografischen Bild „der Gegenstand als ganzer zu erkennen und sein Anblick gewiß [ist]“. Und diese Gewissheit habe somit auch einen maßgeblichen Einfluss auf die Bedeutung einer Fotografie.8 Die in diesem Kapitel vorgestellten Werke von Lamia Joreige und Walid Raad bzw. der Atlas Group setzen sich unter unterschiedlichen Prämissen mit der von Barthes so vehement verteidigten Evidenz oder Zeugenschaft der Fotografie auseinander. Mittels der Verwendung historischer Fotografien, die wiederum von divergenten künstlerischen Ansätzen und dem Einsatz verschiedener Medien geprägt sind, stellen Joreige und Raad die Fotografie dabei vor allem auch in Bezug zum Text, der Barthes zufolge konträr zum fotografischen Bild „das Objekt in undeutlicher, anfechtbarer Weise“ darbietet und somit zum Misstrauen auffordert.9 Gewissheit und Misstrauen sind der Bartheschen Lesart zufolge die beiden maßgeblichen Größen in den Werken der beiden Künstler*innen. Die AIF und Zaatari haben, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, den Stellenwert der Fotografie als historischem Dokument bzw. als Mittel einer „historical imagination“ stark gemacht. Die Beweiskraft der Fotografie wird sowohl im Zuge der Annotation durch die AIF und ihrer archivarischen Methoden wie auch durch die kuratorische und künstlerische Praxis Zaataris vornehmlich im Verbund mit Aussagen von Zeitzeugen gefestigt. Fotografie und Text stehen in diesem Zusammenhang größtenteils in einem gegenseitigen Bestätigungsgefüge, bedingen einander und beziehen sich aufeinander. Zwar verweist Zaatari im Zuge seiner Aneignungsstrategien in Objects of Study/ Studio Shehrazade und der dezidierda“, bei dem der semantische Gehalt dessen, was die Fotografie zeigt, zunächst sekundär ist“. Siehe: Sykora, Katharina Die Tode der Fotograf ie II. Tod, Theorie und Fotokunst, München: Wilhelm Fink 2015, Anm. 5, S. 429. 7 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 87 und S.117. 8 |  Ebd., S.117. 9 |  Ebd.

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ten Auseinandersetzung mit Konservierungs- und Tradierungsprozessen in On Photography, People and Modern Times auch auf den Einfluss der institutionellen und künstlerischen Rhetoriken und deren Auswirkungen auf die Betrachtung der von der AIF und ihm präsentierten Fotos. Die Evidenz der Fotografie, d.h. die durch ihre Referenzialität vermittelte Gewissheit, bleibt in den Präsentationsmodi der AIF wie auch in Zaataris Kunstwerken jedoch weitgehend unangefochten. In den Werken von Lamia Joreige und Walid Raad zeichnen sich diesbezüglich hingegen deutliche Verschiebungen ab. Geht Joreige in ihrem Video A Journey (2006) zunächst ähnlich wie Zaatari in Bezug auf mündliche Zeitzeugenberichte von einer visuellen Evidenz der Fotografie aus, so beugt sie diese teilweise durch das in dem Video dargelegte Narrativ: Historische Fotografien erscheinen in A Journey nicht nur zur Konsolidierung und Authentifizierung von Fakten, sondern auch als Projektionsflächen für subjektive Assoziationen und Erinnerungen. Auch Raad nimmt in seiner Fotoserie We decided we let them say, „we are convinced“ twice (2002) sowie seiner Performance I feel a great desire to meet the masses once again (2005) den Zeitzeugenbericht, hier in schriftlicher bzw. mündlich vorgetragener Form, zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit der fotografischen Beweiskraft. Anders als Joreige spielt er dabei bewusst mit dem Misstrauen, das Barthes dem Text gegenüber ausspricht, und überträgt es gezielt auf die Fotografie. Durch die Vermengung von Fakten und Fiktion hinterfragt er nicht nur die Objektivität der Fotografie als historische Quelle, sondern allgemein den Anspruch auf „Wahrheit“ und Authentizität offizieller Geschichtsschreibung. Sowohl Joreige als auch Raad thematisieren in ihren genannten Werken vordergründig verschiedene Ereignisse, die sich während des libanesischen Bürgerkrieges (1975-1990) zugetragen haben, wobei diese wiederum untrennbar mit der Geschichte Palästinas verknüpft sind.10 So gilt als Auslöser für die erste Phase des Krieges ein offener Schusswechsel 10 |  Lamia Joreige und Walid Raad gehören beide derselben Generation libanesischer Künstler*innen wie Akram Zaatari an, die von Sarah Rogers als libanesische „postwar generation“ bezeichnet wurde. Rogers fasst unter diesem Begriff jene Künstler*innen, die sich primär mit dem Verhältnis zwischen Erinnerung, Trauma, Geschichtsschreibung und den Ereignissen während des libanesischen Bürgerkrieges auseinandersetzen. Vgl. hierzu Rogers, Sarah „Out of History. Postwar Art in Beirut“, in: Art Journal, Volume 66, Issue 2, 2007, S. 8-20 sowie

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II. Evidenz und Rhetorik

zwischen der PLO und Partisanen der libanesischen maronitisch-christlichen Kata‘ib Partei11 in Beirut, der am 13. April 1975 in einem durch Kata‘ib Kämpfer verübten Attentat auf einen PLO Bus gipfelte, bei dem 27 Palästinenser*innen ums Leben kamen.12 Beirut war zu diesem Zeitpunkt, so der Historiker und Professor für Arab und Middle Eastern Studies Rashid Khalidi, für viele Palästinenser*innen längst „zu einem zweiten zu Hause“ geworden: „Among them were P.L.O. combatants, cadres, and leaders who had been obliged to move to Lebanon after the P.L.O.’s expulsion from Jordan in 1970-71 and had established or begun their families there. In this cosmopolitan city they joined those of their countrymen who had first arrived in Lebanon in 1948-1949 as refugees, as well as political exiles from all over the region who had made Beirut their home. There were many others there who were there by choice. Over the years, members of the growing Palestinian bourgeoisie were drawn to the city’s free political economic environment. Many managed to obtain Lebanese citizenship. The Lebanese dies. Postwar Art and the Historical Roots of Beirut‘s Cosmopolitanism, Dissertation, Massachusetts Institute of Technology, Dept. of Architecture 2008. 11 |  Die nationalistische Kata‘ib Partei wurde 1936 von Pierre Gemayel nach dem Vorbild der faschistischen Bewegung Falange in Spanien gegründet. Demnach werden die Mitglieder und Anhänger der Partei auch als Phalangisten bezeichnet. Nach dem Attentat auf dem Bus kam es zu zahlreichen Kämpfen zwischen dem militärischen Zweig dieser Partei, den sogenannten Kataeb Regulatory Forces oder Forces Regulatoires du Kataeb und den palästinensischen Fedajin und ihren linken muslimischen Verbündeten der Libanesischen Nationalbewegung, die zu mehr als 300 Toten in nur drei Tagen führten. Die Kataeb Regulatory Forces wurde später unter der Führung Pierre Gemayles Sohn, Bashir Gemayel, den Lebanon Forces unterstellt: einer Koalition verschiedener rechtsgerichteter christlicher Milizen, die sich später mit dem israelischen Militär verbündete. Vgl. hierzu etwa Fisk, Robert Pity the Nation. Lebanon at War, Oxford/ New York: Oxford University Press 2001 und Harris, William Faces of Lebanon. Sects, Wars, and Global Extensions, New Jersey: Markus Wiener 1997. 12 |  Vgl. hierzu Hirst, David Beware of Small States. Lebanon, Battleground of the Middle East, New York: Nation Books 2010, S. 99; Khalaf, Samir Civil and Uncivil Violence in Lebanon. A History of the Internationalization of Human Contact, New York: Columbia University Press 2002, S. 228 f. und Fisk, Robert Pity the Nation. Lebanon at War, Oxford/New York: Oxford University Press 2001, S. 78.

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capital also attracted thousands of young Palestinians from the occupied territories, Jordan, the Gulf, who came to study at the American University, Beirut University College, the Lebanese University, or the Arab University of Beirut […].“13

Insbesondere das Fakhini Viertel im Westteil der Stadt war seit den 1970er Jahren ein politisches, intellektuelles, finanzielles, administratives und geistliches Zentrum der Palästinenser*innen: „the closest thing they had to a […] capital since 1948.“14 Dort befanden sich auch die meisten Einrichtungen und Verwaltungsstellen der PLO. Diese Infrastruktur war für die Palästinenser*innen zunächst nicht nur in praktischer und logistischer Hinsicht der Garant für einen relativ autonomen Status. Sie war auch von großer symbolischer Bedeutung, indem sie einen palästinensischen Zusammenhalt stärkte.15 Nach dem Sechstagekrieg von 1967 konnten sich die Palästinenser*innen und die PLO, zudem der Sympathie und Unterstützung des Großteils der libanesischen Bevölkerung sicher sein.16 Und das zunächst auch trotz der Tatsache, dass Israel kurz darauf ab 1968 beständig Militäreinsätze gegen die PLO auf libanesischem Boden ausführte.17 Der zunehmende Einfluss der Befreiungsorganisation brachte allerdings schnell schwerwiegende Probleme mit sich und verursachte einen Wandel in der Einstellung der libanesischen Be13 |  Khalidi, Rashid Under Siege. P.L.O. Decisionmaking During the 1982 War, New York: Columbia University Press 1986, S. 100-101. 14 |  Ebd., S. 101. 15 |  Ebd., S. 100. 16 |  Khalidi zufolge basierte diese Unterstützung auf der zu dieser Zeit verbreiteten Annahme, dass die Einf lussnahme der PLO ein willkommenes Mittel war, um die Vormachtstellung der Maronit*innen einzuschränken. Darüber hinaus gab es unter der muslimischen Bevölkerung und den Linken des Libanons eine starke Sympathie für die palästinensischen Flüchtlinge und Freiheitskämpfer*innen. Viele Libanes*innen und Palästinenser*innen heirateten untereinander, so dass zunächst Familienbände, später aber vor allem der konstante Druck Israels gegen die Palästinenser*innen und die libanesische Bevölkerung die Grundlage für eine feste, solidarische Beziehung bildeten. Vgl. ders. Under Siege. P.L.O. Decisionmaking During the 1982 War, New York: Columbia University Press 1986, S. 19. 17 |  Vgl. Fisk, Robert Pity the Nation. Lebanon at War, Oxford/New York: Oxford University Press 2001, S. 74.

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II. Evidenz und Rhetorik

völkerung gegenüber den Palästinenser*innen.18 Angesichts der fragilen sektirischen Regierungsstruktur Libanons bedeutete er potentiell einen fundamentalen Umbruch in der libanesischen Innenpolitik.19 Manche Libanesen befürchteten gar eine palästinensische Machtübernahme: 18 |  Vgl. Khalidi, Rashid Under Siege. P.L.O. Decisionmaking During the 1982 War, New York: Columbia University Press 1986, S. 29. Khalidi schreibt dazu genauer: „Starting as a radical, ascetic, semiclandestine guerilla movement, which arrived in Lebanon in the late 1960’s riding a wave of popularity throughout the Arab world, the P.L.O. changed beyond recognition in less than ten years. […] P.L.O. Chairman Yasser Arafat was now a head of state in all but name, more powerful than many Arab rulers. His was no longer a humble revolutionary movement, but rather a vigorous para-state, with a growing bureaucracy administering the affairs of Palestinians everywhere, and with a budget bigger than that of many small sovereign states.“ 19 |  Das libanesische Regierungssystem wurde bereits unter französischem Mandat mit der libanesischen Verfassung von 1926 implementiert und seither trotz seiner problematischen konfessionellen Ausrichtung keiner Revision unterzogen. Nach diesem System werden die wichtigsten politischen Ämter und die Anzahl der Parlamentsmitglieder gemäß den Anteilen der verschiedenen Glaubensrichtungen in der Bevölkerung gewählt. Es wurde wenig später anhand eines von der französischen Mandatsmacht 1932 durchgeführten Zensus legitimiert, welcher der Erfassung der konfessionellen Verteilung innerhalb der libanesischen Bevölkerung dienen sollte, jedoch eine knappe maronitische, westlich gesinnte Mehrheit deutlich favorisierte. Der Nationalpakt von 1943, eine mündliche Vereinbarung sunnitischer, schiitischer und maronitischer Repräsentanten des Landes, sollte diesbezüglich einen Kompromiss schaffen. Er bekräftige zwar das konfessionelle Regierungssystem. Dies allerdings nur unter der Bedingung, dass die Außenpolitik Libanons folglich unabhängig von Frankreich und in Allianz mit den Arabischen Staaten ausgerichtet würde. Darauf hin bildeten sich in den 1950er Jahren, insbesondere nach der Proklamation des Staates Israel 1948 und dem Sturz der Monarchie in Ägypten zwei Arten von Nationalismus im Libanon heraus: einem vornehmlich unter libanesischen Muslim*innen populären panarabischen, der eine „arabische Einheit“ unter der Führung Gamal Abdel Nassers anstrebte und einem von den Christ*innen insbesondere den Maronit*innen des Landes stark gemachten dezidiert libanesischen, der sich auf die Unabhängigkeit Libanons als Nationalstaat berief. Diese Vereinbarung schuf jedoch nur für eine kurze Zeit eine angespannte

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„The initial Lebanese perception of the P.L.O. as an ally motivated by feelings of solidarity for the downtrodden sectors of Lebanese society had disappeared by the end of the 1970s. It was replaced by a view of the Palestinians as motivated by self-interest, sometimes to the exclusion of Lebanese interests, sometimes even at their expense.“20

So kam es bereits 1969 und Anfang der 1970er Jahre nicht nur in der libanesischen Hauptstadt sondern auch in anderen Teilen des Landes immer wieder zu Ausschreitungen zwischen libanesischen Militärgruppen und dabei insbesondere zwischen maronitischen Milizen und Anhänger*innen der palästinensischen Widerstandsbewegung.21 Der Anschlag vom 13. April 1975 sollte jedoch das gesamte Land in eine langwierige Spirale von verheerenden Kämpfen und Massakern stürzen. Ende der 1970er JahRuhe. 1958 bahnte sich bereits eine erste schwere innenpolitischen Krise zwischen nationalistischen maronitischen Christ*innen und panarabisch gesinnten Muslim*innen mit gewaltvollen Auseinandersetzungen an, die durch eine Intervention der amerikanischen Armee geschlichtet wurde. Darüber hinaus war insbesondere der 1932 durchgeführte Zensus immer wieder Anlass zu heftigen Disputen. Die Erhebung wurde in den folgenden Jahren nie aktualisiert und das, obwohl es beträchtliche demografische Verschiebungen im Land gab und sunnitische sowie schiitische Bevölkerungsgruppen bereits einige Jahre später sichtlich in der Überzahl und demnach im Recht auf einen stärkeren politischen Einf luss waren. Die Präsenz der überwiegend muslimischen Palästinenser*innen, die teilweise auch in libanesische Familien einheirateten, verschärften diese Spannungen weiterhin. Vgl. dazu: Hudson, Michael The Precarious Republic. Political Modernization in Lebanon, New York: Random House 1968; Abu-Labnan, Baha „Social Change and Local Politics in Sidon, Lebanon“, in: The Journal of Developing Areas, 5, October 1970, S. 27-42; Haley, P. Edward; Snider, Lewis et al. (Hg.) Lebanon in Crisis. Participants and Issues, New York: Syracuse University Press, 1979; Khalidi, Walid Conf lict and Violence in Lebanon. Confrontation in the Middle East, Cambridge MA: Harvard University Press 1983 und Khalidi, Rashid Under Siege. P.L.O. Decisionmaking During the 1982 War, New York: Columbia University Press 1986, S. 20 f. 20 |  Khalidi, Rashid Under Siege. P.L.O. Decisionmaking During the 1982 War, New York: Columbia University Press 1986, S. 29. 21 |  Vgl. hierzu Sayigh, Rosemary The Palestinians. From Peasants to Revolutionaries, London/New York: Zed Books 2007, S. 140 ff.

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re griffen zudem verstärkt syrische und israelische Streitkräfte sowie ab 1982 auch Truppen der Multinational Force bestehend aus französischen, italienischen, irischen und US-amerikanischen Brigaden in den Konflikt ein. Bedingt durch die konträren Interessen Syriens und Israels22 führten diese Interventionen jedoch nicht zu einer vorzeitigen Beendigung der Kämpfe sondern vielmehr zu einer Verhärtung der Fronten.23 Vor diesem Hintergrund thematisiert Lamia Joreige in A Journey die Verstrickungen zwischen der palästinensischen Geschichte und der des Libanons anhand ihrer eigenen Biografie und der ihrer Familienmitglieder, insbesondere ihrer Großmutter Rose. Von Roses Emigration und der Flucht ihrer Familie aus Jaffa nach Beirut im Jahre 1948 ausgehend, zeichnet sie in Bezug auf diversen Quellen entstammenden Fotografien die politischen Entwicklungen seit der Nakba, über den libanesischen Bürgerkrieg bis 2006 – dem Entstehungsjahr des Videos – nach und stellt dabei die Bedeutung historiografischer Prozesse für die Herausbildung eines politischen Bewusstseins heraus. Walid Raads Fotoserie We decided we let them say, „we are convinced“ twice beschäftigt sich ebenfalls unter autobiografischen Gesichtspunkten mit dem Kriegsgeschehen bzw. konkret mit der israelischen Invasion Libanons im Jahre 1982 und den dabei erfolgten Angriffen auf die PLO Hauptquartiere in West-Beirut. Die Arbeit ist Teil eines Werkkomplexes, der die Bestrebungen der fiktiven Mitglieder der Atlas Group, ein „Archiv“ zusammenzutragen, manifestiert, um darüber verschiedene Aspekte und Begebenheiten der jüngsten Geschichte des Libanons zu erfassen. 22 |  Während Syrien zunächst einen offenen Krieg zwischen der PLO und Israel im Libanon vermeiden wollte, zielte Israel auf die Zerschlagung der PLO ab. Vgl. hierzu Khalidi, Rashid Under Siege. P.L.O. Decisionmaking During the 1982 War, New York: Columbia University Press 1986, S. 25 ff. 23 |  Erst 1989 sollte es zu einem Friedensvertrag zwischen den sich bekriegenden sektirischen Splittergruppen und Milizen im Libanon kommen: Mit dem Abkommen von Taif wurden die Kämpfe ab 1990 weitestgehend eingestellt. Das Land verblieb allerdings noch bis 2005 unter syrischem Protektorat und Israel beanspruchte bis 2000 weitläufige Gebiete im Süden Libanons als militärische „Schutzzone“. Auch war der Libanon nach dem Taif-Abkommen immer wieder Schauplatz von Attentaten und militärischen Auseinandersetzungen. Darüber hinaus bestimmt die konfessionelle Spaltung weiterhin die Politik sowie den Alltag des Landes.

Lamia Joreige | Walid Raad

Auf offizieller Ebene und in Folge eines im Jahre 1991 vom libanesischen Parlament erlassenen Gesetzes, das eine allgemeine Amnestie für alle während des Krieges begangenen Verbrechen festlegte, ist dies nämlich nie geschehen. So wird zum Beispiel die lokale Geschichte in libanesischen Schulen nur bis 1975 unterrichtet. Zudem ist eine offenkundige Diskussion über das bis heute ungeklärte Verschwinden von tausenden Zivilpersonen in der Zeit zwischen 1975 und 1990 nach wie vor tabuisiert und maßgebliche Drahtzieher des Krieges nehmen weiterhin leitende Positionen innerhalb der libanesischen Politik sowie der Wirtschaft ein.24 Raads Performance I feel a great desire to meet the masses once again, in der er einige Fotos zeigt, die auch Teil von We decided we let them say, „we are convinced“ twice sind, bezieht sich ebenfalls auf einige dieser Punkte, tut das aber unter einem stärkeren Gegenwartsbezug. Im Folgenden sollen anhand einer Analyse von Joreiges und Raads Einsatz historischer Fotografien in A Journey bzw. We decided we let them say, „we are convinced“ twice und I feel a great desire to meet the masses once again deren unterschiedliche Auffassungen von der Evidenz der Fotografie herausgearbeitet werden. Inwieweit beeinflusst die in ihren Werken verwandte Rhetorik, d.h. ihre Verwendung von Text und Narration den Blick auf vermeintlich „authentische“ Bilder? Und welche Aufschlüsse liefern Joreige und Raad hinsichtlich der Diskussion einer teilweise in einem kollektiven Ausmaß verdrängten Vergangenheit, die ihre Schatten in Form eines stetigen Konfliktpotentials bis in die Gegenwart wirft?

24 |  Vgl. hierzu Makdisi, Saree „Beirut, a City without History?“, in: Makdisi, Ussama und Silverstein, Paul A. (Hg.) Memory and Violence in the Middle East and North Africa, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 2006, S. 201-214, hier S. 201 sowie Haugbolle, Sune War and Memory in Lebanon, Cambridge: Cambridge University Press 2012.

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6. L amia J oreiges A J ourney (2006): 1972 in Beirut geboren, wuchs Lamia Joreige überwiegend in Paris auf, nachdem ihre Eltern aufgrund des Krieges im Libanon in den 1980er Jahren mit ihr nach Frankreich geflüchtet waren.25 Ein inhaltlicher Schwerpunkt ihrer filmischen Arbeiten ist neben der Untersuchung der Ereignisse des libanesischen Bürgerkrieges vor allem eine kontinuierliche Reflexion über die Bedeutung individueller Erinnerungen hinsichtlich eines kollektiven Gedächtnisses bzw. der Konstruktion von Geschichte.26 Angesichts des Mangels an einem offiziellen historischen Narrativ über den Krieg bezieht sie sich in erster Linie auf Zeugenberichte, die sie auf Videofilm festhält. Damit einhergehend beleuchtet sie die mnemonische Funktion verschiedener Medien, aber auch alltäglicher Gebrauchsgegenstände.27 Im Fall des 41-minütigen Videos A Journey, das ihre HD-Aufnahmen von Interviews bzw. Zeugenberichten und Landschaftsaufnahmen, mit einer Präsentation von historischen Fotografien, Super8-Filmspuren und Textpassagen, die von Joreige in Form eines teilweise musikalisch unter-

25 |  Joreige studierte später Malerei und Film an der Rhode Island School of Design in Providence und kehrte schließlich Mitte der 1990er Jahre in ihr Heimatland zurück. Sind Film bzw. Video die primären Medien ihres künstlerischen Schaffens, produzierte sie insbesondere in den 1990er Jahren auch Serien abstrakter Gemälde und präsentiert ihre Videos teilweise zusammen mit gefundenen Objekten in Form von multimedialen Installationen. 26 |  Bereits während ihres Studiums schuf sie mehrere 16mm-Filme, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Ab 2000 knüpfte sie daran abgesehen von A Journey mit ihren Videos und Videoinstallationen Replay (2000), Replay (bis) (2002), Here and Perhaps Elsewhere (2003) und Objects of War (2000-2006) daran an. 27 |  Objects of War (2000-2006) zum Beispiel ist eine vierteilige Videoinstallation, die aus einer Serie von Videointerviews sowie einer Präsentation von Alltagsgegenständen besteht. In den Videos berichten Zivilpersonen von ihren Erlebnissen während des libanesischen Bürgerkrieges und erklären, welche Bedeutung die ausgestellten Gegenstände während dieser Zeit für sie hatten.

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malten28 Voice-over vorgetragen werden, verknüpft, setzt sie sich primär mit der Erinnerungsfunktion und Beweiskraft der Fotografie auseinander. Ausgehend von der Nakba zeichnet sie dabei zum einen ihre Familiengeschichte nach. Zum anderen liefert sie auf diese Weise einen historischen Überblick über die politischen Entwicklungen von 1948 bis zu dem Entstehungszeitpunkt des Videos. A Journey beginnt mit einer Nahaufnahme auf eine Schwarzweißfotografie, die das Gesicht einer jungen Frau mit dunklen mittellangen Haaren rahmt. Der Ausschnitt des Fotos wird sukzessive vergrößert bis es den gesamten Bildschirm ausfüllt. Es handelt sich dabei um ein Gruppenporträt, auf dem sechs junge Frauen und zwei Männer zu sehen sind, die sich über die Wasseroberfläche eines Brunnens beugen, um darin ihre Spiegelbilder zu betrachten. Die Frau, auf die zuvor das Close-Up gerichtet war, befindet sich in der Mitte des Bildes. Sie trägt eine weiße Bluse, darüber eine Strickjacke und lächelt versonnen ihr Spiegelbild an [Abb.1]. Aus dem Off ertönt Joreiges Stimme, während ein weiteres Gruppenbild gezeigt wird, auf dem die junge Frau diesmal mit zwei älteren Damen sowie zwei Kleinkindern zu sehen ist [Abb. 2]: „Ich habe beschlossen, einen Film über die Familie zu drehen.“, sagt Joreige. Die Frau, welche auf den beiden Fotografien zu sehen ist und den Betrachter*innen als Rose Kettaneh, Joreiges Großmutter oder Tati Rose (Oma Rose), wie Joreige sie liebevoll nennt, vorgestellt wird, erwidert ihr: „Einen Film für die Familie?“ „Nein, einen Film über die Familie.“, berichtigt Joreige sie, nur um wieder einer Gegenfrage ausgesetzt zu werden: „Über die Familie – warum?“ Das erste Foto zeigt Rose 1936 inmitten ihrer Freunde, das zweite – nur wenige Jahre später entstandene – gemeinsam mit ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihren beiden Söhnen Henry und Raymond. Mit diesen ersten beiden Einstellungen führt Joreige zunächst die Hauptprotagonistin von A Journey ein: Tati Rose, die, 1910 in Jaffa geboren, zum Zeitpunkt des Videodrehs über 90 Jahre alt ist. Zudem verweisen die Sujets der in dieser Szene gezeigten Fotografien auf geradezu emblematische Weise auf die zwei thematischen Hauptstränge des Videos: Die reflektierende Wasseroberfläche im ersten Bild kann allegorisch für das Medium Foto-

28 |  Es handelt sich dabei um Noise-Kompositionen des libanesischen Musikers Joseph Ghosn (alias Discipline). An anderer Stelle und im Abspann des Videos ertönt das Lied „Soulaima“, gesungen von der syrischen Sängerin Zakya Hamdane.

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grafie gelesen werden, das in A Journey gleich einem „Spiegel der Zeit“29 zum Ausgangspunkt für eine biografische Schilderung von „Tati Roses“ Leben wird. Das zweite Familienfoto fasst pointiert die sich in dem Video entfaltende, über mehrere Generationen erstreckende Familiengeschichte, wobei neben Tati Rose und Joreige auch ihre Mutter Mona, Joreiges Onkel Raymond, ihre Cousine Gillian und ihre Großtante Marie Okhti eine Rolle spielen. So erzählen A Journey bzw. die über das Video vermittelten Erfahrungsberichte der einzelnen Protagonist*innen zunächst davon, wie Tati Rose, nachdem sie 1930 geheiratet hatte, von Jaffa nach Beirut zog. Roses Ehemann war zu dieser Zeit ein erfolgreicher Geschäftsmann und sie verkehrten in den gehobenen Kreisen der libanesischen Gesellschaft. Als 1948 die gewalttätigen Auseinandersetzungen und die Terrorkampagnen der Irgun und Hagana sich auf das gesamte Palästina und so auch auf Jaffa ausweiteten, folgten ihre Angehörigen Rose ebenfalls nach Beirut.30 29 |  August Sanders etwa sah in der Fotografie ein Mittel, um einen „Spiegel der Zeit“ zu schaffen. Vgl. hierzu Lange, Susanne und Conrath-Scholl, Gabriele „,Einen Spiegel der Zeit schaffen‘ August Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts““, in: Zeithistorische Forschungen, Heft 2/2004, S. 271-278. 30 |  Eyal Sivan’s Film Jaffa, the Orange‘s Clockwork (2010) liefert einen sehr guten Eindruck (ebenfalls unter Verwendung historischer Fotografien) über die historische Bedeutung Jaffas. Für eine weitere Lektüre dazu siehe zum Beispiel: Abu-Lughod, Lila „Return to Half–Ruins Memory, Postmemory, and „Living History in Palestine“ und Al-Qattan, Omar „The Secret Visitations of Memory“ beide erschienen in: Sa’adi, Ahmad H. und Abu-Lughod, Lila (Hg.) Nakba. Palestine, 1948, and the Claims of Memory, New York: Columbia University Press 2007, S. 77-133 bzw. S. 191-206. Omar Al-Qattan schreibt in seinem Aufsatz allgemein über Jaffa (S. 193): „Before its surrender, Jaffa had been one of Palestine’s largest and wealthiest cities, with a population in excess of 100,000. Indeed, in the 1947 UN Partition Plan for Palestine the city had been given to the Palestinians even though it lay at the heart of the planned Jewish State. As soon as the British Government had announced its intention to pull out of Palestine, Jaffa became the scene of some of the most vicious fighting between the poorly armed Palestinian irregulars and the Hagana and, more particularly, the Irgun militias. By the time Jaffa surrendered on May 13, 1948, it had become a city of ghosts, its inhabitants dwindling to a mere three or four thousand. The Hagana – which two days later would become the official Israeli army – ordered

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Abbildung 1: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

Abbildung 2: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

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Die Nakba wird in diesem Zusammenhang abgesehen vom direkten Bezug zu Roses Biografie und Joreiges Familiengeschichte als dramatische Zäsur in der Geschichte des Nahen Ostens geschildert. Ebenso der libanesische Bürgerkrieg, während dessen Roses Sohn Alfred Junior entführt und ihr Haus zerstört wurde. Ein emotional aufgeladenes Gespräch zwischen Joreiges Eltern und ihrer Cousine über die Entführung Alfred Juniors mündet in der zweiten Hälfte des Videos in die resignierende Annahme, dass er wohl ermordet wurde. Darauf hin zeigt eine Szene Joreiges Großtante Marie Okhtie während der Feier ihres 100. Geburtstages, bevor A Journey mit Joreiges Erkundung des israelisch-libanesischen Grenzgebietes endet. Die im Video angesprochenen und dargestellten Ereignisse bilden dabei die Grundlage für eine Diskussion sozialpolitischer Faktoren wie nationale Identität, Klassenbewusstsein und politische Gesinnung. Das zentrale Motiv des Videos ist allerdings die Auseinandersetzung mit Verlust – dem Verlust von Heimat und Frieden, aber auch dem Verlust von Erinnerungen und der Verlust eines geliebten Menschen. Im Verlauf von A Journey wird deutlich, dass Tati Rose an einer zunehmend akuter werdenden Demenz leidet, und gegen Ende des Videos erfahren die Betrachter*innen, dass sie kurz nachdem die letzten Aufnahmen mit ihr entstanden, verstorben ist. Das Close-Up des ersten Videoframes setzt nicht nur den Fokus auf Joreiges Großmutter, sondern es impliziert auch eine Form der Vertrautheit, eine wesentliche Voraussetzung für eine aussagekräftige biografische Darstellung31, als die A Journey in Bezug auf Roses Werdegang aufgefasst werden kann. Die persönliche Nähe zwischen Joall the remaining Palestinians to assemble in one neighborhood, Ajami, where for more than a year they were surrounded with barbed wire fences and forbidden to leave. Until as recently as the late 1990s, Tel Aviv Municipality would very rarely issue a Palestinian a building permit to erect or refurbish his or her house. To add insult to injury, only the meanest of public services were granted to the city’s Palestinians. Jaffa soon turned into the impoverished, drug-infested prostitution capital of Israel, its beautiful mix of Ottoman and European architecture fast wilting into a shabby and dilapidated mess.“ 31 |  Vgl. hierzu Caine, Barbara „Biography and the Question of Historical Distance“, in: dies.; Salber, Mark Phillips und Thomas, Julia Adeney (Hg.) Rethinking Historical Distance, Hamphsire/New York: Palgrave Macmillan 2013, S. 67-83.

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reige und Rose steht gleichzeitig im Kontrast zur „historischen Distanz“ zwischen dem Entstehungszeitpunkt der beiden zu Beginn von A Journey gezeigten Fotografien und der des Videos. Von einem durch diese beiden Parameter – Nähe und Distanz – erzeugten Spannungsbogen geprägt, stellt A Journey somit eine Reise zwischen verschiedenen zeitlichen und räumlichen Vektoren dar. Die darin gezeigten Fotografien, Super8-Filme und Berichte Tati Roses und den weiteren Protagonist*innen des Videos versetzen die Betrachter*innen aus deren Wirklichkeit – Beirut bzw. Libanon im Jahre 2006 – zurück in das Palästina vor der Staatsgründung Israels und in die Zeit während des libanesischen Bürgerkrieges. Zugleich ist das Video auch Ausdruck einer zukunftsgerichteten Bewegung: Die Landschaftsaufnahmen und Einstellungen auf das Mittelmeer [Abb. 3], die beständig zwischen den Videointerviews und der Wiedergabe der historischen Fotos erscheinen, entstanden während der Autofahrt zur israelisch-libanesischen Grenze – ein für Joreige bisher unbekanntes Gebiet, da das Areal noch bis 2005 vom israelischen Militär besetzt war. Indem Joreige in A Journey „historische Distanz“ im Rahmen ihrer Familiengeschichte auslotet und räumliche Distanz konkret zurücklegt, bringt sie, wie sie im Voice-Over zu Beginn des Videos äußert, Palästina nicht nur sich, sondern auch den Betrachter*innen näher. Den Zeugenberichten wird im Zuge dessen zunächst eine gewisse Autorität verliehen – nicht zuletzt dadurch, dass sie von Joreige in ein Narrativ eingebunden werden. A Journey macht allerdings gleichermaßen deutlich, dass jeder Akt des Bezeugens unwiderruflich einem Wandlungsprozess unterliegt bzw. diesen auslöst: In Zeugenberichten wird erlebten Ereignissen entweder immer etwas hinzugefügt, oder es gehen darin Fakten und Details verloren. Sie müssen daher auch in A Journey weniger für unumstößliche Tatsachen erachtet, sondern als eine Inszenierung des Vergangenen, gekoppelt an mehr oder weniger subtile Selbstdarstellung, betrachtet werden.32 Ähnliches gilt für die in A Journey gezeigten historischen Fotografien. Einerseits verweisen sie auf außerbildliche Tatsachen, anderseits stellen sie ebenso eine eigene bildliche Realität her. In dem Video erscheinen sie zunächst als materielle Spuren und Beweisstücke, 32 |  Vgl. hierzu Thomas, Günter „Witness as a Cultural Form of Communication. Historical Roots, Structural Dynamics, and Current Appearances“, in: Frosh, Paul und Pinchevski, Amit Media Witnessing. Testimony in the Age of Mass Communication, Hampshire/New York: Palgrave Macmillan 2009, S. 89-111, S. 96.

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Abbildung 3: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

deren Bildgehalte gemäß der Annahme eines objektiven „,Analogon‘ der Wirklichkeit“33 Fakten konstituieren. In Verbindung mit den Zeugenaussagen wird in A Journey jedoch von Joreige wiederum offensichtlich gemacht, dass „[e]in Bild – gleich wie es entstanden sein mag – indifferent, zu keiner Aussage fähig, weder authentisch noch inauthentisch [ist].“34 Denn, so der Kulturwissenschaftler Volker Wortmann, „erst der Kontext, in dem es erscheint, ist in der Lage, das Bild mit einer Behauptung, einer Legende zu konfrontieren, die authentisieren mag, wenn man ihr Glauben schenkt.“35 Auch wenn diese von einer „Behauptung“ bzw. einer sie hervorbringenden Rhetorik geleitete Authentifizierung eine zentrale Problematik darstellt, negiert Joreige die Beweiskraft der Fotografie nicht vollständig. In A Journey erscheinen Zeugenberichte und Fotografien gleichermaßen als historische Quellen und verdeutlichen in ihrem Zusammenspiel die enge Beziehung zwischen Rhetorik und Beweis, die sich im Rahmen historiografischer Prozesse abzeichnet. 33 |  Vgl. Dubois, Philippe Der fotograf ische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Hamburg: Philo Fine Arts 1998, S. 30 f. 34 |  Wortmann, Volker Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln: Herbert von Halem Verlag 2003, S. 222. 35 |  Ebd.

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Dabei sind historische Quellen, so der Historiker Carlo Ginzburg, „weder offene Fenster, wie die Positivisten glauben, noch Mauern, die den Blick verstellen, wie die Skeptiker meinen: Wenn überhaupt könnten wir sie mit Zerrspiegeln vergleichen. Die Analyse der jeweiligen Verzerrung jeder Quelle impliziert bereits ein konstruiertes Element. Doch die Konstruktion ist […] nicht unvereinbar mit dem Beweis. Die Projektion des Wunsches, ohne die es keine Forschung gibt, ist nicht unvereinbar mit den Widerlegungen durch das Realitätsprinzip.“36

Wie genau treffen Konstruktion und Realitätsprinzip in A Journey aufeinander? Joreiges filmische Aufzeichnung und ihr Gebrauch des Videos zielen auf eine Form der Montage ab, die Fotografie und Video, das Fotografische und das Filmische, das Analoge und das Digitale in einen medienreflexiven Bezug zueinander stellen, der auch Brüche in einem ansonsten faktischen Dokumentarismus37 erzeugt. Das Hauptaugenmerk auf die gezeigten historischen Fotografien gerichtet, möchte ich in den nächsten Schritten daher klären, wie Joreige die fotografische Evidenz in Verbindung mit den von ihr aufgezeichneten Zeugenberichten und dem in dem Video dargelegten Narrativ an der Schnittstelle zwischen Rhetorik und Beweis verhandelt. Oder um mit Ginzburgs Worten zu sprechen: Offenbart sich dabei die historische Quelle statt als „Spiegel der Zeit“ als fortgesetzter Wandel eines „Zerrspiegels“? 36 |  Ginzburg, Carlo Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis, Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2001, S. 54. 37 |  Unter dem Begriff des Dokumentarfilms wird allgemein eine nichtfiktionale Filmgattung gefasst, die darauf abzielt, ein tatsächliches Geschehen bzw. Aspekte davon möglichst „wahrheitsgetreu“ zu repräsentieren. Laut des amerikanischen Filmwissenschaftlers Bill Nichols beziehen sich Dokumentarfilme im Einklang mit der Erwartungshaltung der Zuschauer immer auf die „historische Welt“ in einem argumentativen Rahmen. Das heißt, sie verhandeln die historische Welt anhand eines Fallbeispiels entlang einer filmischen Beweisführung: „Sie sind daher nicht Repräsentationen einer erfundenen Wirklichkeit, sondern erfundene Repräsentationen einer tatsächlichen historischen Realität.“ Vgl. hierzu: Nichols, Bill Representing Reality. Issues and Concepts in Documentary, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1991 sowie Eitzen, Dirk „Wann ist ein Dokumentarfilm? Der Dokumentarfilm als Rezeptionsmodus“, in: montage/av, 7/2/1998, S. 13-44, hier. S. 18-19.

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Subjektive Reflexion: A Journey, ein Videoessay Der Videofilm wird in A Journey von Joreige in erster Linie als narratives Medium eingesetzt. Er erzählt im weitesten Sinne eine Geschichte – nämlich die über das Leben Joreiges Großmutter Rose und daran geknüpft die ihrer Familie. Was die Aufnahmen und die Montage des Videos betrifft, generiert es zunächst wie der Film und die Fotografie eine durch den optischen Apparat der Kamera geordnete Repräsentation oder Illusion der Realität.38 Dennoch weist das Video grundlegende Unterschiede zum analogen Film sowie zur Fotografie auf und evoziert ein anderes Bildkonzept. Ich werde auf die intermedialen Bezüge zwischen digitalem Video und der darin gezeigten ursprünglich analogen Fotografie noch genauer eingehen. In einem ersten Schritt soll A Journey jedoch auf seine filmisch-narrativen Eigenschaften untersucht und erörtert werden, wie Joreige darin Videobilder und Fotografien in eine narrative Struktur einbindet. Da diese Erzählstruktur inhaltlich zu einem Großteil auf Fakten beruht und die Referenz der Videobilder39 auf eine Realität außerhalb des Videos verweist, liegt es nahe A Journey zunächst als „dokumentarisch“ zu bezeichnen.40 Diese Zuordnung wird A Journey allerdings nicht völlig gerecht und bedarf einer genaueren Differenzierung. So spielen Joreiges unruhige Kameraführung während ihrer Autofahrt in das libanesisch-israelische Grenzgebiet sowie das Filmen ihrer Angehörigen in ihren privaten Wohnzimmern augenscheinlich auf populäre Sujets sogenannter Heim- und Reisevideos und die generische Ästhetik von Familienbildern an. Die Aufzeichnungen der persönlichen Zeugenberichte porträtieren einerseits die befragten Personen und zielen andererseits auf ein nüchternes Protokoll des Gesprochenen im Hinblick auf die objektive Gültigkeit und Relevanz der vermittelten Tatsachen ab. Sie erfüllen auch eine archivarische Funktion, indem sie einen Beitrag zum Erhalt und der Verbreitung der Oral History über Palästina, die Nakba 38 |  Vgl. Armes, Roy „Aesthetics of Video Image“, in: Zielinski, Siegfried (Hg.) Video – Apparat/Medium, Kunst, Kultur. Ein internationaler Reader, Frankfurt a.M.: Verlag Peter Lang 1992, S. 77-90, hier S. 80. 39 |  Vgl. Spielmann, Yvonne Video. Das ref lexive Medium, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 11. 40 |  Nichols, Bill Representing Reality. Issues and Concepts in Documentary. Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1991, S. 31.

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und den libanesischen Bürgerkrieg leisten. In A Journey wird aber vor allem die Dynamik zwischen Joreige und ihren Protagonist*innen – Joreige spricht sie direkt an und stellt ihnen Fragen – zu einem wesentlichen Bedeutungsträger, indem sie eine verstärkte Subjektivität vermittelt. Sie wird dadurch betont, dass Joreige in A Journey selbst die Kameraführung übernimmt und die Schilderungen ihrer Protagonist*innen offenkundig aus ihrer (Kamera-)Perspektive wiedergibt, der sich die Betrachter*innen anschließen müssen. Hauptsächlich wird der subjektive Eindruck von A Journey jedoch durch das Voice-over erzeugt. Mit der Montage verknüpft, kommentiert und erläutert es abwägend und hinterfragend die Aufnahmen und Bilder des Videos und verleiht A Journey den Charakter einer introspektiven Betrachtung. Abgesehen von seinen dokumentarischen Eigenschaften erhält das Video daher eine essayistische Form. Als wesentliche Eigenschaft von literarischen wie filmischen Essays gilt, dass sie subjektiver Reflexion Ausdruck verleihen.41 Laut George Lukács muss ein Essayist „sich auf sich selbst besinnen, sich finden und aus Eigenem Eigenes bauen.“42 Theodor Adorno beschreibt den literarischen Essay zudem als vom „Jargon der Eigentlichkeit“43 bestimmt. Ihm zufolge verfährt ein Essay „methodisch unmethodisch“44, wonach sein „innerstes Formgesetz“ „die Ketzerei“45 ist. Der Essay vermittelt eine persönliche Untersuchung, die vom Intellekt des Autors aber auch von einer gewissen emotionalen Erregtheit ausgeht und bleibt als textliche Gattung letztlich unbestimmt und offen.46 Demnach verwehrt sich, so die Film- und Medienwissenschaftlerin Nora Alter, auch der Filmessay einer konkreten Definition. Reflexion ist bei ihr allerdings gleichermaßen ein nachhallendes Schlagwort: 41 |  Vgl. Rascaroli, Laura „The Essay Film: Problems, Definitions, Textual Commitments“, in: Framework, 49, No. 2, Fall 2008, S. 24–47, hier S. 25. 42 |  Lukács, George „Über Wesen und Form des Essays“, in: Rohner, Ludwig (Hg.) Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten in 6 Bänden, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1972, S. 27-47, hier S. 44. 43 |  Adorno, Theodor „Der Essay als Form“, in: ders. Noten zur Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 9-33, hier S. 14. 44 |  Ebd., S. 21. 45 |  Ebd., S. 33. 46 |  Vgl. Rascaroli, Laura „The Essay Film: Problems, Definitions, Textual Commitments“, in: Framework, 49, No. 2, Fall 2008, S. 24–47, hier S. 25.

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„Like ‚heresy‘ in the Adornean literary essay, the essay film disrespects traditional boundaries, is transgressive both structurally and conceptually, it is self-reflective and self-reflexive.“47

Der Filmwissenschaftler Timothy Corrigan weist zudem darauf hin, dass essayistische Reflexivität nicht ausschließlich von der Grunddisposition eines Individuums mit einer vorgefertigten Haltung zu einem bestimmten Sachverhalt ausgeht, sondern von einer „active and assertive consciousness that tests, undoes, or re-creates itself through experience, including the experiences of memory, argument, active desire, and reflective thinking.“48 Im Gegensatz zur Subjektivität, die vorausgesetzt wird, ist Reflexivität demnach potentiell etwas, das sich prozessual nicht nur beim Produzieren, sondern auch beim Betrachten eines Filmessays entfalten kann. Dies bezieht sich auf das Thema, das der Filmessay adressiert, sowie auf die Eigenschaften bzw. die gestalterischen Mittel des Mediums Film, die er mitreflektiert, zum Beispiel indem er oftmals faktische und fiktive, (auto-)biografische und historische Elemente vereint und dokumentarische mit experimentell-abstrakten oder inszenierten Aufnahmen sowie Found Footage, Animationen und Fotografien miteinander kombiniert. Corrigan bezeichnet den Filmessay demzufolge als eine Vorgehensweise „that undo[es] and redo[es] film form, visual perspectives, public geographies, temporal organizations, and notions of truth and judgment […].“49 Somit nimmt der Filmessay auch in Bezug auf das Genre Dokumentarfilm eine gesonderte Stellung ein: „[...] the essay film becomes most important in pinpointing a practice that renegotiates assumptions about documentary objectivity, narrative epistemology, and authorial expressivity within the determining context of the unstable heterogeneity of time and place.“50

47 |  Alter, Nora M. „The Political Im/perceptible in the Essay Film“, in: New German Critique, no. 68 (Spring/Summer 1996), S. 165-192, hier: S. 171. 48 |  Corrigan, Timothy The Essay Film. From Montaigne, after Marker, Oxford/ New York: Oxford University Press 2011, S. 31. 49 |  Ebd., S. 4. 50 |  Ebd., S. 6.

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Handelt es sich bei A Journey zwar aufgrund seiner medialen bzw. materiellen Eigenschaften strenggenommen nicht um einen Film, kann das Video jedoch in Anlehnung an den Filmessay durchaus als Videoessay bezeichnet werden. Die darin erzeugte Relation zwischen Text und Bild – genauer Videobild und Voice-Over – generiert eine audiovisuelle Sinneinheit, die sich schließlich einer kategorialen Zuordnung entzieht: A Journey ist narrativ, assoziativ, pointiert, abschweifend, dokumentarisch, inszeniert, persönlich und politisch zugleich. Wurde das Genre des Filmsowie des Videoessays vor allem durch französische bzw. in Frankreich lebende Filmemacher*innen wie Alain Resnais, Agnès Varda, Jean-Luc Godard51 und Chris Marker geprägt, lassen sich für Joreiges A Journey insbesondere zum Werk Markers52 wichtige inhaltliche und formale Referenzen herleiten. Wie Joreige in A Journey setzt sich Marker in vielen seiner Filme und Videos kontinuierlich mit Erinnerung, Verlust, Geschichte, verschiedenen Gesellschaftsformen und politischem Wandel auseinander.53 Zudem ist das Motiv der Reise, das Joreige in A Journey aufgreift, von herausragender Bedeutung in Markers Werken. Sein 1962 entstandener Film La Jetée, ein postapokalyptisches Szenario, das von mentalen Zeitreisen und dem Leben im atomaren Notstand nach dem dritten Weltkrieg berichtet, oder Sans Soleil (1983), ein filmischer Reisebericht, der gleichzeitig eine Kontemplation über das reziproke Verhältnis zwischen Bildern und Sprache darstellt, sind dafür paradigmatisch. Was Joreiges Integration von Fotografien in das Video betrifft, lässt sich ebenfalls ein klarer Bezug zu Markers Filmen herstellen: In seinem gesamten Oeuvre spielt die Verwendung von inszenierten, „dokumentarischen“, „gefundenen“ oder historischen Fotos eine zentrale Rolle. Ausgehend von der Praxis des Fotoessays54 – einem Format, das als Zwischen51 |  Rascaroli, Laura „The Essay Film: Problems, Definitions, Textual Commitments“, in: Framework, 49, No. 2, Fall 2008, S. 24–47, hier S. 30. 52 |  Chris Marker bezeichnete sich selbst übrigens explizit auch als Essayist: „I’m an essayist... Film is a system that allows Godard to a be novelist, Gatti to make theatre and me to make essays.“ Marker zitiert nach Alter, Nora M. Chris Marker, Urbana/Chicago: University of Illinois Press 2006, S. 16. 53 |  Vgl. Corrigan, Timothy The Essay Film. From Montaigne, after Marker, Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 36. 54 |  Marker arbeitete in der Zeit zwischen 1954 und 1958 als Redakteur bei dem Pariser Verlagshaus Edition du Seuil – eine Tätigkeit, die seine späteren Fotoes-

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stufe zwischen literarischem und filmischen Essay aufgefasst werden kann55 – beruhen einige seiner Filme sogar in erster Linie auf der Montage von Fotografien. So besteht La Jetée mit der Ausnahme einer sekundenlangen Sequenz, die mit einer Filmkamera gedreht wurde, ausschließlich aus einzelnen inszenierten Fotos, die durch das Voice-Over zu einer filmischen Erzählung verbunden sind. Auch sein 1966 entstandener Film Si j'avais quatre dromadaires basiert auf einer filmischen Aneinanderreihung von Fotografien, die über den Text des Voice-Over allerdings nicht zu einem fiktiven Narrativ sondern zu einer assoziativen Kette über den Gehalt und die Bedeutung der Fotos bzw. des Fotografischen verknüpft werden.56 Dabei handelt es sich im Fall von Si j'avais quatre dromadaires nicht um inszenierte Bilder, sondern um Porträts und Momentaufnahmen, die Marker Ende der 1950er und Anfang der 1960er unter anderem in China, Kuba, Japan, der UDSSR, Griechenland, Korea und Island aufnahm.57 Folgt in Si j'avais quatre dromadaires sukzessive ein Foto dem nächsten, werden sie in La Jetée durch Überblendungen stärker in die filmische Fließbewegung eingebunden. Diese Form der Überblendungen taucht später in Le Souvenir d'un avenir (2001), einem Video über die französische Fotografin Denise Bellon, erneut auf. Sie wird zudem um grafische Elemente, ein virtuelles Ein- bzw. Auszoomen sowie „Kameraschwenks“ über einzelne Fotos58 ergänzt. Joreiges A Journey greift einige der von Marker eingesetzten Mittel der Montage und filmischen Präsentation von Fotografien direkt auf. Wie Marker in Si j'avais quatre dromadaires verbindet sie in A Journey Fotos zu einer filmischen Sequenz. Ferner verwendet sie ähnliche Effekte des virtuellen Abtastens und Rahmens, wie es Marker in Le Souvenir d'un avenir

says, darunter Coréenes (1959) und Le Dépays (1982) maßgeblich beeinf lussen sollte. Vgl. Corrigan, Timothy The Essay Film. From Montaigne, after Marker, Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 37. 55 |  Ebd., S. 20. 56 |  So heißt es in dem Film: „Photography is a chase. The thrill of the chase without the desire to kill. Hunting for angels. We track, we aim, we shoot and click! Instead of a dead we make an immortal.“ 57 |  Im Voice-Over werden sie von einem vermeintlich anonymen Fotografen (Marker machte die Fotos jedoch selbst) und zwei seiner Freunde kommentiert. 58 |  Diese Art Abtasten ist bereits auch in Si j'avais quatre dromadaires zu sehen.

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tut. So entsteht zum Beispiel bei einer Fotografie, die Joreiges Großvater mit seinem Reisekonvoi in der Syrischen Wüste zeigt, der Eindruck, als würde eine Kamera in Details des Fotos hineinzoomen und innerhalb des Bildraums von der rechten Seite auf die linke schwenken. Generell oszillieren die in A Journey gezeigten Fotografien, wie es auch in Markers Si j'avais quatre dromadaires und Le Souvenir d'un avenir der Fall ist, zwischen ihrer Bedeutung als historische Quellen und ihrem assoziativen sowie suggestiven Potential. Einerseits ist Joreige darum bemüht, ihren persönlichen Betrachtungen vermittels des Bestätigungsvermögens der Fotografien eine größere Allgemeingültigkeit zu verleihen. Die Fotografien fungieren dabei als visuelle Zitate, die „eine Glaubwürdigkeit der Erzählung und eine Bestätigung des Wissens“ gewähren.59 Andererseits sind sie selbst Gegenstand ihrer subjektiven Reflexion. Denn die „Häresie“ des (Video-) Essays hat durchaus auch Auswirkungen darauf, wie die Fotografien von den Betrachter*innen wahrgenommen werden.

59 |  Laut Michel de Certau sind Zitate im Hinblick auf die Genese eines historiografischen Diskurses und damit auch bei der Konstruktion von Geschichte dazu imstande,„eine hier als Realität auftretende referentielle Sprache ,vorzuladen‘ und sie gleichzeitig im Namen des Wissens zu beurteilen. […] In diesem Spiel hat die Zerlegung des Rohmaterials (durch Analyse oder Teilung) immer die Einzigartigkeit einer textlichen Zusammensetzung sowohl zur Voraussetzung als auch zur Grenze. Die zitierte Sprache hat daher die Aufgabe, den Diskurs glaubwürdig erscheinen zu lassen. Sie führt in den Text einen Wirklichkeitseffekt als Bezugssystem ein; und durch ihre Auf lösung verweist sie diskret auf einen Ort der Autorität. Aus dieser Perspektive funktioniert die gespaltene Struktur des Diskurses wie ein Mechanismus, der aus dem Zitat eine Glaubwürdigkeit der Erzählung und eine Bestätigung des Wissens gewinnt. Sie stellt Vertrauenswürdigkeit her. […] In dieser Hinsicht ist das Zitat nur ein Sonderfall der Regel, die für jede Erzeugung ,realistischer Illusion‘ die Vermehrung von Eigennamen, Beschreibungen und deiktischen oder Zeigewörtern notwendig macht.“ Siehe: Certeau, Michel de Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt a.M./ New York: Campus 1991, S. 123 -124. Eduardo Cadava bezeichnet die Fotografie explizit auch als eine Form des Zitierens: „Citation, I would argue, is perhaps another name for photography.“ Siehe dazu: Cadava, Eduardo Words of Light. Theses on the Photography of History, Princeton/ New Jersey: Prinction University Press 1997, S. xvii.

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Mom: Die Geschichte genauer betrachten A Journey ist insgesamt in fünf Teile gegliedert, die jeweils mit der Einblendung des Titels in Arabisch und Englisch eingeleitet werden und gleichzeitig die darin zentralen Personen vorstellen: „Tati Rose“, „My Uncle Raymond“, „Mom“, „My cousin Gillian“ und “Marie Okhti“. Jene schildern individuelle Erlebnisse, diskutieren mit Joreige oder untereinander. Sie werden in ihrem alltäglichen Kontext – in ihren Wohnzimmern, beim Essen, Schminken, und Rauchen gefilmt. In mehreren Szenen stöbern Tati Rose und Joreiges Mutter aber auch durch Kartons gefüllt mit Familienfotos, blättern durch Alben, betrachten Schriftstücke [Abb. 4]. Sie erläutern, wer oder was auf einzelnen Fotos abgebildet ist und um was es sich bei den jeweiligen Dokumenten handelt. Tati Rose zum Beispiel zeigt Joreige ein Bild des Grabes ihres Vaters, Joreiges Urgroßvaters in Jaffa, und wundert sich, was wohl heute daraus geworden sei, da es ihr seit 1948 nicht mehr möglich war, die Stätte zu besuchen. Sie spricht von Familienfeiern in Jaffa, ihrem Elternhaus sowie den anliegenden Gärten und Obstplantagen. Joreiges Onkel Raymond berichtet von den Umständen der Flucht der Familie aus Jaffa. Er schildert, wie sein Onkel vergeblich versuchte, angesichts der Tumulte in Jaffa seine Habseligkeiten aus seinem Büro zu holen und schließlich nur mit den Kleidern an seinem Leib über Jordanien in den Libanon fliehen musste. Joreiges Mutter erzählt von ihrer Tante Marie, die mit einem Pharmazeutiker verheiratet war, der als Sonntagsmaler eine Schwäche für korpulente Frauen hatte, die er fortwährend in seinen Gemälden porträtierte, aber auch zu „Studienzwecken“ fotografierte. Sie zeigt Joreige außerdem die Besitzurkunden über die Landgüter, die ihre Familie in Palästina besaß, sowie ein Foto ihrer Mutter, Tati Rose, im Irak aus dem Jahre 1937. Das Bild entstand, als Rose das einzige Mal ihren Ehemann Alfred auf einer seiner Geschäftsreisen von Beirut nach Teheran begleiten durfte. Alfred hielt seine Reisen auch zum Teil auf Super8-Filmen fest, von denen Joreige einige Ausschnitte in A Journey einfügt. In den ersten drei Teilen des Videos „Tati Rose“, „My Uncle Raymond“ und „Mom“ vermittelt Joreige zunächst einen Eindruck von den Lebensverhältnissen Joreiges Familie in Palästina und Beirut. Dabei schwingt oftmals ein nostalgischer Unterton sowie – im Fall von Rose – eine gewis-

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se historische Ungenauigkeit mit.60 Die Betrachter*innen erhalten zunächst Aufschluss über den bürgerlichen Lebensstil von Joreiges Familie aber auch der Bewegungsfreiheit, die in der Region noch während der Mandatszeit herrschte. Im Vordergrund stehen allerdings die Ereignisse um 1948, die Flucht aus Jaffa und die Konsequenzen, die sich daraus für Joreiges Angehörige ergaben. Auch wenn sie aufgrund ihres sozialen Status sicherlich weitaus weniger Nöte auszustehen hatten als der Großteil der enteigneten palästinensischen Landbevölkerung61, verloren sie mit der Nakba ebenso ihre Heimat und einen Großteil ihrer Besitztümer. Joreige beschreibt in A Journey die Staatsgründung Israels dementsprechend als ein traumatisches Ereignis von kollektivem Ausmaß, dass bis heute das Leben der Palästinenser*innen nachfolgender Generationen maßgeblich beeinflusst. Inwieweit in diesem Zusammenhang die Auslegung historischer Begebenheiten sowie die Vermittlung individueller Erinnerungen entscheidend für die Ausprägung einer politischen Haltung aber auch nationaler Identität sind, wird insbesondere im „Mom“ betitelten Teil des Videos deutlich. Darin fragt Joreige ihre Mutter Mona, während jene an einem Tisch sitzend Unterlagen und Fotos durchblättert, nach ihrer politischen Gesinnung im Verlauf des libanesischen Bürgerkrieges [Abb. 5]. Sie möchte wissen, warum sie als Palästinenserin der Kata’ib Partei, der libanesischen Rechten, beigetreten ist, anstatt sich mit der palästinensischen Widerstandsbewegung solidarisch zu erklären. Mona – sich bewusst darüber, dass diese Frage nicht nur nach einer Klärung verlangt, sondern Kritik impliziert – verwehrt sich jedoch dagegen, dass der Sachverhalt so vereinfacht dargestellt wird. Erstens ist sie Libanesin und nicht Palästinenserin: Ihre Mutter, Joreiges Großmutter Rose, ist zwar palästinensischer Herkunft, ihr Vater war allerdings libanesischer Staatsbürger und sie ist somit laut Gesetzgebung ebenfalls Libanesin.62 Zweitens habe 60 |  Rose hat deutlich Schwierigkeiten damit, Tatsachen zu rekonstruieren, verdreht Jahreszahlen und muss beispielsweise länger nachdenken, bevor sie sich an die genaue Anzahl ihrer Geschwister erinnert. 61 |  Zur Problematik des Klassenunterschiedes im Hinblick auf die Folgen der Nakba siehe: Sayigh, Rosemary The Palestinians. From Peasants to Revolutionaries, London/New York: Zed Books 2007, S. 20 und 103 f. 62 |  Bis heute erhalten Kinder im Libanon ihre Staatsangehörigkeit ausschließlich durch ihren Vater, d.h. die Nationalität einer Mutter wird nicht auf ihr Kind übertragen.

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Abbildung 4: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

es keine „Rechte“ und keine „Linke“ gegeben, bemerkt Mona. Es gab nur ein Land, das im Begriff war, zu explodieren. Die Palästinenser*innen im Libanon strebten danach, sich „ihr Land“ gewaltvoll anzueignen und sie begehrte dagegen auf. Joreige erwidert Mona daraufhin, dass der Libanon den Palästinenser*innen ausdrücklich Unterstützung gegen die israelische Besetzung zusicherte. Demzufolge ist es für Joreige nicht nachvollziehbar, wie sie sich mit den Kata’ib gegen die PLO stellen konnte. Doch noch bevor Joreige ihren Gedankengang ausformulieren kann, fällt ihr Mona, die Fotografien und Schriftstücke zur Seite legend, sichtlich aufgebracht ins Wort: „Es ist einfach, große Reden zu schwingen, aber wenn du dir die Geschichte genauer betrachtest, würdest du besser Bescheid wissen!“ Diese – wie Joreige im Anschluss der Diskussion im Voice-Over kommentiert – „etwas ungeschickte“ Konfrontation, stellt zugleich die Schlüsselszene des gesamten Videos dar. Darin zeichnet sich nicht nur ein Knoten- und Konfliktpunkt zwischen drei Generationen, ihren unterschiedlichen Erfahrungsschätzen und Erwartungshaltungen, sondern auch zwischen der palästinensischen und libanesischen Geschichte ab. Joreige versucht, zwischen den palästinensischen Wurzeln ihrer Großmutter, von denen sich Mona ausdrücklich distanziert, und ihrer libanesischen Nationalität zu verhandeln: „Ich wollte verstehen, warum das,

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Abbildung 5: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

was für mich paradox erscheint, nicht paradox für sie ist“, kommentiert sie im Voice-Over. Joreiges Familie konnte sich zwar aufgrund ihres bürgerlich-christlichen Hintergrundes ohne Probleme in die libanesische Gesellschaft integrieren. Es handelt sich dabei allerdings um eine Gesellschaft, die, wie ihre Mutter, oftmals die Palästinenser*innen für ihren Zusammenbruch und den Bürgerkrieg verantwortlich macht, was unter anderem auch ein Grund dafür ist, dass bis heute hunderttausende Palästinenser*innen im Libanon unter widrigen Lebensverhältnissen in Flüchtlingslagern leben.63 Der Nationalismus ihrer Mutter bleibt ihr in Anbetracht dieser 63 |  Der Status quo der Flüchtlinge im Libanon besteht als ein politisch forciertes Provisorium, da die Palästinenser*innen von einer dauerhaften Ansiedlung und Einbürgerung im Libanon absehen, um auf ihr von der UN 1948 zugesichertes Rückkehrrecht zu beharren, dass ihnen von Seiten der israelischen Regierung allerdings bis heute verwehrt wird. Aber auch die libanesische Regierung sieht aus innenpolitischen Gründen von der Einbürgerung der Palästinenser*innen ab, da dies den konfessionellen Zensus des Landes und somit das Regierungssystem beeinf lussen würde. Dies hat schwerwiegende Folgen für die Palästinenser*innen, da sie als Staatenlose im Libanon keine staatsbürgerlichen Rechte besitzen und damit einhergehend einer systematischen Diskrimi-

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Tatsachen befremdlich: „Es scheint unmöglich, dass wir uns jemals verstehen werden“, sagt sie. Ihre eigene Auffassung von der Geschichte und die ihrer Mutter stehen sich konträr gegenüber. Joreiges Verwendung der Fotografie kann in dieser Hinsicht als ein Bemühen verstanden werden, zwischen beiden Positionen einen Kompromiss zu finden, indem sie weitere Sichtweisen auf die Vergangenheit liefert. Zumindest bietet sie generell entscheidende Anhaltspunkte, um, wie es Joreiges Mutter formuliert, „die Geschichte genauer zu betrachten.“

Familie und Gesellschaft: Erinnerung und Geschichte Insgesamt werden in A Journey mehr als 60 Fotografien gezeigt. Der Hauptteil davon wurde von Joreige als digitalisierte Reproduktionen in die Datenspur des Videos montiert, sodass sie auf dem Bildschirm bzw. der Leinwand den gesamten Frame des Videos ausfüllen und als Teil dessen visueller Abfolge oder Fließbewegung erscheinen. Zudem filmt sie während der Gespräche mit ihren Angehörigen kleinformatige Fotos sowie in Fotoalben geklebte Abzüge. Wie auch in Zaataris On Photography, People and Modern Times bringt dabei die Handhabung der Fotografien durch die Protagonist*innen im Video verstärkt ihr affektives Potential und ihren Fetischcharakter64 zum Ausdruck. Sie dienen als Diskussionsgrundnierung ausgesetzt sind. Ich gehe dazu noch genauer in meinen Ausführungen zu Eid-Sabbagh ein. Vgl. auch Miller, Tina Die Frage der Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge, unter Berücksichtigung der Lösungsansätze der Vereinten Nationen, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2007; Akram, Susan „Palestinian Refugees and Their Status. Rights, Politics and Implications for a Just Solution“, in: Journal of Palestine Studies, Vol. 31, No. 3, S. 36-51; Sayigh, Rosemary Too many Enemies. The Palestinian Experience in Lebanon, London/New York: Zed Books 1994 und Hanafi, Sari „Palestinian Refugee Camps in Lebanon. Laboratories of State-inthe-Making, Discipline and Islamist Radicalism“, in: Lentin, Ronit (Hg.) Thinking Palestine, London/New York: Zed Books 2008, S. 82-100. 64 |  Philippe Dubois beschreibt den Fetischcharakter fotografischer Bilder folgendermaßen: „The fetishism of the photographic image derives from this double posture: the photograph is an object that can be touched, framed, collected, enclosed, burned, torn up and embraced, yet it can only show us the untouchable, the inaccessible, a memory, an absence. In photography, therefor, there is

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lage und Auslöser von Erinnerungen, sind aber auch bildliche Fixpunkte, die vor allem in Bezug auf Roses fortschreitenden Erinnerungsverlust die Genauigkeit ihrer Aussagen sicherstellen und zum Teil berichtigen. Die digitalen Reproduktionen sind hingegen aufgrund der dialektischen Relation zwischen Bild und Text, welche die Montage erzeugt, tragende Elemente der gesamten visuell-narrativen Struktur des Videos. In der ersten Hälfte von A Journey fügt Joreige diese digitalisierten Fotografien als Videoframes gestreut singulär, überwiegend jedoch in Reihungen von mehreren sukzessive aufeinanderfolgenden Bildern, zwischen die mit ihrer Kamera gefilmten Passagen, d.h. zwischen die Interviews und Landschaftsaufnahmen. Bei den auf diese Weise zu Beginn des Videos sowie in den Teilen „Rose“, „Uncle Raymond“ und „Mom“ eingeblendeten Fotografien handelt es sich zu einem Großteil um Joreiges eigene Familienfotos, die sie allerdings mit diversen Aufnahmen aus der AIF-Sammlung kombiniert. Erstere entstanden vornehmlich in der Zeit zwischen 1930 und 1950, wobei die Datierung der AIF-Fotos teilweise noch weiter zurückreicht. Darunter befinden sich zum Beispiel Stadtansichten Jaffas aus dem späten 19. Jahrhundert sowie Fotografien, die bereits von Zaatari im Rahmen seiner Ausstellung Palestine before ’48 präsentiert wurden, wie etwa Bilder einer christlichen Prozession in Bethlehem aus den 1920er Jahren, aber auch das Foto des über Jerusalem fliegenden Zeppelins sowie Aufnahmen der Arab Liberation Front. Weiterhin werden in diesen Sequenzen Fotografien palästinensischer Flüchtlinge gezeigt, die ebenfalls aus der AIF-Sammlung stammen [Abb. 6 und 7]. Die Bildgegenstände der einzelnen Fotos stehen zunächst überwiegend in einer Kongruenz zu im Voice-Over und von den Protagonist*innever just an image, separate, disjunct, alone in its solitude, haunted by the one, intimate moment it had with a real that has vanished forever. It is this hauntedness, formed by distance in proximity, absence in presence, the imaginary in the real, the virtuality of memory in the effectiveness of a trace, that draws us to photographs and gives them their aura: the unique phenomenon of a distance, however close it may be.“ Siehe: Dubois, Philippe „Photography Mise-en-Film: Autobiographical (Hi)stories and Psychic Apparatuses“, in: Petro, Patrice (Hg.) Fugitive Images: From Photography to Video, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1995, S. 152-172, hier S. 155. Vgl. dazu auch Metz, Christian „Foto,Fetisch“, in: Amelunxen, Hubertus v. (Hg.) Theorien der Fotograf ie IV. 1980-1995, München: Schirmer/Mosel 2000, S. 345-355.

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Abbildung 6: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

Abbildung 7: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

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nen dargelegten Schilderungen. Wird etwa ein Ort oder eine Person genannt, erscheint eine entsprechende Aufnahme, auf der jene Person oder jener Ort zu sehen ist. Umgekehrt wird in den Äußerungen der Protagonist*innen zum Teil das auf einzelnen Fotografien Abgebildete erläutert. In diesem Verhältnis bürgen die Fotos für die in dialogischer und monologischer Form artikulierten Aussagen und vice versa.65 Joreiges Familienfotos und die Fotografien aus der AIF-Sammlung sind jedoch derart miteinander vermengt, dass die Betrachter*innen, insofern sie nicht mit den Quellen vertraut sind, auf den ersten Blick ihre Ursprünge nicht unterscheiden können. Zudem hat Joreiges Familie einen Teil ihrer privaten Bilder bereits 1999 der AIF zur Konservierung und Digitalisierung überlassen. Darunter befinden sich vor allem Fotos aus den Beständen Roses, die auch über die AIF-Onlinedatenbank öffentlich zugänglich sind.66 Jene sind demnach nicht nur als persönliche Memorabilien mit Affektpotential von Bedeutung, sondern sie erhielten als Teil der AIF-Sammlung zudem den Stellenwert kultureller Artefakte bzw. wurden im Rahmen der AIF-Mission zum Gegenstand einer umfassenderen (foto-)historischen Untersuchung. Der Übergang zwischen öffentlich und privat, zwischen Familie und Gesellschaft sowie zwischen Erinnerung und Geschichte wird damit als fließend dargestellt. Betont wird dies, indem Joreige ihre Familienfotos – abgesehen von den Bildern der AIF-Sammlung – zusätzlich mit Fotografien aus den Archiven der libanesischen Tageszeitungen An-Nahar und As Safir verknüpft. Infolgedessen und da jegliche Urheber*innen sowie sonstige Angaben über den Ursprung aller Fotografien im Video bis auf einen Verweis im Abspann unerwähnt bleiben, werden sie im Verlauf von A Journey gleichermaßen als „Dokumente“ mit historischer Beweiskraft verhandelt. Sie bieten Joreige zudem Anlass zu asso65 |  Diese Dialoge und Monologe erfolgen teilweise in arabischer, französischer und englischer Sprache. 66 |  Die Sammlung Rose Kettaneh umfasst laut AIF-Onlinedatenbank insgesamt 133 Fotografien, 100 davon sind online einsehbar. Es handelt sich dabei um Bilder von größtenteils anonymen Amateurfotograf*innen. Der Bezug zur AIF wird in A Journey jedoch nicht nur durch die Verwendung von Fotografien aus ihrer Sammlung deutlich, sondern auch in einer Szene explizit, die Joreige auf der Terrasse der ehemaligen AIF-Räumlichkeiten (dieselben, die auch in Zaataris On Photography, People and Modern Times zu sehen sind) im Stadtzentrum Beiruts filmte.

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ziativen Spekulationen, was sich wiederum auf das zuvor als kongruent beschriebene Verhältnis zwischen dem Narrativ des Videos, d.h. den in den Interviews sowie dem Voice-Over gemachten Aussagen und den gezeigten Fotografien auswirkt. Denn schließlich sind es die mündlichen Schilderungen und der darüber generierte Erzählstrang des Videos, welche die Wahrnehmung der Fotografien steuern und dominieren. Zwar ist es offensichtlich, dass die einzelnen Aufnahmen von verschiedenen Fotografen zu unterschiedlichen Zeiten gemacht wurden. Joreiges Autorschaft unterstellt sie jedoch zugleich ihrer eigenen Betrachtungsweise. Dies hat unterschiedliche Auswirkungen auf Joreiges Familienfotos einerseits und die Fotografien aus der AIF- Sammlung sowie den Zeitungsarchiven andererseits. Während die Familienfotos durch ihre öffentliche Präsentation im Rahmen des Videos eine verstärkte Allgemeingültigkeit als Repräsentanten einer historischen Entwicklung erlangen, werden die Fotografien aus anderen Quellen, welche weitgehend von ihren spezifischen Entstehungskontexten gelöst sind, wiederum eng in die Familiengeschichte und Joreiges Argumentation eingebunden. Das hat zur Folge, dass die Bedeutung, die im Zusammenhang mit den Umständen ihrer Genese steht, zu einem gewissen Grad unterminiert wird. Besonders deutlich wird dies in der Szene, die an die Auseinandersetzung Joreiges mit ihrer Mutter anschließt. Es handelt sich um eine Sequenz fotojournalistischer Bilder aus den An-Nahar- und As Safir-Archiven. Jene zeigen den ausgebombten Beiruter Hotelbezirk, brennende Gebäude, das zerstörte Stadtzentrum [Abb. 8], nächtliches Granatfeuer, Flüchtlinge auf Booten vor der libanesischen Küste sowie mit Stacheldraht befestigte Straßensperren, sogenannte Check-Points entlang der Green Line – der Frontlinie zwischen Ost- und West-Beirut. Im Voice-Over gibt Joreige, während diese Fotos erscheinen, ihre vagen Erinnerungen an den Krieg wieder, die im Wesentlichen deckungsgleich mit den Bildgegenständen der Fotos sind. So beschreibt sie, wie sie sich an auslaufende Boote, Explosionen, die Angst vor den Checkpoints, ihre betende Großmutter und das Radio, das immer lief, erinnert. Belegen die Fotografien zum einen ihre fragmentarischen Erinnerungen, wird von Joreige zugleich eine auf deren reale Abbildhaftigkeit basierende Suggestivkraft produktiv gemacht. Demnach wird die Zeugenschaft der Fotos nicht nur zum Abgleich mit Joreiges Erinnerungen eingesetzt. Auch sind sie keineswegs lediglich als reine Illustrationen aufzufassen. Sie dienen vielmehr der Übertragung

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Abb. 8: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

Joreiges eigener Eindrücke auf die verbildlichten Ereignisse und werden zu Projektionsflächen. Joreige spricht in der gleichen Szene im Voice-Over davon, wie sie und ihre Mutter den Krieg auf unterschiedliche Weise erfahren haben. In diesem Zusammenhang stellen insbesondere die fotojournalistischen Bilder eine visuelle Schnittmenge her. Sie bieten Joreige die Möglichkeit, sich selbst die Realität des Krieges erneut vor Augen zu führen, und geben ihr Anlass, sich in die Rolle ihrer Mutter zu versetzten. So fragt sie sich schließlich: „Wie hätte ich anstelle meiner Mutter gehandelt? Hätte ich unter den gegebenen Umständen, mit derselben Verantwortung, wie sie sie damals für ihre Familie gehabt hat, an der Seite der Palästinenser*innen gekämpft?“ Die faktische Kongruenz zwischen den Fotografien bzw. ihren Bildgegenständen und den mündlichen Schilderungen des Voice-Over bleibt in dieser Szene zwar weitgehend bestehen. Sie wird allerdings zumindest assoziativ gedehnt und erhält eine allegorische Tragweite. An anderen Stellen bricht die Kongruenz zwischen Fotografie und historischen Fakten der vermittelten Ereignisse sogar ganz auseinander. Ein Beispiel dafür ist die Sequenz von sukzessive aufeinanderfolgenden Fotografien, während derer Joreige eine Beschreibung über die Ereignisse um 1948, der Besetzung Jaffas, der Flucht ihrer Familie und der Kapitulation der arabischen Milizen im Voice-Over des Videos liefert. So sagt sie: „Am

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Abbildung 9: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

13. Mai 1948 ergaben sich die arabischen Milizen in Jaffa den zionistischen Truppen,“ während im gleichen Augenblick eine Fotografie aus der AIF-Sammlung eingeblendet wird, die, laut den in der AIF-Datenbank dazu gemachten Angaben mit dem Jahr 1967 datiert ist und eine Gruppe jordanischer Soldaten vor einem Kaffeehaus in Jerusalem zeigt [Abb. 9]. Ein weiteres Beispiel ist die Szene, in der ihr Onkel Raymond die Umstände der Flucht von Joreiges Familie aus Palästina schildert. Im Moment, in welchem er darüber spricht, wie sein Onkel versuchte trotz der Kämpfe, die sich zu der Zeit in Jaffa ereigneten, seine Habseligkeiten aus seinem Büro zu holen, wird wiederum ein Bild jordanischer Soldaten vor einer zertrümmerten Häuserkulisse gezeigt, das ebenfalls erst im Jahre 1967 in Jerusalem entstand [Abb. 10]. Daraus kann geschlossen werden, dass Joreige weniger an der Darlegung einer kohärenten Chronik gelegen ist. Sie scheint vielmehr daran interessiert, ein Geschichtsbild zu schaffen, dass zwar von der Wahrheitsfähigkeit, d.h. der Evidenz der einzelnen Fotografien gestützt wird, aber auch einen assoziativen Spielraum offen lässt. In Joreiges Montage beeinflussen somit die verbalen Aussagen die Auffassung des Betrachters über diese Fotografien und darüber, was konkret auf ihnen zu sehen ist. Das Verhältnis zwischen Text und Bild – oder genauer: das Verhältnis zwischen den im Video gezeigten Fotografien und den im Voice-Over gemachten Aussagen – ist hier im Vergleich etwa zu Zaataris Vorgehensweise gewissermaßen umgekehrt. Bei Zaatari steht die Fotografie als An-

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schauungsobjekt mit historischer Bedeutsamkeit im Vordergrund. Die Texte, die seine Ausstellungen Palestine before ’48 und Hashem El Madani: Studio Practices begleiten, sowie die Zeugenberichte in On Photography, People and Modern Times liefern lediglich zusätzliche Informationen über den Ursprung und den Inhalt der in den Ausstellungen und der Videoinstallation gezeigten Fotografien. In Joreiges A Journey hingegen steuert die Montage sowie die essayistische Struktur des Videos die Wahrnehmung bzw. die Leseweise der Fotografien. Ihre jeweiligen Bildgegenstände werden auf diese Weise nicht nur wie im Fall der Familienfotos mittels zusätzlicher Informationen und Beschreibungen kontextualisiert. Die Fotografien, die ursprünglich aus Zeitungsarchiven sowie der AIFSammlung, d.h nicht aus Joreiges Familienbesitz stammen, werden dabei vor allem rekontextualsiert und zuweilen suggestiv an die Rhetorik des Videofilms „angepasst“.

Mentales Kontinuum: Deleuzes Zeit-Bild Laut Timothy Corrigan zeichnen sich der Filmessay und in Anlehnung daran der Videoessay durch ein Zusammenspiel zwischen narrativen und nicht-narrativen Elementen aus.67 In diesem Sinne sind die fünf Teile von A Journey in ihrer Synthese wiederum lose in drei verschiedene Erzählebenen strukturiert, die sich zeitlich voneinander absetzen und zwischen Erzählung, Bericht, Kommentar und innerem Monolog changieren. Die erste Ebene stellt Joreiges Fahrt an die israelisch-libanesische Grenze dar, während sie Landschaften, das Meer und die Brandung filmt. Jene Sequenzen stecken in Verbindung mit dem Voice-Over die „Rahmenhandlung“ des Videos ab. Sie verbildlichen konkret eine Reise und stimmen, metaphorisch gesprochen, den Betrachter auf eine Art Zeitreise zurück in die Vergangenheit ein.68 Mittels des Voice-Over legt Joreige währenddes67 |  Corrigan, Timothy The Essay Film. From Montaigne, after Marker, Oxford/ New York: Oxford University Press 2011, S. 51. 68 |  Der Topos der Zeitreise spielt in Bezug auf die Rückkehr nach Palästina auch in Ghassan Kanafanis Roman Rückkehr nach Haifa eine tragende Rolle, der sicherlich eine wichtige Referenz zu Joreiges A Journey darstellt. Auch in Markers La Jetèe taucht das Prinzip der Zeitreise in Relation zur Fotografie auf. Außerdem bezeichnet Siegfried Zielinski das Medium Video als „audiovisuel-

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Abbildung 10: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

sen ihre Beweggründe dafür dar, ein Video über ihre Familie zu drehen und thematisiert mit der Nakba sowie dem libanesischen Bürgerkrieg die historischen Ereignisse, die das Leben ihrer Großmutter, ihrer Mutter, ihres Onkels, kurzum das der Protagonist*innen von A Journey sowie ihr eigenes maßgeblich prägten. Zudem liefern diese Sequenzen beständig Kommentare zu den Unterhaltungen, die Joreige mit ihren Familienmitgliedern im Verlauf des Videos führt. Die Schilderungen Joreiges Angehöriger bzw. die Dialoge zwischen ihnen und Joreige bilden die zweite Ebene, in der Joreiges Familiengeschichte, verbunden mit verschiedenen Aspekten des Nahostkonfliktes und des libanesischen Bürgerkrieges, dargelegt werden. Dies betrifft die Flucht Joreiges Familie aus Jaffa, ihr Exil im Libanon, Monas politische Gesinnung, das Verschwinden von Alfred Junior sowie die Krankheit und den Tod von Tati Rose. In der Abfolge des Videos fügt Joreige die Segmente der Autofahrt in unregelmäßiger Taktung durch harte Schnitte zwischen die Aufnahmen ihrer Angehörigen. Wird das Voice-Over der Autofahrtszenen weitgehend le Zeitmaschine“. Vgl. hierzu Kanafani, Ghassan Rückkehr nach Haifa, Basel: Lenos 1992 sowie Zielinski, Siegfried „Einleitung“, in: ders. (Hg.) Video – Apparat/Medium, Kunst, Kultur. Ein internationaler Reader, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1992, S. 9-20, hier S. 10.

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vom Präsens der Ich-Erzählung bestimmt, in dem Joreige unmittelbar ihre persönlichen Gedanken äußert, sind die Erinnerungen der Familienmitglieder im Präteritum gefasst. Die Fotografien, die als Digitalisate zeitweilig einzeln oder sukzessive gereiht in mehreren Sequenzen eingeblendet werden, sind ebenfalls wie die Autofahrtszenen zwischen die Interviews montiert. Sie fügen sich schließlich als dritte Ebene in das gesamte Narrativ des Videos. Ihre Sujets vermitteln eine Vielzahl fotografisch komprimierter Binnen-Erzählungen gemäß des Bartheschen „Ça a été“, das sich wesentlich vom Präsens und Präteritum der anderen beiden Ebenen unterscheidet. Denn auch wenn eine Fotografie einen bestimmten Zeitpunkt fixieren vermag, bezeichnet diese Perfekt-Indikativ-Konstruktion letztlich keine definite Zeitform. Barthes zu Folge halten Fotografien immer den Ausgangspunkt einer Entwicklung fest: Ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis, das seine Bedeutung bis in die Gegenwart und darüber hinaus trägt.69 In diesem Zusammenhang verweist Joreige in A Journey zum einen auf die Bedeutung der Fotografie für die persönliche Erinnerung und die Historiografie im Allgemeinen. Zum anderen wird in ihrem Video aber auch die imaginäre Kraft der Fotografie deutlich, die durch ihre von Barthes beschriebene paradoxale Gleichzeitigkeit alles Gewesene und Zukünftige relativ erscheinen lässt. Diese Relativität sowie das daran geknüpfte Verhältnis zwischen Zeit und Erinnerung bzw. Gedächtnis wurde für den Film wegweisend von Deleuze in seinen Schriften über das Kino untersucht. Insbesondere sein Konzept des Zeit-Bildes kann für A Journey, die filmischen Eigenschaften des Videos und die darüber vermit69 |  Barthes verdeutlicht dies paradigmatisch anhand Alexander Gardners Porträt des zu Tode verurteilten Attentäters Lewis Powell: „Er ist tot und er wird sterben.“ Vgl. hierzu Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 106-107; Vilém Flusser betont ebenso, dass sich die Zeitform der Fotografie grundlegend von den Prinzipien einer historischen Linearität unterscheidet. Seiner Meinung nach gehört die Fotografie einer Welt an, „in der sich alles wiederholt und alles in einem bedeutungsvollen Zusammenhang gestellt ist“. Fotografien sind demnach immer sogleich Projektionsf lächen für zukünftige Erscheinungen und daher im Grunde „antihistorisch“. Vgl. Flusser, Vilém „Fotografie und Geschichte“, in: Müller-Pohle, Andreas (Hg.) Vilém Flusser. Standpunkte. Texte zur Fotograf ie, Göttingen: European Photography 1998, S. 181-187.

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telte Zeitlichkeit, aber auch für die darin gezeigten Fotografien fruchtbar gemacht werden. In seinen Schriften zum Kino unterscheidet Deleuze grundsätzlich zwischen Bewegungs- und Zeit-Bild. Im klassischen Kino – einer Periode, die er grob bis zum Ende des zweiten Weltkrieges absteckt – ist Zeit im Film der Bewegung und dem Raum untergeordnet.70 Die Kamera folgt der Bewegung und im Schnitt werden die Aufnahmen zu einem Kontinuum zusammengefügt. Der Begriff des Bewegungs-Bildes bezeichnet demgemäß eine filmische Form, „in der das Wahrnehmen und Denken der filmischen Individuen sich noch auf ein zielgerichtetes Handeln (das Happy-End, der Show-Down) hin entwirft“.71 Nach dem zweiten Weltkrieg zeichnet sich, laut Deleuze, etwa mit dem italienischen Neorealismus oder der französischen Nouvelle Vague ein Wandel in der Geschichte des Kinos ab. Zeit wird demnach vermehrt durch ein Zusammentreffen von verschiedenen Zeitformen filmisch erfasst. Ihr wird durch diese Kollision Ausdruck verliehen und sie wird neu erfahrbar gemacht. Abgesehen von der gängigen zeitlichen Strukturierung des filmischen Narrativs in Anfang, Mitte und Ende, die sich einem chronologischen Verlauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entsprechend entfaltet, werden darüber hinaus Erinnerungsbilder erzeugt. Solche Erinnerungsbilder können „auf eine psychologische Kausalität hinweisen, die allerdings einer sensomotorischen Bestimmung noch analog ist und trotz ihrer Kreisläufe den Fortgang einer linearen Erzählhandlung garantiert“.72 Rückblenden sind dafür beispielhaft. Nach der entsprechenden Erinnerung springen sie in die Gegenwart des Films zurück und aktualisieren in Bezug auf die Vergangenheit das Gegenwärtige. Darüber hinaus beschreibt Deleuze allerdings einen filmischen Typus, der nicht mehr auf dieser sukzessiven Kausallogik beruht. Deleuze nennt diesen – in Abgrenzung zum Bewegungs- und Erinnerungs-Bild – Zeit-Bild.73 Er begreift 70 |  Fahle, Oliver „Zeitspaltungen. Gedächtnis und Erinnerung bei Gilles Deleuze“, in: montage/av, 11/1/02, Berlin 2002, S. 97-112, hier: S. 97. 71 |  Wenzel, Eike Gedächtnisraum Film. Die Arbeit an der deutschen Geschichte in Filmen seit den sechziger Jahren, Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 1999, S. 150. 72 |  Deleuze, Gilles Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 69. 73 |  Zusätzlich etabliert Deleuze die Kategorie des Kristallbildes, eine besondere Form des Zeit-Bildes, das Bildelemente aller Zeitstufen etwa in Form von im Bild gerahmte Artefakte wie Gemälde, Fotografien und Skulpturen sich gegen-

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Zeit in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Henri Bergson als eine doppelte Bewegung, „die darin besteht, die Gegenwarten vorübergehen zu lassen, die eine Gegenwart durch die andere zu ersetzen, um sich der Zukunft hinzuwenden […]“ und „die Gesamtheit der Vergangenheit zu bewahren […]“.74 Demnach enthält jeder Moment zwei Bilder: eines das vorüberzieht – das Aktuelle – und ein anderes, das auf bewahrt wird – das Virtuelle.75 Angesichts dieses reziproken Verhältnisses von aktuellem und virtuellem Bild entspricht die Konstruktion von Erinnerung anstatt der Erzeugung eines Erinnerungsbildes vielmehr einem Durchdringen verschiedener Zeitschichten: Film vermag somit, die Vergangenheit zu erfassen und sogleich in Einbezug des Imaginären auf die Zukunft verweisen, wobei die Vergangenheit und die Zukunft mit dem gegenwärtigen Bild koexistieren.76 Nach diesen Gesichtspunkten zielt Joreiges Einsatz von historischen Fotografien und Super8-Filmspuren in A Journey deutlich auf eine Repräsentation von Vergangenheit in Bezug auf die Gegenwart und eine zukünftige Entwicklung ab. Im Kontrast zur HD-Optik der Videoaufnahmen verweisen das Schwarzweiß der Fotografien und die Grobkörnigkeit der Super8- Filme bereits durch ihre mediale Beschaffenheit auf unterschiedliche Entstehungszeiten und deuten innerhalb der Montage des Videos auf raumzeitliche Sprünge hin. Trotzdem wäre es zu kurz gegriffen, sie lediglich als Rückblenden aufzufassen, die Erinnerungsbilder generieren. Denn die Vergangenheit der Fotografien wird durch die filmische Anordnung des Videos zugleich vergegenwärtigt bzw. aktualisiert. Indem A Journey ferner kein streng lineares Narrativ entwickelt, entspricht die Integration der historischen Fotografien und der Super8- Filme vielmehr dem, was Deleuze in Bezug auf sein Konzept des Zeit-Bildes und konkret hinsichtlich Alain Resnais’ Film Nuit et brouillard (1955) über das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau als Versuch bezeichnet, ein „Gedächtnis

seitig durchdringend miteinander vereint. Vgl. Deleuze, Gilles Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 95 ff. 74 |  Ebd., S. 119. 75 |  Vgl. Fahle, Oliver „Zeitspaltungen. Gedächtnis und Erinnerung bei Gilles Deleuze“, in: montage/av, 11/1/02, Berlin 2002, S. 97-112, hier: S. 102. 76 |  Vgl. Deleuze, Gilles Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 56 f.

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zu erfinden, das umso lebendiger ist, als es nicht mehr durch das Erinnerungsbild erscheint“.77 Wie A Journey basiert Resnais’ Nuit et brouillard, an dessen Entstehung Chris Marker maßgeblich beteiligt war,78 ebenfalls auf einer Montage von dokumentarischen Filmaufnahmen, einem Voice-Over sowie fotografischem und filmischem Archivmaterial. Anstatt Nuit et brouillard auf seine dokumentarischen Eigenschaften zu reduzieren, d.h. Resnais’ filmische Darstellungsweise ausschließlich als eine Repräsentation der Wirklichkeit aufzufassen, versteht Deleuze sie vielmehr als Ausdruck eines inneren Erlebens.79 Er vergleicht die damit bewirkte Verknüpfung von verschiedenen Zeitebenen mit einer „Kartografie des Gedächtnisses“ und beschreibt sie als ein „mentales Kontinuum“80, als „[…] eine Überlagerung von Karten, die mit den Redistributionen von Funktionen und Fragmentierungen von Gegenständen ein Ganzes von Transformationen von Schicht zu Schicht bestimmt: die übereinander gelagerten Epochen von Auschwitz.“81

In diesem Zusammenhang bemerkt Deleuze, dass für Resnais letztlich „Träume, Alpträume, die Phantasien, Hypothesen und Antizipationen, also alle Formen des Imaginären wichtiger sind als die Rückblenden.“82 Ihm zufolge gilt Nuit et brouillard somit als die „Summe der Möglichkeiten […], der Rückblende und der falschen Pietät des Erinnerungsbildes zu entkommen.“83 Die verschiedenen „Schichten“ zeichnen sich in Nuit et

77 |  Deleuze, Gilles Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 163. 78 |  Vgl. hierzu Blümlinger, Christa „Das Imaginäre des dokumentarischen Bildes. Zu Chris Markers Level Five“, in: montage/av, 7/2/1998, S. 91-104, hier S. 99. 79 |  Vgl. hierzu Ebbrecht, Tobias Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld: transcript Verlag 2011, S. 129. Deleuze schreibt selbst: „[D]as Kino wird zum Medium des Erkennens, nicht mehr des Wiedererkennens“. Siehe: ders. Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 33. 80 |  Deleuze, Gilles Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 162. 81 | Ebd. 82 |  Ebd., S. 163. 83 |  Ebd.

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brouillard zum einen durch die divergente Zeitlichkeit der darin erscheinenden Fotografien, Archivfilme sowie Resnais’ eigener Aufnahmen ab. Zum anderen werden sie in der Präsenz des Terrors in den Schwarzweißbildern, die während der NS-Zeit entstanden und die Absenz des Schreckens in den farbigen Filmbildern kenntlich, die Resnais zehn Jahre nach der Befreiung und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Auschwitz drehte. In diesem Gegensatz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem manifestiert sich schließlich das, was Deleuze als „lebendiges Gedächtnis“ beschreibt. Das heißt, indem Resnais in Nuit et brouillard das dem Vergessen Anheimfallende im „Unsichtbaren“ sichtbar macht, erinnert er uns daran, wie wir das „Sichtbare“ zu erinnern vergessen. Dieses Verhältnis bestimmt auch A Journey. Zwar evozieren die subjektive Sichtweise und der (auto-)biografische Ansatz des Videos im Gegensatz zu Nuit et brouillard einen stärkeren Blickpunkt auf die Haltung und Perspektive Joreiges. In Anlehnung an Deleuzes Äußerung, dass Resnais’ Nuit et brouillard, auf die Kartografie eines kollektiven Gedächtnisses abziele – Deleuze spricht von einem „Welt-Gedächtnis“84 – rückt in A Journey jedoch ebenso die Relation zwischen individuellem Erinnern und kollektivem Gedächtnis in den Vordergrund.

Modulation, Transformation und Migration: Intermedialität und Bellours L’Entre-Images In seinen Bemerkungen zu Resnais’ Nuit et brouillard geht Deleuze interessanterweise nicht konkret auf die Fotografien ein, die darin mit filmischen Aufnahmen verknüpft und ihm zufolge zu einem Zeit-Bild montiert werden. Tatsächlich spielt die Fotografie oder das Fotografische in seinen Ausführungen zum Film generell nur eine geringe Rolle.85 Deleuze unterscheidet lediglich zwischen bewegtem und unbewegtem Bild, wobei die Fotografie der zweiten Kategorie entspricht. Das bewegte Bild basiert zwar grundsätzlich auf Momentaufnahmen, die in einem gleichmäßigem Zeitabstand angeordnet sind, im Gegensatz zum unbewegten

84 |  Deleuze, Gilles Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 162. 85 |  Darauf werde ich noch ausführlicher im abschließenden vierten Teil meiner Ausführungen eingehen.

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Bild 86 lässt es jedoch die „Modulation“ des Bildgegenstandes zu. Das bedeutet nicht, dass Deleuze Film als eine Aneinanderreihung von einzelnen Bildern versteht, die nachträglich in Bewegung versetzt werden.87 Mit „Modulation“ bezeichnet er vielmehr die „Operation des Realen“, die beständig die „Identität von Bild und Gegenstand herstellt und wiederherstellt.“88 In den Sequenzen, in denen Resnais in Nuit et brouillard Fotografien sukzessive aneinanderreiht, gerät diese „Modulation“ allerdings ins Stocken. Auch wenn sie von Resnais zum Gegenstand des Filmes gemacht und in dessen Ab- oder Verlauf eingegliedert werden, bleiben die Fotografien im Wesentlichen statische Momentaufnahmen. Das filmische Kontinuum ist in diesen Sequenzen nicht mehr nur auf das folgende Bild ausgerichtet. Die Betrachter*innen sind vielmehr darum bemüht, zu deuten, was auf dem soeben gezeigten Bild zu sehen ist.89 Das Gleiche trifft auch auf die Fotosequenzen in Joreiges A Journey zu. Bis auf das darin vereinzelt vorgenommene virtuelle Hineinzoomen und Abtasten bestimmter Fotografien, welches die Bilder im Sinne Deleuzes stärker in die filmische Modulation einbindet, verbleiben die meisten der in A Journey gezeigten Fotos ebenfalls „unbewegt“. Nicht nur das. Obwohl Teil der Fließbewegung des Videos, unterbrechen sie diese auch durch ihre Unbewegtheit. Die Zeitlichkeit des Videos (bzw. des Films) und die Zeitlosigkeit der Fotografien, d.h. ihr Losgelöstsein von der Zeit, treten hier vereint auf. Auch wenn dies wiederum den Schichten des Zeit-Bildes entspräche, so bleibt das mediale Cluster bzw. das Zusammenspiel von zwei verschiedenen Medien, deren Differenzen und Gemeinsamkeiten sich zu einer besonderen Form der (Re-)Präsentation verbinden, bei Deleuze weitgehend außen vor. Darauf hat bereits der Filmwissenschaftler Raymond Bellour hingewiesen. In seinem erstmals 1987 erschienenen Text „L‘interruption, l‘instant“90 bemerkt Bellour, wie sehr sich Deleuze gegen eine Untersuchung des Films sträubt, die auf ein Zerlegen in einzelne Bilder abzielt, um zum 86 |  Vgl. Deleuze, Gilles Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 15 ff. 87 |  Vgl. ebd. 88 |  Deleuze, Gilles Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 44. 89 |  Vgl. ebd., S. 348. 90 |  Der Aufsatz ist zunächst 1990 als Kapitel in Bellours Buch L’Entre-Images. Photo, Cinéma, Vidéo, (Paris: La Différence) erschienen. Ich beziehe mich im

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Beispiel deren Bedeutung, wie Barthes es in seinem Text Der dritte Sinn tut91, nach semiotischen Gesichtspunkten zu betrachten.92 Stattdessen entwirft Deleuze mit seinem Zeit-Bild ein analytisches Modell, das laut Bellour, den Film beständig am Laufen hält und demgemäß „blind“ für die „Illusion“ des Augenblicks, die „Spur des Negativs“ und den „Geist der Fotografie“ ist.93 Dennoch sieht Bellour gerade in der Relation zwischen dem Fotografischen und dem Filmischen ein Schema, das es genauer zu untersuchen gilt. So bezeichnet er Fotogramme, Freeze Frames aber auch, wie es bei Joreiges A Journey der Fall ist, das Erscheinen sowie das Zeigen von Fotografien im Film als „entre-images“. Hierunter versteht er Zwischenbilder, die eine gesteigerte Reflexivität erzeugen und sowohl die Unterschiede als auch die Berührungspunkte zwischen beiden Medien bzw. „Dispositiven“ kenntlich machen94: „Hence, the photograph becomes the cinema’s frame, its smallest decomposable unit as well as its rule of conscience, its instance of historical formation, its strict-

Folgenden auf die englische Übersetzung „The Film Stilled“ in: ders. Betweenthe-Images, Zürich: JRP – Ringier Kunstverlag 2012, S.128-137. 91 |  Vgl. Barthes, Roland „Der dritte Sinn“, in: ders. Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 47 – 66. 92 |  Vgl. hierzu Bellour, Raymond „The Film Stilled“, in: ders. Between-theImages, Zürich: JRP – Ringier Kunstverlag 2012, S.128-137, hier S. 134. 93 |  Ebd., S. 155. 94 |  Bellour zufolge resultiert daraus auch eine „Ästhetik der Verwirrung“: „As we might imagine, the word is only intended positively, contrary to any idea of specificity or authenticity of media, which have meaning only inasmuch as they mingle. This aesthetic has, if not rules, which would be contrary to its invention, at least principles, a spirit that is led by and favors mixing.“ Vgl. hierzu Bellour, Raymond „Concerning ‚The Photographic‘“, in: Beckman, Karen und Ma, Jean (Hg.) Still Moving. Between Cinema and Photography, Durham/London: Duke University Press 2008, S. 253-276, hier S. 261. Laut Philippe Dubois ergibt sich jedoch in diesem Zusammenhang auch eine ideale Gelegenheit ein Medium durch das andere zu ref lektieren. Vgl. hierzu Dubois, Philippe „Photography Mise-en-Film: Autobiographical (Hi)stories and Psychic Apparatuses“, in: Petro, Patrice (Hg.) Fugitive Images. From Photography to Video, Bloomington Ind.: Indiana University Press 1995, S. 152.

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ly archaelogical condition. In this sense, cinema is merely a particular case of the universality of the photographic, but to the extent that it alone has the capacity to reflect photography in all its states.“95

In den, um mit Bellour zu sprechen, „entre-images“ von A Journey manifestiert sich zudem eine Form der Intermedialität, wie sie bereits am Beispiel von Zaataris On Photogaphy, People and Modern Times thematisiert wurde. Weniger wie On Photogaphy, People and Modern Times darauf angelegt, die Mediengrenzen zwischen Fotografie und Video zu unterlaufen, vollzieht sich bei A Journey die Integration der digitalisierten Fotografien in die Videospur in erster Linie auf der Ebene des Bildgehalts. Wie ich erörtert habe, fungieren die Fotografien und ihre Zeugenschaft im Rahmen von A Journey zwar vorrangig als historische Referenzen. Sie nur als in die essayistische Struktur des Videos eingebettete visuelle Zitate aufzufassen, würde jedoch das medienreflexive Potential vernachlässigen, das ihnen als Teil des Videos inhärent wird. Die Medienwissenschaftlerin Yvonne Spielmann bezeichnet Video an sich bereits als ein „reflexives Medium“.96 Diese Reflexivität greift in A Journey im Zuge des Transfers der ursprünglich analogen Fotografien in das Format des Videos auch auf die Bildlichkeit der Fotografie über. „Während für die Fotografie und auch für den Film“, so Spielmann, „das Einzelbild oder eine Sequenz von kadrierten Einzelbildern entscheidend ist“, zeichnet sich das „Video dadurch aus, daß die Bildübergänge zentral sind, ja mehr noch, daß diese Übergänge explizit reflektiert und in immer neuen Verfahren erprobt werden“.97 Das Video vermag auf diese Weise „flexible, instabile,

95 |  Bellour, Raymond „The Photo-Diagram“, in: Ehmann, Antje und Eshun, Kodwo (Hg.) Harun Farocki. Against What? Against Whom?, London: Koenig Books 2009, S. 143-151. 96 |  Spielmann, Yvonne Video. Das ref lexive Medium, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 97 |  Ebd., S. 11-12. Spielman bezieht sich hier hauptsächlich auf analoge Videotechnik, d.h. Video im PAL/SECAM- und NTSC-Format, das auf dem Prinzip der Scan-Methode basiert und Daten als kontinuierlichen Fluss darstellt. Die von Joreige verwendete MiniDV-Technik hingegen zeichnet Bilder digital auf und kodiert sie einzeln bzw. zeigt sie in einer bestimmten Taktfolge, die dennoch einen ähnlichen „Fluss“ wie das analoge Video generieren.

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nicht-fixierte Formen des Bildes“ zu generieren.98 Darüber hinaus fügt die digitale Nachbearbeitung den audiovisuellen Elementen des Videos „unbegrenzte Verknüpfungsmöglichkeiten und Austauschrelationen“99 hinzu. Ist „im Digitalen die Grenze der Physikalität eines Bildtyps erreicht […], der auf materieller Basis und entsprechend in Festlegungen des Rahmens und Formats existiert“ und bildet Spielmann zufolge das „Video einen wichtigen Baustein in diesem akkumulativen Prozess“100, so veranschaulicht A Journey die daraus resultierende „Transformativität“101 des Bildlichen, in dem das Video an die verschiedenen Transformationsstufen der darin gezeigten Fotografien evoziert. Die Abzüge und Fotoalben, die von Joreige gefilmt werden, während ihre Protagonisten sie in den Händen halten und betrachten, nehmen diesbezüglich die Ausgangsstufe ein. Die zweite Stufe bezeichnen die digitalen Reproduktionen, die Joreige als Bilddateien in die Videospur montiert. Eine dritte Stufe stellt das virtuelle Hineinzoomen und Abtasten einzelner Fotografien dar. Deuten die beide ersten Stufen zunächst auf den Übergang von materieller zu prozessualer, von analoger zu digital codierter Bildlichkeit, so evoziert die dritte Stufe durch die erzeugte filmische Simulation eine gesteigerte Flexibilität, die die Bilder aus ihrer Fixiertheit reißen und aus ihrem Rahmen heraus in den Fluss des Videos versetzen kann. Das Medium Video tritt in A Journey, abgesehen von den Fotosequenzen mit seinen gefilmten Passagen als eine Art Imitation des filmischen Abbildungsverfahrens in Erscheinung. Die Montage und die Verknüpfung dieser Passagen mit den Fotosequenzen, die damit einhergehenden Übersetzungsprozesse sowie die Verwendung digitaler Effekte brechen 98 |  Spielmann, Yvonne Video. Das ref lexive Medium, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 12. 99 |  Ebd., S. 13. 100 |  Ebd. 101 |  Um die prozessuale Eigenschaft des Videos gegenüber der Fotografie und dem Film hervorzuheben, bezeichnet Spielmann Video auch als „Transformationsbild“. Dem Video liegt demnach, laut Spielmann, ein „Verfahren der Schichtung“ zu Grunde, „der parallelen und unterschiedlichen Bearbeitung verschiedener Bildsegmente, Stillstand, Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen und Transfigurationen, welche die Umkehrbarkeit einschließen. Mit Transformationen sind somit f lexible, instabile, nicht-fixierte Formen des Bildes gemeint.“ Siehe: Ebd., S. 12.

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jedoch sogleich mit diesem Verfahren. Genau darin entfaltet sich, wie bereits anhand von Zaataris On Photogaphy, People and Modern Times dargestellt wurde, das medienreflexive Potential dieser Verknüpfung.102 Intermedialität geht in Joreiges Video jedoch noch stärker mit einer Migration von Bildern einher. Konkret in Bezug auf die Fotografien vollzieht sich diese Migration zum einen in dem Transfer von ihrem ursprünglich privaten Kontext über die öffentlich zugängliche Sammlung der AIF ins Kunstwerk sowie ausgehend von den institutionellen Fotoarchiven von Tageszeitungen ins Kunstwerk. Zum anderen ist diese Migration in dem Übergang vom analogen Fotoabzug zur Bilddatei, zum Videobild und dessen „entre-images“ immanent.103 Hans Beltings zugespitzte These, dass Bilder „von Hause aus intermedial“ seien, da sie zwischen historischen Bildmedien „wandern“104, wäre in Bezug darauf (aber auch in Relation zu dem von Deleuze in seinen Ausführungen zum ZeitBild beschriebenem „mentalen Kontinuum“ und Bellours Konzept der „entre-images“) durchaus passend. Demnach sind, so Belting, Bilder „die Nomaden der Medien“: „Sie schlagen in jedem neuen Medium, das in der Geschichte der Bilder eingerichtet wurde, ihre Zelte auf, bevor sie in das nächste Medium weiterziehen.“105 Der Titel von Joreiges Video kann somit nicht nur in Bezug auf die Migration von Joreiges Familie aus Palästina in den Libanon in Folge der Nakba und ihrer Flucht aus Beirut vor dem libanesischen Bürgerkrieg, sondern auch in Relation zu den in diesem Zusammenhang migrierenden Fotografien bzw. Bildern gelesen werden.

Hier und Anderswo: Heterotopie und Utopie Aus der sich in A Journey abzeichnenden Migration der Fotografien resultiert nicht nur eine Modifikation ihrer Materialität. Die Migration bedingt zudem eine sich ihr beugende Rezeption. In dem Video verändert 102 |  Siehe Kapitel I, S. 123 ff. 103 |  Des Weiteren setzen sich diese Übergänge zum Beispiel in Form der Projektion des Videos, der Produktion von Videostills und ihrer Reproduktion in Publikationen und Onlineveröffentlichungen fort. 104 |  Belting, Hans Bild-Anthropologie. Entwürfe einer Bildwissenschaft, München: Wilhelm Fink 2001, S. 214. 105 |  Ebd., S. 214.

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sich, wie ich gezeigt habe, die Bedeutung der Fotografien mit ihren fluktuierenden Bestimmungen als persönliche Memorabilien, historische Referenzen oder assoziative Projektionsflächen. Darüber hinaus werden die Fotos in Verbindung mit den von Joreige gefilmten Aufnahmen auch immer auf einen Vergleich zwischen der auf ihnen und der in den Videoaufnahmen abgebildeten Realität hin betrachtet. So stellen zum Beispiel die in A Journey gezeigten fotografischen Porträts eine direkte Korrelation zu den im Video porträtierten Personen – zwischen deren jüngerem und deren älterem „Ich“ – her. Abgesehen von dieser zeitlichen „Schichtung“ im Sinne Deleuzes erzeugt das damit einhergehende vergleichende Betrachten zudem eine örtliche Spaltung. In Verbindung mit den Szenen, die in den Wohnräumen von Tati Rose und Joreiges Eltern aber auch der Stadt selbst sowie den Landschaften Südlibanons gedreht wurden, schaffen insbesondere die in Palästina entstandenen Fotografien und die sich darunter befindenden Ansichten Jaffas und Jerusalems neben einem konstanten Oszillieren zwischen ‚Jetzt‘ und ‚Damals‘ eine reziproke Bewegung zwischen ‚Hier‘ und ‚Anderswo‘. Eine solche Heterotopie106 kommt im vierten und fünften Teil von A Journey nicht mehr nur in der Gegenüberstellung von Fotografien und den mit der Videokamera gedrehten Aufnahmen zum Ausdruck. In „My cousin Gillian“ und „Marie Okhtie“ wird die dadurch erzeugte räumliche Spaltung verstärkt in das Imaginäre übertragen. Die letzten beiden Fotografien, die in A Journey erscheinen, sind zwei Porträts, auf der Joreiges Mutter als kleines Mädchen mit ihrem vier Jahre älteren Bruder Alfred Junior zu sehen ist. Mona blättert durch ein Fotoalbum und zeigt Joreige die beiden Bilder, von denen eines in einem Fotostudio und das andere auf der Veranda eines Hauses am Meer entstand 106 |  Foucault verwendet den Begriff der Heterotopie, um Zonen zu benennen, an denen mehrere Orte, die an sich inkompatibel sind, nebeneinander auftreten. Obwohl sie sich von gewöhnlichen Lebensräumen absetzen, weisen Heterotopien dennoch vielschichtige Beziehungen mit anderen Orten auf. Für Foucault verkörpert das Schiff in beispielhafter Weise eine Heterotopie, da es ein heterogener Ort „ohne Ort“ ist, der viele andere Orte tangiert. Vgl. hierzu Foucault, Michel „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.) Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 3246. Zum Verhältnis von Erinnerung, Heterotopie und Film siehe auch Burgin, Victor The Remembered Film, London: Reaktion Books 2004, S. 10 f.

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[Abb. 11]. Sie erzählt, dass sie zu Alfred Junior im Gegensatz zu ihren anderen beiden Brüdern Raymond und Henry eine engere Beziehung hatte. „Er ist und bleibt mein Bruder“, sagt sie, bevor das Video in den vierten Teil „My cousin Gillian“ überleitet. Darin diskutiert Mona gemeinsam mit ihrem Ehemann und Joreiges Cousine Gillian die Entführung Alfred Juniors [Abb. 12]. Anstoß dieser Unterhaltung liefert Gillians Drängen, mit Hilfe von Joreiges Eltern die genauen Umstände des Verschwindens ihres Vaters zu rekonstruieren. Sie nennen Daten, berufen sich auf Berichte und Gerüchte und stellen, basierend auf den gesammelten und zum Teil widersprüchlichen Anhaltspunkten, Mutmaßungen darüber an, wer Alfred Junior entführt haben und was genau mit ihm geschehen sein könnte. Seine Spur verliert sich jedoch mit einer gescheiterten Geldübergabe: „Die einzige Gewissheit, die ich habe“, so Joreiges Vater während des Gespräches, „ist, dass er tot ist.“ Es ist bezeichnend, dass Joreige in diesem Teil von A Journey darauf verzichtet, sich auf Fotografien zu beziehen und sie wie in den drei Teilen zuvor einzublenden. Die fotografische Spur verliert sich mit den Erwägungen über Alfred Juniors Schicksal im Imaginären. In dem mit „My cousin Gillian“ betitelten Abschnitt wird eine räumliche Spaltung hervorgerufen, die sich durch die Spekulationen über Alfred Juniors Verbleiben in einem „Hier“ und einem unbestimmten „Anderswo“ entfaltet.107 107 |  Diese Spaltung zwischen einem Hier und einem ungewissen Anderswo wurde von Joreige bereits in ihrer 2002 entstandenen Videoarbeit Here and Perhaps Elsewhere (Houna wa roubbama hounak) ref lektiert. Steht A Journey vor allem unter dem Einf luss Chris Markers, stellt Here and Perhaps Elsewhere eine Referenz zu Jean-Luc Godards Ici et Ailleurs (1976) dar. Darin befragt Joreige Anwohner*innen Beiruts, die in der unmittelbaren Nähe der „Green Line“, der ehemaligen Demarkationslinie zwischen Ost- und West-Beirut bzw. der Front zwischen den verfeindeten Milizen leben, ob sie jemanden kennen, der oder die während des Bürgerkrieges entführt wurde. Dabei zeigt sie ihnen Fotografien, die im Verlauf des Krieges entstanden und aus dem Archiv der libanesischen Tageszeitungen As-Safir und An Nahar stammen. Die Entführung von Zivilpersonen war ein weit verbreitetes und sehr häufig angewandtes Mittel der unterschiedlichen Milizen, um Geld zu erpressen, Verbündete frei zu tauschen, politischen Druck aufzubauen oder Vergeltung zu üben. Tausende Libanesen verschwanden auf diese Weise. Die Fotografien dienen Joreige in Here and Perhaps Elsewhere nicht nur als vermittelnder Gegenstand, um mit den Anwohnern

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Abbildung 11: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

Auch im letzten Teil von A Journey „Marie Okhti“ wird in einer Szene, in der Joreiges Großtante zusammen mit Tati Rose in ihrem Schlafzimmer zu sehen ist, ein solcher Kontrast zwischen dargestellter ‚Realität‘ und dem Imaginären evident. Marie Okhtie liegt auf dem Bett und beobachtet ihre Schwester am Fenster sitzend, während sie beide von einer Pflegerin in einen Dialog zu treten. Sie fungieren vor allem als historische Zeitdokumente, die den von Joreige interviewten Personen sowie den Betrachter*innen, die destruktiven Ausmaße des Krieges in Erinnerung rufen bzw. vor Augen führen. Dabei wird vor allem der Kontrast zwischen den überwiegend menschenleeren, zerstörten Straßen und Gebäuden auf den Schwarzweißfotos und der pulsierenden Stadt im Video deutlich. Außerdem konterkarieren die Aussagen der Protagonisten, die größtenteils von starker Emotionalität geprägt sind und zwischen Resignation, Hoffnung, Offenheit und missbilligender Verschlossenheit schwanken, die scheinbare Objektivität der Fotografien. Die Betrachter*innen finden sich somit in einer befremdlichen Heterotopie wieder, die aus der Kombination von historischen Fakten, der Zeugenschaft der Fotografie (und des Videos), mit den subjektiven Erinnerungen und Schilderungen der Anwohner der Green Line entsteht, die es ihm erschwert, zwischen Faktizität und Fiktionalität zu unterscheiden. Im Verlauf des Filmes stößt Joreige auch auf zwei Anwohner*innen, die ihr von der Entführung ihres Onkels Alfred Jr. berichten.

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Abbildung 12: Lamia Joreige, A Journey, 2006; Video (Farbe/Ton), 41 min (Videostill)

Tee serviert bekommen. Sichtlich von Alter und Krankheit gezeichnet, spricht Tati Rose darüber, wie sie nach Hause und gemeinsam mit Marie Okhti auf einen Berg gehen und nicht mehr zurückkehren wird. Ihre wirren Sätze und die Art und Weise, wie sie sich artikuliert, wirken im Vergleich zu den vorangegangen Interviews infantil und machen das fortgeschrittene Stadium ihrer Demenz deutlich. Sie erkennt Joreige nicht mehr, ist überwiegend geistig abwesend und desorientiert. Zwischenzeitig scheint sie jedoch auch vollkommen luzide. So bemerkt sie plötzlich lakonisch und bestimmt zugleich: „Wie einfach und gleichzeitig wie schwierig das Leben ist!“ Tati Roses Gedankenwelt, in der Erinnerung und Vergessen keine Gegensätze mehr darstellen, und die sich in Form dessen äußert, was Freud in Bezug auf das Unbewusste als „eine andere Lokalität“108 beschreibt, steht hier also der im Video festgehaltenen Realität gegenüber. Im Anschluss dieser Szene erfahren die Betrachter*innen, dass dies das letzte Mal gewesen ist, dass Joreige ihre Großmutter vor ihrem Tod sah. Es folgen weitere Landschaftsaufnahmen, die Joreige schließlich am Ziel ihrer Reise ankommend zeigen. Am Ende des Videos streift sie mit einer unbekannten Begleiterin durch das scheinbar menschenleere israelisch-libanesische Grenzgebiet. Auf den Fassaden der Grenzposten und umlie108 |  Vgl. Burgin, Victor The Remembered Film, London: Reaktion Books 2004, S. 10.

Lamia Joreige

genden Mauern stehen in arabischer und teilweise englischer Sprache verfasste Slogans: „Palästina – unser Land!“; „Zur Erinnerung an die jungen Leute von Sabra und Shatila“ und „Jerusalem Arab for eternity!“ Joreiges Begleiterin filmt ihren eigenen Schatten, der von der Sonne auf die andere Seite eines Stacheldrahtes geworfen wird, vor dem sie steht. „Dein Schatten ist in Israel!“ ertönt die Stimme der Künstlerin aus dem Off. Das Simultane des Nahen und Fernen, „des Nebeneinander, des Auseinander“109 erhält hier zusätzlich eine utopische Dimension. Das Palästina in den Erinnerungen ihrer Angehörigen und den in A Journey gezeigten Fotografien existiert offensichtlich nicht mehr. In Anbetracht der beklemmenden Wirklichkeit der israelisch-libanesischen Grenze, die bis heute die in den Libanon geflüchteten Palästinenser*innen von ihrer Heimat trennt, eine Bastion zwischen zwei verfeindeten Staaten darstellt sowie einen folgenschweren Einschnitt in die Geschichte der gesamten Region symbolisiert, ist Joreige letztlich nur einer Idee davon näher gekommen, was Palästina sein könnte. Das Bild des Schattens ihrer Begleiterin, der in ein Gebiet reicht, in dem ihr aufgrund ihrer libanesischen Staatsbürgerschaft der Zutritt nicht gestattet ist, gibt jedoch zumindest der Hoffnung Ausdruck, irgendwann mit dem Stacheldrahtzaun auch ideologische Barrieren überwinden zu können. Die finale Kameraeinstellung des Videos unterstreicht dies quasi gestisch. Mit einem Schwenk über das Mittelmeer von rechts nach links, von Norden nach Süden, vom Libanon nach Israel, fährt die Kamera die Horizontlinie zwischen Himmel und Wasser ab – ungeteilt und unbegrenzt.110 109 |  Foucault, Michel „Andere Räume“, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.) Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 32-46, hier S. 34. 110 |  Auf den Begriff des Horizonts in der Gegenwartskunst, die sich explizit mit Erinnerungs- und Geschichtsprozessen auseinandersetzt, geht auch Peter Osborne in Anyhwere or Not at All ein. Sich dabei auf Husserl, Heidegger, Kant sowie Reinhart Koselleck beziehend spricht er sich allerdings gegen eine Verwendung des Horizontbegriffs (und dementsprechend seiner künstlerischen Darstellung) als eine Metapher für das Zukünftige, die Hoffnung und Erwartung aus. Mit einer Fixierung auf den Horizont ergibt sich für ihn ein Erstarren in einer Erwartungshaltung, das keine fruchtbaren Veränderungen für die Zukunft zulässt. Er kommt zu dem Schluss, dass: „At its best, contemporary art models experimental practices of negation that puncture horizons of ex-

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Resümierend kann festgehalten werden, dass Joreige in A Journey ein von verschiedenen Zeitschichten geprägtes Bild entwirft. Es verdeutlicht über das sich darin entfaltende Narrativ die reziproke Abhängigkeit davon, wie die Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft Bedeutung stiftet bzw. wie der Vergangenheit in der Gegenwart im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen retrospektiv Bedeutung verliehen wird. Auch wenn dabei das Motiv des Verlusts besonders heraus sticht, vermittelt dieses Bild keine starre nostalgische, melancholische oder gar revisionistische Haltung. Joreige stellt ihre Familiengeschichte in A Journey nicht nur im Verhältnis zur „Geschichte“ dar. Der (auto-)biografische Ansatz des Videos ist vielmehr Ausdruck für ein Verlangen danach, eigenständig Geschichte zu schreiben bzw. zur Festigung eines kollektiven Gedächtnisses beizutragen. Die Fotografie wird dabei von Joreige als Beweis und in Form von visuellen Zitaten als rhetorisches Mittel zur Verdichtung und Untermauerung ihrer Argumentation genutzt. An den Stellen, an denen der eigentliche Bildgegenstand einiger Fotos nicht mit den von Joreige im Voice-Over des Videos gemachten Äußerungen übereinstimmt, oder an denen er Projektionsflächen für Joreiges Erinnerungen und politische Überzeugungen dient, wird jedoch die Evidenz der Fotografien gleichzeitig gebeugt bzw. wird ihr verzerrter Charakter, den sie nach Ginsburg als historische Quellen aufweisen, offenkundig. Die Bezugnahme auf historische Fotografien geschieht in A Journey somit nicht ausschließlich als ein Verweis auf die „Wahrheit“ ihres Bildgehaltes, sondern als Teil eines rhetorisch umrissenen „mentalen Kontinuums“.

pectations.“ In Bezug auf die Schlusszene von A Journey könnte man demnach auch von einer Punktierung des Horizonts sprechen, die mit dem Abspann des Videos ins Ungewisse zielt. Vgl. hierzu Osborne, Peter Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 202-211.

Walid Raad

7. „Y es , I did . B ut I won ’ t do it again “: W alid R a ads A useinanderse t zung mit den isr aelischen A ngriffen auf die PLO in B eirut 1982 In seiner Lecture Performance111 I feel a great desire to meet the masses once again (2005)112 erzählt Walid Raad, wie er am Flughafen von Rochester (New York) im November 2004 festgehalten und anschließend von Polizeibeamten und einem FBI-Agenten verhört wurde. Er berichtet davon, dass jene ihn zu einzelnen Gepäckstücken befragten und seine Aussagen nur mit erheblichem Argwohn zur Kenntnis nahmen. Parallel dazu zeigt er mittels einer Powerpoint-Präsentation, deren Slides auf eine große Leinwand hinter ihm projiziert werden, Fotos der Objekte, die sich in seinem Koffer befanden und ihn verdächtig erschienen ließen. Es wird dabei offensichtlich, dass Raad nicht nur aufgrund seines Gepäcks vernommen wurde, sondern dass er sich vor allem aufgrund seiner Herkunft und des in Folge der Anschläge am 11. September 2001 von der Bush-Administration deklarierten „war on terrorism“ dieser Prozedur ausgesetzt sah. Die von Raad beschriebene Situation mag sich so, so ähnlich, ganz anders oder gar nicht zugetragen haben. Denn Raads künstlerisches Schaf111 |  Der Begriff der Lecture Performance wurde in den 1990er Jahren virulent. Robert Morris’ Performance von Erwin Panofskys „Studies in Iconology“ (1964) gilt allerdings dafür als eine erste wesentliche Referenz. Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Marianne Wagner bezeichnet eine Lecture Performance als einen performativen Modus öffentlichen Sprechens, in der der künstlerisch-performative Akt auf das Prozedere eines akademischen Vortrages trifft. Beide Aspekte komplimentieren sich dabei gegenseitig hinsichtlich des Sprachduktus, des Settings und des technischen Instrumentariums. Vgl. Wagner, Marianne „Doing Lectures. Performative Lectures as a Framework for Artistic Action“, in: Jentjens, Kathrin et al. (Hg.) Lecture Performance, Köln/Belgrad: Kölnischer Kunstverein/Museum of Contemporary Art Belgrade 2009, S. 17-30, hier S. 18. Siehe außerdem: Peters, Sybille Der Vortrag als Performance, Bielefeld: transcript 2011; Blumenstein, Ellen und Geuss, Fiona (Hg.) Perform a Lecture!, Berlin: Argobooks 2011 sowie Wilson-Goldie, Kaelen „Lecture as Performance“, in: aperture, 221, Winter 2015, S. 50-57. 112 |  Raad präsentierte die Performance zunächst 2005 im Rahmen von Home Works III in Beirut und darauf hin u.a. im Hebbel am Ufer/HAU2 in Berlin (2006) und im Centre Pompidou in Paris (2007).

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fen ist primär davon geprägt, dass er Fakten mit fiktiven Elementen verknüpft. Von Dokumenten, Zeugenberichten und dem Archiv ausgehend, hinterfragt er den Anspruch auf Authentizität, der im Rahmen historischer Prozesse oftmals als oberste Prämisse gestellt wird und nicht zuletzt auf die Postulierung einer Wahrheit abzielt.113 So ist es in diesem Zusammenhang weniger von Bedeutung, ob sich die Vernehmung tatsächlich zugetragen hat. Entscheidender ist, dass Raad die Schilderung zum Ausgangspunkt für eine weiterführende kritische Reflexion der Vorgehensweise US-amerikanischer Behörden nimmt, im Zuge derer Personen auf völlig arbiträren Grundlagen verdächtigt, demütigenden Inquisitionen unterzogen, gegebenenfalls verhaftet und des Landes verwiesen werden. Dieses Ereignis bzw. die Erzählung des Ereignisses wirft Raad im Verlauf von I feel a great desire to... allerdings auch auf die Umstände seiner Einreise in die USA zurück, wo er seit Anfang der 1980er Jahre lebt, an der University of Rochester promovierte114, momentan als 113 |  Dazu bemerkt Raad in einer seiner Performances: „In Lebanon notions of certainty are unavailable.“ Mit der Atlas Group versuche er dennoch ein Modell dafür zu etablieren, wie diese Geschichte geschrieben werden könnte. Vgl. Jones, Caroline A. „Doubt Fear“, in: Art Papers, January/February 2005, S. 2435, hier S. 30 sowie Gödecke, Regina „Zweifelhafte Dokumente. Zeitgenössische arabische Kunst, Walid Raad und die Frage der Re-Präsentation“, in dies. und Karentzos, Alexandra (Hg.) Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur, Bielefeld: transcript 2006, S. 185- 203, hier S. 194. 114 |  In seiner Dissertation im Fach Visual and Cultural Studies untersucht Raad die Darstellung von Entführungen ausländischer Kleriker, Journalisten und Mitarbeiter westlicher Hilfsorganisationen während des libanesischen Bürgerkrieges in autobiografischen Zeugnissen und Spielfilmen. Einige der Geiseln veröffentlichten nach ihrer Befreiung Memoiren. Raad nimmt diese sowie den libanesischen Film Hors la Vie (1991) von Maroun Bagdadi, der von der Entführung eines französischen Fotografen erzählt, zum Ausgangspunkt, um die psychologischen, politischen, historischen aber auch latent sexuellen Implikationen der libanesischen Geiselkrise zu untersuchen. Im Rahmen seines Atlas Group-Projektes greift er diese Thematik mit der Videoarbeit Hostage: The Bachar Tapes (2001) wieder auf. Darin wird die fiktive Geiselnahme von Souheil Bachar geschildert, der 10 Jahre in Gefangenschaft verbrachte und während dieser Zeit im Jahre 1985 für drei Monate angeblich eine Zelle mit den tatsächlich entführten amerikanischen Staatsbürgern Terry Anderson, Thomas

Walid Raad

bildender Künstler tätig ist und an der Cooper Union School of Art in New York unterrichtet. Er legt dar, wie er 1983, als der libanesische Bürgerkrieg erneut in gewalttätige Kämpfe ausbrach, über Zypern und Paris in die Vereinigten Staaten floh, um seiner Zwangsrekrutierung durch die Lebanese Forces zu entkommen – jener Miliz, welche die Nachbarschaft im Ostteil Beiruts kontrollierte, in der Raad damals mit seiner Familie lebte.115 Dabei zeigt er Fotos, die er im Verlauf dieser Reise machte. Er präsentiert aber auch vier Schwarzweißaufnahmen, die bereits ein Jahr zuvor entstanden. Zu diesen Bildern erklärt er, dass er sie während der israelischen Invasion im Juni 1982 in Beirut gemacht habe. Damals belagerte die israelische Armee unterstützt von den Lebanese Forces den Westteil der Stadt, insbesondere das Fakhini Viertel, bombardierte PLO-Quartiere und tötete tausende palästinensische sowie libanesische Zivilisten. Auf zweien dieser Fotos sind dunkle Rauchwolken von Explosionen über den Dächern West-Beiruts zu sehen. Die beiden anderen zeigen israelische Soldaten während einer Ruhephase. Im Verlauf der Performance stellt sich heraus, dass Raads Mutter selbst Palästinenserin ist.116 Er deutet darauf hin, dass er sich aufgrund dieser familiären Verbundenheit mit dem palästinensischen Volk und seiner damaligen Position als passiver Beobachter heute durchaus in einem Sutherland, Benjamin Weir, Martin Jenco, and David Jacobsen verbrachte. Siehe dazu Raads unveröffentliche Dissertation Beirut...à la folie: A Cultural Analysis of the Abduction of Westerners in Lebanon in the 1980s (University of Rochester, 1996) sowie Magagnoli, Paolo „A Method in Madness“, in: Third Text, 25:3, 2011, S. 311-324. 115 |  Siehe Kapitel II, S. 134, FN 11. 116 |  Raad, Walid „I feel a great desire to meet the masses again: A project by Walid Raad“, in: Charafeddine, Chaza; Ref ka, Masha und Thome, Christine (Hg.) Home Works III. A Forum of Cultural Practices, Beirut: Ashkal Alwan 2008, S. 178-201, hier S. 199. Bei diesem Text handelt es sich um das Skript, das Raad während seiner Performance referiert. Zum Verhältnis zwischen Raad und seiner palästinensischen Mutter vgl. auch Jones, Caroline A, „Doubt Fear“, in: Art Papers, January/February 2005, S. 24-35, hier S. 30 sowie Toufic, Jalal „How Would You Not Ask?“, June 10, 2010, http://www.jalaltoufic.com/downloads/ English _Translat ion _ of _t he _ A rabic _ segment _ of _ How_Wou ld _You _ Not _ Ask-_ An_Interview_by_Walid_Raad_of_Jalal_Toufic,_June_10,_2010.pdf [eingesehen am 29.06.16].

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Gewissenskonflikt befindet: Anstatt zur Kamera hätte er eigentlich zur Waffe greifen sollen, bemerkt er.117 Im nächsten Augenblick gibt Raad allerdings sogleich zu bedenken, dass sein Handeln zu diesem Zeitpunkt nicht sonderlich reflektiert gewesen sei: „In 1982, I was 15; and I clearly did not know what I was doing. I only knew that I liked photography; that I liked taking pictures of apples and flowers, basketball games and my friends.“118

Daraus wird ersichtlich, dass Raads Gewissenskonflikt mit einer zunehmenden politischen Bewusstwerdung in Verbindung steht. Er spricht davon, dass er sich zum Entstehungszeitpunkt der Fotos nicht über die Umstände und Auswirkungen der von ihm festgehaltenen Konfliktsituation im Klaren gewesen sei. Die Bilder entfalteten somit erst retrospektiv, d.h. erst unter veränderten Gesichtspunkten, jenseits von „apples and flowers, basketball games“ ihre volle Bedeutung. Angesichts dessen stellt Raad in I feel a great desire to... weiterhin ein aufklärerisches Potential von Bildern, der Fotografie aber auch der Kunst generell in Frage. Er bemerkt, dass sie weniger Beweise und Argumente gegen unterdrückende und gewalttätige Machtstrukturen liefern, sondern dass sie im Gegenteil, indem sie jene letztlich als gegebene Tatsachen anzeigen, schließlich ihre fortwährende Existenz legitimieren. So zitiert er in I feel a great desire to... im Anschluss der Beschreibung des Verhörs eine Unterhaltung mit seinem Freund, einem gewissen Tom: „Moreover, Tom mockingly asked me […]: ,Do you actually believe that one more story, one more picture, one more piece of investigative journalism disguised as a lecture, a performance, or art (or whatever you want to call it), will bring you and others around? Will force you and others to stop shrugging your shoulders? Can you, for a second, consider that this faith you have in the informative power of images and words doesn’t just fail to stop state sponsored torture, but actually prevent it from stopping? […] Didn’t you stand in 1982 in a parking lot in 117 |  Raad, Walid „I feel a great desire to meet the masses again: A project by Walid Raad“, in: Charafeddine, Chaza; Ref ka, Masha und Thome, Christine (Hg.) Home Works III. A Forum of Cultural Practices, Beirut: Ashkal Alwan 2008, S. 178-201, hier S. 181. 118 |  Ebd.

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front of your mother’s house in East Beirut and watch, photograph and cheer the Israeli destruction of West Beirut? Didn’t you stand in front of your Palestinian mother’s house, and wish for the kind of destruction being inflicted on the PLO and the Palestinian and Lebanese population of not-your-part of Beirut?‘ […] Feeling agressed and even more panicked, I hastily replied: ,Yes, I did. But I won’t do it again.‘“119

Ob Raad die vier Fotografien im Verlauf der israelischen Invasion wirklich selbst gemacht hat, bleibt letztlich, wie auch die Authentizität seiner Erzählung des Verhörs zu bezweifeln. Dabei erhalten sie im Rahmen von I feel a great desire to meet the masses once again insbesondere aus diesem Grund in Verbindung mit dem Narrativ der Performance einen emblematischen Status. Sie werden einerseits beruhend auf ihrer Zeugenschaft als Belege für den Hergang eines Ereignisses präsentiert. Somit sind sie gleichzeitig das Resultat und der Ausgangspunkt eines politischen Handlungsvermögens: Resultat in Bezug auf den damit verbundenen (auf-)zeigenden und „dokumentierenden Akt“; Ausgangspunkt in Bezug darauf, dass die Fotografien zum Gegenstand einer retrospektiven Betrachtung bzw. historiografischer Interpretation gemacht werden. Anderseits ist es jedoch genau die Wirksamkeit dieses Handlungsvermögens, die Raad in I feel a great desire to... grundsätzlich anhand der Aufnahmen und der bei den Betrachter*innen ausgelösten Unsicherheit darüber, wie sie tatsächlich entstanden sind, relativiert. Die Lecture Performance bringt somit ein kalkuliertes Abwägen zum Ausdruck, das durch den Einsatz rhetorischer Kniffe, dem Einbezug verschiedener Betrachterperspektiven und damit auch von einer ironischen Distanziertheit bestimmt ist – Eigenschaften, die im Allgemeinen Raads künstlerisches Schaffen und im Besonderen sein Vorgehen im Kontext der Atlas Group prägen. Von diesen Beobachtungen ausgehend sollen in den nächsten Teilkapiteln die Methoden, formalen Mittel und Strategien untersucht werden, die Raad unter seiner Autorschaft und unter dem kollektiven Pseudonym der Atlas Group hinsichtlich der Verwendung historischer Fotografien anwendet bzw. verfolgt. Dabei werde ich den Fokus auf die Aufnahmen 119 |  Raad, Walid „I feel a great desire to meet the masses again: A project by Walid Raad“, in: Charafeddine, Chaza; Ref ka, Masha und Thome, Christine (Hg.) Home Works III. A Forum of Cultural Practices, Beirut: Ashkal Alwan 2008, S. 178-201, hier S. 197-199.

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der israelischen Invasion beibehalten. Denn Raad zeigt jene nicht nur im Rahmen von I feel a great desire to... . Sie sind zudem Teil einer Fotoserie, die er in verschiedenen Fassungen unter den Titeln We decided we let them say, „we are convinced“ twice bzw. We decided we let them say, „we are convinced“ twice. It was more convincing this way (2002) als von der Atlas Group gesammelte „Dokumente“ und als Untitled 1982-2007 (2008) unter seinem Namen präsentiert – wobei auch zu klären ist, was von Raad als Dokument bezeichnet wird und warum. Bezieht er sich insbesondere im Kontext der Atlas Group inhaltlich primär auf die Geschichte des libanesischen Bürgerkrieges, verweist er in diesen Werken sowie in I feel a great desire to... zudem konkret auf die Geschichte Palästinas, genauer auf die israelischen Angriffe auf die PLO-Stützpunkte in Beirut, den schwerwiegendsten und längsten palästinensisch-israelischen Krieg.120 Dabei hebt Raad ähnlich wie Joreiges A Journey, den Nexus zwischen libanesischer und palästinensischer Geschichte in Bezug auf seine eigene Familiengeschichte hervor. Raads Umgang mit der Fotografie unterscheidet sich jedoch erheblich von Joreiges. Anstatt wie Joreige Fotos als Grundlage für eine „subjektive Reflexion“ über die Beziehung zwischen individueller Erinnerung, kollektivem Gedächtnis und institutioneller Geschichtsschreibung zu nutzen, verwendet Raad historische Fotografien vielmehr dazu, um Zweifel zu erregen und damit die Konstruiertheit von Geschichte zu beleuchten. So wie die Konstellation seiner Gepäckstücke, die ihn während des in I feel a great desire to... beschriebenen Verhörs suspekt erscheinen ließ, erzeugt Raads Verknüpfung der Fotografie mit narrativen Texten primär Verdachtsmomente, die zu einem beständigen Hinterfragen historiografischer Prozesse und den ihnen zugrunde liegenden Ideologien anleiten. Demnach soll in den folgenden Schritten erläutert werden, wie jene Verdachtsmomente in den verschiedenen Versionen von We decided we let them say... und I feel a great desire to... bezogen auf die angeblich von Raad während der israelischen Invasion gemachten Aufnahmen in Erscheinung treten. Welche Auswirkungen haben die verschiedenen Autorschaften, medialen Verschiebungen und die Bezugnahme auf archivarische Praktiken auf die Fotos? Und inwiefern übt die damit einhergehende ostentative Vermen-

120 |  Khalidi, Rashid Under Siege. P.L.O. Decisionmaking During the 1982 War, New York: Columbia University Press 1986, S. 43.

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gung von historischen Fakten mit fiktiven Elementen Kritik an ideologisch gesteuerter Geschichtsschreibung?

„I say different things at different times and in different places“: The Atlas Group Die Atlas Group ist ein fiktives Kollektiv, das im Grunde nur aus einer Person besteht: Walid Raad. Auch wenn er vereinzelt mit anderen Künstler*innen sowie Schriftsteller*innen etwa im Rahmen von Performances zusammenarbeitet,121 ist die Atlas Group als ein kollektives Pseudonym zu verstehen. Darunter präsentiert Raad seit Ende der 1990 Jahre einen multimedialen Werkkomplex, der die Einschränkungen und Möglichkeiten hinsichtlich einer Formulierung einer Zeitgeschichte des Libanons beleuchten soll, insbesondere was die Kriege betrifft, in die das Land seit 1975 verwickelt war.122 Diesem Werkkomplex liegt von Anfang an ein performatives Prinzip zu Grunde, nach welchem Raad konsequent seine Autorschaft verschleiert und bestimmte Teile der Atlas Group bzw. des Atlas Group Archive erfundenen Charakteren zuschreibt. So bezeichnete Raad in der Vergangenheit die Atlas Group als eine Organisation, die er im Jahr 1989 gründete; aber auch als eine Organisation, die 1976 von einer libanesischen Künstlerin namens Maha Traboulsi ins Leben gerufen wurde.123 An anderer Stelle macht er hingegen die Tatsache, dass es sich 121 |  Der Künstler Tony Chakar und der Autor Bilal Khbeiz arbeiteten zum Beispiel mit Raad an mehreren Atlas Group Performances bzw. führten sie mit ihm als Protagonisten der Atlas Group auf. 122 |  Vgl. hierzu Gilbert, Alan „In Conversation with Walid Ra‘ad“, in: BOMB, 81, Fall 2002, http://bombmagazine.org/article/2504/walid-ra-ad [eingesehen am 29.06.16]. 123 |  Vgl. von Schöning, Antonia „Archiv des Entziehens. Anmerkungen zur Atlas Group“, in: sinnhaft. Journal für Kulturstudien, Nr. 22, September 2009, S. 62-73, hier S. 63. In einer Lecture Performance im Walker Art Center am 25. November 2007 bemerkt Raad zum Beispiel: „The Atlas Group is a project that today I present as having been undertaken between 1989 and 2004. Although sometimes I should say it was probably undertaken between 1972 and 1989 and sometimes I feel I should say it was a project undertaken between 1967 and 1983. The dates seem to f luctuate and it doesn’t matter to me that much

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bei der Atlas Group um eine von ihm konzipierte „imaginäre Stiftung“ handelt, explizit: „I say different things at different times and in different places according to personal historical cultural and political considerations with regard to the geographical location and my personal and professional relation with the audience and how much they know about the political economic and cultural histories of Lebanon the wars in Lebanon the Middle East and contemporary art.“124

Neben Maha Traboulsi erfand Raad zum Beispiel Dr. Fadl Fakhouri, Souheil Bachar, Lamia Hilwé und Marwan Hanna als Mitglieder der Atlas Group, deren Namen sich allerdings oftmals auf reale Personen beziehen.125 Laut Raad suchen, erforschen und produzieren sie gemeinsam Notizbücher, Fotografien und Videos, die alle unter dem Begriff „Dokument“ gefasst werden, um sie anschließend nach drei verschiedenen Aktenkategorien geordnet im Atlas Group Archive zu sammeln und zu bewahren: Typ A (dabei handelt es sich um Dokumente, die einer bestimmten Person, also etwa Fakhouri, Bashar oder Raad selbst zugeordnet sind und welche sie direkt an die Atlas Group übergaben), Typ FD (darunter zählen von der Atlas Group gefundene Dokumente anonymer Urheberschaft) sowie Typ AGP (zu dieser Kategorie gehören schließlich jene Dokumente, die diverse Mitglieder der Atlas Group produziert haben).126 Die „Dokumente“, die abgesehen von ihren Aktenbezeichnungen und Referenznummern individuelle Titel in einem oftmals lyrischen that they are fixed between 1989 and 2004.“ Siehe: http://www.walkerart.org/ channel/2007/artist-talk-walid-raad [eingesehen am 29.06.16]. 124 |  Raad zitiert nach Gilbert, Alan „In Conversation with Walid Ra‘ad“, in: BOMB,

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Fall

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http://bombmagazine.org/article/2504/walid-ra-ad

[eingesehen am 29.06.16]. Vgl. hierzu auch Rogers, Sarah „Forging History, Performing Memory. Walid Ra’ad’s The Atlas Group Project“, in: Parachute, Nr. 108, 2002, S. 68-79, hier S. 77. 125 |  Der Name Maha Traboulsi kann somit zum Beispiel als eine Referenz zu dem libanesischen Historiker Fawwaz Traboulsi gelesen werden. 126 |  Die Struktur des Atlas Group Archive wird von Raad in Performances und Publikationen in Form von Diagrammen illustriert. Zudem werden die einzelnen „Dokumente“ im Rahmen von Ausstellungen, Publikationen und Performances immer mit einem Vermerk darauf präsentiert, welcher Kategorie sie zugehören.

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Duktus127 wie zum Beispiel Miraculous beginnings (2004), I only wish that I could weep (1999–2002), Secrets in the Open Sea (1994-2004) oder We decided to let them say, „we are convinced“ twice 128 tragen, werden zum einen von Raad in Publikationen, auf einer Webseite129 und im Kontext von Lecture Performances präsentiert. Zum anderen sind sie Gegenstand bzw. Ausgangspunkt verschiedener Kunstwerke, die Raad unter dem Atlas Group-Pseudonym etwa in Form von Fotoserien und Videoinstallationen in Ausstellungen zeigt. In beiden Fällen werden sie jeweils von einem Text, d.h. entweder von mündlichen oder schriftlichen Ausführungen begleitet. Jene bestimmen zunächst die materiellen Eigenschaften sowie die Entstehungszeitpunkte der einzelnen „Dokumente“ genauer. Sie enthalten Angaben über ihre Herkunft und darüber, auf welchem Wege sie in das Archiv der Atlas Group gelangten. Ferner erläutern die Texte, die in schriftlicher Fassung ein oder zwei kurze Absätze lang sind, die visuellen Inhalte der einzelnen Akten genauer. Aber anstatt lediglich pointiert zu paraphrasieren, was sie darstellen und beinhalten, sind die mündlichen oder schriftlichen Ausführungen meist in einem anekdotischen Wortlaut und in Form von absurden Parabeln formuliert. Somit wird abgesehen davon, dass die Dokumente bereits selbst teilweise von fragwürdiger Bedeutung für eine historiografische Aufarbeitung in Hinblick auf die Ereignisse des libanesischen Bürgerkrieges zu sein scheinen130, spätestens 127 |  Die Titel sind Zitate oder zusammengefügte Sätze aus Quellen unterschiedlicher Art. Zu einem Großteil stammen sie jedoch aus Tageszeitungen. André Lepecki spricht auch von einem „magischen Realismus“ der Titel. Vgl. Lepecki, André „Im Nebel des Ereignisses: Performance und die Aktivierung der Erinnerung im Archiv der Atlas Group“, in: Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 33-37, hier S. 35. 128 |  Die Titel und Datierungen zeichnen sich teilweise durch eine Inkohärenz aus, auf die ich weiter unten noch eingehen werde. 129 |  http://www.theatlasgroup.org [eingesehen am 29.06.16]. 130 |  Tatsächlich zielt Raad damit auf eine Betonung des Alltäglichen und Trivialen ab. So handelt es sich zum Beispiel bei „[cat.A]_Fakhouri_Films_228_289“ (so die Aktenbezeichnung für Miraculous beginnings) um einen Super8-Film, der entstand, indem Dr. Fakhouri jedes Mal, wenn er annahm, dass der Krieg beendet war, einen einzelnen Frame des Films belichtete; oder bei [cat.A]_Fak-

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anhand der sie begleitenden Texte offensichtlich, dass die Atlas Group keineswegs auf eine Geschichtsaufarbeitung im konventionellen Sinne abzielt, die anhand aufgezeichneter Fakten Ereignisse rekonstruiert. Das hierarchische Ordnungsprinzip des Atlas Group Archive nach Autor*innen, Medien und Themenbereichen sowie die Verwendung von archivarischen Referenznummern spiegelt durchaus eine Systematik wieder, wie sie auch institutionelle Archive verwenden.131 Zudem fungieren die darin enthaltenen Notizbücher, Fotografien, Filmspuren und Videos vermeintlich als Träger einer Zeugenschaft, die ein Zeitgeschehen vermittelt und belegt. Die Bezeichnungen des Archivs und des Dokuments sowie die damit verbundenen Konnotationen erscheinen hier allerdings in Form einer Mimikry. Zwar gehen die Atlas Group-Dokumente inhaltlich auf tatsächliche Ereignisse ein. Neben der israelischen Belagerung Beiruts 1982, sind das zum Beispiel die Entführung von Angestellten westlicher Hilfsorganisationen durch verschiedene Milizen132, der Einsatz von Autobomben während des Krieges133, die Teilung Beiruts in einen von sunnitischen sowie schiitischen Milizen kontrollierten Westsektor und einen von christlichen Milizen regulierten Ostsektor134 sowie allgemein die verheerende Zerstörung der Stadt. Auch werden diese Ereignisse innerhalb eines fiktiven Konstrukts nicht vollkommen verfälscht. Dennoch werden sie unter oftmals obskuren Gesichtspunkten dargestellt. Das heißt, die Dokumente und das Archiv sind hier nicht Ausgangspunkt historischer Interpretation, sie sind bereits das Resultat davon. Mehr noch: Raad macht mit diesem Kurzschluss den Vorgang der Interpretation aber auch

houri_Photographs_962_986 (so die Aktenbezeichnung für Civilizationally, We Do Not Dig Holes To Bury Ourselves) um Porträts Fakhouris, die ihn vor Sehenswürdigkeiten, in Hotelzimmern und Restaurants in Rom und Paris zeigen. 131 |  Der Kunstkritiker Lee Smith sieht in dieser Vorgehensweise auch eine Parallele zu der Art und Weise wie Marcel Broodthaers imagniäre Institutionen konzipiert. Vgl. dazu Smith, Lee „Missing In Action. The art of the Atlas Group/ Walid Raad“, in: Artforum, 41, No. 6, 2003, S. 124–129. 132 |  Die Geiselkrise während des libanesischen Bürgerkrieges verhandelt Raad in Hostage: The Bachar tapes (#17 and #31) (2000). 133 |  Dies thematisiert Raad in Notebook Volume 38: Already been a lake of f ire (2003) sowie in My neck is thinner than a hair: Engines (2001). 134 |  Die Teilung Beiruts ist Gegenstand von I only wish I could weep (2001).

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der Dokumentation und Archivierung im Rahmen der Atlas Group selbst zum Thema. Er veranschaulicht, dass bei historiografischen Prozessen unweigerlich nur Abstraktionen der eigentlichen Ereignisse entstehen können. Dies liegt erstens in den Kriterien begründet, nach denen Ereignisse überhaupt dokumentiert werden; zweitens darin, inwiefern diese Aufzeichnungen von subjektiven Gesichtspunkten sowie politischen Überzeugen gefärbt sind, und hängt drittens davon ab, wie viel Glaubwürdigkeit den Augenzeugenberichten, aber auch dem Realitätseffekt der Fotografie, des Filmes und des Videos zugesprochen wird. Raad setzt demzufolge mit der Atlas Group an der Schnittstelle an, an der sich ideologische Prämissen und gesellschaftlicher Nutzen mit einer gewissen Willkür kreuzen. Er zeigt auf, wie Ungenauigkeiten, Generalisierungen und Leerstellen über die Geschichtsschreibung letztlich instrumentalisiert und missbraucht werden. Ein Dokument bzw. Werk der Atlas Group, das dies wohl am deutlichsten veranschaulicht, ist Notebook Volume 72: Missing Lebanese Wars (1999) [Abb. 13]. Es besteht aus fünf Seiten, die angeblich aus einem Notizbuch Dr. Fakhouris stammen. Auf einige davon hat Fakhouri Fotos geklebt, die Rennpferde beim Überschreiten der Ziellinie zeigen. Sie sind mit handschriftlichen Notizen in englischer und arabischer Sprache, sowie mit Auflistungen von Zahlen und Initialen versehen. Dem Text zufolge, der diesen Eingang ins Atlas Group Archiv näher beschreibt, wurden die Aufzeichnungen von Dr. Fakhouri auf der Pferderennbahn in Beirut gemacht. Er traf sich dort jeden Sonntag mit anderen libanesischen Historiker*innen, die unterschiedlichen Konfessionen angehörten und verschiedene politische Überzeugungen vertraten – darunter maronitische Nationalist*innen, Sozialist*innen, Islamist*innen und Marxist*innen –, um gemeinsam mit ihnen Wetten abzuschließen.135 Anstatt jedoch auf den Sieg eines bestimmten Pferdes zu setzten, wetteten sie, um wie viele Sekundenbruchteile der Rennbahnfotograf den Moment des Zieleinlaufs verfehlen würde. Derjenige, der die Abweichung des fotografischen Ak-

135 |  Nakas, Kassandra „Bilder der Verfehlung, fehlende Bilder“, in: dies. und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 21-24, hier S. 22.

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tes am genauesten vorausgesagt hatte, galt als Wettsieger*in.136 Laut der Kunsthistorikerin Kassandra Nakas verweist Notebook volume 72: Missing Lebanese Wars demzufolge auf die „zentrale und disziplinimmanente historiografische „Verfehlung“, nämlich die Unmöglichkeit, Geschichte darzustellen und Erlebtes zu repräsentieren“.137 Darum geht es allerdings nicht nur in Notebook volume 72: Missing Lebanese Wars.138 Das gesamte Atlas Group Projekt kreist um diese Diskrepanz zwischen Geschichte und Ereignis. Die wechselnde Rhetorik, die Raad im Kontext der Atlas Group verwendet – er sagt, wie bereits oben zitiert, verschiedene Dinge an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeitpunkten – stellt in diesem Zusammenhang eine Anspielung darauf dar, dass Geschichtsschreibung, wie sie heute auf globaler Ebene praktiziert wird, weitgehend von westlichen Doktrinen, Methoden und einer kausalen bzw. rationalen Logik geprägt ist. Raad zeigt mit der Atlas Group auf, wie eine einseitige Applikation des Gesetzes von Ursache und Wirkung in Anbetracht eines Konfliktes wie dem des libanesischen Bürgerkrieges, an dem eine Vielzahl lokaler, regionaler aber auch internationaler Parteien mit unterschiedlichen Interessen beteiligt waren, nicht unbedingt greifen bzw. begreif bar machen kann. Im Gegenteil vernachlässigt oder ignoriert diese Form der Geschichtsschreibung zugunsten eines in sich geschlossenen Narrativs, das mehr oder weniger offensichtlich nach einer hegemonialen Aufsicht strebt, viele in der Vergangenheit wurzelnde kulturelle sowie ideologische Differenzen, die sich bis in die Gegenwart abzeichnen.

136 |  Vgl. Nakas, Kassandra „Bilder der Verfehlung, fehlende Bilder“, in: dies. und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 21-24, hier S. 23. 137 |  Ebd. 138 |  Die Verwendung von beim Zieleinf lauf eines Pferderennens gemachten Fotografien kann zudem als eine Anspielung auf Henri-Cartier Bressons Konzept des „moment décisif“ gelesen werden. Ein Verweis auf Eadweard Muybridges Serienaufnahmen von Rennpferden ließe sich daran ebenfalls ableiten. Vgl. hierzu Baumann, Stefanie „Archiver ce qui aurait pu avoir lieu. Walid Raad et les archives de l’Atlas Group“, in: Conserveries mémorielles, #6, 2009, http:// cm.revues.org/381 [eingesehen am 19.06.2016].

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Abbildung 13: Walid Raad/The Atlas Group, Notebook volume 72: Missing Lebanese wars_Plate 132. 1989/1998, 1999, Tintenstrahldruck auf Papier, 34 x 24,8 cm

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Das moderne Archiv, dessen institutionelle Wurzeln ebenfalls im westlichen Staatswesen zu verorten sind, ist eine nach dieser Aufsicht strebende Instanz, die Raad mit dem Atlas Group Archive nicht nur nachahmt, sondern mit Hilfe seiner anekdotischen Inhalte parodiert. Darüber hinaus wird insbesondere auch die Fotografie als Mittel und Quelle für historiografische Prozesse, die, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde, im Nahen Osten bereits unmittelbar nach ihrer Erfindung zunächst primär dazu eingesetzt wurde, koloniale Interessen zu verfolgen, kritisch in Augenschein genommen. Es geht dabei zwar nicht vordergründig um eine Offenlegung orientalistischer Stereotypen, die sie bis heute beständig (re-)produziert. Trotzdem macht Raad in Bezug auf den internationalen Fotojournalismus und dessen Auseinandersetzung mit dem arabischen Kulturkreis ebenso deutlich, wie auch die Reportage von Generalisierungen und kruden Polemisierungen geprägt ist.139 139 |  Dieser von Seiten westlicher Medien ausgehende Essentialismus basiert vorrangig darauf, dass die Beziehung von westlichen Staaten zum Nahen Osten tief in orientalistischen Ideologien wurzelt und im Zuge solcher Ereignisse wie der Geiselkrise im Iran (1979-81) sowie den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA zudem von der Unterstellung ausgeht, dass sich der gesamte arabische Kulturkreis zunehmend einer radikalen Islamisierung beugt. „On the one hand“, schreibt der libanesische Journalist Samir Kassir dazu, beschwören, „politicians and commentators […] constantly an Eastern essentialism, even if, after long tirades opposing ‚us‘ to ‚them‘, they see fit to stress that Arabs and Muslims should not all be lumped in with the terrorists. On the other, there is a tendency to qualify, or even justify, the horrors of New York in terms of the evils of American politics, even if people are careful to preface their remarks with the disclaimer that the murder of innocent people goes against every aspect of Islam.“ Er bermerkt zudem, dass auch die arabische Öffentlichkeit von Medien wie Al-Jazeera systematisch dazu angehalten wird, die Behauptung eines „clash of civilzations“ als gegebene Tatsache zu akzeptieren, was schließlich in dem gegenwärtigen Antagonismus zwischen „war against terror“ auf der einen Seite und „jihad against the crusaders“ auf der anderen eskalierte. Vgl. hierzu Kassir, Samir Being Arab, London: Verso 2006, S. 85. Said analysierte die Rhetorik westlicher Medien in Hinblick auf den Nahen Osten und zugespitzt auf deren Darstellung von Islam und Muslimen bereits in seinem erstmals 1981 erschienenen Buch Covering Islam. How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World, New York: Vintage Books/Random House, 1997. Sie-

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In der von Raad evozierten Verbindung zwischen Archiv und Fotografie zeichnet sich zudem ein klarer Verweis auf die Arab Image Foundation ab.140 Raad war selbst von 1997 bis 2011 Mitglied der AIF und er präsentierte zum Beispiel Missing Lebanese Wars (1999) mit der Anmerkung, dass die Arbeit „in collaboration with the Arab Image Foundation“ entstanden sei.141 Es gab in dieser Hinsicht allerdings nie wirklich eine „Zusammenarbeit“ oder Überschneidungen zwischen der Atlas Group und der AIF.142 Raad nutzt die archivarische und organisatorische Struktur der he auch: Ghareeb, Edmund Split Vision. The Portrayal of Arabs in the American Media, Washington, D.C.: American-Arab Affairs Council 1983 und Alsultany, Evelyn Arabs and Muslims in the Media. Race and Representation after 9/11, New York/London: New York University Press 2012. 140 |  Eine Beschreibung Raads der Atlas Group aus dem Jahre 2004 weist in ihrer Rhetorik auch Parallelen zu dem Mission Statement der AIF auf: „The Atlas Group is a project in Beirut (Lebanon) established in 1999 to research and document the contemporary history of Lebanon. The Atlas Group locates, preserves, studies and produces audio, visual, literary and other documents that shed light on the contemporary history of Lebanon.“ Vgl. Raad, Walid Scratching on Things I Could Disavow. Some essays from The Atlas Group Project, Köln: König 2007, S. 147. Die Verknpüpfung von Archiv und Fotografie wird an anderer Stelle von Raad in seinem Essay zum Al-Hadath-Archiv (zu Deutsch: das Beiruter Ereignis-Archiv), das quasi ein konzeptueller Vorläufer zur Atlas Group darstellt, noch expliziter gemacht. Darin schreibt er, dass Al-Hadath 100 Fotograf*innen rekrutierte, um „every street, store front, building, sign, vegetation, moving vehicle, and other spaces of aesthetic, national, political, popular, functional, and cultural significance in Beirut“ zu fotografieren. Vgl. Raad, Walid „Al-Hadath“, in: Rethinking Marxism, Volume 11, Number 1, Spring 1999, S. 15-29 sowie Gödecke, Regina „Zweifelhafte Dokumente. Zeitgenössische arabische Kunst, Walid Raad und die Frage der Re-Präsentation“, in dies. und Karentzos, Alexandra (Hg.) Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur, Bielefeld: transcript 2006, S. 185-203, hier S. 194 f. und Launchbury, Claire „The Impossible Archive of Beirut“, in: Francosphères, vol. 3, no. 1, 2014, S. 99-113, hier S. 107 ff. 141 |  Vgl. Raad, Walid Scratching on Things I Could Disavow. Some essays from The Atlas Group Project, Köln: König 2007, S. 16. 142 |  Raad war zu diesem Zeitpunkt zwar Mitglied der AIF, aber die anderen AIF-Mitglieder waren weder an dem Projekt der Atlas Group beteiligt, noch

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AIF-Sammlung vielmehr als ein Modell, dass er einer Fiktionalisierung unterzog.143 So sammelt Raad bzw. die Atlas Group keine historischen Fotografien wie die AIF, um ihren Erhalt zu sichern und sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er greift für die Erzeugung der Atlas Group-Dokumente und -Werke stattdessen überwiegend auf die Bestände institutioneller Fotoarchive zurück.144 Ausgehend von digitalen Reproduktionen ursprünglich analoger Negative und Abzüge ordnet Raad sie teilweise mit Bildbearbeitungsprogrammen modifiziert seriell und nach typologischen Gesichtspunkten in Gestalt von Text-Bild-Einheiten in die eigentümliche und – wenn man so will – irrationale Logik der Atlas Group und ihres Archivs ein. So stammen die in Notebook volume 72: Missing Lebanese Wars gezeigten Fotografien aus Ausgaben der libanesischen Tageszeitung An Nahar oder etwa die Fotos in My Neck Is Thinner Than a Hair: Engines (2001) [Abb. 14], welche ausgebrannte Fahrzeuge und Motoren in Folge der Detonationen von Autobomben zeigen, aus den Archiven von An Nahar und Al-Safir145 – beides Quellen, die auch Lamia Joreige für

verwendete Raad jemals im Rahmen dessen Fotos aus der AIF-Sammlung. Missing Lebanese Wars ist lediglich von einem Fotoalbum eines gewissen Alfred Pharaon inspiriert, das Teil der AIF-Sammlung ist und auschließlich Fotografien von Rennpferden enthält. Später arbeitete Raad unabhängig von seinem Atlas Group-Korpus gemeinsam mit Zaatari an der AIF-Austellung und Publikation Mapping Sitting. 143 |  In diesem Sinne ist die Atlas Group auch nicht als eine Gegenposition zur Arab Image Foundation zu verstehen, wie Kassandra Nakas es tut. Vgl. Nakas, Kassandra „Bilder der Verfehlung, fehlende Bilder“, in: dies. und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 21-24, hier S. 22. 144 |  Eine Ausnahme stellen die Fotos von Civilizationally, We Do Not Dig Holes To Bury Ourselves (1958-59/2003) dar, die Raads Vater zeigen und aus seinen Privatbeständen stammen. Vgl. hierzu Gilbert, Alan „Walid Raad’s Spectral Archive, Part I: Historiography as Process“, in: e-f lux journal #69, 01/2016, http:// www.e-f lux.com/journal/walid-raads-spectral-archive-part-i-historiographyas-process/ [eingesehen am 08.07.16]. 145 |  Vgl. Raad, Walid Scratching on Things I Could Disavow. Some essays from The Atlas Group Project, Köln: König 2007, S. 100 ff.

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Abbildung 14: Walid Raad/The Atlas Group, My neck is thinner than a hair: Engines, ([cat.AGP]_Thin_Neck_Photographs_001_100), 2001 (Detail); 100 Digitaldrucke auf Papier (je 23 x 32 cm) und Wandtext

ihr Video A Journey nutzte.146 Werden bei My Neck Is Thinner Than a Hair die Fotografen zum Teil auch namentlich genannt, hat Raads Spiel mit der Autorschaft dennoch beträchtliche Auswirkungen auf ihre Wahrnehmung und Zuschreibung. Die Betrachter*innen können sich schließlich nicht sicher sein, ob diese Fotografen ebenfalls fiktive Protagonist*innen der Atlas Group wie Fakhouri, Traboulsi oder Hanna sind. Eine ähnliche Verunsicherung ergibt sich auch bei We decided to let them say... und I feel a great desire to meet the masses once again. Raad weist zwar im Textteil des Werkes bzw. in den mündlichen Ausführungen der Performance darauf hin, dass er die Fotos der Serie selber gemacht hat. Allerdings könnte auch das wiederum eine bloße Behauptung sein, mit welcher die Betrachter*innen erneut in die Irre geführt werden sollen.

146 |  Eine weitere Quelle, die Raad im Rahmen des Atlas Group-Projektes nutzt, ist das Fotoarchiv von Solidere, ein von Rafiq al-Hariri gegründetes Bauund Immobilienunternehmen, das nach dem Bürgerkrieg die Innenstadt Beiruts wieder aufgebaut hat.

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„Or so it seemed, and that much is certain“: We decided we let them say, „we are convinced“ twice (2002) Bei dem Eintrag „[cat. A]_Raad_Photographs_001-015“ ins Atlas Group Archive mit dem Titel We decided we let them say, „we are convinced“ twice handelt es sich um insgesamt 15 Fotografien, deren Maße jeweils mit 111 x 180 cm angegeben sind [Abb. 15]. Den Aktenbezeichnungen zufolge sind sie der Atlas Group 2002 von Walid Raad übergeben worden. Zudem wird bei der Spezifizierung des Mediums angegeben, dass es sich um Farbfotos handelt, und eine schriftliche Zusammenfassung erläutert die Entstehung der Bilder folgendermaßen: „The following photographs are attributed to Walid Raad who donated them to The Atlas Group in 2002. In the statement accompanying the donation Raad noted: In the summer of 1982, I stood along with others in a parking lot across from my mother’s apartment in East Beirut, and watched the Israeli land, air, and sea assault on West Beirut. The PLO along with their Lebanese and Syrian allies retaliated, as best they could. East Beirut welcomed the invasion, or so it seemed. West Beirut resisted it, or so it seemed. One day, my mother even accompanied me to the hills around Beirut to photograph the invading Israeli army stationed there. Soldiers rested their bodies and their weapons as they waited for their next orders to attack or retreat. I was 15 in 1982, and wanted to get as close as possible to the events, or as close as my newly acquired camera and lens permitted me. Clearly not close enough. This past year, I came upon the negatives from that time, all scratched up and deteriorating. I decided to look again.“147

Die Fotos selbst sind unbetitelt. Eines davon zeigt eine Gruppe von Männern, die der Kamera ihre Rücken zukehrend gen Himmel blicken und nach etwas Ausschau halten. Auf fünf Bildern sind verschiedene Stadtansichten Beiruts zu sehen, wobei sich mindestens auf vieren davon deutlich dichte Rauchwolken über den Gebäuden abzeichnen, die auf Explosionen schließen lassen. Vier weitere Aufnahmen wirken aufgrund ihrer monochromen Flächigkeit, auf der sich ein Gemenge aus hellen Strichen und Punkten abzeichnet, beinahe vollkommen abstrakt. Bei genauerem 147 |  Raad zitiert nach Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 116.

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Hinsehen lassen sich darauf jedoch Kampfjets ausmachen, die in weiter Entfernung am Himmel fliegend festgehalten wurden. Drei andere Aufnahmen zeigen insgesamt fünf israelische Soldaten aus unmittelbarer Nähe.148 Jene liegen zum Teil barfuß und mit freiem Oberkörper zu zweit bzw. alleine im Schatten ihrer Panzer und Militärfahrzeuge. Zumindest zwei der Soldaten bemerken den Fotografen, als er sie beim Lesen ablichtet. Ihre Zeitung beiseite legend, blicken sie freundlich lächelnd in seine Richtung. Ihre Kameraden auf den anderen beiden Bildern sind sich seiner Gegenwart allerdings nicht bewusst, da sie offenbar schlafen. Auf den letzten zwei Fotos, die zum gleichen Zeitpunkt und in der gleichen Umgebung wie die Porträts der ruhenden Soldaten entstanden zu sein scheinen, sind Maschinengewehre abgebildet. Eins davon ist auf einer Lafette auf dem Dach eines Panzers angebracht, das andere – eine kleinkalibrigere AK47 – liegt im Gras. Obwohl es sich laut Paratext um Farbfotos handelt, wirkt es vielmehr so, als seien die Negative, auf denen diese Reproduktionen beruhen, ursprünglich schwarzweiß gewesen. Teilweise befinden sich auf den Bildern jedoch neben den weißlichen Kratzern auch blaue Tünche und rötliche Punkte. Einige der Bilder weisen zudem einen leichten Magentaschleier auf. Könnten die Kratzer sowie die farblosen Schlieren auf unachtsamer Handhabung der Negative, schadhaften Filmen oder Fehler bei der Entwicklung beruhen, resultieren die blauen Tünche (die vor allem auf den Bildern sind, auf denen Himmel zu sehen ist), die rötlichen Punkte sowie der Magentaschleier offensichtlich aus einer nachträglichen Bildbearbeitung. Einerseits wird dadurch sowie durch die monumentale Größe der einzelnen Fotos die Materialität der ursprünglich analogen, durch fotochemische Verfahren erzeugten Bilder hervorgehoben. Die Fotografien selbst und die sich darauf abzeichnenden Kratzer und Schäden erscheinen gleichermaßen als Spuren: Die Fotos als Spuren oder Indizien eines in der Vergangenheit liegenden Ereignisses, der israelischen Invasion Libanons 1982; die Kratzer als Belege für die Authentizität der Fotos – in dem Sinne, dass sich daran ihr Alter bzw. eine Beständigkeit ablesen lässt. Andererseits verweisen die farbigen Tünche, Punkte und Schleier auf eine – wenn auch subtile, dennoch augenscheinliche – Manipulation. 148 |  Zwei der Fotos von den Explosionen und zwei von den israelischen Soldaten zeigt Raad, wie bereits erwähnt, auch im Verlauf von I feel a great desire to meet the masses once again.

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Damit einhergehend werden die Fotografien nicht nur auf formaler Ebene abstrahiert. Ihr Realismuseffekt wird durch eine digitale Nachbearbeitung im Sinne gesteuerter „gestischer“ Eingriffe ebenso kompromittiert. Zwar wird die Wiedergabe ihrer Bildgegenstände dadurch nicht grundlegend beeinträchtigt. Ihre Authentizität oder Evidenz wird im Zuge dessen jedoch nicht unerheblich in Frage gestellt.149 Es bleibt schließlich unklar, ob es sich bei der Farbgebung um den einzigen Aspekt der Fotografien handelt, den Raad nachträglich verändert bzw. hinzugefügt hat. Vielleicht sind auch die weißen Kratzer und Punkte nur simuliert, die Bilder damit vorsätzlich „gealtert“? Oder sie beruhten eigentlich niemals auf analogen, im Jahre 1982 entstandenen Negativen? Vielleicht ist das Dargestellte doch stärker retuschiert und manipuliert, als die Betrachter*innen vorerst annehmen mögen? Im Ausstellungskontext werden die Fotografien von We decided we let them say weiß gerahmt und in den selben Maßen präsentiert, wie sie gemäß den Angaben ihrer Akte in das Archiv der Atlas Group eingegangen sind [Abb. 16]. Seriell gereiht oder in einem Block oder mehreren Blöcken gehangen, ergeben sie gemeinsam mit der unmittelbar daneben applizierten schriftlichen Erläuterung und dem Titel eine Sinneinheit.150 Dabei werden die Fotos in einer Reihenfolge ausgestellt, so dass sie als Sequenz einen narrativen Charakter erhalten, der einen chronologischen Ablauf suggeriert. Je nach Leserichtung, die Raad des Öfteren von links nach rechts oder umgekehrt variiert, wird diese Sequenz vom Bild der Ausschau haltenden Personen an einem Ende und den schlafenden israelischen Soldaten am anderen gerahmt. Dazwischen befinden sich in Einheiten gestaffelt die Stadtansichten, die Fotos der Kampfjets sowie jene der Waffen, wobei die Betrachter*innen, ohne notwendigerweise den begleitenden Text gelesen zu haben, bereits einen Handlungszusammenhang aus dieser Anordnung erschließen können. Sie werden durch ihre Position vor dem Werk darüber hinaus sogar unvermittelt in diesen involviert. Da sie das sehen, was die Kameraperspektive und der Kader der einzelnen Fotos wiedergeben, werden sie gleichsam in den Standpunkt des 149 |  Vgl. hierzu etwa Rosler, Martha „Bildsimulation, Computermanipulation, Einige Überlegungen“, in: Amelunxen, Hubertus v. (Hg.) Theorie der Fotograf ie IV. 1980-1995, München: Schirmer/Mosel 2000, S. 129-170, hier S. 152-153. 150 |  Raad verzichtet dabei zeitweilig auf einzelne Bilder, so dass die Serie etwa auch nur zwölfteilig präsentiert wird.

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Fotografen versetzt. Von der Aufnahme, welche die beobachtende Personengruppe zeigt, werden sie zunächst ebenfalls zum „Ausschau halten“ angeleitet. Zugleich stellen sie fest, dass jene abgebildteten Personen, die Explosionen verfolgen, die auf den Stadtansichten zu sehen sind, und dass diese Detonationen wiederum mit den Kampfjets sowie mit den Soldaten, deren israelische Herkunft durch ihre hebräischen Zeitungen ersichtlich ist, auf den folgenden Bildern in Verbindung stehen. Die Betrachter*innen werden somit wie die observierenden Personen zu Beobachter*innen eines Spektakels. Darüber hinaus macht die Nähe des Fotografen zu den Soldaten, die teilweise in einen direkten Dialog mit ihm treten, indem sie ihm und seiner Kamera zulächeln, die Betrachter*innen jedoch latent ebenso zu Komplizen.151 Dabei sind die Betrachter*innen sich ihrer Position nicht notwendigerweise völlig bewusst. Dennoch begeben sie sich über die Bilder, wie der Fotograf selbst, durch deren Schaulust getrieben in ein von Gewalt bestimmtes Terrain, das auch ihnen eine politische Bewusstwerdung abverlangt. Diese suggestive Positionierung spiegelt sich in dem in Form eines Erfahrungsberichtes verfassten Textteil von We decided we let them say... wider. Er klärt die Betrachter*innen schließlich über die dargestellte Konfliktsituation und die darin verwickelten Parteien auf. Seine Ich-Form versetzt die Betrachter*innen aber auch in die Lage des 15-Jährigen, als den Raad sich beschreibt. Der fotografische Akt des 15- jährigen Raad wird darin als eine Form unparteiischer Dokumentation erachtet und seine jugendliche Unbedarftheit durch die Rhetorik von We decided we let them say... mit der potentiellen Unwissenheit der Betrachter*innen gleichgesetzt. Zugleich stellt er jedoch heraus, wie problematisch eine solche Unbedarftheit bzw. Unwissenheit ist. Die Tatsache, dass Raad aus sicherer Distanz vom Osten Beiruts aus beobachtet, wie Palästinenser*innen und seine Mitbürger*innen im Westteil der Stadt von der israelischen Armee bombardiert werden, verdeutlicht, dass er damit als Zivilperson unweigerlich einem politischen Lager angehört. Seine sichere Distanz und das Teleobjektiv seiner Kamera stehen somit symbolisch für das Maß der Entfremdung, mit der er die 151 |  Susan Sontag bezeichnet die Fotografien daher auch als „Akt der Nicht-Einmischung“, der eine „chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt“ schafft. Für sie bedeutet Fotografieren „im Komplott mit allem zu sein“. Vgl. hierzu dies. „In Platos Höhle“, in: Über Fotograf ie. Essays, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2010, S. 9-30, hier S. 17 und S. 18.

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Abbildung 15: Walid Raad/The Atlas Group, We decided we let them say, „we are convinced“ twice, 2002; 15 Tintenstrahldrucke und Wandtext, je 110 x 171 cm

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Menschen auf der anderen Seite der Green Line betrachtet.152 Zudem fällt im Kontrast dazu die Nähe und Vertrautheit zu den israelischen Soldaten auf. Suggeriert der Blick auf die halbnackten Männer eine gewisse Homoerotik und zeugen die Bilder der Waffen von einer jungenhaften Faszination für das Militär, wirkt die pastorale Darstellung der ruhenden Soldaten angesichts der verheerenden Zerstörung und der tausenden Menschenopfer, welche die israelische Invasion in Beirut mit sich brachte, irritierend. Sie lässt mehr noch als die Bilder der Explosionen und Jets auf eine affirmative Haltung des Fotografen schließen, die sich möglicherweise auf die Betrachter*innen überträgt. Dem bietet die Dialektik des Text-Bild-Gefüges von We decided we let them say... wiederum verschärft Paroli. Denn im Gegensatz zum eigentlichen fotografischen Akt ist Raads Jahre später vorgenommene Revision der Fotografien in Anbetracht der auf die Belagerung von Beirut folgenden Beziehung zwischen dem Libanon und Israel sowie der daraus resultierenden Konsequenzen für die palästinensische Widerstandsbewegung bzw. für das Leben der im Libanon verbliebenen Palästinenser*innen von einer weitaus differenzierteren Position geprägt.153 So bekunden die Fotografien nicht mehr eine von 152 |  Mark Westmoreland schreibt hierzu: „The implicit schizophrenia of this photographic event traces the social fracture in Lebanese society that enables [Raad] as a Christian teenager to blithely photograph Israeli soldiers, while the Israeli Defense Forces are besieging the Muslim sections of the city. His proximity to these occupying soldiers stands in contrast to his distance from his countrymen and women under siege across the city. By using a telephoto lens, typically deemed ideal for viewing objects far away, he critically questions how one could get close to a violent event without delimiting its complicated uniqueness.“ Siehe: Westmoreland, Mark Crisis of Representation. Experimental Documentary in Postwar Lebanon, Arbor/ Michigan: Proquest, Umi Dissertation Publishing 2008, S. 215. Das von Raad beschriebene Verhältnis zwischen Nahsicht und Ferne erinnert auch an Robert Capas zum Leitspruch vieler Fotojournalist*innen seiner Generation gewordenen Auspruch: „If your photographs aren’t good enough, you’re not close enough.“ Robert Capa zitiert in Capa, Cornell (Hg.) The concerned photographer, New York: Penguin 1968, o.S. 153 |  Nachdem Israel bereits 1978 eine „Sicherheitszone“ im Süd-Libanon eingerichtet hatte, marschierten in Folge eines zweitägigen Luftwaffenangriffes auf libanesische Stützpunkte der PLO am 6. Juni 1982 60.000 israelische Soldaten in den Süd-Libanon ein, die bis nach West-Beirut vordrungen. Sie kesselten

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Abbildung 16: Installationsansicht, Walid Raad/The Atlas Group, We decided we let them say, „we are convinced“ twice, 2002, Paula Cooper Gallery, New York, 2007

dort nicht nur PLO-Kämpfer, sondern auch eine halbe Million Zivilisten ein, sperrten die Strom- und Wasserversorgung der Eingeschlossenen ab und versuchten, die PLO durch schwere Bombardements zur Kapitulation zu zwingen. Während dieser Belagerung kamen in nur wenigen Wochen mehrere Tausend Menschen ums Leben. Ende August wurde schließlich der Abzug der PLO aus dem Libanon unter dem Schutz einer internationalen Friedenstruppe beschlossen. Die PLO verlegte ihr Hauptquartier von Beirut nach Tunis. Nachdem am 14. September der Oberkommandierende der christlich-maronitischen Lebanese Forces und gewählte Präsident Bachir Gemayel bei einem Bombenanschlag ums Leben kam, für den die PLO verantwortlich gemacht wurde, kam es unter den Augen der israelischen Besatzung zu einem dreitägigen Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila, dem mehr als tausend Palästinenser*innen, die meisten davon Kinder, Frauen und ältere Menschen, zum Opfer fielen. Bis 1985 hielt Israel den Süd-Libanon besetzt und kontrollierte dieses Gebiet danach noch bis 2000. Darauf hin kam es wiederholt zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem Libanon, wie dem sogenannten „33-Tage-Krieg“ im Sommer 2006. Bis heute betrachtet sich der Libanon weiter im Kriegszustand, da aus libanesischer Sicht ein Friedensschluss mit Israel u.a. die Schaffung eines palästinensischen Staates und die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge voraussetzt. Für eine genauere Untersuchung des Ver-

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ihm als Jugendlicher angenommene Neutralität oder gar Befangenheit, die sich gleichsam auf die Betrachter*innen überträgt. Dem entgegenwirkend erscheinen sie zusammen mit dem Text nun an die Frage nach der ethischen Dimension nicht nur seines eigenen Handelns, sondern der Fotografie allgemein geknüpft und sollten daher auch eher als Ausdruck eines Selbstzweifels verstanden werden. Denn mit der Bemerkung „clearly not close enough“ kommentiert Raad nicht nur seine physische Distanz auf dem Parkplatz vor dem Haus seiner Mutter zum Kampfgeschehen. Er spielt damit auch auf sein beschränktes Ermessen der Situation als 15-Jähriger an. Als autobiografisches Zeugnis können die Fotografien in Verbindung mit dem Text auch als Ausdruck dessen aufgefasst werden, was Foucault als „Technologien des Selbst“ oder Selbstsorge bezeichnet. Hierunter versteht er das Schreiben und Aufzeichnen von Beobachtungen, wobei „eine Allianz zwischen Schreiben und Wachsamkeit“154 entsteht, die auf eine gesteigerte Selbstbeachtung und Selbstdisziplin im Dienst eines Erkenntnisgewinns abzielt. Indem Raad dieses Zeugnis öffentlich macht, erhält das Text-Bild-Gefüge von We decided we let them say... jedoch auch den Charakter eines Geständnisses. Laut Foucault ist das Geständnis spätestens seit dem Mittelalter in den abendländischen Gesellschaften neben der Bürgschaft, den Zeugenaussagen155 sowie den gelehrten Verfahren der Beobachtung und Beweisführung eines der Hauptrituale, „von denen man sich die Produktion von Wahrheit verspricht.“156 Wir gestehen nicht nur unsere Verbrechen, Sünden und Begehren, sondern auch, so wie Raad es tut, unsere Vergangen-

hältnisses zwischen dem Libanon und Israel siehe: Karsh, Efraim et al. (Hg.) Conf lict, Diplomacy and Society in Israeli-Lebanese Relations, London/New York: Routledge 2010. 154 |  Foucault, Michel „Technologien des Selbst“, in: Luther, Martin H. et al. (Hg.) Technologien des Selbst, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1993, S. 24-62, hier S. 38. 155 |  Zur Beziehung zwischen Geständnis und Zeugenaussage vgl. auch Thomas, Günter „Witness as a Cultural Form of Communication. Historical Roots, Structural Dynamics, and Current Appearances“, in: Frosh, Paul und Pinchevski, Amit (Hg.) Media Witnessing. Testimony in the Age of Mass Communication, Hampshire/New York: Palgrave Macmillan 2009, S. 89-111, hier S. 103-105. 156 |  Foucault, Michel Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 61 f.

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heit und Kindheit.157 Dabei fällt zunächst „das sprechende Subjekt mit dem Objekt der Aussage“158 zusammen. Weil aber niemand sein Geständnis ohne die wenigstens virtuelle Gegenwart eines Partners leistet, „der nicht einfach Gesprächspartner, sondern Instanz ist, die das Geständnis fordert, erzwingt, abschätzt und die einschreitet, um zu richten, zu strafen, zu vergeben, zu trösten oder zu versöhnen“159, entfaltet sich das Geständnis gleichzeitig innerhalb eines Machtverhältnisses. Es ist „ein Ritual, in dem die Wahrheit sich an den Hindernissen und Widerständen bewährt, die sie überwinden mußte, um zutage zu treten; ein Ritual schließlich, wo die bloße Äußerung schon – unabhängig von ihren äußeren Konsequenzen – bei dem, der sie macht, innere Veränderungen bewirkt: Sie tilgt seine Schuld, kauft ihn frei und verspricht ihm das Heil.“160 Überträgt man diesen Gedankengang auf We decided we let them say... wäre Raad demnach das sprechende Subjekt und der oder die Betrachter*in die urteilende Instanz. Abgesehen davon, dass das Geständnis heute nicht nur in den meisten säkularen Institutionen wie dem Schulsystem und der Familie und damit auch in unserem Alltagsleben internalisiert wurde, findet es vor allem auch Anwendung im Gesundheitswesen, insbesondere in der Psychiatrie und der Psychoanalyse. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass Raad die „Dokumente“ der Atlas Group als „hysterical documents“161 oder „hysterical symptoms“ bezeichnet: „I consider these documents to be hysterical symptoms that present imaginary events constructed out of innocent and everyday material. Like hysterical symptoms the events depicted in these documents are not attached to actual memories of events but to cultural fantasies erected on the basis of memories.“162 157 | Foucault, Michel Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 62 f. 158 |  Ebd., S. 65. 159 |  Ebd. 160 |  Ebd. 161 |  Vgl. Gilbert, Alan „In Conversation with Walid Ra‘ad“, in: BOMB, 81, Fall 2002, http://bombmagazine.org/article/2504/walid-ra-ad [eingesehen am 29.06.16]. 162 |  Raad, Walid „Already Been In Lake of Fire“, in: springerin, 4/2000, S. 4247, hier S. 47.

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Raad bezieht sich damit auf Freuds Auffassung, dass verdrängte traumatische Erlebnisse ausschlaggebend für neurotische Erkrankungen sind.163 Auf eine kollektive Dimension projiziert, sind der libanesische Bürgerkrieg sowie die israelische Invasion im Jahre 1982 demnach Ursachen für das Auftreten der „hysterical symptoms“, d.h. Phantasmen, die eine Verbindung zu den historischen Ereignissen herstellen, welche gesellschaftliche Traumata auslösten. Gemäß Freuds hermeneutischer Methodik sucht Raad diese einerseits durch ihre Visualisierung und andererseits durch ihre Interpretation aufzuzeigen bzw. zu lindern.164 Dabei werden die Betrachter*innen direkt und aktiv in die hermeneutischen Prozesse, welche der Atlas Group zu Grunde liegen und die sie mit dem Aufzeigen der „hysterical symptoms“ beständig vorantreibt, einbezogen. Ihnen wird ebenfalls die Aufgabe zuteil, durch ihre Interpretationen Verdrängtes zu entschlüsseln, um ein daraus resultierendes geschärftes Geschichtsbewusstsein für die gegenwärtige Situation produktiv zu machen. Oder, um noch einmal mit Foucault zu sprechen: Den Betrachter*innen „obliegt es, die Wahrheit dieser dunklen Wahrheit zu sagen: die Enthüllung des Geständnisses [müssen sie] durch die Entzifferung seines Gehaltes verdoppeln“.165 Raads Autorschaft sowohl des Textes als auch der Fotografien bekräftigen sich im Rahmen der von We decided we let them say... erzeugten Sinneinheit gegenseitig. Diese reziproke Beziehung zwischen Text und Fotografien und der sich damit einstellende Eindruck von Authentizität sollte jedoch nicht unbedingt für bare Münze genommen werden. Wie bereits erläutert, ist es genau diese Text-Bild-Relation, die Raad im Rahmen der Atlas Group gegen sich ausspielt, um tatsächliche Ereignisse zu fiktionalisieren oder fiktive Narrative als Fakten zu postulieren: Er kons163 |  Vgl. Rogers, Sarah „Forging History, Performing Memory. Walid Ra’ad’s The Atlas Group Project“, in: Parachute, Nr. 108, Oktober 2002, S. 68-79, hier S. 76. 164 |  Vgl. dazu Al-Kassim, Dina „Reconstructions Revisited: Unearthing the Place of the Local and the Case of Post-Civil War Beirut“, in: Localities, Vol. 1, (2011), S. 159-182, hier S. 170 sowie Wilson-Goldie, Kaelen „Walid Raad: The Atlas Group Opens its Archives“, in: Bidoun, No. 2, Fall 2004, http://archive. bidoun.org/magazine/02-we-are-old/profile-walid-raad-the-atlas-group-opensits-archives-by-kaelen-wilson-goldie/ [eingesehen am 28.07.16]. 165 |  Foucault, Michel Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 70.

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truiert Brüche und Unstimmigkeiten, „häufig indem sich Text und Bild widersprechen, und lässt diese offen stehen“.166 Demnach würde sich für We decided we let them say... ein weiteres als das von mir bereits dargelegte Bedeutungsspektrum ergeben. Es kann natürlich sein, dass Raad die Fotografien, wie er behauptet, selbst machte. Was die Bilder von den Explosionen in West-Beirut, das Foto der Schaulustigen und die Aufnahmen der Kampfjets betrifft, wäre dies aufgrund von Raads Lebensumständen zu dieser Zeit auch nicht zu abwegig. Im Fall der Bilder der israelischen Soldaten und ihrer Waffen erscheint es mir jedoch fragwürdig. Raad erwähnt zwar immer wieder in Interviews und im Verlauf seiner Lecture Performances und so auch in I feel the desire..., dass er als Jugendlicher gern fotografierte und Fotojournalist werden wollte.167 Dennoch bezweifle ich, dass seine palästinensische Mutter ihn zu einem Stützpunkt der israelischen Armee außerhalb der Stadt führte. Verwunderlich ist auch, dass die Soldaten während einer Ruhephase einen unbekannten Jugendlichen ohne jegliches Misstrauen nicht nur in ihre unmittelbare Nähe, sondern auch in Reichweite ihrer Waffen ließen. Somit liegt meines Erachtens die Vermutung nahe, dass zumindest einige – wenn nicht alle – der Bilder aus We decided we let them say... von einem oder mehreren anderen Fotografen gemacht sein könnten. Mir scheint dies aus folgenden Gründen plausibel: Erstens verwendet Raad, wie bereits in Bezug auf die Beispiele Notebook volume 72: Missing Lebanese Wars und My Neck Is Thinner Than a Hair: Engines erwähnt, in anderen Dokumenten bzw. Werken der Atlas Group Fotografien aus diversen Bildarchiven und benennt diese Quellen und die Urheber der Bilder nicht immer den Tatsachen entsprechend. 1982 sind von verschiedenen Fotojournalist*innen viele ähnliche Aufnahmen wie jene von We decided we let them say... gemacht worden, die sich auch in den von Raad genutzten An Nahar und Al Safir Archiven befinden.168 Es besteht folglich die Option, dass die Fotos von We decided we let them say... eigentlich fotojournalistische Aufnahmen sind. Zweitens schreibt Raad 166 |  Ströbel, Katrin Wortreiche Bilder. Zum Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst, Bielefeld: transcript 2013, S. 262. 167 |  Vgl. Jones, Caroline A. „Doubt Fear“, in: Art Papers, January/February 2005, S. 24-35, hier S. 29. 168 |  Siehe dazu auch die Fotografien, die Fouad Elkoury 1982 im Verlauf der israelischen Invasion machte: ders. Liban provisoire, Hazan: Vanves Cedex 1998, S. 338.

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zum Beispiel in einer seit 2005 präsentierten Version von We decided we let them say... die Autorschaft des Textes und daran gebunden auch die der Bilder einem fiktiven Atlas Group-Protagonisten namens Marwan Hanna zu. Die Auswahl der Fotos und ihre Maße sind identisch. Sie tragen jedoch individuelle Titel, die das darauf Dargestellte näher bezeichnen.169 Nun korreliert dies zunächst mit Raads Strategie, unter verschiedenen Rahmenbedingungen verschiedene Dinge zu sagen. Dieses Vorgehen – und dies kann natürlich von Raad auch so beabsichtigt sein – verstärkt jedoch zwangsläufig die Zweifel an seiner Urheberschaft der Bilder. Mit diesen Hypothesen soll die Möglichkeit, dass We decided we let them say... ausnahmslos auf Fakten beruht, keineswegs kategorisch ausgeschlossen werden. Sie sollen allerdings die komplexen Auswirkungen veranschaulichen, die Raads künstlerische Rekontextualiserung auf die We decided we let them say... zu Grunde liegenden Fotografien haben. Dies bedeutet, dass neben seiner performativen Revision auch eine völlige Resemantisierung der Aufnahmen in Betracht gezogen werden muss, die sich eventuell daraus ergibt, dass Raad Bilder unbekannter bzw. unbenannter Fotograf*innen in Relation zu einem fiktiven oder zumindest halbwahren Narrativ setzt. Aus diesen Verdachtsmomenten ergeben sich schließlich zusätzliche Problemstellungen und Mutmaßungen, die zu weiteren Nachforschungen anregen. Genau darin liegt auch die Herausforderung, die Raad mit der Atlas Group an die Betrachter*innen stellt. So könnte Raad einerseits dafür kritisiert werden, dass er spezifische Ereignisse, die einer konkreten faktischen Aufarbeitung bedürften, unklar belässt und weiterhin abstrahiert. Darüber hinaus wäre ihm der Vorwurf zu machen, dass in der Art und Weise, wie er im Zuge seiner performativen Verschleierung mittels der Verwendung multipler Alter Egos einen Konflikt thematisiert, im Verlauf dessen hunderttausende Zivilisten getötet wurden und Millionen Menschen ins Exil flüchteten, nicht nur eine ironische Haltung, sondern ein gewisser Zynismus zum Ausdruck kommt.

169 |  Diese Titel lauten: Beirut '82, Onlookers, 2005; Beirut '82, Plane I, 2005; Beirut '82, Plane II, 2005; Beirut '82, Plane III, 2005; Beirut '82, Plane IV, 2005; Beirut '82, City I, 2005; Beirut '82, City II, 2005; Beirut '82, City III, 2005; Beirut '82, City IV, 2005; Beirut '82, City V, 2005; Beirut '82, Soldiers I, 2005; Beirut '82, Soldiers II, 2005; Beirut '82, Soldiers III, 2005; Beirut '82, Artillery I, 2005 und Beirut '82, Artillery II, 2005.

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Dennoch liegt die Stärke des Atlas Group-Projektes darin, dass Raad sich damit eben nicht in moralische Werturteile verstrickt oder sich anmaßt, nach Allgemeingültigkeit strebende Aussagen über den Verlauf des libanesischen Bürgerkrieges zu treffen. Konkret bezogen auf die Rolle, welche die Fotografie dabei spielt, hat Geoffrey Batchen dies sehr treffend folgendermaßen formuliert: „Although a specific historical atrocity is at the heart of this work, Raad deliberately leaves you uneasy and unsure of the position they are taking on it. This allows (him) to re-present the history (he) references as still continuous, still open for interpretation, still political, still part of the concerns of the present. […] Simultaneously uncertain and deliberate, this is a photography that seems to be overtly skeptical about the medium’s capacity for revealing truth even while totally dedicating itself to this same possibility. Posing through as a question, rather than a given, it asks us to be critical interlocutors rather than passive observers. It takes us, in short, not just to contemplate the cruel radiance of what was, but to reach out and take responsibility for what still might be.“170

Stammen die Fotografien in We decided we let them say... nun von Raad oder doch etwa aus einem institutionellen Bildarchiv – beiden Fällen liegen Präsentationsmittel zu Grunde, die die einzelnen Aufnahmen über eine serielle und textliche Verknüpfung als neue Sinneinheit, als Dokument der Atlas Group bzw. als Kunstwerk postulieren. Im nächsten Punkt soll genauer darauf eingegangen werden, welche formalen Mittel Raad dabei anwendet. Ich werde mich neben den bereits erwähnten Fassungen von We decided we let them say..., d.h. der 2002 datierten und unter Raads Autorschaft ins Atlas Group Archive eingegangenen sowie der ab 2005 Marwan Hanna zugeschriebenen Fotoserie, zudem auf zwei weitere Versionen des Werkes beziehen. Nachdem ich deren Besonderheiten und Unterschiede herausgestellt habe, möchte ich vor allem der Frage auf den Grund gehen, warum Raad diese unterschiedlichen Varianten eines Werkes produziert.

170 |  Batchen, Geoffrey „Looking Askance“, in: ders.; Miller K., Nancy et al. (Hg.) Picturing Atrocity, London: Reaktion Books 2012, S. 227-240, hier S. 239.

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We decided to let them say „we are convinced“twice. It was more convincing this way (2002): Wiederholung, Differenz und Emphase In seinem 2007 erschienenen Künstlerbuch Let’s Be Honest, The Weather Helped: Documents from the Atlas Group Archive präsentiert Raad die Fotografien sowie den Text von We decided we let them say... zwar ebenfalls mit 2002 datiert, aber mit dem Titel We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way.171 Die Erweiterung des Titels setzt sich auch im Arrangement der einzelnen Fotografien auf den folgenden Seiten fort. Neben den 15 Fotos der 2002 bzw. 2005 gerahmten und in Ausstellungen präsentierten Fassungen von We decided we let them say..., die zum Teil in der Publikation in abweichenden Kadrierungen gezeigt werden172, erweitert Raad die Serie um 19 weitere Bilder. Auf je einer Seite ist eines davon abgedruckt, wobei sich die zwei Bilder auf einer aufgeschlagenen Doppelseite paarweise aufeinander beziehen. So erscheint das Bild der Schaulustigen zusammen mit einem weiteren Bild, dass nur wenige Sekunden später oder davor entstanden sein muss und die Gruppe aus einem leicht veränderten Blickwinkel zeigt [Abb. 17]. Es folgt ein zweites Bildpaar, das ebenfalls Personen abbildet, die zu derselben Gruppe gehören mögen oder in einer ähnlichen Situation fotografiert wurden. Dieses Prinzip wird für die gesamte Serie fortgesetzt: We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way besteht neben den zwei Bildpaaren der Schaulustigen aus insgesamt vier Bildpaaren von Kampfjets, fünf von Stadtansichten und sechs, die auf dem israelischen Stützpunkt entstanden sind.173 171 |  Raad, Walid The Atlas Group and Walid Raad Vol. 3, Let’s Be Honest, The Weather Helped: Documents from the Atlas Group Archive, Köln: König 2005, S. 13-50. Diese Publikation ist Teil einer Serie von insgesamt drei von Raad zur Atlas Group zwischen 2004 und 2005 herausgegebenen Bänden. 172 |  Dabei handelt es sich nicht um beschnittene Versionen der Fotografien von We decided we let them say..., sondern um Aufnahmen, die scheinbar zum selben Zeitpunkt, jedoch aus leicht veränderten Blickwinkeln gemacht wurden. 173 |  Die Bildgruppe der israelischen Soldaten bzw. des Stützpunktes der israelischen Armee wurde somit um die meisten Bilder ergänzt. Unter den zusätzlichen Fotos befinden sich abgesehen von weiteren Bildern schlafender Soldaten ein Bildpaar, auf dem Panzer zu sehen sind sowie Aufnahmen von diversen Waffen.

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Abbildung 17: Walid Raad/The Atlas Group, We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way, 2002 (Detail: S. 15-16 aus Raad, Walid The Atlas Group and Walid Raad Vol. 3, Let’s Be Honest, The Weather Helped: Documents from the Atlas Group Archive, Köln: König 2005)

Innerhalb dieser Paarungen erscheint der Bildgegenstand der einzelnen Fotografien oftmals mit nur geringen Abweichungen gespiegelt. Der fotografische Akt wird hier in seiner Ausführung wiederholt präsentiert, als würden zwei Bilder hintereinander, wie der Titel der Serie es suggeriert, im Sinne eines nochmaligen Hinblickens die aufgezeichneten Szenen erst begreif bar machen oder als würde das zweifache Abbilden und Wiedergeben die Glaubwürdigkeit des Dargestellten noch bestärken und damit bessere Überzeugungsarbeit leisten. Durch die Präsentation dieser Fassung von We decided to let them say „we are convinced“ twice in einem Künstlerbuch erhält das Werk zudem den Eindruck eines Fotoessays. Zieht man allerdings die Verdachtsmomente, die sich im Kontext der Atlas Group auf sie auswirken und die damit einhergehende Möglichkeit ihrer Fiktionalisierung durch Raads Rhetorik in Betracht, könnte We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way auch als eine Art Fotoroman aufgefasst werden. Die Reihenfolge der einzelnen Bilder auf den Seiten dirigiert dabei gleichsam wie die Anord-

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nung von We decided to let them say... im Ausstellungsraum die Blickrichtung der Betrachter*innen von den Fotografien der Schaulustigen bis hin zu den Aufnahmen der ruhenden israelischen Soldaten. Auch der Text von We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way ist wie in der ersten Fassung von We decided to let them say... von Raad in der ersten Person wiedergeben. Hier erscheint er jedoch in drei Spalten nebeneinander in Englischer, Französischer und Arabischer Sprache.174 Es fehlen die Aktenbezeichnung des Atlas Group-Dokuments, die Maßangaben und der Hinweis auf das Medium der Bilder. Die einzelnen Aufnahmen haben keine individuellen Titel wie die Marwan Hanna zugeschriebene und mit 2005 datierte Version. Zudem weicht der Inhalt der schriftlichen Erläuterungen von We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way an einigen Stellen wesentlich vom Text der 2002er Fassung ab. So heißt es „East Beirut welcomed the invasion, or so it seemed, and that much is certain. West Beirut resisted

174 |  In Bezug darauf, wie We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way durch das Publikationsformat den Charakter eines Fotoessays oder Fotoromans erhält, lässt sich hier ein ähnliches Verhältnis zwischen Text und Bild ablesen, wie es Chris Marker für seinen Fotoessay Le Depays konstituierte: „The text doesn’t comment on the images any more than the images illustrate the text. They are two sequences that clearly cross and signal to each other, but which it would be pointlessly exhausting to collate.“ Marker zitiert nach Corrigan, Timothy The Essay Film. From Montaigne, after Marker, Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 43. W.J.T. Mitchell schreibt dazu auch: „The text of the photoessay typically discloses a certain reserve or modesty in its claims to ‚speak for‘ or interpret images; like the photograph, it admits its inability to appropriate everything that was there to be taken and tries to let the photographs speak for themselves or ‚look back‘ at the viewer.“ Siehe: Mitchell, William J.T. Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago: University of Chicago Press 1994, S. 289. Aufgrund der Thematik Raads Publikation und angesichts der Möglichkeit dessen, dass es sich bei den Fotografien We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way eigentlich um Pressebilder handelt, kann Raads Verknüpfung von Text und Bild hier auch als Referenz zu Bertolt Brechts Kriegsf iebel (1955) betrachtet werden.

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it, or so it seemed, and that much is certain“175 anstelle von „East Beirut welcomed the invasion, or so it seemed. West Beirut resisted it, or so it seemed.“176 Und: „This past year, I came upon my carefully preserved negatives from that time. I decided to look again“177 im Gegensatz zu „This past year, I came upon the negatives from that time, all scratched up and deteriorating. I decided to look again.“178 Demzufolge wird zum einen in der redigierten Formulierung darüber, das Abwägen und die damit einhergehende Verunsicherung – die „Leitmotive“ der Atlas Group – noch deutlicher herausgestellt. Zum anderen legt Raad darin die Emphase auf das Versprechen der Atlas Group, die Fotografien als Dokumente sorgsam zu bewahren, anstatt wie bei We decided to let them say... die Beschädigung und damit die begrenzte Lebensdauer der Fotos zu betonen.

Untitled 1982-2007 (2008): Anleihen aus der Kunstgeschichte Eine weitere Version von We decided to let them say... wird von Raad unter seiner direkten Autorschaft – also nicht im Kontext der Atlas Group – mit dem Titel Untitled 1982-2007 (2008) [Abb. 18] wiederum als Fotoserie im Ausstellungsraum präsentiert. Für diese Arbeit übernimmt er die Dopplung der Motive von We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way, wobei zwei Fotos jeweils Teil eines Tableaus sind. Insgesamt besteht die Serie neben dem Text aus 17 solcher 43 x 56 cm großer Tafeln, worauf die Fotografien jeweils diptychonartig im Querformat im unteren Drittel platziert sind. Die übrige Fläche eines Tableaus ist ab175 |  Raad, Walid The Atlas Group and Walid Raad Vol. 3, Let’s Be Honest, The Weather Helped: Documents from the Atlas Group Archive, Köln: König 2005, S. 13-50, hier S. 14. 176 |  Raad zitiert nach Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 116. 177 |  Raad, Walid The Atlas Group and Walid Raad Vol. 3, Let’s Be Honest, The Weather Helped: Documents from the Atlas Group Archive, Köln: König 2005, S. 13-50, hier S. 14. 178 |  Raad zitiert nach Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 116.

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gesehen von sechs Zeilen kleiner Schrift oben rechts179 monochrom weiß belassen. Wird bereits We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way von einem ähnlichen Verhältnis von Bild und weißer Fläche bestimmt – dort nimmt ein Bild im Querformat die untere Hälfte einer Seite ein, während die obere weiß belassen ist – erhält das Arrangement auf den einzelnen Tafeln der Untitled-Serie verstärkt einen Collagecharakter.180 Auch werden auf den einzelnen Tableaus der Untitled-Serie mehrere heterogene Bild- und Textelemente in einer Struktur vereint. Allgemein lassen sich Anleihen sowohl an die frühen Collagetechniken der Dada-Bewegung als auch an spätere Präsentationsformen und künstlerische Strategien in der Pop Art, der Konzeptkunst sowie der Appropriation Art ablesen. So kann im Hinblick auf die Verwendung der Collage in der Untitled-Serie und ihres thematischen Schwerpunkts – der Darstellung eines politischen Konflikts – zunächst eine Relation zu dadaistischen Fotomontagen hergestellt werden.181 Insbesondere John Heartfield war einer ihrer Vertreter, der auf fotojournalistische Bilder zurückgriff, um darüber gesellschafts- sowie regimekritische Aussagen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu treffen. Angefangen mit seinen frühen Illustrationen für verschiedene Publikationen des Berliner Malik-Verlages, in denen er Fotos aus Reportagen über den Ersten Weltkrieg mit satirischen Bildkommentaren versieht182 [Abb. 19], bis hin zu seinen späteren Fotomontagen, welche die Machtergreifung der Nazis und deren Kriegspropaganda polemisieren, kehrt Heartfield auch immer 179 |  Dabei handelt es sich um die „Werkangaben“ der einzelnen Tableaus. So steht auf dem ersten der 17 Tafeln etwa: „Untitled (1982-2007), Walid Raad, plates 1 and 2 of 34 plates, 181 x 278 mm (7,12 x 10,94 inches) each, Beirut_New York: 2008“ usw. 180 |  Bei We decided to let them say „we are convinced“ twice. It was more convincing this way tritt dieser durch die Gesamtwirkung des Buchlayouts von Let’s Be Honest, The Weather Helped: Documents from the Atlas Group Archive weitaus weniger in den Vordergrund. 181 |  Vgl. hierzu Rogers, Sarah „Forging History, Performing Memory. Walid Ra’ad’s The Atlas Group Project“, in: Parachute, Nr. 108, Oktober 2002, S. 6879, hier S. 70. 182 |  Vgl. Derenthal, Ludger „Dada, die Toten und die Überlebenden des Ersten Weltkriegs“, in: zeitenblicke, 3, 2004, Nr. 1, http://www.zeitenblicke.de/2004/01/ derenthal/Derenthal.pdf [eingesehen am 01.07.16].

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Abbildung 18: Walid Raad, Untitled 1982-2007 (Detail), 2008; 17 archivarische Tintentstrahldrucke auf Papier und Wandtext, je 43 x 56 cm

die Rolle der Fotografie als aufklärendes Medium einerseits und als Instrument ideologischer Indoktrinierung anderseits hervor. Diese Vorgehensweise spiegelt sich ebenso in der Kunst ab den späten 1960er Jahren unter einem verstärkten Einfluss fototheoretischer und diskursanalytischer Untersuchen wider, im Rahmen derer die „abbildende, indexikalische Funktion“ der Fotografie hinterfragt und sie selbst zu

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Abbildung 19: John Heartfield, Aus Platz dem Arbeiter (S. 43, o. Nr.), 1924

einem „‚diskursiven Medium“ wurde.183 Beispielhaft dafür wäre Martha Roslers Werkkomplex Bringing the war home (1967-1972) – eine Arbeit, die auch als ein Bezugspunkt für Raads Untitled 1982-2007 genannt werden kann [Abb. 20]. Zwar unterscheiden sich diese beiden Werke in ihren for183 |  Nakas, Kassandra „Bilder der Verfehlung, fehlende Bilder“, in: dies. und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 21-24, hier S. 21.

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malen Gestaltungsprinzipien offenkundig voneinander. Trotzdem bringt Untitled 1982-2007 ähnliche Fragestellungen zur Ethik massenmedialer Berichterstattung, zur Schaulust und politischen Handlungsgewalt zum Ausdruck, die bereits in Bringing the war home grundlegend sind. Ferner taucht in beiden Arbeiten eine Relation zwischen Häuslichkeit und politischer Gewalt auf. Versucht Rosler mit ihrer provokativen wie befremdlichen Kombination von fotojournalistischen Bildern des Vietnamkrieges und Werbeaufnahmen profaner häuslicher Szenen die Schrecken eines sich in der Ferne abspielenden, von den USA wesentlich mit verursachten blutigen Konfliktes – zumindest allegorisch – in den Alltag des amerikanischen Mittelstandes zu holen, spielen sich bei Raad die gewaltvollen Auseinandersetzungen – schenkt man seinen die Untitled-Serie begleitenden schriftlichen Ausführungen Glauben – tatsächlich vor der eigenen Haustür ab. Mit der kulturkritischen Haltung, die in Bringing the war home zum Ausdruck kommt, bezieht sich Rosler auf die etwa von Siegfried Kracauer und Susan Sontag diagnostizierte zunehmende menschliche Desensibilisierung, Gleichgültigkeit oder „geistige Verseuchung“, die durch eine schier unermessliche Flut an Bildern, welche die moderne Konsumgesellschaft überschwemmt184, herbeigeführt wird. Raad tut dies zumindest implizit ebenso. Ihm ist darüber hinaus jedoch daran gelegen, einerseits den weitreichenden Radius eines regionalen Konflikts, in dem auch internationale Großmächte involviert sind, zu verdeutlichen und andererseits die Beziehung zwischen Fotografie, individuellen Erinnerungen und Geschichtsschreibung zu hinterfragen. Im Gegensatz zu Roslers Collagen, die auf eine piktorale Illusion mittels einer Fotomontage abzie-

184 |  Vgl. Kracauer, Siegfried „Die Fotografie“ (1927), in: Kemp, Wolfgang (Hg.) Theorie der Fotograf ie II. 1912-1945, München: Schirmer/Mosel 1999, S. 101-112, hier S. 109 sowie Sontag, Susan „In Platos Höhle“, in: Über Fotograf ie. Essays, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2010, S. 9-30, hier S. 29. Wolfgang Kemp bezeichnet dies auch als „Überf lutungsthese“, als ein populäres „medienkritisches Argument“, das besagt, dass die Fotografie offenbar nicht nur befähigt „die Welt unentwegt zu verdoppeln“, sondern „dass durch diese Überproduktivität der Bilder die menschliche Sinneskapazität überfordert“ und ein „bloß konsumierendes, spektatorisches Verhalten“ zur Folge hat. Vgl. hierzu: ders. „Theorie der Fotografie 1945-1980. Fotografie als Selbstausdruck“, in: ders. (Hg.) Theorie der Fotograf ie III. 1945-1980, München: Schirmer/Mosel 1999, S. 13-39, hier S. 34.

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Abbildung 20: Martha Rosler, Cleaning the Drapes, from the series House Beautiful: Bringing the War Home, 1967-1972

len,185 in denen der Bildraum als Schaubühne für eine narrative Szene erscheint, sind Raads Tableaus in ihrem Auf bau allerdings von einer konstruktivistisch anmutenden Abstraktion geprägt. Raad schneidet nicht aus Fotos aus oder fügt darin Elemente aus anderen Bildern ein. Er arrangiert sie als Reproduktionen in ihrem gesamten rechteckigen Format auf der weißen Fläche der Tableaus. Ihre symmetrische Setzung und der Schriftsatz in der oberen rechten Ecke erzeugen eine klare geometrische Struktur, die nicht nur den Fokus auf die Fotos und deren Bildgegenstände lenkt, sondern darüber hinaus die spannungsreiche Beziehung zwischen ihnen und der monochromen weißen Fläche hervorheben. Mit dieser Gegenüberstellung zweier diametral situierter Pole bildlicher Repräsentation, d.h. dem Realitätseffekt der Fotografie einerseits und der Abstraktion des Monochroms anderseits, bedient sich Raad eines Bildmodells, das seit den 1960er Jahren in der Kunst verbreitet Anwendung findet. Andy Warhol etwa machte sich diese Gegenüberstellung in Gemälden seiner Death and Desasters-Serie, zum Beispiel in Silver Car Crash (Double Disaster) (1963) [Abb. 21] zu Nutze. Es handelt sich dabei um ein Diptychon zwei silbern gestrichener Leinwände. Auf der linken 185 |  Es handelt sich bei den Bildern Roslers Serie um Fotomontagen, die als Farbfotoabzüge präsentiert werden.

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Abbildung 21: Andy Warhol, Silver Car Crash (Double Disaster), 1963; Siebdruck und Sprayfarbe auf Leinwand, 267,4 x 417,1 cm

befindet sich der seriell wiederholte Siebdruck einer Fotografie, die eine Unfallszene zeigt und ursprünglich aus einer Tageszeitung stammt. Die rechte Leinwand hat bis auf ihre monochrome Färbung hingegen keinen konkreten Bildgegenstand. Laut Jeff Wall negiert diese monochrome Fläche „das Erscheinen von Ereignissen“, wobei die Fotografie und vor allem der Fotojournalismus wiederum primär auf das „Sichtbarmachen von Bildern“ abziele.186 Muss Warhols Kombination von monochromer Malerei und Fotografie insbesondere im Zusammenhang mit dem zu ihrer Entstehungszeit tonangebenden Diskurs zur Medienspezifik der modernen Künste betrachten werden,187 so spitzt der kanadische Künstler Roy Arden – ein 186 |  Wall, Jeff „Monochromie und Photojournalismus in On Kawaras Today Paintings“, in: Stemmrich, Gregor (Hg.) Jeff Wall. Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 339-374, hier S. 359. 187 |  So sind laut Clement Greenberg, der diesen Diskurs im Wesentlichen mit seinem Aufsatz „Modernist Painting“ (1960) entfachte, die Flächenhaftigkeit und die Form des Bildträgers sowie die Eigenschaft der Farbe die medienspezifischen Eigenschaften der Malerei, die insbesondere durch eine selbstkritische Reduktion zum Ausdruck kommen – wobei das Monochrom die Essenz davon darstellt. Die Medienspezifik der Fotografie sieht er hingegen in ihrer techni-

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Protagonist der mit dem Ende der 1960er Jahre aufkommenden fotokonzeptualistischen Strömung in Vancouver – die daraus resultierende dialektische Beziehung zwischen Repräsentation und ihrer Negation188 auf das Fotografische zu. Für seine Arbeit Rupture (1985) [Abb. 22] etwa verwendet er neun teilweise beschnittene Reproduktionen fotojournalistischer Bilder aus der Sammlung der Vancouver Public Library. Sie zeigen Szenen, die sich in Vancouver am 19. Juni 1938 zugetragen haben. An jenem Tag, der als „Bloody Sunday“ in die kanadische Geschichte eingehen sollte, wurden hunderte Arbeitslose, die sich, von der anhaltenden Wirtschaftskrise des Landes geplagt, zu einem Sitzstreik im zentralen Postamt versammelt hatten, unter brutaler Polizeigewalt vertrieben. Roy Arden stellt die neun historischen Fotografien jeweils mit einem von ihm selbst gemachten Farbfoto eines monochrom blauen Himmels gegenüber. Die daraus entstehenden Diptychen geben auf ähnliche Weise wie Raads Collagen eine Revision historisch-politischer Ereignisse wieder. Zudem bringt die Verknüpfung mit der negierenden monochromen Fläche bei beiden eine ambivalente Haltung gegenüber fotografischer bzw. fotojournalistischer Bildproduktion sowie der Schaulust, die ihr zugrunde liegt und welche sie gleichsam zu befriedigen sucht, zum Ausdruck. schen Natur und Realitätsgebundenheit begründet. Demnach ist die Fotografie, seines Erachtens in erster Linie dazu verpf lichtet, mittels gegenständlicher, narrativer und naturalistischer Sujets Aussagen über diese Realität zu formulieren. Vgl. hierzu Nakas, Kassandra From Fact to Fiction. Zum Funktions- und Statuswandel der Fotograf ie seit der Konzeptkunst, Frankfurt a.M.: Lang 2006; Greenberg, Clement „Das Glasauge der Kamera“ und „Modernistische Malerei“, in: Lüdeking, Karlheinz (Hg.) Clement Greenberg. Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 107-113 bzw. S. 265-278 sowie Wall, Jeff „Monochromie und Photojournalismus in On Kawaras Today Paintings“, in: Stemmrich, Gregor (Hg.) Jeff Wall. Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 339-374, hier S. 356. 188 |  Ian Wallace und Sarah Charlesworth wären zum Beispiel weitere Künstler*innen, die sich in ihren Werken eingängig mit dieser Dialektik auseinandersetzen. Vgl. hierzu auch Haas, Bruno „Von der Vernichtung der Fotografie“, in: Fischer, Hartwig (Hg.) Covering the Real. Kunst und Pressebild, von Warhol bis Tilmans [Ausst.-Kat], Basel/Köln: Kunstmuseum Basel/DuMont Verlag 2005, S. 48-68.

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Abbildung 22: Roy Arden, Rupture, 1985 (Detail); Nummer 8 von 9 Diptychen aus Silbergelatine-Abzügen, je 68,6 x 40,6 cm

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Diese Ambivalenz macht bereits auch Warhol in Silver Car Crash (Double Disaster) fruchtbar und lotet damit einhergehend durch seine malerische Inszenierung fotojournalistischer Bilder bzw. intermediale Verbindung von Fotografie und abstrakter Malerei das Genre des Historiengemäldes neu aus. Arden knüpft daran an, indem er mit seinem Verweis auf das Monochrom gleichsam ein Misstrauen gegenüber der fotografischen Repräsentation in Hinblick auf eine historische Diskursivierung ausspricht. Sein daraus hervorgehendes Konzept eines Historienbildes stellt demnach in der Vergangenheit liegende Ereignisse nicht affirmativ dar, sondern hinterfragt sie kritisch.189 Raad geht diesbezüglich noch einen Schritt weiter. Dadurch, dass Untitled zwar unter seiner Autorschaft präsentiert wird, jedoch nicht völlig losgelöst von der Atlas Group betrachtet werden kann, macht er darin auch, wie Peter Osborne es formuliert, eine „constructed history“ evident: „a staging of the disparity between memory and historical experience through the subjugation to artistic form“.190 Im Unterschied zu Ardens Fotoserien fällt bei Raads Untitled 19822007 neben der dialektischen Beziehung zwischen Fotografie und Monochrom zudem noch dessen textliche Komponente, d.h. die Beschreibung Raads, wie die Fotografien entstanden, als integraler Bestandteil des Werks für dessen Rezeption ins Gewicht. Zu diesem Aspekt finden sich allerdings andere Anknüpfungspunkte im Fotokonzeptualismus. Jeff Wall etwa, der wie Arden in Verbindung mit der sogenannten Vancouver School gebracht wird, eignet sich in seinem Landscape Manual (1969), einer Künstlerpublikation, in der eine Serie von Fotos zusammen mit einem Text präsentiert wird [Abb. 23], wie Raad in Untitled die Reportage als Repräsentationsmodus an und schildert die Entstehung der Fotografien ebenfalls aus der Ich-Perspektive. Dabei gibt Landscape Manual eine Art situationistisches Dérive in den Vororten Vancouvers wieder. Die Fotografien von Landscape Manual zeigen vom Auto aus aufgenommene Straßen, Brachflächen, Fahrzeuge sowie Häusersiedlungen und es scheint auf den ersten Blick so, als würden sie schlichtweg eine Autofahrt dokumentieren. Allerdings erläutert der Text, dass Wall die Aufnahmen während einer zweiten Fahrt zu einem visuellen Abgleich verwendete, bei der sie als 189 |  Vgl. Fleming, Marnie „Roy Arden: Selected Works 1985-2000“, in: Journal VOX, #4, September 2002, S. 6-7, hier S. 7. 190 |  Osbourne, Peter Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 201.

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visuelle Surrogate für die Außenwelt erscheinen. So wird deutlich, dass Wall in Landscape Manual die Beziehung zwischen der ursprünglichen Erfahrung und ihrer Wiederholung bzw. ihrer Repräsentation in Bildern und Sprache, durch die sie dargestellt, beschrieben, analysiert und abstrahiert wird, untersucht.191 Raads Text-Bildgefüge funktioniert auf ähnliche Weise wie die in Landscape Manual immanente Wiederholung. Durch die zu bezweifelnde Authentizität der von ihm gemachten Aussagen und die Herkunft der Untitled 1982-2007 zugrunde liegenden Fotos parodiert er wie Wall zum einen den „objektiven“ Blick des fotografischen Dokumentarismus. Zum anderen verdeutlicht er das Dilemma der Schilderung einer subjektiven Erfahrung, bei dem die Sprache an der Unmitteilbarkeit der Unmittelbarkeit scheitert und die Fotografie nur einen fragmentarischen Eindruck liefern kann. Auch wenn Raad im Gegensatz zu Walls Landscape Manual kein psychogeoraphisches Profil eines bestimmten Ortes schafft, suggeriert zumindest die Anordnung der einzelnen Fotografien in Untitled 1982-2007 einen Handlungs- bzw. Bewegungsablauf. Darüber hinaus ist die Doppelung der Fotos auf Raads einzelnen Tableaus ebenso von einem nachträglichen vergleichenden Sehen geprägt, wie es Wall in Landscape Manual thematisiert.192 191 |  Der Kunsthistoriker Michael Newman beschreibt diesen Vorgang wie folgt: „At first glance, it looks as if the photographs in Landscape Manual function like the documentary record of a drive with a camera. However Wall quickly complicates this scenario by saying that the images are involved in two trips, in the second of which the photographer travels with the photographs that have been taken previously, which he holds up to look at while he is being driven along the roads. Here the photographs, instead of representing the landscape, become a substitute for it: the question is raised of the relation between the first-hand experience, already in this case ‚framed‘ through a car window, and the representations, languages and semiotic systems through which it is described, analysed and abstracted.“ Siehe: Newman, Michael „Towards the Reinvigoration of the ‚Western Tableau‘. Some Notes on Jeff Wall and Duchamp“, in: Oxford Art Journal, 30 (1), 2007, S. 81-100, hier S. 89. 192 |  Ein weiteres Beispiel für diese fotografische Inszenierung der Relation zwischen Doppelung, Wiederholung und Differenz stellt auch Boris Mikhailovs Unf inished Dissertation (1984/1998) dar. Vgl. dazu Spieker, Sven The Big Archive. Art from Bureaucracy, Cambridge MA/London: MIT Press, S. 160 ff.

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Mit diesen Verweisen und Vergleichen auf bzw. mit Heartfield, Warhol, Rosler, Arden und Wall soll Raads Vorgehensweise keineswegs als eine stringente Weiterführung bestimmter Strömungen in der Kunstgeschichte dargestellt werden. Die Kunstkritikerin Kaelen Wilson-Goldie hat bereits darauf aufmerksam gemacht, dass eine derartige Eingliederung von Raads Werken in formalästhetische Diskurse seinem idiosynkratischen Einsatz archivarischer Praktiken, seiner Verwendung von Fotografien und öffentlichen Dokumenten und der daran geknüpften Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte Libanons bzw. mit dem libanesischen Bürgerkrieg nicht unbedingt gerecht würde.193 Dennoch erscheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass sie, wie ich anhand Raads Untitled 1982-2007 erörtert habe, durchaus inhaltliche, gestalterische und konzeptuelle Parallelen zu früheren Positionen in der Kunstgeschichte beinhalten. Dabei stellt sich entgegen der Behauptung des Kunsthistorikers Paolo Magagnoli, dass durch diese Parallelisierung die Essenz des Atlas Group-Projektes übersehen würde, erst seine, wie Magagnoli es formuliert, „particular documentary aesthetic“ heraus.194 Dieser vernachlässigt nämlich die Tatsache, dass der frühe Fotokonzeptualismus gerade in einer Kritik an der Dokumentarfotografie wurzelt und Künstler wie Wall, Ruscha und Smithson (auf letztere beruft sich Magagnoli) im Zuge dessen den Modus der Fotoreportage oftmals persiflieren.195 Es ist daher alles andere als abwegig zu bemerken, dass Raads Strategie der Fiktionalisierung sowie die Text-Bild-Relation seiner Werke, welche oftmals von einem (mehr oder weniger subtilen) ironischen Unterton geprägt ist, einen ähnlichen Ausgangspunkt nimmt. Auch wenn Raad mit der Atlas Group und seiner Verwendung historischer Fotografie – und darauf besteht Magagnoli – das Dokumentarische nicht schlicht193 |  Vgl. Wilson-Goldie, Kaelen „Walid Raad: The Atlas Group Opens its Archives“, in: Bidoun, No. 2, Fall 2004, http://archive.bidoun.org/magazine/02-we-are-old/prof ile-walid-raad-the-atlas-group -opens-its-archives-bykaelen-wilson-goldie/ [eingesehen am 28.07.16]. 194 |  Vgl. Magagnoli, Paolo „A Method in Madness“, in: Third Text, 25:3, 2011, S. 311-324, hier S. 315. 195 |  Vgl. dazu etwa Wall, Jeff „Zeichen der Indifferenz: Aspekte der Fotografie in der, oder als, Konzeptkunst“, in: Stremmrich, Gregor (Hg.) Jeff Wall. Szenarien im Bildraum der Wirklichkeit. Essays und Interviews, Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst 1997, S. 375-343.

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Abbildung 23: Jeff Wall Landscape Manual, 1969-1970 (Detail)

weg parodiert, ist es jedoch zu teleologisch gedacht, daraus zu folgern, dass er primär darauf abzielt, Wahrheit „in more adequate and effective ways“ zu vermitteln.196 Denn es ist schließlich die Ambivalenz, die nicht zuletzt durch Raads Humor und die darüber vermittelte Ironie zum Tragen kommt, welche zu einem kontinuierlichen Abwägen zwischen Fakt und Fiktion anleitet und eine kategorische Auffassung von Wahrheit somit ausschließt.197 Ist Wilson-Goldie zunächst aus gutem Grund vorsich196 |  Magagnoli, Paolo „A Method in Madness“, in: Third Text, 25:3, 2011, S. 311-324, hier S. 315. 197 |  Die Kunsthistorikerin Jeehey Kim bringt Raads Vorgehensweise in diesem Zusammenhang auch mit Derridas Ausführungen zur Lüge in Verbindung. „Raad’s demythologizing of objective thruth“, schreibt sie, „dovetails with Jacques Derrida’s fascinating rumination of the ‚lie,‘ where he similarly demythologizes the dichotomy of lie and truth and falsehood rather than funtioning in terms of error or ignorance, since a liar performs thruth and falsity consciously, intentionally.[…] In Derrida’s words, Raad parodies a technical

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tig, Raad in einen westlichen Kunstkanon einzureihen, führt Magagnolis Rezeption und dessen Fokus auf das „Dokumentarische“ allerdings zu einem reduktionistischen Fehlschluss. In dieser Hinsicht bringt es Osborne in seiner Analyse der Atlas Group genauer auf den Punkt, wenn er schreibt: „There is a double movement here: These are fictional documentaries, but they nonetheless carry important elements of actual documentation within the art. History thus appears here both within and via art, in different ways, as a complex transaction between ‚documentation‘ (as both an indexical and an institutional process) and fiction, in which fiction is the guiding hand.“198

Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989-2004) (2009) und I might die before I get a rifle (1989) (2008): Kunstgeschichte als Fiktion „History thus appears here both within and via art […].“199 Dieser Passus Osbornes kann nicht nur in Bezug darauf gelesen werden, wie Raad im Kontext der Atlas Group historiografische Methoden und Rhetoriken sowie ihre ideologischen Tragpfeiler in Kunstwerken thematisiert. Er sollte zudem als Verweis auf Raads Strategien verstanden werden, mittels derer er sich selber als Autor bzw. seine Werke innerhalb der Kunstgeschichte und deren Kanonisierungsprozesse situiert und – wie er es mit der Geschichtsschreibung und deren Anspruch auf einen Wahrheitsgehalt im Allgemeinen tut – die Konventionen der Kunstgeschichtsschreibung zu unterminieren versucht. Dieses Unterlaufen geht zum einen mit der Vertransformation of the icon into a simulacrum that then passes for the thing itself, ceases to represent it so as to replace it by destroying it, and becomes itself both the only archving archive and the archived event.“ Siehe: Kim, Jeehey „Deadpan Rhetoric: we don’t have an alibi“, in: dies.; Batchen Geoffrey und Lee, Jung Joon (Hg.) Deadpan. Photography, History, Politics [Ausst-Kat.], New York: The Graduate Center 2008, S. 8-11, hier S. 11 sowie Derrida, Jacques Geschichte der Lüge, Wien: Passagen Verlag 2015. 198 |  Osbourne, Peter Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 33. 199 |  Ebd.

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wendung des kollektiven Pseudonyms der Atlas Group sowie dem Einsatz verschiedener Alter Egos einher, zum anderen mit den unterschiedlichen Angaben ihres Gründungsjahres, die sich einer definiten Einordnung in eine Chronologie widersetzen. Ferner setzt Raad dieses Verwirrspiel wie im Fall von We decided we let them say... auch in der wiederholten Verwendung einer Auswahl bestimmter Fotografien unter divergenten Gesichtspunkten fort. Die daraus hervorgehenden Fassungen nehmen zwar jeweils einen in sich geschlossenen Werkcharakter an – darauf lassen zumindest die unterschiedlichen Datierungen 2002, 2004 und 2008 schließen –; dennoch handelt es sich bei ihnen letztlich – auch wenn die Anzahl der sie zugrunde liegenden Fotografien schwankt – um Variationen ein und desselben Themas. Weiterhin bleibt bei dieser Werkkonzeption unklar, warum Raad dieselben Fotografien, einmal unbetitelt und undatiert, ein andermal individuell betitelt und mit 1982 datiert und ein weiteres Mal unbetitelt und mit 1982-2007 datiert und mit dem Zusatz „Beirut_ New York: 2008“ präsentiert. Es liegt nahe, dass diese Inkohärenz von Raad forciert ist, um durch ein demonstratives und permanentes Verunsichern auf die Grenzen und Diskrepanzen der Geschichtsschreibung aufmerksam zu machen. So spiegeln die verschiedenen Fassungen von We decided we let them say... im Hinblick auf die Fotografien und ihrer historische Bedeutung wider, wie sich Abweichungen etwa durch Reproduktions-, Zirkulations- sowie Deutungsprozesse eines „Faktes“ oder Zeugnisses bzw. der Wiedergabe eines Ereignisses ergeben können. Sie veranschaulichen weiterhin dadurch, dass sie in das Atlas Group Archive eingebunden sind bzw. eventuell aus öffentlichen Bildarchiven stammen, die paradoxe Eigenschaft des Archivs. Jene liegt laut Derrida darin begründet, dass das Archiv, auch wenn ein „Ort der Memoriserung“, immer gleichzeitig „gegen sich selbst arbeitet“200, d.h. sobald auf dessen Inhalt als Quelle historischer Interpretation zurückgegriffen wird, sich eine Modifikation – wenn nicht gar ein potentielles Vergessen – einstellt.201 Damit einhergehend wird der Leitgedanke der Verunsicherung von Raad zudem auf die Kunstgeschichte übertragen. Denn er spielt im Kontext der Atlas Group und dies wird auch anhand der verschiedenen Versionen von We decided we 200 |  Derrida, Jacques Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkman & Bose 1997, S. 37 f. 201 |  Vgl. ebd., S. 122.

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let them say... ersichtlich – ganz bewusst mit den maßgeblichen Größen einer stringenten kunsthistorischen Erfassung, indem er Begriffe wie Autorschaft, Datierung und Originalität dehnt, verunklärt und beständig relativiert. Anstelle einer absoluten Positionierung inszeniert er eine Art kontrollierte Willkür, die sich gegen eine autoritäre Rationalität stellt, ihr jedoch letztlich nicht entkommen kann. Diese Spannung wird anhand diverser Ausstellungsformate evident, die Raad für die Präsentation verschiedener „Dokumente“ bzw. Werke der Atlas Group und so auch für We decided we let them say... entwickelt hat. Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989-2004) (2009) [Abb. 24] zum Beispiel ist eine Retrospektive in Miniaturgröße, die wiederum selbst als Skulptur in Gestalt eines White Cube-Architekturmodells (32 x 280 x 105 cm) von Raad in Ausstellungen gezeigt wird. Die insgesamt 13 Hauptwerke der Atlas Group werden darin in einem Maßstab von 1:100 präsentiert, wobei die einzelnen gerahmten Fotografien von We decided we let them say... (2002) jeweils als ca. 11 x 18 mm große Miniaturen gereiht an einer der Modellwände aus Acryglas angebracht sind. Raad beschreibt in einem die Skulptur bzw. Miniaturretrospektive begleitenden Text deren Genese bzw. wie er nach jahrelangem Drängen von Seiten seiner Galeristin ihrem Wunsch nachkam, die Werke der Atlas Group zum ersten Mal in Beirut zu zeigen. Er schickte ihr dazu alle nötigen Bilddateien mit den Angaben zur Reproduktion und Rahmung. Als er zur Installation anreiste, musste er allerdings mit großer Verwunderung feststellen, dass seine Arbeiten nur ein Hundertstel ihrer Originalgröße hatten. Zuerst vermutete er, dass er verrückt geworden sei und sich in einem psychotischen Zustand befände, in dem er seine Werke kleiner als sonst wahrnahm. Dann ging er davon aus, dass sein Assistent, sein Drucker und der Tischler, der seine Bilder rahmt, ihm einen Streich gespielt haben müssen. Als jene allerdings abstritten, dass sie etwas mit den veränderten Maßen zu tun gehabt haben, schließt Raad daraus: „I was forced to face the fact that, in 2008, in Beirut, all my artworks shrank. So I decided that I needed to build a new white cube better suited to the new dimensions of my works. And that is exactly what I did.“202 202 |  Raad, Walid „Section 139: The Atlas Group (1989-2004)“, in: e-flux journal,

#51,

01/2014,

http://www.e-flux.com/journal/section-139-the-atlas-

group-1989-2004/ [eingesehen am 01.07.16]. Das von Raad geschilderte Schrumpfen seiner Werke und das Anzweifeln seines Geisteszustandes kann

Walid Raad

Abbildung 24 Walid Raad, Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989–2004), 2009; Holz, Plexiglas, Tintenstrahldruck, Video, Schaumstoff, 282 x 104 x 32 cm (Sockel: 147 x 56 x 64 cm)

We decided we let them say... durchläuft hier nicht nur erneut eine formale Metamorphose. Ihr ständiges Wandeln wird durch die Retrospektive bzw. Skulptur gleichzeitig verkörpert, aber ihm wird schließlich auch, so scheint es zumindest, Einhalt geboten. Entsprechen die Ausstellungsminiatur und die in dem Begleittext geschilderten Umstände ihrer Entstehung Raads Diktum von „I say different things at different times and in different places“, so vereint die Skulptur schließlich die einzelnen Werke der Atlas Group an einem Ort, einem Display und damit gemäß eines festen Ordnungsprinzips. Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989-2004) fungiert demnach, so die amerikanische Künstlerin und Schriftstellerin Leslie Dick, als „aide-memoire, like a picture in a locket, the complete set

hier auch als eine Reminiszenz zu Lewis Carrols Alice im Wunderland (1865) gelesen werden. Dies wiederum lässt an Deleuzes Logik des Sinns denken. In dem Buch entwickelt der Philosoph in Bezug auf Carrols Geschichte eine Theorie des Sinns, die sich zu ihrem paradoxalen Charakter und ihrem Verhältnis zum Un-Sinn verhält. Vgl. hierzu Deleuze, Gilles Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993.

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that invokes the actual things, which are apparently somewhere else.“203 Wobei sich Dick in diesem Zusammenhang auch fragt: „Are these the final versions of the artworks? Is the artist regaining control of his own work, now dispersed?“204 Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989–2004) geht zwar mit Raads Bekundung einher, dass er das Atlas Group-Projekt als beendet betrachtet. Außerdem präsentiert er die Skulptur als eine komprimierte Übersicht der Atlas Group im Rahmen seiner 2007 begonnenen Werkreihe Scratching on things I could disavow, in der er sich der Geschichte der modernen und zeitgenössischen Kunst im arabischen Kulturraum widmet.205 Die „Kontrolle“, die er mit Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989–2004) zurückgewinnt, ist allerdings nur eingeschränkt, da letztlich selbst fiktiv. Ein weiteres Beispiel dafür, wie Raad versucht, die Atlas Group in einem künstlerisch in sich geschlossenen Referenzrahmen zu fassen, ist seine Ausstellung I might die before I get a rifle (1989), die von November 2008 bis Februar 2009 im Heidelberger Kunstverein zu sehen war. Darin wird We decided we let them say... zusammen mit vier weiteren Werken präsentiert, die ursprünglich ihm bzw. der Atlas Group zugeschrieben waren, in ihrem Originalformat allerdings unter der Autorschaft der libanesischen Künstler*innen Farrid Saroukh, Janah Hilwé, Maha Traboulsi, Hannah Mrad und Mhammad Sabra firmieren.206 Als

203 |  Dick, Leslie „Review: Scratching on Things I Could Disavow. A History of Modern and Contemporary Art in the Arab World/Part I_Volume 1_Chapter 1 (Beirut: 1992-2005) A Project by Walid Raad“, in: x-tra - Contemporary Art Quarterly, Fall 2009, Volume 12, Number 1, http://x-traonline.org/article/a-projectby-walid-raad/ [eingesehen am 01.07.16]. Damit erinnert Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989–2004) auch an Marcel Duchamps Boîte-en-valise (de ou par Marcel Duchamp ou Rrose Sélavy) (1935-41) – einer Art „Mini-Retrospektive“ in Form einer Schachtel mit 81 Miniatur-Repliken und Reproduktionen Duchamps Werke. 204 |  Ebd. 205 |  Vgl. hierzu etwa Flood, Finbarr Barry „Staging Traces of Histories Not Easily Disavowed“, in: Respini, Eva (Hg.) Walid Raad. The Loudest Muttering is Over [Ausst.-Kat.], New York: Museum of Modern Art 2015, S. 161-174. 206 |  Genauer wurde in der Ausstellung We decided we let them say... ohne Titel und mit 1983 datiert unter der Autorschaft der fiktiven Atlas Group-Gründerin Maha Traboulsi präsentiert.

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„Projekt von Walid Raad“207 beschrieben, ist I might die before I get a rifle (1989) angeblich die Rekonstruktion einer Ausstellung, die bereits 1989 von einem Kurator namens Marwan Baroudi in Alexandria organisiert wurde. Diese Ausstellung hat aber tatsächlich niemals stattgefunden und die genannten Künstler*innen sowie der Kurator sind rein fiktive Charaktere. Vielmehr wird der Ausstellungsraum des Kunstvereins von Raad als Bühne für eine theatralische Inszenierung seines eigenen Schaffens und des ihm zugrunde liegenden Prinzips der Fiktionalisierung genutzt, wodurch die Ausstellung selbst zum Kunstwerk wird.208 Sowohl in Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989-2004) als auch in I might die before I get a rifle (1989) wirkt sich die Präsentation von We decided we let them say... abermals auf die Leseweise der Fotografien aus. Durch die narrativen Schleifen, die Raad um einen Gegenstand spinnt – im konkreten Fall von We decided we let them say... also die israelische Invasion Beiruts 1982, festgehalten in einer Serie von Fotografien und einer schriftlichen Erörterung –, wird der dem Werk zugrunde liegende Gestus der Revision rekursiv gesteigert 209: So werden etwa die Fotografien von We decided we let them say... im Rahmen von Part I_Chapter 1_The Atlas Group (1989-2004) zu Elementen eines neuen Werkes und einer neuen Werkgruppe. In I might die before I get a rifle (1989) dagegen sind sie Teil eines Kunstwerks, das eingebunden in ein Narrativ, über das Raad ein weiteres Metanarrativ legt, zu einem anderem Kunstwerk wird. Unter der Prämisse des Absurden, d.h. der Verkleinerung von Raads Arbeiten und der Erfindung einer libanesischen Avantgarde von Konzeptkünstler*innen, werden den Betrachter*innen dabei die Grundlagen der Kanonisierung von Kunst vorgeführt, die hier ebenfalls in einem Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen, das im Rahmen der Kunstgeschichte stark an kulturpolitische Faktoren gebunden ist, zum Tragen kommt.

207 |  Siehe Pressetext zur Ausstellung: http://www.hdkv.de/media/mgz/hdkv_ walidraad.pdf [eingesehen am 01.07.16]. 208 |  Zum Thema Ausstellung als Kunstwerk siehe etwa: McGovern, Fiona Die Kunst zu zeigen. Künstlerische Ausstellungsdisplays bei Joseph Beuys, Martin Kippenberger, Mike Kelley und Manfred Pernice, Bielefeld: transcript 2016, S. 159 ff. und 297 ff. 209 |  Gleich eines „Matroschka-Prinzips“ enthält demnach ein Narrativ ein anderes usw.

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Der subversive Impuls, den Raad mit der Beleuchtung dieser Prozesse auslösen möchte, geht dabei allerdings an einen manieristischen Eindruck verloren, den die rekursive Steigerung hinterlässt. Denn diese Steigerung entschärft mit einer beständigen Produktion materieller Werke die Institutionskritik, die Part I_Chapter 1_The Atlas Group (19892004) und I might die before I get a rifle (1989) vermitteln sollen. Davon abgesehen generieren etwa die verschiedenen Fassungen von We decided we let them say..., die auf dem Kunstmarkt in mehreren Editionen kursieren, nicht unbeträchtliche Preise, was Raad letztlich zum Nutznießer des Systems, das er angreift, macht. Trotzdem hält Tom Holert Raad zu Gute, dass in seinen im Kontext der Atlas Group präsentierten Werken kein „auftrumpfende[r] Gestus eines subversiv getarnten Sozialvoyerismus“ oder eine „Fetischisierung von Reflexivität und Apparatuskritik, wie sie allenthalben in künstlerischen Produktionen des ,documentary mode‘ beobachtet werden kann“, zum Ausdruck kommt.210 Seiner Meinung nach setzt Raad dem vielmehr „eine Problematisierung eben dieser Funktionen und Effekte von Reflexivität entgegen“.211 Der Grat zwischen Fetischisierung und Problematisierung ist im Fall der Atlas Group meines Erachtens allerdings ein sehr schmaler. Ich möchte daher behaupten, dass Raad im Kontext der Atlas Group anstatt auschließlich zu problematisieren, die Problematisierung „der Funktionen und Effekte von Reflexivität“ zumindest teilweise fetischisiert.212 Das diese Fetischisierung sich nicht durchweg positiv auf die Rezeption des gesamten Atlas Group Projektes auswirkt, bemerkt auch der Kurator und Dozent in Performance Studies André Lepecki. Seiner Einschätzung 210 |  Holert, Tom „Die Erscheinung des Dokumentarischen“, in: Gludovatz, Karin Auf den Spuren des Realen. Kunst und Dokumentarismus, Wien: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig 2003, S. 43-64, hier S. 60 f. 211 |  Ebd., S. 61. 212 |  Der Literaturwissenschaftler Saree Makdisi spitzt diese Kritik sogar noch zu, wenn er schreibt: „The risk that this kind of work expresses [...] is the possibility that its photographs and images might generate a kind of alter-history, such that ‚genuine‘ history itself is effaced through a process of not merely fetishism but aestheticized numbness.“ Siehe: Makdisi, Saree „Beirut, a City without History?“, in: Makdisi, Ussama und Silverstein, Paul A. (Hg.) Memory and Violence in the Middle East and North Africa, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 2006, S. 201-214, hier S. 206.

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nach verlieren die Werke der Atlas Group, sobald sie in Galerien und Museen präsentiert werden, ihre produktive Ambiguität.213 Für ihn sind es einzig Raads Lecture Performances und eine damit einhergehende Betonung auf das Ephemere214, die dem entgegenwirken. In den Performances erscheinen alle der Atlas Group zugeschriebenen „Dokumente“ und so auch Fotografien ausschließlich als Licht und Schatten, Pixel und optische Entitäten: „Which means that they exist only as afterimages, as elusive entities that complicate and disrupt some of the narratives Raad’s voice meticulously weaves. […] It is their presentation as virtual documents in the context of a lecture that adds performativity to their display, adding to them an ambiguous referential dimension – thanks to the theatrics of knowledge and authenticity created by Raad’s performance.“215

Diese Theatralik und die Präsentation von Fotografie als „virtual documents“ soll abschließend anhand von I feel a great desire to meet the masses once again (2005) bzw. der darin gezeigten Aufnahmen der Bombardierung West-Beiruts sowie der ruhenden israelischen Soldaten diskutiert werden. Damit gelange ich zugleich an den Ausgangspunkt meiner Betrachtungen in diesem Teilkapitel zurück.

213 |  Lepecki, André „,After All, This Terror Was Not Without Reason‘ Unfiled Notes on the Atlas Group Archive“, in: The Drama Review, 50:3, Fall 2006, S. 88-99, hier S. 94. 214 |  Raad sieht weitgehend davon ab, seine Performances etwa auf Video festzuhalten. Das von mir zitierte Skript von I feel a great desire to meet the masses once again in der Homeworks-Publikation stellt eine seltene Ausnahme dar, die den gesamten Inhalt einer seiner Lecture-Performance wiedergibt. 215 |  Lepecki, André „,After All, This Terror Was Not Without Reason‘ Unfiled Notes on the Atlas Group Archive“, in: The Drama Review, 50:3, Fall 2006, S. 88-99, hier S. 94.

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I feel a great desire to meet the masses once again (2005): „Political dramaturgy of history as pedagogy“ I feel a great desire to... ist zwar eine Lecture Performance, die Raad nicht im Kontext der Atlas Group aufgeführt hat, sie funktioniert aber nach dem gleichen Schema wie seine Atlas Group Performances. Zudem finden sich darin neben den vier Fotografien und dem narrativen Strang von We decided we let them say... noch weitere Elemente aus Werken wieder, die Raad zuvor unter dem Pseudonym präsentierte. So wie sich in Raads materiellen Werken eine stetige Veränderung seiner Position nachvollziehen lässt, die Verwirrung stiftet und teilweise auch Widersprüche erzeugt, schlüpft er im Rahmen seiner Lecture Performance ebenfalls in verschiedene Rollen. Während er in seinen frühen Performances überwiegend als Sprecher der Atlas Group auftritt,216 erscheint er in späteren Präsentationen als distanzierter Referent, der retrospektiv die Atlas Group einer performativen Analyse unterzieht.217 Obwohl Raad verstärkt die künstlerischen Strategien und Konzepte etwa der Fiktionalisierung und der „hysterical documents“, aber auch den Einfluss, den Jalal Toufics Theorie vom Rückzug der Tradition auf ihre Entwicklung218 hatte, offen 216 |  Lepecki, André „Im Nebel des Ereignisses: Performance und die Aktivierung der Erinnerung im Archiv der Atlas Group“, in: Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 33-37, hier S. 33. 217 |  So zum Beispiel bei einer Lecture-Perfomance im Walker Art Center im Oktober 2007: http://www.walkerart.org/channel/2007/artist-talk-walid-raad [01.07.16]. 218 |  Laut Toufic enthüllt die Kunst in Bezug auf das unermessliche Desaster, dass sich uns etwas entzieht, von dem wir glauben, es exisitiere noch. Erst durch das unermessliche Desaster erhält Tradition ihre eigentlich Bedeutung: Sie ist das, was das unermessliche Desaster materiell übersteht, sich in seiner Folge jedoch immateriell entzogen hat und von Künstler*innen erst reaktiviert wird. Als ein examplarisches unermessliches Desaster gilt für Toufic der libanesische Bürgerkrieg aber ebenso die Nakba sowie die israelische Invasion in den Libanon 1982. Vgl. hierzu Toufic, Jalal Vom Rückzug der Tradition nach einem unermesslichen Desaster, Berlin: August 2011 sowie Gilbert, Alan „Walid Raad’s Spectral Archive, Part II: Historiography as Process“, in: e-f lux journal,

Walid Raad

legt und auswertet, haben auch diese späteren Performances aufgrund ihrer Theatralik niemals einen rein didaktischen Charakter.219 Sind seine Lecture Performances formal von einem ähnlichen Ablauf bestimmt – Raad steht oder sitzt meist in einem schwarzen Anzug gekleidet in einem verdunkelten Raum, in dem er selbst bzw. sein Skript nur von einer kleinen Tischlampe beleuchtet wird –, weisen einzelne Lecture Performances wiederum unterschiedliche thematische Schwerpunkte auf. Im Fall von I feel a great desire to... wäre das die Schilderung des Verhörs und die Thematisierung des globalen „war on terror“, die Verhandlung des so genannten Racial Profiling, des Nahostkonflikts sowie der politischen Funktion der Fotografie und Kunst, gespickt mit Anekdoten und Erinnerungen aus seinem Privatleben. Generell spricht Raad in allen seinen Lecture Performances – zugleich Schriftstücke, Fotografien und Videos mittels einer Powerpoint-Präsentation projizierend – „mit bestimmter und dennoch höflicher Stimme mit leicht betontem nahöstlichen Akzent“.220 Und auch wenn seine Performances teilweise anekdotenhafte und komische Passagen enthalten, sind sie überwiegend vom nüchternen Tonfall eines wissenschaftlichen Vortrages geprägt.221 Der institutionelle Rahmen – Raad performt nicht nur in Museen und Theatern sondern ebenso an Hochschulen – bekräftigt darüber hinaus sein Auftreten als „respectable lecturer“.222 Auf diese Weise inszeniert er bewusst die subtile Theatralik, die bei wissenschaft-

#71,

03/2016,

http://www.e-f lux.com/journal/walid-raads-spectral-archive-

part-ii-testimony-of-ghosts/ [eingesehen am 08.07.16]. 219 |  Vgl. hierzu Rogers, Sarah „Forging History, Performing Memory. Walid Ra’ad’s The Atlas Group Project“, in: Parachute, Nr. 108, Oktober 2002, S. 6879, hier S. 77. 220 |  Lepecki, André „Im Nebel des Ereignisses: Performance und die Aktivierung der Erinnerung im Archiv der Atlas Group“, in: Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 33-37, hier S. 34. 221 |  Vgl. Lepecki, André „,After All, This Terror Was Not Without Reason‘ Unfiled Notes on the Atlas Group Archive“, in: The Drama Review, 50:3, Fall 2006, S. 88-99, hier S. 94. 222 |  Ebd.

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lichen Vorträgen immer unterschwellig mitschwingt, jedoch selten explizit hinterfragt wird. Während der Performances fungiert zum einen insbesondere Raads Akzent als ein Garant für Authentizität, in dem er auf Raads Herkunft schließen lässt: „[I]t points at a theatrics of alterity while at the same time it legitimizes his talk as coming from a place of authenticity and therefore of truth.“223 Zum anderen wird von Raad insbesondere die Evidenz der Fotografie zur Bekräftigung seiner Aussagen genutzt. Letztere wird zusammen mit seiner Rhetorik wie etwa in seinen im Ausstellungsraum präsentierten Werken Teil eines Vexierbildes oder einer Kippfigur von Gewissheit und Misstrauen. Hier verweist das Bild außerhalb von Raads Vortrag direkt auf seine Rede zurück, wobei dieses reziproke Zusammenspiel mittels der Powerpoint-Präsentation durch die Abfolge der einzelnen Folien getaktet ist, die sukzessive auf der (Lein-) Wand erscheinen.224 Demzufolge bilden eine Folie und der während ihrer Projektion geäußerte Redeteil eine Sinneinheit, die in ihrer Stringenz allerdings von einer Vermengung von Fakt und Fiktion und den damit einhergehenden Brüchen und Kontradiktionen geprägt ist.225 Auf diese Weise werden die Fotografien von Raad Teil einer Dramaturgie,226 die 223 |  Lepecki, André „,After All, This Terror Was Not Without Reason‘ Unfiled Notes on the Atlas Group Archive“, in: The Drama Review, 50:3, Fall 2006, S. 88-99, hier S. 90. 224  |  Vgl. zur Funktion der Powerpoint-Präsentation im Rahmen künstlerischer Performances Peters, Sybille Der Vortrag als Performance, Bielfeld: transcript Verlag 2011 (hier vor allem S. 139). Allgemeiner zur Powerpoint-Präsentation siehe etwa: Schnettler, Bernt und Knoblauch, Hubert (Hg.) Powerpoint- Präsentationen: Neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation von Wissen, Konstanz: UVK 2007. 225 |  Die Kunsthistorikerin Fiona Geuss beschreibt dieses Zusammenspiel auch folgendermaßen: „While the academic lecture treats the image as a symbol – as evidence – and develops an atmosphere of objectivity, thruth and trust, Lecture Performance opens up a rift, in which the artist creates a display of knowlegde emerging out of the space between word and image.“ Siehe: Geuss, Fiona „Not not a Conversation. The spoken word and the image in lecture performance“, in: Blumenstein, Ellen und Geuss, Fiona (Hg.) Perform a Lecture!, Berlin: Argobooks 2011, S. 8-9, hier S. 8. 226 |  Laut Lepecki rahmt Raad die Fotografien mit seiner Stimme und reaktivert sie damit: „Denn es ist seine Stimme, die die Bilder weg von ihrer Selbst-

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selbst, so Lepecki „a larger political dramaturgy of history as pedagogy“227 aufdeckt. Lepecki fasst diesbezüglich die Wirkung von Raads Lecture Performance in drei Kernpunkten zusammen: „(1) it proposes and enacts a critical theory of history’s relationship to performativity […] (2) it unmasks the role of the historian as an author (moreover, as an authoritative author); and (3) it reveals the fundamental role of the audience as a crucial accomplice in the production of the historian’s authority – the audience as a partner in the historian’s many forgeries, reveries, conscious or unconscious manipulations, political desires, ambitious poetics, and feverish archival drive.“228

Der Aspekt der Komplizenschaft, den Lepecki in seinem dritten Punkt herausstellt,229 wurde von mir bereits anhand der Analyse von We decided we let them say… thematisert. In I feel a great desire to... erscheint er angesichts der Präsentation der vier Fotografien der israelischen Invasion Beiruts und der Schilderung ihrer Entstehungsumstände allerdings in noch potenzierterer Form. Zuhörer*innen und Betrachter*innen, die mit der Atlas Group oder etwa mit den divergenten Zuschreibungen dieser Fotos in den unterschiedlichen Fassungen von We decided we let them say… nicht vertraut sind, werden vermutlich eher davon ausgehen, dass die Bilder von Raad gemacht wurden und sich die Ereignisse folglich so zugetragen haben müssen, wie er sie beschreibt. Die Anwesenheit Raads, das Zusammenspiel zwischen seiner Rede und den Fotografien, führt dabei zu einer verstärkten Identifikation des Publikums mit dem Sprechenden. Zudem bewirkt seine persönliche Präsenz und die Enunziation eines verkörperpräsenz in einen widerhallenden Raum aktiver Vorstellungskraft treibt.“ Siehe: Lepecki, André „Im Nebel des Ereignisses: Performance und die Aktivierung der Erinnerung im Archiv der Atlas Group“, in: Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 33-37, hier S. 35. 227 |  Lepecki, André „,After All, This Terror Was Not Without Reason‘ Unfiled Notes on the Atlas Group Archive“, in: The Drama Review, 50:3, Fall 2006, S. 88-99, hier S. 94. 228 |  Ebd. 229 |  Im Anschluss seiner Performances nimmt Raad zudem Fragen aus dem Publikum von Personen entgegen, die von ihm zuvor dafür engagiert wurden.

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ten „Ich“ eine gesteigerte Authentifizierung der Bilder und des Gesagten, die sogleich die potentielle Unwissenheit und Erwartungshaltung des Publikums zum Bestandsteil von Raads Strategie macht. Indem Raad anscheinend seine Erinnerungen aus seiner Jugend wiedergibt sowie das Verhältnis zu seiner palästinensischen Mutter darlegt, ermöglicht er einen empathischen Zugang zu dem fotografisch festgehaltenen Ereignis. Die Relation zwischen ihm (als Redner, Performer aber auch als Privatperson), den Fotografien (als Erinnerungsstützen sowie als historische Dokumente) und dem Publikum vermittelt dadurch auch denen, „die die gewaltsamen Vorgänge im Libanon nicht selbst miterlebt haben“, eine gesteigerte Dringlichkeit.230 Demnach wird der einleitend beschriebene Gewissenskonflikt, den Raad angesichts der Fotos I feel a great desire to..., seiner Schaulust und seiner Position als vermeintlicher Fotograf zum Ausdruck bringt, auch auf das Publikum übertragen. Raad fordert es heraus, sich nicht nur eine politischen Situation bzw. eine kriegerische Auseinandersetzung zu vergegenwärtigen. Gemäß Jaques Rancières These, dass Politik, Kunst, Wissen alle „Fiktionen“, „das heißt materielle Neuanordnungen von Zeichen und Bildern“ konstruieren und damit Beziehungen stiften „zwischen dem, was man sieht und dem, was man zeigt, zwischen dem, was man tut und tun kann“231, fragt Raad nach der Möglichkeit, mittels der Kunst ein historisches und damit einhergehend politisches Bewusstsein zu schaffen.232 Dabei soll sich 230 |  Lepecki geht sogar soweit zu sagen, dass diese Relation bei den Betrachter*innen das „Gefühl“ erzeugt, als seien sie selbst „Zeitzeugen der Ereignisse“. Vgl. hierzu Lepecki, André „Im Nebel des Ereignisses: Performance und die Aktivierung der Erinnerung im Archiv der Atlas Group“, in: Nakas, Kassandra und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], hrsg. von, Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 33-37, hier S. 36. 231 |  Rancière, Jacques „Ob daraus zu schließen wäre, dass die Geschichte eine Fiktion ist. Von den verschiedenen Weisen der Fiktion“, in: Muhle, Maria (Hg.) Jacques Rancière. Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin: b-books 2006, S. 56-64, hier S. 62. 232 |  Vgl. hierzu auch Nakas, Kassandra „Bilder der Verfehlung, fehlende Bilder“, in: dies. und Britta Schmitz (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 21-24, hier S. 24.

Walid Raad

dieses Bewusstsein nicht nur der Abstraktionen und ideologischen Färbungen gewahr sein, die historiografischen Prozessen zu Grunde liegen, sondern sich darüber hinaus davon emanzipieren. Indem Raad Fakt und Fiktion nicht als bloße Gegensätze postuliert, sondern die Schnittstellen zwischen beiden Kategorien aufzeigt und eine rigide Auffassung davon, was sie beinhalten, destabilisiert, entwickelt er eine Repräsentationsform, die zwar nicht unbedingt die Ereignisse des libanesischen Bürgerkrieges und der israelischen Invasion 1982 „wahrheitsgemäß“ aufdeckt. Sie veranschaulicht jedoch deren irrationale Ausmaße und macht sie durch den empathischen Aspekt seiner Lecture Performances zumindest ansatzweise subjektiv erfahrbar.233 Konkret im Fall von I feel a great desire to... wird dabei auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte des palästinensischen Volkes zu einem persönlichen Anliegen für die Betrachter*innen. Diese Konfrontation wird zum „point of ethical positioning“, einem Ausgangspunkt für eine Diskussion über die politischen Prämissen fotografischer und künstlerischer Repräsentation, die Souveränität und Glaubwürdigkeit historischer Dokumente sowie die Rolle des Zeigenden, des Sprechenden und die Positionen der Betrachter*innen.234 Im Vergleich zu Joreiges A Journey wird die Evidenz der Fotografie von Raad sowohl in I feel a great desire to meet the masses once again als auch in den verschiedenen Fassungen und Erscheinungsformen von We decided we let them say, „we are convinced“ twice wesentlich argwöhnischer betrachtet. Er streitet eine fotografische Beweiskraft zwar nicht völlig ab, nutzt ihre Unergründlichkeit – oder wie Barthes sagt, die Tatsache, dass sich die Fotografie aufgrund ihrer mächtigen Evidenz „nicht ergründen lässt“235 – jedoch dazu, Konzepte wie Objektivität und Authentizität als Konstrukte zu entlarven und deren Instrumentalisierung im Zuge historiografischer Prozesse kritisch zu beleuchten. Bereits Bourdieu bemerkte, dass, indem die Gesellschaft „der Photographie Realismus bescheinigt, [sie] sich selbst in der tautologischen 233 |  Vgl. Rogers, Sarah „Forging History, Performing Memory. Walid Ra’ad’s The Atlas Group Project“, in: Parachute, Nr. 108, Oktober 2002, S. 68-79, hier S. 78. 234 |  Lepecki, André „,After All, This Terror Was Not Without Reason‘ Unfiled Notes on the Atlas Group Archive“, in: The Drama Review, 50:3, Fall 2006, S. 88-99, hier S. 96. 235 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 117.

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Gewissheit [bestärkt], dass ein Bild der Wirklichkeit, das der Vorstellung entspricht, die man sich von der Objektivität macht, tatsächlich objektiv ist.“236 Auch Wortmann formuliert dies in Bezug auf das Authentische auf ähnliche Weise, indem er verdeutlicht, dass erst die Erwartungshaltung der Betrachter*innen vermeintlich authentische Bilder generiert: „Denn die Spuren auf einem Bildträger, die das Bild authentisch erscheinen lassen, sie entstehen letztlich erst im Kopf des Bildbetrachters, der nicht nur die authentisierende Legende und das konkrete Bildexemplar zusammenführt, der vielmehr selbst ein substantielles Interesse daran hat, ein Bild als authentisches sehen zu können, und damit die Spuren in das Bild ebenso ,hineinliest‘, wie diese ihm entgegenzukommen scheinen.“237

Raad mag den Betrachter*innen in dieser Hinsicht sicherlich spielerisch etwas den Kopf verdrehen. Entscheidender ist aber, dass er sie auf den Vorgang des individuellen und kollektiven „Hineinlesens“ und die möglicherweise daraus resultierenden Trugschlüsse aufmerksam macht. Raad stellt somit nicht nur die Bedeutung der Geschichtsschreibung als diskursives Werkzeug zur Konsolidierung einer Macht und als Ursache derzeitiger politischer Verhältnisse im Rahmen eines bis heute andauernden Konflikts heraus.238 Er fordert dadurch auch ein sich dieser Relation bewusstes Denken, „das angesichts des Fortwirkens der Vergangenheit in der Gegenwart zugleich in die Zukunft weist“.239

236 |  Bourdieu, Pierre „Die gesellschaftliche Definition der Photographie“, in: ders.; Boltanski, Luc et al. Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006, S. 85-109, hier S. 89. 237 |  Wortmann, Volker Authentisches Bild und authentisierende Form, Köln: Herbert von Halem Verlag 2003, S.224. 238 |  Vgl. Lepecki, André „,After All, This Terror Was Not Without Reason‘ Unfiled Notes on the Atlas Group Archive“, in: The Drama Review, 50:3, Fall 2006, S. 88-99, hier S. 94. 239 |  Nakas, Kassandra „Bilder der Verfehlung, fehlende Bilder“, in: dies. und Schmitz, Britta (Hg.) The Atlas Group (1998-2004). A project by Walid Raad [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/ König 2006, S. 21-24, hier S. 24.

III. Konfrontation und Repräsentation

Emily Jacir | Yasmine Eid-Sabbagh

Die vorangegangen beiden Kapitel haben gezeigt, wie sich Zaatari, Joreige und Raad auf unterschiedliche Weise mittels der künstlerischen Wiederholung historischer Fotografien mit Erinnerung und geschichtsbildenden Prozessen auseinandersetzen und zugleich das „Wesen“ der Fotografie untersuchen. Aufgrund der Tatsache, dass, wie es Phillip Dubois formuliert, „das Index-Foto in unseren Augen die Existenz dessen [bestätigt], was es repräsentiert (das So-ist-es-gewesen von Barthes), aber es uns nichts über den Sinn dieser Repräsentation [sagt]; es uns nicht [sagt] das bedeutet dies“1, kommt dabei in ihren Arbeiten mehr oder weniger explizit ein Schwanken zum Ausdruck. Sie machen zum einen das potentielle Bestätigungsvermögen der Fotografie produktiv, ziehen aber auch – dies tut vor allem Walid Raad – die Konstruiertheit der fotografischen Evidenz selbst in Betracht. In beiden Fällen zeigen sie allerdings, dass fotografische Repräsentationen, wie es Victor Burgin bereits 1977 in seinem Essay „Fotografien betrachten“ konstatierte, „in einem engen Zusammenhang mit der Reproduktion von Ideologie [stehen]“.2 Fotografie ist demnach alles andere als „neutral“.3 Denn von ihr geht eine „Autorität“ aus – eine Macht des Sehens und der Überwachung – die jedoch zugleich an die Personen und Institutionen, die sie sich zu Nutze machen, zurückgebunden ist, wobei erst dieser wechselseitig konstitutive Prozess die Evidenz 1 |  Dubois, Philippe Der fotograf ische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Hamburg: Philo Fine Arts 1998, S. 56. 2 |  Burgin, Victor „Fotografien betrachten“, in: Kemp, Wolfgang (Hg.) Theorie der Fotografie III, 1945-1980, München: Schirmer/Mosel 1999, S. 251-260, hier S. 255. 3 |  Tagg, John „Evidence, Truth and Order: Photographic Records and the Growth of the State“, in: ders. The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, London: Macmillan 1988, S. 60-102, hier S. 63.

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III. Konfrontation und Repräsentation

und den Wahrheitsgehalt der von ihnen produzierten Bilder garantiert.4 John Tagg schließt daraus, dass Fotografien niemals Geschichte belegen können: „[T]hey are themselves the historical“.5 Die Fotografie und ihre mnemonische Funktion müsste demnach „innerhalb eines Feldes institutioneller Räume“6 oder – um mit Stuart Hall zu sprechen – als Teil eines „Repräsentationssysstems“7 betrachtet und untersucht werden. Dabei ist dieses System nicht nur die Grundlage von kultureller und nationaler Identität. Es bringt zudem, so Hall, einen Diskurs hervor, der „grobe und vereinfachte Unterscheidungen [trifft]“, „eine absolut vereinfachte Konzeption von ‚Differenz‘ [konstruiert]“8 und damit den Nährboden für hegemoniale Strukturen schafft.9 Das Schwanken 4 |  Tagg, John „Evidence, Truth and Order: Photographic Records and the Growth of the State“, in: ders. The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, London: Macmillan 1988, S. 60-102, hier S. 64. 5 |  Ebd., S. 65. 6 |  Ebd., S. 118. 7 |  Stuart Halls Ansatz greift hier Überlegungen Foucaults auf, nach denen Diskurse nicht nur eine Ansammlung von Bedeutungszuweisungen sind, sondern darüber hinaus Machtkonstellationen herstellen und beeinf lussen, die wiederum durch diskursive Praktiken und damit durch Wissen erzeugt und reproduziert werden. Hall bezeichnet die Bedeutungszuweisungen, die einen Diskurs konstituieren, als Repräsentationen, die sich in zwei verschiedenen Systeme manifestieren und agieren: Zum einen in einem mentalen Repräsentationssystem, das von Ideen, Konzepten, Vorstellungen und Phänomenen bestimmt ist, die zueinander in Beziehungen stehen; zum anderen in einem sprachlichen Repräsentationssystem, das in Form von Zeichen, Tönen und Bildern dazu dient, diesen Konzepten, Ideen und Vorstellungen Ausdruck zu verleihen bzw. um sie zu kommunizieren. Vgl. Hall, Stuart „The Work of Representation“, in ders. (Hg.) Representation Cultural Representations and Signifying Practices, London/ Thousand Oaks/New Dheli: Sage Publications 2002, S. 13-74, hier S.15-30. 8 |  Hall, Stuart „Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht“, in: ders. (Hg.) Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument 1994, S. 137-179, hier S. 142 f. 9 |  Diese Differenzierungen zeichnen sich laut Hall am deutlichsten an der Dichotomie zwischen dem Westen und dem „Rest“ ab. Vgl. hierzu Hall, Stuart „Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht“, in: ders. (Hg.) Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument 1994,S. 137-179.

Emily Jacir | Yasmine Eid-Sabbagh

oder Oszillieren im Umgang mit der Fotografie bei Zaatari, Joreige und Raad kann als Ausdruck ihrer Betrachtung dieses Systems erachtet werden. Fotografische Repräsentation tritt in ihren Arbeiten sowohl in Form bildlicher Darstellung – des Abbildens – als auch im Sinne eines „Stellvertretens“ – an Stelle des Systems agierend – in Erscheinung. Sie zeigen, dass wie alles, mit dem wir unserem Fühlen und Denken Ausdruck verleihen, die Fotografie ebenso Träger politischer Handlungsgewalt ist. Dies tun auch Emily Jacir und Yasmine Eid-Sabbagh. Dabei wurzeln ihre künstlerischen Praktiken sowie ihre Perspektiven auf die Geschichte Palästinas zudem in einer explizit aktivistischen Grundhaltung.10 Jacir und Eid-Sabbagh heben hervor, dass jegliche Form der Repräsentation unser Vermögen zur Emanzipation von Halls Repräsentationssysstem bestimmt, bzw. dass Emanzipation nur im Zuge einer Problematisierung und kritischen Auseinandersetzung damit geschehen kann.11 Das zeichnet sich zum einen in einer Verlagerung von einer individuellen hin zu einer partizipatorischen Form der Kunstproduktion und zum anderen in einer Reflexion gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ab. Zudem geht bei Jacir und Eid-Sabbagh Kunstproduktion mit einer verstärkten Ortsspezifik sowie – insbesondere bei Eid-Sabbagh – mit einem sozialen Engagement einher. Inhaltlich stellen Jacir und Eid-Sabbagh dabei vor allem den Ausnahmezustand als „anomischen Raum“, in dem, so Giorgio Agamben, „eine Gesetzeskraft ohne Gesetz […] zum Einsatz kommt“12 zur Disposition, 10 |  Für eine eingängige Auseinandersetzung zum Thema Aktivismus in der Kunst siehe ewta: Kester, Grant H. (Hg.) Art, Activism, and Oppositionality. Essays from Afterimage, Durham/London: Duke University Press 1998. 11 |  Vgl. hierzu Iskandar, Adel und Rustom, Hakem „Introduction. Emancipation and Representation“, in: dies. (Hg.) Edward Said. A Legacy of Emancipation and Representation, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2010, S. 1-21, hier S. 16. 12 |  Agamben, Giorgio Ausnahmezustand, Homo sacer II.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 49. An anderer Stelle beschreibt Agamben den Ausnahmezustand auch als „Niemandsland zwischen öffentlichem Recht und politischer Faktizität, zwischen Rechtsordnung und Leben“. (Ebd., S. 8.) Er argumentiert, dass die Schaffung eines permanenten Ausnahmezustandes eine grundlegende Praktik heutiger Staaten geworden sei – einschließlich der sogenannten demokratischen. Seiner Meinung nach erzeugen die Kombination des Einsatzes von

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der bis heute den Alltag der meisten Palästinenser*innen13 prägt und im Grunde erst die Existenz Israels ermöglichte und weiterhin ermöglicht.14 Denn es waren die Notstandsgesetzgebungen der britischen Mandatsherrschaft über Palästina – die sogenannten Defence (Emergency) Regulations –, die die Voraussetzungen für die Gründung des jüdischen Staates und dessen Legislative schufen. Ursprünglich von den Briten im Zuge der Revolten zwischen 1936 und 1939 zum Schutz der Mandatsbevölkerung eingeführt, sollten sie zunächst die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Palästina gewährleisten.15 Nach 1948 behielt die israelische fortschrittlicher Überwachungstechnologie mit einer gesteuerten Verbreitung von kollektiver Angst und die Erosion demokratischer Rechte einen fundamentalen Wandel in der Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung, die Bürger*innen letztlich zu rechtslosen Subjekten macht. 13 |  Der permanente Ausnahmezustand, der von der israelischen Regierung nach der zweiten Intifada in Israel und den besetzten Gebieten verschärft wurde, hat zur Folge, dass die Palästinenser*innen einer kontinuierlichen Diskriminierung und einer allgemeinen Feindseligkeit ausgesetzt sind, die bis zur Verletzung ihrer Menschenrechte führen. Das betrifft vor allem ihre eingeschränkte Bewegungsfreiheit durch die massiven Sperranlagen zwischen Israel und dem Westjordanland, die fortschreitende Besetzung durch die aggressive Siedlungspolitik Israels, willkürliche Festnahmen oder gar Tötungen von Palästinser*innen aber auch die israelische Kontrolle der Trinkwasserversorgung in den Autonomiegebieten. Vgl. hierzu etwa: Ophir, Adi; Givoni, Michal und Hanafi, Sari (Hg.) The Power of Inclusive Exclusion. Anatomy of Israeli Rule in the Occupied Palestinian Territories, New York: Zone 2009; Said, Edward W. The Question of Palestine, London: Vintage 1992 sowie ders. The Politics of Dispossesion. The Struggle for Palestinian Self-Determination 1964-1994, London: Vintage 1994 und Algazi, Gadi „Sperrzonen und Grenzfälle. Beobachtungen zu Herrschaft und Gewalt im kolonialen Kontext zwischen Israel und Palästina“, in: Lüdtke, Alf und Wildt, Michael (Hg.) Staatsgewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen: Wallenstein, S. 309-346. 14 |  Vgl. hierzu Morton, Stephen „The Palestinian Tradition of the Oppressed and the Colonial Genealogy of Israel’s State of Exception“, in: ders. (Hg.) States of Emergency: Colonialism, Literature and Law, Liverpool: Liverpool University Press 2013, S.173-208. 15 |  Vgl. Bracha, Baruch „Restriction of personal freedom without due process of law according to the Defence (Emergency) Regulations, 1945“, in: Israel

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Regierung jedoch die Notstandsgesetze vor allem zur Kontrolle der arabischen Bevölkerung bei: Die zionistische Führung implementierte sie wiederum vier Tage nach ihrer Unabhängigkeitserklärung am 19. Mai 1948 und jede darauffolgende Knesset verabschiedete sie bis zum heutigen Tag beständig aufs Neue.16 Für Palästinenser*innen bedeutet dies nicht nur, dass ihnen seitdem weitgehend ihr Recht auf Bewegungsfreiheit, auf Erwerb von Grundstücken und das Recht auf Niederlassung abgesprochen wurde.17 Die Ernennung des Ausnahmezustandes fungierte, laut Said, darüber hinaus als rechtlicher Vorwand für einen großangelegten Landraub18: Nachdem die zionistischen Milizen während und in Folge des ersten arabisch-israelischen Krieges den Hauptteil der arabischen Bevölkerung vertrieben hatten, ernannte die israelische Regierung palästinensische Ortschaften bis 1966 zu militärischen Sperrgebieten, um die Rückkehr der geflüchteten Einwohner zu verhindern. Auf diese Weise wurden nicht nur hunderte

Yearbook on Human Rights, Tel Aviv: Faculty of Law, Tel Aviv University 1978, S. 296–323. Bracha zitiert darin den Palestine (Defence) Order in Council (1937), der die Notstandsregulierungen veranlasste, welche 1945 offiziell als „Defence (Emergency) Regulations“ deklariert wurden. Dadurch konnten kurzerhand eine Militärgerichtsbarkeit geltend gemacht werden. Polizei und Militär waren demnach berechtigt, auf bloßen Verdacht Personen zu durchsuchen und Besitztümer zu beschlagnahmen. Sie konnten ohne Gerichtsverfahren auf ungewisse Zeit inhaftiert oder gar, auch wenn sie im Mandatsgebiet geboren waren, abgeschoben werden. Weitere Kontroll- und Strafinstanzen, welche die Briten mit diesen Regulierungen implementierten, waren eine verstärkte Zensur, die Enteignung von Privateigentum, die Schließung von Unternehmen und das Verhängen von Ausgangssperren. Die Defence (Emergency) Regulations wurden nicht nur effektiv dazu eingesetzt weitere arabische Aufstände zu unterdrücken, sondern auch dazu, jüdische Millitärorganisationen wie die Hagana zu kontrollieren und die illegale Einwanderung jüdischer Europäer einzudämmen. Vgl. hierzu auch Dowty, Alan The Jewish State. A Century Later, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1998, S. 95 ff. 16 |  Davis, Uri Apartheid Israel. Possibilities for the Struggle Within, New York/ London: Zed Books 2003, S. 126. 17 |  Vgl. Said, Edward W. The Question of Palestine, London: Vintage 1992, S. 36. 18 |  Vgl. ebd., S. 105.

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Dörfer und Städte entvölkert, besetzt und zerstört.19 Die systematische Entarabisierung20 sowie die damit einhergehende Tilgung des kulturellen Gedächtnisses und historischen Erbes Palästinas21 zeichnet sich zudem nach wie vor in der Segregationspolitik 22 ab, welche die israelische Regierung unter Berufung auf den Ausnahmezustand derzeit betreibt.23 19 |  Der palästinensische Historiker Walid Khalidi nennt in seiner grundlegenden Studie zu diesem Thema All that remains. The Palestinian Villages Occupied and Depopulated by Israel in 1948 ursprünglich 418 Ortschaften. Salman Abu Sitta ergänzte diese Zahl später um 77 zerstörte Beduinendörfer. Vgl. hierzu: Khalidi, Walid All that remains. The Palestinian Villages Occupied and Depopulated by Israel in 1948, Washington D.C.: Institute for Palestine Studies 1992 und Abu Sitta, Salman Atlas of Palestine, London: Saqui Books 2004, S. 71. Die Siedlungen, die bestehen blieben, wurden von der israelischen Regierung mit hebräischen Namen umbenannt. Diejenigen, die zerstört wurden, verschwanden völlig von den Landkarten, indem der Jüdische Nationalfonds die Gebiete, in denen sie sich ursprünglich befanden, im Rahmen eines großangelegten Beforstungsprogramms in Nationalparks umwandelte. Der palästinensische Religions- und Politikwissenschaftler Nur Masalha spricht in diesem Zusammenhang auch vom „Green-washing“ der Nakba. Vgl. hierzu Masalha, Nur The Palestine Nakba. Decolonising History, Narrating the Subaltern, Reclaiming Memory, London/New York: Zed Books 2012, S. 120 f. 20 |  Vgl. hierzu Pappe, Ilan The Ethnic Cleansing of Palestine, Oxford: Oneworld 2007. 21 |  Vgl. hierzu Masalha, Nur The Palestine Nakba. Decolonising History, Narrating the Subaltern, Reclaiming Memory, London/New York: Zed Books 2012. 22 |  Das bezieht sich auf die Zweiklassengesellschaft in Israel und den besetzten Gebieten, in der Palästinenser*innen als Bürger*innen zweiter Klasse oder gar „Nichtbürger*innen“ behandelt werden. Die israelischen Historiker Uri Davis und Ilan Pappe bezeichnen diese Politik explizit auch als Apartheidpolitik. Vgl. hierzu: Davis, Uri (2003). Apartheid Israel. Possibilities for the Struggle Within, New York/London: Zed Books 2003, S.  86–87 und Pappe, Ilan (Hg.) Peoples Apart: Israel, South Africa and the Apartheid Question, London/New York: I.B.Tauris 2016. 23 |  Dies begründet die israelische Regierung vor allem damit, dass angesichts der Feindseligkeit der umliegenden arabischen Staaten und den anhaltenden Spannungen zwischen Juden und Arabern in Israel sowie den stetig neu entfachenden Konf likten zwischen Israel und den palästinensischen Militärorga-

Emily Jacir | Yasmine Eid-Sabbagh

Jacir setzt sich mit diesen Verhältnissen unter Einsatz verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen und Medien auseinander. Ich werde mich im Folgenden auf zwei ihrer Installationen – In this Building (2002) sowie Material for a Film (2004-fortlaufend) – konzentrieren, innerhalb derer sie das Fotografische als Teil eines multimedialen Beziehungsgeflechts zur Verhandlung palästinensischer Identität einsetzt. Dabei macht sie historische, aus institutionellen Archiven und privaten Sammlungen stammende Fotografien zu Bestandteilen dieser Werke, um die Ereignisse und Entwicklungen näher zu beleuchten, die zu dem gegenwärtigen permanenten Ausnahmezustand führten. In den folgenden Punkten möchte ich untersuchen, wie genau sich dieses multimediale Beziehungsgeflecht in Jacirs Installationen entfaltet und wie es die historischen Fotos in In this Building und Material for a Film durch ihre installative Rahmung unter ästhetischen sowie politischen Gesichtspunkten neu fasst. Eid-Sabbaghs Thematisierung des Ausnahmezustand ist in A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp (2005-fortlaufend) an eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des palästinensischen Flüchtlingscamps Burj al-Shamali im Süden Libanons sowie mit den heutigen Lebensumständen von dessen Bewohner*innen gebunden. Anders als bei Jacir findet dies bei Eid-Sabbagh jedoch weniger eine konkrete materielle Umsetzung im Sinne von in sich (ab-)geschlossenen Kunstwerken. A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp bezeichnet vielmehr einen Prozess, einen andauernden Dialog zwischen Eid-Sabbagh und einigen Einwohner*innen Burj al-Shamalis über ihre Einstellung zur Fotografie, ihre Beziehungen zu bestimmten Bildern und ihre damit zusammenhängenden Erinnerungen. Die Künstlerin macht dabei zwar historische Fotografien zum Gegenstand verschiedener Ausdrucksformen, primär performativer Interventionen, die sie Rehearsals nennt. Sie sieht jedoch weitgehend davon ab, die von ihr gesammelten Bilder selbst in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ich werde, nachdem ich die wesentlichen Eigenschaften der Photographic Conversation dargelegt habe, im Folgennisationen in Gaza und im Westjordanland, die Sicherheit des Landes und die seiner Bürger*innen nur durch die Aufrechterhaltung der Notstandsregulierungen gewährleistet werden können. Vgl. hierzu Morton, Stephen „The Palestinian Tradition of the Oppressed and the Colonial Genealogy of Israel’s State of Exception“ in: ders. (Hg.) States of Emergency: Colonialism, Literature and Law, Liverpool: Liverpool University Press 2013, S.173-208, hier S. 175.

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den vor allem auf diesen Aspekt des „demonstrativen“ Nicht-Zeigens bei Eid-Sabbagh eingehen. Worin genau liegen Eid-Sabbaghs Beweggründe dafür? Und was bedeutet dies angesichts der Situation der palästinensischen Flüchtlinge und des von Agamben analysierten Ausnahmezustandes bzw. dem Lager als „Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt“?24 Der Aspekt der Erfahrung oder des Erfahrbarmachens, der bereits bei der Untersuchung von Walid Raads Lecture Performance I feel a great desire to meet the masses once again in Form einer direkten Konfrontation mit den Betrachter*innen bzw. dem Publikum aufschien, soll darüber hinaus bei Eid-Sabbagh und Jacir noch ausführlicher in Augenschein genommen werden.

8. E mily J acirs I n this B uilding (2002): D as Q ueens M useum und eine M atrix aus G eopolitik und G eschicht e Emily Jacirs In this Building war eine ortspezifische, speziell für die Gruppenausstellung Queens International konzipierte Installation und mit der Dauer der Ausstellung vom 11. August bis zum 3. November 2002 zugleich auch eine zeitlich begrenzte Intervention, die heute nicht mehr in ihrer Originalfassung existiert. Denn sie bezog sich direkt auf die Geschichte des Gebäudes, in dem die Ausstellung stattfand – dem 1939 anlässlich der New Yorker World’s Fair im Flushing Meadows-Corona Park erbauten New York City Buildung, das heute das Queens Museum beherbergt. Das Gebäude wurde zwischen 1946 und 1950 von den Vereinten Nationen (UN) als temporärer Versammlungsort genutzt: Es war dort, wo die UN-Mitgliedsstaaten am 29. November 1947 die Resolution 181 verabschiedeten und mit der Beendigung der britischen Mandatszeit die Teilung Palästinas in einen israelischen und einen arabischen Staat beschlossen. Obwohl der Plan, der 56 Prozent des Mandatsgebiets der jüdischen Bevölkerung Palästinas zusprach, die zu diesem Zeitpunkt jedoch nur ein Drittel der

24 |  Agamben, Gorgio Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 177.

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Abbildung 1: Ausstellungsansicht, Emily Jacir, In this Building (2002) und Memorial to 418 Palestinian Villages Which Were Destroyed, Depopulated and Occupied by Israel in 1948 (2001), Queens Museum, New York, 2002

Gesamtbevölkerung des Völkerbundmandats ausmachte25, offiziell nie implementiert wurde, führte er dennoch zur Gründung des Staates Israel und damit zum ersten arabisch-israelischen Krieg 1948.26 25 |  43 Prozent des Gebietes stand demnach der arabischen Bevölkerung zu, wobei Jerusalem sowie Bethlehem unter internationaler Kontrolle verwaltet werden sollten. Vgl. hierzu Sa’adi, Ahmad H. „Afterword Ref lections on Representation, History, and Moral Accountability“, in: ders. und Abu-Lughod, Lila (Hg.) Nakba. Palestine, 1948, and the Claims of Memory, New York: Columbia University Press 2007, S. 285-314, hier S. 290 f. 26 |  Aufgrund der vehementen Ablehnung des Beschlusses von Seiten der palästinensischen Araber hatte die UN letztlich nicht die Autorität dazu, Palästina

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In this Building verwies auf dieses Ereignis durch eine Präsentation von insgesamt 30 historischen Fotos aus der Sammlung der UN-Photolibrary27, die vor, während und nach den Verhandlungen der UN-Vollversammlung zur Resolution 181 entstanden. Dabei wurde die Ortsspezifik der Installation im Queens Museum bzw. im ehemaligen Versammlungsort der UN weniger als ein rein ästhetisches Korrelat zwischen Kunstwerk und Ausstellungsraum erzeugt. Sie äußerte sich vielmehr durch ein ostentatives und bereits mit dem Titel der Installation artikuliertes Verweisen oder Hinweisen, dass die Betrachter*innen in Form einer direkten Konfrontation mit historisch-politischen Zusammenhängen sowohl durch die Bildgegenstände der Fotografien als auch durch das Konvergieren ihres Entstehungs- und Ausstellungsortes situierte. Dieses Situieren wurde dadurch verstärkt, dass Jacir 29 der 30 Fotos von In this Building in drei aus dem Inventar des Queens Museums stammenden Vitrinen präsentierte [Abb. 1]. Die 20,3 x 25,4 cm großen Fotos von scheinbar in hitzigen Diskussionen verwickelten oder die palästinensische Landkarte studierenden UN-Delegierten waren darin mit Bildlegenden versehen und in Gruppierungen von jeweils elf, acht und zehn Fotos ausgestellt [Abb. 2].28 Zudem platzierte Jacir neben den Vitrinen an einer Wand des gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit zu teilen. Zudem weigerten sich Großbritannien in dieser Hinsicht mit der UN zu kooperieren und als Vermittler zu agieren. Das Vereinigte Königreich verzögerte sogar den Einsatz einer UN-Übergangsregierung in Palästina – ein politischer Schachzug, den die 1929 als Vertretung der zionistischen Bewegung gegründete Jewish Agency wiederum für sich auszunutzen wusste: Noch während der durch die Bekanntgabe des Teilungsplans ausgelösten Unruhen verkündete sie unter Berufung auf die Resolution 181 am selben Tag des britischen Abzugs, am 14. Mai 1948 die israelische Unabhängigkeitserklärung und die Arabische Liga darauf hin, nur einen Tag später, Israel den Krieg. Vgl. hierzu Morris, Benny 1948: A history of the f irst Arab-Israeli War, New Haven/London: Yale University Press 2008, S. 73 f. 27 |  Einige dieser Fotos wurden auch von der UN als Pressebilder in Umlauf gebracht und können auf der Webseite der UN-Photolibrary eingesehen werden: http://www.unmultimedia.org/photo/photo_library.jsp [eingesehen am 03.07.16]. 28 |  Die einzelnen Bilder waren jeweils mit Nummern versehen. In den einzelnen Glasvitrinen lag zudem jeweils ein Papier aus, auf dem die Informationen zu den Fotos gemäß der ihnen zugeordneten Nummern aufgelistet waren. Auf

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Ausstellungsraums einen weiteren 150 x 90 cm großen ungerahmten Abzug eines Fotos des Vorsitzenden der pakistanischen UN-Delegation Muhammed Zarfulla Khan, der darauf im Beisein eines Vertreters der Jewish Agency und eines Abgeordneten aus Uruguay auf eine Landkarte Palästinas deutet [Abb. 3]. In this Building war jedoch nicht die einzige Arbeit, die Jacir im Rahmen von Queens International zeigte. In dem gleichen Ausstellungsraum präsentierte sie zwei andere (zum heutigen Zeitpunkt erhaltene) Werke, die inhaltlich ebenfalls verschiedene Aspekte der palästinensischen Geschichte beleuchten und zusammen mit In this Building eine Art „Gesamtinstallation“ ergaben: Memorial to 418 Palestinian Villages Which Were Destroyed, Depopulated and Occupied by Israel in 1948 (2001)29 und Today, there are four million of us (2002). Bei Memorial to 418 Palestinian Villages... [Abb. 4] handelt es sich um ein Flüchtlingszelt vom gleichen Typ, mit dem auch die UNRWA und das Rote Kreuz in Folge der Nakba die ersten Flüchtlingslager ausstattete. In wochenlanger Zusammenarbeit mit Freund*innen, Bekannten aber auch Fremden bestickte Jacir es mit den Namen palästinensischer Dörfer und Ortschaften, die von der israelischen Regierung nach 1948 entvölkert, zerstört und besetzt wurden. Zu der Arbeit gehört außerdem eine Art Tagebuch, das Jacir und ihre Helfer*innen während des gemeinsamen Bestickens führten. Es liefert nicht nur Informationen zu Jacirs Mitstreiter*innen, sondern legt teilweise auch deren Beweggründe für ihre Mitarbeit dar. Entstand Memorial to 418 Palestinian Villages... ein Jahr vor Queens International und war die Arbeit bereits in New York im MoMA PS1 zu sehen30, so schuf Jacir Today, there are four million of us wie In this Building speziell für die Ausstellung im Queens Museum. Dabei bezieht sich Today, there are four die Quelle der Fotos verwies Jacir mit der Angabe: „Collection of United Nations Photos (Department of Public Information)“. Diese Abteilung wird heute UN-Photo Library genannt. 29 |  Mit dem Titel der Arbeit bezieht sich Jacir explizit auf Walid Khalidis Buch All that remains. The Palestinian Villages Occupied and Depopulated by Israel in 1948, Washington D.C.: Institute for Palestine Studies 1992. 30 |  Vgl. dazu Menick, John „Steigende Erträge. Die Arbeit von Emily Jacir 1998-2002“, in: Rollig, Stella und Rückert, Genoveva (Hg.) Emily Jacir. belongings Arbeiten/Works 1998-2003 [Ausst.-Kat], Linz: O.K. Centrum für Gegenwartskunst in Oberösterreich 2004, S. 20-44, hier S. 25.

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Abbildung 2: Emily Jacir, In this Building, 2002 (Detail); Installation aus drei Museumsvitrinen, Text, 29 Schwarzweiß-Fotografien, je 20,3 x 25,4 cm und einer 150 x 90 cm großen Schwarzweiß-Fotografie

million of us ähnlich wie In this Building ebenfalls direkt auf den Ausstellungsort, genauer auf ein Ereignis, das sich dort bzw. in dessen unmittelbarem Radius 1964/65 zugetragen hat: die dritte New Yorker Weltausstellung. Zu diesem Anlass baute das Königreich von Jordanien im Flushing Meadows-Corona Park nur unweit des New York City Buildungs einen Pavillon, dessen Innenwände ein den palästinensischen Flüchtlingen gewidmetes monumentales Wandgemälde mit dem Titel Mural of a Refugee zierte. In einem realistischen Duktus gemalt, zeigte es eine Frau mit einem Kleinkind in einer unwirtlichen Landschaft. Dieses Gemälde wurde von einem ebenfalls an den Wänden des Pavillons geschriebenen Gedicht begleitet, das in einem appellierenden Ton zur Solidarität und Unterstützung für die Palästinenser*innen aufrief und explizit die israelische Regierung für deren missliche Lage verantwortlich machte.31 31 |  So heißt es in diesem Gedicht zum Beispiel: „Neighbors became enemies/ And fought against each other/ The strangers, once though terror’s victims/ Became terror’s fierce practinioners.“ Zitiert nach: Menick, John „Steigende Erträge. Die Arbeit von Emily Jacir 1998-2002“, in: Rollig, Stella und Rückert, Genoveva

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Abbildung 3: Emily Jacir, In this Building, 2002 (Detail); Installation aus drei Museumsvitrinen, Text, 29 Schwarzweiß-Fotografien, je 20,3 x 25,4 cm und einer 150 x 90 cm großen Schwarzweiß-Fotografie

Jacir setzt sich mit diesem Pavillon und den Kontroversen, die er auslöste (ich komme darauf noch genauer zu sprechen), auseinander, indem sie eine Broschüre reproduzierte, die bereits während der Weltausstellung verteilt wurde [Abb. 5]. In dieser Broschüre ist sowohl ein Ausschnitt des Wandgemäldes als auch das gesamte Gedicht wiedergegeben. Unter dem Titel Today, there are four million of us präsentierte Jacir das Faltblatt im Rahmen von Queens International zusammen mit einer ausgedruckten E-Mail-Korrespondenz, die sie mit dem Maler des Mural of a Refugee Muhanna Durra führte. Zudem lag die Broschüre zu Beginn der Ausstellung für die Museumsbesucher*innen zum Mitnehmen aus. Während der Ausstellung war das Zelt von Memorial to 418 Palestinian Villages... zentral im Ausstellungsraum aufgestellt, während das dazugehörige „Tagebuch“ und die Vitrinen von In this Building es an zwei Wänden und Today, there are four million of us auf der gegenüberliegenden Wand flankierten. Die Besucher*innen konnten sich sowohl um das Zelt herum (Hg.) Emily Jacir. belongings Arbeiten/Works 1998-2003 [Ausst.-Kat], Linz: O.K. Centrum für Gegenwartskunst in Oberösterreich 2004, S. 20-44, hier S. 34.

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Abbildung 4: Emily Jacir, Memorial to 418 Palestinian Villages Which Were Destroyed, Depopulated and Occupied by Israel in 1948, 2001; Flüchtlingszelt und Garn, 350 x 292 x 244 cm

als auch durch es hindurchbewegen. In dieser Konstellation oder – wie ich es zuvor bezeichnet habe – Gesamtinstallation fungierte die großformatige, an der Wand hängende Fotografie von In this Building auch als ein Bindeglied zwischen den drei Arbeiten, wobei der darauf abgebildete Fingerzeig des pakistanischen UN-Delegierten Khan und die Landkarte in erster Instanz auf den geopolitischen Kontext verwiesen, den sie alle drei thematisier(t)en.32 Es wurde dadurch ein kausaler Zusammenhang generiert oder – um es mit den Worten des Kunstkritikers Murtaza Vali zu formulieren – „eine dichte Matrix aus Geopolitik und Geschichte“33 geschaffen, die die Verabschiedung der Resolution 181 mit weiteren darauf folgenden Ereignissen in Relation setzte. Wie prägte dies sowie die Ortsspezifik von In this Building die Leseweise der darin gezeigten Fotografien? Und wie 32 |  Memorial to 418 Palestinian Villages... besteht weiterhin in seiner ursprünglichen Form und ist Teil der Sammlung des Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst – EMST in Athen. Von Today, there are four million of us schuf Jacir 2015 eine neue Fassung, auf die ich weiter unten noch genauer eingehen werde. 33 |  Vali, Murtaza „Palästina archivieren: Notizen zu Emily Jacirs ,Akkumulationen‘“, in: Baur, Andreas und Wäspe, Roland (Hg.) Emily Jacir [Ausst.-Kat.], St. Gallen/Esslingen/Nürnberg: Kunstmuseum St. Gallen/Villa Merkel/Verlag für moderne Kunst 2008, S. 19-27, hier S. 23.

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Abbildung 5: Emily Jacir Today, there are four million of us, 2002; Reproduktion einer Broschüre, die vom Jordanischen Pavillon während der Weltausstellung in New York 1964/65 verteilt wurde

wirkte sich reziprok die Präsentation der Fotos an diesem Ort auf die Erfahrung von In this Building sowie als Teil der Gesamtinstallation von In this Building, Memorial to 418 Palestinian Villages... und Today, there are four million of us aus?34 34 | Wenn ich im Folgenden vor allem mit Bezug auf Julian Rebentischs Überlegungen zur Ästhetik der Installation von der „Erfahrung“ von In this Building und Jacirs Gesamtinstallation spreche, so muss ich die Leser*innen zunächst darauf hinweisen, dass ich mich dabei nicht auf meine eigene „Erfahrung“ beziehe, sondern sie aus einer Beschreibung der Installation des Schriftstellers und Künstlers John Menick und einigen Installationsansichten gewissermaßen assoziativ, insofern das überhaupt möglich ist, herleite. Das ist natürlich nicht unproblematisch und durchaus eine grundlegende Herausforderung für die Rezeption „vermittelter“ installativer Kunst, d.h. von Installationen, die etwa aufgrund ihres Standortes nicht aus erster Hand für den Rezipienten – folgt man Rebentischs Ansatz – „erfahrbar“ sind. So vertritt Rebentisch die Auffassung, dass installative Kunst nicht hinreichend mittels fotografischer Dokumentation wiedergegeben werden kann. Ich stimme ihr in diesem Punkt zu, betrachte die fotografische Installationsansicht jedoch auch als eine Möglichkeit Installationen aus einer oder mehreren „idealen“ Perspektiven zu erfassen und damit zumindest Aspekte ihrer Wirkung durch die Übersetzung des Raums ins Bild visuell erfahrbar zu machen. Vgl. hierzu Rebentisch, Juliane Ästhetik der

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Räumliche Setzung und das Optisch-Unbewusste: Zusammenhänge, ein abgekartetes Spiel „Jede Erfahrung eines Kunstwerks“, so Adorno, „hängt zusammen mit dem Ambiente, seinem Stellenwert, seinem Ort im wörtlichen und übertragenen Sinn.“35 Die Erfahrung von Installationskunst ist, laut Juliane Rebentisch, allerdings mehr noch als die der meisten anderen Künste in ihrem Wirken unweigerlich an den Ort, an welchem sie ausgestellt ist, gebunden. Denn eine Installation greift verstärkt in die Ordnung eines Raumes ein, der auch oftmals ihren Rahmen konstituiert.36 Die räumliche Setzung, welche die Installation bedingt, ist somit gleichzeitig auch die Voraussetzung für ihre Erfahrung. Jene stellt sich konkret dadurch Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 18. Menicks Beschreibung findet sich in seinem Aufsatz „Steigende Erträge. Die Arbeit von Emily Jacir 19982002“, in: Rollig, Stella und Rückert, Genoveva (Hg.) Emily Jacir. belongings Arbeiten/Works 1998-2003 [Ausst.-Kat], Linz: O.K. Centrum für Gegenwartskunst in Oberösterreich 2004, S. 20-44, hier S. 38. Sie lautet: „Emily Jacir errichte ihr Flüchtlingszelt im Zentrum eines der prominentesten Ausstellungsräume des Museums. Auf einer Seite des Zeltes wurden in drei Vitrinen Reproduktionen der Fotos ausgestellt, die während der Beratungen über die Teilung Palästinas gemacht wurden. Ein einzelnes Foto hing auf einer Wand in der Nähe. Es zeigt drei Delegierte (aus Pakistan und Uruquay und von der Jewish Agency), die am 16. April 1948 die palästinensische Ausstellung bei der UNO untersuchten. Auf einer Wand daneben zeigt Jacir eine perfekte Reproduktion des Originalpamphlets aus dem jordanischen Pavillon, mit Wandmalerei und Gedicht. Begleitet wurde dieses Pamphlet von einem kurzen Statement über die historischen Dokumente und einer Reproduktion einer E-mail, die Jacir vom Maler des Originals, Muhanna Durra, erhalten hatte, der zur Zeit der Schau „Queens International“ in Kairo lebte.“ Zur Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Installation bzw. Ausstellung und ihrer fotografischen Dokumentation siehe zum Beispiel: McGovern, Fiona „Die Ausstellung im Foto. Zum Verhältnis von (künstlerischer) Ausstellungspraxis und Bildarchiv“, in: Berndt, Daniel, Flemming, Victoria v. und Bialek, Yvonne (Hg.) (Post-)Fotograf isches Archivieren. Wandel, Macht, Geschichte, Marburg: Jonas Verlag 2016, S. 211-225. 35 |  Adorno, Theodor Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 520. 36 |  Vgl. Rebentisch, Juliane Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 146.

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ein, dass sich die Betrachter*innen um die Installation herum oder durch sie hindurch bewegen, d.h. sich zum Kunstwerk positionieren und einen Objektbezug dazu herstellen. Indem die Installation diese körperliche Aktivität 37 bedingt, unterläuft sie, folgt man Rebentisch, nicht nur das „objektivistische Ideal einer augenblicklichen Erfassbarkeit von Kunst“.38 Ihre Betrachter*innen erleben sich dabei vielmehr „als performativ, als hervorbringend“.39 Die Erfahrung einer Installation ist somit neben ihrer Ortsgebundenheit von einer gesteigerten Reflexivität geprägt, die sich auf den Prozess bezieht, „der am Objekt zwischen Material und Bedeutung hin- und herspielt“40: Indem Installationskunst „nicht nur Gegenstand der Betrachtung“ ist, sondern sich zugleich in ihr „die ästhetische Praxis der Betrachtung“ reflektiert41, werden die Betrachter*innen in ein „selbst-reflexiv-performatives“ Verhältnis zum Objekt gesetzt.42 Die Erfahrung von Jacirs In this Building bzw. ihrer Gesamtinstallation in der Queens International-Schau erzeugte allerdings dadurch, dass Jacir nicht nur in die Ordnung des Ausstellungsraums und dessen Architektur eingriff, sondern sich auch inhaltlich auf ihn bezog, über das selbstreflexiv-performative Verhältnis zum Objekt oder zu Objekten hinaus ein ebensolches Verhältnis zum Ort der Ausstellung. Es fand damit, um mit Rebentisch zu sprechen, eine „thematische Verschränkung des buchstäblichen und des gesellschaftlichen Ortes“ statt.43 Dabei waren es insbesondere die Fotografien und der Hinweis auf ihre Entstehungsumstände in In this Building sowie Jacirs Verwendung der Museumsschaukästen, die die Betrachter*innen auf die Rahmenbedingungen ihrer Präsentation verwiesen, die diese Verschränkung evozierten. Jacir stellte zunächst an-

37 |  Vgl. Rebentisch, Juliane Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 59. 38 |  Ebd., S. 145. 39 |  Ebd., S. 285. 40 |  Ebd., S. 16. Claire Bishop spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „activated spectatorship“. Vgl. hierzu Bishop, Claire Installation Art, London: Tate Publishing 2005, S. 11. 41 |  Rebentisch, Juliane Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 16. 42 |  Vgl. ebd., S. 59. 43 |  Ebd., S. 233.

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hand des Displays in den Vitrinen die Ausstellungskonventionen des Museums zur Schau: Die Fotografien wurden von ihr darin gleichzeitig als „wertvolle“ Objekte zur ästhetischen Betrachtung sowie als historische Dokumente für die Auseinandersetzung mit ihrem Bildgehalt inszeniert. Indem sich Jacir mittels der Fotos auf ein konkretes historisches Ereignis – die Verabschiedung der Resolution 181 – bezog, das sich im Gebäude des Museums zugetragen hat, erschöpfte sich ihre Institutionskritik allerdings nicht mit dieser Offenlegung musealer Praktiken und den ideologischen Interessen, die ein Ausstellungshaus damit verfolgt.44 Jacir weitete mit In this Building die Kritik ferner auf komplexere historisch-politische Verstrickungen aus, für die das Gebäude des heutigen Queens Museum von entscheidender Bedeutung war. Abgesehen vom Titel des Werkes wurden die Betrachter*innen zunächst durch die Bildlegenden der in den Schaukästen gezeigten Fotografien explizit darauf aufmerksam gemacht, dass die abgebildeten Szenen sich am gleichen Ort zugetragen haben, an dem sich auch die Installation befand. Für diese Bildunterschriften hat Jacir wortgetreu die originalen Annotationen der einzelnen Fotos aus dem Archiv der UN-Photolibrary übernommen. Sie klärten die Betrachter*innen nicht nur über ihren Entstehungsort sondern auch über die Identität der einzelnen auf den Bildern erscheinenden Personen auf.45 Dabei erzeugten die sachliche Inszenierung der Fotos in den Vitrinen und der Hinweis, dass es sich bei ihnen um offizielle Zeugnisse bzw. Zeitdokumente der UN handelt, zunächst den Eindruck einer „historischen Objektivität“. Allerdings war jene Objektivität bereits dadurch gebrochen, dass die Bilder grundsätzlich der politischen Agenda der UN folgend produziert, annotiert, archiviert und schließlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Darüber 44 |  Vgl. Rebentisch, Juliane Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 267. 45 |  Die Ortsangabe ist Flushing Meadows, der Name des Parkareals, in dem sich das Queens Museum befindet. Zum Entstehungszeitpunkt von In this Building waren die Fotografien, die Jacir für die Installation verwendete, noch nicht online einsehbar. Die Digitaliserung der Bilder erfolgte erst in den folgenden Jahren (ab ca. 2004). Die Annotationen der analogen Archiveinträge sind allerdings deckungsgleich mit denen in der Onlinedatenbank. Zusätzlich zur Ortsangabe und dem Entstehungsdatum sind die einzelnen Fotografien darin vereinzelt noch mit den Initialien der Fotograf*innen versehen.

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hinaus unterlag Jacirs Auswahl der Fotos von In this Building und ihre Entscheidung, sie als Teil einer Installation im Queens Museum zu präsentieren, spezifischen subjektiven Gesichtspunkten. Das heißt, auch wenn sich Jacir mit In this Building auf Fakten bezog, musste die durch die Installation suggerierte „historische Objektivität“ dennoch offenkundig als konstruiert bzw. von verschiedenen Perspektiven geprägt erscheinen. Für Jacirs Perspektive war in dieser Hinsicht bezeichnend, dass sie für In this Building keine Fotos auswählte, welche die UN-Versammlung vom 29. November 1947 selbst zeigen – obwohl die UN- Photolibrary auch über mehrere solcher Aufnahmen verfügt. Ihre Auswahl beschränkt sich weitgehend auf Bilder von Szenen, die sich außerhalb des Versammlungssaals im Foyer und in den Gängen des Gebäudes zugetragen haben.46 Sie vermittelten primär einen Eindruck davon, wie die einzelnen Befürworter und Gegner des Teilungsplans miteinander agierten. Unter ihnen war zum Beispiel das Foto, auf dem der spätere israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion zu sehen ist, wie er vor dem Beschluss beharrlich auf Asa Ali, den Vorsitzenden der indischen UN-Delegation, einredet [Abb. 6]. Oder das Bild, auf dem der Präsident der Versammlung Oswaldo Aranha aus Brasilien vertraulich mit dem libanesischen Abgeordneten Camille Chamoun zu sprechen scheint, während sie von Khan, dem Vorsitzenden der pakistanischen Delegation, beobachtet werden [Abb. 7]; sowie die Aufnahme des Abgesandten der Jewish Agency Abba Hillel Silver, der nach der Verabschiedung des Teilungsplans im Beisein von Aranha von UN-Vertretern aus Venezuela und Uruguay beglückwünscht wird [Abb. 8]. Diese Szenen mögen auf den ersten Blick nicht unbedingt ungewöhnlich wirken. Genauer betrachtet sind sie jedoch durchaus von Brisanz. Eine Brisanz, die durch ihre Präsentation im 46 |  Jede Gruppierung der Fotos in den einzelnen Schaukästen wurde von Jacir mit individuellen, sie in thematische und zeitliche Cluster gliedernde „Titel“ versehen. Die erste Gruppe versah sie mit der Anmerkung „Before the Final Meeting of the United Nations General Assembly to Vote on the Partition of Palestine Second Session, 128th Plenary Meeting, Flushing Meadows, New York, 29 November 1947“, die zweite mit „After United Nations General Assembly Gives Final Approval to the Partition of Palestine into Arab and Jewish States, by a vote of 33 to 13, with 10 abstentions and one absence. Flushing Meadows, New York, 29 November 1947“ und die dritte mit „The United Nations Queens, 14 May 1947 - 11 May 1949“.

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Rahmen von Jacirs In this Building im Queens Museum noch gesteigert wurde: Denn wie sich später herausstellte, konnte die Resolution 181 nur dadurch eine klare Mehrheit erhalten, weil die Jewish Agency erheblichen Druck auf mehrere UN-Mitgliedsstaaten ausübte.47 Darunter waren auch Indien, Venezuela und Uruguay, deren Vertreter im Beisein der Abgesandten der Jewish Agency auf den soeben beschriebenen – und mit diesem Hintergrundwissen betrachteten – Fotos in durchaus kompromittierenden Situationen erscheinen.48 Jacir stellte die Bilder somit nicht 47 |  Australien, Belgien, Bolivien, Brasilien, Costa Rica, Dänemark, die Dominikanische Republik, Ecuador, Frankreich, Guatemala, Haiti, Island, Kanada, Liberia, Luxemburg, Neuseeland, Nicaragua, die Niederlande, Norwegen, Panama, Paraguay, Peru, Philippinen, Polen, Schweden, Sowjetunion, Südafrika, Tschechoslowakei, Ukraine, Uruguay, Venezuela, die Vereinigten Staaten und Weißrussland stimmten für den Teilungsplan. Afghanistan, Ägypten, Griechenland, Indien, Iran, Irak, Jemen, Kuba, Libanon, Pakistan, Saudi-Arabien, Syrien und die Türkei stimmten dagegen. Argentinien, Äthiopien, Chile, El Salvador, Honduras, Jugoslawien, Kolumbien, Mexiko, China und das Vereinigte Königreich enthielten sich ihrer Stimmen und Thailand blieb der Abstimmung fern. 48 |  Die Jewish Agency übte gemeinsam mit der amerikanischen Regierung erheblichen Druck auf die Regierungen in Haiti, der Philipinen, Liberia und Frankreich aus, damit sie für den Teilungsplan stimmten. Die Vertreter lateinamerikanischer Staaten, darunter Venezuela und Uruguay, wurden außerdem bestochen. Vgl. hierzu: Grose, Peter Israel in the Mind of America, New York: Knopf 1983, S. 251-253 sowie Quigley, John Palestine and Israel: A Challenge to Justice, Durham: Duke University Press 1990, S. 37. Selbst der damalige amerikanische Präsident Harry S. Truman äußerte sich später in seinen Memoiren zu dem aggressiven Vorgehen der zionistische Lobbisten: „The facts were that not only were there pressure movements around the United Nations unlike anything that had been seen there before, but that the White House, too, was subjected to a constant barrage. […] The persistence of a few of the extreme Zionist leaders – actuated by political motives and engaging in political threats – disturbed and annoyed me.“ Truman zitiert nach Lenczowski, George American Presidents and the Middle East, Durham: Duke University Press 1990, S. 158. Siehe dazu ebenfalls: Bregman, Ahron und El-Tahri, Jihan The f ifty years war. Israel and the Arabs, New York/London: Penguin 1998, S.  25 und Barr, James A Line in the Sand. Britain, France and the Struggle that Shaped the Middle East, London: Simon & Schuster 2012.

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Abbildung 6: Emily Jacir, In this Building, 2002 (Detail); Installation aus drei Museumsvitrinen, Text, 29 Schwarzweiß-Fotografien, je 20,3 x 25,4 cm und einer 150 x 90 cm großen Schwarzweiß-Fotografie

Abbildung 7: Emily Jacir, In this Building, 2002 (Detail); Installation aus drei Museumsvitrinen, Text, 29 Schwarzweiß-Fotografien, je 20,3 x 25,4 cm und einer 150 x 90 cm großen Schwarzweiß-Fotografie

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Abb. 8: Emily Jacir, In this Building, 2002 (Detail); Installation aus drei Museumsvitrinen, Text, 29 Schwarzweiß-Fotografien, je 20,3 x 25,4 cm und einer 150 x 90 cm großen Schwarzweiß-Fotografie

nur als historische Zeugnisse aus, die auf das Museumsgebäude als geschichtsträchtigen Ort verwiesen. Sie präsentierte sie auch in Bezug auf ihre in diesem Fall retrospektiv zum Vorschein kommende Eigenschaft des „Optisch-Unbewussten“. Beschrieb Benjamin mit diesem Begriff bekanntlich das Vermögen der Kamera, Dinge und Zusammenhänge sichtbar zu machen, die für das bloße menschliche Auge nicht erfassbar oder die im Moment der Aufnahme unwillentlich ins Bild geraten sind,49 lässt die Fotografie hier anhand der durch sie festgehaltenen Begegnungen, Gesichtsausdrücke und Gesten nachträglich durch die diplomatische Fassade der UN-Versammlung hindurch blicken. Für Jacir sind die Fotografien durch die Art, wie sie die UN-Vertreter festhielten, somit auch eine „documentation of a crime scene“.50 Ihr war mit In this Building schließ49 |  Benjamin, Walter „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 7-44, hier S. 36. 50 |  Jacir, Emily „Transcription of a Lecture Given at Home Works II“, in: Thome, Christine (Hg.) Home Works II. A Forum on Cultural Practices, Beirut: Ashkal Alwan 2005, S. 102-109, hier S. 105.

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lich vor allem daran gelegen, die Verabschiedung der Resolution 181 als einen kriminellen Akt, als abgekartetes Spiel zugunsten der zionistischen Bewegung und mit verheerenden Folgen für die Palästinenser*innen zu entlarven. In diesem Sinne fungierten die Fotografien als Indizien eines Tathergangs und In this Building kann für sich genommen zunächst als das Resultat einer kriminologischen Investigation erachtet werden, welche das Gebäude des Queens Museum als Ort „eines Verbrechens“ markierte: Jacir übernimmt hier quasi in Vertretung die von Benjamin an die Fotograf*innen zugeteilte Aufgabe, „die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen“.51 Im Rahmen von Jacirs Gesamtinstallation von In this Building, Memorial to 418 Palestinian Villages... und Today, there are four million of us forcierte dieses Markieren oder Aufdecken allerdings eine noch komplexere Erfahrung von Situiertheit, die schließlich verstärkt konfrontativ auf das politische Bewusstsein der Betrachter*innen wirken sollte.

Bedeutungsrahmen und Erinnerungsort Abgesehen von ihrem gemeinsamen inhaltlichen Schwerpunkt – die Geschichte Palästinas – korrelierten die drei von Jacir im Rahmen von Queens International gezeigten Arbeiten in einigen Details auch formal miteinander. So spiegelte sich zum Beispiel die Gestalt der Vitrinen von In this Building mit ihren quaderförmigen weißen Unterbauten und spitzen Glashauben in der des Zeltes von Memorial to 418 Palestinian Villages... und das Schwarzweiß der Fotografien in dem Kontrast des weißen, mit schwarzem Garn bestickten Zeltstoffes.52 Mit dem Zelt, expliziter 51 |  Benjamin, Walter „Kleine Geschichte der Fotografie“, in: ders. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S.45-64, hier S. 64. 52 |  Tatsächlich verglich Jacir Memorial to 418 Palestinian Villages... später selbst mit der indexikalischen Eigenschaft der Fotografie: „Now when I exhibit the piece“, berichtete sie während eines Vortrages 2003 in Beirut, „it functions the way a photograph does documenting a moment of time that has passed. It’s a document (or the remains) of a three-months, community-based project.“ Siehe: Jacir, Emily „Transcription of a Lecture Given at Home Works II“, in: Thome, Christine (Hg.) Home Works II. A Forum on Cultural Practices, Beirut: Ashkal Al-

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aber noch mit der Broschüre von Today, there are four million of us greift Jacir zudem die Präsentation bzw. Reproduktion von vorgefundenen Objekten als materialisierte Geschichte auf, die für In this Building ebenso charakteristisch war. Auch wenn die drei Werke zusammen, wie ich noch deutlicher machen werde, ein Narrativ erzeugten, verlangen Memorial to 418 Palestinian Villages... und Today, there are four million of us allerdings auch unabhängig von In this Building jeweils nach einer individuellen Rezeption. So stellt Memorial to 418 Palestinian Villages... vordergründig die fundamentale Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses für das palästinensische Volk angesichts des von Israel verübten und weiterhin praktizierten „Memoricides“ – einem systematischen Auslöschen palästinensischer Kultur und damit verbundener Erinnerung – heraus.53 Das von Jacir initiierte gemeinschaftliche Besticken des Zeltes mit den arabischen Ortsnamen kann in diesem Zusammenhang als widerständiger Akt gegen dieses Auslöschen und Negieren palästinensischer Geschichte verstanden werden, der, wie der Titel der Arbeit deklariert, das Flüchtlingszelt in ein Denkmal verwandelte. Das Zelt verkörpert dabei die von der Nabka ausgelöste Flüchtlingskrise und die eingeschränkte Hilfeleistung der UN bzw. der UNRWA. Durch Jacirs Bearbeitung wird es angesichts der permanenten Staatenlosigkeit von Millionen von Palästinenser*innen, die bis heute in Flüchtlingscamps im Libanon, Jordanien, Syrien und in den besetzten Gebieten leben, ferner zum Wahrzeichen, das einerseits an das Schicksal dieser Menschen erinnert und andererseits die gescheiterte UN-Politik, die dazu führte, anprangert. Wie Memorial to 418 Palestinian Villages... thematisiert Today, there are four million of us ebenso die mit der Nakba einhergehende Flüchtlingskrise. Today, there are four million of us macht darüber hinaus allerdings noch

wan 2005, S. 102-109, hier S. 103. Vgl. auch: Rollig, Stella „Stella Rollig – Emily Jacir, Interview“, in: dies. und Rückert, Genoveva (Hg.) Emily Jacir. belongings Arbeiten/Works 1998-2003 [Ausst.-Kat], Linz: O.K. Centrum für Gegenwartskunst in Oberösterreich 2004, S. 6-19, hier S. 16. 53 |  Vgl. hierzu Masalha, Nur The Palestine Nakba. Decolonising History, Narrating the Subaltern, Reclaiming Memory, London/New York: Zed Books 2012, S. 90 f.

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andere politische Verstrickungen evident.54 Denn das darin verhandelte, im jordanischen Pavillon gezeigte Wandgemälde Mural for a Refugee sorgte mit dem in der Broschüre wiedergegebenen Gedicht schon während der Weltausstellung 1964/65 für großes Aufsehen. War die jordanische Politik gegenüber den Palästinenser*innen zu diesem Zeitpunkt zwar durchaus von einem zwiespältigen Verhältnis geprägt,55 so vermittelte das Mural for a Refugee und das Gedicht jedoch einen klaren Aufruf zur Solidarität mit ihnen56: Ein Anliegen, das mit seiner daran geknüpften Kritik an Israel im Rahmen der Weltausstellung in New York unweiger54 |  Abgesehen von Jacirs palästinensischem Familienhintergrund existiert zusätzlich noch ein persönlicher Bezug zur Geschichte des jordanischen Pavillons von 1964/65. Jacirs Mutter betreute als Gruppenführerin während der Weltsausstellung die Besucher*innen des Pavillons. Vgl. dazu Menick, John „Steigende Erträge. Die Arbeit von Emily Jacir 1998-2002“, in: Rollig, Stella und Rückert, Genoveva (Hg.) Emily Jacir. belongings Arbeiten/Works 1998-2003 [Ausst.-Kat], Linz: O.K. Centrum für Gegenwartskunst in Oberösterreich 2004, S. 20-44, hier S. 33. 55 |  Jordanien besetzte in Folge des arabisch-israelischen Krieges in den Jahren zwischen 1948-1967 nicht nur das Westjordanland. Der jordanischen Regierung widerstrebte es zudem, dass die Palästinenser*innen ihre nationale Identität in Jordanien beibehalten wollten, um so auf ihr Recht auf Rückkehr zu beharren. Sie vertrat eine aggressive Integrations- und Überwachungspolitik, die 1970 in dem Jordanischen Bürgerkrieg bzw. dem Schwarzen September eskalierte. Vgl. hierzu Sayigh, Rosemary The Palestinians. From Peasants to Revolutionaries, London/New York: Zed Books 2007, S. 114 sowie Nasser, Riad Recovered Histories and Contested Identities: Jordan, Israel, and Palestine, Lanham: Lexington Books 2011. 56 |  Im September 1949 ermittelte die UN 726.000 (palästinensiche Erhebungen ergaben ein Zahl von 780.000) palästinensische Flüchtlinge außerhalb der Waffenstillstandslinie, wovon es etwa 100.000 nach Jordanien (zu diesem Zeitpunkt Transjordanien) verschlug. Heute leben dort mittlerweile mehr als zwei Millionen von der UNRWA registrierte Flüchtlinge in insgesamt zehn Camps und seit 2002 im gesamten arabischen Raum – darauf bezieht sich Jacir mit dem Titel ihres Werkes – mehr als vier Millionen. Vgl. hierzu: Facts and Figures about the Palestinians, Washington DC: The Center for Policy Analysis on Palestine, 1992, S. 12 sowie Sayigh, Rosemary The Palestinians. From Peasants to Revolutionaries, London/New York: Zed Books 2007, S. 63.

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lich polarisieren musste. Tatsächlich kam es zu zahlreichen Demonstrationen vor dem jordanischen Pavillon sowohl von Befürworter*innen der israelischen Politik als auch von Sympathisant*innen, die sich für die Sache Palästinas einsetzten. Zudem wurde der Fall ausführlich in der Presse diskutiert. War die Reproduktion der durch den jordanischen Pavillon in Umlauf gebrachten Broschüre von Jacir primär als ein Kommentar auf diese Kontroverse gedacht, sollte sie sich allerdings fast 40 Jahre später mit ihrer Arbeit auf unabsehbare Weise nochmals wiederholen. Denn nachdem Jacir sie erneut in Umlauf gebracht hatte, warf man der Museumsleitung vor, mit der Präsentation von Today, there are four million of us antisemitische Propaganda zu betreiben.57 Jacir sah sich daraufhin gezwungen, die Zirkulation der Broschüre einzuschränken und sie entschied sich dazu, das Faltblatt kurz nach Ausstellungsbeginn nur noch als Teil ihrer Installation im Ausstellungsraum zu zeigen und ausschließlich auf Nachfrage an Museumsbesucher*innen aushändigen zu lassen.58 Was nun konkret den durch Jacirs Gesamtinstallation in der Queens International-Schau gespannten Bedeutungsrahmen betrifft, so erscheint In this Building darin zugleich als situierender Anker- und historischer Ausgangspunkt einer Entwicklung, die sich in den in Memorial to 418 Palestinian Villages... und Today, there are four million of us verhandelten Ereignissen bis zu dem gegebenen Zeitpunkt der Ausstellung fortsetzt – von der Verabschiedung des Teilungsplans 1947 über die Nakba und die mit ihr einhergehenden Flüchtlingskrise bis hin zu den internationalen politischen Spannungen, die sich daraus ergaben und sich auch im Jahre 2002 in der US-amerikanischen (Kultur-)Politik weiterhin abzeichneten.59 Jacirs Gesamtinstallation schuf auf diese Weise zum einen ein Dis57 |  Vgl. hierzu Menick, John „Steigende Erträge. Die Arbeit von Emily Jacir 1998-2002“, in: Rollig, Stella und Rückert, Genoveva (Hg.) Emily Jacir. belongings Arbeiten/Works 1998-2003 [Ausst.-Kat], Linz: O.K. Centrum für Gegenwartskunst in Oberösterreich 2004, S. 20-44, hier S. 38 f. 58 |  Dazu wurde die Broschüre mit einem Disclaimer in Form eines Auf klebers versehen, auf dem stand, dass es sich bei ihr um Jacirs Arbeit handele und das Queens Museum daher nicht für dessen Reproduktion verantwortlich sei. Vgl. ebd., S. 38 f. 59 |  Unterstützte die US-amerikanische Regierung die Jewish Agency bereits im Vorfeld der Abstimmung zum UN-Teilungsplan 1947 dabei, Druck auf andere Staaten auszuüben, damit sie für die Teilung stimmten, so konnte sich

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kussionsforum über die Geschichte des Gebäudes des Queens Museums. Zum anderen kehrte sie die Geschichte hervor, die dort geschrieben wurde bzw. von dort ihren Ausgang nehmend weiterhin geschrieben wird.60 In diesem Kontext betrachtet, kennzeichnete In this Building den Ausstellungsort nicht nur als einen „Tatort“. Jacir betonte damit darüber hinaus die fundamentale Bedeutung, die das Gebäude des Queens Museums für die Palästinenser*innen als gegenwärtigen, symbolischen Bezugspunkt – als Erinnerungsort – einnimmt.61 Israel spätestens seit dem Sechstagekriege 1967 einer vorbehaltlosen Unterstützung der USA sicher sein. Die Reaktionen zum Jordanischen Pavillon 1964/65 zeigten bereits, dass eine Kritik an Israel oft mit antisemitischen Äußerungen gleichgesetzt wird. Das ist nach wie vor der Fall. Auch führt die USA bis heute keine offiziellen diplomatischen Beziehungen im Sinne des diplomatischen Austauschs und der konsularischen Dienste mit Palästina, da die US-amerikanische Regierung Palästina nicht als Staat anerkennt. Ist Israel bereits seit 1949 Mitgliedstaat der UN, wurde der Status Palästinas erst 2012 von einer beobachtenden Entität zu einem beobachtenden Nichtmitgliedstaat aufgewertet. Im Zuge dessen sprachen sich einige US-Senatoren jedoch auch für eine Schließung der PLO-Delegation in den USA aus. Die Politikwissenschaftler John Mearsheimer und Stephen Walt zeichnen diese Entwicklung bzw. den problematischen Einf luss, den die israelische Lobby bis heute auf die US-amerikanische Außenpolitik hat, in ihrer Studie Die Israel-Lobby. Wie die amerikanische Außenpolitik beeinf lusst wird, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2007 nach. Der Politikwissenschaftler Norman Finkelstein setzt sich zudem eingehend mit der eingeschränkten Kritisierbarkeit Israels hinsichtlich des reaktionären Missbrauchs von Antisemitismusvorwürfen auseinander. Vgl. hierzu Finkelstein, Norman Beyond Chutzpah. On the Misuse of Anti-Semitism and the Abuse of History, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2005. 60 |  „Diskussionsforum“ ist hier im weitesten, d.h. parabolischen wie im wortwörtlichen Sinn gemeint: Jacir organisierte während der Laufzeit von Queens International Diskussionsveranstaltungen über die Resolution 181 und deren Folgen. Vgl. Menick, John „Steigende Erträge. Die Arbeit von Emily Jacir 19982002“, in: Rollig, Stella und Rückert, Genoveva (Hg.) Emily Jacir. belongings Arbeiten/Works 1998-2003 [Ausst.-Kat], Linz: O.K. Centrum für Gegenwartskunst in Oberösterreich 2004, S. 20-44, S. 40. 61 |  Pierre Nora spricht von Erinnerungsorten – lieux de mémoire – in Bezug auf die kulturelle Landschaft Frankreichs, an denen sich das kollektive Gedächtnis

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„Eingedenken der Gesellschaft im Subjekt“: Konfrontation, Positionierung und Aktualisierung Adressiert laut Rebentisch installative Kunst, die sich wie die von Jacir mit ihrer Kontextsensibilität inhaltlich auf ein „außerästhetisches Anderswo“ bezieht, direkt die politischen Überzeugungen der Betrachter*innen, so entledigt sie jene zugleich ihrer Neutralität. Die Betrachter*innen empfangen „nicht einfach politische Botschaften, sondern [werden] vielmehr […] mit den eigenen sozialen und kulturellen Hintergrundannahmen konfrontiert“. Das bedeutet, dass mit dieser Konfrontation im Idealfall auch eine bewusste Positionierung einhergeht oder – zugespitzter formuliert – ein Erkenntnisprozess einsetzt, den Rebentisch in Anlehnung an Adornos und Horkheimers Prinzip vom „Eingedenken der Natur im Subjekt“ auch als „Eingedenken der Gesellschaft im Subjekt“ beschreibt. Für Jacirs In this Building bzw. ihre im Queens Museum präsentierten, aus In this Building, Memorial to 418 Palestinian Villages... und Today, there are four million of us bestehenden Gesamtinstallation kann in Bezug darauf somit Folgendes geschlossen werden: Indem die Betrachter*innen in den Bedeutungsrahmen der Gesamtinstallation mit einbezogen gewesen sind, wurden sie in einem ersten Schritt dazu herausgefordert, die Ereignisse und historischen Entwicklungen, welche die einzelnen Arbeiten thematisier(t)en, assoziativ miteinander zu verknüpfen und sich daraufhin zu der kausalen Verzahnung, die sich daraus ergab, zu positionieren. Dabei dienten vor allem die Fotografien von In this Building als Auslöser für eine dazu notwendige Vergegenwärtigung der Geschichte: Sie vergegenwärtigten nicht nur die durch sie festgehaltene Verabschiedung der einer sozialen Gruppe bündelt und sich „ein Auseinandertreten von Geschichte und alternativen Gedächtnissen“ vollzieht. Aleida Assman etwa wendet den Begriff jedoch auch auf andere Geografien an. Sie versteht darunter grundsätzlich Generationsorte, Gedenkorte oder traumatische Ort, an denen sich auch transnationale Verf lechtungen abzeichnen können. Demnach sind kulturelle Institutionen, wie das Museum an sich und somit auch das Queens Museum ein Erinnerungsort. Jacir wies es mit ihrer Gesamtinstallation jedoch noch spezifischer als symbolischen Bezugspunkt für das kollektive palästinensische Gedächtnis aus. Vgl. hierzu Nora, Pierre (Hg.) Erinnerungsorte Frankreichs, München: C.H. Beck 2005 und Assmann, Aleida Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H. Beck 2006.

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Resolution 181, sondern machten in ihrer installativen Rahmung zudem die Bedeutung des Museumsgebäudes als Ort eines „Verbrechens“ und somit auch als Erinnerungsort präsent. In diesem Zusammenhang spielte vor allem die gesteigerte Ortsspezifik von In this Building aber auch von Today, there are four million of us eine maßgebliche Rolle. Dies verdeutlicht nicht zuletzt die Tatsache, dass Jacir in Folge der Queens International-Schau weitgehend davon absah, In this Building als ein eigenständiges, d.h. in sich geschlossenes Werk auszustellen. Zwar präsentierte sie In this Building daraufhin Ende 2003 bzw. Anfang 2004 im Rahmen ihrer Einzelausstellung belongings, Arbeiten 1998-2003 im O.K. Centrum für Gegenwartskunst in Linz zumindest ein weiteres Mal zusammen mit Memorial to 418 Palestinian Villages Which Were Destroyed, Depopulated and Occupied by Israel in 1948. In diesem Fall bestand die Arbeit jedoch mit insgesamt zehn Bildern aus einer wesentlich kleineren Auswahl von UN-Fotos, die auch nicht in den Originalvitrinen des Queens Museums, sondern in zwei ihnen nachempfundenen Schaukästen gezeigt wurden.62 In this Building erschien dort weniger als eigenständige Arbeit, sondern vielmehr als eine Art Appendix zu Memorial to 418 Palestinian Villages. Anlässlich ihrer Solo-Ausstellung A star is as far as the eye can see
and as near as my eye is to me, die vom November 2014 bis zum April 2015 im Darat al Funun in Amman zu sehen war, integrierte Jacir zudem eine andere Zusammenstellung der Fotos, die ursprünglich Teil der Fassung im Queens Museum waren, in eine überarbeitete Version von Today, there are 62 |  Kurioserweise wird in dem die Ausstellung begleitenden Katalog die Anzahl der Fotografien mit 33 angegeben. Die Werkangaben zu In this Building lauten darin: „In this Building, 2002, Fotos der Vereinten Nationen, aufgenommen im Queens Building während Diskussionen und der Resolution zur Teilung von Palästina, 1947-1949, 33 Stück, 8 x 10 Inch, 1 Stück 150 x 90 cm.“ Die Anzahl der kleineren Abzüge würde in diesem Fall symbolisch mit den 33 Mitgliedsstaaten, die für die Resolution 181 stimmten, korrespondieren. Auf den Linzer Installationsansichten sind jedoch nur zwei Vitrinen mit jeweils fünf Fotografien zu sehen. Meine Versuche während meiner Recherchen bei Stella Rollig, der Kuratorin der Ausstellung, sowie Jacir selbst Auskünfte über diese Diskrepanzen einzuholen, waren leider nicht sehr fruchtbar. Ich gehe aber davon aus, dass Jacir im Anschluss von Queens International die Arbeit in einer anderen Fassung konzipieren wollte, als sie letztlich in Linz ausgestellt wurde. Dafür spricht auch ihre neue Fassung von Today, there are four million of us (2002/2015).

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Abbildung 9: Installationsansicht Emily Jacir, Today, there are four million of us, 2002 (Detail), Darat al Funun, Amman, 2015

four million of us. Darin wurden 21 dieser Fotos unter einer Glasplatte liegend auf einem länglichen Tisch zusammen mit Bildunterschriften und Angaben zu den Umständen ihrer Entstehung gezeigt [Abb. 9]. Außerdem hing über diesem Arrangement eine Ausstellungsansicht von Jacirs Gesamtinstallation im Queens Museum, mittels derer sie die konfrontative Wirkung, welche sie im Rahmen von Queens International erzeugte, zumindest auf einer Metaebene mitreflektierte [Abb. 10]. Dies geschah dadurch, dass Jacir das Display von Today, there are four million of us zusätzlich um eine umfangreiche Dokumentation über den jordanischen Pavillon von 1964/65 und die Debatte um ihren Beitrag zur Ausstellung im Queens Museum ergänzte.63 Davon abgesehen erhielt die überarbei63 |  Jacir bezeichnet diese Version von Today, there are four million of us explizit auch als ein Display ihrer Rechercheergebnisse während des Entststehungsprozesses der ortsspezifischen Installation zwischen 2001 und 2002. Neben der Reproduktion der Broschüre und den 21 UN-Fotos umfasste diese Präsentation u.a. eine Fotografie der Säule von Jerash im Flushing Meadows Corona Park, die der jordanische König 1964 der Stadt New York schenkte, eine Serie von Fotos des jordanischen Pavillons sowie zahlreiche Reproduktionen von Zeitungsartikeln zur Kontroverse, die der Mural for a Refugee während der Weltausstellung 1964/65 auslöste. Vgl. hierzu Laïdi-Hanieh, Adila „Stages of Absence and Re-

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Abbildung 10: Installationsansicht Emily Jacir, Today, there are four million of us, 2002 (Detail), Darat al Funun, Amman, 2015

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tete Version von Today, there are four million of us in Amman und damit auch die Präsentation der Fotos, die ursprünglich Teil von In this Building waren, wiederum eine andere Ortsspezifik. Nicht nur weil sie den jordanischen Beitrag zur Weltausstellung und die Kontroverse, die er auslöste, erneut und diesmal ausführlicher in der jordanischen Hauptstadt herausstellte, sondern auch aufgrund dessen, dass bis heute mit mehr als zwei Millionen der Großteil der palästinensischen Flüchtlinge im Exil in Jordanien lebt.64 Um das palästinensische Leben im Exil geht es auch in Jacirs Installation Material for a Film, die in den folgenden Punkten meiner Ausführungen im Fokus stehen wird.

9. E mily J acirs M aterial F or a F ilm (2004- fortl aufend): U mkreisen eines Tatbestandes „[F]or us [Italians] the Palestinians were refugees, shut away in their camps in various Arab countries. And [he] was just one Palestinian among the many who had lost their homes and was now living in Italy“, erinnert sich der Schriftsteller Alberto Moravia an den palästinensischen Übersetzer und PLO-Repräsentanten Wael Zuaiter.65 In seinem Essay Some recollections of Wael, aus dem dieser Auszug stammt, berichtet Moravia, wie er Zuaiter in der Oper kennenlernte, mit ihm gemeinsam in Damaskus Arafat interviewte und in Kuwait an einer Tagung zur Palästinenserfrage teilnahm. „It is difficult for me to describe very precisely what he was“, bemerkt er abschließend, „[a]nd that is to his credit. People who are easy to describe are not complex; they are people whose only character is clearly visible and that is all. Wael was different; he had attained simplicity via appearance“, in: Vlist van der, Eline (Hg.) Emily Jacir. A star is as far as the eye can see and as near as my eye is to me [Ausst-Kat.], Amman: Darat al Funun-The Khalid Shoman Foundation 2015, S. 6-20, hier: S. 11 f. 64 |  Vgl. offizielle Angaben der UNRWA: http://www.unrwa.org/where-wework/jordan [eingesehen am 05.07.16] 65 |  Moravia, Alberto „Some recollections of Wael“, in: Venn-Brown, Janet (Hg.) For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter, London/Boston: Kegan Paul International 1984, S. 70-74, hier S. 70.

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complexity.“66 Diese Komplexität von Zuaiters Persönlichkeit spiegelt sich auch in Jacirs multimedialer Installation Material for a Film wieder. Video, Klang, Fotografie, Text sowie persönliche Gegenstände Zuaiters in einer kubusartigen Raumkonstruktion vereinend, durch die sich die Betrachter*innen wie durch einen Ausstellungsparcours bewegen, thematisiert sie einzelne Episoden aus dessen Leben und beleuchtet die Umstände seines Todes.67 Tatsächlich ist das erste, was die Betrachter*innen erblicken, sobald sie Material for a Film betreten, eine Schwarzweißfotografie von Zuaiters Leiche [Abb. 11]. Darauf ist er seitlich, mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegend zu sehen. Aus einer Wunde an seinem Kopf fließt Blut, das sich in einer Lache neben ihm sammelt. Unter dem Foto, das als postkartengroße Reproduktion mit Stecknadeln am Eingang der Installation angebracht ist, steht in mit Letraset an die Wand applizierten Druckbuchstaben: „Roma 16 ottobre 1972.“ An diesem Tag bzw. in der Nacht vom 16. Oktober 1972 wurde Zuaiter im Treppenaufgang seines Wohnhauses von Unbekannten, die man später als Agenten einer Mossad-Spezialeinheit identifizierte, erschossen. Das Foto ist kurz nach seiner Ermordung direkt am Tatort entstanden. Entweder von einem Presseoder Polizeifotograf gemacht, zirkulierte es in vielen italienischen und internationalen Zeitungen. Im Rahmen von Jacirs Installation ist es zugleich Ausgangs- und Endpunkt des innerhalb von Material for a Film angelegten „Rundgangs“. Als Gattung stellt das Tatortfoto, wie Katharina Sykora bemerkt hat, einerseits einen „raumzeitlichen Nullpunkt“ dar.68 Es entsteht dem Augenblick des gewaltsamen, plötzlichen Todes oft zeitlich sehr nahe und markiert im Klick der Kamera zugleich die Schnittstelle zwischen Leben und Tod.69 66 |  Moravia, Alberto „Some recollections of Wael“, in: Venn-Brown, Janet (Hg.) For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter, London/Boston: Kegan Paul International 1984, S. 70-74, hier S. 74. 67 |  Dieser gesonderte Raum umfasst eine ca. 25 m² große Fläche. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Fassung der Installation, die Jacir Ende 2015 in ihrer Einzelausstellung Europa in der Londoner Whitechapel Gallery präsentierte. 68 |  Sykora, Katharina Die Tode der Fotograf ie I. Totenfotograf ie und ihr sozialer Gebrauch, München: Wilhelm Fink 2009, S. 508. 69 |  Katharina Sykora bezeichnet die Totenfotografie und demnach auch Tatortfotografien, auf denen Tode zu sehen sind, in diesem Zusammenhang als „Amalgam von körperlichem und fotografischen Index […]“. Vgl. ebd., S. 41.

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Abbildung 11: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variabel

Andererseits bezeichnet es, indem es retrospektiv Aufschlüsse über den Tathergang liefert, den Beginn einer „Zeitreise in die Vergangenheit“70: Eine Zeitreise zurück in die Nacht von Zuaiters Ermordung bzw. zu dem Augenblick kurz davor. Denn es regt bei den Betrachter*innen einen investigativen Blick an, mit dem sie auch während des weiteren Durchlaufens von Jacirs Installation einer Art Spurensuche nachgehen und nach den Umständen des Verbrechens fragen. Darüber hinaus weckt das Foto das Begehren, generell mehr über Zuaiters Person zu erfahren.

Per un palestinese: Exponieren/Porträtieren 1934 in Nablus geboren, gelang Wael Zuaiter, nachdem er in Bagdad Ingenieurwesen studierte, über Kuwait und Deutschland 1962 nach Rom. Dort schrieb er sich zunächst in der La Sapienza Universität ein und arbeitete später für die libysche Botschaft. Zur selben Zeit begann er mit 70 |  Sykora, Katharina Die Tode der Fotograf ie I. Totenfotograf ie und ihr sozialer Gebrauch, München: Wilhelm Fink 2009, S. 508.

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der Übersetzung von Tausendundeine Nacht vom Arabischen ins Italienische – ein langwieriges Projekt, dass er nie fertig stellen sollte. Denn mit dem Beginn des Sechstagekrieges 1967 veränderte sich Zuaiters Leben schlagartig. Angesichts des erneuten Ausbruchs des arabisch-israelischen Konflikts fasste er den Entschluss, sich aktiv am palästinensischen Widerstandskampf zu beteiligen. Er meldete sich als Freiwilliger für die Korps der arabischen Staaten, wurde aufgrund seines fortgeschrittenen Alters allerdings nicht rekrutiert. Er fuhr schließlich auf eigene Faust mit einem Freund über Land nach Palästina, traf dort aber erst ein, nachdem der Krieg bereits beendet war. Sichtlich ernüchtert, aber trotzdem an seinem Entschluss festhaltend, rief Zuaiter nach seiner Rückkehr in Rom eine Vereinigung zur Unterstützung des palästinensischen Volkes ins Leben. Er organisierte zudem Kundgebungen von PLO-Vertretern in der Stadt, gab eine Zeitschrift heraus, die sich der Geschichte Palästinas und der Darstellung des Nahostkonflikts aus palästinensischer Sicht widmete und verließ kurze Zeit später seinen Posten an der libyschen Botschaft, um ausschließlich für die PLO zu arbeiten. Dabei fungierte er als kultureller Botschafter Palästinas in Italien und knüpfte zahlreiche Kontakte zu einflussreichen Schriftsteller*innen, Journalist*innen und Filmemacher*innen, von denen er einige auch für die Unterstützung der Befreiungsorganisation gewinnen konnte. Neben Alberto Moravia verkehrte Zuaiter zum Beispiel mit Jean Genet, Rafael Alberti, Bruno Cagli und den Filmemachern Pier Paolo Pasolini, Elio Petri sowie Ugo Pirro.71 Zuaiters eigene politische Position war in diesem Zusammenhang immer von einer explizit pazifistischen Einstellung geprägt. Zumindest sprach er sich in seinem Bekanntenkreis und in der Öffentlichkeit stets nachdrücklich für eine friedliche Lösung des arabisch-israelischen Konflikts aus.72 Dennoch geriet Zuaiter, nachdem am 5. September 1972 elf 71 |  Jacir, Emily „Material for a film. 2004-ongoing“ in: Baur, Andreas und Wäspe, Roland (Hg.) Emily Jacir [Ausst.-Kat.], St. Gallen/Esslingen/Nürnberg: Kunstmuseum St. Gallen/Villa Merkel/Verlag für moderne Kunst 2008, S. 72. 72 |  Dies bezeugt auch Moravia, wenn er schreibt: „[…] Wael Zuaiter naturally wanted an early settlement of the Palestinian issue, but it must be said that he had no trace of fanaticism; his attitude was always humanitarian and reasonable. […] He himself favoured the establishment of a mixed Palestinian state, for both Jews and Arabs, a proposition of which Arafat and al-Fatah at the time also subscribed.“ Siehe: Moravia, Alberto „Some recollections of Wael“, in: Venn-

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Israelis bei einer durch Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation „Schwarzer September“ während der Olympischen Spiele in München verübten Geiselnahme ums Leben kamen, ins Fadenkreuz des israelischen Geheimdienstes. Er war der erste von insgesamt 13 Palästinensern, die zwischen 1972 und 1973 auf europäischem Boden von Mossad-Agenten als angebliche Drahtzieher des Attentats liquidiert wurden. Dass er tatsächlich einer der Hintermänner der Geiselnahme war, konnte jedoch nie bewiesen werden und gilt als äußerst unwahrscheinlich. Der israelische Journalist Aaron J. Klein, der sich detailliert mit den Vergeltungsschlägen des Mossad im Zuge des Münchner Attentats auseinandersetzte, bezeichnet den Mord an Zuaiter sogar explizit als „Fehler“. Ihm zufolge sei es ausgeschlossen, dass Zuaiter direkt in die Organisation des Münchner Attentats involviert war.73 Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass Zuaiter, wenn nicht als Verantwortlicher für die Münchner Geiselnahme, so doch aufgrund seiner Rolle als PLO-Repräsentant zur Zielscheibe für den israelischen Geheimdienst wurde.74 Es scheint, als wären ihm gerade seine friedensstiftenden Botschaften zum Verhängnis geworden. Darauf spekulieren auch einige der Beiträge in Per un palestinese. Dediche a più voci a Wael Zuaiter, einer Zuaiter gewidmeten Publikation, die seine Lebensgefährtin, die australische Malerin Janet Venn-Brown, sieben Jahre nach seinem Tod veröffentlichte und welche Jacir wiederum als inhaltliche Grundlage für Material for a Film nutzte. Indem sie die in VennBrowns Sammelband enthaltenen biografischen Notizen, Denkschriften (Moravias oben zitierter Aufsatz ist eine davon), Gedichte, Zeichnungen, aber auch theoretischen Ausführungen über Palästina, die verschiedene Aspekte seiner Person, seines Schaffens und die Umstände seines Todes

Brown, Janet (Hg.) For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter, London/Boston: Kegan Paul International 1984, S. 70-74, hier S. 71. 73 |  Klein, Aaron J. Striking Back. The 1972 Munich Olympics Massacre and Israel‘s Deadly Response, New York: Random House 2005, S. 190. 74 |  Vgl. ebd. In ihrem Theaterstück Ode to Joy (2015) setzen sich auch die libanesischen Theatermacher*innen und Künstler*innen Rabih Mroué und Lina Majdalanie eingänig mit dem Münchner Attentat und den zwischen 1972 und 1973 verübten Mossad-Attentaten in Europa auseiander. Darin zeigen sie unter anderem auch Fotografien aus der Sammlung der Arab Image Foundation.

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Abbildung 12: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variabel

aus diversen Perspektiven reflektieren75, als eine Hauptquelle nutzt, erzeugt Jacir mit ihrer Installation ein facettenreiches, zugleich fragmentarisches und damit letztlich kalaidoskopartiges „Porträt“ Zuaiters. Es lässt erahnen, wer er war und wie er lebte, regt durch seine Lücken- und Bruchstückhaftigkeit allerdings ebenso zu Mutmaßungen und zur Suche nach weiteren Informationen an. Dieses „Porträt“ wird von einer kubusförmigen Konstruktion gerahmt, die aus bis zur Decke reichenden weißgestrichenen Rigipsstellwänden besteht und sich wie ein White Cube in den White Cube des Ausstellungsraums fügt. Dessen Inneres ist durch weitere Stellwände räumlich in vier kleinere Abschnitte sowie einen Korridor an der hinteren Stirnseite gegliedert [Abb. 12]. Laufen die Betrachter*innen, nachdem sie das Foto von Zuaiters Leiche gesehen haben, links in das Innere des Kubus hinein, so erblicken sie zwei schwarze, in der Wand eingefasste Lautsprecherboxen und hören zugleich die Musik, die daraus wiedergegeben wird. Dabei handelt es sich um einen sich beständig wie75 |  Abgesehen von Moravios oben zitierten Aufsatz enthält Per un palestinese. Dediche a più voci a Wael Zuaiter Beiträge von Jean Genet, Rafael Alberti, Bruno Cagli, Roberto Matta, Edward W. Said, Elio Petri und Ugo Pirro. Yasir Arafat schrieb zudem das Vorwort.

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Abbildung 13: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variabel

derholenden Auszug aus der Neunten Symphonie Gustav Mahlers. Ein neben den Lautsprechern ebenfalls in Letraset an die Wand angebrachter Text erörtert dazu, dass Zuaiter eine Aufnahme dieser Symphonie besaß, die er im Tausch mit einer Partitur Mahlers Achten an den italienischen Musikwissenschaftler Bruno Cagli verlieh.76 Jene Partitur wurde wiederum nach Zuaiters Tod von der italienischen Polizei konfisziert, da die den Mordfall untersuchenden Beamten vermuteten, es handele sich dabei um verdächtige, kodierte Informationen. Innerhalb der Installation vermengt sich die Orchestermusik Mahlers akustisch mit drei weiteren Klangquellen. Eine davon ist der Soundtrack einer Filmsequenz aus dem teilweise 76 |  Vgl. dazu Cagli, Bruno „What has happend to the Ninth Symphony?“, in: Venn-Brown, Janet (Hg.) For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter, London/ Boston: Kegan Paul International 1984, S. 31-36.

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in Rom gedrehten Film The Pink Panther (1963), die auf einem nur unweit von den schwarzen Lautsprechern an der Wand angebrachten Fernsehbildschirm ebenfalls im Loop abgespielt wird. Zuaiter erscheint in dieser Szene, die von einigen Takten eines melancholischen Rumba-Stückes untermalt ist, welche in ihrer Lautstärke Mahlers Symphonie leicht übertönen, in einer Komparsenrolle als Kellner. Beim weiteren Durchlaufen von Material for a Film stoßen die Betrachter*innen in den ersten beiden räumlichen Abschnitten der Installation auf ein stark vergrößertes, auf einer Hartschaumplatte gedrucktes Porträt des jungen Zuaiters, auf dem er, ein Buch in der Hand haltend, lächelnd hinter einer Hausecke hervorblickt [Abb. 13]. Sie sehen zudem die weiß gerahmte Fotografie einer Münze, welche Zuaiter, der oft unter sehr ärmlichen Verhältnissen lebte, mit einem Loch und einem Strick versah, um sie wiederholt für den münzbetriebenen Fahrstuhl in seinem Treppenhaus zu verwenden; sowie die ebenfalls gerahmte fotografische Reproduktion eines Briefes, den Zuaiter zu Beginn des Sechstagekrieges 1967 an seinen Bruder schrieb. Zuaiters Gedanken und Eindrücke, die er Venn-Brown mittels Postkarten auf seiner Fahrt nach Jordanien anvertraute, die ebenfalls abfotografiert und gerahmt unweit des Briefes hängen, vermitteln weitere Eindrücke seines damaligen emotionalen Zustands angesichts des Krieges [Abb. 14]. Neben dem Brief und den Postkarten bzw. ihren fotografischen Reproduktionen hängen kleinformatige Fotos der Bücher, die sich zum Zeitpunkt von Zuaiters Tod in dessen Besitz befanden [Abb. 15].77 Das Motiv des Buches aufgreifend, steht gegenüber davon in der rechten äußeren Ecke des Kubus eine Glasvitrine, in der lose, herausgetrennte Seiten von einem der Lieblingsbücher Zuaiters – Dantes Divina Commedia – ausgelegt sind, die er oftmals anstelle das gesamten schweren Bandes in seiner Anzugtasche bei sich trug. Darüber hinaus besteht dieser Teil der Installation aus weiteren vergrößerten und auf Hartschaumplatten gedruckten historischen Schwarzweißfotografien, die Zuaiter u.a. gemeinsam mit Familienangehörigen zeigen; gerahmte Fotos eines Briefes, den Moravia an Jean-Paul Sartre schrieb, um den französischen Philosophen mit Zuaiter bekannt zu machen; sowie farbige Schnappschüsse 78 die von Jacir 77 |  Seine Büchersammlung umfasste u.a. Werke von Fjodor M. Dostojewski, Jean Genet, Johann Wofgang von Goethe, Henry David Thoreau und T.S. Eliot. 78 |  Die Aufnahmen sind alle im Format deckungsgleich mit den Postkarten und der Aufnahme von Zuaiters Leichnam, also ca. DIN A 6 groß.

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mit einer Digitalkamera aufgenommen wurden und eine Einsicht in ihren Rechercheprozess zu Material for a Film bieten. Sie sind wie das Bild von Zuaiters Leichnam am Eingang und die Bildgruppe seiner Bücher vereinzelt kombiniert mit Reproduktionen historischer Fotos, mit Stecknadeln in rasterartigen Arrangements an den Wänden der Installation angebracht, wobei neben sie Texte appliziert sind, in denen Jacir von ihren Nachforschungen in einer Art Chronik berichtet. Ein anderes Element, das sich in dem an der hinteren Stirnseite des Kubus durchziehenden Korridor sowie in den letzten beiden räumlichen Abschnitten von Material for a Film befindet, ist u.a. die Reproduktion des Artikels, den Zuaiter kurz vor seinem Tod für die Zeitung L’Espresso schrieb und von Venn-Brown ebenfalls in Per un palestinese abgedruckt wurde [Abb. 16]. Hinzukommen weitere verstreut an den Wänden und auf Hartschaumplatten gedruckte historische Fotos sowie Reproduktionen von Postkarten (diesmal von Venn-Brown aus Australien und den Dolomiten an Zuaiter adressiert); ein zweiter gläserner Schaukasten mit 12 Ausgaben des von Zuaiter mitherausgegebenen Magazins rivoluzione palestinese bzw. palestina79 (darunter eine posthum erschienene ihm gewidmete Sonderausgabe); eine Fotografie des arabischen Tausendundeine Nacht-Bandes, den Zuaiter zum Zeitpunkt seiner Ermordung bei sich trug und der von einer Pistolenkugel durchbohrt wurde [Abb. 17]; ein Foto einer von Venn-Brown handschriftlich verfassten Liste, auf der die Namen der israelischen Agenten stehen, die für den Mord an Zuaiter von einem italienischen Gericht verantwortlich gemacht wurden.80 Transkripte von Passagen aus Videointerviews, die Jacir mit Freunden und Verwandten Zuaiters führte, sowie die ebenfalls in den Wänden der Ins79 |  Das Magazin wurde 1970 von rivoluzione palestinese zu palestina umbenannt. Siehe dazu auch das Interview, das Elio Petri und Ugo Pirro mit dem Journalisten und Mitherausgeber von rivoluzione palestinese bzw. palestina Pietro Petrucci führten. Petri, Elio und Pirro, Ugo „Material for a film“, in: Venn-Brown, Janet (Hg.) For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter, London/ Boston: Kegan Paul International 1984, S. 95-116, hier S. 110. 80 |  In Per un palestinese ist der Urteilsspruch des Verfahrens gegen die Mossad-Agenten abgedruckt. Siehe dazu: „Appendix I. Court judgement published after the trail of the Israeli secret service agents acused of complicity in Wael Zuater’s assassination“, in: Venn-Brown, Janet (Hg.) For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter, London/Boston: Kegan Paul International 1984, S. 204-212.

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Abbildung 14: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variable

tallation eingelassenen, diesmal jedoch weißen Lautsprecher zweier weitere Soundkomponenten, ergänzen das Ensemble. Eine davon gibt eine Tonbandaufnahme Zuaiters wieder, auf der zu hören ist, wie er einen Text vom Arabischen ins Italienische übersetzt; die andere spielt Mitschnitte von Telefongesprächen ab, die ohne sein Wissen heimlich von der italienischen Polizei gemacht wurden. Beim Verlassen des Kubus tritt den Betrachter*innen als letztes Element der Installation eine deutlich größere und diesmal im Arabischen, Englischen und Italienischen verfasste Wandbeschriftung81 entgegen: „That thou canst not stir a flower / Without troubling of a star.“ Es handelt sich dabei um ein Zitat aus einem Gedicht des englischen Dichters Francis Thompson mit dem Zuaiter seinen L’Espresso-Aufsatz beendete. In Bezug auf die räumliche Konstruktion – dem White Cube im White Cube – und auf die Inszenierung der einzelnen Teile in seinem Inneren funktioniert Material for a Film im Prinzip zunächst wie eine Ausstellung (in der Ausstellung). Die genannten Objekte, Text-, Video- und Klangelemente können demnach in erster Instanz als Exponate erachtet 81 |  Alle anderen Texte der Installation sind nur in englischer Sprache wiedergegeben.

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Abbildung 15: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variable

werden. Dabei ist das Ausstellen hier jedoch nicht vordergründig etwa wie Zaataris Palestine before ’48 von einer „didaktischen“ Aufarbeitung der zur Schau gestellten Gegenstände bestimmt. Die einzelnen historischen Fotografien und Objekte sind beispielsweise nur sporadisch datiert und werden ohne jegliche Informationen zu deren Urheber*innen präsentiert. Auch sind nicht alle Elemente der Installation mit begleitenden Texten versehen. Das, was im ersten Kapitel als das Kuratorische herausgestellt wurde, beschränkt sich in Material for a Film weitgehend auf die Auswahl der Objekte und ihre räumliche Inszenierung. Der Ausstellungscharakter der Installation weist ferner eine beinahe hermetische Struktur auf, welche den Eindruck von thematischer Stringenz erzeugt. Mit dieser Stringenz erinnert Material for a Film entfernt etwa an Marcel Broodthaers’ Musée d’Art Moderne, Département des Aigles (1968-1972), eine Installation

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im Format einer Ausstellung, die in verschiedenen Ausführungen diverse Gegenstände präsentiert, welche das Motiv eines Adlers tragen.82 Oder an Boltanskis’ Vitrines de référence (1969-1973) – eine Serie von Arbeiten, die alle aus Museumsvitrinen bestehen, in denen Boltanski verschiedene Objekte, darunter auch Fotografien, Briefe und Seiten aus Büchern „ausstellt“, um mit dieser Form des Displays unter faktischen wie fiktiven Prämissen sein Leben und seine Tätigkeit als Künstler zu reflektieren.83 Steht Broodthears Musée d’Art Moderne, Département des Aigles formal bezüglich der räumlichen Ausbreitung und systematischen Erfassbarkeit seiner gesammelten „Artefakte“, aber keineswegs hinsichtlich seiner strengen Typologie Pate für Material for a Film, so ist Jacirs Installation inhaltlich näher mit Boltanskis Vitrines verwandt, was den biografischen Ansatz und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit Erinnerungsprozessen sowie die Bedeutung diesbezüglich aufgeladener Objekte als Andenken und Souvenirs betrifft. Obwohl stärker auf einen dokumentarischen Gehalt abzielend als Boltanski, legt Jacir jedoch wie jener ebenso viel Wert auf die Betonung von Lücken, Leerstellen, Widersprüchen und Fragestellungen, die sich aufgrund der Heterogenität und zeitlichen Inkohärenz ihres „Materials“ ergeben.84 Ähnlich wie Boltanskis ausgestellte Objekte in den einzelnen Vitrines verschiedene Facetten seiner Biografie repräsentieren und in ihrer Gesamtheit eine bildliche, wenn zum Teil auch fingierte Persönlichkeitsstudie des Künstlers ergeben, vereint Material For a Film die darin gezeigten Elemente zu einem vielschichti82 |  Siehe dazu etwa: König, Susanne Marcel Broodthears Musée d ’Art Moderne, Département des Aigles, Berlin: Reimer 2012 sowie Alphen, Ernst van Staging the Archive. Art and Photography in the Age of New Media, London: Reaktion Books 2014, S. 64-69. 83 |  Vgl. Alphen, Ernst van „Deadly Historians“, in: Zelizer, Barbie (Hg.) Visual Culture and the Holocaust, London: The Athlone Press 2001, S. 45-73, hier S. 67 sowie ders. Staging the Archive. Art and Photography in the Age of New Media, London: Reaktion Books 2014, S. 73 84 |  Laut Valeria Burgio haben die einzelnen Objekte und Dokumente an sich keinen eigenen inhaltlichen sowie ästhetischen Stellenwert. Beides wird erst durch das installative Arrangement im Raum und das darüber vermittelte Narrativ erzeugt. Burgio, Valeria „Emily Jacir, Material for a Film“, in: Migliore, Tiziana (Hg.) L’archivio del senso, Venedig: Biennale di Venezia 2007, S.131-149, hier S. 137.

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gen Porträt Wael Zuaiters. In diesem Zusammenhang belegen etwa die Ausgaben von rivoluzione palestinese und der Artikel aus L’Espresso seine politischen Überzeugungen und Aktivitäten. Die Aufnahme seiner Stimme und die Fotografie der arabischen Ausgabe von Tausendundeine Nacht zeugen von seiner Tätigkeit als Übersetzer. Die Fotos, die Jacir von den Einbänden einiger seiner Bücher machte, die Seiten aus Dantes Divina Commedia, der Auszug aus Mahlers Neunten Symphonie unterstreichen seine Affinität zur Literatur und Musik. Und die Korrespondenz zwischen Venn-Brown und Zuaiter liefert einen intimen Einblick in deren Beziehung. Darüber hinaus geben die transkribierten Fragmente von Jacirs Videointerviews, in denen sie verschiedene Zeitzeugen zu Zuaiters Person befragte, wesentliche Charakterzüge seiner Person wieder und beschreiben ihn als einen bescheidenen, kultivierten, sozial engagierten und friedliebenden Menschen. Ein Journalist namens Ennio Polito berichtet zum Beispiel: „He [Zuaiter] was completely against violence of any kind, and against carrying any weapons even when we were all in Amman during Black September. When we were there he was cooking and distributing bread for all the people.“ In einem anderen Exzerpt erzählt seine Schwester Naila: „The strangest thing about Wael is that when he came to Kuwait with Moravia 1971, he was wearing the exact same suit he wore when he left in 1962! He didn’t care about clothes. If he ever had any extra money he would spend it on books or on the opera.“ Und der britische Literaturwissenschaftler und Übersetzer Graham Sells bemerkt, dass Zuaiter sehr gerne Käse mochte und niemals seinen Geburtstag feierte.

Filmische Wirkung: Narrativ und Zeitraumkontinuum Mit den Interviewexzerpten und vor allem dem Titel ihrer Installation bezieht sich Jacir direkt auf Elio Petris sowie Ugo Pirros Beitrag in dem von Venn-Brown herausgegebenen Sammelband: „Materiale per un film“. Es handelt sich dabei um eine Reihe von Interviews, welche die beiden Filmemacher mit Freund*innen und Bekannten Zuaiters führten. Zuaiter war es ein besonderes Anliegen, dass ein Film über die Nakba produziert würde, der die palästinensische Position wirkungsvoll vertritt. Seine Kontakte zu den italienischen Filmemachern beruhten nicht zuletzt auf dem Bestreben, sie von der Dringlichkeit eines solchen Projektes zu überzeugen. Leider waren für Petri und Pierro erst die Umstände von Zuaiters

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Abbildung 16: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variable

Abbildung 17: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variable

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Tod ausschlaggebend, sich der Sache anzunehmen, wobei sie in Erwägung zogen, seine Lebensgeschichte als Vorlage für ein Drehbuch zu verwenden. Sie begannen Informationen und Material dafür zu sammeln. Das Projekt wurde allerdings nie umgesetzt. Auch Jacirs Installation stellt in diesem Sinne kein abgeschlossenes „Endprodukt“ dar. So suggeriert sie etwa mit der Datierung der Installation, dass es sich vielmehr um die Präsentation eines laufenden Prozesses handelt. Ihre Akkumulation von „Material“ ist demnach in erster Linie als ein Memorandum zu verstehen, das darauf hinweist, dass die Dringlichkeit, diesen Film zu realisieren, weiterhin besteht.85 Dennoch erzeugt die Installation neben ihrem Ausstellungscharakter bereits an sich eine filmische Wirkung. In diesem Zusammenhang ordnet die Kulturwissenschaftlerin Valeria Burgio Material for a Film auch als „Quasi-Film“ zwei Genres zu: einerseits dem Dokumentarfilm (bzw. hinsichtlich des biografischen Fokus der Installation genauer dem sogenannten Biopic) und anderseits dem Genre des Kriminalfilms.86 „Wer ist dieser getötete Mann?“ 85 |  Vgl. hierzu Burgio, Valeria „Emily Jacir, Material for a Film“, in: Migliore, Tiziana (Hg.) L’archivio del senso, Venedig: Biennale di Venezia 2007, S.131-149, hier S. 137. 86 |  Vgl. ebd. Burgio bezieht sich hier auf die Installation, wie sie erstmals während der 52. Venedig Biennale 2007 gezeigt wurde. In Jacirs Ausstellung in der Londoner Whitechappel Gallery war außerhalb des Kubus von Material for a Film zusammen mit dem Titel und den Werkangaben der Installation ein kurzer Text angebracht, der über Wael Zuaiter und die Umstände seiner Ermordung informierte. Der Spannungsbogen mag, insofern die Betrachter*innen diesen Text gelesen haben, was Burgios These betrifft, etwas abgeschwächt gewesen sein. Das von ihr beschriebene Interesse daran, mehr über Zuaiter zu erfahren, blieb dennoch bestehen. Jacir selbst bezeichnet die Installation grundsätzlich als einen Versuch „to present a film as an installation, or a documentary about Wael in an installation format“ bzw. als eine Installation „of the material gathered to make a film“: „It is my journey of finding Wael in the traces he left behind. […] I know so much about his life having gathered thousands of pictures, documents and sounds, and like a filmmaker I am forced into this process of editing it all down to key moments. I am trying to design the space so that the viewer will move through it like a film.“ Siehe: Vali, Murtaza „All that Remains. Emily Jacir“, in: ArtAsiaPacif ic, Issue 54, July/August 2007, http://artasiapacific.com/Magazine/54/AllThatRemainsEmilyJacir [eingesehen

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und „Warum wurde er von wem ermordet?“ sind dabei Burgio zufolge in beiden Fällen die Leitfragen, von denen das Narrativ des „Films“ wie die Erfahrung der Installation nach dem ersten unvermittelten Anblick des Tatortfotos ihren Ausgangspunkt nehmen.87 Die einzelnen räumlichen Abschnitte von Material for a Film können demzufolge als szenische Sequenzen und die Objekte sowie die Dokumente aus Zuaiters bzw. Venn-Browns Besitz als Verkörperungen des Dokumentarischen aufgefasst werden, wobei die verschwörerischen Umstände von Zuaiters Tod bzw. Jacirs Nachforschungen einen krimihaften Spannungsbogen bilden. Das erklärt jedoch nicht, wie sich die filmische Wirkung der Installation konkret entfaltet. Um dies zu tun, kann an dieser Stelle abermals Rebentischs These vom selbstreflexiv-performativen Verhältnis der Betrachter*innen zum Objekt bei der Erfahrung einer Installation produktiv gemacht werden. 88 Denn im Fall von Material for a Film vollzieht sich mit dem Durchschreiten der Installation ein zeitliches Verstreichen, während dessen mehr noch als etwa beim Besuch einer Ausstellung das gesteuerte Erfassen der einzelnen Objekte mit der Erzeugung eines Narrativs einhergeht. Dieses Narrativ, bei dem es sich zugleich um eine Erzählkonstruktion ineinander verschachtelter durch Zuaiter, Venn-Brown und Jacir personifizierter „Erzähl-Ichs“ handelt, fügt sich bei der Begehung der Installation ähnlich einer Erzählung im Verlauf eines Filmes zusammen. Das heißt, die Zeit, die im Zuge des Durchschreitens von Material for a Film verstreicht, erzeugt das für das Narrativ grundlegende Kontinuum, an das wiederum die zeitlichen Abläufe, die sich retrospektiv aus Jacirs Arrangement in Relation zu Zuaiters Biografie ablesen lassen, gekoppelt sind. Das „Porträt“, das die Künstlerin mit Material for a Film von Zuaiter schafft, ist somit weder ein fixiertes, noch erscheint es instantan verbildam 05.07.16]. Die Installation erinnert in dieser Hinsicht entfernt auch an ein sogenanntes Storyboard, eine sequentielle Anordnung von visuellen Materialien, die der Produktion eines Films vorausgehen und ihm als Skizze bzw. Anleitung dienen. Die Dringlichkeit der filmischen Umsetzung ist ihr somit eingeschrieben. 87 |  Vgl. Burgio, Valeria „Emily Jacir, Material for a Film“, in: Migliore, Tiziana (Hg.) L’archivio del senso, Venedig: Biennale di Venezia 2007, S.131-149, hier S. 137. 88 |  Vgl. hierzu Rebentisch, Juliane Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 284.

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licht. Die räumliche Inszenierung der einzelnen Elemente innerhalb der Installation zielt im Gegenteil auf ein prozessuales bzw. transitorisches Moment ab. Die Klangkomponenten von Material for a Film tragen in diesem Zusammenhang zu einer atmosphärischen Verdichtung bei und fungieren als „Soundtrack“. In ihrer sukzessiven Abfolge lotsen sie die Betrachter*innen von einem Abschnitt zum nächsten, bis sie schließlich das Zitat von Francis Thompson am Ende des Parcours dazu anleitet, die losen Anknüpfungspunkte, die ihnen Jacir mit Material for a Film liefert, miteinander zu verbinden. Die Installation erzeugt jedoch keineswegs einen linearen Erzählstrang oder eine absolute Sichtweise auf Zuaiter. Die Betrachter*innen machen sich während ihrer Erfahrung der Installation vielmehr ihr eigenes „Bild“ von ihm. Die Fotografie nimmt dabei eine besondere Stellung ein. Zunächst ist sie ein essentielles Bindeglied, welches das in der Installation erzeugte Zeitraumkontinuum stützt. Sie tritt als Spur auf, die einerseits (re-)präsentiert und authentifiziert sowie andererseits auf verschiedene Zeitlichkeiten verweist. Darüber hinaus setzt die Fotografie alle weiteren Elemente der Installation und damit nicht zuletzt das Erscheinen Zuaiters verstärkt in eine dialektische Beziehung zwischen An- und Abwesenheit, Nähe und Distanz.89 Das tut sie in drei verschiedenen Modi bzw. an drei verschiedene Anwendungsbereiche geknüpft: Erstens erzeugt Jacir mit Hilfe der Fotografie Bilder von Objekten. Zweitens wird das Medium von der Künstlerin zur Dokumentation und Illustration ihrer Recherche genutzt. Und drittens erscheint sie in Form der Reproduktion historischer Fotos.

Fotografische Modi: Display, Performanz und Spur Im Fall des ersten Modus fotografiert Jacir Gegenstände und Dokumente wie etwa Zuaiters Bücher, seine durchlochte Münze, die von ihm und Venn-Brown verfassten Postkarten oder Zuaiters L’Espresso-Artikel nicht nur, um sie abzubilden, sondern vor allem, um sie zu zeigen. In direkter Aufsicht werden diese genannten Objekte abgelichtet, wobei das fotografische Darstellen mit einem Ausstellen zusammenfällt: Die Fotografie 89 |  Didi-Huberman, Georges Was wir sehen blickt uns an, München: Wilhelm Fink 2005, S. 155.

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Abbildung 18: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variable

erscheint hier als Displaymedium. In einigen Fällen wie bei den Postkarten und dem Zeitungsausschnitt wird diese Vorgehensweise sogar zur Mimikry gesteigert, indem das Format der Fotos die Originalgröße der Objekte wiedergibt, die sie repräsentieren.90 Dabei geht es allerdings weniger um eine Fetischisierung dieser Gegenstände (das ist eher etwa bei den präsentierten Buchseiten aus Zuaiters Divina Commedia der Fall). Die Fotografien als Display verkörpern vielmehr einen Zugriff auf den Nachlass Zuaiters, der den abgelichteten Objekten als Teil der Installation und seiner darin vermittelten Narrative eine besondere Bedeutung zukommen lässt. Bei dem zweiten fotografischen Modus, der in Material for a Film erscheint, handelt es sich um die Schnappschüsse, die Jacir während ihrer Nachforschungen zu Zuaiter produzierte. In Gruppierungen gehangen, 90 | Jacir knüpft hier an Darstellungskonventionen der Objekt- bzw. Produktfotografie an, wie sie sich seit dem Neuen Sehen in den 1920er Jahren entwickelt hat und später auch in der Konzeptkunst etwa von Christopher Williams aufgegriffen wurde.

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dienen sie sowohl als visuelle Zeugnisse von Jacirs Recherche als auch als Indizien für den investigativen Blick bzw. die Spurensuche der Betrachter*innen [Abb. 18].91 Zusätzlich liefern die in einem tagebuchähnlichen Duktus verfassten Textpassagen, mit denen Jacir diese Fotos präsentiert, weitere Aufschlüsse über die von ihrer während ihrer Nachforschung gemachten Beobachtungen und Erkenntnisse. An einer Stelle heißt es zum Beispiel: „15/9/2005, Piazza Annbaliona, Roma. Wael Zuaiter lived here in apartment #20 on the 7th floor. […] I am sitting outside across the street from his building eating lunch on Viale Eritrea, wondering which streets he walked down. […] After spending several hours inside his building examining his floor, the courtyard and elevator, I leave. As I am crossing the street to take one last picture of the building I look down and see an old suitcase before me.“

Und an einer anderen: „09/11/2005, Nablus. I’m spending a few days in Wael’s childhood home in Nablus with his sister Naila who teaches English at An-Najah University. I learn that in 1951, when he was 17 years old, he left Nablus for Iraq to study architecture. […] Wael believed it was his duty to fight for our cause and would never accept any money for the work he did. The idea that he would be paid for publicizing our cause was ridiculous to him. When they sent him checks he would return them. At his funeral apparently Arafat showed everyone Wael’s returned checks. Our discussions and my research are cut short as we turn on the news to find out to our horror about the Amman bombings. We like everyone else in the West Bank try to call our relatives in Amman. The phone lines are jammed. We are frantic.“

91 |  Der dokumentarische Duktus dieser Schnappschüsse erzeugt in Kombination mit den in Material for a Film versammelten Dokumenten und Objekten einen gesteigerteren Wahrheitsgehalt, als es etwa bei Boltanskis Vitrines der Fall ist. Anders als bei Boltanski oder auch Raads Atlas Group ist Jacirs Einsatz der Fotografie nicht an eine offenkundige künstlerische Strategie ihrer Fiktionalisierung geknüpft, so dass die Betrachter*innen eher auf das Faktische des darauf Abgebildeten vertrauen. Dieses Vertrauen wird weiterhin dadurch gestärkt, dass z. B. forensische Fotos, als Beweismittel vor Gericht anerkannt werden.

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Neben dem mit „15/9/2005“ datierten Bericht hängen Fotos, auf denen das Wohnhaus zu sehen ist, in dem Zuaiter in Rom lebte, der Hausflur, der Fahrstuhl sowie der in dem ersten Textauszug erwähnte Koffer. Was die andere am „09/11/2005“ in Nablus verfasste Textpassage anbelangt, so befinden sich daneben von Jacir im Haus von Zuaiters Schwester gemachte Aufnahmen sowie gleichgroße Reproduktionen von zehn historischen Schwarzweißfotos, auf denen der junge Zuaiter in Nablus bzw. Palästina zu sehen ist. Mit diesen Text-Bild-Gefügen stellt Jacir nicht nur Zuaiters Biografie direkt in Bezug zu ihrer eigenen – tatsächlich weisen ihre beiden Lebensläufe einige Schnittstellen auf (Jacir wurde wie Zuaiter in Palästina geboren und lebte wie er längere Zeit in einem Golfstaat und in Italien).92 In Bezug auf Burgios Einordnung von Material for a Film in das Krimigenre erscheint die Künstlerin an dieser Stelle zudem in der Rolle einer Privatermittlerin – ein Topos, der zuvor in der Kunst bereits etwa von Vito Acconci in seinem Following Piece (1972) und von Sophie Calle in Suite vénitienne (1983) bearbeitet wurde93: Die Schnappschüsse und die dazu präsentierten Texte veranschaulichen somit ihr Zurückverfolgen von Zu92 |  Vgl. hierzu Vali, Murtaza „All that Remains. Emily Jacir“, in: ArtAsia Pacif ic, Issue 54, July/August 2007, http://artasiapacific.com/Magazine/54/ AllThat RemainsEmilyJacir [eingesehen am 05.07.16]. 93 |  Acconcis Following Piece ist eine Assemblage aus Text und Fotografien, in der Acconci sein Verfolgen von unbekannten Personen in New York im Sinne einer performativen Handlung festhält. Calle geht von einem ähnlichen formalen und inhaltlichen Ansatz in Suite vénitienne aus, bindet ihn jedoch stärker in ein stringentes Narrativ ein, indem sie mittels Text und Fotografie ihre Verfolgung eines gewissen Henri B. schildert. Zwar liegt sowohl Acconcis als auch Calles Werk vordergründig eine Auseinandersetzung mit der voyeuristischen Eigenschaft der Fotografie zu Grunde, die im Fall von Material for a Film weniger zum Tragen kommt. Die damit einhergehende Vermittlung einer szenischen Handlungsabfolge spiegelt sich aber ebenso deutlich in den Text-Bild-Konfigurationen, wieder, die Jacirs Nachforschungen veranschaulichen. Zu Acconici siehe etwa: Schachter, Kenny (Hg.) Vito Acconci: Now and Then, Zürich: Grieder Contemporary 2014 sowie Volk, Gregory „1969-1973: Vito Acconici’s Archives“, in: Acconci Studio (Hg.) Vito Acconci. Diary of a Body 1969-1973, Mailand: Edizioni Charta 2006, S. 9-14. Zu Calle siehe: Calle, Sophie Suites Vénitienne, Los Angeles: siglio 2015.

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aiters Fährte und legen zugleich performativ Jacirs künstlerische Vorgehensweise und formalen Bezüge offen.94 Der dritte fotografische Modus, die Reproduktion historischer Fotografien, umfasst neben den bereits erwähnten kleinformatigen historischen Fotos, die im Zusammenhang mit den am „09/11/2005“ gemachten Notizen gezeigt werden, sowie der Aufnahme von Zuaiters Leichnam am Eingang der Installation insgesamt acht weitere Aufnahmen. Diese hängen erheblich vergrößert und auf Hartschaumplatten gedruckt verstreut 94 |  Der Nexus zwischen Performance und Fotografie ist ein wesentliches künstlerisches Mittel, auf das Jacir in ihrem gesamten Oeuvre unter verschiedenen Gesichtspunkten beständig zurückgreift. In Bezug zur Thematik, die Jacir in Material for a Film aufgreift, führt sie den Nexus zwischen Fotografie und Performance weiterhin in ihrer daran anknüpfenden Arbeit Material for a Film (Performance) (2006) aus. Für diese Installation, die sie bisher nur ein einziges Mal gemeinsam mit Material for a Film 2009 im Guggenheim Museum und sonst immer separat präsentierte, fotografierte sie alle Seiten von Zuaiters Ausgabe von Tausendundeine Nacht ab, die bei seiner Ermordung durchschossen wurden und zeigt jene Fotos gemeinsam mit 1000 leeren, von ihr mit einer Pistole durchschossene Bücher. Die Fotoserie Where we come from (2002-2003) ist in dieser Hinsicht jedoch wohl ihre bekannteste Arbeit. Jene basiert auf einer Reihe von Aktionen, in denen Jacir Wünsche von im Exil lebenden Palästinenser*innen erfüllt, denen es im Gegensatz zu ihr, die einen amerikanischen Pass besitzt, aufgrund ihrer Nationalität unmöglich ist, in die besetzten Gebiete einzureisen. Jacir hat dabei den Antworten auf ihre Frage „If I could do anything for you, anywhere in Palestine, what would it be?“ Folge geleistet und machte jeweils ein Foto, während sie diese Aktivitäten in Vertretung ausführte. Diese Vorgehensweise und formale Verknüpfung von Aktion bzw. Performance, Text und Fotografie wurde in den bisher veröffentlichten Texten und Rezensionen zu Jacir nur sehr oberf lächlich ref lektiert. Jacirs Bezüge zu Sophie Calle werden vereinzelt am Rande erwähnt. Die bildpolitischen Problematiken, die sich insbesondere bei Where we come from aus Jacirs Handlungsgewalt als Autorin einerseits und autorisierte Person anderseits in Relation zur Verschränkung von Fotografie und Text ergeben, werden in diesem Zusammenhang jedoch meist außen vor gelassen. Vgl. hierzu Demos, T.J. „The Art of Emily Jacir: Dislocation and Politicization“, in ders. The Migrant Image. The Art and Politics of the Documentary during Global Crisis, Durham: Duke University Press 2013, S. 103- 123, hier S. 117 f.

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Abbildung 19: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variable

an den Wänden des Parcours. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um ursprünglich mit Kleinbild- und Mittelformatkameras gemachte Schwarzweißschnappschüsse mit Ausnahme der Reproduktion eines farbigen Diapositivs, das einen Mann und eine Frau zusammen mit einer Gruppe von Kindern vor Zuaiters Grab in Damaskus zeigt [Abb. 19].95 Auf den anderen Schwarzweißbildern ist Zuaiter zum Beispiel als junger Mann in Rom, allein vor verschiedenen Stadtkulissen posierend und einmal mit seinen Tanten Nuzha, Nazeeha und Adla Abulmajeed auf der Piazza die Spagna zu sehen – ein Foto, das 1964 von seiner Schwester gemacht wurde. Auf einer weiteren, ca. 1963 entstandenen Aufnahme erscheint er gemeinsam mit seinem Bruder Omar und dessen Ehefrau in einem Restaurant. Darüber hinaus befindet sich unter diesen Bildern auch ein Foto von Zuaiter und Moravia, das während ihres gemeinsamen Besuches in Kuwait entstand [Abb. 20], sowie ein Foto, das ihn wesentlich älter mit einer Frau, vermutlich seiner Mutter zeigt.

95 |  Laut Bildunterschrift handelt es sich bei dem Paar um Sinan Nahsef – und seine Frau Marialuisa. Nahsef war einer von Zuaiters engsten Freunden, den er bereits während seines Studiums in Irak kennenlernte.

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Abbildung 20: Emily Jacir, Material for a Film, 2005-fortlaufend (Detail); Installation bestehend aus 3 Klangstücken, einem Video, Text, Fotografien und Archivmaterial, Maße variable

Im Zuge ihrer Vergrößerung geben die Reproduktionen der „originalen“ Fotografien – es handelt sich dabei offensichtlich um Scans von Fotoabzügen oder abfotografierte Positive – ostentativ die Materialität ihrer ursprünglichen Bildträger wieder.96 Gebrauchspuren wie Kratzer und Knicke werden somit besonders sichtbar. Jacir bearbeitete die Hartschaumplatten, auf denen die Fotos gedruckt sind, zudem so, dass sie wie beim Porträt des in die Kamera blinzelnden jungen Zuaiters den Büttenrand des Originalabzugs nachahmen. Das Gleiche gilt etwa für die weiße Plastikfassung und maschinelle Datierung des Diapositivs, welches Zuaiters Grabstätte zeigt, oder für das Foto von Moravia und Zuaiter in Kuwait, dessen Reproduktion auf der Hartschaumplatte die Auskerbungen wiedergibt, die sich an einigen Stellen des ursprünglichen Bildträgers befinden. Mit dieser Betonung der haptischen Eigenschaften der „Originalfotos“ wird ein geradezu hyperrealistischer Eindruck erzeugt, der die ursprünglich kleinformatigen Schnappschüsse monumentalisiert. Da96 |  Genaugenommen sind sie um das siebenfache ihrer Originalgröße vergrößert.

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durch bzw. durch die damit einhergehende Hervorhebung der sich auf den Bildträgern abgezeichnenden Spuren auf den „Spuren“, welche die Fotografien aufgrund ihres indexikalischen Charakters darstellen, wird abermals verstärkt der investigative Blick der Betrachter*innen adressiert, der mit dem Tatortfoto seinen Ausgang nahm.

An- und Abwesenheit, Nähe und Distanz: Spur/Aura Stehen die ersten beiden fotografischen Modi in einem engen Bezug zur Gegenwart bzw. der Entstehung von Jacirs Installation und geben damit einen horizontal, teleologisch ausgerichteten Zeitablauf wieder, so ermöglichen die vergrößerten historischen Fotografien einen zeitlichen Rückblick. Es entsteht damit ein Bedeutungsgefüge, das einzelne Ereignisse in Zuaiters Leben direkt in Verbindung mit den Recherchen von Jacir setzt. Genauer gesagt, ist dieses Gefüge in Bezug auf die filmische Wirkung der Installation und in Anlehnung an das im zweiten Kapitel anhand von Joreiges Videofilm A Journey erörterte Deleuzsche Konzept vom Zeit-Bild97 vom Durchdringen verschiedener Zeitschichten geprägt. Damit einhergehend äußert sich die Dialektik zwischen An- und Abwesenheit, Nähe und Distanz in den ersten beiden fotografischen Modi in der Präsenz der abgelichteten Objekte und Dokumente einerseits, deren Originale sich offensichtlich an einem anderen Ort befinden. Anderseits zeichnet sie sich in der performativen Wiedergabe von Jacirs Recherche ab – dem darin zum Ausdruck gebrachten Gefälle zwischen Gefundenem und Nichtauffindbaren sowie zwischen gemachten Erkenntnissen und enttäuschten Erwartungen. Mit der Präsentation historischer Fotos in Material for a Film erscheint diese Dialektik noch einmal gesteigert.98 Sie ziehen zunächst mit ihren verhältnismäßig großen Maßen und den visuell betonten haptischen 97 |  Siehe Kapitel II, S. 165 ff. 98 |  Diese Steigerung entsteht nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass es sich bei diesen Bildern um Reproduktionen von sich an einem anderen Ort befindlichen „Originalen“ handelt. Sie stammen ursprünglich aus den privaten Sammlungen von Venn-Brown und Zuaiters Schwester. Einige dieser Bilder befinden sich zudem im Archiv der Fondazione Lelio e Lisli Basso, einem Rechercheinstitut für Sozialwissenschaften in Rom. Venn-Brown übergab sie der Stiftung zu-

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Eigenschaften der ursprünglichen Bildträger rein optisch verstärkt die Aufmerksamkeit der Betrachter*innen auf sich. Das heißt, sie bringen ihnen die darauf abgebildeten Bildgegenstände nicht nur näher, sondern verfügen auch als Exponate an sich über eine erhöhte Strahlkraft. Darüber hinaus erhalten sie dadurch, dass auf den meisten von ihnen Zuaiters Antlitz zu sehen ist, eine besondere Anziehungskraft. Die historischen Fotos verleihen Zuaiter somit innerhalb der Installation trotzt seiner Abwesenheit eine konkrete bildliche Präsenz, mit welcher die Betrachter*innen nicht nur kontinuierlich konfrontiert werden, sondern die ihnen in Bezug auf das Schicksal Zuaiters „nahegehen“ muss. Im Gegensatz zum ersten Bild – dem Tatortfoto – blickt Zuaiter zudem aus den meisten anderen historischen Bildern heraus und die Betrachter*innen an. Mit diesem Blickwechsel, so möchte ich behaupten, manifestiert sich etwas, das über die Wahrnehmung oder das „Lesen“ einer Spur hinausgeht und in Anlehnung an Benjamins Aura-Begriff als ein „Bemächtigen“ oder Vereinnahmen der Betrachter*innen beschrieben werden kann: Denn „[d]ie Spur“, so Benjamin, „ist die Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.“99 Zeichnet sich laut Georges Didi-Huberman in Anlehnung an Benjamin und Jacques Lacan ein auratisches Objekt unter anderem durch das Vermögen des Blicks aus, „das der Blickende dem Angeblickten zuschreibt“100, und ist diese Zuschreibung, mit der Objekte gewissermaßen den Status von Subjekten erhalten, eine Grundlage für ästhetische Produktivität101, so geschieht bei der Betrachtung der Fotografien, auf denen Zuaiter lebend erscheint und „zurückblickt“, allerdings noch etwas anderes: Es spielt sich ein „Bemächtigen“ in Form eines Identifikationsprozesses ab, in dem sich die Betrachter*innen direkt zu Zuaiter in Beziehung setzen. sammen mit anderem Archivmaterial im Jahre 2000. Eine Auswahl dieser Bilder erscheint auch in Venn-Browns For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter. 99 |  Benjamin, Walter „Das Passagenwerk“, in: Schweppenhäuser, Hermann und Tiedemann, Rolf (Hg.) Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. V/2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 560. 100 |  Didi-Huberman, Georges Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München: Wilhelm Fink 1999, S. 135. 101 |  Vgl. Becker, Ilka Fotograf ische Atmosphären. Rhetoriken des Unbestimmten in der Zeitgenössischen Kunst, München: Wilhelm Fink 2010, S. 36.

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Während des Durchlaufens der Installation fungieren die einzelnen historischen Fotografien auch als visuelle Knotenpunkte, an denen sich an verschiedenen Stellen des Rundgangs die von den Betrachter*innen gemachten Eindrücke und Assoziationen etappenweise bündeln. Damit wird zugleich nicht nur ein aktives Erinnern in Gang gesetzt, sondern auch eine strukturale Verknüpfung der Fotografien zu den anderen nicht fotografischen Elementen der Installation bewerkstelligt. Oder anders ausgedrückt: Die Präsentation der vergrößerten historischen Fotografien erhält innerhalb von Material for a Film eine leitmotivische Funktion, die die Betrachter*innen sowohl räumlich als auch im Verhältnis zu ihrer beim Begehen der Installation gemachten Erfahrung beständig neu positioniert. Aus dieser Positionierung folgen gegebenenfalls auch die Schlüsse, die sie hinsichtlich Zuaiters Ermordung ziehen.102 Denn Jacir belässt diesen Fall weitestgehend ungelöst. Auf das Münchner Attentat, für das Zuaiter von der israelischen Regierung verantwortlich gemacht wurde, verweist sie in der Installation nur randläufig und zwar mit der Reproduktion von Zuaiters L’Espresso-Artikel, d.h. mit seinen eigenen Worten. Die Frage nach seiner Schuld bzw. Unschuld bleibt ungeklärt – genauso wie das eigentliche Motiv seiner Mörder. Aus der Gesamtheit des von Jacir gesammelten und präsentierten Materials ergibt sich somit keine Schlussfolgerung oder gar definitive „Wahrheit“.103 Material for a Film behält in Analogie zur filmischen Wirkung der Installation zunächst ein offenes Ende bei.

Ein Monument: Zuaiter als Märtyrer Trotz des „offenen Endes“ und des Interpretationsspielraums, den Material for a Film bietet, schafft die Installation ein „Bild“ von Zuaiter, das sich an das, welches sich die Betrachter*innen bei ihrer Begehung bzw. Erfahrung der Installation von ihm „machen“, unwiderruflich als eine maßgebliche Folie heftet. Dies hängt zwar in erster Linie davon ab, wie sehr die Betrachter*innen mit Jacirs Oeuvre vertraut sind. Wenn sie sich 102 |  Vgl. hierzu Burgio, Valeria „Emily Jacir, Material for a Film“, in: Migliore, Tiziana (Hg.) L’archivio del senso, Venedig: Biennale di Venezia 2007, S.131-149, hier S. 142. 103 |  Vgl. ebd., S. 139 f.

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allerdings im Klaren darüber sind, dass Jacir in ihrer Kunst beständig die Geschichte Palästinas sowie die gegenwärtige Situation des palästinensischen Volkes beleuchtet, wird für sie unverkennbar deutlich, dass die Künstlerin Zuaiter in Material for a Film durchaus die Züge eines Märtyrers verleiht.104 Sie stellt ihn als tragische, jedoch heroische – und damit letztlich ikonische – Figur heraus, wie es Venn-Brown bereits in Per un palestinese getan hat. So schreibt letztere in ihrer „Editor’s note“ des von ihr herausgegeben Buches: „Most of the martyrs of the world throughout history and in our own times, remain unknown or, at best, are soon forgotten. The Italian version of this book was first conceived in the hope that Wael Zuaiter would not fall into the same oblivion […].“105

Jacir verweist in Material for a Film damit auf einen essentiellen Topos des palästinensischen Widerstandes bzw. einer daran geknüpften Aufrechterhaltung des kollektiven palästinensischen Gedächtnisses. Sie übernimmt zumindest implizit die von Venn-Brown verwendete hagiografische Rhetorik, mit der auch Moravia sowie Petri und Pirro in Per un palestinese Zuaiter als einen Mann stilisieren, der sich für seine Überzeugung opferte.106 Somit ist Material for a Film nicht nur eine Installation mit Aus104 |  Vgl. Burgio, Valeria „Emily Jacir, Material for a Film“, in: Migliore, Tiziana (Hg.) L’archivio del senso, Venedig: Biennale di Venezia 2007, S.131-149, hier S. 134. 105 |  Venn-Brown, Janet „Editor’s Note“, in: dies. (Hg.) For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter, London/Boston: Kegan Paul International 1984, S. IX. 106 |  Bei Petrucci erscheint diese Analogie am deutlichsten. Er beendet seine Einleitung mit einem Auszug aus einem Brief, den Zuaiter kurz vor seinem Tod an die Leitung der Fatah schrieb: „I was thinking of leaving Rome, but now I hear that Golda Meir is threatening the Palestinians everywhere and have decided to remain.“ Vgl. hierzu Petrucci, Petrucci „Who was Wael Zuaiter? A Biographical Introduction“, in: Venn-Brown, Janet (Hg.) For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter, London/Boston: Kegan Paul International 1984, S. 1-10. In Relation zu der in Material for a Film vermittelten hagiografischen Rhetorik bezieht sich Valeria Burgio auch auf Michel de Certeaus These davon, dass im „hagiographischen Dokument“ die Verbindung von Handlungen, Orten und Themen auf eine eigene Struktur hin[weist], die sich nicht primär auf „das, was geschehen ist“, bezieht, wie es die Geschichte tut, sondern auf, „das, was

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stellungscharakter oder eine Vorlage für einen Film bzw. eine Installation mit filmischer Wirkung. Jacir schafft damit zudem ein Denkmal für Zuaiter, das ihn in seiner Rolle als politischen Aktivisten würdigt.107 Die Objekte und Dokumente sowie insbesondere jene Elemente der Installation, die ursprünglich aus Zuaiters Privatbesitz stammen, erhalten auf diese Weise den Charakter von Relikten – wenn nicht gar Reliquien – und die historischen Fotografien konkret eine gesteigerte Bedeutung als Memorabilia mit Affektpotential.108 Aber auch wenn Material for a Film als ein Zuaiter gewidmetes Denkmal oder Monument aufgefasst werden kann, macht dies aus der Installation noch lange kein Mausoleum. Denn durch das darin erzeugte Zusammenwirken von Spur und Aura kann sie in Verbund mit der Erfahrung der Betrachter*innen, d.h. deren performativem Hervorbringen109 nicht auf eine rein symbolische Aussage reduziert werden. Material for a Film ist vielmehr das Resultat einer Auffassung von Geschichte, die „Dokumente in Monumente transformiert,“ und welche, laut Foucault, „dort, wo man von den Menschen hinterlassene Spuren entzifferte […], eine Masse von Elementen entfaltet, die es zu isolieren, gruppieren, passend werden zu lassen, in Beziehung zu setzen und als Gesamtheit zu konstituieren gilt“.110 beispielhaft ist“. Certeau bemerkt in diesem Zusammenhang auch, dass in der Hagiografie das Ende den Anfang wiederholt, der Ausgang jener von Beginn an bekannt ist, was sich auch in Jacirs Installation mit der Tatortfotografie an der Öffnung zum Inneren der Installation, die zugleich Ein- und Ausgang ist, widerspiegelt. Vgl. hierzu Certeau, Michel de Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1991, S. 199 und S. 207. 107 |  Dies tut Jacir ebenfalls in Bezug auf den englischen Titel von VennBrowns Buch For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter. 108 |  Diese Gegenstände können demnach als (Körper-)Spuren und posthume (Kontakt-)Reliquien betrachtet werden, die stukturell mit den Prinzipien des Fotografischen koalieren. Vgl. dazu Sykora, Katharina Die Tode der Fotograf ie I. Totenfotograf ie und ihr sozialer Gebrauch, München: Wilhelm Fink 2009, S. 307 ff. 109 |  Vgl. Rebentisch, Juliane Ästhetik der Installation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 285. 110 |  Foucault, Michel Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 14-15. Laut Foucault „memorisierte“ die traditionelle Geschichtswissenschaft, „die Monumente der Vergangenheit“, transformierte sie in Dokumente, um

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Eben dies tut Jacir, wobei sie mit Bezug auf Zuaiters Biografie eine bis in die Gegenwart fortwirkenden Vergangenheit, die Geschichte der Palästinenser*innen und den sie bestimmenden Ausnahmezustand in diskursiver Form nachzeichnet und dabei wiederum als Quelle für die „Spurensuche“ und Interpretation der Betrachter*innen öffnet. „Diskursiv“ kann diese Vorgehensweise letztlich auch in Anspielung auf die Bedeutung der lateinischen Wurzel des Wortes bezeichnet werden. Denn ins Deutsche übersetzt heißt discursus soviel wie „Umherlaufen“ – ein Wortlaut der beinahe buchstäblich den Erinnerungsprozess erfasst, der mit der Bewegung der Betrachter*innen in bzw. durch Material for a Film einhergeht und das Gedenken an Zuaiter beharrlich „am Laufen“ hält.111 Ein Prozess, der vor allem durch die Bezugnahme auf die Fotografie Zuaiters „Wiederkehr“ ermöglicht. So schreibt Barthes: „Und was fotografiert wird, ist Zielscheibe, Referent, eine Art kleines Götzenbild, vom Gegenstand abgesondertes eidolon, das ich das spectrum der PHOTOGRAPHIE nennen möchte, weil dieses Wort duch seine Wurzel eine Beziehung zum

„diese Spuren sprechen zu lassen, die an sich oft nicht sprachlicher Natur sind oder insgeheim etwas anderes sagen, als sie sagen […]“. Sie verfügte demnach durch die Sprache über die Dinge. Sie erzählt historische Ereignisse nach und unterzieht sie dabei gleichzeitig einer Interpretation, die im Rückblick entweder die Gegenwart aufzuwerten versucht oder darauf abzielt, vormals zum Schweigen gebrachte Stimmen in den Dokumenten zu entziffern. Dieser Auffassung von Geschichte stellt Foucault in Archäologie des Wissens eine neue gegenüber, „die Dokumente in Monumente transformiert“. Wie die Archäologie behandelt sie „den Diskurs nicht als Dokument, [...] sie wendet sich an den Diskurs in seinem ihm eigenen Volumen als Monument. Es ist keine interpretative Disziplin, sie sucht nicht einen ‚anderen Diskurs‘, der besser verborgen wäre. Sie wehrt sich dagegen ‚allegorisch‘ zu sein.“ Vgl. ebd. und S. 198. 111 |  „Discursus“ kann im Deutschen allerdings auch mit „Auseinanderlaufen“ übersetzt werden, was bezüglich Material for a Film auch mit dem disparaten Charakter des gezeigten Materials bzw. der gezeigten „Spuren“ und mit der Diskontinuierlichkeit des bei der Begehung der Installation sich assoziativ zusammenfügenden Narratives korreliert.

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,Spektakel‘ bewahrt und ihm überdies den etwas unheimlichen Beigeschmack gibt, der jeder Photographie eigen ist: die Wiederkehr des Toten.“112

Die Tatortfotografie, die die Betrachter*innen beim Heraustreten aus Jacirs Installation schließlich wiederholt erblicken, verdeutlicht dies auf beinahe emblematische Weise. Denn darin verweisen Leichnam und Fotografie „demonstrativ auf die (Non-)Existenz ihres Bezugsobjekts. Sie sagen beide: „Sieh da, er/sie ist (nicht mehr) da!“113 Das heißt, trotz der Gewissheit, dass es sich bei dem Abgebildeten um einen Toten handelt, ein Faktum, den das Indexikalische der Fotografie unablässig bestätigt, wird der Index der Fotografie während der Bildbetrachtung zugleich zum Agenten für die Vergegenwärtigung des Verstorbenen.114 Denn im Bild von Zuaiters Leiche führt „eine doppelte – und daher intensivere – Spur vom Foto des Toten zurück auf den einstmals Lebenden“115; ein Vorgang der durch die weiteren Fotos der Installation, auf denen er lebendig zu sehen ist, zusätzlich vertieft wird.

Konfrontative Gratwanderung: Zwischen Idealismus und Ideologie Zusammenfassend betrachtet, geht die Erfahrung von Material for a Film folglich sowohl mit dem Umkreisen eines Tatbestandes als auch der Konfrontation mit einem historischen Ereignis und politischen Sachverhaltes, vor allem aber mit der Vergegenwärtigung oder „Wiederkehr“ Wael Zuaiters als (fotografisches) Bild einher. Dabei zielt Material for a Film 112 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 17. Im französischen Original heißt es anstelle von „die Wiederkehr des Toten“ „le spectre de la mort“, was den Bezug zum Unheimlichen noch stärker macht. Denn eine Fotografie bezeichnet demnach noch deutlicher eine Grenze zwischen Sein und Nicht-Sein. Ihre Betrachter*innen begegnen dem Tod in ihr konfrontativ, um zu erkennen, dass etwas zugleich tot und untod ist. Vgl. hierzu Sykora, Katharina Die Tode der Fotograf ie I. Totenfotograf ie und ihr sozialer Gebrauch, München: Wilhelm Fink 2009, S. 26. 113 |  Ebd., S. 40. 114 |  Vgl. ebd., S. 51. 115 |  Ebd., S. 41.

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nicht nur darauf ab, Zuaiters Lebensgeschichte bzw. seinen Tod als einen schwerwiegenden Verlust und Rückschlag für den palästinensischen Widerstand zu thematisieren. Jacir unterstreicht mit ihrer Installation zudem das Potential von Zuaiters Idealen für eine Bestärkung der palästinensischen Identität, geknüpft an eine Abkehr von Gewalt und der Schaffung eines Dialogs. In diesem Sinne bezeichnet sie ihre Installation selbst auch als „memorial to untold stories.“116 Anstatt nur zu „gedenken“ oder zu „ermahnen“, verleiht sie mit Material for a Film vielmehr der Hoffnung danach Ausdruck, dass diese „untold stories“ irgendwann erzählt werden, damit künftig eine heilsamere Geschichte geschrieben wird. Mit dem Denkmal und dem Tatort greift Jacir in Material for a Film zwei Motive auf, die sie zuvor ebenfalls in In this Building bzw. ihrer Gesamtinstallation in der Queens International Ausstellung verhandelte. Sowohl in Material for a Film als auch ihrer Arbeit im Queens Museum dient die Fotografie dem Aufzeigen eines Vergehens. Zudem wird sie bei beiden zur Bewerkstelligung eines aktiven Erinnerns eingesetzt, das in In this Building von einer dezidierten Ortspezifik forciert wurde, die bei Material for a Film zumindest im Rahmen ihrer erstmaligen Präsentation während der 52. Venedig Biennale 2007 gleichermaßen eine wesentliche Rolle spielte. Denn dort erhielt die Verhandlung von Zuaiters Mord in Rom hinsichtlich des damaligen und derzeitigen Verhältnis zwischen Italien und Palästina eine gesteigerte Brisanz: „[M]y piece“, erwähnt die Künstlerin dazu in einem Interview, „is also about Italy, about a particular time in Italian history when, unlike today, leftist politics and support for Palestine was strong. That is one of the reasons why it is such an exciting project in the context of Venice, because this is also an Italian history.“117

In diesem Zusammenhang weist sie mit Material for a Film nicht zuletzt darauf hin, dass die Ermordung von Zuaiter nur eine von vielen von der israelischen Regierung autorisierten Liquidierungen von Palästinenser*innen in Europa war – ein brisanter Sachverhalt insbesondere angesichts 116 |  Vali, Murtaza „All that Remains. Emily Jacir“, in: ArtAsiaPacif ic, Issue 54, July/August 2007, http://artasiapacific.com/Magazine/54/AllThatRemains EmilyJacir [eingesehen am 05.07.16]. 117 |  Ebd.

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dessen, dass die Täter*innen (ganz zu schweigen von den Auftraggeber*innen) niemals dafür zur Rechenschaft gezogen wurden.118 Material for a Film kann demnach als eine Reevaluation der „Akte“ Zuaiter und als ein Plädoyer für Gerechtigkeit erachtet werden. Jacir macht damit aber ebenso auf die Ausbreitung des Ausnahmezustandes aufmerksam119, der sich laut Agamben „in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens [erweist]“.120 So heben Material for a Film sowie bereits In this Building auch unabhängig von deren Ortsspezifika die Tatsache hervor, dass eine Auseinandersetzung mit Geschichte in unserem globalen Zeitalter nicht mehr isoliert und beschränkt auf etwaige Territorien, Nationalstaaten und in Hinblick auf den Antagonismus zweier Parteien erfolgen kann. In Material for a Film bringen die Zeilen von Francis Thompson „That thou canst not stir a flower / Without troubling of a star“, welche Zuaiter in seinem L’Espresso-Aufsatz zitiert und Jacir prominent am Ende des Installationsparcours wiedergibt, vielmehr eine Verwobenheit von Geschichte in einer poetischen Form auf den Punkt. Gleichzeitig schwingt darin ein idealistischer Unterton mit, der die Poesie und die Kunst im Allgemeinen als Mittel für die Wahrung von Gedächtnis, vor allem aber als Mittel der Verständigung postuliert. Damit wirft Jacirs künstlerisches Schaffen jedoch auch die Frage nach dem ideologischen Fundament von (künstlerischer) Repräsentation auf. So thematisiert sie konkret in Material for a Film und In this Building verschiedene Instanzen, die die Palästinenser*innen zu unterschiedlichen Zeitpunkten sowie politischen Rahmenbedingungen – und wohlgemerkt von höchst divergierenden Interessen geleitet – repräsentier(t)en. Indem sie in Material for a Film zudem ihre eigene Biografie in Bezug zu der 118 |  Vgl. hierzu: „Appendix I. Court judgement published after the trail of the Israeli secret service agents acused of complicity in Wael Zuaiter’s assassination“, in: Venn-Brown, Janet (Hg.) For a Palestinian. A Memorial to Wael Zuaiter, London/Boston: Kegan Paul International 1984, S. 204-212. 119 |  Aber auch ihre Londoner Präsentation von Material for a Film, auf die ich mich in meinen Untersuchungen beziehe, wieß eine gewisse Ortsbezogenheit auf. Jacir weitete dort die Kontextbezogenheit der Installation im Rahmen ihrer thematischen Schau Europa auf den europäischen Raum und dementsprechende politische Verknüpfungen aus. 120 |  Agamben, Giorgio Ausnahmezustand, Homo sacer II.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 9.

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Zuaiters als Repräsentant des palästinensischen Widerstandes stellt, reflektiert sie implizit ihre Rolle bzw. die ihrer Kunst als eine solche Instanz mit. Zwar vermeidet sie es, sowohl bei Material for a Film als auch bei In this Building diesbezüglich eine definitive Sichtweise zu vermitteln, indem sie die Betrachter*innen anregt, sich dazu in Beziehung zu setzen und sie in den Akt der Repräsentation miteinschließt.121 Dennoch droht auch bei diesem – letztlich von der Künstlerin gesteuerten – Inbezugsetzen unweigerlich die Gefahr, dass das Idealistische ins Ideologische und unter Umständen ins Agitatorische kippt. Dazu trägt potentiell in beiden Installationen die Fotografie bei. Denn durch Jacirs Verwendung historischer Fotografie in In this Building und Material for a Film verhärtet sich ihr intendierter offener Ansatz nicht unbeträchtlich. Sie beruft sich dabei nämlich vorrangig auf die von dem Medium erzeugte Evidenz und spricht der Fotografie damit weitgehend ungebrochen eine (faktische) Autorität zu, um in letzter Konsequenz ihrer eigenen Rhetorik Schlagkraft zu verleihen. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Yasmine Eid-Sabbagh sich explizit mit dieser Gratwanderung zwischen Idealismus und Ideologie, Präsentation und Repräsentation im Rahmen ihres Projektes A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp auseinandersetzt.

121 |  Bereits bei der Entstehung ihrer Werke – wie zum Beispiel bei dem kollektiven Besticken des Zeltes von Memorial to 418 Palestinian Villages Destroyed, Depopulated, and Occupied by Israel in 1948 – schlägt sich dies oftmals in einem partizipatorischen Ansatz nieder. Vgl. hierzu Morton, Stephen „The Palestinian State of Emergency and the Art Practice of Emily Jacir“, in: Lichtenfels, Peter und Rouse, John (Hg.) Performance, Politics and Activism, Hampshire/New York: 2013, S. 167-177.

Yasmine Eid-Sabbagh

10. E in kontinuierliches „V erhandeln “: Yasmine E id -S abbaghs A P hotographic C onversation from B urj al-S hamali C a mp (2001- fortl aufend) Yasmine Eid-Sabbaghs A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp ist ein vielschichtiges Projekt, aus dem bis heute verschiedene Präsentationsformate wie Publikationen, Ausstellungen und performative Interventionen hervorgegangen sind. Es ist ein Projekt, dass ebenso gut als Prozess bezeichnet werden kann, der künstlerische Ansätze mit anthropologischen, partizipatorischen und archivarischen Methoden verbindet und den Eid-Sabbagh selbst unter dem Begriff „Artistic Research“ fasst.122 Ausgehend von einer Reihe von Fotografie-Workshops mit Kindern und Jugendlichen in mehreren Flüchtlingscamps im Libanon, durchlief diese künstlerische Forschung bis zum heutigen Zeitpunkt mehrere Entwicklungsstadien. Diese reichen von einer Fokussierung auf Burj al-Shamali bis hin zu einem fünfjährigen Aufenthalt in diesem Flüchtlingslager, dem Sammeln von Digitalisaten historischer Fotografien und einer derzeitigen künstlerisch-theoretischen Reflektion im Rahmen des Promotionsprogramms „PhD in Practice“ an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Dementsprechend zielt das Projekt vorrangig auf eine Produktion von Wissen als auf eine Produktion von unter einem konventionellen Werkbegriff fassbaren und vermarktbaren Objekten. Selbst ihre performativen Interventionen, die die Betonung auf das Ephemere noch verstärken, bezeichnet Eid-Sabbagh in diesem Zusammenhang bewusst nicht als Performances sondern, als „Rehearsals“. Sie beschäftigt sich darin mit der Fotografie als historischem Zeugnis und persönlicher Erinnerungsstütze, d.h. mit ihrer Reproduzierbarkeit und Diskursivität einerseits und ihrer Einzigartigkeit in Bezug auf individuelle Erfahrungen und Affekte andererseits. Genauer tut sie dies anhand verschiedener antagonistischer Konzepte wie Material und Entmaterialisierung, Bildlichkeit und Abstraktion, Zeigen und Nicht-Zeigen. Liegt dem gesamten Projekt das Prinzip der Konversation zu Grunde, so dienen Eid-Sabbagh jene Gegensätzlichkeiten als Ausgangspunkte für ein kontinuierliches Verhandeln; ein Verhandeln der Bedeutung der Fotografie, aber auch Eid-Sabbaghs eigener Position in- und außerhalb des Camps, 122 |  Zum Begriff der künstlerischen Recherche siehe Kapitel I, S. 49, FN 28.

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das wiederum zu einem fortwährenden Gedanken- und Meinungsaustausch mit den Betrachter*innen bzw. ihrem Publikum anregen soll. Sie verfolgt damit einen künstlerischen Ansatz, den der Kunsthistoriker Grant H. Kester auch als einen dialogischen charakterisiert. Dieser Ansatz erzeugt, so Kester, soziale Interaktionen – „a locus of discursive exchange and negotiation“123 – innerhalb einer sozialen Gruppe, um eine „intersubjective vulnerability“124 auszulösen und „fixed identities“ sowie „stereotypical images“125 zu hinterfragen. Dabei sind für Eid-Sabbagh dieser Prozess und diese Interaktion konkret von einer Reevalierung visueller Repräsentation bestimmt, an die sie Überlegungen darüber knüpft, wie und ob eine solche Reevalierung erfolgen kann, ohne dass sie zugleich Identitätszuschreibungen und stereotype Bilder (re-)produziert. Eid-Sabbagh versucht laut einer von ihr selbst verfassten Beschreibung von A Photographic Conversation... zu ergründen, wie sie die von ihr gesammelten und die im Rahmen ihrer Workshops entstandenen Bilder sichtbar machen kann, ohne sie öffentlich zu machen. Zugleich will sie die „iconography of the Palestinian refugee created through images mainly produced by the United Nations Relief and Work Agency (UNRWA) and the Palestine Liberation Organisation (PLO)“ in ein kritisches Licht rücken.126 Damit einhergehend beleuchtet A Photographic Conversation... die Faktoren der Entstehung des Flüchtlingslagers und die Gründe seines Fortbestehens, so dass das Projekt in seiner Gesamtheit sowohl die Geschichte Burj al-Shamalis als auch die aktuelle Situation seiner Bewohner*innen thematisiert. Eid-Sabbagh stellt auf diese Weise zudem die politische Tragweite eines kollektiven Gedächtnisses für die Affirmation palästinensischer Identität heraus. In erster Linie geht es ihr in A Photographic Conversation... jedoch darum, die Rolle und das Handlungsvermögen des Einzelnen innerhalb einer Gemeinschaft zu hinterfragen. Sie tut 123 |  Kester, Grant H. Conversation Pieces. Community and Communication in Modern Art, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2004, S. 10 und S. 12. 124 |  Ebd., S. 151. 125 |  Ebd., S. 12. 126 |  Siehe Eid-Sabbaghs Projektbeschreibung zum Anlass ihrer Lecture Performance 23' während des Symposiums It Makes us Think of a Dance and a Fête as Much as of War (On Violence) 2014 in Dublin: http://www.eva.ie/alfdublin-yasmine-eid-sabaggh [eingesehen am 10.07.16].

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dies, indem sie die Besonderheiten und Idiosynkrasien im Hinblick auf die Erinnerungen, Wünsche und Erwartungen einiger Protagonist*innen unterschiedlicher Generationen ins Zentrum ihrer Betrachtungen rückt. Hasna Abou Kharoub, eine ältere, mittlerweile verstorbene Campbewohnerin, ist zum Beispiel eine von ihnen, sowie Yasser Ibrahim und Fatmeh Soleiman, die bereits 2001 als Teenager an Eid-Sabbaghs Workshops teilnahmen. Im Folgenden werde ich Eid-Sabbaghs Darstellung ihrer Beziehungen zu einigen dieser Protagonist*innen diskutieren bzw. darlegen, wie sie sich über die gemeinsame Betrachtung von und den gegenseitigen Austausch über Fotografien hinweg entwickelten. In Anbetracht dessen, dass es sich bei A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp um kein abgeschlossenes Projekt handelt, möchte ich dabei dessen Prozesshaftigkeit genauer betrachten. Zudem werde ich die sozialen Dynamiken, die sich darin abzeichnen, in Zusammenhang mit Eid-Sabbaghs Methoden untersuchen, die ihrer künstlerischen Recherche zu Grunde liegen. Abschließend gehe ich anhand von 35', einem ihrer „Rehearsals“, genauer auf die Frage der darin adressierten Problematik der (Re-)Präsentation ein.

„Zone der Ununterscheidbarkeit“: How Beautiful is Panama! (2008) Das palästinensische Flüchtlingslager Burj al-Shamali liegt drei Kilometer süd-östlich der libanesischen Stadt Tyr (Sour). Im Zuge des ersten arabisch-israelischen Krieges 1948 wurde es zunächst als Zeltlager errichtet, um ursprünglich 7000 Menschen temporären Unterschlupf zu gewähren und humanitäre Hilfe zu leisten.127 Heute – nach mehr als 60 Jahren – leben dort fast 20.000 Menschen auf einer Fläche von weniger als 127 |  Der Migrationsforscher Mohammed Kamel Doraï gibt an, dass das Camp 1949 in der Nähe seines jetzigen Standortes errichtet wurde. Die UNRWA begann erst 1955 die dort untergebrachten Flüchtlinge zu versorgen. Vgl. hierzu: Doraï, Mohammed Kamel „Aux marges de la ville, les camps de réfugiés palestiniens à Tyr“, in: Outre-Terre – Revue française de géopolitique, 2006, S. 373-389, hier S. 381 sowie die Homepage der UNRWA: http://www.unrwa.org/where-wework/lebanon/camp-profiles?field=15 [eingesehen am 10.07.16].

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zwei Quadratkilometern, auf der mittlerweile eine feste Infrastruktur aus Ein- und Mehrfamilienhäusern errichtet wurde, zu der u.a. auch mehrere Moscheen und Gemeindezentren gehören. Das Flüchtlingslager ist damit zu einer institutionalisierten Form dessen geworden, was Agamben als „Zone der Ununterscheidbarkeit“ bezeichnet – ein durch einen permanenten Ausnahmezustand geschaffener Raum, in dem „Politik zur Biopolitik wird“ und die Grenzen zwischen „nacktem“, schutzlosem Leben und Menschenwürde verschwimmen.128 Denn die meisten Bewohner*innen von Burj al-Shamali leben unter äußerst prekären Bedingungen. Ihr Flüchtlingsstatus gewährt ihnen so gut wie keine Grundrechte im Libanon. Ihnen ist es zum Beispiel nicht gestattet, insgesamt mehr als 70 Berufe, vor allem im Bereich der Medizin, des Rechts und des Ingenieurwesens auszuüben. Ebenso ist es ihnen untersagt, Grundstücke und Immobilien zu erwerben. Sie haben kein Anrecht auf das libanesische Gesundheitswesen und nur beschränkte Bewegungsfreiheit in- und außerhalb des Landes.129 Die Arbeitslosenquote im Camp liegt bei etwa 65 Prozent bei Männern und 90 Prozent bei Frauen. Zudem sind die Gebäude in Burj al-Shamali in einem überwiegend desolaten 128 |  Als „nacktes Leben“ bezeichnet Agamben die außerhalb des Rechts stehende, entpolitisierte, bloß leibliche Existenz, die schutzlos dem über den Ausnahmezustand verfügenden und entscheidenden Souverän ausgeliefert ist. Vgl. Agamben, Girgio Homo sacer. Die souveräne Macht und das Nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 179-180. 129 |  Gründlichere Untersuchungen zur Situation der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon bieten zum Beispiel: Sayigh, Rosemary The Palestinians. From peasants to revolutionaries, London/New York: Zed Books 2007; dies. Too many enemies. The Palestinian Experience in Lebanon, London/New York: Zed Books 1994; Doraï, Mohammed Kamel Les réfugiés palestiniens du Liban. Une géographie de l’exil, Paris: Éditions du CNRS 2006; Peteet, Julie M. Landscape of Hope and Despair. Palestinian Refugee Camps, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2005 sowie Allan, Diana Refugees of the Revolution. Experiences of Palestinian Exile, Stanford CA: Stanford University Press 2013. Diana Allan ist auch die Initiatorin des Nakba Archive, einer Onlinedatenbank von Videointerviews, die Allan und andere Anthropolog*innen mit palästinensischen Flüchtlingen der ersten Generation führten. Einige davon sind auch Einwohner*innen Burj al-Shamalis. Siehe hierzu: http://www.nakba-archive.org [eingesehen am 10.07.16].

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Zustand. Es herrscht eine kontinuierliche Wasserknappheit. Und auch wenn tägliche Stromausfälle im gesamten Libanon nicht unüblich sind, kommen sie in Burj al-Shamali besonders häufig vor und dauern unverhältnismäßig lang. Trotz oder gerade aufgrund dieser Umstände konstituiert das Camp, laut Julie Peteet, jedoch ein „potent political field in which to organize and express national identity and sentiment“.130 Burj al-Shamali ist zudem ein Ort, an dem ein kollektives palästinensisches Gedächtnis gewahrt wird – einerseits durch Traditionen und familiäre Bindungen, anderseits etwa dadurch, dass einzelne Abschnitte des Camps nach palästinensischen Dörfern und Ortschaften benannt sind, aus denen die dort ansässigen Familien stammen.131 Das Flüchtlingslager ist nach Peteet somit ebenfalls ein „memoryscape and a practical spatial enactment of the lost homeland“ sowie eine Bastion des Beharrens auf das Rückkehrrecht seiner Bewohner*innen132, wodurch es schließlich jedoch auch ein mittlerweile scheinbar unlösbar gewordenes Dilemma symbolisiert: Denn die palästinensischen Flüchtlinge sind, so Peteet, „neither here nor there in terms of belonging; whether in Palestine or outside it, Palestinians are aliens“. Sie leben in einer Art Niemandsland „– a vulnerable betwixt and between – without the assumed comforts and ease of being at home“.133

130 |  Peteet, Julie M. Landscape of Hope and Despair. Palestinian Refugee Camps, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2005, S. 94. Das Camp wird abgesehen von der Administration durch die UNRWA und den Fördermaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen von lokalen und palästinensischen politischen Organisationen verwaltet, die teilweise gegensätzliche politische Agenden verfolgen, was das von Peteet beschriebene „politische Feld“ durchaus komplex und konf liktgeladen macht. 131 |  Vgl. Peteet, Julie M. Landscape of Hope and Despair. Palestinian Refugee Camps, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2005, S. 95. 132 |  Ebd., S. 95 und S. 225. 133 |  Ebd., S. 95 und S. 224. Peteet bezieht sich hier auf eine Passage aus dem Band Memory for Forgetfulness: August, Beirut, 1982 des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish, in der er schreibt: „,You’re aliens here,‘ they say to them there. ,You’re aliens here,‘ they say to him here.‘“ Siehe: Darwish, Mahmoud Memory for Forgetfulness: August, Beirut, 1982, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1995, S. 13.

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Eid-Sabbagh, 1980 in Paris geboren, kam zum ersten Mal im Sommer 2001 nach Burj al-Shamali. Zu dieser Zeit noch Geschichtsstudentin an der Universität Paris-Sorbonne, organisierte sie dort sowie in fünf weiteren Flüchtlingslagern im Libanon eine Reihe von Workshops, im Rahmen derer sie Kindern und Jugendlichen analoge Einwegkameras aushändigte, mit denen sie selbstbestimmt ihren Alltag festhalten konnten. Dieses Prinzip der partizipativen Fotografie – auch „Photovoice“ genannt – wurde seit den 1990er Jahren vermehrt in den Sozialwissenschaften als Recherchemethode eingesetzt. Es sollte zudem den untersuchten Personen die Möglichkeit bieten, eigenständig auf soziale Missstände aufmerksam zu machen und damit aktiv an einem sozialpolitischen Diskurs teilzunehmen, von dem sie zuvor weitgehend ausgeschlossen waren.134 Als eine Alternative zum Blick des Außenseiters, der oftmals stereotype Darstellungen prekärer Situationen und menschlichen Leidens generiert, fand die partizipative Fotografie daraufhin auch unter Journalist*innen und Künstler*innen Anwendung.135 Der demokratische Grundgedanke dieses Prinzips wird allerdings nicht selten verkehrt, indem die Initiator*innen solcher Projekte einen kontrollierenden Einfluss auf die Rezeption der dabei produzierten Bilder ausüben. Denn es liegt schließlich an ihnen, 134 |  Vgl. hierzu Wang, Caroline C. und Burris, Mary Ann „Photovoice: Concept, Methodology, and Use for Participatory Needs Assessment“, in: Health Education and Behavior, 23, June 1997, S. 369-387. Die amerikanische Künstlerin Wendy Ewald wandte allerdings eine ähnliche partizipative Methode bereits seit den 1960er Jahren an. Auch Psychologen arbeiteten seit den 1980er Jahren unter den Begriffen „self-directed photography“, „autophotography“ oder „Fototherapie“ mit diesem Ansatz. Vgl. hierzu: Ewald, Wendy Secret Games. Collaborative Works with Children, 1969-1999, Zürich/Berlin/New York: Scalo 2000 sowie Fairey, Tiffany Whose Pictures Are These? Re-framing the promise of participatory photography, Dissertation, Goldsmiths University, 2015, S. 11. 135 |  Beispiele dafür wären Jim Hubbards Shooting Back. A Photographic View of Life by Homeless Children (1991), Lana Wongs Shootback. Photos by Kids from the Nairobi Slums (1999), Bernard Faucons Le Plus Beau Jour De Ma Jeunesse (2000) und Ramzi Haidars Lahza (2008). Vgl. hierzu auch: Eid-Sabbagh, Yasmine De la collaboration en photographie. Approche critique de la photographie participative, Mémoire de fin d’études, Supérieure Louis-Lumière, Paris, 2005, http:// www.ens-louis-lumiere.fr/fileadmin/recherche/Eid-Sabbagh-photo2005-mem. pdf [eingesehen am 10.07.16].

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die Fotografien ihrer Teilnehmer*innen zu entwickeln, zu bearbeiten, zu kontextualisieren und zu veröffentlichen. Aus diesem Grund war es für Eid-Sabbagh wichtig, mit den Kindern und Jugendlichen über ihre Fotos zu sprechen, nachdem sie die Filme entwickelt hatte, die sie von ihnen erhielt. Denn der Künstlerin fiel auf, wie sie, anstatt entsprechend ihres jungen Alters spielerisch mit den Kameras umzugehen, sie sehr gezielt als Mittel der Dokumentation einsetzten. Eid-Sabbagh beschloss dieser Beobachtung genauer auf den Grund zu gehen, was der Ausgangspunkt für A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp werden sollte. So stellte sich in den Unterhaltungen mit den Mädchen und Jungen heraus, dass sie zuvor im Rahmen ähnlicher partizipativer Projekte im Umgang mit Fotokameras geschult und dazu angehalten wurden, beim Fotografieren möglichst Motive einzufangen, die ihre prekären Lebensumstände in den Flüchtlingslagern entsprechend drastisch darstellten. In Anbetracht dessen entschied sich Eid-Sabbagh, die partizipative Fotografie einer grundlegenden Neubewertung zu unterziehen. Sie betrachtete die Art und Weise, wie die partizipative Fotografie in soziale Bereiche einzudringen vermochte, ohne dass dabei tatsächlich ein fundierter Austausch mit dessen Teilnehmer*innen stattfand, in einem zunehmend kritischeren Licht.136 Dennoch sah sie in der Methode immer noch eine Möglichkeit, um damit einen kreativen Prozess innerhalb einer Gemeinschaft in Gang zu setzen. Überzeugt davon, dass allerdings nur ein nachhaltig engagierter, vor allem aber dialogischer Austausch der partizipativen Fotografie wirklich 136 |  Eid-Sabbagh untersucht diese Beziehung zwischen Vermittler*innen und Teilnehmer*innen auch in ihrer Masterarbeit. In Hinblick auf den Aspekt der Beteiligung betont sie schließlich, dass es wichtig wäre, zwischen partizipativen und „kollaborativen“ Projekten zu unterscheiden: „Dans un processus participatif, le photographe garde son autorité, il est auteur, il impose des choix alors que le rôle du participant reste cantonné à la prise de vue. La collaboration cherche au contraire à partager les différentes étapes de création de l’image, que ce soit la technique (dans un processus de production artisanale) ou la sémantique (dimension artistique et signification des photographies).“ Siehe: Eid-Sabbagh, Yasmine De la collaboration en photographie. Approche critique de la photographie participative, Mémoire de fin d’études, Supérieure Louis-Lumière, Paris, 2005, S, 107, http://www.ens-louis-lumiere.fr/fileadmin/recherche/ Eid-Sabbagh-photo2005-mem.pdf [eingesehen am 10.07.16].

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Abbildung 21: Fatmeh Soleiman, Racha Moussa Mohammad (Saadnayel, 1987) – A Series, 2007-2008

Sinn verleihen könne, entschied sie sich 2005 in den Libanon zurückzukehren. Dort sollte sie die nächsten vier Jahre in Burj al-Shamali verbringen, wo sie zunächst erneut begann, mit den Mädchen und Jungen, die bereits 2001 an ihrem ersten Workshop teilnahmen, zusammen zu arbeiten. Anstelle von Einwegkameras erhielten sie diesmal automatische Kleinformatkameras. Zudem richtete Eid-Sabbagh mit ihnen gemeinsam ein Atelier in der kommunalen Begegnungsstätte des Camps Beit Atfal Assoumoud ein, wo sie sich regelmäßig trafen und sich gegenseitig ihre Fotografien zeigen und untereinander besprechen konnten. Über die Jahre hinweg entfaltete sich so ein Prozess, in dem die Jugendlichen ihre persönlichen Interessen und Ambitionen, aber auch Sorgen und Ängste zum Ausdruck brachten und zugleich ihre eigene visuelle Sprache entwickelten.

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Fatmeh Soleiman zum Beispiel porträtierte ihre Freund*innen in der Pose der palästinensischen Comicfigur Handala: Sie stehen ihren Rücken der Kamera zugewendet vor den Mauern, die das Flüchtlingslager umgeben [Abb. 21]. Ali al-Ali dokumentierte den Bau einer Moschee im Camp [Abb. 22] und Yasser Ibrahim fotografierte die Einwohner Burj al-Shamalis, die die Nakba erlebten [Abb. 23]. 2008 zeigten sie und die anderen Teilnehmer*innen Eid-Sabbaghs Projektes137 diese Fotos schließlich im Rahmen der Ausstellung How Beautiful is Panama!138, die zugleich die erste öffentliche Präsentation eines Aspekts von A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp war.139

„Sense of place“ und Krise der Repräsentation: Methodische Grundlage Während ihres vierjährigen Aufenthalts in Burj al-Shamali lebte Eid-Sabbagh mit einer Familie, die sie im Laufe der Zeit zunehmend wie ein Familienmitglied behandelte. Dies ermöglichte es ihr, neben der Zusammenarbeit mit den Kindern und Jugendlichen in engeren Kontakt mit anderen Familien und Campbewohner*innen zu treten und digitale Reproduktionen von historischen Fotografien zu erstellen, die sich in deren Besitz befanden. Auf diese Weise schuf die Künstlerin ein digitales 137 |  Weitere Teilnehmer*innen an Eid-Sabbaghs Workshops waren Mohamad Amuniy, Ahmad al-Khalil, Susan al-Khatib und Nesreen Musherfih. 138 |  Der Titel ist eine Referenz zur Geschichte Oh, wie schön ist Panama (1978) des deutschen Kinderbuchautoren Janosch. 139 |  Die Ausstellung wurde in vier verschiedenen palästinensischen Flüchtlingscamps im Libanon und Jordanien während des Gobi Mela Photography Festivals in Dakha und im Makan House of Expression in Amman gezeigt. EidSabbagh führte die Zusammenarbeit mit den Kindern und Jugendlichen auch im Anschluss der Ausstellung weiter. Im Rahmen von A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp haben die Mädchen und Jungen im Verlauf von fast neun Jahren mehr als 10.000 Fotografien produziert. Diese Fotos bieten in ihrer Gesamtheit ein komplexes Bild ihrer Jugendzeit und davon, wie sie sich auf unterschiedliche Weise mit den gesellschaftspolitischen Umständen innerhalb des Lagers bzw. ihrem Status als palästinensische Flüchtlinge im Libanon auseinandersetzen.

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Archiv von mehr als 2000 Studioporträts und Schnappschüssen, das eine Zeitspanne von 1947-1990 umfasst.140 Angesichts des hermetischen Gemeinschaftsgefüges von Burj al-Shamali, das seine Bewohner*innen größtenteils durch Verwandtschaftsbeziehungen miteinander verbindet, war dies kein leichtes und vor allem ein langwieriges Unterfangen. Tatsächlich spielte Zeit bzw. die Dauer von Eid-Sabbaghs Aufenthalt im Camp für die Entfaltung der Photographic Conversation eine wesentliche Rolle: „I think that time is an essential factor of this project and the whole work process. Everything that happened in the frame of this project, to myself and to other people involved, would not have been possible if we wouldn’t have been so generous with our time. It is very difficult to speak about the component that time is as it is very abstract, but I think that time and the physical presence of us all together in the same space has produced something. Something that is not necessarily material; some sort of creative dynamic.“141

Eid-Sabbagh passte sich während ihres Aufenthaltes in dem Camp weitgehend an die Konventionen der Gesellschaft Burj al-Shamalis an. Sie entwickelte einen „sense of place“, der gemäß der Kunsttheoretikerin Lucy Lippard die Vorraussetzung für eine „virtual immersion that depends on lived experience and a topographical intimacy“ ist.142 Dieser „sense of place“ ist an eine gesteigerte Sensibilität gegenüber ortsgebundener individueller und kollektiver Identität geknüpft und verlangt nicht 140 |  Ab 2007 erhielt Eid-Sabbagh auch finanzielle und logistische Unterstützung durch die Arab Image Foundation, der sie ein Jahr später als vollwertiges Mitglied beitrat. How Beautiful is Panama! wurde darauf hin auch unter der Schirmherrschaft der AIF präsentiert. Was die Erstellung der Sammlung von Fotografien aus dem Camp betrifft, verfuhr Eid-Sabbagh allerdings unabhängig von der AIF- Mission, physische Objekte wie fotografische Abzüge, Negative und Glasplatten zu bewahren. Außerdem sind ihre digitalen Reproduktionen historischer Fotografien nicht Teil der AIF-Sammlung. 141 |  Eid-Sabbagh zitiert nach Berndt, Daniel „In/distinction. On Yasmine Eid-Sabbagh’s A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp“, in: al-raida, Issue 141-142, Spring/Summer 2013, S. 37-45, hier S. 42 f. 142 |  Lippard, Lucy R. The Lure of the Local. Senses of Place in a Multicentered Society, New York: The New Press 1998, S. 33.

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Abbildung 22: Ali al-Ali The Mosque, 2005-2008

nur nach einem fundierten Grundwissen über den Ort und seine Bewohner*innen, sondern auch nach „a great deal of walking ‚in the field‘“.143 Anders als die traditionelle ethnologische Feldforschung, die auf eine Gewinnung „neutraler“ Daten abzielt,144 ist dieses „walking ‚in the field‘“ im Rahmen von Eid-Sabbaghs künstlerischer Praxis jedoch als ein bewusst subjektives Unterfangen zu verstehen. Jedenfalls ging es der Künstlerin während ihres Aufenthaltes im Camp nicht darum, eine objektivierende Interpretation der dortigen Gesellschaft zu formulieren. Auch wenn ihr Vorgehen zunächst der Methode der teilnehmenden Beobachtung glich, entwickelte sie jener gegenüber – wie zuvor gegenüber der partizipativen Fotografie – eine äußerst kritische Haltung. Ihre Vorbehalte galten insbesondere dem paradoxalen Verhältnis zwischen Teilnahme und „wissenschaftlicher“ Distanzierung, welches oftmals dazu führt, dass ein 143 |  Lippard, Lucy R. The Lure of the Local. Senses of Place in a Multicentered Society, New York: The New Press 1998, S. 33. 144 |  Für eine eingängige Untersuchung und Kritik des „klassischen“ von Bronisław Malinowski entwickelten Prinzips der Feldforschung bzw. der „teilnehmenden Beobachtung“ siehe: Fuchs, Martin und Berg, Eberhard „Phänomenologie der Differenz. Ref lexionsstufen ethnographischer Repräsentation“, in: dies. (Hg.) Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 11-108, hier S. 24-38.

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Abbildung 23: Yasser Ibrahim, Alia Ali alHajj (Naameh, 1922) – A Series, 2007-2010

soziales Gefüge unter generalisierenden Gesichtspunkten „zusammengefasst“, d.h. gesellschaftsinterne sowie gesellschaftsexterne Differenzen aufgelöst werden.145 Eid-Sabbagh konterkariert diesen Ansatz auch nach Beendigung ihres Aufenthaltes in Burj al-Shamali vor allem, indem sie den Standpunkten bestimmter Individuen bzw. ihrer eigenen Beziehung zu einzelnen Personen innerhalb der Gemeinde Burj al-Shamalis einen zentralen Stellenwert zukommen lässt. Anstatt auf Beobachtung setzt sie in ihrer Photographic Conversation vielmehr auf die kommunikative Interaktion mit mehreren spezifisch situierten Personen. Durch diese po145 |  Fuchs, Martin und Berg, Eberhard „Phänomenologie der Differenz. Ref lexionsstufen ethnographischer Repräsentation“, in: dies. (Hg.) Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 11-108, hier S. 18.

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lyphone Dezentrierung versucht sie, so gut es geht, reduktionistischen Darstellungen entgegenzuwirken und damit die Verabsolutierung einer Perspektive zu vermeiden.146 Sie reflektiert dabei gleichzeitig ihre eigene Rolle als Übersetzerin, Sprecherin oder Chronistin, in der sie die Rollen der „Anderen“ potentiell konstruiert und wohlmöglich auch festschreibt. Um eine damit zwangsläufig einhergehende Subjekt-Objekt-Polarisierung und das daraus resultierende Machtgefälle zumindest einzudämmen, gibt sie den Aussagen und Gesten der Anwohner Burj al-Shamalis den Vorrang, so dass sie für sich selbst zu sprechen vermögen. Das heißt, anstatt durch die monologische Interpretation ihrer Begegnungen und Gespräche sowie einer Evaluation der Lebensbedingungen in Burj al-Shamali eine Repräsentation palästinensischer Flüchtlinge zu erzeugen, verfolgt Eid-Sabbagh mit A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp vielmehr das Anliegen, Individuen, deren persönliche Schicksale und Wünsche in Anbetracht ihrer Situation, in der sie sich aufgrund ihres Flüchtlingsstatus befinden, präsent zu machen.147 Zielt auch die heutige „(selbst-)kritische Ethnologie“148 weitestgehend darauf ab, „positives Wissen über Andere zu erlangen, ihre Diskurse im eigenen zum Sprechen zu bringen, kurz: die Differenz in einer Sprache 146 |  Fuchs, Martin und Berg, Eberhard „Phänomenologie der Differenz. Ref lexionsstufen ethnographischer Repräsentation“, in: dies. (Hg.) Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 11-108, hier S. 87. 147  |  Zum Verhältnis zwischen Präsenz und Präsentation siehe: Fabian, Johannes „Präsenz und Repräsentation. Die anderen und das anthropologische Schreiben“, in: Fuchs, Martin und Berg, Eberhard (Hg.) Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 335-364. 148 |  Die Ethnologie galt lange als die Wissenschaft von fremden Kulturen, als Verwalterin dessen, wovon sich die Moderne abgrenzt, womit sie schließlich nicht unbeträchtlich zu einer Objektivierung der „Anderen“ beitrug. Spätestens seit den 1980er Jahren gilt in der Ethnologie die Annahme von homogenen, in sich geschlossenen Kulturen, die sich von anderen Kulturen absetzen, allerdings als überholt. Dies führte zu einer umfassenden Selbstkritik der Disziplin. Vgl. hierzu etwa: Abu-Lughod, Lila „Writing Against Culture“, in: Moore, Henrietta und Sanders, Todd (Hg.) Anthropology in Theory. Issues in Epistemology, Malden: Blackwell 2005, S. 466-479.

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der Identität einzufangen, die mit dem Anspruch auf universale Geltung einherkommt“149, versucht Eid-Sabbagh die Differenz nicht in einer Identität (die des palästinensischen Flüchtlings) aufzulösen, sondern die Komplexität des Beziehungsgeflechts aus verschiedenen Diskursen, aber auch die immanente Spannung dieses Beziehungsgeflechts beizubehalten und zum Thema zu machen. Ich schreibe hier von einem Versuch, da letztlich nicht sicher sein kann, inwiefern ein derartiges Unterfangen nicht bereits im Vorhinein zum Scheitern verurteilt bzw. im Grunde utopisch ist.150 Denn so, wie sich die Ethnologie in einer „Krise der Repräsentation“151 befindet, weil durch jede epistemische Studie und die damit einhergehende Repräsentation zwangsläufig Machtverhältnisse geschaffen bzw. reproduziert werden, kann auch Eid-Sabbagh dieser Krise nicht ganz entkommen. Zumal das Medium Fotografie, mit dem sie sich in A Photographic Conversation from Burj al-Shamali Camp vornehmlich auseinandersetzt, sicherlich seinen Anteil an der Entstehung und Verhärtung dieser Krise beigetragen hat. Eid-Sabbaghs Vorgehen kann in diesem Sinne aber zumindest als ein Insistieren darauf verstanden werden, sich der Krise und ihren Auswirkungen bewusst zu stellen.

149 |  Fuchs, Martin und Berg, Eberhard „Phänomenologie der Differenz. Ref lexionsstufen ethnographischer Repräsentation“, in: dies. (Hg.) Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 11-108, hier S. 93. 150 |  James Clifford zum Beispiel bezeichnet die Vorstellung von einer „pluralen Autorschaft“, in der jeder Beteiligte die gleiche Autorität einnimmt, als eine „Utopie“. Vgl. hierzu Clifford, James „Über ethnographische Autorität“, in: Fuchs, Martin und Berg, Eberhard (Hg.) Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 109-157, hier S. 147. 151 |  Vgl. Fuchs, Martin und Berg, Eberhard (Hg.) Kultur, Soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.

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„Left to others“: Mediale Repräsentation von Palästinenser*innen und den Flüchtlingscamps durch die UNRWA Wie die traditionelle ethnologische Forschung einen „Anspruch auf universale Geltung“ hegt, so wurde auch die Fotografie in Berufung auf ihre scheinbare Ontologie lange als „Ausdruck einer universellen Sprache“, die „zu allen Menschen spricht“152, aufgefasst. Sie begünstigte die Konsolidierung kultureller Stereotypen, die Festschreibung des Anderen153 und wurde somit auch zum Instrument einer formelhaften Darstellungsweise palästinensischer Flüchtlinge. In Burj al-Shamali stammt die Generation der durch die Nakba Vertriebenen ursprünglich aus ländlichen Gebieten Palästinas. Sie waren überwiegend Bauern oder Landarbeiter*innen und besaßen keine Fotokameras. Wenn überhaupt, befanden sich oft nur ein oder zwei Fotografien aus der Zeit vor 1948 in ihrem Besitz, als sie ihre Heimat verlassen mussten: „[D]ocumenting their lives“, schreibt Issam Nassar, „was perhaps the last thing on their minds. The task was left to others, who were helping them or reporting on their conditions.“154 Neben Fotojournalist*innen waren es vor allem die Fotograf*innen der den Flüchtlingen erste Hilfe leistenden Organisationen, wie dem In152 |  Steichen, Edward „Photography: Witness and recorder of humanity“, in: Wisconsin Magazine of History, Vol. 41, No. 3, Spring 1958, S. 159-167, hier S. 167. 153 |  Die von Edward Steichen kuratierte und 1955 zum ersten Mal im New Yorker Museum of Modern Art präsentierte Ausstellung Family of Man ist dafür bzw. für die Probleme, die sich daraus ergeben, ein treffendes Beispiel. Barthes beschrieb in seiner vernichtenden Kritik zu Family of Man, wie die Besucher der Ausstellung, „an der Oberf läche einer Identität festgehalten und von der Sentimentalität daran gehindert [werden], in jene darunterliegende Zone menschlicher Verhaltensweisen hervorzudringen, dorthin, wo die geschichtliche Entfremdung jene ,Unterschiede‘ einführt, die wir hier ganz einfach ,Ungerechtigkeiten‘ nennen werden.“ Siehe: Barthes, Roland „Die große Familie des Menschen (1957)“, in: ders. Auge in Auge. Kleine Schriften zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S. 33-38, hier S. 34. 154 |  Nassar, Issam „Myrtle Winter-Chaumeny, Refugees and Photography“, in: ders. und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 19-41, hier S. 21.

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ternationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und dem American Friends Service Committee (AFSC), die diese Aufgabe übernahmen. Sollten jene vorrangig die Arbeit der Hilfsorganisationen dokumentieren, hielten letztere teilweise auch den gewaltsamen Konflikt von 1948 fest. Dabei zeugen ihre Bilder von der Entstehung der Flüchtlingscamps sowie der Transformation palästinensischer Bürger*innen in staatenlose Flüchtlinge.155 Abgesehen von diesen Bemühungen war es jedoch vornehmlich die UNRWA, die an der Entstehung und Verbreitung von Fotografien der Palästinenser*innen im Zuge der Nakba verantwortlich gewesen ist und bis heute ein durch die Organisation geprägtes Bild von ihnen vermittelt. Ende 1949 von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen, um die Hilfsmaßnahmen in den Flüchtlingscamps zu koordinieren,156 richtete die UNRWA Anfang der 1950er Jahre eine Fotoabteilung ein, die wie die Fotograf*innen des IKRK und des AFSC vornehmlich die Arbeit der Organisation selbst dokumentierten. Fotografische Bilder, die bereits ab 1951 internen Berichten beigefügt wurden, dienten der UNRWA allerdings später vornehmlich zur Öffentlichkeitsarbeit und zur Illustration von Spendenaufrufen. Sie waren zudem ein wirksames Mittel, um die Regierungen der Aufnahmeländer zu beschwichtigen und ihnen zu bescheinigen, dass die UN die Lage im Griff habe.157 Indem sie von den politischen Umständen isoliert und als Unterstützung humanitärer Hilfeleistung 155 |  Vgl. Nassar, Issam „Myrtle Winter-Chaumeny, Refugees and Photography“, in: ders. und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 19-41, hier S. 33. 156 |  Die UNRWA, die am 1. Mai 1950 offiziell ihre Mission begann, war ursprünglich als ein temporäres Hilfsprogramm gedacht, das seit seiner Gründung alle drei Jahre verlängert wurde. Das Hilfswerk sollte den Vertriebenen bis zur Regelung der Palästinafrage Unterstützung in Form von Lebensmitteln, Unterkünften, Kleidung sowie medizinischer Versorgung zusichern. Heute wird mehr als die Hälfte des UNRWA-Jahreshaushaltes in die Erziehungsmaßnahmen und Schulen investiert, 20 % ins Gesundheitswesen und 10 % in die Sozialhilfe; mit dem Rest werden die administrativen Kosten bestritten. Vgl. hierzu Bocco, Riccardo „UNRWA and the Palestinian Refugees: A History Within History“, in: Refugee Survey Quarterly, 28 (2-3), 2009, S. 229-252. 157 |  Nassar, Issam „Myrtle Winter-Chaumeny, Refugees and Photography“, in: ders. und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian

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funktionalisiert wurden, gewannen diese Bilder jedoch stark essentialistische Züge.158 Sie vermitteln ein Bild der Flüchtlinge, das laut der Anthropologin Liisa Malkki in der weitverbreiteten Annahme wurzelt, „that ‚the refugee‘ – apparently stripped of the specificity of culture, place and history – is human in the most basic, elementary sense“.159 Die häufigsten Motive der UNRWA-Fotografien, welche Ende der 1940er Jahre bis Ende der 1950er Jahre entstanden, sind dementsprechend überwiegend ärmlich gekleidete Frauen mit Kindern sowie ältere Menschen, zu deren Identität die Bilder keine genauen Hinweise liefern [Abb. 24-25].160 In den ersten Filmen, welche die UNRWA seit den 1950er Jahren ebenfalls für ihre Spendenaktionen produzierte, zeichnet sich diese Form der Essentialisierung sogar noch deutlicher ab und kulminiert in einer Archaisierung. Die Palästinenser*innen sind darin, so die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Stéphanie Latte Abdallah, als „eternal wanderers“ dargestellt, „without roots, as poor people, passive and sometimes even idle.“161 Latte Abdallah bemerkt in diesem Zusammenhang ferner, dass im Gegensatz zu den europäischen Flüchtlingen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des Kalten Krieges, die in medialen Repräsentationen deutlich als „politische“ Flüchtlinge abgebildet und bezeichnet wurden, Palästinenser*innen in den UNRWA-Fotos und Filmen weitgehend als Opfer eines nicht weiter konkretisierten Desasters erscheinen:

Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 19-41, hier S. 37. 158 |  Latte Abdallah, Stéphanie „UNRWA Photographs 1950-1978. A View of History or Shaped by History?“, in: Nasser, Issam und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 43-63, hier S. 49. 159 |  Malkki, Liisa H. Purity and Exile. Violence, Memory and National Cosmology among Hutu Refugees in Tanzania, Chicago/London: The University of Chicago Press 1995, S. 12. 160 |  Vgl. Latte Abdallah, Stéphanie „UNRWA Photographs 1950-1978: A View of History or Shaped by History?“, in: Nasser, Issam und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 43-63, hier S. 57. 161 |  Ebd., S. 49.

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Abbildung 24: Anynom, A Palestinian refugee woman cut off from her home by the 1949 Armistice Line (Green Line), which was established after the 1948 Arab-Israeli war, ca. 1949

„An identity is created for refugees that takes the place of any other social identity, such as that of a peasant, or a homeless person, engaging in social and economic activity, etc. […]. The conflict having been silenced, the refugees were represented as victims of an unknown disaster, which might have even been a natural catastrophe. Representations of Palestine, as the Holy Land, served too well this negation of history.“162

Das heißt, anders als zuvor die Fotografien der IKRK und AFSC, lassen die fotografischen und filmischen Repräsentationen der UNRWA den po162 |  Latte Abdallah, Stéphanie „UNRWA Photographs 1950-1978: A View of History or Shaped by History?“, in: Nasser, Issam und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 43-63, hier S. 49 und S. 57.

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Abbildung 25: Anynom, Palestinian refugees stand outside their tent in Khan Younis, Gaza Strip, ca. 1948

litischen Konflikt, der die Flüchtlingskrise auslöste, beinahe vollkommen außer Acht: „They do not document historical events and, in some cases, go so far as to blur history by erasing the context of the images.“163 Issam Nasser verdeutlicht diese von Abdallah konstatierte „Verschleierung“ oder „Verunklärung“ am Beispiel einer der ersten, wenn nicht der ersten UNRWA-Fotografien [Abb. 26], die 1952 im Nahr al-Bared Camp im Norden Libanons in der Nähe von Tripoli entstand und die auch in Lamia Joreiges A Journey zu sehen ist.164 Von Myrtle Winter-Chameny gemacht, die später auch die Leitung der UNRWA- Fotoabteilung übernahm, zeigt die Aufnahme eine Gruppe von Frauen, die auf einem Trampelpfad durch die Zeltlandschaft des Camps in Richtung der Fotografin laufen. Das Bild öffnet sich zum Horizont hin zu einem Panorama von schneebedeckten Bergen, die teilweise von Wolken verhüllt sind. Abgesehen davon, dass diese Darstellung des Camps einen beinahe idyllischen Eindruck vermittelt, der relativ wenig über die Dringlichkeit der Lage aussagt, bietet laut Nasser die Annotation auf der Rückseite der Fotografie noch weitere Auf163 |  Latte Abdallah, Stéphanie „UNRWA Photographs 1950-1978: A View of History or Shaped by History?“, in: Nasser, Issam und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 43-63, hier S. 47 und S. 53. 164 |  Siehe Kapitel II, S. 158 ff.

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Abbildung 26: Myrtle Winter-Chaumeny, Naher al-Bared refugee camp, near Tripoli, Lebanon, 1952

schlüsse über die problematische Repräsentation der Flüchtlinge durch die UNRWA. Der Text lautet folgendermaßen: „Nahr al-Bared camp for Palestine refugees near Tripoli, Lebanon, as it was in 1952. The first camps, which sheltered the refugees who fled from their homes in Palestine as a result of the Arab-Israeli conflict of 1948, were tented. This was an emergency measure and far from satisfactory, as tents did not give adequate protection against either the burning heat of the summer or the rain and the cold winter. For several years some 6000 refugees lived in these tents in Nahr al-Bared camp beneath the mountains of Lebanon which are covered in snow for several months of the year. Many still live in the same camp, but their living conditions have been much improved with the replacement of the tents by concrete huts.“165 165 |  Annotation zitiert nach Nassar, Issam „Myrtle Winter-Chaumeny, Refugees and Photography“, in: ders. und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 19-41, hier S. 35. Mittlerweile verwendet die UNRWA diese von Nassar kritisierte Rhetorik jedoch nicht mehr. So erscheint Winter-Chamenys Foto in der UN-Onlinedatenbank heute mit folgender Bildunterschrift: „A general view of the Nahr El Bared Camp, near Tripoli, one of the largest camps in Lebanon, where more than 6,000 refugees live in tents. Snow lies

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Die Beschreibung wurde offensichtlich einige Zeit, nachdem das Foto entstanden ist, verfasst. Sie informiert über den Entstehungsort des Bildes sowie dessen Gegenstand und berichtet retrospektiv von einer Situation, die sich zum Zeitpunkt der Niederschrift bereits gebessert hat. Was genau ist daran problematisch? Das Problem liegt laut Nasser zunächst darin, dass die UNRWA hier das von Israel propagierte Narrativ von den Palästinenser*innen, die ihr Land aus freien Stücken verließen, übernahm, ohne ansatzweise die Umstände aus palästinensischer Sicht zu reflektieren.166 In dem Text werde verschwiegen, dass die Palästinenser*innen gewaltvoll aus ihrer Heimat vertrieben und beständig von Israel davon abgehalten wurden bzw. werden, dahin zurückzukehren. Dies ermöglicht nach Nassar wiederum noch eine folgenschwerere Fehlrezeption. Denn es könnte ihmzufolge daraus geschlossen werden, „that the refugees did not consider returning to their homes because their living conditions have been improved siginificantly“.167 Nasser geht davon aus, dass es sich bei der Annotation der Fotografie nicht nur um eine fahrlässige oder ungenaue Formulierung handelt. Sie steht seines Erachtens vielmehr paradigmatisch für die befangene Position der UNRWA zu diesem Zeitpunkt. Die UN hatte schließlich die Flüchtlingskrise mit der Verabschiedung des Teilungsplans zu einem Großteil mit zu verantworten.168 Seit Ende der 1950er Jahre – mit der ersten Generation palästinensischer Flüchtlinge, die in den Camps geboren wurde – zeichnet sich in der UNRWA-Darstellung und der daran gebundenen Rhetorik jedoch ein Wandel ab. Anstatt als passive Notleidende werden die Palästinenser*innen zunehmend geschäftig, bei körperlichen Betätigungen on the nearby mountains of Lebanon for four months of the year, and violent storms are frequent throughout the Winter, but the refugees, coming mainly from the mountain regions of Palestine, bear the hardships of tent life with great courage and forbearance.“ Vgl: http://www.unmultimedia.org/photo/ detail.jsp?id=317/31735&key=1&query=Nahr%20al%20Bared%20&lang=en&sf= [eingesehen am 11.07.16] 166 |  Nassar, Issam „Myrtle Winter-Chaumeny, Refugees and Photography“, in: ders. und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 19-41, hier S. 35. 167 |  Ebd. 168 |  Ebd.

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und schulischen Aktivitäten fotografiert und gefilmt [Abb. 27-28].169 Nachdem die Vereinten Nationen 1974 die PLO als offizielle politische Vertretung der Palästinenser*innen anerkannten, hatte die Befreiungsorganisation zudem einen wachsenden Einfluss auf die Kommunikationsstrategien der UNRWA.170 Damit einhergehend heuerte die UNRWA in den 1970er Jahren vereinzelt selbstständige Fotograf*innen wie etwa Hashem el Madani dazu an, Campbewohner*innen zur Personenregistrierung zu porträtieren.171 Die 1972 entstandene Palestine Press and Information Agency (WAFA) bildete darüber hinaus ihre eigenen Fotograf*innen aus, welche die Palästinenser*innen nicht mehr nur auf ihre Identität als Flüchtlinge reduziert porträtierte. Sie verliehen ihnen eine verstärkte Präsenz als politische Akteur*innen, was in der Dokumentation des bewaffneten Widerstands kulminierte.172 Diese Entwicklung schlug allerdings insbesondere im Libanon in Folge der israelischen Invasion 1982 abermals um. Nach dem Abzug der PLO aus Beirut, dem Massaker von Sabra und Shatilla und dem Scheitern des Oslo-Friedensprozesses173 ist heute wieder überwiegend die UNRWA 169 |  Vgl. Latte Abdallah, Stéphanie „UNRWA Photographs 1950-1978. A View of History or Shaped by History?“, in: Nassar, Issam und Salti, Rasha (Hg.) I would have smiled. Photographing the Palestinian Refugee Experience, Jerusalem: Institute for Palestine Studies 2009, S. 43-63, hier S. 51. 170 |  Vgl. ebd., S. 43. 171 |  Siehe Kapitel I, S. 96, Abb. 13. 172 |  Für mehr Informationen zur WAFA siehe etwa: Gunter, Barrie und Dickinson, Roger News Media in the Arab World: A Study of 10 Arab and Muslim Countries; New York/London/New Dehli/Sydney: Bloomsbury 2013, S. 70-71. Zu einigen WAFA Fotograf*innen vgl. auch: Mende, Doreen The Itinerant. On the delayed arrival of images of socialist internationalism that confound contemporary exhibiting processes, Dissertation, University of London, Department of Visual Cultures Goldsmiths College 2013 sowie Dabdoub, Mahmoud Wie fern ist Palästina? Fotos aus palästinensischen Flüchtlingslagern, Leipzig: Passage-Verlag 2003. 173 |  Der Friedensprozess begann, als der damalige israelische Ministerpräsident Jizchak Rabin und der PLO-Vorsitzende Jassir Arafat 1993 in Oslo die „Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung“ unterzeichneten, die den Konf likt zwischen Israel und Palästina beenden sollte. Mit diesem Abkommen erkannten sich Israel und die PLO einander zum ersten Mal offiziell an. Während der Verhandlungen 1993 profitierte Israel jedoch erheblich

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Abbildung 27: Anyonym, UNRWA started out with 93 schools and more than 35,000 pupils in 1950, 1954

Abbildung 28: Anonym, Vocational Training Centre in Gaza, ca. 1955

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für die mediale Repräsentation der Palästinenser*innen in den Flüchtlingslagern im Libanon verantwortlich. Zwar verfolgt sie mittlerweile ein differenzierteres Bildprogramm. Die Darstellung der Camps zielt jedoch weiterhin auf die Verwendungszwecke der Bilder und Filme durch die UNRWA ab: Sie sollen vorrangig über die missliche Lebenslage ihrer Bewohner*innen im Rahmen von Spendenkampagnen und Jahresberichten informieren und dienen damit nicht nur der Finanzierung des Hilfsprogramms, sondern dessen beständiger Legitimation. Angesichts der Tatsache, dass die palästinensischen Flüchtlingslager heute seit mehr als 60 Jahren existieren, erscheint diese Selbstlegitimierung der UNRWA jedoch äußerst fragwürdig,174 hat sie sich doch zu einem Instrument der Zementierung bestehender Unrechtszustände gewandelt. Denn so lange keine vertretbare politische Antwort auf die Palästinenserfrage gefunden ist, trägt die UNRWA nicht unbeachtlich zur Bekräftigung der Außenwahrnehmung der Flüchtlingslager als symbolische Entitäten bei, die

von Arafats Schwäche im Zuge des Golf krieges. Die PLO unterstützte zur Verärgerung anderer arabischer Länder und westlicher Regierungen die irakische Invasion Kuwaits, was dazu führte, dass die PLO nach Husseins Niederlage 1991 merklich an Gunst und Einf luss verloren hatte. Die Osloer-Grundsatzerklärung war in dem Sinne kein Friedensvertrag. Es war vielmehr eine vorübergehende Regelung, die einen Status Quo sichern sollte, bis eine endgültige Einigung erreicht würde. Die wesentlichen und bis heute aktuellen Streitpunkte wurden darin nicht geregelt: Der Status Jerusalems, die Entscheidung über eine palästinensische Staatsgründung, die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge sowie der Umgang mit jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten sollten erst bis zum Ende 1999 verhandelt und beschlossen werden. Allerdings fiel nach Abschluss des letzten Oslo-Vertrags im November 1995 Rabin dem Attentat eines jüdischen Extremisten zum Opfer. Der Friedensprozess geriet darauf hin ins Stocken und gilt mittlerweile als gescheitert. Vgl. dazu Bauck, Petter und Omer, Mohammed The Oslo Accords. A Critical Assessment, Kairo: AUC Press 2016. 174 |  Vgl. hierzu Marx, Emanuel und Nachmias, Nitza „Dilemmas of Prolonged Humanitarian Aid Operations. The Case of UNRWA (UN Relief and Work Agency for the Palestinian Refugees)“, in: Journal of Humanitarian Assistance, 2004, http://sites.tufts.edu/jha/archives/834 [eingesehen am 11.07.16].

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„optimierbar“ sind.175 Dies hat wiederum erhebliche Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung der Palästinenser*innen, die dort leben. Das ist ein Sachverhalt, der für Eid- Sabbagh insbesondere in Bezug auf die nach 1982 in den Camps geborenen Generationen während ihres ersten Fotografie-Workshops deutlich wurde. Das Hauptanliegen ihrer gesamten Photographic Conversation besteht deshalb darin, die Möglichkeiten einer Alternative zu dem von Institutionen wie der UNRWA vermittelten Bild eines Flüchtlingslagers und seiner Bewohner*innen auszuloten. Dazu setzt sich Eid-Sabbagh primär mit privaten Fotos und individuellen Erinnerungen auf der Grundlage von persönlichen Gesprächen auseinander.176

175 |  Für eine kritischere Auseinandersetzung mit der UNRWA siehe etwa: Lindsay, James G. „Fixing UNRWA. Repairing the UN’s Troubled System of Aid to Palestinian Refugees“, http://www.washingtoninstitute.org/uploads/ Documents/pubs/PolicyFocus91.pdf [eingesehen am 11.07.16] sowie Brynen, Rex „UNRWA as avatar. Current debates on the agency – and their implications“, in: Hanafi Sari; Hilal, Leila und Takkenberg, Lex (Hg.) UNRWA and Palestinian Refugees. From Relief and Works to Human Development, London/New York: Routledge 2014, S. 263-283. 176 |  In diesem Zusammenhang ist es auch bezeichnend, dass bis in die späten 1970er Jahre von Organisationen wie der UNRWA so gut wie kein Versuch gemacht wurde, in einen Dialog mit den palästinensischen Flüchtlingen zu treten. Diesbezüglich sollte erst 1979 die wegweisende Studie The Palestinians. From Peasants to Revolutionaries der Anthropologin Rosemary Sayigh eine längst überfällige Grundlage bieten. Darin lässt sie unter anderem auch Personen zu Wort kommen, die in Burj al-Shamali lebten. Ein Mann den Sayigh als „mrabbi“– einer Art kommunalen Rädelsführer bezeichnet (Sayigh übersetzt „mrabbi“ mit „Jemand, der andere erzieht“) – erzählt zum Beispiel: „We gathered, not less than fifty or sixty villages, in a large mass at Burj al-Shamali, east of Tyre. Life was difficult. As many as seven families to a tent, sometimes from different villages. Sharing a tent with strangers was painful for us because of our traditions. There weren’t enough tents for everyone, so some families had to live in caves. There was sickness and overcrowding. Many old people and children died because of the bad conditions.“ Siehe: Sayigh, Rosemary The Palestinians. From Peasants to Revolutionaries, London/New York: Zed Books 2007, S. 108.

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Gedankenaustausch: Generationsübergreifender Wandel im Umgang mit Fotografie und Postmemory Seit 2005 führte Eid-Sabbagh zahlreiche Gespräche und Interviews mit verschiedenen Bewohner*innen Burj al-Shamalis über ihre Beziehung zu bestimmten Fotos oder zur Fotografie im Allgemeinen und machte Video- und Audioaufnahmen. Dabei ging es ihr weniger um das Sammeln von Erfahrungsberichten zur Untermauerung einer stringenten Argumentation. Der verbale Gedankenaustausch und die damit einhergehende Verhandlung von teilweise divergenten und widersprüchlichen Einstellungen zur Fotografie ist für Eid-Sabbagh vielmehr der Ausgangspunkt, um einerseits die kulturellen Dispositionen der Campbewohner zu dem Medium und andererseits vergangene Ereignisse und Entwicklungen, die darüber festgehalten wurden, zu beleuchten. Eid-Sabbagh reflektiert im Zuge dessen auch den generationsübergreifenden Wandel im Umgang mit der Fotografie, der sich innerhalb der Campgesellschaft abzeichnet. Abgesehen davon, dass die Nakba-Generation der Bewohner*innen von Burj al-Shamali keine Kameras und nur vereinzelt Fotos bei ihrer Ankunft im Camp besaßen, blieb der Privatgebrauch der Fotografie dort noch bis in die 1970er Jahre weitgehend eine Seltenheit. Dies änderte sich zwar in den folgenden Jahren, in denen die Infrastruktur des Lagers gefestigt wurde. Allgemein wird Fotografie in Burj al-Shamali jedoch bis heute – insbesondere von den älteren Bewohner*innen – argwöhnisch betrachtet, da ihr Realismuseffekt im Konflikt mit der von ihnen vertretenen konservativen Auslegung des Islam steht: Ihr realistisches Abbildungsvermögen gilt als „haram“, d.h. gemäß des Korans als verboten. In den Wohnhäusern des Camps sind aus diesem Grund so gut wie keine Fotos zu sehen, es sei denn, es handelt sich um Porträts verstorbener Verwandter.177 Unter den jüngeren Campbewohner*innen, insbesondere denen, die mit digitaler Technik und dem Internet aufge177 |  Vgl. hierzu Khalili, Laleh Heroes and Martyrs of Palestine. The Politics of National Commemoration, Cambridge/New York: Cambridge University Press 2006, S. 70 und S. 120. Weder der Koran noch die Hadith-Literatur, d.h. die Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed liefern eindeutige Belege für ein Bilderverbot im Islam. Auch die Vertreter der Fiqh, der islamischen Jurisprudenz, die sich mit den religiösen Normen befasst, äußern über die bildliche Darstellung von Mensch und Tier zum Teil kon-

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wachsen sind bzw. aufwachsen, wird diese Ansicht allerdings weitaus weniger vehement vertreten. Fotografie ist im Zeitalter von Facebook, Instant Messaging oder Instagram für sie ein Teil alltäglicher Kommunikation. Trotzdem verwenden auch sie das Medium und zeigen Fotografien in der Öffentlichkeit überwiegend im Rahmen gesellschaftlich akzeptabler Darstellungskonventionen. Die Seltenheit der Fotografie, die religiös begründeten Vorbehalte ihr gegenüber, der besondere Stellenwert von fotografischen Bildern als Memorabilia und der generationsspezifische Umgang mit ihr sind demnach wesentliche Aspekte, anhand derer in A Photographic Conversation die Bedeutung des Mediums für die Gesellschaft des Camps, der Formierung eines kollektiven Gedächtnisses sowie einer darauf basierenden nationalen Identität herausgestellt werden. Basieren Identitätsbehauptung und die Herausbildung von politischem Bewusstsein in Burj al-Shamali zwar immer noch vornehmlich auf einer „abstract notion that is solely transmitted orally from a generation to the next“178, so fungieren private Fotos bei allem Argwohn, mit dem ihnen teilweise begegnet wird, zunehmend als wichtige Bindeglieder in diesem Prozess. Die Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch hat dies als „postmemory“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Form des kollektiven Erinnerns, das primär in sich im Exil befindenden Gemeinden, deren ältere Generationen ein kulturelles oder kollektives Trauma durchlebten, praktiziert wird und auf besonders starken persönlichen Bindungen zwischen verschiedenen Generationen beruht. Erlebte Ereignisse werden im Zuge dessen, laut Hirsch, „so deeply and affectively“ von einer Generation zur nächsten übermittelt, dass sie in Folge dieser Tradierung bei den späteren Generationen „memories in their own right“ konstituieren.179 Folgegenerationen „erinnern“ sich demnach über die Geschichten, Bilder und Verhaltensweisen, troverse Ansichten, die von einem Bann von Götzenbildern und Skulpturen bis hin zu einem absoluten Abbildungssverbot von Menschen und Tieren reichen. 178 |  Eid-Sabbagh zitiert aus der Broschüre, die sie 2008 gemeinsam mit Simon Lourié zum Anlass der Ausstellung How beautiful is Panama! veröffentlichte. Siehe: Eid-Sabbagh, Yasmine und Lourié, Simon (Supported by the Arab Image Foundation) A Photographic Conversation form Burj al-Shamali Camp, Infobroschüre 2008, o.S. 179 |  Hirsch, Marianne „The generation of postmemory poetics“, in: Today, 29 (1), Spring 2008, S. 103-128, hier S. 106 f.

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die ihnen von den Angehörigen der älteren Generation erzählt, gezeigt und vorgelebt werden. Dabei schreibt Hirsch vor allem der Fotografie das Vermögen zu, die Vergangenheit effektiv wie affektiv präsent zu machen und zu revitalisieren.180 Im Fall der Gesellschaft von Burj al-Shamali prägt die „postmemory“ so eine kollektive Vorstellung von Palästina vor der Nakba, von den traumatischen Ereignissen des Palästinakrieges, des Exils, der darauf folgenden Konflikte und damit nicht zuletzt von den momentan vorherrschenden politischen Ansichten im Camp. Dies wird im Rahmen der Photographic Conversation von Eid-Sabbagh anhand ihrer Unterhaltungen und Beziehungen mit Angehörigen von drei verschiedenen dort lebenden Generationen dargelegt, wozu sie in erster Linie situationsbedingte, ephemere Präsentationsformen mit performativem Charakter schafft, die die Künstlerin als „Rehearsals“ bezeichnet.

35': „Presentation that refuses representation“ Erstmalig 2015 in Paris in den Laboratoires d'Aubervilliers präsentiert, ist 35' eine dieser performativen Interventionen.181 Der Titel verweist auf die Dauer des Stückes (es ist 35 Minuten lang) und unterstreicht zugleich die Bedeutung von Zeit und ihrem Verstreichen für Eid-Sabbaghs künstlerische Forschung einerseits und die Kontinuität der darin thematisierten historisch-politischen Entwicklung anderseits. Zeit spannt in diesem Sinne einen immateriellen Rahmen für die gesamte Photographic Conversation, wobei 35' als ein Fragment, ein momentaner Auszug zu verstehen ist. Im Verlauf von 35' trägt Eid-Sabbagh in einem abgedunkelten Raum vor dem Publikum ein Skript vor, dass auf einzelne Episoden ihrer Recherche und den Austausch mit den Einwohner*innen Burj al-Shamalis, insbesondere auf ihre Begegnung mit Hasna Abou Kharoub, eingeht. Sie erzählt, wie Hasna eines Tages während ihres Aufenthaltes in Burj al-Shamali auf sie zukam und zu sich einlud, um sich mit ihr ihre Fotos anzusehen. Als sie Hasna das erste Mal besuchte, war Eid-Sabbagh über180 |  Hirsch, Marianne Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory, Cambridge MA/London: Harvard University Press 2012, S. 243. 181 |  Weitere dieser „Rehearsals“ sind etwa 23', 27', 33' und As Many Minutes as the Rehearsal Will Last.

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rascht von ihrem leidenschaftlichen Interesse für die Fotografie und dem Umfang ihrer Sammlung, die abgesehen von Fotos und Negativen auch Super8-Filme, VHS- und Audiokassetten beinhaltete. Für Hasna waren Fotos nicht nur Bilder mit sentimentalem Erinnerungswert, sondern ebenso wertvolle historische „Dokumente“. Sie vertrat damit eine für das Camp eher ungewöhnliche Auffassung und sollte für Eid-Sabbagh deswegen zu einer Schlüsselfigur für ihr gesamtes Projekt werden.182 In 35' berichtet sie zunächst minutiös von diesem ersten Besuch. Eid-Sabbagh erzählt, dass zu diesem Zeitpunkt die Stromversorgung im Camp unterbrochen war und in Hasnas ansonsten fast gänzlich dunklem Wohnzimmer nur eine mit einem Generator betriebene Lampe schwach leuchtete. Durch ein kleines Loch in der Haustür trat von draußen ein Lichtstrahl in den Raum, der die Schatten und Umrisse von Vorbeilaufenden an die Wände warf, als Hasna eine große Ledertasche hervorholte, in der sich ihre Fotografien befanden. Sie habe jene Tasche, so ließ sie Eid-Sabbagh wissen, während der kriegerischen Auseinandersetzungen in den 1970er und 80er Jahren jedes Mal, sobald die ersten Bomben fielen, als erstes in Sicherheit gebracht. Somit blieben die sich darin befindenden und teilweise nach bestimmten Kategorien und Sujets geordneten Fotos – gleichwohl ihr Haus in dieser Zeit zweimal in Folge völlig zerstört wurde – bis heute erhalten. Während Eid-Sabbagh ihren zwischen Tatsachenbericht und essayistischer Reflexion changierenden Text vorträgt, präsentiert sie sukzessive eine Auswahl von Hasnas Fotos. Sie projiziert sie mit Hilfe eines Mini-Projektors, den sie in ihrer Hand hält, auf einzelne ca. A4 große Blätter weißen Pergamentpapiers [Abb. 29]. Dabei kann das Publikum die Bilder in ihrem flüchtigen Aufscheinen und der relativ kleinen Größe der Projektionen, welche die Maße der „Originalabzüge“ nachempfindet, meist nur schemenhaft erkennen. Eid-Sabbagh beschreibt allerdings jedes dieser Fotos, d.h. die darauf abgebildeten Personen, ihre Posen und die Kleidung, die sie tragen, die Bildkomposition aber auch das, was sich Abseits 182 |  So führte Eid-Sabbagh während ihrer Zeit in Burj al-Shamali nicht nur einen regen und beständigen Austausch mit Hasna. Wie bereits die Familie, bei der sie wohnte, ermöglichte es Hasna ihr zudem mit weiteren Campbewohner*innen in Kontakt zu treten, um sich mit ihnen über deren Fotografien auszutauschen.

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und im Hintergrund jeder dargestellten Szene befindet, bis ins kleinste Detail. Darunter ist zum Beispiel ein Foto von Hasna und der blinden Amscha, zu der sie ein besonders enges, mütterliches Verhältnis pflegte. Laut Eid-Sabbaghs Beschreibung sind beide darauf zu sehen, wie sie vor Hasnas Haus sitzen. Der Bildrahmen ist jedoch etwas verrutscht, woraus Eid-Sabbagh schließt, dass Hasna das Bild womöglich mit dem Selbstauslöser ihrer Kamera gemacht habe und diese, kurz nachdem Hasna zu Amscha eilte, um sich neben sie zu setzen, zur Seite kippte. Weiterhin zeigt und beschreibt Eid-Sabbagh ein Foto von Hasnas Bruder Rashid und eins, auf dem Hasna gemeinsam mit Amscha und zwei anderen Frauen zu sehen ist, wie sie vor einem Haus stehen, an dessen Außenwand ein Poster hängt, das das Antlitz eines gefallenen Fedajin zeigt. Kurz darauf erzählt sie, wie Hasna ihr mitteilte, dass sie nach einem der israelischen Angriffe auf Burj al-Shamali unbenutzte Diafilme in den Trümmern eines zerstörten Hauses fand und beschloss, auf ihnen die Verwüstung im gesamten Camp festzuhalten. Hasna sei allerdings nicht bewusst gewesen, dass sie zum Betrachten der Dias einen entsprechenden Projektor benötigt. Anstatt sie zur Fotoentwicklung zu geben, verwahrte sie die Filme deshalb unentwickelt und Eid-Sabbagh berichtet von dem Moment, in dem sie die Filme aus der Ledertasche packt: „She puts her hands in the bag and then puts something in my hands – two film rolls. And she stays silent, as if the silence was necessary for me to visualize the images on these two rolls.“ Daraufhin, so Eid-Sabbagh, setzte die generelle Stromversorgung wieder ein. Jemand klopfte an die Tür. Hasna verstaute ihre Fotos wieder in der Tasche und vereinbarte mit Eid-Sabbagh, sich von da an nachts zu treffen, damit sie beim Betrachten der Fotos ungestört blieben. Bis zu Hasnas überraschenden Tod sollten Eid-Sabbagh und sie die folgenden drei Jahre viele solcher Nächte miteinander verbringen. Als Eid-Sabbagh Hasna das letzte Mal sah, zeigte jene ihr ein Video, das sie mit der Kamera ihres Mobiltelefons aufnahm. Dieses Video gibt Eid-Sabbagh im Verlauf von 35' in voller Länge, allerdings auf einer für das gesamte Publikum gut sichtbaren größeren Leinwand, wieder. Es handelt sich dabei um eine unscharfe Aufnahme einer Landschaft von Hügeln und Wiesen. Sie wurde offenbar mit unruhiger Hand gefilmt, wobei das Rauschen des Windes, das die Tonspur des Videos dominiert, diese Unruhe zusätzlich verstärkt. Eid-Sabbaghs Schilderungen machen deutlich, dass die gefilmte Landschaft der Ort ist, an dem sich früher das palästinensische Flüchtlingslager Nabatieh befand. Hasna und ihre

Yasmine Eid-Sabbagh

Abbildung 29: Yasmine Eid-Sabbagh, A Photographic conversation from Burj al-Shamali Camp – Work in Progress, Part Two, Perfomance in Les Halles des Schaerbeek, Brüssel, 2012

Familie waren nach ihrer Ankunft im Libanon dort untergebracht, bevor die israelischen Streitkräfte es 1974 zerstörten. Abgesehen von diesem Video und den Projektionen der Fotografie spielt Eid-Sabbagh während 35' an verschiedenen Stellen des Vortrages immer wieder Auszüge von Audioaufnahmen ihrer Gespräche ab, die sie mit Hasna und anderen Protagonist*innen ihrer Photographic Conversation führte. Anders als das Video und die Fotografien kontextualisiert sie jene Exzerpte jedoch nicht genauer. Die arabische Sprache ihrer Protagonist*innen erscheint lediglich synchron ins Englische übersetzt in Form schriftlicher Transkriptionen auf dem großen Bildschirm, auf dem Eid-Sabbagh auch Hasnas Handyvideo zeigt. So ist etwa Hasna zu hören, wie sie von den israelischen Angriffen auf Burj al-Shamali im Jahre 1978 erzählt. Sie arbeitete zu dieser Zeit in einer Schule in Saida und war nicht zu Hause, als die Ausschreitungen begannen. Ihre Familienangehörigen und Amscha konnten sich ebenfalls unweit der Stadt in einem anderen Camp, das nicht bombardiert wurde, im Haus ihres Cousins in Sicherheit bringen. Als sie von ihrer Arbeitsstelle dort hineilte, war sie jedoch bestürzt zu sehen, wie viele Leute dort auf engstem Wohnraum untergebracht waren. Die blinde Amscha, die sich in ihrem eigenen Haus selbstständig bewegen und versorgen konnte, saß

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dort vollkommen hilflos und überfordert in einer Ecke – ein Anblick, den Hasna nicht ertragen konnte. Ihre Stimme bricht, als sie die Situation beschreibt, und es klingt so, als wäre sie den Tränen nahe. Sie erzählt, dass sie nach einiger Zeit beschloss, trotz der andauernden Kämpfe mit Amscha nach Burj al-Shamali zurückzukehren. Sie wäre lieber dort gestorben, als sie länger so leiden zu sehen. An anderer Stelle ist Fatima Soleiman zu hören, die zum Beispiel davon spricht, wir ihr Vater eines Tages von ihr gemachte Fotos eines Jungen fand, in den sie sich verliebt hatte. Ihr wurde daraufhin Stubenarrest erteilt und sie schildert mit ruhiger Stimme, wie sie tagelang in ihrer Einsamkeit nichts anderes tat, als die Dinge in ihrem Zimmer und sich im Spiegel zu betrachten. Sie klingt dabei eher verträumt als wehmütig und unterbricht sich selbst immer wieder mit einem verhaltenen Lachen. Erinnert die Präsentation in ihrer multimedialen Ausrichtung formal entfernt an die Lecture Performances von Walid Raad183, so ist EidSabbaghs 35' sowie ihre anderen Interventionen allerdings von einer grundverschiedenen Rhetorik geprägt. Das betrifft auch die daran geknüpfte Verhandlung des Fotografischen sowie die Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen. Im Gegensatz zu Raads Atlas Group Performances präsentiert Eid-Sabbagh die von ihr gesammelten Bilder, Videos, Tonaufnahmen bzw. Erinnerungen und Eindrücke in 35' nicht, um sie im Zuge einer performativen Maskierung zum Ausgangspunkt eines dubitativen Infragestellens der Möglichkeit von wahrheitsgetreuer Repräsentation zu machen.184 Ihre Intervention ist vielmehr, so die Soziologin Denise Ferreira da Silva, durch ein „refusal to represent“ gekennzeichnet.185 Ferreira Da Silva leitet diese Feststellung in erster Linie bereits aus der von Eid-Sabbagh verfassten und oben zitierten Projektbeschreibung ab.186 Ihr zufolge deuten die darin genannten „[k]ey terms and choices 183 |  Siehe Kapitel II, S. 238 ff. 184 |  Diesen Ansatz greift Eid-Sabbagh jedoch in ihrem Projekt Vies Possibles et Imaginaires (2011) auf. Siehe dazu: dies. und Quéré, Rozenn Vies Possibles et Imaginaires, Arles: Éditions Photosynthèses 2012. 185 |  Ferreira da Silva, Denise „Reading Art as Confrontation“, in: e-f lux journal, #65, SUPERCOMMUNITY, May-August 2015, http://supercommunity.e-f lux. com/texts/reading-art-as-confrontation/ [eingesehen am 11.07.16]. 186 |  Diese Projektbeschreibung lautet in voller Länge: „In Burj al-Shamali, a Palestinian refugee camp southeast of Tyre, in Southern Lebanon,  Yasmine

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in the description“, wie „collaboration“, „together“ und „making visible without making public“ allgemein auf die Verweigerung jeglicher Form von Repräsentation in Eid-Sabbaghs künstlerischem Ansatz. Was konkret Eid-Sabbaghs performative Interventionen betrifft, sieht sie diese Verweigerung (oder treffender: diese Absage an das Prinzip der Repräsentation) zudem in Form einer „Konfrontation“ inszeniert, in der für sie ein Unterlaufen der „universality that gives ethical support to representation (juridical, symbolic, economic)“ (Hervorhebung im Original) evident wird. 187 Denn diese „universality“ – eine Annahme von Allgemeingültigkeit, sei es im Sinne von Gleichheit und Gleichberechtigung oder im Sinne einer transzendentalen Perspektive auf die Menschheitsgeschichte generell – sowie ein von ihr bestimmter Common Sense schaffen erst das, was wir als Öffentlichkeit bezeichnen. Zudem bildet das Konstrukt der „universality“ die Voraussetzung dafür, so Ferreira da Silva, dass eine freie, selbstbestimmte Person oder eine Gruppe von Menschen sich von jemand oder etwas anderem als sich selbst repräsentieren lassen würden.188

Eid-Sabbagh gathered – mostly in collaboration with camp residents – an extensive digital photographic collection of family and studio photographs.  In the camp, personal photographs are scarce and private. In peoples houses and living rooms, they are rarely on display. Family albums hardly exist. Nevertheless,  some camp inhabitants entrusted her with mainly digital copies of their photographs. Together they devoted time and attention to these photographs, otherwise barely ever seen, even by the people, who originally owned or took them.  A process of rethinking visual representation unleashed,  considering how to make these images ‚visible‘ without making them public, and  questioning the iconography of the Palestinian refugee created through images mainly produced by the United Nations Relief and Work Agency (UNRWA) and the Palestine Liberation Organisation (PLO). It was the convergence of the responsibility associated with these photographs, and the antagonism inherent in them, invisible but striving to release their agency (and the affect it potentially triggers) that was at the core of her intervention.“ Siehe: http://www.eva.ie/alfdublin-yasmine-eid-sabaggh [eingesehen am 10.07.16]. 187 |  Ferreira da Silva, Denise „Reading Art as Confrontation“, in: e-f lux journal, #65, SUPERCOMMUNITY, May-August 2015, http://supercommunity.e-f lux. com/texts/reading-art-as-confrontation/ [eingesehen am 11.07.16]. 188 |  Vgl. ebd.

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Diesen Sachverhalt hat bereits die postkoloniale Kritik herausgestellt und Ferreira Da Silva verweist in diesem Zusammenhang auch direkt auf Edward W. Said, Gayatri Spivak, und Homi Bhabha. Indem jene und andere Autor*innen die Kulturen und Texte der Kolonialmächte und der Kolonialisierten, der Herrschenden sowie der Subalternen gegen den Strich lesen, d.h. „against the colonial, juridical, economic, and symbolic mechanisms and architectures of the past, but also against their reverberations and redeployments in the global present“, decken sie zudem, so Ferreira Da Silva, das Ausmaß an Gewalt und Rassismus auf, das sich hinter der universalistischen Haltung verbirgt.189 Kann ihrer Auffassung nach etwa im akademischen Kontext diese Haltung im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung relativ „sorglos“ reproduziert werden, da sie in den Ausführungen der postkolonialen Kritiker*innen durch eine bewusste Distanz zwischen ihrem Forschungsgegenstand, ihrer eigenen Position und der der Leser*innen geschaffen wird, so gestaltet sich dies für die „postkoloniale Künstlerin“, wie Ferreira Da Silva Eid-Sabbagh nennt, allerdings um einiges schwieriger: „None of that distancing is available to the postcolonial performance artist. All of it is (to be in) the performance itself.“190 Dennoch glückt, so Ferreira Da Silva, Eid-Sabbagh eine entsprechende Kritik, indem sie sowohl sich selbst als auch das Publikum in die Kritik mit einbezieht. Eid-Sabbagh spielt ihre Autorität als „Repräsentantin“ und die Schaulust „der“ Öffentlichkeit gegen einander aus. Sie erzeugt in 35' eine Spannung, die nach Ferreira Da Silva die Differenzierung „between ‚I‘ (spectator/colonizer/Human Rights enforcer) and the ‚Other‘ (exhibit/ colonized/victim)“ bewusst aufrechterhält: „It turns presentation into a confrontation. […] [I]t turns the space between the performer and the audience into the trenches. By staging a confrontation, it forges an aesthetic experience that recalls and exposes art’s own performance of the violence that is modern thought […].“191

189 |  Ferreira da Silva, Denise „Reading Art as Confrontation“, in: e-f lux journal, #65, SUPERCOMMUNITY, May-August 2015, http://supercommunity.e-f lux. com/texts/reading-art-as-confrontation/ [eingesehen am 11.07.16]. 190 |  Ebd. 191 |  Ebd.

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Demnach verwehrt Eid-Sabbagh dem Publikum die Möglichkeit, die Position von unbeteiligten, „objektiven Betrachter*innen“ einzunehmen und konfrontiert es zugleich mit ihrer eigenen (eingeschränkten) Handlungsgewalt. Ich stimme hierin weitgehend mit Ferreira Da Silva überein. Allerdings weist ihre Argumentation eine wesentliche Schwachstelle auf: In ihrer Analyse Eid-Sabbaghs performativer Intervention vernachlässigt Ferreira Da Silva es nämlich, genauer auf die Gesten und Aussagen der Künstlerin während ihrer Intervention einzugehen. Für sie ergibt sich daher das Konfrontative aus einem allgemeinen „refusal to give the audience access to anything – images, her own facial expressions, sounds, body language – that could become pieces of evidence, that could introduce the position of a spectator“.192 Das stimmt so nicht ganz. Es ist zwar der Fall, dass Eid-Sabbagh keine Bilder oder genauer die von ihr in Burj al-Shamali gesammelten Fotografien nicht deutlich erkennbar präsentiert. Ihre Interventionen und so auch 35' erhalten jedoch gerade durch Eid-Sabbaghs Gesten, den Klang ihrer Stimme und nicht zuletzt die Stimmen ihrer Protagonist*innen ihre besondere Prägnanz. Werden diese beiden Aspekte – das Zeigen und die daran geknüpften Sprechakte – berücksichtigt, ergibt sich durchaus eine von der Ferreira Da Silvas abweichende, vielschichtigere Leseweise. So wird dabei deutlich, dass dem „refusal to represent“ in 35' keineswegs so resolut und ungebeugt Ausdruck verliehen wird, wie sie es rezipiert. Indem die Verweigerung von Repräsentation darin tatsächlich durch widersprüchliche Aussagen und Gesten verhandelt wird, äußert sich diese Absage, wie ich in den nächsten Punkten zeigen möchte, in einer weitaus feinsinnigeren, geradezu unterschwelligen Form.

Zeigespiel und Sprechakt: Die Dringlichkeit des Unartikulierbaren Zeigen kommt in 35' in einer Pluralität zum Ausdruck, die der Philosoph Dieter Mersch in Anlehnung an den Wittgensteinschen Begriff des Sprachspiels als „Zeigespiel“ bezeichnet – als dichtes Geflecht, welches sich auf verschiedenen Ebenen aus einer „Praktik eines Erscheinenlas192 |  Ferreira da Silva, Denise „Reading Art as Confrontation“, in: e-f lux journal, #65, SUPERCOMMUNITY, May-August 2015, http://supercommunity.e-f lux.com/texts/reading-art-as-confrontation/ [eingesehen am 11.07.16].

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sens und Sichtbarmachens“ ergibt.193 Ein Teil dieses Geflechts ist das fotografische Zeigen, das laut Barthes die Verlängerung einer Geste ist, die „mit dem Finger auf ein bestimmtes Gegenüber [deutet] und in dieser Hinsicht reine Hinweis-Sprache [ist]“.194 Ein weiterer Teil ist der von Eid-Sabbagh in ihrer performativen Intervention beständig wiederholte Zeigegestus des Projizierens. Abgesehen von diesem „Etwas-Zeigen“ des Projizierens, das auf etwas hinweist, den Blick lenkt, und dem „Sichzeigen“ des durch die indexikalische Eigenschaft der Fotografie Abgebildeten, verkörpert die Präsenz Eid-Sabbaghs und ihr Agieren als „Vorzeigende“ zudem ein weiteres Zeigen.195 Dabei ist dieses „Zeigespiel“ oder der „dreistellige Gebrauch des Zeigens“, wie Mersch die Konstellation auch bezeichnen würde196, von einer bewussten Zurückhaltung bzw. einem Zurückhalten geprägt. Das spiegelt sich vor allem in der Tatsache wider, dass Eid-Sabbaghs Projektionen bzw. das Zeigen der Fotografien dem Publikum oftmals nur flüchtige und schemenhafte Umrisse sowie die Geste des Zeigens oder Anzeigens selbst zu sehen geben. Es entsteht der 193 |  Mersch, Dieter „Zeigen – Etwas-Zeigen – Sichzeigen“, in: ders. und Günzel, Stephan (Hg.) Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Vetzler 2014, S. 312-318, hier S. 315 und S. 316. An die Praxis des „Erscheinenlassens“ und „Sichtbarmachens“ ist laut Karen van den Berg auch eine „Politik des Zeigens“ geknüpft, die in dem gleichnamigen von ihr herausgegebenen Sammelband in Bezug auf Ausstellungshäuser und Museen sowie damit einhergehende kulturpolitische Problematiken untersucht wird. Vgl. hierzu dies. und Gumbrecht, Hans Ulrich (Hg.) Politik des Zeigens, München: Wilhelm Fink 2010. 194 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 13. Zum fotografischen Zeigen siehe: Sykora, Katharina; Schrader, Kristin et al. (Hg.) Valenzen fotograf ischen Zeigens, Marburg 2016. Allgemein zum Zeigen von Bildern siehe auch: Boehm, Gottfried „Die Hintergründigkeit des Zeigens, Deiktische Wurzeln des Bildes“, in: Gfrereis, Heike und Lepper, Marcel (Hg.) deixis – Vom Denken mit dem Zeigef inger, Göttingen: Wallstein 2007, S. 144-155 sowie Boehm, Gottfried; Egenhofer, Sebastian und Spies, Christian (Hg.) Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München: Willhelm Fink 2010. 195 |  Vgl. hierzu Mersch, Dieter „Zeigen – Etwas-Zeigen – Sichzeigen“, in: ders. und Günzel, Stephan (Hg.) Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Vetzler 2014, S. 312-318, hier S. 315. 196 |  Vgl. ebd., S. 315.

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Eindruck, dass sie die Bilder letztlich nur für ihre eigene Betrachtung projiziert, um sich auf diese Weise die damit in Verbindung stehenden Geschichten und Anekdoten in Erinnerung zu rufen. Das fotografische Zeigen wird dadurch zugleich stark beeinträchtig. Anstatt Bilder klar zu reproduzieren und sie damit zum Gegenstand eines kollektiven Betrachtens oder gar Spektakels zu machen, stellen die Projektionen das Vermögen der Fotografie heraus, durch ihr indexikalisch-apparatives Referenzverhältnis „Realität“ in ein Spektrum von Licht und Farben aufzusprengen. Die Flüchtigkeit der Projektionen lässt zudem an die kurze Entstehungszeit einer Fotografie bzw. die kurze Dauer, in der ein Negativ belichtet wird, denken. Rückt, Mersch zufolge, Zeigen „das, worauf es zeigt und wovon es ein Zeugnis ablegt, in eine unmittelbare Anwesenheit“,197 so zielt EidSabbaghs Projizieren auf diese Weise nicht auf eine Affirmation durch die Evidenz der Bilder: Obwohl auf ihnen in der Vergangenheit liegende Ereignisse festgehalten sind, wird dadurch, dass sie gezeigt werden (und nicht durch das, was sie zeigen bzw. was sich auf ihnen zeigt), in erster Linie eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment und dessen Vergänglichkeit gelenkt. Das in 35' zum Ausdruck kommende Zeigespiel wird in seiner Komplexität weiterhin dadurch gesteigert, dass Eid-Sabbagh darin das Zeigen aufs Engste mit dem mündlichen Vortrag ihres Skripts verknüpft. Als „reine Hinweis-Sprache“ wird es auf diese Weise in einen komplexen Sprechakt eingegliedert. Oder anders ausgedrückt: Zeigt, laut Mersch, „die Sprache im Modus des Sagens, während Bilder im Modus des Zeigens sagen“198 – so strebt Eid-Sabbagh scheinbar danach, das von den Bildern Gesagte im Modus der Sprache zu zeigen. Das heißt, obwohl das Zeigen in 35' auf den ersten Blick offenbar in „dreistelliger“ Form auftritt, wird es auf diese Weise sofort auch wieder ad absurdum geführt. 35' kennzeichnet demgemäß ein Paradoxon, das der Affirmation und dem Präsentmachen des Zeigens im Grunde zuwiderläuft. Anstatt dass Eid-Sabbagh Bilder zeigt, zeigt sie in erster Linie ein „Nicht-zeigen“, wobei sie folglich wiederum auf das aus ihrer Position

197 |  Mersch, Dieter „Zeigen – Etwas-Zeigen – Sichzeigen“, in: ders. und Günzel, Stephan (Hg.) Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Vetzler 2014, S. 312-318, hier 317. 198 |  Ebd., S. 312.

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nicht Artikulier- und Zeigbare hindeutet. Die Fotografie erscheint in 35' demzufolge nicht als Vermittlerin einer Aussage kraft ihrer Evidenz. Könnte zunächst angenommen werden, dass sich Eid-Sabbagh mit ihrem Zeigen stattdessen selbst als „Medium“ oder „Übersetzerin“ zwischen den Fotografien und dem Publikum positioniert, so ist dies allerdings nur bedingt der Fall. Auch wenn sie dabei die Fotos im Zuge ihres Vortrags auf ihren Bildgehalt hin dechiffriert, so codiert Eid-Sabbagh sie sogleich erneut, indem sie sie durch die Rhetorik ihres Skriptes in einen Bedeutungszusammenhang stellt, der ihren ursprünglichen Sinngehalt beeinflusst. Sie hebt auf diese Weise die Tatsache hervor, dass die Bedeutung eines Fotos durch die Beschreibung seines Bildgegenstandes und seiner Entstehungsumstände nur beschränkt semantisch erfasst werden kann.199 Außerdem vermögen weder die Sprache noch das Zeigen die einer Fotografie entgegengebrachte persönliche Wertschätzung bzw. die emotionale Bindung, die Personen zu ihr oder dem darauf Abgebildeten haben mögen, vorbehaltlos an Dritte zu vermitteln – ein Punkt, der bereits anhand Zaataris On Photography, People and Modern Times erörtert wurde.200 Damit erübrigt sich zwar nicht zwangsläufig ihre Präsentation. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sie dadurch einerseits vollständig von der Person, die sie zeigt und anderseits von dem, was sie wie zeigt, d.h. ihrer eigenen Repräsentation, vereinnahmt wird. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, lässt Eid-Sabbagh in Verbindung mit ihrem performativen Nicht-Zeigen schließlich ihre Protagonist*innen mittels der von ihr gemachten Audioaufnahmen in 35' selbst zu Wort kommen. Die Aufnahmen liefern nicht nur weitere wichtige Aufschlüsse über Burj al-Shamali und die Bewohner*innen des Camps – insbesondere Hasna. Indem sie fast die Hälfte der Zeit der Intervention in Anspruch nehmen, spiegeln sie im Verhältnis zu Eid-Sabbaghs Vortrag zudem den dialogischen Ansatz wieder, den die Künstlerin in ihrer gesamten Photographic Conversation verfolgt. Natürlich hängt die Auswahl der Tonmitschnitte, die Eid-Sabbagh wiedergibt, von der Rhetorik ab, die die Künstlerin in 35' wählt. Dennoch 199 |  Mersch spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Eigensinn“ der Bilder gegenüber der Sprache. Vgl. Mersch, Dieter „Zeigen – Etwas-Zeigen – Sichzeigen“, in: ders. und Günzel, Stephan (Hg.) Bild. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Vetzler 2014, S. 312-318, hier S. 312. 200 |  Siehe Kapitel I, S. 115 ff.

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sind die Aussagen der Protagonist*innen genuin. In diesem Sinne treten vor allem Hasna Abou Kharoub und Fatima Soleiman in 35' gewissermaßen als Co-Autor*innen der Intervention auf. Dabei stehen die hörbaren Gefühlsregungen ihrer Stimmen im Kontrast zur ruhigen und sachlichen Vortragsweise Eid-Sabbaghs. Sie verleihen persönlichen Affekten, die im Zusammenhang mit ihren eigenen Erinnerungen und Gedanken stehen, direkt Ausdruck. Indem sie potentiell eine emotionale Resonanz beim Publikum erzeugen, generieren diese Affekte Bedeutung in einer Art „spürbarem“ Subtext. Und dieser von Individuen ausgehender Subtext, der an andere Individuen gerichtet ist, repräsentiert noch mehr als das von Eid-Sabbagh gezeigte Nicht-Zeigen nichts anderes als sich selbst. Eid-Sabbaghs performative Intervention operiert demnach, wie Ferreira Da Silva herausgestellt hat, „at the level of feelings, both physical and emotional. This practice elicits reactions, tears, laughs, nervous coughs, deadly silences…“201 Entgegen ihrer These, dass Eid-Sabbagh damit eine Konfrontation inszeniert, bin ich jedoch der Meinung, dass die Konfrontation bereits die Voraussetzung dafür ist, dass eine Absage an die Repräsentation formuliert werden kann.202 Ich würde deshalb die Prämissen Ferreira Da Silvas Argument eher umdrehen und behaupten, dass Eid-Sabbaghs Absage an die Repräsentation zugleich ein Verhandeln zugrunde liegt (zwischen Eid-Sabbagh, den Bewohnern von Burj al- Shamali und der Fotografie) und sie dieses Verhandeln erweitert (zwischen Eid-Sabbagh, den Bewohnern von Burj al-Shamali, der Fotografie und dem Publikum). Es ist dabei nicht entscheidend, was genau die von Eid-Sabbagh gesammelten und thematisierten historischen Fotos zeigen oder von wem sie gezeigt werden. Sie erhalten ihre Dringlichkeit vor allem dadurch, dass auf sie gezeigt wird, dass sie diskutiert werden. Aus dem Zeigespiel in Kombination mit den Sprechakten ergibt sich somit eine Anspielung auf das Unartikulierbare, ohne dass es „bloßgestellt“ wird. 201 |  Ferreira da Silva, Denise „Reading Art as Confrontation“, in: e-f lux journal, #65, SUPERCOMMUNITY, May-August 2015, http://supercommunity.e-f lux. com/texts/reading-art-as-confrontation/ [eingesehen am 11.07.16]. 202 |  Laut Lambert Wiesing geschieht Zeigen auch „durch Konfrontation mit der Sache“. Für ihn ist das Zeigen mittels Konfrontation „die sicherste Möglichkeit, jemandem etwas unabhängig von oder gar gegen seinen eigenen Willen zu zeigen.“ Siehe: Wiesing, Lambert Sehen Lassen. Die Praxis des Zeigens, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 21 f.

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In 35' stellt Eid-Sabbagh gebunden an ihre Intention, etwas sichtbar zu machen, ohne es an die Öffentlichkeit zu tragen, damit zwar die Fallstricke der Repräsentation heraus. Sie kann sie allerdings weder völlig umgehen, noch kann sie die Fotografie von ihrer „Last“ – „the burden of representation“ –, um mit Tagg zu sprechen203, befreien oder die von der Repräsentation ausgelöste Krise überwinden. Aber anstatt sich schlichtweg mit diesem Dilemma, dass ihrer Vorgehensweise zu Grunde liegt, kommentarlos abzufinden, kann sie zumindest weiterhin verhandeln und aufzeigen. Und das ist genau, was Eid-Sabbagh tut. Die in 35' zum Ausdruck kommende Absage ist demnach über die Repräsentation hinaus an ihre Unüberwindbarkeit gerichtet. Gleichzeitig scheint Eid-Sabbagh in Bezug auf die in 35' thematisierten Erinnerungen aber ebenso darauf anzuspielen, dass sich Geschichte, so wie es Jean-Luc Nancy formuliert, eigentlich jeglicher Repräsentation entzieht. Eid-Sabbaghs „Rehearsals“, die auf einen unabgeschlossenen Prozess hindeuten – auf ein wiederholtes Erproben – unterstreichen zumindest den von Nancy als vergeblich beschriebenen Versuch von Historiker*innen, Geschichte in fixierte Darstellungen zu erfassen: Denn die Geschichte ist, so Nancy, „unrepresentable, not in the sense that it would be some presence hidden behind the representations, but because it is the coming into presence, as event.“204

Latente Bilder: Ein Vermächtnis an die Zukunft? Gegen Ende von 35' erzählt Eid-Sabbagh, wie sie eines Tages überraschend von Hasnas Tod erfuhr. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt gerade in Beirut und begab sich sofort, nachdem sie die Nachricht erreichte, zurück auf den Weg nach Burj al-Shamali. Als sie dort ankam, hatte sich bereits eine Gruppe trauender Leute vor Hasnas Haus versammelt und Eid-Sabbagh schildert, wie sie viele von ihnen, obwohl sie sie nie persönlich kennengelernt hatte, von Hasnas Fotos her wiedererkannte. Sie beschreibt, wie die Bilder in diesem Augenblick für sie zum Leben erweckt wurden, die darauf Abgebildeten aus ihnen plötzlich herausgetreten zu sein schienen. Darunter befand sich auch Hasnas Schwester, die Eid-Sab203 |  Vgl. Tagg, John The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, London: Macmillan 1988. 204 |  Nancy, Jean-Luc The Birth to Presence, Stanford: Stanford University Press 1993, S. 161.

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bagh herzlich begrüßte und sie ins Haus begleitete, wo die Tote aufgebahrt war. Während Eid-Sabbagh dieses Ereignis schildert, verändert sich ihre Rhetorik. Ihr Vortrag gibt ab diesem Punkt keinen Erfahrungsbericht mehr wieder, sondern eine persönliche Anrede, die sich direkt an Hasna richtet: „The women have already prepared you. And the men are about to take you to the graveyard.“ Eid-Sabbagh spricht im Zuge dessen davon, wie sie unter Schock und aus einem Reflex heraus vor Hasnas Leiche zu ihrer Kamera griff und sie fotografierte. Es ist das einzige Foto, das sie jemals selbst von Hasna machte. Sie führt weiterhin aus, dass sie den Film, auf dem sie dieses Bild aufnahm, nie entwickelt habe und sie ihn bis heute in einer hölzernen Schachtel auf bewahrt. Zum Schluss ihrer performativen Intervention kulminiert damit der Bogen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Zeigen und Nichtzeigen, den Eid-Sabbagh im Verlauf von 35' spannt, in einem Vermächtnis, einem latenten Bild. Wie die unentwickelten Diafilmrollen, auf denen Hasna in den 1970er Jahren die Zerstörung des Camps festhielt, bezeichnet es, so die britische Kuratorin Suzanne Cotter, „the visual translated through evocation, and the redolent potential for emergence“.205 Im Fall von Eid-Sabbaghs gemachtem Bild Hasnas ist diese Latenz einerseits ein Verweis auf das Unartikulierbare. Andererseits kann das latente Bild aber auch als Metapher für die suspendierte Bedeutung der von Eid-Sabbagh in Burj al-Shamali gesammelten historischen Fotos gelesen werden. Eid-Sabbagh hatte ursprünglich vor, diese Sammlung den 205 |  Cotter, Suzanne „Stranger than Fiction“, in: Diné, Clément und Thériault, Michèle (Hg.) Joana Hadjithomas - Khalil Joreige, Zürich: JRP|Ringier 2013, S. 49-56, hier S. 52. Dieser Art Verweis auf latente Bilder findet sich auch bei Wald Raads Atlas Group, wie zum Beispiel in der Serie Secrets in the Open Sea (1994-2004). Auch bei dem Künstlerduo Joanna Hadjthomas und Khalil Joreige ist diese ein wiederholt auftauchender Topos, auf den sich Eid-Sabbagh hier indirekt bezieht. Operieren sowohl Raads Arbeit als auch die von Hadjthomas und Joreige an der Schnittstelle von Fakt und Fiktion, um ein latentes Bild als imaginierte, irrationale Erscheinung zu „entwickeln“, so kann allerdings im Fall von Eid-Sabbaghs Beschreibung davon ausgegangen werden, dass es sich um eine auf reale Ereignisse basierende Schilderung handelt. Vgl. auch Hadjthomas, Joanna und Joreige, Khalil „Latency“, in: Thome, Christine und Abu Rayyan, Mona (Hg.) Home Works. A Forum of Cultural Practices in the Region, Beirut: Ashkal Alwan 2002, S. 40-49.

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Bewohner*innen Burj al-Shamalis in Form einer von ihnen verwalteten digitalen Datenbank zu übergeben. Sie zögert damit jedoch bis heute. Denn obwohl diese Sammlung zur Stärkung eines kollektiven Gedächtnisses innerhalb der Campgemeinschaft beitrüge und ihre Entstehung von einigen der Campbewohner*innen – indem sie ihre Bilder EidSabbagh zum Scannen überließen – tatkräftig unterstützt wurde, könnte sie dennoch bzw. ihr Öffentlichmachen aufgrund des privaten Charakters der meisten darin enthalten Fotos zu diesem Zeitpunkt durchaus zu Unannehmlichkeiten für ihre ursprünglichen Eigententümer*innen und Urheber*innen führen.206 Das lässt sich zum Beispiel anhand von zwei Fotos verdeutlichen, auf die Eid-Sabbagh in einer anderen ihrer „Rehearsals“ verweist.207 Sie zeigen jeweils dieselbe Bewohnerin Burj al-Shamalis – einmal bevor und einmal nachdem das Camp 1982 durch israelische Napalmangriffe verwüstet wurde. Auf dem Foto, das vor 1982 entstand, ist sie als junge Frau ohne Kopftuch zu sehen. Auf dem anderen erscheint sie mit Brandnarben im Gesicht und einen Hidschāb tragend. Ihr Ehemann, der Eid-Sabbagh diese beiden Bilder überließ, tat dies vor allem unter der Bedingung, dass sie die Fotos zwar in der Öffentlichkeit als Indizien für die Brutalität, mit der die Israelis gegen palästinensische Zivilist*innen vorgingen, präsentieren solle. Diese „Öffentlichkeit“ wollte er jedoch strikt auf ein Außerhalb des Camps beschränkt wissen. Denn für ihn und seine Frau wäre es äußerst beschämend, wenn ihre Nachbar*innen und Bekannten sie heute auf dem Bild ohne Kopftuch zu sehen bekämen. Das Vermächtnis der von Eid-Sabbagh zusammen getragenen Sammlung ist daher mit einer Verantwortung verbunden, die ihr ein Zurückhalten, wie es in 35' demonstriert wird, abverlangt. Im Gegensatz zur Sammlung der Arab Image Foundation, der Eid-Sabbagh 2006 als Mitglied beitrat, ist das Zei206 |  Eid-Sabbagh gibt selbst dazu an: „I wanted to devise a model that was long-term and premised upon handing over ownership to the protagonists of the camp community rather than NGO officials or grant-makers situated far away from the realities of the camp.“ Siehe: Eid-Sabbagh, Yasmine und Lourié, Simon (Supported by the Arab Image Foundation) A Photographic Conversation form Burj al-Shamali Camp, Infobroschüre 2008, o.S. 207 |  Dies tat sie etwa während ihrer Präsentation im Rahmen des im Jahre 2010 von der Townhouse Gallery in Kairo organisierten Symposiums Speak, Memory.

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gen der Bilder aus Burj al-Shamali damit nicht nur im Hinblick auf die Krise der Repräsentation heikel. Das widersprüchliche Verhältnis einiger Bewohner*innen zur Fotografie und die religiösen und gesellschaftlichen Normen im Camp beeinträchtigen es ebenfalls maßgeblich. Es wäre also nicht damit getan, wenn Eid-Sabbagh wie die AIF mit ihren Richtlinien für die Nutzung bestimmter Fotos deren Veröffentlichung einschränkt.208 Im Rahmen ihrer auf persönlichen Beziehungen basierenden Photographic Conversation gestaltet sich das Verhältnis zwischen Eid-Sabbgahs Sammlung und der Öffentlichkeit durchaus komplexer. Vor allem aus dem Grund, dass Eid-Sabbagh davon absehen möchte, eine kontrollierende und damit vorsätzlich repräsentative Funktion zu übernehmen. Somit wird in Bezug auf die damit verbundene Verantwortung wie in dem von Eid-Sabbagh gezeigten Nicht-Zeigen erneut ein Widerspruch bzw. das ihrer Vorgehensweise zugrundeliegende Dilemma deutlich. Latenz erhält in der Photographic Conversation allerdings dadurch gesteigerte Potenz, dass sie abgesehen von den aktuellen Dringlichkeiten des eingeschränkten Darauf-Zeigens ein zukünftiges selbstbestimmtes Sich-Zeigen ermöglichen könnte. Dies hängt zwar weitgehend davon ab, inwieweit sich die persönlichen Bezüge zu den gesammelten Fotos im Laufe der Zeit wandeln. Wichtig ist aber bereits jetzt, dass, solange Camps wie Burj al-Shamali existieren, ein Wissen um und das Sprechen über sie weiterhin verbreitet wird, ohne dass die Menschen, die von diesen „Zonen der Ununterscheidbarkeit“ erfasst wurden, in einem permanenten Ausnahmezustand als bloße symbolische Entitäten dargestellt werden. Anstatt durch die Fotos und die Geschichten der Einwohner*innen Burj al-Shamalis ein Bild der palästinensische Flüchtlinge zu festigen, das einen über sechs Jahrzehnte andauernden Konflikt verkörpert, liegt Eid-Sabbagh also daran, sie als Individuen zu Wort kommen zu lassen, deren Leben von einem ständigen Wandel geprägt ist und nicht nur von der ihnen auferlegten Identität als Flüchtlinge.209 Dies gilt vor allem auch in Anbetracht derzeitiger politischer Faktoren, wie dem 2011 entfachten Bürgerkrieg in Syrien. Denn jener hat nicht nur schwerwiegende Auswirkungen auf die syrische Bevölkerung, unter denen sich mehr als 500.000 ebenfalls überwiegend 208 |  Siehe Kapitel I, S. 51. 209 |  Vgl. hierzu Eid-Sabbagh, Yasmine Q&A (Excerpt), in: Berndt, Daniel; Flemming, Victoria v. und Bialek, Yvonne (Hg.) (Post-)Fotograf isches Archivieren. Wandel, Macht, Geschichte, Marburg: Jonas Verlag 2016, S. 97-108.

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in Flüchtlingscamps lebende Palästinenser*innen befinden210, die sich abermals zur Flucht vor politischen Unruhen und Gewalt gezwungen sehen: Zahlreiche Palästinenser*innen aus dem Libanon, darunter auch Bewohner*innen Burj al-Shamalis, schlossen sich aufgrund ihrer untragbaren Situation in den Camps diesem Flüchtlingszug an.211 Die Latenz bzw. Potenz von Eid-Sabbaghs Photographic Conversation verweist damit aus palästinensischer Sicht auf eine neue Dimension einer humanitären Notlage, für die weder Repräsentanz noch die Ausweitung des Ausnahmezustands sondern nur – so bleibt zu hoffen – der Dialog bzw. ein konstruktiver, vielstimmiger Austausch eine Lösung versprechen kann.

210 |  Vgl. hierzu die offiziellen Angaben auf der UNRWA-Hompage: http:// www.unrwa.org/where-we-work/syria [eingesehen am 11.07.16]. 211 |  Davon berichtete mir Eid-Sabbagh, die weiterhin in engen Kontakt mit einigen Bewohner*innen des Camps steht, in einem privaten Gespräch.

IV. Wiederholung als Widerstand und die Mannigfaltigkeit des Möglichen

Ich habe mich offensichtlich dagegen entschieden, meine Ausführungen mit der Beschreibung einer bestimmten Fotografie zu beginnen. Ich möchte sie aber mit einer solchen beenden. Allerdings stammt die Beschreibung nicht von mir, sondern von Edward W. Said und zwar aus seinem erstmals 1986 veröffentlichen After the Last Sky. In diesem Buch nimmt Said in der Zeit zwischen 1950 und Mitte der 1980er Jahre überwiegend in den besetzten palästinensischen Gebieten, im Gazastreifen, Jordanien und im Libanon gemachte Bilder des Schweizer Fotografen Jean Mohr zum Anlass, um seine durch sie ausgelösten Assoziationen und Erinnerungen zu einer Abhandlung über die Geschichte Palästinas, das Leben im Exil sowie den politischen Status Quo zu verknüpfen. Saids Ausführungen stehen dabei wiederum in enger Verbindung mit seiner Forderung, den Palästinenser*innen die Möglichkeit zu gewähren, ihre eigene Geschichte zu schreiben bzw. dass sie selbst, wie er es formuliert, auf ihrer „Permission to Narrate“1 beharren. Denn, so schreibt er, „the further we get from our Palestine of our past, the more precarious our state, the more disrupted our being, the more intermittent our presence.“2 Fotografien bilden für ihn aufgrund ihrer mnemonischen Eigenschaft eine wichtige Grundlage für die Affirmation palästinensischer Identität – „they are strands in the web of affiliations we Palestinians use to tie ourselves to our identity and to each other“.3 Das Foto, anhand dessen Said in After the Last Sky das, was er als „web of affiliations“ – als Beziehungsgeflecht – bezeichnet, am eindrucksvollsten verdeutlicht, ist ein 1984 in Amman entstandenes Porträt einer älteren Dame Namens Mrs. Farraj. Der Bildgegenstand ist dabei weniger ausschlaggebend für meine Entscheidung, mit dessen Beschreibung zu enden. Es ist vielmehr die Art, 1 |  Said, Edward W. „Permission to Narrate“, in: ders. The Politics of Dispossession. The Struggle of Palestinian Self-Determination 1969-1994, London: Vintage 1995, S. 247-268. 2 |  Ders. After the Last Sky. Palestinian Lives, New York: Columbia University Press 1999, S. 34. 3 |  Ebd., S. 14.

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wie Said vom Bild ausgehend bzw. von dem, was es zeigt und wie das Gezeigte mit seinen Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen korrespondiert,4 ein Verständnis von der Fotografie vermittelt, das sich in vielerlei Hinsicht auch in der künstlerischen Wiederholung historischer Fotos von Zaatari, Joreige, Jacir, Raad und Eid-Sabbagh widerspiegelt: „Here is another face of a woman spun out with the familiarity of years, concealing a lifetime of episodes, splendidly recorded by a listening photographer. It is a face, I thought when I first saw it, of our life at home. Six months later I was showing the pictures casually to my sister. ‚There’s Mrs. Farraj‘ʽshe said. Indeed, it was. I first saw her in 1946 when my cousin married her daughter, who was the first beautiful woman I encountered in real life. Then I saw her in the fifties, and then again now, in Jean Mohr’s picture. Connected to me, my sister, my friends, her relatives, her acquaintances, and the places she’s been, her picture seems like a map pulling us all together, even down to her hair net, her ribbed sweater, the unattractive glasses, the balanced smile and strong hand. But all the connections only come to light, so to speak, some time after I had seen the photograph, after we had decided to use it, after I had placed it in the sequence. As soon as I recognized Mrs. Farraj, the suggested intimacy of the photograph’s surface gave way to an explicitness with few secrets. She is a real person – Palestinian – with a real history at the interior of ours. But I do not know whether the photograph can, or does, say things as they really are. Something has been lost. But the representation is all we have.“5

Das wiederholte Betrachten, Wiedererkennen, Erinnern, das Finden, Herstellen und Verbinden von Bezugspunkten, der Bedeutungsgehalt einer Fotografie gemessen an der subjektiven Bindung zum darauf Abgebildeten und die veränderte Perspektive darauf, wenn sie davon losgelöst betrachtet wird; ihre Wirkkraft als Spur und Vermächtnis, ihre Evidenz, aber auch der Zweifel an dem historischen Wahrheitsgehalt einer Fotografie – all das sind Punkte, die auch in Zaataris, Joreiges, Jacirs, Raads 4 |  So formulierte es Said in einem Interview mit W.J.T. Mitchell. Siehe: Mitchell, William J.T. „The Panic of the Visual. A Conversation with Edward W. Said“, in: Bové, Paul A. Edward Said and the Work of the Critic. Speaking Truth to Power, Durham NC: Duke University Press 2000, S. 31-50, hier S. 36. 5 |  Said, Edward W. After the Last Sky. Palestinian Lives, New York: Columbia University Press 1999, S. 84.

Wiederholung als Widerstand

und Eid-Sabbaghs Auseinandersetzungen mit historischen Fotos eine zentrale Rolle spielen. In Saids Bemerkung, dass in der Fotografie etwas verloren gegangen ist, sie jedoch „alles“ ist, was „wir haben“, äußert sich zudem eine Forderung, Fotografie als mögliche historische Quellen angemessen zu begegnen, oder – wie Didi-Huberman es formuliert – ihr in dieser Hinsicht weder zu viel noch zu wenig zuzutrauen.6

Ein Mittelweg Denn wer der Fotografie als historische Quelle zuviel abverlangt – nämlich die „ganze Wahrheit“ – wird, so Didi-Hubermann, „rasch enttäuscht sein.“ Aufgrund ihrer fragmentarischen Wiedergabe der „Realität“ sind Fotos letztlich „unangemessen: was wir sehen [...] ist immer noch weniger im Vergleich zu dem, was wir wissen“.7 Traut man der Fotografie hingegen zu wenig zu, rechnet sie „der Sphäre des Simulakrums“ zu, wird sie aus dem Bereich des Historischen ausgeschlossen. Erachtet man eine Fotografie hingegen von vorneherein nur als historisches „Dokument“, so „wird [sie] ihrer Phänomenologie, ihrer Besonderheit und ihrer ganz eigenen Substanz“ beraubt.8 Said spricht sich in After the Last Sky und implizit in der von mir zitierten Beschreibung für einen Mittelweg aus, wobei das Fragmentarische der von ihm thematisierten Fotografien in Verbindung mit persönlichen Erinnerungen, Assoziationen und historischen Fakten einem geschichtsbildenden Prozess Ausdruck verleiht, der bewusst keine lineare Geschichte im Sinne eines Narrativs erzeugt, sondern gleichermaßen die Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft reflektiert.9 Auf diesem Weg werden Spuren nachgezeichnet, um sie zu einem vielschichtigen visuellen Beziehungsgeflecht zu vereinen, das zugleich eine Differenz zu durch die Fotografie und der Geschichtsschreibung erzeug-

6 |  Didi-Huberman, Georges Bilder trotz allem, München: Wilhelm Fink 2007, S. 57. 7 |  Ebd. 8 |  Ebd. 9 |  Mitchell, William J.T. „The Panic of the Visual. A Conversation with Edward W. Said“, in: Bové, Paul A. Edward Said and the Work of the Critic. Speaking Truth to Power, Durham NC: Duke University Press 2000, S. 31–50, hier S. 36 f.

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ten essentialistischen Repräsentationen schaffen soll.10 Diesen Mittelweg schlagen auch Zaatari, Joreige, Jacir, Raad und Eid-Sabbagh ein. An der Schnittstelle zwischen Erinnerung, Geschichte und Politik verortet, dienen ihnen historische Fotos in erster Linie als Referenz, um Rhetoriken der Geschichtsschreibung zu prüfen oder unter veränderten Gesichtspunkten zu reformulieren. Im Zuge dessen verweisen sie auf die gegenwärtigen Verhältnisse bzw. auf andauernde Entwicklungen, deren Verlauf wiederum durch die Vergangenheit bedingt ist. Sie vermitteln damit auf unterschiedliche Art und Weise zwischen dem Barthes’schen „Ça a été“, der Nachträglichkeit des fotografischen Zeigens, das eine „Verbindung aus zweierlei: Realität und Vergangenheit“11 herstellt, und der Tatsache, dass die Lesart einer Fotografie maßgeblich von ihrer Annotation abhängt. Kurzum: Sie stellen spekulative Verbindungen her zwischen dem, was Fotografien zu sehen geben, und dem, was aus anderen historischen Quellen und Zeugenberichten erkenntlich wird. Dabei setzen sie nicht zwangsläufig auf die Authentizität, die der Fotografie augrund des ihr zugeschriebenen indexikalischen Charakters oftmals anerkannt wird, sondern heben überwiegend ihr Eingebettetsein in einem „Repräsentationssystem“ hervor, das Bedeutungsverschiebungen bedingt, je nach dem wo, von wem und unter welchen Umständen Fotos gezeigt und betrachtet werden. Das wird nicht nur am Übergang von privaten Bildern in öffentliche Sammlungen, Ausstellungen und Kunstwerke evident, sondern auch durch intermediale Verknüpfungen, Remediatisierung und der Bildmigration, die von Zaatari, Joreige, Jacir, Raad und Eid-Sabbagh im Rahmen ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit historischen Fotos generiert werden.

Umwertung und Freiraum Davon abgesehen ergibt sich eine weitere maßgebliche Bedeutungsverschiebung aus der Tatsache, dass die Reproduktion von ursprünglich aus privatem Besitz oder institutionellen Archiven stammenden Fotos wie etwa im Fall von Zaataris After They Joined the Military Struggle, Raads 10 |  Said, Edward W. After the Last Sky. Palestinian Lives, New York: Columbia University Press 1999, S. 164. 11 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 86.

Wiederholung als Widerstand

We decided we let them say, „we are convinced“ twice und Untitled 1982-2007 oder Jacirs Material for a Film12 mit einer Werteverlagerung einhergeht. Sie sind nicht mehr primär als Andenken von ideellem Wert oder werden nicht mehr nur aufgrund ihres Informationsgehaltes geachtet. Als Kunstwerke unterliegen sie nun vermehrt einer ästhetischen Wertschätzung und erzielen einen erheblichen Marktwert. Zudem wird die Präsentation der Fotos als Teil oder im Rahmen von Kunstwerken und Performances in internationalen kulturellen Institutionen direkt mit den politischen Agenden dieser Institutionen (die wiederum der Struktur und der Dynamik des Marktes verhaftet bleiben) in Relation gestellt. Das ist insbesondere dann problematisch, wenn Museen und Ausstellungshäuser danach streben, über die Kunst geopolitische Situationen und kulturelle Perspektiven zu verhandeln und dabei oft dazu neigen, die von ihnen gezeigten künstlerischen Arbeiten als rhetorische Mittel zu vereinnahmen. Dadurch werden nicht selten Polaritäten wie lokal/international, kontextgebunden/global, Zentrum/Peripherie, Westen/Nicht-Westen gefestigt.13 Das Gleiche gilt für die theoretische Beschäftigung mit diesen Arbeiten. So fördern auch die in dieser Dissertation dargelegten Analysen eine Lesart der von den Künstler*innen gesammelten und verwendeten Fotos und damit in Verbindung stehenden historischen Ereignisse und Erinnerungen, die an die Interessen und den Standpunkt des Autors gebunden ist. Doch auch die Künstler*innen begeben sich in ein prekäres Feld, indem sie die „Umwertung“ der von ihnen verwendeten Fotos durch den Transfer in die Kunstwelt bewusst evozieren. Es besteht die Möglichkeit, dass die Künstler*innen nicht zuletzt ihre eigene Herkunft und ihre persönlichen Erfahrungen nutzbringend mit der Bearbeitung von regionsspezifischen und identitätspolitischen Themen „vermarkten“14 und den Agenden internationaler Institutionen bzw. der Dynamik des globalen Kunstmarktes auf diese Weise in die Hände spielen. Mit der in der Einleitung erwähnten Kritik Osbornes gesprochen, führt somit die Bearbeitung von in spezifischen Regionen wurzelnden 12 |  Jacir bietet nicht nur Material for a Film zum Verkauf sondern auch eine Auswahl der darin präsentierten historischen Fotografien von Zuaiter als Editionen. 13 |  Vgl. Papastergiadis, Nikos und Mosquera, Gerardo „The Geopolitics of Contemporary Art“, in: Ibraaz, 008, November 2014, http://www.ibraaz.org/ essays/109#_ftnref21 [eingesehen am 12.07.16]. 14 |  Vgl. hierzu Zolghadr, Tirdad Ethnic Marketing, Zürich: JRP|Ringier 2007.

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Erinnerungen gleichzeitig zu ihrer Nivellierung, sobald sie der Logik des globalen Kapitalismus unterstellt wird. Gleichzeitig ist es jedoch wichtig, der Kunst nicht jegliche „der Gesellschaft mühsam abgezwungene“ Autonomie15 abzusprechen, damit ihr noch eine andere Relevanz als nur ihr Marktwert und ihre Funktionalisierbarkeit innerhalb des Kunstsystems zukommen kann. Selbst Osborne spricht insbesondere der Kunst, die sich mit Erinnerung und Geschichte auseinandersetzt, diesen Freiraum und eine widerständige Schlagkraft zu, insofern sie das konstruierte Wesen historischer Erzählung kenntlich macht und daran geknüpfte Machtstrukturen aufdeckt. Er sieht in Raads Atlas Group sogar seine Forderung nach der Formierung spekulativer Kollektivität verwirklicht: Denn Raad „fiktionalisiert“ damit nicht nur die nationale Geschichte des Libanons und im Fall von We decided we let them say, „we are convinced“ twice auch die Palästinas. Er unterstellt zudem seine Autorschaft einem fiktiven Kollektiv, das Osborne als Allegorie für eine transnationale Gemeinschaft begreift.16 Doch auch Zaataris, Jacirs, Joreiges und Eid-Sabbaghs Werke und künstlerische Praktiken nutzen einen solchen Freiraum. Denn die in ihren Arbeiten artikulierten Stellungnahmen zur Geschichte Palästinas und palästinensischer Identität knüpfen einen engen Bezug zur transnationalen Gegenwart, die nach Osborne nicht als „the abstract other of the nation“ zu vereinnahmen ist.17 Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh weisen in dieser Hinsicht auf die Situiertheit ihrer Kunst hin. Am deutlichsten wird dies am Beispiel von Eid-Sabbaghs „Rehearsals“, im Rahmen derer sie sich performativ der Präsentation und „Verwerkung“ der von ihr in Burj al-Shamali gesammelten historischen Fotos verweigert, oder anhand Raads Rhetorik, die er je nach Ort und Anlass ändert. Alle die von mir besprochenen Künstler*innen stellen zudem die Situiertheit der Betrachter*innen heraus, indem sie ihre Kunst demonstrativ zum Gegenstand „ökonomischer, politischer und kultureller Austauschverhältnisse“ machen und zeigen, dass sich „die Geschichten der

15 |  Vgl. Adorno, Theodor Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 353. 16 |  Vgl. Osborne, Peter Anywhere or Not at All. Philosophy of Contemporary Art, London/New York: Verso 2013, S. 34 f. 17 |  Ebd., S. 35.

Wiederholung als Widerstand

modernen Nationen als miteinander verflochtene erweisen“.18 Ihre Kunst verdeutlicht, was Said meint, wenn er sagt, dass niemand „außerhalb oder jenseits“ der Geografie bzw. geopolitischer Machtkämpfe steht – und das vor allem deswegen, weil diese Kämpfe sich nicht nur in militärischen Auseinandersetzungen manifestieren, sondern auch „Ideen“, „Vorstellungen“ und „Bilder“ ihren wesentlichen Anteil daran haben.19 Dementsprechend sind die „speculative collectives“, auf die sich Zaatari, Jacir, Joreige und Eid-Sabbagh beziehen, „nicht im Sinne der Projektion einer utopischen Einheit der Menschheit [spekulativ], sondern im Sinne dessen, was in den sehr konkreten Auseinandersetzungen um existierende Formen von Kollektivität im „Kommen“, also für ein Besseres offen bleibt“.20 Oder, um mit Deleuze zu sprechen: „Das Volk fehlt und fehlt gleichzeitig nicht. Das Volk fehlt: das will heißen, daß diese grundlegende Affinität zwischen dem Kunstwerk und einem Volk, das noch nicht existiert, nicht klar ist und nie klar sein wird. Es gibt kein Kunstwerk, das sich nicht an ein Volk wendet, das noch nicht existiert.“21

Wiederholung, selektive Prüfung, Differenz Zaataris, Joreiges, Jacirs, Raads und Eid-Sabbaghs Umgang mit historischen Fotos bzw. dem, was ich als künstlerische Widerholung bezeichnet habe, und die Differenzen, die jene erzeugt, verdeutlichen jedoch nicht nur die Konstruktion historischer Narrative. Sie stellen zudem eine der Erinnerung, der Geschichte und der (nationalen) Identität immanente, sich beständig wiederholende Bewegung heraus. Dabei zeichnen sie nach, wie sich mit Wiederholung notwendigerweise immer eine unmittelbare „Neuordnung von Erfahrung zu einer immer vermittelteren Umgestaltung“ (Hervorhebung im Original) einer Erfahrung entwickelt, in der 18 |  Rebentisch, Juliane Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2013, S. 198. 19 |  Vgl. Said, Edward W. Culture and Imperialism, New York: Vintage 1994, S. 7. 20 |  Rebentisch, Juliane Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: Junius Verlag 2013, S. 199. 21 |  Deleuze, Gilles „Was ist ein Schöpfungsakt?“, in: ders. Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 298-308, hier S. 308.

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sich, so Said, „die Disparität zwischen einer Version und ihrer Wiederholung vergrößert“.22 Eine der komplexesten Untersuchungen dieser Bewegung hat sicherlich Deleuze in Differenz und Wiederholung entwickelt. Er geht dabei davon aus, dass diese Bewegung ihren Ursprung in der Repräsentation hat. So versucht er, die Bewegung von Differenz und Wiederholung auf die Genese von Repräsentationen zurückzuführen. Mit Repräsentationen meint er in diesem Zusammenhang nicht nur Darstellungen sondern auch Vorstellungen, in denen Identität als das Resultat einer Unterscheidung und der (Re-)Produktion von Singularitäten angesichts des Allgemeinen entsteht. Deleuze betrachtet die Repräsentation als Grundlage unseres Wissens. Er erläutert die Philosophiegeschichte sowie unter anderem die Gebiete der Psychoanalyse, Linguistik und Biologie durchkreuzend, wie durch die Differenz als eine Art wiederholender Streuung die Ordnung der Repräsentation, d.h. unsere Urteilskraft und unser Denken bestimmt wird. In diesem Zusammenhang unterscheidet er zwischen zwei „Wiederholungstypen“, zwischen „statischer“ und „dynamischer“ Wiederholung.23 Bei dem ersten Typus handelt es sich um ein mechanisches Wiederholen, das zu Festschreibungen in Form von Klischees und Stereotypen,24 Zwängen25 sowie der Erzeugung von „Trugbildern“26 führt. Der zweite Typus hingegen birgt ein kritisches Potential, insofern diese Wiederholung „an eine Prüfung, an eine Selektion, an eine selektive Prüfung“27 gebunden ist, d.h. wenn sie nicht ausschließlich auf einer Äquivalenz oder Ähnlichkeit von zwei durch einen zeitlichen Verlauf getrennte Instanzen beruht, sondern Differenzierungen entfaltet, die Kategorien wie Identität, Analogien und darin begründete Gegensätzlichkeiten sowie die Reproduktion der durch diese Kategorien erzeugten Repräsentationen unterlaufen. Einhergehend mit dieser dynamischen Wiederho22 |  Said, Edward W. „Über die Wiederholung“, in: ders. Die Welt, der Text und der Kritiker, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1997, S. 133-152, hier S. 152. 23 |  Deleuze, Gilles Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 2007, S. 38. 24 |  Vgl. ebd., S.4. 25 |  Vgl. ebd., S. 139. 26 |  Deleuze bezeichnet die moderne Welt auch als eine „Welt der Trugbilder [simlucares]“. Vgl. ebd., S. 11 und S. 95 f. 27 |  Ebd., S. 20.

Wiederholung als Widerstand

lung manifestiert sich somit Differenz als ein „Denken im Denken“28, ein (Bewusst-)Werden: ein reflektiertes Denken, indem wir uns zugleich erinnern und neue Denkbilder entwickeln bzw. uns daran erinnern, neue Denkbilder zu entwickeln.29 Dies geschieht vor allem dann, wenn sich durch die Wiederholung eine spontane Aktualisierung der Vergangenheit als „unvordenkliches Gedächtnis“ ereignet, „als Vergangenheit, die selbst nie gegenwärtig war“.30 In Anlehnung an Kierkegaard beschreibt Deleuze diese dynamische oder differenzierende Wiederholung auch als einen Prozess, der danach strebt, aus der Wiederholung „eine Neuheit zu machen, d.h. eine Freiheit und eine Aufgabe der Freiheit“.31 Und so ist nach Deleuze auch die Kunst dazu verpflichtet, sich „Freiheit“ durch die differenzierte Wiederholung zur Aufgabe zu machen. „Es ist vielleicht der höchste Gegenstand der Kunst“, schreibt er, „Wiederholungen mit ihrer wesentlichen und rhythmischen Differenz, ihrer Divergenz und ihrer Dezentrierung gleichzeitig in Bewegung zu setzen“.32 Denn im Kunstwerk findet noch die „mechanischste, alltäglichste, gewöhnlichste und völlig stereotype Wiederholung“ ihren Platz „und wird dabei stets im Verhältnis zu anderen Wiederholungen verschoben, und zwar unter der Bedingung, daß man ihr eine Differenz für diese anderen Wiederholungen abzulocken vermag“.33 Demnach hat Kunst „ihre eigenen Techniken von verzahnten Wiederholungen, deren kritische und revolutionäre Gewalt den höchsten Punkt erreichen kann, um uns von den öden Wiederholungen der Gewohnheit zu den tiefen Wiederholungen des Gedächtnisses und dann zu den letzten Wiederholungen des Todes zu führen, in denen unsere Freiheit auf dem Spiel steht.“34

28 |  Deleuze, Gilles Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 2007, S. 344. 29 |  Vgl. ebd., S. 361 und 367. 30 |  Ebd., S. 342. 31 |  Ebd., S. 21. 32 |  Ebd., S. 364. 33 |  Ebd. 34 |  Ebd., S. 365.

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Gegebene Ordnungen stören, neue Zusammenhänge Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh „verzahnen“ in den von mir besprochenen Arbeiten und Projekten nicht nur Wiederholungen unterschiedlicher Art, sie machen die differenzierende Wiederholung zu einer Prämisse, um neue Fragestellungen aus dem Gegebenen zu entwickeln. Sie klären damit nicht auf, sondern regen zur Reflektion an.35 Konkret in Bezug auf das Schicksal der Palästinenser*innen und ihrer traumatischen Geschichte stellen die Künstler*innen, so wie es bereits Said getan hat, die Wiederholung auch als Mittel zur Wahrung nationaler Identität und Aufrechterhaltung eines politischen Widerstandes heraus.36 Im Gegensatz zu Freud, bei dem die Wiederholung mit der Verdrängung von Erinnerung einhergeht, indem die zwanghafte Wiederholung einer Handlung anstelle des Erinnerns tritt, um die Bewusstwerdung eines traumatischen Ereignisses zu verhindern,37 machen sie vielmehr den Deleuze’schen Umkehrschritt dieser Annahme kenntlich: „Ich wiederhole nicht, weil ich verdränge. Ich verdränge, weil ich wiederhole. Ich verdränge, weil ich zunächst manche Dinge oder manche Erfahrungen nur im Modus der Wiederholung erleben kann.“38 Sie verdeutlichen jedoch ebenso, dass sich in der Wiederholung zugleich die Gefahr des Vergessens birgt, da jede Wiederholung eine unwiederbringliche Veränderung der

35 |  Vgl. Deleuze, Gilles Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 2007, S. 41 f. 36 |  Vgl. Said, Edward W. After the Last Sky. Palestinian Lives, New York: Columbia University Press 1999, S. 56-61 sowie Rushdie, Salman „On Palestinian Identity. A Conversation with Edward Said“, in: ders. Imaginary Homlands. Essays and Criticism 1981-1991, New York: Penguin Books 1991, S. 166-184. 37 |  Paul Ricoeur schreibt dazu auch, dass das in Freuds Aufsätzen „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ (1914) und „Trauer und Melancholie“ (1915) angesprochene verhinderte Gedächtnis „ein vergeßliches Gedächtnis“ sei. Laut Freud wiederholt der Patient, anstatt sich zu erinnern. Die Wiederholung kommt somit dem Vergessen gleich bzw. ist Vergessen im Wiederholungszwang, der die Bewusstwerdung des traumatischen Ereignisses verhindert. Vgl. hierzu Ricoeur, Paul Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München: Wilhelm Fink 2004, S. 680. 38 |  Deleuze, Gilles Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 2007, S. 35 f.

Wiederholung als Widerstand

Ausgangssituation mit sich bringt.39 Das betrifft nicht nur die künstlerische Auseinandersetzung mit den historischen Fotos, sondern auch die Deutungsvorgänge, die dadurch in Gang gesetzt werden. Eine weitere Art der Wiederholung offenbart sich zudem bereits in der Fotografie selbst, von der Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und EidSabbagh ausgehen. Denn das Medium wiederholt, so Barthes, mechanisch das, „was sich existentiell nie wird wiederholen können“.40 Es handelt sich dabei allerdings um eine Wiederholung, die Deleuze in die erste Kategorie der statischen Wiederholung einordnet, da das Wesen der Fotografie seines Erachtens vornehmlich auf Ähnlichkeit und Darstellung beruht.41 Demgemäß ist für Deleuze das Medium auch nur randläufig von Interesse,42 da seine starre Wiederholung geradezu konträr zu der von ihm geforderten Störung mechanischer Wiederholung und gefestigten Repräsentation steht. Er äußert sich in seinen Schriften nur vereinzelt zur Fotografie und kritisiert dabei auch explizit, wie sie Bilder von Ereignissen wiederholt, bis sie fixiert als verbildlichte Vergangenheit, Vorbilder oder gar Ikonen erscheinen. Fotografien sind für ihn mehr als nur ein „Mittel zum Sehen“, „illustrative oder narrative Reproduktionen […]“, die durch „Ähnlichkeit oder durch Konvention, durch Analogie oder durch Kode“ 39 |  Vgl. hierzu Derrida, Jacques Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin: Brinkman & Bose 1997, S. 123. 40 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 12. Laut Philippe Dubois kommt in Hinblick auf den fotografischen Akt darüber hinaus ein weiteres Wiederholungsmoment in der Art und Weise zum Tragen, wie der Fotografie durch subjektive Eingriffe, d.h. „menschliche Gesten“ Bedeutung verliehen wird. Denn all die Entscheidungen, die zur Entstehung einer Fotografie führen, die Auswahl eines Sujets, eines bestimmten Kameratypus, des Films, der Belichtungsdauer, des Blickwinkels usw. „wiederholen sich beim Entwickeln und beim Abziehen“ bzw. wenn ein Foto „in die immer schon codierten und kulturellen Vertriebsmechanismen eingespeist wird.“ Vgl. Dubois, Philippe Der fotograf ische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Hamburg: Philo Fine Arts 1998, S. 54-55. 41 |  Deleuze, Gilles Francis Bacon. Logik der Sensation, München: Wilhelm Fink 1995, S. 71. 42 |  Für eine eingängige Auseinandersetzung mit Deleuzes Bemerkungen zur Fotografie siehe: Kramp, Michael (Hg.) Rhizomes, Issue 23: „Deleuze and Photography“, 2012, http://www.rhizomes.net/issue23/ [eingesehen am 12.07.16].

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wirken können. Denn „wie immer sie auch agieren, sie sind selbst etwas, sie existieren an sich: [S]ie selbst werden gesehen, und schließlich sieht man nichts als sie.“43 Damit lähmt die Fotografie seiner Meinung nach unsere Sensibilität für das Lebendige, Bewegliche sowie für das Neue, um das Erlebte nach effizienten Maßstäben zu erfassen und zugleich unsere Wahrnehmung zu steuern: „Das Photo ‚macht‘ die Person oder die Landschaft, und zwar in dem Sinne, wie man sagt, die Zeitung mache das Ereignis (und sich nicht damit begnügt, es zu berichten). Was wir sehen, was wir wahrnehmen, sind Photos. Das größte Interesse der Photographie liegt darin, uns die ‚Wahrheit‘ von unwahrscheinlichen, gefälschten Bildern aufzuzwingen.“44

An anderer Stelle bezeichnet Deleuze die Fotografie daher auch als eine „Art ‚Formguss‘“, die „die inneren Kräfte einer Sache“45 in einem bestimmten Moment so organisiert, dass sie einen statischen Zustand erreichen: Fotografien formen und vermitteln Stereotypen und Klischees, die von verschiedenen modernen und überwiegend westlich geprägten Werten und Konventionen ausgehend, darüber entscheiden, wie die Welt und Geschichte wahrgenommen, bewertet und interpretiert werden. Dieses „Formen“ und Festschreiben durch die Fotografie wird auch von Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh in Bezug auf die Geschichte Palästinas und die gegenwärtigen politischen Verhältnisse im Nahen Osten thematisiert. Das betrifft sowohl die Verhandlung orientalistischer Darstellungen, die Ästhetik und Funktion von Studioporträts und privaten Schnappschüssen als auch die Repräsentation von politischen Konflikten und die damit verbundene Konsolidierung subalterner Identitäten wie der des palästinensischen Flüchtlings. Fotografie erscheint aufgrund ihrer statischen Wiederholung, indem sie vermeintlich zunächst einer Differenzierung im Wege steht oder, wie Deleuze

43 |  Deleuze, Gilles Francis Bacon. Logik der Sensation, München: Wilhelm Fink 1995, S. 57. 44 |  Ebd. 45 |  Deleuze, Gilles Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 43.

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es formuliert, diese „blockiert“46, affirmativ bzw. systemstabilisierend. Sie lässt sich nicht nur von Narrativen und Rhetoriken vereinnahmen, sondern ist auch ein Mittel, um Mythen zu (re-)produzieren und uns durch ihre Evidenz „Wahrheit“ von Repräsentionen „aufzuzwingen“: Fotografien werden demnach Teil eines „Diskurses von Stabilität und Authentizität“, wobei sie mit dem durch sie vermittelten Rückblick auf die Vergangenheit der Gegenwart dienen und „Leitfäden für eine idealisierte Zukunft“ bilden.47 Anhand der Analyse von Zaataris, Jacirs, Joreiges, Raads und EidSabbaghs künstlerische Praktiken hat sich gezeigt, wie die Fotografie ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer konsolidierenden Kraft für die Bildung von Nationen und nationaler Identität sowie der sie konstituierenden Geschichte wurde. Die Künstler*innen vermitteln zudem oft, dass Fotografie nicht nur auf suggestiver und emotionaler Ebene ein Zugehörigkeitsgefühl generiert. Sie reflektieren zum Teil auch, wie der Realismuseffekt der Fotografie die einer Gesellschaft oder Nation zugrunde liegenden symbolischen Handlungen und kulturelle Wertesysteme maßgeblich mitbestimmt, in dem sie diese Handlungen und Werte verbildlicht und damit zugleich validiert, „was Leute über sich selbst zu glauben wissen“.48 Durch das, was ich als Oszillieren bezeichnet habe – die schwankende Auffassung über das Fotografische, die in Zaataris, Jacirs, Joreiges, Raads und Eid-Sabbaghs Arbeiten ersichtlich wird – legen sie jedoch auch Blockaden im Sinne Deleuze offen, hinterfragen sie und versuchen sie zu unterlaufen. Die Künstler*innen versetzen die statische Wiederholung der Fotografie in Bewegung, indem sie zeigen, dass die Macht der Bilder nicht maßgeblich davon ausgeht, ob durch sie „wahre“ Aussagen getroffen werden können. Sie machen deutlich, dass ihre Macht vor allem darin begründet ist, wie der vermeintliche fotografische Index und die darauf beruhende Evidenz fotografischer Bilder „als Gedankenbild“ die Wahrnehmung der Fotografie bestimmt und die Fotografie entsprechend 46 |  Deleuze, Gilles Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 2007, S. 29. 47 |  Edwards, Elizabeth „Photographs as Strong History“, in: Carraffa, Costanza und Serena, Tiziana (Hg.) Photo Archives and the Idea of Nation, Berlin/ Munich/Boston: De Gruyter 2015, S. 321-330, hier S. 322. 48 |  Ebd.

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funktionalisiert wird,49 um einen Konsens – ein Weltbild – von dem zu erzeugen, was wir als Realität begreifen.50 Diesem stabilisierenden Effekt des sozialen Gebrauchs fotografischer Bilder stellen Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh einen freieren Umgang zur Seite. So begreifen sie Fotos weniger als „Formgüsse“. Sie machen sie vielmehr zum Ausgangspunkt einer – wie Deleuze es formulieren würde – „Modulation“51: Durch die künstlerische De- und Rekontextualisierung historischer Fotos stören sie gegebene Ordnungen, zeigen neue Beziehungen auf und kritisieren nach Totalität strebende Narrative. Denn die Fotografie erlangt, wie Damian Sutton in seiner Untersuchung zur Beziehung zwischen Fotografie, Film und Erinnerung bei Deleuze bemerkt, gerade dann eine radikale Wirkkraft, wenn sie aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus in neue Zusammenhänge gestellt wird.52 Sutton unterstreicht damit einhergehend nicht nur das Potenzial der Fotografie, die Grundlage für alternative Narrative zu bilden. Er weist zudem darauf hin, wie die Fotografie vor allem zeitliche Effekte moduliert und damit bereits an sich eine mentale Bewegung durch das Raum-Zeit-Kontinuum bewirkt. Denn die Fotografie, so Sutton, 49 |  Dies ist unter Abstrichen durchaus auch weiterhin in der Kultur der Digitalität der Fall. So behauptet der Medienwissenschaftler Tom Gunning zum Beispiel, dass bei der digitalen Fotografie, der Prozess der Kodierung von Daten durch Licht in einer Matrix von Nummern, ebenso indexikalisch von den Objekten vor der Kamera determiniert ist, wie bei der analogen Fotografie. Vgl. Gunning, Tom „What‘s the point of an index? or, Faking photographs“, in: NORDICOM Review 5, 1/2, 2004, S. 39–49. In eine ähnliche Richtung argumentiert Martin Lister, wenn er sagt, dass digitale Fotos „photo-realistic“ geartet sind, „they borrow photography‘s currency, its deeply historical ‚reality effect‘, simply in order to have meaning“. Vgl. Lister, Martin „A Sack in the Sand Photography in the Age of Information“, in: Convergence, August 2007, Vol. 13, No. 3, S. 251274, hier S. 252. 50 |  Vgl. Edwards, Elizabeth „Photographs as Strong History“, in: Carraffa, Costanza und Serena, Tiziana (Hg.) Photo Archives and the Idea of Nation, Berlin/Munich/Boston: De Gruyter 2015, S. 321-330, hier S. 324. 51 |  Deleuze, Gilles Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 43. 52 |  Sutton, Damian Photography, Cinema, Memory. The Crystal Image of Time, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2009, S. 55.

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„reverses our relationship to duration […]. With a photograph we are presented with an image that is static but that nonetheless can give a powerful sensation of time passing. We are suddenly internal to the change of the world and can glimpse the enormity of past and future that the photograph suspends.“53

Genau dies wird auch im Zuge der künstlerischen Wiederholung historischer Fotos deutlich. Die Fotografie wird als ein Zusammentreffen verschiedener Zeitlichkeiten hervorgehoben, die eine Differenz schafft, indem sie die gegebenen Umstände während ihrer Betrachtung „verrückt“. Dies eröffnet die Möglichkeit, dass das in ihr eingelagerte „optisch Unbewusste“ in Erscheinung tritt. In diesem Sinne werden Fotos zwar von Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh als Repräsentationen thematisiert und bearbeitet, sie treten aber gleichermaßen als Ereignis oder – um mit Barthes zu sprechen – als „geteilte Halluzination“ auf, die ein „verrücktes, ein vom Wirklichen abgeriebenes Bild“ erzeugt.54

Dynamisches Erinnern, in einer Zeit andauender Zerstörung Auch wenn die Fotografie vom Wesen her mechanisch reproduziert, kann sie demnach zugleich der statischen Wiederholung Einhalt gebieten. Zumindest ermöglicht ihre wiederholte, differenzierende Betrachtung ein dynamisches Erinnern, dass gegen die Geschichte bzw. Siegergeschichte arbeitet und ihr keine feste Form verleiht. Denn, so Judith Butler, „Erkenntnis hat eine andere Form, sie schenkt uns weder Dauer noch Objektivität“.55 Butler bezieht sich damit auf Benjamins These, dass Vergangenes zu artikulieren bedeutet, „sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr auf blitzt“.56 Benjamin spricht auch 53 |  Sutton, Damian Photography, Cinema, Memory. The Crystal Image of Time, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2009, S. 38. 54 |  Barthes, Roland Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 126. 55 |  Butler, Judith „Auf blitzen – Benjamins messianische Politik“, in: dies. Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt a.M./ New York: Campus 2012, S. 119-136, hier S.126. 56 |  Benjamin, Walter „Über den Begriff der Geschichte“, in: Schweppenhäuser, Hermann und Tiedemann, Rolf (Hg.) Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Bd. I/2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 693-703, hier S. 695.

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davon, dass „das wahre Bild der Vergangenheit vorbei [huscht]“ und die Vergangenheit nur als aufscheinendes und zugleich im Verschwinden begriffenes Bild „festzuhalten“ ist.57 Butler greift diese Dialektik von Bewegung und Stillstand auf, um eine Form der Bewegung zu beschreiben, die gegen einen unreflektierten und „gefährlichen“ Fortschritt arbeitet, und eine Differenz im Sinne Deleuzes erzeugt. Stillstand, wie die stillgestellte Zeit in einer Fotografie, die uns jedoch zugleich das Verstreichen der Zeit vor Augen führt, ist für sie die einzige Möglichkeit, um „zwischen Fortschritt und der Bewegung nach vorn zu unterscheiden […], denn die Bewegung nach vorn wäre dann eine Bewegung weg vom Fortschritt.“58 Eine Abkehr vom Fortschritt ist notwendig, um einer „Bewegung der Destruktion, der Überwältigung und der Auslöschung“59 von Geschichte auszuweichen bzw. einer statischen Wiederholung entgegenzusteuern. Denn „[k]ein Schritt in die Zukunft kann hilfreich sein, wenn er nicht dieser konstanten Drohung historischer Auslöschung widersteht“.60 Butler macht dies auf eindringliche Weise mit Blick auf die Geschichte Palästinas und die Folgen der Nakba explizit. „Die Katastrophe“, schreibt sie, „ist eben nicht eine Ereignisfolge bei der Vergangenes zu Künftigem führt. Unter den Bedingungen der Katastrophe gibt es nur eine Katastrophe, und diese Katastrophe dauert an und häuft ‚Trümmer auf Trümmer‘ in einer Gegenwart, die eine Zeit andauender Zerstörung ist. Natürlich wandeln sich die Vertreibungs- und Besatzungsstrategien, aber wenn wir erwarten, dass diese oder jene Änderung – die Siedlungen, der Likud, der Grenzzaun – das der kolonialen Unterdrückung und Vertreibung des palästinensischen Volkes lösen wird, haben wir die Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß und ihrer Wiederholung nicht begriffen.“61 57 |  Benjamin, Walter „Über den Begriff der Geschichte“, in: Schweppenhäuser, Hermann und Tiedemann, Rolf (Hg.) Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Bd. I/2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 693-703, hier S. 695. 58 |  Butler, Judith „Auf blitzen – Benjamins messianische Politik“, in: dies. Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt a.M./ New York: Campus 2012, S. 119-136, hier S. 125. 59 |  Ebd. 60 |  Dies., „‚Was sollen wir tun ohne Exil?‘ – Said und Darwish an die Zukunft“, in: dies. Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt a.M./ New York: Campus 2012, S. 240-261, hier S. 243. 61 |  Ebd., S. 260.

Wiederholung als Widerstand

Die künstlerische Wiederholung – oder genauer „Verzahnung“ von Wiederholungen – bei Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh zielt darauf ab, dieses Kontinuum einer statischen Wiederholung62, das dadurch geschieht, „weil man nicht weiß, weil man sich nicht erinnert usw., weil man zur Tat nicht fähig ist“63, und dessen katastrophalen Auswirkungen zu durchleuchten. Sie setzten damit eine differenzierte Wiederholung in Bewegung und leisten damit Widerstand. Die Fotografie bzw. das fotografische Ereignis, das nicht nur das Fotografieren eines Ereignisses bezeichnet, sondern auch die Betrachtung einer Fotografie mit einschließt,64 wird damit zum Mittel, um Aussagen über diese Katastrophe zu treffen. Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh zeigen dabei, dass auch wenn die Fotografie uns nicht die Vergangenheit per se oder „wahrheitsgemäß“ wiedergibt, sie uns zumindest vor Augen führt, dass die Wahrnehmung der Gegenwart in Relation zur Vergangenheit, zu dem was nicht mehr vorhanden ist, gedacht werden sollte.65 Ihre künstlerische Wiederholung historischer Fotos hebt den Anteil, den das Medium an Erinnerungsprozessen trägt, hervor. Sie befördert solche Prozesse, relativiert sie aber auch in der Weise, dass sie Erinnerung und die Bedeutungsentfaltung von Fotografien in einem reziproken Beziehungsgefüge aus subjektiver Wahrnehmung und historischen Fakten verortet. Zaatari, Jacir, Joreige, Raad und Eid-Sabbagh versuchen in den von mir analysierten Arbeiten und Praktiken, einen Zugang zur Geschichte zu schaffen, der sich der Subjektivität und Brüchigkeit der Bemächtigung des Vergangenen bewusst 62 |  Ariella Azoulay schreibt in dieser Hinsicht auch: „Catastrophe has altered its form, turning from a sudden event that affects someone into a perpetually impending state.“ Azoulay, Ariella The Civil Contract of Photography, London: Zone Books 2008, S. 267. 63 |  Deleuze, Gilles Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 2007, S. 367. 64 |  Vgl. hierzu Azoulay, Ariella „What is a photograph? What is photography?“, in: Philosophy of Photography, Volume 1, Number 1, 2010, S. 9-13, hier S. 12-13. 65 |  Vgl. Cadava, Eduardo Words of Light. Theses on the Photography of History, Princton/ New Jersey: Prinction University Press 1997, S. 92. Cadava schreibt dazu: „If photography does not give us the past, it tells us that perception must be thought in relation to what is no longer present, in relation to the structure of memory in general. To say this is to say that perception begins only at the moment when it begins to withdraw, when what is seen cannot be seen.“

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ist und dennoch durch individuelle Erinnerung die uneingelösten Potentiale der Vergangenheit wachruft, um zu einem „nach vorwärts Erinnern“ zu befähigen. Sie vermitteln mit ihren Arbeiten somit einen „Sinn der Geschichte“, „die eins ist mit dem Möglichen, der Mannigfaltigkeit des Möglichen zu jedem Zeitpunkt“.66

66 |  Deleuze, Gilles „Die Indianer Palästinas“, in: ders. Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975-1995, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 185-190, hier S. 190.

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Abbildungsverzeichnis

Akram Zaatari | The Arab Image Foundation 1 Screenshot, www.fai.cyberia.net.lb [eingesehen am 11.08.16] 2, 9 Courtesy the Arab Image Foundation, Collection Abdel Hadi (Family) 3 Courtesy the Arab Image Foundation, Collection Aida Krikorian Kawar 4, 12 Courtesy the Arab Image Foundation 5 Courtesy the Arab Image Foundation, Collection Hisham Abdel Hadi 6 Courtesy the Arab Image Foundation, Collection Hanna Halaby 7 Courtesy the Arab Image Foundation, Collection Jad Mikhail 8 Courtesy the Arab Image Foundation, Collection Alice Agazarian 10 Courtesy the Arab Image Foundation, Collection Yacoub Katimi 11 Courtesy the Arab Image Foundation, Collection Bedros Doumanian 13-21 firmieren unter Akram Zaataris Autorschaft auch unter dem Titel Objects of Study/The archive of Studio Shehrazade/Hashem el Madani/Studio Practice 2007; einzelne Silbergelatine-Abzüge, je 19,1 x 29 cm bzw. 29 x 19, 1 cm und 29,1 x 29,2 cm; Courtesy the artist & Sfeir-Semler Gallery Hamburg / Beirut 22, 23, 24 Courtesy Akram Zaatari & Sfeir-Semler Gallery Hamburg / Beirut

Lamia Joreige 1-12 Courtesy Lamia Joreige

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Wiederholung als Widerstand?

Walid Raad 13, 14, 15, 17, 18, 24 Courtesy Walid Raad & Sfeir-Semler Gallery Hamburg / Beirut 16 © Walid Raad. Courtesy Paula Cooper Gallery, New York 19 Pachnicke, Peter und Honnef, Klaus (Hg.) John Heartfield [Ausst.-Kat.], Berlin/Köln: Akademie der Künste zu Berlin/Dumont 1991, S. 15 20 Copyright and courtesy Martha Rosler 21 © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / Licensed by Artists Rights Society (ARS) 22 Copyright and courtesy Roy Arden 23 Copyright and courtesy Jeff Wall

Emily Jacir 1, 2, 3, 5 © Emily Jacir, Courtesy Queens Museum, New York 4 © Emily Jacir, Courtesy the artist and Alexander and Bonin, New York 6 © UN [UN-Bildunterschrift: David Ben Gurion, chairman of the Executive of the Jewish Agency for Palestine, chats with Asa Ali, chairman of the delegation from India in the delegates lounge. 14 May 1947] 7 © UN, Photo/MB [UN-Bildunterschrift: Before the last meeting of the Second Session of the United Nations General Assembly, Camille Chamoun, right, Lebanon, delegation chairman, talks to Dr. Oswaldo Aranha, centre, Brazil, President of the Assembly, as Sir M. Zafrullah Khan, Pakistan, delegation chairman, looks on] 8 © UN, Photo/MB [UN-Bildunterschrift: Jewish Agency representative, Rabbi Abba Hillel Silver, second from the right, receives congratulations from United Nations delegates, as Assemly President, Dr. Oswaldo Aranha of Brazil, looks on. Left to right are: Dr. Pedro Zuloaga, Venezuela, Jorge Garcia Granados, Guatemala; Dr. Aranha; Professor Enrique Rodriguez Fabregat, Uruguayan Alternate; Rabbi Silver, and Dr. Carlos Eduardo Stolk, Venezuela delegation chairman.] 9-20 © Emily Jacir, Courtesy the artist and Alexander and Bonin, New York

Abbildungsverzeichnis

Yasmine Eid-Sabbagh 21, 22, 23 Courtesy Yasmine Eid-Sabbagh 24 © UNRWA Archive 25 © UN 26, 27 ,28 © UNRWA Photo and Film Archives of Palestinian Refugees 29 Foto: Rozenn Quéré, Courtesy Yasmine Eid-Sabbagh

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Dank

Bedanken möchte ich mich zunächst ganz herzlich bei meinen beiden Promotionsbetreuerinnen Katharina Sykora und Ilka Becker für deren wertvollen Impulse und hilfreichen Ratschläge zur Entstehung des vorliegenden Buches. Das gleiche gilt für Akram Zaatari, Walid Raad, Lamia Joreige, Yasmine Eid-Sabbagh und Zeina Arida, ohne deren Kooperation und Diskussionsbereitschaft diese Publikation in dieser Form nicht zustande gekommen wäre. Ein großer Dank gilt darüber hinaus allen, die durch ihre regen Zusprüche, ihre kritischen Einwände, Anregungen und durch gründliches Korrekturlesen an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben, vor allem Fiona McGovern, Carlina Rossée, Elisabeth M. Hofmann und Yvonne Bialek. Julia Winkler bin ich für die Gestaltung des Covers und das Erstellen des Satzes zu ganz besonderem Dank verpf lichtet. Dank gebührt zudem Karin Gludovatz für die Initialzündung, die Promotion überhaupt in Angriff zu nehmen. Auch meiner Familie sei für ihre fortwährende Unterstützung gedankt. Ich bedanke mich bei Charbel Saad von der Arab Image Foundation, Kathryn Gile von Alexander and Bonin, Richard J. Lee vom Queens Museum sowie Sven Christian Schuch und Elisabeth Lutz-Bachmann von der Sfeir-Semler Gallery für ihre Mithilfe bei der Beschaffung von Abbildungen und Reproduktionsrechten. Ebenso möchte ich mich bei Rima Mokaiesh, Omar Eid, Nizar Haraké und Omer Shah, Stefan Tarnovski und Victoria Lupton, Kristine G. Khouri und Belal Hibri, Ramzi Mezher und Wael Lazkani für ihre Gastfreundschaft während meiner Rechercheaufenthalte in Beirut, New York und London bedanken. Zu guter Letzt geht mein Dank an das Graduiertenkolleg Das fotografische Dispositiv und die Deutsche Forschungsgemeinschaft für die großzügige Förderung meiner Recherchen und der Publikation.

Kunst- und Bildwissenschaft Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.)

Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3272-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3272-3

Heike Engelke

Geschichte wiederholen Strategien des Reenactment in der Gegenwartskunst – Omer Fast, Andrea Geyer und Rod Dickinson Oktober 2017, 262 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3922-3 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3922-7

Burcu Dogramaci, Katja Schneider (Hg.)

»Clear the Air«. Künstlermanifeste seit den 1960er Jahren Interdisziplinäre Positionen Oktober 2017, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3640-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3640-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kunst- und Bildwissenschaft Astrit Schmidt-Burkhardt

Die Kunst der Diagrammatik Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas Juli 2017, 372 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3631-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3631-8

Gerald Schröder, Christina Threuter (Hg.)

Wilde Dinge in Kunst und Design Aspekte der Alterität seit 1800 Juli 2017, 312 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3585-0 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3585-4

Monika Leisch-Kiesl, Max Gottschlich, Susanne Winder (Hg.)

Ästhetische Kategorien Perspektiven der Kunstwissenschaft und der Philosophie Juni 2017, 440 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3591-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3591-5

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