Kritische Gesamtausgabe: Band 2 Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie 9783110603590, 9783110127317

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Kritische Gesamtausgabe: Band 2 Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie
 9783110603590, 9783110127317

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung der Herausgeber
I. Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe
II. Die Abteilung II (Vorlesungen)
III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)
Einleitung der Bandherausgeber
I. Historische Einführung
II. Editorischer Bericht
Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie
Vorlesung 1816/17 (Nachschrift Jonas)
Einleitung
I. Teil. Von der philosophischen Theologie
II. Teil. Von der historischen Theologie
III. Teil. Von der praktischen Theologie
Vorlesung 1831/32 (Nachschriften Strauß und Anonymus)
Einleitung
I. Teil. Philosophische Theologie
II. Teil. Von der historischen Theologie
III. Teil. Von der Praktischen Theologie
Verzeichnisse und Register
Abkürzungen
Editorische Zeichen
Literatur
Personen
Bibelstellen

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe II. Abt. Band 2

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenczka

Zweite Abteilung Vorlesungen Band 2

De Gruyter

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie Herausgegeben von Martin Rössler und Dirk Schmid

De Gruyter

ISBN 978-3-11-012731-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060359-0 Library of Congress Control Number: 2018951018 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

I. Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe II. Die Abteilung II (Vorlesungen) . . . . . . . . . III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II sungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . (Vorle. . . . .

VII VII

Einleitung der Bandherausgeber . . . . . . . . . . . . . . . .

XVII

I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vorlesungen an der Universität Halle 2. Die Berliner Vorlesung von 1808 . . . . . 3. Die Vorlesungen an der Universität Berlin

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IX

XVII XVIII XXIV XXV

II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXI 1. Die vorhandenen Vorlesungsnachschriften . . . . . XXXI a. Vorlesung 1816/17: Nachschrift Jonas . . . . . XXXI b. Vorlesung 1827: Nachschriften Stolpe und Brodkorb (Fragment) . . . . . . . . . . . . . . . XXXII c. Vorlesung 1831/32: Nachschriften Anonymus, Strauß und Anonymus (Fragment) . . . . . . . XXXV d. Sekundäre Überlieferung . . . . . . . . . . . . . XXXVIII 2. Zur Auswahl der edierten Nachschriften und ihrer Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIX 3. Besondere editorische Verfahrensweisen . . . . . . XLI a. Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLI b. Nachschrift Jonas . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLII c. Nachschrift Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . . XLV d. Nachschrift Anonymus . . . . . . . . . . . . . . XLVI Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie Vorlesung 1816/17 (Nachschrift Jonas) . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Teil. Von der philosophischen Theologie Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von den Grundsätzen der Apologetik 2. Von den Grundsätzen der Polemik . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 5 43 43 64 87 100

VI

Inhaltsverzeichnis

II. Teil. Von der historischen Theologie. . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der exegetischen Theologie . . . . . . . . . . . 2. Von der historischen Theologie im engeren Sinne oder der Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . . . 3. Von der geschichtlichen Kenntnis des Christentums in seinem gegenwärtigen Zustande . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Teil. Von der praktischen Theologie . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Theorie des Kirchenregiments . . . . . . . 2. Von der Theorie des Kirchendienstes . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorlesung 1831/32 (Nachschriften Strauß und Anonymus) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Teil. Philosophische Theologie . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätze der Apologetik . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundsätze der Polemik . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtungen über die philosophische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Teil. Von der historischen Theologie . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Exegetische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kirchengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Von der Kenntnis des gegenwärtigen Zustands der christlichen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Dogmatische Theologie . . . . . . . . . . . . . . II.Kirchliche Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussbetrachtungen über die historische Theologie III. Teil. Von der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundsätze des Kirchendienstes . . . . . . . . Anhang zur Katechetik . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Grundsätze des Kirchenregiments . . . . . . . Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106 106 133 175 201 227 233 233 242 255 264 269 271 304 304 319 333 339 346 346 373 415 453 457 494 518 525 525 537 548 557 576

Verzeichnisse und Register Abkürzungen . . . . Editorische Zeichen Literatur . . . . . . . Personen . . . . . . . Bibelstellen . . . . .

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581 583 584 594 597

Einleitung der Herausgeber I. Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe Die Kritische Gesamtausgabe (KGA) der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Schleiermachers ist in die folgenden fünf Abteilungen gegliedert: I. II. III. IV. V.

Schriften und Entwürfe Vorlesungen Predigten Übersetzungen Briefwechsel und biographische Dokumente.

Die Gliederung richtet sich nach den literarischen Gattungen in Schleiermachers Werk, wobei den einzelnen Abteilungen jeweils auch der handschriftliche Nachlass zugewiesen wird. Der Aufbau der Abteilungen orientiert sich am chronologischen Prinzip.

II. Die Abteilung II (Vorlesungen) Die II. Abteilung dokumentiert Schleiermachers Vorlesungstätigkeit nach seinen handschriftlichen Materialien und nach Vorlesungsnachschriften. Schleiermacher hat in seiner beinahe drei Jahrzehnte währenden Lehrtätigkeit in der Theologischen Fakultät, abgesehen vom Alten Testament, über nahezu alle theologischen Disziplinen Vorlesungen gehalten. Als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin hatte er überdies das Recht, auch in der Philosophischen Fakultät Vorlesungen zu halten. Davon hat er extensiven Gebrauch gemacht. In jedem Semester hat Schleiermacher mindestens zwei Vorlesungen gehalten, oft sogar drei (eine neutestamentlich-exegetische, eine weitere theologische und eine philosophische). Ein Verzeichnis seiner Vorlesungen findet sich in dem von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond bearbeiteten Band „Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen“ (SchleiermacherArchiv Bd. 11, Berlin und New York 1992, S. 293–330).

VIII

Einleitung der Herausgeber

Angesichts der umfänglichen Materialien ist eine restriktive Berücksichtigung der Vorlesungsnachschriften unumgänglich. Für die Edition der Vorlesungen gelten folgende Richtlinien: 1.

2. 3.

4.

Jede von Schleiermacher in seinen Vorlesungen behandelte Disziplin wird in einem Band – eventuell mit Teilbänden – vorrangig durch seine eigenen Manuskripte kritisch ediert. Die Manuskripte Schleiermachers werden im ersten Teil in chronologischer Ordnung kritisch ediert. Die Vorlesungsnachschriften werden, wenn ihre Qualität es erlaubt, dort in die Edition einbezogen und unter vereinfachten Editionsregeln in einem zweiten Teil ediert, wo eigene Manuskripte Schleiermachers entweder fehlen oder wo seine Manuskripte als nicht ausreichend zu beurteilen sind. Nachschriften eines mehrfach gehaltenen Kollegs aus verschiedenen Jahren werden nur dann eigens berücksichtigt, wenn es darum geht, eine bedeutsame Entwicklung zu dokumentieren. Auch die Nachschriften werden chronologisch angeordnet. Die abgrenzende Gruppierung der Manuskripte Schleiermachers und der Nachschriften von fremder Hand in zwei Teilen des Bandes kann bei besonderen Sachlagen aufgegeben werden; die zu edierenden Texte werden dann fortlaufend chronologisch angeordnet.

Für die chronologische Anordnung der Vorlesungsdisziplinen ist dasjenige Semester maßgebend, in dem Schleiermacher die jeweilige Vorlesung zum ersten Mal gehalten hat. In den beiden Fällen, in denen er im selben Semester mit zwei bzw. drei Vorlesungen begonnen hat (Wintersemester 1804/05 und Sommersemester 1806), werden zuerst die allgemeiner und dann die spezieller ausgerichteten Vorlesungen geboten. Dementsprechend ergibt sich für die Abteilung „Vorlesungen“ folgende Gliederung: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen phie (1807) Vorlesungen

über die Philosophische Sittenlehre (1804/05) über die Theologische Enzyklopädie (1804/05) über die Christliche Glaubenslehre (1804/05) zur Hermeneutik und Kritik (1805) über die Christliche Sittenlehre (1806) über die Kirchengeschichte (1806) über die Geschichte der griechischen Philosoüber die Lehre vom Staat (1808/09)

Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

16. 17.

IX

Vorlesungen über die Geschichte der christlichen Philosophie (1810) Vorlesungen über die Dialektik (1811) Vorlesungen über die Praktische Theologie (1812) Vorlesungen über die Pädagogik (1813) und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht (1810–1814) Vorlesungen über die Psychologie (1818) Vorlesungen über die Ästhetik (1819) Vorlesungen über das Leben Jesu (1819/20) und Vorlesung über die Leidens- und Auferstehungsgeschichte nach allen vier Evangelien (1821) Vorlesungen über die Kirchliche Geographie und Statistik (1827) Vorlesungen über die Einleitung in das Neue Testament (1829).

Die exegetischen Vorlesungen Schleiermachers werden aus pragmatischen Gründen an den Schluss der Abteilung gestellt, weil dazu sehr umfängliche Manuskripte Schleiermachers im Nachlass erhalten sind. Die Quantität und Qualität dieser Materialien stellen eine editorische Erschließung vor spezifische Probleme. Geplant ist, die Bandeinteilung an dem bei Schleiermacher erkennbaren Kurs über sechs Semester zu orientieren: 18. Vorlesungen über die Schriften des Lukas (Evangelium und Apostelgeschichte) 19. Vorlesungen über die Briefe des Apostels Paulus A 20. Vorlesungen über die Briefe des Apostels Paulus B 21. Vorlesungen über die Katholischen Briefe und den Brief an die Hebräer 22. Vorlesungen über das Evangelium des Johannes 23. Vorlesungen über das Evangelium des Matthäus.

III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen) Die folgenden Grundsätze schließen sich an die für die I. Abteilung in der Fassung von KGA I/1 und für die V. Abteilung in der Fassung von KGA V/1 niedergelegten an, tragen aber den Besonderheiten der Vorlesungsedition Rechnung.

X

Einleitung der Herausgeber

1. Historische Einführung und Editorischer Bericht Den Bänden der II. Abteilung wird jeweils eine Einleitung des Bandherausgebers vorangestellt, die eine Historische Einführung und einen Editorischen Bericht umfasst. Die Historische Einführung gibt Auskunft über die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der jeweiligen Vorlesung. Gegebenenfalls wird über die Rezeption durch die Zeitgenossen berichtet. Der Editorische Bericht beschreibt die Materiallage und erläutert das editorische Verfahren.

2. Textgestaltung und textkritischer Apparat Die Bände der II. Abteilung umfassen (A) sämtliche Vorlesungsmanuskripte Schleiermachers (B) dort, wo es zu deren Verständnis nötig ist oder wo andere Gründe es nahelegen, auch ausgewählte Vorlesungsnachschriften und ferner, falls keine solchen Primärquellen mehr vorhanden sind, (C) auch Texte, die nur noch sekundär, etwa im Druck der „Sämmtlichen Werke“, vorliegen. Für die E d i t i o n al l e r d r e i So r t e n v on Text zeug en gelten folgende Prinzipien: a)

S c h r e i b w e i s e u n d Z e i c h e nsetzung des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise, bei denen es häufig eine Ermessensfrage darstellt, ob eine irrtümliche Schreibweise vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung von Zeichen (z. B. für Abkürzungen und Auslassungen), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, stillschweigend vereinheitlicht. Die von Schleiermacher für Randnotizen gebrauchten Verweiszeichen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben, sofern diese Randnotizen hier als Fußnoten wiedergegeben werden. b) Of f e n k u n d i ge Sc h r e i b f e h ler oder Versehen werden im Text korrigiert. Im Apparat wird – ohne weitere Angabe – die Schreibweise des Originals angeführt.

Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

c)

XI

Wo der Zustand des Textes eine Konjektur notwendig macht, wird diese im Text durchgeführt und im Apparat nachgewiesen; in Zweifelsfällen wird die Konjektur mit der Angabe „Kj“ nur im Apparat vorgeschlagen. Wo bereits Konjekturen eines früheren Herausgebers vorliegen, werden diese unter Nennung des jeweiligen Urhebers und der Seitenzahl seiner Ausgabe oder Schrift im Apparat mitgeteilt. Wird eine solche Konjektur in den Text übernommen, so wird dies ebenfalls im Apparat nachgewiesen.

Über diese gemeinsamen Prinzipien hinaus wird für die drei unterschiedlichen Textsorten (Manuskripte Schleiermachers, Vorlesungsnachschriften und sekundäre Überlieferung) das im Folgenden beschriebene abgestufte Editionsverfahren angewandt. (A) Manuskripte Schleiermachers d) Es wird die l e t z t gü l t i ge Te x t g esta lt des Manuskripts wiedergegeben. Alle Belege für den Entstehungsprozess (wie Streichungen, Korrekturen, Umstellungen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt. e) Zu s ä t z e zum ursprünglichen Text, die Schleiermacher eindeutig einverwiesen hat, werden in den laufenden Text eingefügt. Sie werden mit der Formel „mit Einfügungszeichen“ und mit Angabe des ursprünglichen Ortes im Manuskript im textkritischen Apparat nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der Ort angegeben. Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. f) Bei Ab b r e vi at u r e n (Abkürzungen, Kontraktionen, Kürzeln), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) die fehlenden Buchstaben im Text kursiv ergänzt. Chiffren für Wörter (z. B. Θ für Gott) werden ebenfalls im Text kursiv aufgelöst und im Abkürzungsverzeichnis

XII

Einleitung der Herausgeber

oder Editorischen Bericht zusammengestellt. Abbreviaturen und Chiffren, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird ggf. im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für ...“ gemacht. Zur Zeit Schleiermachers geläufige Abkürzungen werden nicht aufgelöst. Soweit sie heute nicht mehr geläufig sind, werden sie im Abkürzungsverzeichnis mit ihren Auflösungen zusammengestellt. Die durch Überstreichung bezeichnete Verdoppelung von m und n wird stillschweigend ausgeschrieben. In allen Fällen, wo (z. B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei der verkürzten Endsilbe -en) aufgrund der Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abkürzung zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. g) F e h l e n d e W ö r t e r u n d Z e i chen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden in eindeutigen Fällen kursiv in eckigen Klammern ergänzt. In Zweifelsfällen wird im Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ ein Vorschlag gemacht. Im Text gelassene Lücken werden im textkritischen Apparat durch den Hinweis (lacuna) gekennzeichnet. Sofern das Zeilenende bzw. das Ende eines Absatzes eindeutig den Punkt am Satzende vertritt, wird dieser stillschweigend ergänzt. Ferner werden fehlende Umlautzeichen in eindeutigen Fällen stillschweigend ergänzt; fehlende diakritische Zeichen (wie Akzente, Spiritus-Zeichen) in fremdsprachigen Texten werden hingegen nicht ergänzt. h) Sind im Manuskript U ms t e l l u ng en von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen oder Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben. i) S t r e i c h u n ge n . Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern unter Angabe des Ortes im Manuskript mitgeteilt. Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen.

Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

XIII

j)

Ko r r e k t u r e n Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein). k) U n s i c h e r e L e s ar t e n werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: PnochS ) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: PauchS oder PnochS ) vorgeschlagen. Bei unsicheren Lesarten, zu denen frühere Texteditionen eine abweichende, ebenfalls erwägenswerte Lesart bieten, wird diese unter Nennung des jeweiligen Herausgebers und der Seitenzahl seiner Ausgabe oder Schrift mitgeteilt. Nicht entzifferte Wörter werden durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. l) Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare E n t s t e h u n gs s t u f e n vor, so können diese, wo es die Klarheit erfordert, im textkritischen Apparat nacheinander jeweils für sich nachgewiesen werden. Keine eigene Mitteilung erfolgt, wenn beim Übergang aus der früheren in die spätere Stufe ein Wort gestrichen oder korrigiert worden ist; dieses ergibt sich aus dem Vergleich der Stufen. m) Ü b e r l i e f e r u n gs l ü c k e n . Ist ein Manuskript nur bruchstückhaft überliefert, so wird der Überlieferungsverlust innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Ein umfangreicherer Überlieferungsverlust wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat. (B) Vorlesungsnachschriften

Die Edition der Vorlesungsnachschriften erfolgt nach einem vereinfachten Verfahren. Diese Vereinfachungen betreffen die im Vorstehenden unter den Buchstaben d), e), h), i), j) und l) genannten Editionsregeln. Die unter den Buchstaben f), g), k) und m) genannten Grundsätze gelten unverändert.

XIV

Einleitung der Herausgeber

n) Bei der Edition von Vorlesungsnachschriften wird in der Regel lediglich die l e t z t gü l t i ge Textg esta lt wiedergegeben, jedoch o h n e Nac h w e i s d e s Ma nuskriptbef undes – d. i. von Streichungen, Zusätzen, Verbesserungen, Umstellungen und Entstehungsstufen – im Apparat. Abweichend hiervon werden längere Randbemerkungen zu Vorlesungsnachschriften, die den Charakter von eigenständigen Textpartien haben, als Fußnoten mitgeteilt, da es sich bei ihnen um spätere Ergänzungen des Nachschreibers handeln kann. o) Existieren zu einer Vorlesung mehrere Nachschriften, so wird die beste als L e i t t e x t ediert. Die als Leittext gewählte Nachschrift wird in der Regel vollständig geboten. Wo Vorlesungsnachschriften über Schleiermachers Manuskripte hinaus keine wesentlichen Aufschlüsse enthalten, ist es auch möglich, sie nur ausschnittweise abzudrucken. Bietet die als Leittext gewählte Nachschrift an einer Stelle einen offenkundig fehlerhaften Text, so wird nach Möglichkeit der richtige Text aus einer anderen Nachschrift übernommen, die Abweichung aber im Apparat dokumentiert. Ist die als Leittext gewählte Nachschrift unvollständig, wird sie aus einer vollständigeren ergänzt, mit entsprechendem Nachweis im Apparat. Weist auch diese offenkundige Fehler auf, wird, sofern weitere Vorlesungsnachschriften vorhanden sind, verfahren wie im vorigen Satz beschrieben. (C) Sekundäre Überlieferung p) Sofern Überlieferungsverluste gegenüber früheren Editionen eingetreten sind, können die entsprechenden Texte als sekundäre Überlieferung in ihrer ursprünglichen Gestalt unverändert unter Hinzufügung eines Sachapparats dargeboten werden.

3. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen.

Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

XV

a)

Zi t a t e u n d Ve r w e i s e werden im Apparat nachgewiesen. Dabei wird, soweit möglich und sinnvoll, sowohl die von Schleiermacher benutzte Ausgabe als auch eine heute maßgebliche Ausgabe angeführt. Das gilt auch für Verweisungen Schleiermachers auf eigene Werke. Bei Zitaten werden sinnverändernde Abweichungen von den Quellen vermerkt. b) Zu An s p i e l u n ge n Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist.

4. Verzeichnisse und Register a) Jeder Band erhält ein A b k ü r z u n gsv erzeichnis, das sämtliche Zeichen und Abkürzungen auflöst, die von den Autoren oder vom Bandherausgeber benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten oder im Literaturverzeichnis erfolgt. b) Jeder Band erhält ein L i t e r at u r verzeichnis, in dem die Schriften aufgeführt werden, die in den Texten sowie in den Apparaten und in der Einleitung des Bandherausgebers genannt sind. Bei denjenigen Werken, die im Katalog der Bibliothek Schleiermachers (s. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, in: KGA I/15, 2005, S. 637–912) verzeichnet sind, wird nach dem Titel in eckigen Klammern das Kürzel SB mit der jeweiligen Katalognummer hinzugefügt. c) Jeder Band erhält ein N ame n r e gister, das alle im Band genannten historischen Personen erfasst. d) Ein Register der B i b e l s t e l l e n erhalten diejenigen Bände, bei denen es sinnvoll ist.

5. Druckgestaltung a) S a t z s p i e ge l . Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals ggf. mit Fußnoten, textkritischer Apparat, Sachapparat.

XVI

Einleitung der Herausgeber

b) S c h r i f t ar t e n . Der Text des Originals wird einheitlich in recte stehender Antiqua wiedergegeben. Hochgestellte Endungen (z. B. bei Ordnungszahlen) werden nivelliert, graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ergänzungen nicht ausgeschriebener Wörter im Text sowie Herausgeberrede werden kursiv gesetzt. c) H e r vo r h e b u n ge n in Schleiermachers Manuskripten (vorwiegend durch Unterstreichung) werden einheitlich durch S p e r r u n g kenntlich gemacht. Hervorhebungen in den Vorlesungsnachschriften bleiben unberücksichtigt, soweit sie der Lesbarkeit nicht förderlich sind. d) Die Se i t e n z äh l u n g d e s O r ig ina ls wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der Seitenwechsel des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich (|) wiedergegeben. Wo die Angabe des Zeilenbruchs sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im Text. e) Sofern ein Text bereits in den S ä m m tlichen Werken erschienen ist, wird die Paginierung kursiv am Außenrand mitgeteilt, jedoch ohne Seitentrennungsstrich. f) B e z i e h u n g d e r A p p ar at e auf den Text . Sie erfolgt beim textkritischen Apparat durch Zeilenangabe mit Lemma. Kommt in einer Zeile das gleiche Bezugswort mehrfach vor, wird ein zusätzliches Bezugswort angeführt. Die Bezugswörter werden durch das Lemmazeichen von der folgenden Mitteilung abgegrenzt. Der Sachapparat wird durch Zeilenangabe auf die jeweilige Bezugsstelle bezogen. g) Sofern in einem Band sowohl Manuskripte Schleiermachers als auch eine Nachschrift aus demselben Kolleg veröffentlicht werden, wird der Zusammenhang zwischen ihnen möglichst durch ein Ve r w e i s u n gs s ys t e m hergestellt, etwa durch die Angabe der Daten oder durch die Bezeichnung der Vorlesungsstunden am Seitenrand. Sofern solche Angaben in den edierten Quellen enthalten sind, werden sie recte wiedergegeben; sofern sie aus anderen Quellen ergänzt sind, werden sie kursiv gesetzt. Im Namen der Herausgeber Günter Meckenstock

Einleitung der Bandherausgeber Der vorliegende Band 2 der II. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe (KGA) Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers1 dokumentiert in Auswahl2 seine Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie. Zu diesen Vorlesungen existieren keinerlei Manuskripte Schleiermachers. Das hat seinen Grund darin, dass ihm seit 1811 sein eigenes Lehrbuch, die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“3, als Leitfaden für diese Vorlesungen zur Verfügung stand. In die darin und in der zweiten, völlig umgearbeiteten Ausgabe von 1830 gedruckten Paragraphenleitsätze sind offenbar alle vorhandenen Vorlesungsnotizen Schleiermachers eingegangen, mit Ausnahme der handschriftlichen Randnotizen seines Handexemplars der Zweitausgabe, die bereits mit dieser gemeinsam in Band 6 der I. Abteilung der KGA ediert worden sind 4. Anders als alle Bände der Vorlesungsabteilung enthält dieser Band daher keine edierten Manuskripte Schleiermachers, sondern ausschließlich Nachschriften von Hörern seiner Vorlesungen. Diese Nachschriften zeigen nicht nur, wie und was Schleiermacher über Theologische Enzyklopädie im Rahmen seiner Vorlesungstätigkeit gelehrt hat; sie sind auch ein bereichernder Kommentar zum oftmals kurzen und erläuterungsbedürftigen Text seines gedruckten theologisch-enzyklopädischen Lehrbuchs, der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“, das er diesen Vorlesungen in seiner Berliner Zeit zu Grunde gelegt hat. Nachschriften aus Schleiermachers Hallenser Zeit sind derzeit nicht bekannt.

I. Historische Einführung Insgesamt vierzehnmal hat Schleiermacher im Rahmen seiner Lehrtätigkeit in Halle und Berlin Vorlesungen über die Theologische Enzy1

2 3 4

Sofern sich aus dem Zusammenhang nicht etwas Anderes ergibt, beziehen sich im Folgenden Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors auf Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Zu Art und Begründung dieser Auswahl siehe diese Einleitung, unten II. 2. Berlin 1811; KGA I/6, S. 243–315 KGA I/6, S. 317–446

XVIII

Einleitung der Bandherausgeber

klopädie geplant, dreizehnmal öffentlich angekündigt und elfmal auch tatsächlich gehalten.5 Die Vorlesungsankündigungen für die Wintersemester 1811/12, 1814/15, 1816/17, 1819/20 und für die Sommersemester 1824, 1827 und 1829 weisen dabei ausdrücklich, wenn auch nicht immer mit Titelnennung, auf Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“, für das Wintersemester 1831/32 expressis verbis auf deren Zweitauflage, als zu Grunde gelegtes Lehrbuch hin.6

1. Die Vorlesungen an der Universität Halle Schleiermacher, seit Juni 1802 reformierter Hofprediger im Hinterpommerschen Stolp, war im Frühjahr 1804 vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. auf eine außerordentliche Professur für Theologie und Philosophie an der Universität Halle versetzt worden und trat das neue Amt zum Wintersemester 1804/05 an. Am 7. Februar 1806 erfolgte dann die Ernennung zum ordentlichen Professor der Theologie.7 Gleich für das erste Hallenser Semester kündigte Schleiermacher Vorlesungen über „Encyclopaediam et Methodologiam studii theologici“ bzw. „Enzyklopädie u. Methodologie“ an. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Schleiermacher sich gleich zu Beginn seiner neuen universitären Tätigkeit selbst die Gelegenheit geben wollte, sich über Aufgabe und Gegenstand seines Lehrfachs klar zu werden. Andererseits konnte er auch an eine gewisse Hallenser Tradition anknüpfen. Propädeutische Kollegs zur Einführung in die ganze Theologie waren seit Gründung der Universität Halle im Jahr 1694 Bestandteil des dortigen Lehrprogramms und schlugen sich auch in einer Reihe entsprechender literarischer Publikationen von Hallenser Theologen nie5

6

7

Vgl. Dirk Schmid: Schleiermacher als Universitätstheoretiker und Hochschullehrer (inklusive Übersicht über seine gesamte Vorlesungstätigkeit), in: Schleiermacher Handbuch, ed. Martin Ohst, Tübingen 2017, S. 212–226, bes. S. 222–225 Wenn nicht ausdrücklich etwas Anderes angegeben wird, beruhen im Folgenden sämtliche Angaben zu den Vorlesungen, wie Titel der Vorlesungsankündigung, Beginn und Ende der Vorlesungen, Anzahl der Hörer usw., auf: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, bearbeitet v. Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, SchlA 11, Berlin/New York 1992, S. 300–328, ohne dass dies im Einzelnen nachgewiesen wird. Einzelheiten und dokumentarische Belege finden sich in der Bandeinleitung von Hermann Patsch zu KGA I/5 (Schriften aus der Hallenser Zeit), bes. S. VIIIf. XVIII–XX; vgl. auch Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, S. 142–148.

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der.8 Vom einflussreichen pietistischen Standpunkt aus veröffentlichte August Hermann Francke 1723 seine „Methodus studii theologici“, 1757 folgte, vom nicht minder einflussreichen aufklärerischen Standpunkt aus, Johann Salomo Semlers „Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit für angehende Studiosos Theologiä“. 1764 publizierte Samuel Mursinna seine „Primae lineae encyclopaediae theologicae“. Hier taucht zum ersten Mal die Disziplinenbezeichnung Theologische Enzyklopädie in einem Buchtitel auf; die zweite Auflage von 1784 besaß Schleiermacher in seiner Bibliothek. Zwischen 1786 und 1789 erschien in Halle die dreibändige „Anweisung zur Bildung angehender Theologen“ von Johann August Nösselt, deren zweite Auflage von 1791 im Besitz Schleiermachers war. Flankiert wurde diese „Anweisung“ durch Nösselts „Anweisung zur Kenntniß der besten allgemeinern Bücher in allen Theilen der Theologie“ (Leipzig 1779); die dritte Auflage (Leipzig 1790) fand sich in Schleiermachers Bibliothek. Nösselt war in Schleiermachers Zeit an der Hallenser Universität sein Kollege als Theologieprofessor. Schließlich kann man auch noch die 1797 von Johann Friedrich Wilhelm Thym veröffentlichte „Theologische Encyclopädie und Methodologie“ zur Halleschen Tradition theologischer Propädeutik zählen, an die Schleiermacher mit seinen Vorlesungen anknüpfte.9 Die erste Vorlesung über „Enzyklopädie und Methodologie“ aus dem Wintersemester 1804/05 hielt Schleiermacher vierstündig vor 30 Hörern. Sie begann am 22. Oktober; bis wann sie dauerte, ist unbekannt. 8

9

Vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, in: Schleiermacher in besonderem Hinblick auf seine Wirkungsgeschichte in Dänemark. Vorträge des Kolloquiums am 19. und 20. November 1984, edd. Helge Hultberg / Karsten Friis Johansen / Theodor Jørgensen / Friedrich Schmöe, Kopenhagen/München 1986, S. 59–81, neu veröffentlicht in: Ders.: Schleiermacher-Studien, ed. Hermann Fischer, SchlA 16, Berlin/New York 1996, S. 285– 305; Ulrich Barth: Theorie der Theologie, in: Schleiermacher Handbuch, ed. Martin Ohst, Tübingen 2017, S. 316–327, bes. S. 316; Nowak: Schleiermacher, S. 149f. Zur Disziplinengeschichte Theologischer Enzyklopädie insgesamt vgl. Gert Hummel: Art. „Enzyklopädie, theologische“, in: TRE Bd. 9, S. 716–742 In diese Tradition gehört auch noch die nicht in den allgemeinen Buchhandel gelangte „Anweisung für angehende Theologen zur Uebersicht ihres Studiums und zur Kenntniß der vorzüglich für sie bestimmten Bildungsanstalten und anderer academischer Einrichtungen auf der königlich-preußischen Friedrichs-Universität“, die die Theologische Fakultät 1805 in Halle drucken ließ, zu einem Zeitpunkt also, als Schleiermacher schon selbst dort lehrte, als Extraordinarius aber nicht Mitglied der Theologischen Fakultät war. Zu den Verwicklungen um diese „Anweisung“ vgl. KGA I/6, S. XLII, Anm. 124

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Seinem in dieser Zeit wichtigsten fachtheologischen Briefpartner Joachim Christian Gaß (1766-1831) gegenüber äußerte Schleiermacher sich über diese Vorlesung am 13. November 1804 folgendermaßen: Er sei „mit dem Geist und Gehalte […] leidlich zufrieden mit dem Vortrage weit weniger. Ich finde ihn indem ich spreche nicht fliessend genug, und wenn er vorbei ist imer noch zu wenig detaillirt. Dem lezten suche ich abzuhelfen indem ich […] etwas aus unseres ehrlichen Nösselts Anweisung oder Planks nicht minder geschwäziger Einleitung10 lese; allein es hilft wenig, aus fremder Art und Weise kommt einmal nichts in meine hinein. Indeß hoffe ich es soll auf meine eigene mit der Zeit besser werden, und freue mich daher immer schon auf die erste Wiederholung des Collegii. Die Encyclopädie denke ich fast zu einer stehenden Vorlesung zu machen, so lange ich das aushalten kann, weil es mir sehr nothwendig dünkt daß die theologischen Ankömmlinge jedesmal eine solche Einleitung hören können. Bange ist mir aber, jedoch nur für diesmal, daß ich mit meiner zu wenig detaillirten Art das halbe Jahr nicht damit ausfülle.“11 Dass Schleiermacher sich mit dem Gedanken trug, die Theologische Enzyklopädie „zu einem stehenden Collegio zu machen“, hatte er auch seinem Verleger und Freund Georg Andreas Reimer gegenüber bereits am 4. November 1804 bemerkt,12 und schon am 21. November 1804 äußerte er den Gedanken, eines seiner „Collegien“ aus dem laufenden Wintersemester, nämlich „die Encyclopädie“, im Sommersemester „zu repitiren“, nicht zuletzt auch, um dadurch Zeit und Kapazität für andere Projekte, vor allem seine Platonübersetzung, zu finden.13 In der Tat hielt Schleiermacher dann schon im unmittelbar folgenden Sommersemester 1805 abermals ein Kolleg über „Encyclopaediam et Methodologiam studii theologici“, über „Die theologische Encyklopädie und Methodologie“, ebenfalls vierstündig, vor jetzt 32 Hörern. Die Vorlesung ging vom 20. Mai bis zum 20. September. Diese „Wiederholung der encyclopädischen Vorlesungen [hat mich] sehr in meiner ganzen Ansicht bestärkt“, schrieb er am 6. September 1805 an Gaß.14 10

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Gemeint ist Gottlieb Jakob Planck: Einleitung in die Theologische Wissenschaften, Bd. 1–2, Leipzig 1794–1795; Schleiermacher hat das Buch in seiner Bibliothek besessen. KGA V/8, S. 24 KGA V/8, S. 18 KGA V/8, S. 43 KGA V/8, S. 304

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Einen interessanten Fall stellt Schleiermachers einstündige Vorlesung „de methodo et fine studii historiae ecclesiasticae“, „Ueber Zweck und Methode des Studiums der Kirchengeschichte“, aus dem Sommersemester 1806 dar; sie begann am 9. Mai und endete am 5. September. Was Schleiermacher hier seinen 57 Hörern bot,15 stellte gewissermaßen einen Teilausschnitt Theologischer Enzyklopädie dar: eine Theorie der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin im Rahmen allgemeiner Überlegungen zur Historik.16 Vieles davon findet sich später in den Ausführungen der „Kurzen Darstellung“ und den durch Nachschriften belegten Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie wieder. Offensichtlich plante Schleiermacher im Sommer 1806 auch für das kommende Wintersemester 1806/07 wieder eine Vorlesung zur Theologischen Enzyklopädie,17 muss dann aber bald darauf seine Pläne geändert haben. Jedenfalls ließ er im „Catalogus Praelectionum“ der Friedrichs-Universität zu Halle gleich fünf andere Lehrveranstaltungen ankündigen. Alle Planungen für das neue und überhaupt weitere Semester in Halle erwiesen sich indes alsbald ohnehin als bedeutungslos. Preußen trat an der Seite Russlands, Sachsens, Braunschweigs und SachsenWeimars in den sogenannten Vierten Koalitionskrieg gegen Napoleon I. ein. Nach der Eroberung Halles durch französische Truppen am 17. Oktober wurde die Universität nur drei Tage später, am 20. Oktober 1806, von Napoleon vorläufig geschlossen. Nach der endgültigen Niederlage Preußens ging sie im Frieden von Tilsit vom Juli 1807 dem preußischen Staat verloren und wurde dem neugegründeten Königreich Westfalen zugeschlagen. Im Dezember 1807 kündigte die neue Regierung zwar die Wiederöffnung der Hallenser Universität an. Aber zu diesem Zeitpunkt hielt Schleiermacher sich bereits in Berlin auf und hatte sich entschieden, unter den bestehenden Umständen nicht an die Universität Halle zurückzukehren.18 15 16 17 18

Das erhaltene handschriftliche Material Schleiermachers zu dieser Vorlesung ist ediert in: KGA II/6 (Vorlesungen über die Kirchengeschichte), S. 3–18. Vgl. Nowak: Schleiermacher, S. 150, sowie die Ausführungen von Simon Gerber in KGA II/6, S. XVIIIf Vgl. KGA V/8, S. 366; KGA V/9, S. 59 Vgl. Nowak: Schleiermacher, S. 174–181; Hermann Patsch: Ein Gelehrter ist kein Hund. Schleiermachers Absage an Halle, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß 1984, ed. Kurt-Victor Selge, SchlA 1, Berlin/New York 1985, S. 127–137; ferner die Ausführungen von Patsch in KGA I/5, S. XXIV–XXVIII

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In Halle muss Schleiermacher ein Vorlesungsmanuskript zur Theologischen Enzyklopädie angefertigt haben, das offensichtlich einerseits noch manche inhaltliche Lücke aufwies, andererseits schon so umfangreich und ausgearbeitet geraten war, dass er es seinem theologischen Gesprächspartner Gaß zum weiteren gedanklichen Austausch schicken zu können meinte.19 Wie Schleiermachers Hallenser Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie inhaltlich ausgesehen haben, darüber lassen sich nur wenige Erwägungen anstellen. Zur stofflichen Anreicherung benutzte er Nösselts und Plancks gedruckte Lehrbücher; ein für die Konzeption prägender Einfluss dürfte sich daraus kaum ergeben haben.20 Sowohl die spätere Gestalt der „Kurzen Darstellung“ als auch das vorhandene handschriftliche Material zur Vorlesung „Ueber Zweck und Methode des Studiums der Kirchengeschichte“ aus dem Sommersemester 180621 lassen wohl die Vermutung zu, dass auch die Hallenser Theologische Enzyklopädie Schleiermachers in erster Linie an einem wissenschaftstheoretischen und methodischen Verständnis der Theologie im Ganzen und in ihren einzelnen Teilen interessiert war, also den Charakter einer formalen, nicht einer materialen Enzyklopädie22 trug. Ferner scheint Schleiermacher seinen Hallenser Enzyklopädievorlesungen eine Vierteilung zu Grunde gelegt zu haben. Das lässt sich seinem Brief an Gaß vom 16. November 1805 entnehmen: „Da es Ihnen Vergnügen zu machen scheint so schikke ich Ihnen zugleich meine Encyklopädie soviel davon vorhanden ist. Leider werden Sie gleich sehn, daß der erste Theil nicht vollendet ist, der zweite gänzlich fehlt und vom dritten nur die erste Hälfte vorhanden ist. Wahrscheinlich würde Sie der zweite Theil auch wegen des Zusammenhanges mit Ihrer Arbeit am meisten interessiren und grade von diesem können Sie Sich nur die allgemeinste Idee aus der Einleitung herausnehmen. Mir ist nun vorzüglich daran gelegen zu wissen ob Sie die in der allgemeinen Einleitung gegebene Darstellung des Ganzen und die Anordnung und Gliederung des historischen Theils billigen.“23 Man sieht: Einer allgemeinen Einleitung folgen drei Teile, von denen einer der historische Teil ist; die beiden anderen werden nicht 19 20 21 22 23

Vgl. KGA V/8, S. 304. 365f Vgl. KGA V/8, S. 24; s. oben bei Anm. 11 Vgl. KGA II/6, S. 3–18 Zu dieser Unterscheidung vgl. KD2 § 20 (KGA I/6, S. 333) KGA V/8, S. 365f

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benannt. Man wird vermuten dürfen, dass sich darin schon die spätere Vierteilung der „Kurzen Darstellung“ von Einleitung, Philosophischer, Historischer und Praktischer Theologie ankündigt. Allerdings gibt die zitierte Briefstelle Anlass zu einer interessanten Erwägung, was die Reihenfolge der einzelnen Teile im Aufbau der Hallenser Enzyklopädievorlesungen betrifft. Wenn Schleiermacher insbesondere daran interessiert ist, wie Gaß, neben der „in der allgemeinen Einleitung gegebene[n] Darstellung des Ganzen“, „die Anordnung und Gliederung des historischen Theils“ beurteilt, ist es wenig wahrscheinlich, dass es sich dabei ausgerechnet um den Teil handeln soll, der in seinem Manuskript „gänzlich fehlt“, nämlich den zweiten. Weiter: Schleiermacher spielt auf die eigene „Arbeit“ seines Gesprächspartners Gaß an. Sollte es sich dabei um die Ausarbeitung eines Manuskripts zu einer Apologie des Christentums handeln, die Gaß am 1. September 1805 an Schleiermacher geschickt hatte,24 wäre es wahrscheinlich, dass der zweite Teil der Vorlesung in etwa das enthalten hätte, was in der späteren „Kurzen Darstellung“ die Philosophische Theologie geworden ist, unter Anderem die Gaß besonders interessierende Apologetik. Den ersten Teil der Hallenser Vorlesungen hingegen hätte dann wohl die Historische Theologie ausgemacht, die offensichtlich bereits am stärksten ausgearbeitet, aber nicht vollendet war. Für diese Vermutung zum Aufbau der Hallenser Theologischen Enzyklopädie Schleiermachers sprechen weitere Indizien: Zum einen ließe sich die Ankündigung der Vorlesung „Ueber Zweck und Methode des Studiums der Kirchengeschichte“ aus dem Sommersemester 1806 dann sehr gut verstehen als Versuch Schleiermachers, anlässlich dieser Vorlesung jetzt jedenfalls den ersten Teil seiner Enzyklopädie zu vollenden. Zum Anderen hält Gaß im Winter 1810/11 in Breslau zweimal wöchentlich öffentliche Vorlesungen für Kandidaten und Hilfsprediger über das Studium der Theologie, wobei er sich ganz offensichtlich auf das ihm von Schleiermacher seinerzeit zur Verfügung gestellte Konzept der Theologischen Enzyklopädie stützt;25 unter dem 20. Februar 1811 schildert er Schleiermacher gegenüber diese Vorlesungstätigkeit folgendermaßen: „Ich fing im November an und werde mit dem März schließen. In dieser Zeit werde ich den historischen und philosophischen Theil Ihrer Encyklopädie vollenden; die praktische Theologie hatte ich mir vorgenommen im künftigen Winter besonders 24 25

Vgl. KGA V/8, S. 299f Vgl. KGA V/11, S. 516

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und ausführlich vorzutragen.“26 Auch hier also erscheint die Abfolge von Historischer, Philosophischer und Praktischer Theologie. Sie dürfte mit vorangestellter allgemeiner Einleitung dem Aufbau entsprechen, den Schleiermacher seinen Hallenser Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie gab.

2. Die Berliner Vorlesung von 1808 Seit September 1807 war Schleiermacher als zukünftiger Professor der Theologie an der Universität vorgesehen, die als Kompensation für die verlorene Hallenser Lehranstalt in Berlin gegründet werden sollte.27 Noch bevor die neue Universität zum Wintersemester 1810/ 11 offiziell ihren Lehrbetrieb aufnahm, hielt Schleiermacher in den Jahren 1807-1810 philosophische und theologische Vorlesungen in Berlin. Mit Ausnahme der allerersten Vorträge aus dem Sommer 1807 über die Geschichte der alten Philosophie, ließ Schleiermacher diese Privatvorlesungen durch Anzeigen in den Berlinischen Nachrichten, der sogenannten Spenerschen Zeitung, bekannt machen und den Verkauf der Eintrittskarten durch die Realschulbuchhandlung des befreundeten Verlegers Georg Reimer organisieren. Unter diesen Privatvorlesungen vor Eröffnung der Berliner Universität findet sich auch eine Vorlesung zur Theologischen Enzyklopädie. Ursprünglich hatte Schleiermacher wohl vorgehabt, sie bereits im Oktober 1807 anfangen zu lassen, musste aber seine Abreise aus Halle und endgültige Übersiedelung nach Berlin verschieben; der Beginn des Kollegs war dann zunächst für den Dezember geplant.28 26 27

28

Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. Wilhelm Gaß, Berlin 1852, S. 92 Vgl. Rudolf Köpke: Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Neudruck der Ausgabe Berlin 1860, Aalen 1981, hier bes. S. 44; Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1– 4, Halle 1910, Bd. 1, hier bes. S. 123; KGA V/9, S. 537f. 615 – Schleiermacher war zudem seit Mai 1808 vorgesehen für die durch Tod des bisherigen Inhabers frei gewordene Stelle eines reformierten Predigers bei der Dreifaltigkeitskirche in Berlin (vgl. Einzelheiten und dokumentarische Belege bei Günter Meckenstock in KGA III/1, S. XLIf); er trat dieses Amt zum 1. Juni 1809 an und hatte es, neben seiner theologischen Professur, bis zu seinem Tod am 12. Februar 1834 inne. Das geht aus dem Brief an Georg Reimer vom 17. Oktober 1807 aus Halle hervor (vgl. KGA V/9, S. 555f). Nachdem Schleiermacher seinem Freund und Verleger die Gründe erläutert hatte, warum er noch in Halle bleiben müsse, schrieb er hinsichtlich seiner geplanten Berliner Vorlesung: „Das theologische Collegium was ich den Winter lesen möchte wird noch eben so gut zu Ostern fertig wenn ich es auch erst im December anfange.“ (KGA V/9, S. 556)

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Schließlich kündigte er aber erst am 29. Dezember 1807 öffentlich „Eine allgemeine encyclopädische Uebersicht des theologischen Studiums in zwei wöchentlichen Stunden, Donnerstag und Freitag von 5 bis 6 Uhr“ an; zwei Tage später korrigierte er die Zeitangabe auf „Mittwoch und Sonnabend, von 4–5 Uhr“. Laut öffentlicher Anzeige sollten diese Vorlesungen am 7. Januar 1808, einem Donnerstag, beginnen; in seinem Tageskalender notierte er, der annoncierten Verschiebung auf Mittwoch und Samstag als Vortragstage entsprechend, unter Mittwoch, dem 6. Januar 1808: „Angefangen zu lesen […] theologische Encyclopädie“29. Bis wann die Vorträge gingen, ist nicht bekannt. Sehr regen Zuspruch unter den Berliner Theologen scheint Schleiermachers Enzyklopädievorlesung nicht gefunden zu haben. Das geht aus seinem Brief an den klassischen Philologen August Boeckh30 in Heidelberg vom 8. März 1808 hervor: „Ich lese hier nichts theologisches, als nur Encyclopädie vor sehr Wenigen. Die Prediger dünken sich zu vornehm und die Candidaten fürchten sich, weil ihr Probst mich nicht nennen kann ohne mystisch-spinozistisch-pantheistisch und ich weiß nicht was noch für Prädicate meinem ohnedies langen Namen anzuhängen.“31

3. Die Vorlesungen an der Universität Berlin Zum Wintersemester 1810/11 nahm die neugegründete Universität in Berlin, an deren Planung und Einrichtung auch Schleiermacher in 29

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Zitate aus Schleiermachers Tageskalendern (im Schleiermacher-Nachlass im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin) werden unter Auflösung der Abkürzungen als reiner Lesetext wiedergegeben. Boeckh (1785–1867) hatte in Halle auch bei Schleiermacher studiert und war 1807, noch nicht einmal ganz 22 Jahre alt, zum außerordentlichen Professor der Philologie an der Universität Heidelberg ernannt worden. 1810 erhielt er einen Ruf an die neue Berliner Universität, dem er zum Sommersemester 1811 folgte. 1814 wurde er Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften. In Universität und Akademie ergaben sich zwischen Boeckh und Schleiermacher immer wieder enge Kooperationen und Kontakte. KGA V/10, S. 74 – Wer der erwähnte Propst war, ist unsicher. Die Schleiermacher angehängten Prädikate entsprechen den Vorwürfen, die Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817) gegen ihn erhoben hatte (vgl. Sacks Schreiben an Schleiermacher von Ende 1800/Anfang 1801 und Schleiermachers briefliche Antwort von vermutlich Mai/Juni 1801, KGA V/5, S. 3–7. 129–134). Für Sack spricht ferner, dass er so etwas wie die graue Eminenz des kirchlichen Berlin war und großen Einfluss auf die öffentliche kirchliche Meinung besaß. Allerdings trug der Oberhofprediger und Oberkonsistorialrat den Titel Propst wahrscheinlich nicht. Vielleicht handelte es

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verschiedener Hinsicht nicht unbeträchtlich beteiligt gewesen war,32 offiziell ihren Lehrbetrieb auf. Wie zu Beginn seiner akademischen Lehrtätigkeit an der Universität Halle kündigte er auch für sein erstes Berliner Semester unter Anderem ein Kolleg über „Encyklopädie der theologischen Wissenschaften“ bzw. „Encyclopaediam Theologicam“ an. 17 Hörer besuchten die zweistündige Vorlesung, die am 29. Oktober 1810 begann und am 19. März 1811 endete. Das Wichtigste an dieser Vorlesung ist wohl, dass Schleiermacher sie zum Anlass nahm, den lange, schon seit seiner ersten Hallenser Enzyklopädievorlesung, gehegten, immer wieder aufgeschobenen Plan, ein eigenes kleines Lehrbuch für seine propädeutischen Vorlesungen auszuarbeiten und drucken zu lassen, nun endlich in die Wirklichkeit umzusetzen. In der Zeit nach dem 1. September 1810 als terminus a quo und dem 29. Dezember 1810 als terminus ad quem, also zumindest teilweise in zeitlicher Parallele zur laufenden Vorlesung, brachte er das Werk schließlich zu Papier.33 Im Frühjahr, spätestens zur Osterbüchermesse 181134 lag die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen entworfen von F. Schleiermacher“ der Öffentlichkeit vor, gedruckt in Berlin, „In der Realschulbuchhandlung“ seines Freundes Georg Reimer. So lag es nahe, dass Schleiermacher gleich im darauf folgenden Wintersemester 1811/12 eine weitere Enzyklopädievorlesung ankündigte, diesmal unter Zugrundelegung des neu erschienenen eigenen Lehrbuchs: „Theologische Encyclopädie lehrt Herr Prof. Schleiermacher nach seinem Leitfaden, dreimal wöchentlich von 4–5 Uhr.“ Der Vorlesungsbeginn war für den 21. Oktober 1811 geplant; noch zwei Tage später allerdings äußerte Schleiermacher seinem Briefpartner Gaß gegenüber Bedenken hinsichtlich der geplanten Enzyklopädievorlesung: „Geschwind ehe noch die Vorlesungen angehn, liebster Freund, muß ich Ihnen ein Paar Worte schreiben. [...] Morgen geht nun das alte Leben wieder an. Noch fürchte ich mich etwas davor; ich kann stundenweise etwas melancholisch sein, weil mir bange ist

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sich also um einen Propst, der sich das Urteil des einflussreichen Sack zu Eigen gemacht hatte. Mögliche Kandidaten wären Konrad Gottlieb Ribbeck (1757–1826) oder Gottfried August Ludwig Hanstein (1761–1821). Vgl. Schmid: Schleiermacher als Universitätstheoretiker und Hochschullehrer, S. 217–222; KGA I/6, S. X–XVIII; Nowak: Schleiermacher, S. 220f Zur Vor- und Entstehungsgeschichte der „Kurzen Darstellung“ vgl. KGA I/6, S. XL–XLVI Vgl. KGA I/6, S. XXXIXf

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ich habe zuviel auf mich geladen. Dazu kommt noch daß sich bis jezt nur noch sehr wenig Zuhörer gemeldet, und namentlich zur Encyklopädie die ich soviel lieber nicht gelesen hätte kaum ein halbes Duzend. Aber es ist einmal gegen meinen Grundsaz, ein Collegium was ich einmal angekündigt wieder aufzugeben; also muß es nun auch seinen Fortgang haben.“35 Die anfängliche Skepsis scheint im Laufe des Semesters abgenommen zu haben, zumal die Zahl der Hörer immerhin auf 26 angestiegen war. Am 9. Februar 1812 schrieb Schleiermacher an Gaß: „Das Semester läuft ab wie toll, und ich weiß nicht, wie ich zu Ende kommen soll. [...] die Encyklopädie kann ich tüchtig hinten abkürzen, weil ich nächstes Semester praktische Theologie zu lesen denke.“36 Die Vorlesungszeit endete am 18. März 1812, und seinen Plan einer Art Fortsetzung der Enzyklopädie im Folgesemester hat Schleiermacher umgesetzt: im Sommersemester las er – vierstündig – Praktische Theologie; ob dabei ebenfalls, wie brieflich erwogen, die „Kurze Darstellung“ als Lehrbuch zugrunde lag, geht aber aus der Vorlesungsankündigung nicht hervor. Im Wintersemester 1813/14 kündigte Schleiermacher wiederum eine Enzyklopädievorlesung an: „Theologische Encyclopädie trägt Herr Prof. Schleiermacher vor in drei Stunden, Montags, Dienstags, Mittwochs von 4 bis 5 Uhr“. Diese Vorlesung ist allerdings ausgefallen; vermutlich wurde die Universität im Kriegswinter 1813/14 zu schwach frequentiert. Ein Jahr später dagegen kam die inzwischen vierstündig angekündigte Vorlesung – „Die theologische Encyclopädie trägt nach seinem Lehrbuche vor Herr Prof. Dr. Schleiermacher in vier wöchentlichen Stunden Morgens von 8–9 Uhr“ – auch zustande: sie dauerte vom 24. Oktober 1814 bis zum 18. März 1815 und wurde von 57 Hörern besucht. Dabei war für ihn die Entlastung durch die Grundlage des eigenen Lehrbuches durchaus noch spürbar, wie er gleich zu Semesterbeginn Gaß gegenüber äußerte: „[...] ich habe diese Woche wieder angefangen zu lesen. Bei der Encyklopädie schmekke ich doch die Süßigkeit eines Compendiums; die Vorträge werden gewiß verständlicher.“37 Im Wintersemester 1816/17 hielt Schleiermacher seine Enzyklopädievorlesung wiederum vierstündig: „Theologische Encyclopädie 35 36 37

23. Oktober 1811 an J. C. Gaß, Briefe, Bd. 4, S. 184 Briefwechsel mit Gaß, S. 102f (Brief vom 5. Januar bis 9. Februar) 29. Oktober 1814, Briefwechsel mit Gaß, S. 121

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lehrt Herr Prof. Dr. Schleiermacher nach seinem Lehrbuche viermal wöchentlich von 8–9 Uhr“. Unter den 26 Hörern dieser Vorlesung, die vom 28. Oktober 1816 bis zum 21. März 1817 dauerte, befand sich auch Ludwig Jonas, der seit April 1815 Theologiestudent in Berlin war. Die Nachschrift, die Jonas in dieser Vorlesung angefertigt hat, ist überliefert und wird in diesem Band dokumentiert.38 Vom Wintersemester 1819/20 an hielt Schleiermacher seine Enzyklopädievorlesung fünfstündig. „Die theologische Encyclopädie nach seinem Lehrbuch trägt Herr Prof. Dr. Schleiermacher in fünf wöchentlichen Stunden von 7–8 Uhr vor“, lautete in diesem Semester die Ankündigung. Die Zahl seiner Hörer erhöhte sich deutlich, auf 66. Die Vorlesung begann, wie auch die beiden anderen Kollegs, am 19. Oktober 1819. Nach der Unterbrechung durch Weihnachtsfestzeit und Neujahrstag hielt Schleiermacher am Dienstag, den 4. Januar 1820 in seinem Tageskalender den „Wiederanfang der beiden Vorlesungen Geschichte der griechischen Philosophie und über PdasS Leben Jesu“ fest. Erst für den Montag der folgenden Woche, den 10. Januar 1820 notierte er: „Die Encyclopädie um 7 Uhr wieder angefangen.“ Am 19. Januar, einem Mittwoch, hieß es: „Vorlesungen wegen Unwohlsein ausgesezt.“ Die Enzyklopädievorlesung beendete er am 18. März 1820, während er die beiden anderen Kollegs noch eine Woche länger, bis zum 24. bzw. 25. März, hielt. In diesem Semester waren für Schleiermacher im Übrigen die Beeinträchtigungen im Zuge der sogenannten Demagogenverfolgung deutlich spürbar. Am 6. Dezember 1819 schrieb er seinem Schwager Ernst Moritz Arndt: „Ich fühle mich in meiner Universitätsthätigkeit wirklich wie auf einer Seite gelähmt.“39 So wie seine Gottesdienste in dieser Zeit nachweislich von geheimpolizeilichen Spitzeln besucht wurden,40 musste er befürchten, dass auch seine Vorlesungen Gegenstand staatlicher Spionage würden.41 38 39 40 41

Vgl. dazu diese Einleitung, unten II. 1. a. Briefe, Bd. 2, S. 368 Vgl. KGA III/5, S. XXV–XXVII Vgl. Schleiermachers Klage bereits zu Beginn des Jahres 1819 gegenüber dem ihm seit seinen Schlobittener Tagen freundschaftlich verbundenen ehemaligen Preußischen Innenminister, Graf Alexander zu Dohna: „[...] der unsinnige Argwohn von oben herab und die Intriguen, die auf diesem Grund gegen einzelne Menschen gespielt werden, dies alles nimmt täglich zu, und man ist des unschuldigsten Wortes nicht mehr sicher, daß es nicht verdreht und herumgetragen wird. Ja bis in die Vorlesungen, sogar die theologischen, geht das Spionieren, wie einer meiner Kollegen noch kürzlich erfahren hat. Aus diesem unwürdigen Zustande sieht man noch gar keine Erlösung.“ (Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Fami-

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Die für das Sommersemester 1824 fünfstündig angekündigte Vorlesung („Die theologische Encyklopädie trägt vor Hr. Prof. Dr. Schleiermacher in 5 wöchentlichen Stunden von 7–8 Uhr“) fiel aus; stattdessen hielt Schleiermacher ein nicht angekündigtes Kolleg zur Praktischen Theologie. Drei Jahre später, im Sommersemester 1827, fand die Vorlesung, ebenfalls fünfstündig, wieder statt, diesmal vor großem Auditorium von 169 Hörern: „Theologische Encyklopädie trägt Hr. Prof. D. Schleiermacher vor Morgens v. 8–9 Uhr fünfmal die Woche nach seiner kurzen Darstellung.“ Hier lässt sich der Gang der Vorlesung vom 7. Mai bis 31. August 1827 durch allerlei Notate in Schleiermachers Tageskalender etwas detaillierter nachvollziehen: Am 7. Mai schrieb er: „Erste Stunde in allen 3 Collegia.“42 Unter dem 28. Mai findet sich der Eintrag: „In der Encyclopädie die Einleitung geschlossen“; entsprechend fiel der Beginn der Philosophischen Theologie auf den 29. Mai: „Encyclopädie ersten Theil angefangen“. Unter dem 19. Juni, zur 24. Vorlesungsstunde,43 notierte Schleiermacher: „die philosophische Theologie beschlossen.“ Am 17. Juli, der 42. Vorlesungsstunde44, lautete der Eintrag: „Encyclopädie die exegetische Theologie beendigt“. Am 2. August findet sich der Eintrag „Encyclopädie 53 II,3 angefangen“: an diesem Tag hat Schleiermacher also mit der 53. Vorlesungsstunde den dritten Abschnitt der Historischen Theologie, „Die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums“45 begonnen. Am 31. August konnte er notieren: „Statistik und Encyclopädie mit 69 [Stunden] geschlossen.“ Für das Sommersemester 1829 kündigte Schleiermacher abermals „Die theologische Encyklopädie“ – „Encyclopaediam theologicam“ – nach seinem Lehrbuch an, „in fünf wöchentlichen Stunden, Morgens v. 6–7 Uhr“. Die Vorlesung, der 118 Hörer folgten, begann am 4. Mai.46 Am 18. Mai hatte Schleiermacher, so die Einträge in seinem Tageskalender, mit der „10. Stunde“ die „Philosophische Theologie

42 43 44 45 46

lien- und Freundesbriefe, ed. Heinrich Meisner, Bd. 1–2, Gotha 1922–1923, Bd. 2, S. 294) Neben der Enzyklopädie las Schleiermacher in diesem Semester noch Philosophische Ethik sowie Kirchliche Geographie und Statistik. Vgl. den Eintrag am 18. Juni: „Statistik und Encyclopädie 23“ Vgl. den Eintrag am 16. Juli: „Statistik und Encyclopädie 41“ KD2 S. 81 (KGA I/6, S. 393,14f) In seinem Tageskalender notierte Schleiermacher für den 4. Mai: „Alle drei Collegia angefangen.“ Unter dem 2. Mai schrieb er an Gaß: „Uebermorgen fange ich an zu lesen“ (Briefwechsel mit Gaß, S. 211).

XXX

Einleitung der Bandherausgeber

angefangen“, drei Tage später, am 21. Mai die „Einleitung in die philosophische Theologie beschlossen“. Für Montag, den 3. August notierte er: „Nicht gelesen wegen Königs Geburtstag“. An diesem Tag hielt die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin Friedrich Wilhelm III. zu Ehren eine öffentliche Sitzung ab, die Schleiermacher in seiner Funktion als Sekretar der philosophischen Klasse der Akademie mit einer Rede eröffnete.47 „Kollegia ausgesezt“, hieß es, diesmal ohne Angabe von Gründen, am 13. August. Und am 28. August, einem Freitag, beendete Schleiermacher seine Vorlesung: „Encyclopädie geschlossen mit der 77ten Stunde.“ Im Wintersemester 1831/32 hielt Schleiermacher seine Enzyklopädievorlesung ebenfalls fünfstündig, diesmal vor 90 Hörern. Es war die erste Vorlesung, der er die „Zweite umgearbeitete Ausgabe“ seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ zu Grunde legte, die im November 1830 in Berlin im Verlag seines Freundes Georg Reimer erschienen war.48 Schon die Vorlesungsankündigung nahm darauf ausdrücklich Bezug: „Die theologische Encyclopädie trägt nach seiner kurzen Darstellung des theol. Studiums (2. Aufl.) in fünf Stunden wöchentlich von 9–10 Uhr Hr. Prof. Dr. Schleiermacher privatim vor.“ In seinem Tageskalender notierte er nicht nur die erste und die letzte49 Kollegstunde, sondern auch regelmäßig die Stunden zu Beginn und am Ende jeder Woche. Darüber hinaus hielt er fest, wenn Vorlesungsstunden ausfielen, etwa am 13. Dezember 1831 zur Trauerfeier für den Arzt und Physiker Thomas Seebeck (1770–1831), der seit 1818 Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften gewesen war („Ausgesetzt wegen Seebecks Begräbniß“) oder anlässlich des Geburtstages seiner Ehefrau Henriette am 6. März50. Schließlich vermerkte Schleiermacher auch die Unterbrechung des Vorlesungsbetriebs zum Weihnachtsfest; am 22. Dezember 1831 schrieb er: „Mit der 33sten Stunde Ferien gemacht“, und unter dem 5. Januar 1832 ist zu lesen: „34ste Stunde die Collegia wieder angefangen“. Unter 47 48

49

50

Vgl. KGA I/11 (Akademievorträge), S. LXIII. 589–598 Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Entworfen von Dr. F. Schleiermacher. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Berlin, 1830. Gedruckt und verlegt bei G. Reimer (KGA I/6, S. 317–446); zur Entstehung der zweiten Auflage vgl. KGA I/6, S. LXIII–LXVII 7. November 1831: „Beide Collegia angefangen“. Gemeint sind Enzyklopädie und Einleitung in das Neue Testament; 31. März 1832: „Encyclopädie geschlossen mit 96 Stunden“. Vgl. unten den Sachapparat zu 526,28

Editorischer Bericht

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den Hörern dieser Vorlesung war David Friedrich Strauß, der als promovierter Württembergischer Theologe eigens nach Berlin gekommen war, um Hegel und Schleiermacher zu hören.51 Seine Nachschrift wird ebenfalls im vorliegenden Band ediert.52 Die Vorlesung von 1831/32 wurde die letzte über die Theologische Enzyklopädie und blieb damit die einzige, die Schleiermacher auf der Grundlage der zweiten Auflage seiner „Kurzen Darstellung“ von 1830 hielt.

II. Editorischer Bericht Zu den Vorlesungen Schleiermachers über die Theologische Enzyklopädie existieren keine Manuskripte Schleiermachers. Bei den edierten Texten dieses Bandes handelt es sich ausschließlich um Vorlesungsnachschriften fremder Hand.

1. Die vorhandenen Vorlesungsnachschriften Zu den insgesamt elf Vorlesungen, die Schleiermacher in Halle und Berlin über Theologische Enzyklopädie gehalten hat, sind Nachschriften aus lediglich drei Semestern vorhanden: zu den Vorlesungen aus dem Wintersemester 1816/17, dem Sommersemester 1827 und dem Wintersemester 1831/32. a. Vorlesung 1816/17: Nachschrift Jonas Die Nachschrift von L u d w i g J o n as zu Schleiermachers Vorlesung über Theologische Enzyklopädie aus dem Wintersemester 1816/17 befindet sich in: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass F. D. E. Schleiermacher, Nr. 547/1. Sie trägt den Titel „Theologische Encyclopädie nach d. Vortrage d. HE. Dr. Schleiermacher / Wintercursus 1816/17 / Jonas“. 51

52

Im „Amtlichen Verzeichniß des Personals und der Studirenden auf der Königl. Friedrich-Wilhelms Universität zu Berlin. Auf das Winterhalbejahr von Michaelis 1831 bis Ostern 1832“ (Berlin 1832) findet sich auf S. 29 der Eintrag „F. Strauß“; unter „Geburtsort oder Vaterland“ ist das „Königr. Wirtemberg“, als Wohnung „Friedrichstr. 172“ angegeben. Vgl. dazu diese Einleitung, unten II. 1. c.

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Einleitung der Bandherausgeber

Das Manuskript besteht aus 38 Lagen zu je 2 ineinander gelegten Doppelblättern, insgesamt also 152 Blatt, die, vermutlich noch zu Jonas’ Lebzeiten, zu einem mit festem braunen Pappeinband versehenen Buch gebunden wurden. Das gelb-grünliche Papier hat ein Format von etwa 21 cm Höhe und 16,5 cm Breite; es ist mit schwarzbrauner Tinte beschrieben. Die Nachschrift gibt ohne größere Lücken die gesamte Vorlesung über sämtliche Paragraphen der „Kurzen Darstellung“ von 1811 wieder. Sie ist über weite Strecken ausführlich formuliert und macht, bei vereinzelten Zweifelsfällen, insgesamt einen verlässlichen und guten Eindruck. Sie ist, wiederum von Einzelfällen abgesehen, gut entzifferbar. Ludwig Jonas (1797–1859) war vom 12. April 1815 bis zum 28. Oktober 1819 als Student der Theologie an der Berliner Universität immatrikuliert.53 Er hörte bei Schleiermacher zahlreiche theologische und philosophische Vorlesungen und besuchte dessen Gottesdienste in der Dreifaltigkeitskirche. Es ergab sich eine lebenslange enge persönliche Beziehung, die schließlich darin mündete, dass Schleiermacher Jonas zu seinem literarischen Nachlassverwalter bestimmte.54 b. Vorlesung 1827: Nachschriften Stolpe und Brodkorb (Fragment) Die Nachschrift von F r i e d r i c h E d u ard Julius S tolpe zu Schleiermachers Vorlesung über Theologische Enzyklopädie aus dem Sommersemester 1827 befindet sich in: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Depositum 42a: Schleiermacher-Archiv, Mappe 23, S. 163–243. Sie trägt den Titel „Theologische Encyklopädie. / Nach den Vorlesungen des Herrn Prof. Dr. Fr. Schleiermacher / von E. Stolpe, theol. stud. / Berlin. / Im Sommersemester 1827.“ Das ausschließlich archivalisch paginierte Manuskript ist Bestandteil eines mit festem Einband versehenen gebundenen Buches, in dem sich noch zwei weitere Vorlesungsnachschriften Stolpes aus dem 53 54

Vgl. Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1810–1850, bearbeitet v. Peter Bahl / Wolfgang Ribbe, Bd. 1–3, Berlin/New York 2010, Bd. 1, S. 61 Zu Einzelheiten vgl. KGA II/4, S. XLVf; KGA III/1, S. LXVf; Fritz Jonas: Zur Erinnerung an unsern Vater Ludwig Jonas. Für die Familie gedruckt, Berlin 1880

Editorischer Bericht

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Sommersemester 1827 befinden, nämlich zu Schleiermachers „Ethik“ (S. 1–160) und zu seiner „Kirchlichen Geographie und Statistik“ (S. 251–367). Es besteht aus Lagen unterschiedlichen Umfangs im Papierformat von circa 22 cm Höhe und etwa 18 cm Breite. Die Seiten 230 bis 236 stammen möglicherweise von anderer Hand. Die Nachschrift weist gegenüber der von Schleiermacher zu Grunde gelegten Erstausgabe der „Kurzen Darstellung“ von 1811 einige Lücken auf. Im I. Teil zur Philosophischen Theologie fehlt in der Einleitung eine Besprechung von §§ 9–19 (KGA I/6, S. 257–259), im 2. Abschnitt zur Polemik eine zu § 11 (KGA I/6, S. 263). Im II. Teil zur Historischen Theologie bleiben im 2. Abschnitt zur eigentlichen Kirchengeschichte kleinere Paragraphengruppen unerläutert (§§ 28– 29. 31–33. 38–43; KGA I/6, S. 283. 284. 285f); im 3. Abschnitt zur Kenntnis des gegenwärtigen Zustands des Christentums erfolgt die Ausführung zu §§ 20–27 (KGA I/6, S. 290f) lediglich summarisch. Eine Besprechung des III. Teils zur Praktischen Theologie fehlt vollständig. Die Nachschrift ist, hat man sich erstmal in Handschrift und Kürzel ihres Verfassers eingelesen, ganz gut entzifferbar. Sie ist, wo vorhanden, relativ ausführlich. Ihre inhaltliche Zuverlässigkeit scheint etwas schwankend zu sein; immer wieder gibt es Stellen, an denen es zweifelhaft ist, ob Stolpe Schleiermacher angemessen verstanden hat. Über den Nachschreiber, Friedrich Eduard Julius Stolpe, ist wenig bekannt. Geboren in Berlin, war er an der dortigen Universität als Student der Theologie immatrikuliert vom 5. April 1826 bis zum 17. März 1830; sein Vater war Kammermusiker in Potsdam.55 Anderen Angaben zufolge war Stolpe der Sohn eines Fabrikendruckers und beendete sein Studium bereits 1829.56 Die Nachschrift von C ar l Wi l h e l m Julius Theodor Brodko r b befindet sich in: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Ms. Germ. Oct. 670, Bl. 2r–37r. Sie trägt den Titel „Anleitung / zum Studium der Kirchen-Geschichte / und Dogmatik / von / Dr. Schleiermacher / Berlin / im Sommer 1827. CWJT Brodkorb.“ (Bl. 2r). 55 56

Vgl. Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1, S. 317 Vgl. „Nachweisung der,[sic!] im Regierungs Bezirke Potsdam lebenden, nach Ostern 1827 von der Universität abgegangenen Candidaten des Predigt- oder Schulamts“ vom 2. Dezember 1834, Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin, Bestand 14 (Konsistorium der Provinz Brandenburg), Nr. 1332

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Einleitung der Bandherausgeber

Das Manuskript besteht aus 9 Lagen von meist 4, einmal 6 Blatt im Format von circa 21 cm Höhe und 12,5 cm Breite. Es ist Bestandteil eines mit festem Einband versehenen Buches. Dabei handelt es sich um „Ein Heft verschiedenen Inhalts“ (Bl. 1r), das insgesamt 152 Blatt umfasst und Nachschriften Brodkorbs zu folgenden Vorlesungen aus dem Sommersemester 1827 enthält: „I Schleiermachers Anleitung zum Studium der Kirchen-Geschichte und Dogmatik II Ein Fragment aus Schleiermachers kirchl. Geographie und Statistik III Ein Fragment aus Schleiermachers Ethik IV Die letzten Reden und die Leidensgesch. Christi nach Johannes von Neander“ (Bl. 1r). Dass es sich bei dem Manuskript, trotz des anders lautenden Titels, tatsächlich um eine Nachschrift zu Schleiermachers Vorlesung über die Theologische Enzyklopädie handelt, geht schon daraus hervor, dass Brodkorb am linken oberen Rand das erste Blatt einer neuen Lage mit der Notiz „Encyc.“ oder „Enc.“ versieht. Vor allem aber ist der Bezug zu Text und Paragraphenzählung der „Kurzen Darstellung“ von 1811 durchgängig vorhanden. Der Titel, „Anleitung zum Studium der Kirchen-Geschichte und Dogmatik“, signalisiert indes schon, dass es sich nur um einen Ausschnitt der gesamten Vorlesung zur Theologischen Enzyklopädie von 1827 handelt. In der Tat enthält die Nachschrift Ausführungen lediglich zum II. Teil der „Kurzen Darstellung“ über die Historische Theologie und zwar, vollständig, zum 2. Abschnitt über die Kirchengeschichte, §§ 1–52 (KGA I/6, S. 279–287), und, eingeschränkt auf die Entwicklung des dogmatischen Lehrbegriffs, zum 3. Abschnitt über die Kenntnis des gegenwärtigen Zustands des Christentums, §§ 1–42 (KGA I/6, S. 287–294). So gesehen gibt der Titel präzise an, worum es in der Nachschrift inhaltlich geht. Die Handschrift ist ganz gut lesbar. Im Vergleich zur Nachschrift Stolpe sind die Ausführungen nicht durchgängig, aber doch meistens kürzer, aber auch häufig klarer. Allerdings bietet Brodkorb an einigen Stellen nur den Wortlaut des Paragraphenleitsatzes der „Kurzen Darstellung“ oder wenig mehr. Carl Wilhelm Julius Theodor Brodkorb, 1806 in Wolfenbüttel geboren, 1897 in Braunschweig gestorben, studierte Theologie in Göttingen und Berlin und war seit 1831 in verschiedenen Ämtern und Funktionen, u. a. als Pastor, Superintendent und Kirchenrat, in der

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Kirche des Herzogtums Braunschweig tätig.57 Über die studentische Hörerschaft Brodkorbs hinaus, scheint es besondere Bezüge zu Schleiermacher nicht gegeben zu haben. c. Vorlesung 1831/32: Nachschriften Anonymus, Strauß und Anonymus (Fragment) Zur Vorlesung im Wintersemester 1831/32 sind drei Nachschriften überliefert, die sich in Umfang und Qualität deutlich voneinander unterscheiden. Bei der Nachschrift A n o n ym u s handelt es sich um ein in einen grauschwarzen Pappband gebundenes Manuskript, das in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, zusammen mit zwei weiteren Archivalien verwahrt wird. Auf der Rückseite des vorderen Buchdeckels findet sich von fremder Hand neben der Angabe der Signatur „Nachl. 481 (Schleiermacher-Sammlung)“ die archivalische Notiz: „Bd.: ‚Theolog. Enzyklopädie‘ (Vorlesgs-Nachschrift)“. Der Band trägt ein leicht verblichenes Rückenschild mit der Aufschrift „Theologische Encyklop. Schleiermacher“ und umfasst 284 beschriebene sowie 6 unbeschriebene und teilweise unaufgeschnittene Seiten, die in nicht durchgängig nummerierte Lagen unterschiedlicher Stärke zusammengebunden wurden. Der Beginn jeder Lage ist in den meisten Fällen mit dem Kürzel „Theol. Encykl.“ markiert. Das gelb-grünliche, am welligen Seitenrand teilweise leicht nachgedunkelte Papier hat ein Format von etwa 23 cm Höhe und ungefähr 19 cm Breite; es ist mit schwarz-brauner Tinte beschrieben. Die Seiten weisen durchgängig einen etwa 5,5 cm breiten, durch Kniff gekennzeichneten Rand auf, der zumeist unbeschrieben ist. Auf den ersten Seiten, später nur noch sporadisch, befinden sich am oberen Seitenrand Kolumnentitel mit der Angabe „Theolog. Encyklopaedie“ bzw. „Einleitung“, gelegentlich mit Nennung der jeweiligen Paragraphennummern, die sich hin und wieder auch am Rand finden. Die Paginierung der Seiten wurde nicht durchgehend vorgenommen; auf den S. 20 bis 32 fehlt sie ganz, während sie von S. 246 an von fremder Hand mit Bleistift ergänzt wurde. 57

Bei diesen Angaben beziehen wir uns dankbar auf die Rechercheergebnisse von Simon Gerber in KGA II/16, S. XLVII; dort finden sich auch Hinweise auf Literatur.

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Einleitung der Bandherausgeber

Die Nachschrift weist zahlreiche Abkürzungen und Chiffren auf, ist aber insgesamt relativ gut lesbar. Sie gibt bis auf wenige ausgelassene Paragraphen die gesamte Vorlesung über die Einleitung und die drei Teile der „Kurzen Darstellung“ von 1830 wieder. Die Erläuterungen zu den Paragraphen schwanken zwischen ausführlichen Formulierungen und knappen Erklärungen, machen aber insgesamt einen verlässlichen und guten Eindruck. Die Nachschrift D avi d F r i e d r i ch S tra uß befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach und trägt dort die Signatur 7452. Das Manuskript ist in einen graubraunen Pappband gebunden und umfasst 273 beschriebene und 5 unbeschriebene Seiten im Format von 22,5 cm Höhe und 17 cm Breite, die mit bräunlicher Tinte beschrieben sind. Die Paginierung stammt von fremder Hand. Der durch Kniff gekennzeichnete Seitenrand von etwa 5,4 cm ist selten überschrieben und weist nur an einer Stelle eine Bemerkung des Nachschreibers auf.58 Auf dem Vorsatzblatt des Bandes findet sich rechts unten der eigenhändige Namenseintrag „D. F. Strauß“; die Notiz „Rep. Strauß“ am Fuße der ersten Textseite stammt dagegen vermutlich von fremder Hand, möglicherweise aus seiner Zeit als Repetent am Evangelischen Stift in Tübingen. David Friedrich Strauß (1808–1874), der nach beendigtem Vikariat und vollzogener Promotion im Herbst 1831 nach Berlin gekommen war, um Hegel zu hören, wurde aber – zumal nach dessen Tod gleich zu Beginn des Wintersemesters 1831/32 – auch ein intensiver Hörer Schleiermachers, von dessen Vortragsweise er ein anschauliches Bild gegeben hat: „Schleiermacher stand seiner Natur nach entschieden auf der Seite der höchsten Lebendigkeit und quecksilberartigen Beweglichkeit; auf der Kanzel hatte diese in dem Gefühlston, der doch immer eine gewisse Getragenheit mit sich bringt, ein Gegengewicht; auf dem Katheder fiel dieses hinweg, und da überließ er sich einer Rastlosigkeit im Aufnehmen und Wiederfallenlassen der Probleme, im Anfassen einer Sache bald von der, bald von jener Seite, die dem Zuhörer Schwindel erregen konnte, wenn nicht die lebendige, stets treffende und anschauliche Rede des gegenwärtigen Lehrers ihn an der Hand gehalten und auch über die Klüfte der Darstellung hülfreich mit hinübergerissen hätte“59. Nach seiner eigenen Ansicht war Strauß 58 59

Vgl. unten den textkritischen Apparat zu 397,40 David Friedrich Strauß: Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu, Berlin 1865, S. 8

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„durch genaue Kenntniß von Schleiermacher’s Schriften und durch philosophische Studien mehr als seine gewöhnlichen Zuhörer auf seine Vorlesungen vorbereitet“60; zudem kann er durch eine virtuose, nahezu stenographische Schreibtechnik als kompetenter Vorlesungshörer und -nachschreiber gelten. Die Entzifferung dieser überaus kürzelreichen und schwer lesbaren Nachschrift konnte sich dankbar auf die Edition stützen, die Walter Sachs auf Initiative von Hans-Joachim Birkner im Jahre 1987 in der Reihe „Schleiermacher-Archiv“ veranstaltet hat.61 So kann diese Nachschrift, die als „Glücksfall“62 bezeichnet worden ist, insgesamt als sehr gut und verlässlich angesehen werden. Die Nachschrift bietet Schleiermachers Erläuterungen zu den ersten drei Teilen der „Kurzen Darstellung“, also zur Einleitung, zur Philosophischen und zur Historischen Theologie. Zur Praktischen Theologie hat Strauß lediglich zusammenfassende Notizen zur „Einleitung“ sowie zum ersten Teil des „Kirchendienstes“ festgehalten. Über die Gründe dafür kann nur spekuliert werden: weder ist Schleiermacher mit der Vorlesung nicht zum Ziel gekommen, wie ein Vergleich mit der Nachschrift Anonymus zeigt, noch ist Strauß vorzeitig aus Berlin abgereist.63 Möglicherweise steht seine eher summarische und fragmentarische Behandlung der Praktischen Theologie im Zusammenhang mit seinem eigenen, vornehmlich auf die Philosophische und Historische Theologie gerichteten wissenschaftlichen Interesse. Eine weitere Nachschrift A n o n ym u s (Fra g m ent ) befindet sich in: Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Depositum 42a: Schleiermacher-Archiv, Mappe 22 (Theologische Enzyklopädie). Es handelt sich dabei um 3 nummerierte Bögen, die jeweils einmal gefaltet und hintereinandergelegt sind. Auf diese Weise ergeben sich 12 Seiten, von denen die vorletzte lediglich zu einem Viertel beschrieben und letzte gänzlich unbeschrieben ist. Das teilweise deutlich nachgedunkelte Papier misst 28 cm in der 60 61 62 63

Strauß: Christus des Glaubens, S. 5 Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, ed. Walter Sachs, SchlA 4, Berlin/New York 1987 Hans-Joachim Birkner: Vorwort, Theologische Enzyklopädie ed. Sachs, S. X In einem Brief an Wilhelm Vatke vom 18. August 1832 schreibt Strauß von seiner „Rückkehr im Mai“ nach Tübingen: Heinrich Benecke: Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften, Bonn 1883, S. 78. Zu Strauß’ Aufenthalt in Berlin vgl. insgesamt die ausführliche Darstellung von Walter Sachs: David Friedrich Strauß im Winter 1831/32 in Berlin. Die Auseinandersetzung mit Hegel und Schleiermacher, Theologische Enzyklopädie ed. Sachs, S. XIII–XXXVII

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Einleitung der Bandherausgeber

Höhe und 16 cm in der Breite; der etwa 6 cm breite Rand ist größtenteils unbeschrieben. Die Schrift ist sehr klein und enthält zahlreiche Kürzel; dadurch ist sie relativ schwer zu entziffern. Das unpaginierte Manuskript trägt die Überschrift „Theol. Encyclopädie in Vorlesungen über die Kurze Darst. d. theol. Studiums von Fr. Schleiermacher“ und weist, etwa in der ausführlicheren Darstellung der einzelnen Disziplinen des Medizinstudiums64 als Erläuterung zu § 1, inhaltlich starke Parallelen zur anderen (vollständigen) anonymen Nachschrift auf. Allerdings bricht die Nachschrift bereits in § 9 mit der Erwähnung des Ideals eines „Kirchenfürsten“ ab, bleibt also Fragment und bietet sich daher für eine Edition nicht an. d. Sekundäre Überlieferung Im Jahr 1905 publizierte der damalige Bonner Privatdozent Carl Clemen (1865–1940) Auszüge aus zwei Nachschriften zu Schleiermachers Enzyklopädievorlesung.65 Die eine Nachschrift, aus dem Wintersemester 1831/32, weist zwei unterschiedliche Handschriften auf und umfasst ausweislich des Anfangs- und Enddatums die komplette Vorlesung. Zudem enthält sie ein ausführliches Inhaltsverzeichnis. Clemen hat auf Empfehlung Diltheys erwogen, die Nachschrift gesondert zu edieren; dafür erschien sie ihm aber „doch stellenweise nicht reif“66. Daher beschränkte er sich darauf, Auszüge aus diesem Kollegheft mitzuteilen. Die andere Nachschrift, aus der Feder des späteren Bonner Professors Friedrich Bleek (1793–1859), stammt aus dem Wintersemester 1816/17 und wird als lückenhaft und unvollständig beschrieben.67 Beide Nachschriften sind aufgrund von Kriegsverlusten der Universitätsbibliothek Bonn nicht mehr vorhanden. Aus der Nachschrift Bleek gibt Clemen die einzige Mitteilung, dass Schleiermacher zum Begriff „Kirchenfürst“ (KD1 Einl. § 9) erläutert habe, „der Ausdruck komme ‚in alten Büchern‘ vor, sei aber am wenigsten auf den Papst, sondern eher auf Luther und Zwingli zu beziehen.“68 Aus der anonymen Nachschrift 1831/32 werden Auszüge zu den Paragraphen 1, 5, 6, 9, 10, 25, 39, 40, 53, 61, 95, 97, 64 65 66 67 68

Vgl. unten den Sachapparat zu 272,1–8 Carl Clemen: Schleiermachers Vorlesung über theologische Enzyklopädie, Theologische Studien und Kritiken 78 (1905), S. 226–245 Clemen: Schleiermachers Vorlesung, S. 227 Clemen: Schleiermachers Vorlesung, S. 228 Clemen: Schleiermachers Vorlesung, S. 230f, vgl. unten 15,16f

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111, 118, 126, 128, 130, 148, 196, 204, 207, 223, 225, 289 und 322 mitgeteilt; die Erläuterungen bieten aber bis auf einzelne Formulierungen (z. B. „gleichsam die negative Seite der Kirche, das Auseinandergehen der Gemeinschaft zu verhindern“69 als Erläuterung zum Ausdruck „zusammenhaltende Tätigkeit“ in § 25, „Es ist die Kriegführung in Sachen des Christentums“70 zu § 40) oder ausführlichere Beschreibungen des Gedankenganges keine über die hier edierten Texte hinausgehende Informationen.

2. Zur Auswahl der edierten Nachschriften und ihrer Begründung Die Herausgeber der Kritischen Gesamtausgabe sehen für die Edition der Vorlesungen Schleiermachers insgesamt eine restriktive Berücksichtigung der Vorlesungsnachschriften vor. Insbesondere sollen den editorischen Grundsätzen gemäß bei von Schleiermacher mehrfach gehaltenen Kollegs Nachschriften aus verschiedenen Semestern nur dann editorisch berücksichtigt werden, wenn es darum geht, eine bedeutsame Entwicklung zu dokumentieren.71 Nun weisen die Vorlesungen zur Theologischen Enzyklopädie für den Zeitraum, in dem uns Nachschriften überhaupt zur Verfügung stehen, insgesamt eine stabile äußere Struktur und inhaltliche Kontinuität schon allein dadurch auf, dass Schleiermacher ihnen sein gedrucktes Lehrbuch zu Grunde gelegt hat. Das schließt gedankliche Entwicklungen im Blick auf Einzelthemen nicht aus, lässt aber eine bedeutsame Entwicklung des Ganzen nur an einer Stelle deutlich und zweifelsfrei hervortreten: am Übergang von der ersten zur zweiten, völlig neu geschriebenen Ausgabe der „Kurzen Darstellung“ als Grundlage der Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie. Dieser Einschnitt muss durch die Edition dokumentiert werden. Es werden deshalb Nachschriften zu Vorlesungen über die erste und über die zweite Ausgabe der „Kurzen Darstellung“ berücksichtigt. Für die Vorlesungen über die „Kurze Darstellung“ von 1811 kommt eigentlich nur die Nachschrift von Jonas aus dem Wintersemester 1816/17 als Leittext für die Edition in Betracht. Sie bietet als 69 70 71

Clemen: Schleiermachers Vorlesung, S. 233 Clemen: Schleiermachers Vorlesung, S. 236 Vgl. oben, Einleitung der Herausgeber, II. bes. 3.

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Einleitung der Bandherausgeber

einzige die Wiedergabe eines gesamten Kollegs über Theologische Enzyklopädie, ist inhaltlich ausführlich und über weite Strecken zuverlässig. Die Nachschrift Stolpe weist kleinere und größere – vor allem die gesamte Praktische Theologie – Lücken auf; die Nachschrift Brodkorb enthält von vornherein nur einen Ausschnitt einer Vorlesung über Theologische Enzyklopädie und ist inhaltlich in der Regel knapp gehalten. Die Nachschrift Jonas hat überdies den besonderen Reiz, die früheste der uns derzeit durch Nachschriften erschlossenen Enzyklopädievorlesungen Schleiermachers zu dokumentieren. Darauf, neben der Nachschrift Jonas auch noch die Nachschriften Stolpe und Brodkorb eigenständig zu edieren, kann verzichtet werden, weil sich in ihnen eine bedeutsame Entwicklung im Ganzen nicht erkennen lässt. Hingegen enthält insbesondere die Nachschrift Stolpe aus dem Sommersemester 1827 zu bestimmten Themen oder Paragraphen der „Kurzen Darstellung“ interessante Einzelausführungen. Diese werden deshalb als Erläuterungen und inhaltliche Ergänzungen zum Jonastext im Sachapparat zitiert. Die zweite Ausgabe der „Kurzen Darstellung“ ist nur einmal Grundlage einer Vorlesung Schleiermachers gewesen: im Wintersemester 1831/32. Unter den drei aus diesem Semester enthaltenen Nachschriften (vgl. oben 1. c.) ragt die Nachschrift Strauß an Qualität und Zuverlässigkeit hervor. Sie wird daher für die ersten drei Teile der Vorlesung (Einleitung, Philosophische und Historische Theologie) als Leittext geboten. In den Fällen, in denen die Nachschrift Anonymus inhaltlich gewichtige Passagen enthält, die Strauß nicht mitgeschrieben hat, werden diese als Erläuterungen und inhaltliche Ergänzungen zum Leittext im Sachapparat wiedergegeben. Die Praktische Theologie dagegen umfasst in der Nachschrift Strauß nur vier Seiten, die inhaltlich bis zu § 286 zu reichen scheinen, wie sich aufgrund der stichwortartigen Entsprechungen zu der Nachschrift Anonymus zu § 286 vermuten lässt (der „opfernde Priester“ als Liturg,72 „Theorie“ über die „liturgischen Elemente“73). Strauß hat also die Vorlesung offenbar nach dem 16. März 1832 verlassen.74 Aber auch die Notizen, die er zur Praktischen Theologie angestellt hat, besitzen nicht dieselbe Qualität wie seine Aufzeichnungen zu den drei ersten Teilen der Vorlesung: sie erfolgen nicht mehr paragraphen72 73 74

Theologische Enzyklopädie ed. Sachs, S. 254,28; vgl. unten 544,19f Theologische Enzyklopädie ed. Sachs, S. 254,34f; vgl. unten 544,23f Vgl. die Datumsangabe unten 544,27

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weise und detailliert, sondern bestehen in großzügigen Zusammenfassungen. Die Nachschrift Anonymus hingegen behandelt die Praktische Theologie mit derselben Ausführlichkeit, die sie auch den übrigen Teilen widmet: Erläuterungen zu nahezu75 jedem Paragraphen der Praktischen Theologie auf insgesamt 73 Seiten. Deshalb fungiert für den vierten Teil, die Praktische Theologie, die Nachschrift Anonymus als Leittext, auch wenn sie, blickt man auf die ersten drei Teile, nicht die Ausführlichkeit und gedankliche Qualität der Nachschrift Strauß aufweist: Für Einleitung, Philosophische und Historische Theologie kommt die Nachschrift Anonymus mit rund 66.700 Wörtern aus, während die Nachschrift Strauß für diese Teile etwa 98.100 Wörter bietet. Dennoch ist die Nachschrift Anonymus für die Praktische Theologie die eindeutig zuverlässigere und ausführlichere Quelle und verdient den Vorzug gegenüber den lapidaren Strauß’schen Zusammenfassungen, die hier nicht noch einmal mitgeteilt werden müssen, da sie in der Edition von Walter Sachs zugänglich sind.76

3. Besondere editorische Verfahrensweisen Es gelten die editorischen Grundsätze für die II. Abteilung (Vorlesungen) der Kritischen Gesamtausgabe.77 Hinsichtlich der spezifischen Eigenschaften der in diesem Band edierten Handschriften sind wir im Einzelnen folgendermaßen verfahren: a. Allgemein Mit Ausnahme der Paragraphenbezifferung werden die Ziffern 1–12 in der Regel als kursivierte Zahlwörter wiedergegeben, es sei denn, es handelt sich um Ordinalzahlen, die eine formale Gliederung anzeigen. In den Fällen, in denen eine Ziffer einen Wortbestandteil bildet, wird sie ebenfalls als kursiviertes Zahlwort wiedergegeben (z.B. „Zweyfel“). Die Großschreibung von Adjektiven, wo sie vom Satzzusammenhang her gesehen eigentlich falsch ist, ist in der Regel beibehalten worden, weil in den meisten Fällen nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich hierbei um ein Mittel der Hervorhebung, die Bildung eines 75 76 77

Zu den Paragraphen 285, 287, 311 und 320 fehlen Erläuterungen. Theologische Enzyklopädie ed. Sachs, S. 251–254 Vgl. oben, Einleitung der Herausgeber

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Einleitung der Bandherausgeber

Terminus technicus oder eine Form, die Bezugnahme auf den Text der „Kurzen Darstellung“ zu kennzeichnen, handelt. Wird bei einem Wort mehrfach die Pluralform durch Verdoppelung des ersten oder letzten notierten Buchstaben markiert (z. B. „App“ für „Apostel“ oder „VV“ für „Völker“), werden die betreffenden Pluralformen ohne weitere Angabe insgesamt kursiv wiedergegeben. Die falsche oder uneinheitliche Schreibweise von Fremdwörtern (z. B. „Apologethik“ neben „Apologetik“) ist belassen worden. Der unterschiedliche Einzug der Absätze wird stillschweigend vereinheitlicht. Im textkritischen Apparat erscheinen mit der Formel „vgl. Adelung: Wörterbuch“78 bzw. „vgl. Grimm: Wörterbuch“79 häufiger Hinweise zu sprachlich auffälligen Wörtern, Formen oder Formulierungen. Wo dies ohne jede weitere inhaltliche Erläuterung geschieht, haben diese Hinweise den Sinn, die Lesenden darauf aufmerksam zu machen, dass hier kein editorisches Versehen vorliegt, sondern der Text so, wie er an der Stelle ist, gemessen an dem, was zeitgenössisch möglich war, in Ordnung ist. Grundsätzlich gilt, dass die Vorlesungsnachschriften ohne den Text der jeweils zu Grunde gelegten Ausgabe der „Kurzen Darstellung“ über weite Strecken nicht oder nur unzureichend verständlich sind. Der Text des Schleiermacherschen Lehrbuchs muss also immer mitgelesen werden. Ein Nachweis der Textbezüge im Sachapparat erfolgt in der Regel nicht, weil sich die Textbezüge durch die in den Nachschriften mitgeteilten Paragraphennummern der „Kurzen Darstellung“ selbst erklären. b. Nachschrift Jonas Jonas hat auf Bl. 5r, 9r, 13r, 17r, 21r, 25r, 29r, 33r, 37r, 41r, 45r, 49r, 53r, 57r, 61r, 65r, 69r, 73r, 77r, 81r, 85r, 89r, 93r, 97r, 101r, 105r, 109r, 113r, 117r, 121r, 125r, 129r, 133r, 137r, 141r, 145r und 149r am oberen rechten Blattrand die Papierlagen mit einem vorangestell78

79

Gemeint ist Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5, Leipzig 1774–1786. Gemeint ist Jakob Grimm / Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1–16, Leipzig 1854–1960.

Editorischer Bericht

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ten „Encyclop.“, seltener „Encycl.“, einmal auch (Bl. 57r) „Encyclopädie“, von 2. bis 38. durchgezählt. Diese Lagenzählung wird im edierten Text nicht mitgeteilt. Eine besondere Schwierigkeit in der Entzifferung der Handschrift von Ludwig Jonas betrifft die Unterscheidung in der Schreibung von -k und -ck, insbesondere dann, wenn ein Vokal vorausgeht, der in der Regel mit einem Zeichen über ihm (i-Punkt, u-Bogen, Umlautzeichen) versehen ist, weil es dann an vielen Stellen Ermessenssache ist, ob ein Anstrich vor dem -k dieses Zeichen über dem Vokal, ein durch den Anstrich lediglich angedeutetes -c oder aber beides in einem darstellen soll.80 Im edierten Text haben wir uns von der Regel leiten lassen, die Bedeutung des Anstrichs vor dem -k nicht zu strapazieren. Den editorischen Grundsätzen für die II. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe entsprechend, wird gemäß Punkt 2. (B) n) bei der Edition der Nachschriften lediglich die intendierte Letztgestalt des Textes, ohne textkritische Dokumentation ihrer Genese, geboten. Abweichend davon wird bei der Edition der Nachschrift Jonas gelegentlich der Entstehungsprozess einer Textstelle im textkritischen Apparat mitgeteilt, wenn dadurch eine Auffälligkeit der Satzkonstruktion verständlich wird oder wenn es sich bei Streichungen um inhaltlich bedeutsame und bedenkenswerte Alternativen handelt. Jonas hat in der weit überwiegenden Zahl der Fälle die Paragraphennummern aus der „Kurzen Darstellung“ als Gliederungshilfe auf dem äußeren Blattrand notiert; sie werden im edierten Text auf dem äußeren Seitenrand mitgeteilt. Wo bei dieser Angabe im Original das Paragraphenzeichen oder der hinter der Paragraphennummer in der Regel gesetzte Punkt fehlen, sind sie stillschweigend ergänzt worden. Wo die Angabe der Paragraphen auf dem Rand gänzlich fehlt, ist sie in den Fällen kursiv ergänzt worden, in denen eine inhaltliche Behandlung dieser Paragraphen im Text mit einem hohen Maß an Wahrscheinlichkeit identifiziert werden kann; in Zweifelsfällen kann eine Erläuterung im Sachapparat erfolgen. 80

Für das Letzte scheinen sich mehrheitlich Wolfgang Virmond und Hermann Patsch in ihrer Edition der Nachschrift Jonas zu Schleiermachers Vorlesung über die Hermeneutik von 1819 (KGA II/4, S. 191–353) entschieden und entsprechend in der Regel die Schreibung -ck angenommen zu haben. Katja Kretschmar und Michael Pietsch sind bei ihrer Edition der zahlreichen Predigtnachschriften von Jonas aus den Jahren 1816–1819 (vgl. KGA III/5) offensichtlich ähnlich verfahren, haben aber in einigen Fällen die Lesart „zurük“.

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Einleitung der Bandherausgeber

Da die erste Ausgabe der „Kurzen Darstellung“ von 1811 die Eigenart hat, in jedem ihrer einzelnen Abschnitte die Paragraphenzählung wieder von vorn beginnen zu lassen, erfolgt zu den auf dem äußeren Seitenrand mitgeteilten Paragraphennummern regelmäßig ein Nachweis im Sachapparat, der es den Lesenden ermöglicht, zu identifizieren, um welchen Paragraphen der „Kurzen Darstellung“ es sich handelt. Der Nachweis geschieht unter Verwendung folgender Abkürzungen, die der Gliederung der „Kurzen Darstellung“ entsprechen, und in Klammern angefügter Seitenangabe81 nach der Edition in KGA I/6: KD1 Einl. Einleitung KD1 I I. Teil. Von der philosophischen Theologie 1 KD I Einl. Einleitung KD1 I 1 1. Von den Grundsätzen der Apologetik KD1 I 2 2. Von den Grundsätzen der Polemik KD1 I Schluss Schluss KD1 II II. Teil. Von der historischen Theologie 1 KD II Einl. Einleitung KD1 II 1 1. Von der exegetischen Theologie KD1 II 2 2. Von der historischen Theologie im engeren Sinne oder der Kirchengeschichte KD1 II 3 3. Von der geschichtlichen Kenntnis des Christentums in seinem gegenwärtigen Zustande KD1 II Schluss Schluss KD1 III III. Teil. Von der praktischen Theologie KD1 III Einl. Einleitung KD1 III 1 1. Von der Theorie des Kirchenregiments KD1 III 2 2. Von der Theorie des Kirchendienstes KD1 III Schluss Schluss Folgenden im edierten Text vollständig kursiv gesetzten Wörtern entsprechen im Manuskript von Jonas die angegebenen Abbreviaturen und Chiffren: auch a mit u-Bogen darüber aus, ausgestrichenes Schluss-s ChristenX 81

Bei diesem durchgehenden Nachweis der Paragraphen aus der „Kurzen Darstellung“ erfolgt die KGA-Seitenangabe ohne Zeilenangaben; diese wird nur angefügt, wenn es sich um den Nachweis eines weiter zurückliegenden Paragraphen oder einer bestimmten Teilformulierung in einem Paragraphen handelt.

Editorischer Bericht

durch ein Frage fragen nicht, nichts selbst sich

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gestrichenes d 1, I ? ? Punkt in stehendem Bogen (Fermate) gestrichenes s gestrichenes s c. Nachschrift Strauß

Den editorischen Grundsätzen für die II. Abteilung der KGA entsprechend werden offenkundige Schreibfehler oder Versehen, soweit es sich nicht um orthographische Eigentümlichkeiten oder um eine damals übliche Schreibweise handelt, im Text korrigiert; die Schreibweise des Originals wird im Apparat mitgeteilt. Zu den orthographischen Eigentümlichkeiten sind bei Strauß insbesondere auch zu rechnen: fehlerhafte oder unvollständige diakritische Zeichen bei griechischen Wörtern sowie die nach heutigen Maßstäben fehlerhafte Klein- und Großschreibung, die – wie die Zeichensetzung (z. B. Kommata) – nur an den Stellen korrigiert wird, an welchen es für das Textverständnis unentbehrlich erscheint. In diesen Fällen wird die Schreibweise des Originals im Apparat mitgeteilt. In der Eile des Schreibens versehentlich zusammengezogene Wörter („zuthun“) oder Abkürzungen („zB“) werden dagegen stillschweigend getrennt. Manche schwer entzifferbare Wörter oder unsichere Lesarten konnten durch einen Vergleich mit der Nachschrift Anonymus geklärt werden; daher ergeben sich recht zahlreiche Abweichungen gegenüber dem von Walter Sachs edierten Text. Die sehr häufigen, aber nicht durchgehenden Unterstreichungen der Angaben der Paragraphen aus der „Kurzen Darstellung“ zu Beginn eines Absatzes werden stillschweigend vereinheitlicht durch Sperrung wiedergegeben. In den weit überwiegenden Fällen setzt Strauß dabei – in Übereinstimmung mit dem Druckbild der „Kurzen Darstellung“ – hinter dem Paragraphenzeichen einen Punkt. Wo dieser fehlt, wird er zu Beginn des Absatzes stillschweigend ergänzt. In den (wenigen) Fällen, wo im Text innerhalb eines Absatzes bei der Bezugnahme auf Paragraphen der „Kurzen Darstellung“ das Paragraphenzeichen fehlt, wird es stillschweigend ergänzt.

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Einleitung der Bandherausgeber

Zusätzlich zu den Seitenzahlen des Originals wird auch die Paginierung der Edition von Walter Sachs82 am äußeren Seitenrand mitgeteilt, jedoch ohne Seitentrennungsstrich im edierten Text. Eine Bezugnahme auf die erste Ausgabe der „Kurzen Darstellung“ erfolgt unter Verwendung der oben unter b. erläuterten Abkürzungen. Die waagrechten Striche (oder geschweiften Klammern), die Strauß zur zusätzlichen Kennzeichnung von (Zwischen-)Überschriften eingefügt hat, wurden, wie die waagrechten Striche am Ende eines Kapitels, stillschweigend weggelassen. Folgenden im edierten Text vollständig kursiv gesetzten Wörtern entsprechen im Manuskript von Strauß die angegebenen Abbreviaturen und Chiffren (Flexionsformen und Substantivierungen sind nicht gesondert aufgeführt): Christ xst Christenheit xht Christenthum xth christlich x mit Abkürzungsschleife Christus X, Xs dritt3tein i erstitJahrhundert J100 Metaphysik MФ, MФk nicht überstrichenes o nichts überstrichenes o mit s Ph-, phФPhilosophФphilosophisch Фsch zweierley 2erley, 2rly d. Nachschrift Anonymus Die Nachschrift enthält durchgehend Datumsangaben der Vorlesungsstunden im laufenden Text, nur wenige sind auf den Rand gesetzt. Diese Angaben werden vereinheitlicht in den Text aufgenommen; in den entsprechenden Fällen wird die Randstellung im Apparat 82

Theologische Enzyklopädie ed. Sachs

Editorischer Bericht

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mitgeteilt. Versehentlich falsche Datumsangaben werden nach den Eintragungen in Schleiermachers Tageskalender korrigiert und die ursprüngliche Fassung im Apparat angegeben. An vier Stellen findet sich in der Praktischen Theologie eine Randbemerkung, die vermutlich als eng verbundenes „NB“ zu lesen ist und jeweils im Apparat mitgeteilt wird. Es handelt sich offenbar um Hervorhebungen des Nachschreibers von ihm besonders bedeutsam oder fraglich erscheinenden Passagen. Dieses Kürzel findet sich relativ häufig auch in der Historischen Theologie, dort gelegentlich auch im Text, während es in der Einleitung und der Philosophischen Theologie fehlt. Aufzählungszeichen, die im Manuskript auf unterschiedliche Weise ausgeführt sind, werden im edierten Text in der Regel stillschweigend vereinheitlicht. Die Angabe der Paragraphen aus der „Kurzen Darstellung“ erfolgt in dieser Nachschrift nahezu durchgehend in der Form einer mittig gesetzten Paragraphenzahl mit folgendem Punkt, der, wo er fehlt, stillschweigend ergänzt wird. Bezugnahmen auf den Text der „Kurzen Darstellung“ werden gelegentlich durch Unterstreichungen gekennzeichnet, die, weil sie der Lesbarkeit dienen, wiedergegeben werden. Ebenso wird mit Spatien im Text verfahren, die häufig eine Hervorhebung markieren. Dagegen wurden waagrechte Striche zur zusätzlichen Kennzeichnung von (Zwischen-)Überschriften stillschweigend weggelassen, ebenso der vom letzten Datumseintrag bis zum rechten Zeilenende führende Schlussstrich am Fuß der letzten Seite. Folgenden im edierten Text vollständig kursiv gesetzten Wörtern entsprechen im Manuskript die angegebenen Abbreviaturen und Chiffren (Flexionsformen und Substantivierungen sind nicht gesondert aufgeführt): aber unterstrichenes a alle Δ, unvollständiges lateinisches A alt V (= vetus) auf durchstrichenes f aus durchstrichenes Schluss-s beide durchstrichene 2 Christus X dadurch durchstrichenes ddh dagegen Prozentzeichen mit Beistrich

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der, welcher durch eigen, eigentlich, eigenthümlich Eigenthümlichkeit ein, einer Einheit einzeln fragen, Frage ganz gegen gleich größer mit nach neu nicht nichts Paragraph sondern Streit über unter viel war wäre weil wir will Wille zweiter zwischen

Einleitung der Bandherausgeber

q (= qui) durchstrichenes dh pro (= proprius) Pro (= proprietas) 1 I 1durchstrichenes Fragezeichen nach oben gerichteter Pfeil % = > durchstrichenes t durchstrichenes ch N (= novus) überstrichener Punkt eingekreister Punkt p durchstrichenes sd 6 mit Durchstreichung oben rechts Bruchstrich mit Komma darüber Bruchstrich mit Komma darunter M, m (= multum) überstrichenes w überstrichenes w mit Umlautpunkten qui (= quia) unterstrichenes w mit Beistrich w mit Abkürzungsschleife W mit Abkürzungsschleife 2 mit Beistrich Bruchstrich mit Komma darüber und darunter ***

Editorischer Bericht

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Eine Edition der Vorlesungen Schleiermachers über die Theologische Enzyklopädie war möglicherweise schon im Rahmen der „Sämmtlichen Werke“ geplant; die Verantwortung dafür hatte Adolf Sydow (1800–1882) übernommen.83 Hier blieb es allerdings bei einer Edition der „Kurzen Darstellung“84. 1905 veröffentlichte Carl Clemen einige Auszüge aus Vorlesungsnachschriften85, 1987 erschien die Edition der Nachschrift Strauß86 durch Walter Sachs87. Vereinzelt wurde in Sekundärliteratur zu Schleiermacher aus der unveröffentlichten Nachschrift Jonas zitiert.88 Im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe war eine Edition der Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie seit Planung der II. Abteilung vorgesehen, wenn es auch in den 1990er Jahren innerhalb der Herausgeberschaft noch länger strittig blieb, wie die Bandzählung der Abteilung aussehen solle und ob das vorhandene Material für einen eigenständigen Band zur Theologischen Enzyklopädie überhaupt ausreichend sein werde. Unsere bereits im Zuge der ersten Planungen für die II. Abteilung erklärte Bereitschaft, die Edition dieser Vorlesungen ehrenamtlich zu übernehmen, wurde von den damaligen Herausgebern der Gesamtausgabe zustimmend zur Kenntnis genommen und von den gegenwärtigen Herausgebern uneingeschränkt befürwortet und unterstützt. Mancherlei Hilfe haben wir durch die Schleiermacher-Forschungsstelle in Kiel erfahren. In unserer Arbeit konnten wir auf zwei wichtige Vorarbeiten zurückgreifen: die Edition der Vorlesungsnachschrift Strauß durch Walter Sachs und die Rohtranskription der Nachschrift Jonas durch Nicolaas Groot, die er für sein Dissertationsprojekt zu Schleiermachers „Kurzer Darstellung“ angefertigt und uns dankenswerter Weise als Datei zur Verfügung gestellt hat. 83 84 85 86 87 88

Vgl. das „Vorwort des Herausgebers“, Ludwig Jonas, in SW III/3 (1835), S. VIIIf Vgl. SW I/1 (1843), S. 1–132 Siehe diese Einleitung, oben II. 1. d. Siehe diese Einleitung, oben II. 1. c. Theologische Enzyklopädie ed. Sachs Vgl. Hendrik Johan Adriaanse: Der Herausgeber als Zuhörer. Ein SchleiermacherKollegheft von Ludwig Jonas, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, ed. Günter Meckenstock in Verbindung mit Joachim Ringleben, TBT 51, Berlin/New York 1991, S. 103–124; Nicolaas Groot: Wetenschap en Theologie bij Friedrich Schleiermacher. Een interpretatie van de Kurze Darstellung des theologischen Studiums, Dissertation Leiden 1994; Martin Rössler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, SchlA 14, Berlin/New York 1994

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Einleitung der Bandherausgeber

Die Federführung für die Edition der Vorlesungen über die erste Auflage der „Kurzen Darstellung“ lag bei Dirk Schmid, der Vorlesungen über die zweite Auflage bei Martin Rössler. Allen, die uns geholfen haben, das langwierige Editionsprojekt mit dem vorliegenden Band zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, gilt unser herzlicher Dank. Den beteiligten Archiven und Bibliotheken danken wir für die erteilten Publikationsgenehmigungen. Zu danken haben wir schließlich Elisabeth Blumrich (Berlin) für die Unterstützung bei der Auswertung von Schleiermachers Tageskalendern und Jonas Jehnichen (Göttingen) für die Hilfe bei Stellennachweisen von schwer zugänglicher Literatur. Gewidmet sei der Band dem Andenken desjenigen, der uns vor über dreißig Jahren an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel einen prägenden Zugang zu Schleiermacher eröffnet hat. Hamburg/Lüneburg

Martin Rössler und Dirk Schmid

In memoriam Prof. Dr. Hans-Joachim Birkner

Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie

Vorlesung 1816/17 (nach Schleiermachers Lehrbuch „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“, Berlin 1811) Nachschrift Jonas

Theologische Encyclopaedie nach dem Vortrage des HErrn Dr. Schleiermacher

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Wintercursus 1816/17 Jonas |

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Einleitung. Was ist Theologie? Was will man mit der Theologie? Sie ist eine positive Wissenschaft. Im allgemeinen hat das wol keiner geleugnet, aber 1 Vgl. Stolpe: „Was die Griechen unter γκυκλιος παιδεια verstanden, ist bekannt. In einer bestimmten Ordnung kehrten in einer Anstalt die Gegenstände des Unterrichts wieder. Nun aber hat man in neuerer Zeit sogar Lexiken Encyclopädien genannt: so ist dann darunter nichts zu verstehen als wo der Sache nach durch einander geworfen alles vorkommt, was in das Gebiet einer gewissen Ordnung gehört. Jetzt versteht man darunter die Gesammtheit der verschiedenen Theile, geht man davon aus, so könnte mit denselben Rechten ein großes System, worin alle diese Theile ausgeführt werden, auch Encyklopädie heißen, dieses ist aber gegen den Gebrauch. Eine encyclopädische Darstellung ist dann eine solche, die die organischen Theile einer Wissenschaft kurz vorträgt, oder man versteht darunter nicht die Ausführung größerer oder geringerer Disciplinen, sondern die Theorie ihres Zusammenhanges. Die erste Bedeutung ist ganz unbestimmt; der andere Gebrauch hängt jedoch mit dem Ursprung des Wortes noch weniger zusammen. Denn das ist eigentlich nur eine Vorbereitung, wenn ich den Zusammenhang gewisser Theile der Wissenschaft kennen lerne. Es ist nur der Zweck die verschiedenen Theile des theologischen Studiums in ihrem inneren Zusammenhange und ihrer Bedeutung darzustellen. Das Unternehmen setzt offenbar die Überzeugung voraus, daß es einen solchen Zusammenhang gebe. Diese ist aber keinesweges allgemein sondern vielmehr ist es häufig, daß man die Gesammtheit des theologischen Wissens nur als ein Nebeneinandersein von Mehrem, als ein Aggregat ansieht. [...] So sagen einige: Das theologische Studium ist ein Aggregat von theologischen Disciplinen. Einen Zusammenhang der theologischen Disciplinen unter sich aufzustellen und darzustellen, setzt offenbar voraus: daß in dieser geschichtlichen Entwicklung eine Nothwendigkeit ist, daß sie mit dem Wesen des Christenthums gegeben ist. Diese Überzeugung soll nun das Fundament der folgenden Vorlesungen bilden. Zeigt sich der Zusammenhang wirklich, dann muß die Voraussetzung auch eine wahre sein, somit es wohl gleich wesentlich ist: einerseits die Kenntniß von den theologischen Disciplinen mitzutheilen, andrerseits die Überzeugung vom Wesen des Christenthums und der geschichtlichen Entwicklung desselben mitzutheilen.“ (S. 165) 5 Vgl. Stolpe: „Die Einleitung zu dem Lehrbuch will nun die nothwendige Verbindung der theologischen Disciplinen mit der geschichtlichen Entwicklung des Christenthums darstellen, dazu muß man aber den Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung des Christenthums mit dem Wesen des Christenthums sich anschaulich machen.“ (S. 166) 6 KD1 Einl. § 1 (KGA I/6, S. 249) 6–7,8 Vgl. Stolpe: „Doch ist hier die Rede von Theologie als positive Wissenschaft. Dergleichen Wissenschaften nennt man solche die sich auf etwas Beson-

2r § 1.

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Vorlesung 1816/17 · Nachschrift Jonas

es geht nicht überall klar durch. Wir wollen den Begriff klar machen. Der Ausdruck p o s i t i v wird nicht selten so gebraucht, daß die Willkühr dabei das Dominirende ist. Aber mit Unrecht und aus Mißverstand. Das positive Recht muß sich auch auf das natürliche Recht gründen, sonst ists ein Unrecht. Man hat es deßhalb PalsS eine Geringschätzung der Theologie angesehen, sie eine positive Wissenschaft zu nennen. Positiv ist aber hier nur ein relativer Ausdruck. Alle Elemente der Theologie sind wissenschaftliche, wenn man aber die Idee der Wissenschaft analysirt so kommt man nicht auf die Theologie, d. h. für die Wissenschaft an sich ist die Theologie positiv. In eben dem Sinne ist die Medicin eine positive Wissenschaft; denn durch Analyse der Wissenschaft selbst kommt man nicht auf die Medicin sondern auf Naturwissenschaft. Auf diese Art können also wol alle Wissenschaften positiv seyn? Ja, je mehr eine Wissenschaft durch einen bestimmten Gegenstand gebunden, desto mehr positiven Character hat sie. Aber eben deßhalb sind die Theologie, Jurisprudenz und Medicin auf eine vorzügliche Weise positive Wissenschaften. Der Grund, warum die Medicin eine positive Wissenschaft ist, liegt nicht in dem aufs Wissen gerichteten Bestreben, sondern in dem Bestreben, den Zustand der Krankheit aufzuheben. Der Zustand der Krankheit wird zwar auch auf dem reinen Wege des Wissens ein Gegenstand desselben, aber nur durch jenes Bestreben wird die Medicin. Wenn die Theologie eine positive Wissenschaft ist, auf welchem Bestreben beruht sie? Dazu müssen wir fragen, was für wissenschaftliche Elemente sind in der Theologie zu einem Ganzen verbunden und was ist der Grund der Verbindung? Es gehören philologische philosophische historische Elemente und eine Menge kleiner Hülfskenntnisse zur Theologie. Vom wissenschaftlichen Interesse aus kann man auch eine allge5 PalsS ] oder PfürS deres geschichtlich Gegebenes beziehen freilich in sehr verschiedenem Sinne, wir nennen die Jurisprudenz und Medizin auch eine positive Wissenschaft, wo doch das geschichtlich Gegebene ein ganz anderes ist. Die Medicin scheint nun gerade bloß auf die menschliche Natur nämlich auf die leibliche Seite zurückzugehen, und eben nicht positiver zu sein als die Naturwissenschaft. Da aber in ihr verschiedene Disziplinen zu einem Ganzen verbunden [sind] in Bezug auf einen Zweck die kranken Zustände des menschlichen Körpers kunstgemäß zu behandeln, so können wir die Medicin eine positive nennen. Auf diese Weise ist auch hier die Theologie erklärt worden: daß sie eine positive Wissenschaft wäre in Bezug auf die Verbindung verschiedener Theile zu einem Ganzen. Bleiben wir bei der christlichen Theologie stehen, so ist die exegetische Theologie der angewandte Theil einer Sprachkunde. Die Kirchengeschichte würde immer ein Theil der Geschichte sein, wohin ebenfalls auch die Dogmengeschichte gehören würde. Nun aber ist der Fall hier der gleiche, wie bei der Medicin. Es sind verschiedene Disciplinen die Theile allgemeiner Wissenschaften sind, nur durch einen besonderen Zweck zu einem Ganzen verbunden.“ (S. 166)

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meine Verbindung dieser Elemente nicht leugnen, aber dies ist eine andre Verbindung, als in welcher die Elemente der Theologie unter sich stehen, und PnichtS deßhalb etwa hängen sie zusammen, weil z. B. keiner ein Philosoph seyn kann, ohne Philologe cet. | Denn die ganze Philosophie wird hier nicht auf die ganze Philologie bezogen, sondern es ist eine eigne Gestaltung, wodurch gewisse philosophische und philologische Kenntnisse verbunden sind und es muß hier ein bestimmtes Interesse zum Grunde liegen. Es ist eine allgemeine Vorstellung, daß eine bestimmte Beziehung statt findet zwischen Theologie und Religion und in dieser bestimmten Beziehung ist die Constitution der Theologie zu suchen, denn ohne Religion gebe es keine Theologie. Also das Interesse an der Religion ist es, wodurch die Theologie sich bildet. Die Theologie wird PaberS nicht durch das Interesse an der Religion überhaupt, sondern durch das Interesse an einer bestimmten Religion. Hierüber die Ansichten schon weit getheilter, als darüber, daß die Theologie eine positive Wissenschaft ist. Jeder Wissenschaft liegt ein Interesse zum Grunde, weshalb sie jemand betreibt, aber das ist nicht das Interesse am Wissen überhaupt. Der Botaniker z. B. muß auch ein Interesse an der Natur im allgemeinen haben und daraus das besondere Interesse an Botanick. Dies ist die freiwillige Beschränkung, die hier statt findet. So beschäftigt sich Ein Theologe mehr mit dem Philosophischen, andre mehr mit dem Philologischen Historischen der Theologie und immer von dem Interesse an der Religion aus. Aber sagen wir: die Theologie läßt sich eintheilen in die christliche jüdische indische muhamedanische Theologie[:] findet PdannS in allen dasselbe Interesse an der Religion statt? Dies haben wirklich einige Theologen behauptet. Diese müssen freilich consequent sagen, die Theologie gründet sich auf das Interesse an der Religion im Allgemeinen und es ist nur eine freiwillige Selbstbeschränkung, die christliche Religion zu einer eigenen Beschäftigung zu machen. Dies ist aber nicht wahr, sondern das Interesse an der Religion ist nicht das Interesse an der Religion im Allgemeinen, sondern an einer bestimmten und deßhalb die Theologie im engern Sinne eine positive Wissenschaft. Denn sonst würde man die Theologie bald PvonS dem reinen aufs Wissen gerichteten Bestreben finden und sie läge nicht da, wo die positiven Wissenschaften liegen. Fragen wir: wie verhält sich die christliche zur jüdischen Theologie? so müssen wir sagen: Beide liegen im Streit mit einander. Dies ist nicht der Fall mit dem Botaniker und Zoologen. Es kann zwar um ihre Schule | ein 11 gebe] entweder als Konjunktiv des Präsens Wiedergabe der These in indirekter Rede oder eigentümliche bzw. falsche Schreibung des Konjunktiv des Imperfekts gäbe 13 PaberS] oder PebenS 26 PdannS] oder PdennS

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§ 2. 3v

Vorlesung 1816/17 · Nachschrift Jonas

Streit statt finden, aber nicht um das Wissen an sich. Das Verhältniß ist also hier auch ein ganz andres, als bei der Theologie und das Interesse an der Religion überhaupt ist nicht so der allgemeine Grund für die Theologie wie das Interesse an der Natur für die Botanik und Zoologie. Der christliche Theologe sagt: ich habe als Theologe gar kein Interesse an der Religion im allgemeinen, sondern an der christlichen. Sagt man nun: der Begriff der Theologie im allgemeinen verhält sich zu dem Begriff der christlichen oder jüdischen Theologie wie die Gattung zu ihren Arten, so ist es auch falsch. Es giebt keine Theologie im allgemeinen, von der die christliche oder jüdische Theile wären. Alles in der jüdischen Theologie ist allem in der christlichen entgegengesetzt und nur die einzelnen Theologien sind etwas, im allgemeinen ist nichts. Daraus geht hervor, daß sich die Theologie auf das beziehen muß, was in dem Eigenthümlichen einer bestimmten Religion liegt. Die Theologie bezieht sich auf das geschichtliche Daseyn einer bestimmten Religion. Die Religion im allgemeinen hat kein geschichtliches Daseyn, sondern sie ist nur geschichtlich in diesen, verschiedenen geschichtlichen Formen, d. h. die christliche Theologie ist nur da, in wie fern auf gewisse Weise mit besonderem Interesse das geschichtliche Daseyn der christlichen Religion gewollt ist. Es könnten viele Menschen gute Christen seyn, ohne daß es eine Theologie gäbe, dann würde die christliche Religion durch die religieusen Ergießungen von einem zum andren gehen und so könnte sie eine Zeitlang ohne Theologie bestehen. So wäre aber das Bestehen der christlichen Religion gefährdet und sie könnte nicht in einer gewissen Ausdehnung bestehen, ohne das Interesse an ihrem Geschichtlichen, welches ein andres ist, als das Interesse des Gemüthes an ihr selbst. Aus diesem Interesse an dem Geschichtlichen entstand die Theologie, d. h. aus dem Interesse, PdaßS nachdem die christliche Religion entstanden war sie auch ein fortbestehendes und sich fortpflanzendes bleiben sollte gegen alles was sich ihr entgegensetzte. Es giebt vieles, was die religiöse Einwirkung des einen auf den andern hindert oder schwächt, daher muß es auch etwas geben, woran sich jeder mit seinem religiösen Bewußtseyn orientiren kann und das verstehen kann, was dem religiösen Bewußtseyn entgegenwirkt und das ist die Theologie. Nun die Verhältnisse der Theologie festzustellen. Sie bezieht sich nur | auf das geschichtliche Fortbestehen einer Religion. Wir können sagen: Jede Religion kann ohne Theologie gedacht werden und diese ist nur zufällig. Niemand ist z. B. besserer Christ, weil er Theolog ist. 29 PdaßS] PdasS 36 KD1 Einl. § 2 (KGA I/6, S. 249)

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Es ist nicht zu leugnen, daß eben so gut wie eine Wirksamkeit der Religion gedacht werden kann ohne Theologie, Peben soS eine verbreitete Religion nie hat ohne Theologie seyn können. Das sehen wir gleich im Neuen Testament, wo die Apostel Juden und PHeidenS bekehren wollten. Denn das PBerührenS der Weissagungen auf Christus ist Theologie, weil Christus an das Judenthum anknüpfte und dieses eine Theologie hatte. Auf der einen Seite sehen wir die Gewalt der Verbreitung des Christenthums damals und schon die Theologie dabei wirksam, nur als minimum. Die religiöse Gewalt aber als maximum. Dasselbe sehen wir jetzt noch an unsern Missionaren. Sie PbewirkenS das religiöse Element und knüpfen an die Erlösung Pvon derS Sünde. Das ist nichts Theologisches, sondern es beruht auf Erfahrung des Gemüthes. So kann gut Religion ohne Theologie bestehen. Auf der andern Seite, je mehr eine Religion geschichtliche Ecsistenz und Verbreitung erhält, um so mehr wird sie sich eine Theologie anbilden und das Geschichtliche wird nur Bestand haben in der Theologie. Jedes geschichtliche Daseyn ist ein sich in der Zeit erhaltendes in einer PbestimmtenS Identität und ein sich erhaltendes in Widerstreit mit entgegenwirkenden Kräften. Die Kraft der Religion kann gedacht werden in der Welt wie ein Feuer, das erlischt und sich entzündet, beweglich ist und nirgends ein sichres Daseyn hat. In diesem Zustand wäre das Christenthum geblieben ohne Theologie. Das Religiöse ist ein Element des Menschen, das Christenthum ist eine bestimmte gegründete Form im Menschen. Hat sie Einen ergriffen, so theilt sie sich andren mit. Allein die Menschen sterben und werden wieder abwendig gemacht und da tritt Streit, Irthum und Verwirrung ein. Das giebt eine unsichre Existenz und da ist die Theologie die einzige Sicherheit. Wir finden stets beides zusammen das Religiöse als Kraft gedacht, oder das PWerdenS der Theologie für eine bestimmte Religion ist dasselbe. Daher wir den Doppelsatz aufstellen: jede Religion die geschichtlich besteht hat eine Theologie und für jede Religion ist das geschichtliche Bestehen gesichert, sofern sie eine Theologie hat. Das erste zeigt überall die Geschichte. Jede Religion hat durch geschichtliche Institute ein bestimmtes Daseyn gehabt z. B. Mysterien Priesterthum cet. So PfindenS wir das, was wir als Theologie denken. Keine Religion, so unvollkommen sie auch war, war, wenn sie geschichtlich wurde nie ohne Theologie. Es giebt hier verschiedene Elemente, z. B. Momente wo die Wissenschaft sehr zurückgetreten ist, oder wo das Technische ge4 PHeidenS] oder PGriechenS 5 PBerührenS] oder PBerufenS 10 PbewirkenS] in der Bedeutung ‚aus dem Stand der Fähigkeit oder Möglichkeit in den der Wirklichkeit überführen‘ (vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 872; Bd. 5/1, Sp. 254); oder PerwekenS 11 Pvon derS] oder Pund dieS 17–18 PbestimmtenS] oder PbestimmterenS

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fehlt hat. Ganz ohne beides ist keine Religion. Bei jeder Religion finden wir heilige Bücher da ist das Bedürfniß der Theologie oder heilige Institutionen Cultus und was damit zusammenhängt und da ist das Technische Element. So auf der andren Seite, wenn wir das Christenthum betrachten, so finden wir es in sehr verschiedenen Gestaltungen, je nachdem wir das Theologische mehr vor oder zurücktretend finden. Dasjenige wodurch das Christenthum seine geschichtliche Existenz bekommen hat, ist die christliche Theologie. Denken wir z. B. die kleinen Religionsparteien; so wäre, wenn das Christenthum überall in diesem Zustand wäre, dieses löblich, aber PalsdannS hätte es keine geschichtliche | Existenz und Sicherheit. In der orientalischen Kirche ist die Theologie fast ganz und gar erstorben und das Christenthum ganz ausgeartet. Es hat daßelbe Fundament, die heiligen Bücher, aber sie sind nicht verstanden. Es ist das Ruhen der Theologie auf diesen Büchern eine Superstition geworden. PAlleinS einer Religion kann niemals eine Theologie fehlen, sonst ist sie gefährdet. Hieraus geht hervor, daß so wie die Theologie ihr Wesen und ihre PBeziehungS im Daseyn der Religion hat, so hängt ihr Daseyn davon ab, wie sich die Religion geschichtlich gestaltet. Das geschichtliche Daseyn der Religion ruht auf seinen heiligen Büchern, allein oder auf gesellschaftlichen Institutionen oder auf beiden zusammen. Auf ersteren beruhen alle wissenschaftlichen, auf den zweiten alle technischen Elemente der Theologie. Nun müssen wir es nicht als zufällig ansehen, in welchem Maaße sich die Religion auf die heiligen Bücher oder auf die Institution stützt; das ist im Wesen der Religion gegründet. Darum kann man im allgemeinen nicht reden von den Elementen der Theologie. Der wahre Weg ist der geschichtliche, der an das Wesen der Religion, für die die Theologie ist, anknüpft und ihr eigenthümliches Wesen zu verstehen sucht. Wodurch hat das Christenthum seine geschichtliche 25–29 Vgl. Stolpe: „Somit ist die positive Theologie für jede Kirche eine andere. Es muß aber auch nicht bloß materielle, sondern auch formelle Verschiedenheiten geben, je nachdem zum Beispiel die kirchliche Gemeinschaft in einem solchen oder anderen Verhältnis steht zu der bürgerlichen so wird es auch für den einen Fall ganz andere Disciplinen geben als für den andern. Wo Kirche und Staat eins sind, kann ja nicht die Rede sein von dem Verhältnis der Kirche zum Staat, wo der Gottesdienst in der Wiederholung von Ceremonien besteht, da kann es ja keine freie Handlung, wodurch die Elemente des Gottesdienstes sich gestalten sollen, geben. Ebenso leicht wird man einsehen, daß, je nachdem die Gestaltung verschieden ist, auch die Verhältnisse der Disciplinen ganz anders sind. Wo nun in einer religiösen Gemeinschaft der Trieb nicht lebendig PwirdS die ursprünglich religiösen Gemüthszustände zum Gegenstand einer bestimmten Entwicklung der Sprache zu machen dessen ungeachtet kann ein hoher Grad von Frömmigkeit vorhanden sein, dann kann die Disciplin der Dogmatik gar nicht eine solche Wichtigkeit einnehmen. Unsre Grundbetrachtung wird immer die sein der christlichen Kirche wie sich dieselbe gestaltet hat von Anfang an. Daraus wird die Gestaltung der Theologie begreiflich werden.“ (S. 167)

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Dauer? Worin ruht seine Einheit unter den verschiedenen Gestalten? Was sind die wesentlichen Elemente der christlichen Kirche? Nehmen wir an, daß die Theologie sich zunächst auf die Sicherheit und Fortdauer einer Religion beziehen muß, was im Wesen der Religion liegt. Sie ist aber nicht das Wesen selbst. Das theologische Bestreben eines jeden ist nicht nur etwas andres, als ein religiöses Leben überhaupt, sondern auch: es braucht wegen der Religion nicht jeder das theologische Streben in sich zu haben. Das ist Sache Einiger. Im Allgemeinen ist es schwierig: Fragen wir, wie verhalten sich die Einzelnen zu dem Nothwendigen? Einiges müssen alle theilen, Einiges nicht. Z. B. das Leben im Staat, wie verhalten sich alle Einzelnen im Staate zu den verschiedenen Elementen? Da brauchen Einige nur Einiges zu thun, Einiges müssen alle thun. Religion müssen alle haben, aber nicht alle können theilnehmen an der geschichtlichen Sicherung und Erhaltung der Religion. Kann man hier für beide Seiten sprechen: es sollen alle Christen Theologen seyn, wie alle Bürger Soldaten? Das ist leicht zu entscheiden, weil zur Theologie mehr als das Wesentliche der Religion gehört, indem wir gesagt haben: die Theologie sey nicht das Wesen der Religion selbst, also nicht eigne denen, die Antheil an der Religion haben. Die Theologie ist stets Sache einiger gewesen, aber freilich auf verschiedene Art zu verschiedenen Zeiten. Betrachten wir die Geschichte, so müssen wir sagen: wie die Theologie hinter dem Christenthum erst geworden, so ist auch der Unterschied zwischen Priester und Laien erst allmählich geworden. Jetzt unterscheiden wir die Priester als eigenen Stand, wie das sonst nicht der Fall war. Es ist hier7 der Religion] oder des Religiösen 2 KD1 Einl. § 3 (KGA I/6, S. 249) 20–12,29 Vgl. Stolpe: „Der eigene Zweck des 3. § ist auch nur im zweiten Satze enthalten der diese beiden Punkte als identisch setzt. So wie sich in der Kirche eine Theologie bildet, ein wissenschaftlicher Apparat in Bezug auf die Kirche so geschieht auch in der Kirche eine Sonderung: einige bilden die Masse, andere haben die Leitung in Händen. Je mehr das Letzte der Fall ist, desto größer muß der Apparat werden. In Barclay Apologia verae theologiae Christiane [sic!] [Robert Barclay: Theologia vere christianae apologia, Amsterdam 1676] ist das Wesen der Religionsgesellschaft der Quäker gut auseinandergesetzt: aus diesen ist zum Beispiel alle Theologie verschwunden, wogegen die evangelische Brüdergemeinde [sich] in gewissem Grade des Zusammenhangs mit den Bewegungen der großen Kirche zwar auch entschlägt, aber es steht doch in ihr eine Hierarchie, das Kirchenregiment hat doch eine bestimmte Ordnung und das Lehren einen bestimmten Beruf, deshalb auch die Theologie bei ihnen nicht ausgestorben ist. Wenn wir außerhalb des Christenthums gehen werden wir dasselbe finden, jemehr es in irgend einer Religion eine solche Differenz wie es bei den Juden die Schriftgelehrten waren, nur da ist auch eine Theologie. Wo nun Religionen ganz chaotisch sind wie bei den meisten der ungebildeten heidnischen Völkern, da ist die theologische Tradition etwas ausgestorbenes oder unbestimmt Fixirtes.“ (S. 168)

§ 3.

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§ 4.

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durch gerade nicht ein PWachsthumS geschehen. Sehen wir z. B. auf die Zeit der Reformation. Da bildete die Theologie schon einen eigenen Stand, aber wieder mußte geschehen, daß damals viele Menschen theologische Elemente in sich ausgebildet hatten, die zu dem Stande nicht gehörten. Ueberall, wo in einer Religion die Zeit kommt, wo die geschichtliche Existenz gefährdet ist, da geht das geschichtliche Interesse weiter und dringt ein, wo es sonst nicht zu seyn pflegt. Nun aber ist hier kein beständiges Fortschreiten, denn das ist zu allen Zeiten verschieden. Das steigt und fällt nach dem Zeitlauf. Im Ganzen angesehen müssen wir sagen: je mehr die Religion selbst eine | geschichtliche Gestaltung gewinnt, um so bestimmter werden die Theologen für das geschichtliche Bestehen sorgen, sich scheiden von denjenigen, denen die Religion Gemüthseigenthum ist, ohne sich um das Geschichtliche zu kümmern. Das ist der Fall in dem Maaße, als sich das Theologische ausbildet. Es treten Erforderniße heraus, um sich auszubilden und da erscheinen erst die Berufsfähigen. In Zeiten des ersten Christenthums gab es Lehrer und wieder andre, die es nicht waren. Worauf sah man damals? Man brauchte nur in einem hohen Grade vom Christenthum durchdrungen zu seyn, um die Erforderniße zu PhabenS, die andre hatten z. B. im Polemisiren gegen die Juden, Heiden cet. Da waren Wechsel ohne bestimmte Grenzen. Je mehr die Theologie sich ausbildete und Kenntniße und Fertigkeiten dazu gehörten, je mehr das Christenthum polemisch wurde, um so mehr Eigenschaften gehörten zum Theologischen und es unterschieden sich diejenigen, die für das Geschichtliche sorgten, von denjenigen, die das Christenthum für sich hatten. Das ist der Unterschied zwischen Theologen und Laien, worauf beruht, daß die Religion eine bestimmte Theologie sich gestalten muß und daß gewiße Eigenschaften dazu gehören, um an dem Theologischen Theil zu nehmen. Die geschichtliche Einheit einer Religion ist sicher durch die heiligen Bücher oder die kirchlichen Institutionen. Nemlich eine bestimmte Religion pflanzt sich durch Mittheilung fort und kann so nicht ein Gleichzeitiges seyn. Mittheilung beruht auf Sprache und Begriff. Sind diese nicht festgestellt, dann ist Verwirrung, das geschichtliche Daseyn ist gefährdet. Wie diese auf Sprache beruhen, so beruhen jene auf gesellschaftlichen Anordnungen. Die kirchlichen Institute erhalten sich von selbst, verbreitet sich die Religion über ein Gebiet, wo nicht die Form des Lebens ist, da hält es schwer, diese Form der Reli33–34 Begriff] oder Begriffen Bd. 2, Sp. 929 30 KD1 Einl. § 4 (KGA I/6, S. 249)

38 hält es schwer] vgl. Adelung: Wörterbuch,

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gion den Verschiedenheiten des Lebens anzupassen und dann wird es Kunst. Eben so wenn eine Religion stehen bleibt im Gebiet einer einzigen Sprache und diese dieselbe bleibt, dann kann jeder die Bücher verstehen und jeder kann Theologe seyn. Soll sich aber eine Religion verbreiten über verschiedene Sprachen, soll sie dieselbe bleiben in einem großen Raum, wo keine Sprache es bleibt, dann gehören Kenntniße dazu, die nicht jeder mehr haben kann. Ueberhaupt sagen wir: jede Theologie muß desto mannigfaltiger werden, über je mehr verschiedene Sprachen und Bildungskreise sich die Religion verbreitet, daher die Theologie der PWeltreligionenS die zusammengesetzteste gewesen ist. Das ist der Grund, warum unter allen Theologien die christliche die ausgebildetste ist. Es kommt nicht auf locale Ausbreitung an, sondern auf die Differenz der Ausbreitung. | 10 PWeltreligionenS] oder PWeltreligionS ; dem Sinn nach zu ergänzen immer 2–13 Vgl. Stolpe: „Es ist da nicht mehr von der intensiven Ausbreitung der Kirchengemeinschaft, sondern von der extensiven die Rede: von der Verbreitung einer Religionsgemeinschaft durch mehre Sprachgebiete. Die Theologie hängt eben doch durchaus an der Sprache, geht also die Kirchengemeinschaft in verschiedene Sprachen über, so entsteht daraus das Streben einer Ausgleichung dieser Sprache für den Zweck. Dies führt nothwendig eine Erweiterung der Theologie herbei. So wie das Christenthum sich in andere Sprachen verbreitet hat, so war eine solche Ausgleichung nothwendig. Dies [berührt] das Gebiet der exegetischen Theologie. Wollte man nun eine Sprache für die kirchliche erklären wie die Katholiken thun, so ist dadurch die exegetische Theologie zum Behuf der Kirche sehr auf ein Minimum reducirt. Folgert man nun daß die christliche Theologie die gebildetste sei unter allen, so ist damit nicht gemeint daß das Christenthum über die meisten Sprachgebiete verbreitet wäre: es könnte doch da immer noch ein Streit entstehen zwischen dem Christenthum und dem Islam. Je mehr die Theologie einen wissenschaftlichen Typus hat, desto mehr hat sich dies in PvielenS Disciplinen hineingebildet.“ (S. 168) – Eine Erörterung zu KD1 Einl. § 5 (KGA I/6, S. 249) fehlt bei Jonas; vgl. dazu Stolpe: „Hier kommt es an auf die Elemente: wissenschaftliche Kenntnisse und Kunstregeln und auf die Bestimmung ihrer Nothwendigkeit für die Führung des christlichen Kirchenregiments. In dem was gesagt worden war von der Entstehung der Theologie und der Abhängigkeit derselben von einer bestimmten Entwicklung einer Kirchengemeinschaftsform waren weder der Ausdruck Wissenschaft noch Kunst vorgekommen. Sie wollen also als bekannt angesehen sein. Die Deduction davon liegt darin, daß der Zusammenhang zwischen der | Theologie und der eines Kirchenregiments und der Zusammenhang einer Theologie mit der Sprachverbreitung das ist, woran wir uns zu halten haben. Die wissenschaftliche Kenntniß geht natürlich am meisten zurück auf das zweite, die Kunstregel auf das erste. Natürlich muß der Ausdruck Kunst im weitern Sinne genommen werden: im engern Sinne verstehen wir darunter die schöne Kunst, im weitern ein jedes regelmäßiges Verfahren um einen Zweck zu erreichen. Dabei ist jedoch der engere Sinn nicht ausgeschlossen. Das Regieren nennen wir immer Kunst im engern Sinne, wenn es regellos ist, nennen wir es schon ein Schlechtes. So viel ist klar: soll es eine Ungleichheit in der Kirche also eine Leitung derselben geben und soll diese nichts Schlechtes sein, so muß das Verfahren auf Regeln gebracht werden und dieses ist die Kunstseite der Theologie. [...] Zur Wissenschaft und Kunst giebt es eigentlich kein Drittes.“ (S. 168f)

14 5r; § 6. 7. 8.

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Das wissenschaftliche und das practische Interesse sind ins Auge zu fassen § 6. Die Theologie als Theologie besteht nicht ohne das Eine aber auch nicht ohne das andre. Der wahre Theologe muß also auch ein wahrhaft wissenschaftliches Interesse haben. In jedem, der ein Theologe seyn will, muß beides verbunden seyn. Aber wir müssen uns auch hüten, eins von beiden in ihm leugnen zu wollen. Es ist nichts gewöhnlicher bei den Veränderungen im wissenschaftlichen Gebiet, als daß man nicht den Unterschied macht zwischen dem Wesen des Alten und Neuen, sondern bloß zwischen dem Alten und Neuen. Und sobald einer am Alten bleibt, so wird er verschrieen. Aber das Wesen entgegengesetzter Ansichten besteht nicht darin, daß sie auf einander folgen, sondern daß sie aus einander folgen. Es ist also verderblich, wenn man gleich denkt, daß einer, der beim Alten bleibt, bloß an der Tradition klebt. Davor hat man sich sehr zu hüten. Schlimmer und frevelhafter ist das andre. Es kann seyn, daß einer, dessen Complexus von Wissenschaften darauf hindeutet, er muß Interesse für das Theologische haben. Wenn man nun sagt, dieser hat Interesse an der Fortbestehung des Christenthums, und doch hat er demselben entgegengesetzte Ansichten, so müßte man ihn für einen Thoren oder AntiChristen erklären. Es ist ein Auswuchs des jetzt mehr rege gewordenen Interesses am Christenthum, daß ein solches frevelhaftes Absprechen gewöhnlich ist. Alle wahre theologische Polemik beruht immer darauf daß man seinen Gegner auf dem Gebiete wirklich anerkenne, wo er steht. Dazu muß man annehmen, es können die Vorstellungen eines Mannes ganz entgegengesetzt seyn allem christlichen Sinne, und es kann ihnen selbst ein solcher bewußt oder unbewußt zum Grunde liegen. Wie könnte man sich wol einen Mann denken, der sich mit allem Eifer auf die theologische Wissenschaft legte, bloß um sie zu stürzen und zu Schanden zu machen und als eine Thorheit darzustellen? Wo also der Complexus der wissenschaftlichen Beschäftigung ist, da muß auch Interesse am Christenthum seyn. Das kann freilich nicht Wunder nehmen, wenn jemand nach Art der Franzosen sich einen Spaß macht, sich oberflächliche Kenntnisse verschafft, und nun auf gut Glück solange es geht die Leute confus zu machen sucht. Wer aber wirklich Interesse am Wissenschaftlichen zeigt und hat, der hat auch Interesse am Christenthum. Die Kenntnisse selbst reichen nicht hin, wenn sie nur auf traditionellem Wege erlangt sind, das Motiv dazu muß der wahre wissenschaftliche Sinn seyn. Darin liegt nun, daß sehr große Forderungen an den Theologen zu machen sind. Es ist überall relativer Gegensatz zwischen der Lust auf etwas und der Tüchtigkeit und Virtuosität. Der Gegensatz ist dieser, daß wir der Lust und dem 1 KD1 Einl. §§ 6–8 (KGA I/6, S. 250)

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Triebe immer ein größeres Gebiet zuschreiben als der Virtuosität. Wie steht dies auf Seiten des Wissenschaftlichen? | Ja da sagen wir, seine Lust und sein Trieb muß auf das ganze Gebiet der Wissenschaften gerichtet seyn. Sonst sagen wir, daß er gar keinen Trieb hat. Wo aber Virtuosität entstehen soll, da muß dann in das Einzelne gegangen werden. Der Theologe muß nun in verschiedenartige Gebiete der Wissenschaft hineingehen. Vollkommenheit kann also nicht in dem Einzelnen, sondern nur in dem Ganzen seyn, das sich damit beschäftigt. Es ist aber nothwendig uns ein Ideal zu machen von einem wahrhaft großen Theologen, der den höchsten, absoluten, Forderungen entspricht, um darnach seinen Standpunct recht beurtheilen zu können. Wenn nun den Theologen der wissenschaftliche und religiöse Geist beseelen muß, so kann dieses auf verschiedene Weise mit einander verbunden seyn. Das Ideal würde in dem Summum dieser beiden Eigenschaften bestehen, wenn sie in beiden gleich vollkommen sind. Dies ist die Idee eines Kirchenfürsten. Dabei hat aber Schleiermacher nicht wie ihm vorgeworfen an einen Pabst gedacht. Nun werden sich aber beide in verschiedenen Graden bei einem Theologen finden, es wird ein Uebergewicht des einen oder des andern statt finden und das giebt einen Unterschied zwischen dem Theologen im engen Sinne und dem Kleriker. Wenn der wissenschaftliche Geist das weniger Dominirende ist, so ist das Practische das Hervortretende und die Wissenschaft wird als Mittel dazu angesehen. Wenn das Wissenschaftliche prädominirt, so wird sich das religiöse Interesse immer nur in der Beschäftigung mit der Wissenschaft äußern und das ist der Theologe im engern Sinne. Der clericalischen Praxis kann er sich ganz verschlagen, aber er hört auf Theologe zu seyn, wenn ihn nicht das Interesse 3 ganze] Ganze 26–27 sich ... verschlagen] vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 4, Sp. 1507 („sich um den möglichen Genuß eines Guten bringen“) 12 KD1 Einl. § 9 (KGA I/6, S. 250) 16–17 Vgl. die anonym erschienene Rezension der KD1 in: Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1811 (Nr. 171–173 vom 24. bis 26. Juni), Bd. 2, Leipzig/Halle 1811, Sp. 409–429, hier: Sp. 411; diese Rezension ist ausführlicher dargestellt in KGA I/6, S. XLVIII–LIV. – Vgl. Stolpe: „[...] bei diesem [§ 9] ist nun mit großer Apologie zu beginnen: er ist so ausgelegt worden als ob wir an eine monarchische Verfassung der christlichen Kirche dächten. Den Namen eines princeps ecclesiae kann einer ohne eine große äußerliche Stellung auch erlangen, es ist ja hier an die innere Qualification zu denken. [...] es ist das hier ausgesprochene ja nur eine Idee, von der Realisirung solchen Maximums kann ja gar nicht die Rede sein.“ (S. 170) 21 KD1 Einl. § 10 (KGA I/6, S. 250) 21–26 Vgl. Stolpe: „Wenn wir die Geschichte fragen, finden wir freilich daß beides gar nicht von einander äußerlich getrennt ist: In den älteren Zeiten der christlichen Kirche wo es keine wissenschaftlichen Anstalten gab, war auch die theologische Wissenschaft nur in den Klerikern, indessen

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§ 9.

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an der Kirche in seiner Wissenschaft leitet, so, daß er durch diese der Kirche Vortheil schaffen will. Auf der anderen Seite eben so. Es kann einer sich ganz und gar der clericalischen Praxis widmen, er kann das aber nicht ohne, wenn gleich geringen Grad des wissenschaftlichen Geistes zu haben, er kann es nicht ohne Antheil zu nehmen an den wissenschaftlichen Beschäftigungen. So wie wir annehmen, daß er sich um Wissenschaft gar nicht bekümmert, so wäre seine Praxis ganz gewiß eine nicht die Kirche erhaltende, sondern zerstörende und die eigentliche Theologie wäre auch nicht in ihm. Es zeigt ja die Erfahrung daß alle die, welche den Einfluß des Wissenschaftlichen verkennen, ein separatistisches Wesen begünstigen. Es ist nur der umfassende Geist, was ein so ideales Ganze, als die Kirche ist, aufrecht erhalten [kann] und ohne ihn müßte sie lebendig aufhören, aufhören in allen einzelnen Theilen, in welchen der lebendige wissenschaftliche Geist aufhört. In diese Theile spaltet sich also das ganze theologische Leben. Wir kommen um den Begriff der Theologie, wie er den Zweigen des theologischen Studiums zum Grunde liegen muß, festzustellen. | Es giebt also zweierley Thätigkeit die eigentlich theologische und die clericalische. Wie sind sie verschieden? Das, was aus dem wissenschaftlichen Geist hervorgegangen ist, das sind die wissenschaftlichen Elemente der Theologie im PengernS Sinne, das ist das Organ, wodurch die handeln, welche PimS Clericalischen sind. Denn der Clericus theilt doch nur Begriffe mit, er bemächtigt sich der gesammten christlichen Tradition (der ganze Inbegriff aller Vorstellungen und Einrichtungen der christlichen Gesellschaft) und wirkt durch sie. Es ist also zu unterscheiden das Handeln mit den wissenschaftlichen Kenntnissen und das Haben und Erwerben derselben. Ersteres auf Seite der clericali21 PengernS] oder PengenS bestand doch die Differenz innerlich, denn es hat doch von je die einzelne ausgezeichnete gegeben: die sich besonders für die Leitung der Kirche interessirten aber für die Ausbildung der Wissenschaft nichts thaten und es hat wieder solche gegeben, die das Letzte im Auge hatten und förderten aber doch keine große Stellung im Clerus hatten, so Origenes und späterhin Hieronymus. Freilich zu einer gänzlichen Trennung von beiden kann es nie kommen ohne Nachtheil der christlichen Kirche oder wenigstens ohne nutzlose Verwendung schätzbarer Gaben; es hat zwar nicht an solchen gefehlt, denen man beides nicht absprechen kann, und an solchen denen man einen frommen Sinn und Theilnahme am Christenthum nicht absprechen kann, aber die ihre wissenschaftlichen Kenntnisse so verwendet haben, daß nichts davon der christlichen Kirche zu Gute kommt. Wenn sich einer ex professo dem Studium der arabischen Sprache widmet, so ist diese eine Hülfswissenschaft für die Alttestamentliche Exegese, aber der die Anwendung davon nicht macht, dessen Bemühungen beziehen sich durchaus nicht auf das Christenthum und gelten nichts in Bezug auf die Theologie. Hundertmal zum Doctor der Theologie gemacht ist er dessenungeachtet kein Theologe.“ (S. 171) 18 KD1 Einl. § 11 (KGA I/6, S. 250)

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schen Thätigkeit. Letzteres theologische Thätigkeit. Eben so: einem jeden zusammenhängenden Handeln liegt eine innere Erregtheit zu Grunde vermöge deren es nun dieses und kein andres ist. Wenn man dieses betrachtet, so ergeben sich daraus Regeln und Vorschriften für die Handlungen, die aber für den Handelnden gar nicht ins Bewußtseyn aufzunehmen nöthig sind, ja an die er im Handeln nicht denkt. Und alles dieses wird unter den Begriff der Kunst subsumirt. Wir sagen also nicht, daß der Handelnde die Regeln immer müsse inne gehabt haben, vermöge welche der Betrachtende es auf ein bestimmtes Princip zurückführt und davon herleitet, aber diese Regeln sind nicht in seinem Bewußtseyn gewesen. Das Erforschen der Regeln liegt nicht auf der Seite des Handelns, sondern des Erkennens. So als Erkennen gehört es gar nicht zum Handeln. So wie einer ein guter Maler seyn kann, ohne eine genaue Theorie zu haben, so kann auch einer mit einem künstlerischen Instinct ein guter Seelsorger seyn, ohne die Theorie und erst so ist gerade sein Handeln recht lebendig. Das Erkennen ist P S Theologisches. Die Kenntniß der Regeln aber ist dennoch die conditio sine qua non für einen Clericalen. (Siehe die Bestimmung der Theologie § 5.) Eben deswegen kann man nun sagen in Beziehung auf den § 12., daß nemlich alles wirkliche Handeln, Eingreiffen in die Thätigkeit der Kirche mit allem Erkennen eine Praxis ist. Es kann keiner ein wirklicher Theologe seyn, der nicht Theil nehme am Kirchenregiment, der keine Praxis übt, wozu denn auch die schriftstellerische Thätigkeit gehört. Und was von dieser Thätigkeit ist, die doch immer nur eine secondaire ist, greift doch auch ein in das Kirchenregiment. Jeder der wirklich in der clericalischen Praxis versirt versirt auf eine selbststän16–17 Erkennen ist] folgt ein unleserliches Zeichen; möglicherweise )das* § 11.,

20 § 12.,]

18–19 Vgl. KD1 Einl. § 5 (KGA I/6, S. 249) 20 KD1 Einl. § 12 (KGA I/6, S. 250f) – Vgl. Stolpe: „Dieser § soll verhüten, daß die Vereinigung nirgends aufgehoben werde. Wenn auch in der eigentlichen klerikalischen Thätigkeit eine wissenschaftliche nicht mitgesetzt ist, so ist sie doch nur möglich wenn das religiöse Interesse und der | wissenschaftliche Geist in jedem verbunden sind. Eben so wenn von der Ausbildung des Wissens in Bezug auf das Christenthum die Rede ist, somit von Theologie im engern Sinne, so wird er etwas leisten können unter der Voraussetzung daß dieser Geist vom religiösen Interesse am Christenthum geleitet wird. Die Folgerung ist hier daraus gezogen, daß auch in einer Sache beides nie vollkommen getrennt ist. Wenn wir zum Beispiel fragen: wodurch sind in den ersten Zeiten, in den Jahrhunderten der allgemeinen Concilien die meisten Streitigkeiten über einzelne Lehren entstanden. Die Erfahrung sagt: durch nichts als durch die öffentlichen Vorträge der Religionslehrer, durch eine rein klerikalische Thätigkeit. Alle, die zur Erbauung der christlichen Gemeinde öffentliche Reden hielten, waren doch auch immer in theologischer Hinsicht thätig: da sie immer die Glaubensartikel zu erklären und zu bestimmen suchten.“ (S. 171f)

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dige Weise, so, daß [er] wissenschaftliche Thätigkeit ausüben muß nicht außer sich, sondern in sich, sonst ist er entweder eine Null oder in der clericalischen Praxis nicht selbstständig. Nur wenn er sich in Zusammenhange mit den leitenden Grundprincipien in Verbindung hält, kann er leiten, befestigen[,] wirken auf die Gemüther. Ohne dies ist er so gut, wie alle andren ein Laie, er hat nur das Reden voraus und zwar solches, das jeder eben so gut machen würde als er, PaberS die Gemeine führen kann er nicht mehr. Wenn er zwar nicht alles ausschließen will | aus seiner Thätigkeit was das Leitende ist, so bleibt er entweder stehen, auf dem Puncte wo er stand bei Annahme seines Amts und ist bloß das ausschließende Organ derjenigen, auf deren Wort er schwört, oder er will sich die Maxime machen nur dem Neuesten zu folgen und zwar was ihm mundet, nun so ist er eben so wenig selbstständig und nur fremdes Werkzeug, wobei er zugleich oft Widersprechendes sagen muß und dadurch auch Null wird. Also der Cleriker muß auch Wissenschaft treiben. Jeder muß sich also prüfen, wie diese beiden Verhältnisse in ihm stehen, um zu wissen worauf er sich vorzüglich wenden soll, auf das Practische oder das Theoretische, auf das Clericalische oder die eigentlich theologische Seite. Jeder Beruf soll aus einem solchen reinen Selbsterkenntniß ausgehen und es soll nichts Fremdes seyn. Aber unzählige bestimmen mehr ihren Beruf nach äußeren Momenten, als nach den inneren. In einem jeden Ganzen ist jeder Theil etwas wesentliches und Unentbehrliches und alle sind gleich. Dies gilt auch von der menschlichen Gesellschaft. So hat jedes Geschäft seinen Werth. Aber wenn wir Abstufungen annehmen müssen, so ist das das Eigenthümliche[:] ein jeder Beruf, wozu sich jemand aus äußerlichen Umständen bestimmt, muß das Niedere seyn. Unser Geschäft können wir unter die wichtigsten und heiligsten stellen, daher sollte nun hier die innere Stimme des wahren Berufs gehört werden und nirgends kann größerer Schaden entstehen, als wenn dieser Beruf aus äußerlichen Gründen gewählt wird. Es giebt auch nichts Traurigeres und Trüberes als einen Theologen, der es wider seinen Willen ist. Es ist immer unglüklich wenn keine wahre Lust zum regelmäßigen Lauf der Thätigkeit vorhanden, aber nirgends so niederdrükend als auf diesem Gebiet und nirgends größerer Schade. Denn entweder thut er so wenig wie möglich im Theologischen, denn es ist nirgends schwerer eine Nöthigung zum Geschäft sich aufzulegen. Das Geschäft hat so wenig Regeln, daß fast jeder sich mit Null abfinden kann, und wenn ein großer Verfall 7 PaberS] oder PebenS 17 KD1 Einl. § 13 (KGA I/6, S. 251)

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des geistlichen Standes ist, so ist der Grund der, daß es viele Geistliche giebt, die es ohne Beruf sind; oder aber wer keinen innern Beruf hat, der gewinnt ihm auch leicht eine andre Seite und wendet PsichS dahin, wozu er Lust hat und das ist das Gefährlichste für die Kirche. Sey es nun Oeconomie, die gemeinsten der Erwerbe oder etwas andres, und daß er darnach nur handelt, so ist das das größte Verderben, und man kann nicht ohne Schauder daran denken, wie das Heiligste so verwahrlost wird. Aber daraus ist es ganz natürlich zu erklären. | Wenn die Absicht darauf gerichtet ist, auf einen bürgerlichen Stand und man diesen eher will als alles andre, so ist dies eben das Uebel. Man soll das Geschäft wollen, ohne irgend andre Beziehung. Und wie sollte es gekommen seyn, daß das Kirchenregiment einen besonderen Stand bildet, als eben durch diese verschiedenen Richtungen im Menschen? Wir müssen uns also immer unabhängig erhalten von allen solchen äußerlichen Bestrebungen. Das gute Gewissen des Theologen besteht darin, wenn er sich sagen kann, du würdest auch 8 An die Erörterung von § 13 schließt sich bei Stolpe folgende Bemerkung an: „Noch ist etwas Allgemeines über diese ganze Grundlegung hinzu zu fügen, nämlich jener Vereinigung von religiösem Interesse am Christenthum und wissenschaftlichem Geiste und Ausbildung. Unter allen verschiedenen Religionsformen ist das Christenthum die einzige, die solche Vereinigung postulirt und in der sie immer einheimisch gewesen ist. Wenn wir bedenken, wie sich eine neue wissenschaftliche Cultur aus dem Schooße des Christenthums entwickelt hat; so müssen wir doch sagen, daß dieses nirgendwo zu Stande gekommen ist: daß die ganze neuere Bildung ursprünglich auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst von der Anwendung auf die Religion ausgegangen ist. Freilich haben sich nun die Wissenschaften und Künste von diesem Bande gelöst: allein die Theologie und Kirche waren auch im Dienste der Wissenschaft, sie hegten und pflegten sie, und es läßt sich gar nicht nachweisen, daß sie ohne diese Pflege würden dahin gekommen sein. Doch steht die Sache nicht so, daß wir glauben könnten, die Wissenschaft und Künste könnten das ganz entbehren, was ursprünglich ihre Entwicklung hervorgebracht hat.“ (S. 172) 9 KD1 Einl. § 14 (KGA I/6, S. 251) 9–4 Vgl. Stolpe: „Es wird hier unterschieden, daß man nicht die Form die die Leitung des Kirchenregiments bei uns hat, mit dem Begriff selbst verwechseln muß. Der Ausdruck Stand hat seine Bedeutung wesentlich im bürgerlichen Leben: dies verschieden vom Geschäfft. Alles was wir zum Kirchenregiment zusammenfassen, kann nicht bestimmten PPfarrernS für immer übertragen sein, sondern bloß für eine Zeitlang. Bei manchen Geschäfften ist dies etwas gewöhnliches. [...] In der katholischen Kirche wird der Gegensatz zwischen Priester und Laien für etwas Wesentliches in der Constitution gehalten: in der evangelischen Kirche wissen wir davon nichts, sondern unser Grundsatz ist der, daß Priester alle Christen sind und die Geschäffte nur auftragsweise von der Gemeinde unsern Geistlichen übertragen wird, also von einer Nothwendigkeit des kirchlichen Standes wissen wir gar nichts. Daraus würde dann folgen: wenn wir von jener Grundansicht unserer Kirche ausgehen und fragen: wem wird sie die Geschäfftführung übertragen, eigentlich nur denen, von denen sie weiß, daß sie die rechten Qualificationen haben. [...] Es dürfte sehr schwer sein jenen Wunsch daß der geistliche Stand aufhöre, zu realisiren. Es wäre ein weit größerer Grad von Wohlstand dabei vorauszusetzen oder eine umgekehrte Neigung, daß die Vornehmen Liebe zu solcher Geschäfftsführung hegten. Wir haben zu solcher Verwandlung keine Aussicht.“ (S. 173)

7r; § 14.

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§ 16.

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ohne den äußern Stand eben dasselbe geworden seyn und dadurch denselben befördert haben. Darin daß das Kirchenregiment einen besonderen Stand bildet ist nöthig eine Unterordnung des einen unter den andern, dann ein Verhältniß der Kirche zum Staat, welches sonst viel looser seyn würde. Wenn der Theologe seinen Stand nur als Stand gewählt hat, so kann er keinen freien Widerstand leisten gegen gewaltige Eingriffe des Staats in die Religion und er wird immer sagen, deß Brod ich esse, deß Lied ich singe. PDurchS die Unterordnung können auch die Einzelnen Schwierigkeiten machen in der freien Ausübung. Wer sich bloß an das Aeußre hält, wird eine Passivität entstehen, wo man das, was der zufällige Vorausgesetzte sagt, regieren läßt und von der andren Seite eine Resistenz, die das Aeußere fest halten will gegen den Oberen. Es ist jetzt in dem Verhältniß des Staates zur Religion nur möglich ordentlich zu wirken, wenn der Theologe nur das Ursprüngliche vor Augen hat. Auch sind die Verhältnisse der Oberen zu den Niedern jetzt so, daß das Gewissen des Theologen und des Clerikers irre gemacht werden kann, ohne das VorAugen haben des Ursprünglichen. Die Kirche wird entweder in Nichts zurükfallen und sich dann neu bilden, oder es muß eine gänzliche Veränderung in ihrer innern Formation sich gestalten. Daher muß jeder an seiner Stelle sein Gewissen rein erhalten, was er nur kann, wenn von Anfang an sein Bestreben auf die Sache selbst gerichtet ist. Vom 15. § an ein anderer Gegenstand. Es ist da die Rede von dem zwiefachen Verhältniß eines jeden, er mag auf welcher von beiden Seiten er wolle stehen, zu der Gesammtaufgabe der Theologie, von dem Verhältniß der Universalität und der Virtuosität. Die Aufgabe ist in ihrer Totalität gelöst, wenn auch nur irgend einer alles was zur Theologie gehört bis ins Unendliche mit möglichster Genauigkeit und Vollständigkeit wüßte. Aber dahin kann nun wol niemand kommen. Aber wenn auch wissenschaftlicher Geist und religiöses Interesse als absolutes maximum in einem vereinigt wäre, so müssen wir doch sagen, daß in einem Einzelnen nicht gleiches Interesse für alle Gegenstände der Theologie seyn kann. Wenn nun keiner die Aufgabe der Theologie ganz lösen kann, nun so muß man sich beschränken. Aber wie muß die Beschränkung angelegt werden, was ist die Formel dafür? Damit [beschäftigen sich] die nächsten §§: Einer könnte sagen: Man mache es wie im Staate, der eine übernehme dieses Geschäft, der an8 Unterordnung] folgt vermutlich )ist aus d* 10 wird eine Passivität entstehen,] Kj [bei dem] wird ... entstehen oder wird ... zeigen 24 KD1 Einl. § 15 (KGA I/6, S. 251)

37 KD1 Einl. § 16 (KGA I/6, S. 251)

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dere Jenes. Das ist aber dort auch nur relative Theilung, wird aber dort übersehen. Auf unserm Gebiete geht es nicht an, | daß einer sich nur mit einem Theile beschäftige mit Weglassung alles Andern. Je complicirter die Geschichte der Kirche wird, desto mehr erweitert sich die Theologie. Der ganze Begriff der Theologie muß also realisirt werden, wenn die Kirche bestehen soll. Wenn nun jeder nur einen Theil des Ganzen sich selbst zum Zweke setzt, so ist das Ganze in keinem Einzelnen und auch nicht in Allen; es ist kein Zusammenwirken Aller und daher nur ein Aufheben. Das Eine wirkt nicht in das Andre hinein und darum kann nichts Vollkommenes entstehen. Es muß also anders seyn. Die Theilung der Arbeiten ist nothwendig, sie muß aber bedingt seyn, dadurch, daß in jedem auf irgend eine Weise das Ganze ist. Jeder der in einem Theile thätig ist, kann nur dann darin ordentlich wirken, wenn er das Verhältniß des Theiles zum Ganzen recht inne hat. Im Staate ist es schon genug, wenn nur das Gefühl zum Grunde liegt, in der Theologie muß es die Einsicht seyn. Aller Nutzen also der Einzelnen, die sich vorzüglich auf etwas Einzelnes legen ist dadurch bedingt, daß sie eine Einsicht in das Ganze haben. Hierauf müßte sich nun alle theologische Thätigkeit führen lassen. Wenn man sagt: jeder muß bei aller Beschäftigung in irgend einem einzelnen Theile das Ganze vor Augen haben. Nun wol, so muß er damit anfangen, daß er das Ganze vor Augen habe und von dieser Idee des Ganzen könne er in jedem einzelnen Theile allmählich fortschreiten. Dadurch würde der Unterschied zwischen Universalität und Virtuosität wegfallen. Aber man würde zu sehr ins Einzelne kommen. Man muß zwar das Ganze immer vor Augen haben, aber er muß sich ein Gebiet wählen, von welchem er in das Einzelne eingreift und worin er es zur Virtuosität bringt, sonst kann gar nicht gewirkt werden. Die Art, wie einer aus dem Ganzen wählen soll einen einzelnen Theil, darüber kann wenig gesagt werden. Da hängt alles ab von der Neigung auf der einen Seite und von der Gelegenheit auf der andren Seite. Was ist aber die Art und Weise, wie ein jeder das Ganze in sich haben muß? Das ist eine andre Frage. Es giebt allerdings einen allmählichen Uebergang vom Allgemeinen zum Einzelnen, in wie fern sich der Stoff mit der Form gleich entwikelt. Das hebt den allgemeinen Gegensatz zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen nicht auf. Ein jeder soll seine Beschäftigung nur auf einen bestimmten Theil 4 die Geschichte] oder das Geschäft 23 könne er] über der Zeile mit Einfügungszeichen irrtümlich hinter Theile 30 werden] haben 11 KD1 Einl. § 17 (KGA I/6, S. 251)

19 KD1 Einl. § 18 (KGA I/6, S. 251)

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wenden, was soll er denn nun von allem andern haben? Etwas Einzelnes davon muß er haben, denn sonst hat er gar nichts. Er muß eben so viel davon haben, daß es die Relation werden könne für seinen besonderen Theil mit dem Ganzen. | Hat man die Idee des Ganzen nicht und des Verhältnisses des Ganzen zum Theile, so ist man kein Theologe. Und steht einem nicht zu Gebote, was vom Uebrigen in das Einzelne eingreift, so kann man auch nicht Theologe heißen. Wie kann aber beides vereinigt werden? § 19. der recht zu verstehen ist. In Hinsicht auf die erste große Differenz zwischen den Theologen im engeren Sinne und den Clerikern, jemehr jemandes Hauptsache das clericalische ist, desto mehr Kenntnisse muß er umfassen und je mehr jemand Theologe seyn will, desto mehr muß die Virtuosität im Einzelnen statt finden. Das Universelle kann sehr allgemein gefaßt werden und die Disciplin ist ungemeiner Theilung fähig. Nun ist die Meinung diese: keinesweges als ob einer der Cleriker ist nicht haben solle ein einzelnes Gebiet der Theologie, womit er sich ins Einzelne und Genaue beschäftigt. Es bezieht sich dies aber nicht auf das Clerikalische. Darauf bezieht sich nur, daß er das Allgemeine weiter in sich ausbreitet und gleichmäßig fortschreitet in den theologischen Disciplinen, indem sie alle Einfluß auf das Clericalische haben. Wogegen der gelehrte Theologe, der ein Gebiet als Meister besitzen will, kann sich mit weit allgemeinerer Kenntniß des Ganzen begnügen; den Zusammenhang der andern Disciplinen hat er weniger nöthig immer gegenwärtig zu haben und gleich inne, als der Cleriker. Es ist freilich hier eine methodische Praeliminarfrage, die weil sie methodisch ist nicht im Commpendium steht. Wann soll sich einer bestimmen, ob er Practiker oder Gelehrter in der Theologie werden will? Offenbar kann diese nähere Bestimmung der ersten allgemeinen nicht gleich seyn, das wäre eine Uebereilung. Es kann jemand weit eher wissen, daß wissenschaftlicher Geist und Interesse an der Religion ihn zur Theologie bestimmen; auf welche Seite er sich mehr ausbilden soll, das kann er erst später entscheiden. Es muß also erst das gleichmäßige Fortschreiten in allen theologischen Disciplinen angewandt werden. Nun ist zu erwarten, wenn der wissenschaftliche Sinn eine Disciplin vor den andern unterscheidet und auch weniger das Practische auffaßt, dann hat einer einen größern Trieb, sich auf irgend ein Gebiet der theologischen Wissenschaft zu legen. Und wenn einer keine besondere Vorliebe für etwas Einzelnes umfaßt, sondern alle Disciplinen zugleich in sich bildet, also auf das Practische sich mehr richtet, dann kann er erst sich dahin entscheiden. Auf Universitäten müssen also alle Disci10 KD1 Einl. § 19 (KGA I/6, S. 252)

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plinen gleich ausgebildet werden. Im § 19 steht also: Ein Kleriker muß alle Disciplinen lebendig im allgemeinen auffassen. Der gelehrte Theologe muß sich auf das Einzelne werfen, nachdem er aber erst das Allgemeine umfaßt hat. Darin liegt auf der einen Seite eine Resignation. | Denn wenn wir davon ausgehen, daß jemand zuerst alle Disciplinen in sich ausbildet mit gemeinschaftlichem Interesse und nun in die Forschungen der verschiedenen Disciplinen eingegangen ist, so muß er nachher eine Menge von angefangenen Beschäftigungen und Neigungen aufgeben und sich auf etwas Einzelnes legen. Das ist in allen Dingen so. Aber auf der andern Seite ist doch die PneueS Beschränkung. Der Kleriker um im Zusammenhange zu bleiben, muß auch dem entsagen, die Disciplinen in das Einzelne zu verfolgen. Beide haben also eine Selbstbeschränkung, welche aber wieder eine Einschränkung leidet. Ein Kleriker, der sich auf das Allgemeine legen muß und es umfassen muß, befindet sich z. B. an einem Ort, wo nicht gelehrte Theologen versiren, wo sich aber doch gelehrte Schätze, Urkunden befinden, so würde er doch Unrecht thun, wenn er sie nicht bearbeiten wollte, in so fern sie nicht seiner Bestimmung dadurch schaden. So kann also der Kleriker einzeln in das Gebiet der Virtuosität eingreifen. Auf der andern Seite, wer sich auf eine besondere Disciplin gelegt hat, muß davon abstrahiren, wenn er sich mit allen andern Disciplinen in Verbindung hält indem ihm die Zeit dazu fehlt. Aber was er bearbeitet, das wird schon immer zusammenhangen mit den andern Disciplinen. Was ist nun in seinen wesentlichen Bestandtheilen jenes völlig gemeinsame Gebiet der Theologie, das jeder inne haben muß, ob er sich auf das Practische oder das Einzelne gelegt habe? Diese verschiedenen Elemente § 20. [1.] Es muß jedem das lebendige Bild der ganzen Theologie vorschweben. Es muß sich in ihm klar auszeichnen, sonst findet er die Leitung nicht, zwischen einer von beiden Bestimmungen zu wählen. Es ist also das nothwendigste: die richtige Anschauung von dem Zusammenhange der verschiedenen Theile der Theologie. Diese kann 10 PneueS] oder PeineS 12–24 Vgl. Stolpe: „Das akademische Lehramt als solches bezieht sich eben auf die, die nachher praktisch sein wollen, und Lehre heißt nicht die Wissenschaft weiter bringen wollen, sondern die Tradition der Wissenschaft an andre. Der akademische Lehrer ist daher in gewissem Sinne immer praktisch: also die Sympathie mit denen, mit denen er lebt, führt ihn wieder in den Zusammenhang mit den theologischen Disciplinen zurück. Man kann sagen: Jeder der in einem geistlichen Amte [ist,] kann und soll sich doch zu seiner Regel machen, seine Muße auf eine wissenschaftliche, natürlich auf eine theologische Weise auszufüllen und somit einen Theil der Wissenschaft fördernd thätig sein.“ (S. 175) 24 KD1 Einl. § 20 (KGA I/6, S. 252)

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nur statt finden, wenn 2. ein richtiger Begriff von jeder einzelnen Disciplin da ist. Stoff und Form muß sich da zugleich entwikeln. Das erste, das Allgemeine geht nur von dem Formellen aus, woraus sich der Zusammenhang ergeben muß. Das muß aber ein lebendiges Bild seyn und Stoff muß mit Form zugleich aufgefaßt werden, freilich nur ganz allgemein. Daraus entsteht die Vorstellung von einer in sich unendlichen Mannigfaltigkeit der Disciplinen. Dieses Mannigfaltige hat nicht gleiche Dignität, wenn sie als Wissenschaft betrachtet wird und wenn sie als Theologische Wissenschaft betrachtet wird. In der Fortschreitung kann gefehlt werden, denn eine andre Fortschreitung muß der Kleriker, eine andre der gelehrte Theologe haben. Ein jeder muß daher das theologisch Wesentliche in ihnen, die theologische Dignität, von dem minder theologischen Wesen unterscheiden. | Der 3. Gesichtspunct: Es ist etwas anderes, eine Wissenschaft in ihrem ganzen Zusammenhange sich anzueignen, sie rein aus sich selbst oder durch ein Aufgestelltes und Gegebenes von ihr sie sich anzueignen und etwas Anderes ist, in ihrem Gebiete in jedem Augenblick etwas Gefordertes zu leisten. Das ist die Kenntniß dessen, was man litterarische Hülfsmittel nennt. Legt man darauf zu großen Werth, so hat das den größten Nachtheil. Die Sache selbst jedoch unentbehrlich, nur muß man wissen, was man daraus hat, ist nur ein provisorischer Erwerb, eine Kenntniß, die man nachher in eigne Einsicht verwandeln muß. Diese Bekanntschaft eben so nothwendig für den Cleriker, als den Gelehrten Theologen und nothwendig für die, welche noch nicht entschieden haben zwischen den beiden Richtungen. Für den gelehrten Theologen muß es immer weiter gehen. Die litterarische Kenntniß ist subsidiarisch ganz nothwendig und zwar gleich beim Anfange der Studien, obgleich man da auf guten Glauben annehmen muß, was andre untersucht haben. Das ist der 4. Punct: Es ist durchaus nothwendig eine gewisse Fertigkeit, sogleich zu untersuchen, in wie weit etwas von andern Untersuchtes als wahr oder falsch, als gründlich oder ungründlich anzuerkennen ist und diese Kunst muß sich von Anfang an gleich ausbilden. Dies ist Kritik. Es hat ein jeder auf der einen Seite gewisse Principien der Wahrheit in sich aber auch etwas, worin der Irthum statt findet. Eben so hat jeder sein eignes Verfahren. Wenn man in den Arbeiten nun nicht entscheiden kann, was wahr und falsch, was allgemein, was individuell ist, so kann man dieselben nicht nutzen. Dabei muß man aber nicht das Exempel was der andere gerechnet hat, nachrechnen, sondern es muß auf eine andre Weise geschehen und das ist Kritik. So muß man nun wissen, auf welchem Gebiet man jemand trauen kann oder nicht, um darnach abzumessen 13 3.] 3te

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wo man sicher auf ihn rechnen kann, wo nicht. Das ist das allgemeine Supplement ohne welches nicht statt finden würde, daß wir unsre Erkenntniß mit der der andern vermehren könnten, nicht statt finden, daß wir die Arbeiten Andrer benutzen und uns aneignen könnten. Dies vorzüglich dem Practiker wichtig, der sich mit dem Ganzen in Verbindung erhalten kann. Solcher muß die recht perspectivische Ansicht von dem Allgemeinen haben. Dem eigentlichen Gelehrten ist die litterarische Kenntniß noch nothwendiger. Sie findet sich bei ihm auch im Arbeiten und dadurch daß er sich der Differenzen zwischen seinen Resultaten und den Resultaten der andern | recht bewußt wird, kann er sich in seiner individuellen Ansicht bestärken. Das kritische Talent kann nicht gelernt werden. Es ist Kunst und entwikelt sich nur durch Uebung, welche durch reines Interesse und scharfen Wahrheitssinn geleitet wird; denn diese beiden bewirken die Selbsterkenntniß, die Basis aller Kritik. Das Gebiet der Virtuosität darf nur im allgemeinen angegeben werden. Jeder, in so fern er ein Gelehrter werden will, muß die Wissenschaft rein erweitern. Wenn wir die Wissenschaft rein in sich betrachten ohne auf das Practische Interesse zu sehen, so muß sie sich nothwendig erweitern. Was jemand hineinlegt kann mehr negativ mehr positiv seyn. Mehr negativ, in wie fern es Kritik ist, wo ausgeschlossen wird, was nicht ausgemittelt ist, mehr positiv, wenn etwas, was schon geleistet ist, gereinigt wird oder besser dargestellt, oder was noch nicht bekannt ist, in dasjenige Gebiet, wozu es gehört hineingestellt wird. Nun § 21. Die Encyclopädie macht sich mit dem Materialen der verschiedenen Disciplinen gar nicht zu schaffen. Die Nothwendigkeit das theolo17–24 Vgl. Stolpe: „Die Erweiterung [KGA I/6, S. 252,13] bezieht sich darauf, daß in jeder Wissenschaft die Art und Weise wie sie statt findet sehr verschieden ist, und so eine unendliche Fortschreitung möglich ist. In jeder Disciplin sind zu jeder Zeit die Gegenstände gleichmäßig nie aber in dieser Ungleichmäßigkeit bis auf einen gewissen Punct genau dargestellt. In der Geschichte ist der Unterschied zwischen Universal und Specialgeschichte bekannt: wo auch die Art der Darstellung immer weiter hin ins Einzelne getrieben werden kann. Allerdings giebt es auch hier ein natürliches Maß. Dies sehen wir besonders auf dem geschichtlichen Gebiete: wenn wir die Specialgeschichte zu weit treibten, so gelangt man zuletzt nur zu einem localen Interesse. Eben so steht es mit der philologischen Behandlung. Die Reinigung [KGA I/6, S. 252,13] bezieht sich darauf, daß kein Wissen als solches in allen seinen Theilen sich selbst in Bezug auf den Begriff des Wissens gleich ist, überall ist noch eine gewisse Vermischung. Eine wissenschaftliche Disciplin reinigen heißt: das Falsche ausmitteln und aus der Mischung aussondern, damit das Wahre allein zurückbleibt, und das etwa Fehlende hinzugethan werden könne.“ (S. 176) 24 KD1 Einl. § 21 (KGA I/6, S. 252) 25–26 Vgl. Stolpe: „§ 21. Die nähere Bestimmung der encyclopädischen Darstellung. Hier ist freilich etwas als allgemein aufgestellt: was eigentlich nur von unserer Darstellung gilt. Viele encyclopädische Darstellungen verbinden den Standpunct des Universellen (§ 20) und enthalten auch das Allgemeinste und Wesentlichste vom Inhalte aller Disciplinen. Hier aber wird die zweite Nummer von § 20 [KGA I/6, S. 252,8f] ganz ausgeschlossen.

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gische Studium mit einem solchen Ueberblik anzufangen ist allgemein anerkannt. Einige beschränken sich dabei auf das bloß Formelle, andre verbinden damit eine kurze Uebersicht des Materiellen. Wenn die encyclopädische Darstellung bloß formell behandelt wird, so wird z. B. von der Kirchengeschichte nur der Begriff aufgestellt und gezeigt, wie nothwendig die Einsicht in den religiösen Geist aller Zeiten ist, PdenS Zwek zu erreichen beim Kirchenregiment. In wie fern die Kirchengeschichte in mehrere Disciplinen fällt, ist das auch etwas Formelles und darin kann eine jede encyclopädische Darstellung so weit gehen als sie will, ohne das Formelle zu verlassen. Will man aber die Eintheilung der Kirchengeschichte in gewisse Perioden machen, so ist das schon etwas Materielles. Keineswegs ist dies Verfahren ein unrichtiges, es sind nur zwei verschiedene Arten. Jedes hat etwas für sich. Eine ganz strenge absolute Absonderung des Formalen vom Materialen ist nicht möglich, wenn nicht das Formale in gewisse Formen ausarten soll. Wenn man sagt: die Kirchengeschichte theilt sich in Kirchengeschichte und Dogmengeschichte, in die Geschichte der Institute und der Meinungen. Dabei muß man doch schon den Stoff kennen. Man kann also sagen: warum soll man in das Materielle nicht noch einen Schritt weiter gehen. Es ist also nichts falsches. Schleiermacher zieht aber das Andre vor. | Weil doch die Encyclopädie nicht ist der Schematismus, so ist doch ein Unterschied ob man sagt: ich will den Stoff dazu gebrauchen diesen Schematismus bloß ins Licht zu setzen, oder ob man sagt: ich will in den Stoff selbst noch hineingehen. Das eine stört das andre. Und für den fremdartigen Theil, der hinzukommt, kann kein richtiges Maaß mehr gegeben werden, es kommt also etwas Willkürliches hinein. Wenn einer fragt, wozu diese Verbindung mit dem Formellen und Materiellen? Es ist eine gewisse Vorbereitung, die zum Uebergange dient. Warum soll diese Vorbereitung aber schon in das Materielle hineingehen? Wer eine solche encyclopädische Darstellung vorträgt, muß ein gelehrter Theologe seyn, der kann als solcher nicht zu allen 22 nicht ist der] zu ergänzen dem Sinn nach reine Wenn man wirklich eine eigentliche Erkenntniß von der Organisation der theologischen Disciplinen hervorbringen will, so scheint dies wohl hinreichend den Raum unsrer akademischen Vorlesungen auszufüllen, soll diese Erkenntniß eine Anschauung werden, so kann es doch nicht fehlen, daß Materielles hin zu tritt und zwar in Form des Beispiels und der Erläuterung. [...] Jeder, auch der sich ganz dem kirchlichen Amte widmen will, wird immer nach seinem besonderen Naturell und dem Gange seiner Entwicklung eine gewisse Vorliebe für die eine theologische Disciplin haben, als für die andre. Verbindet man nun eine compendiarische Ausführung der einzelnen Disciplinen, so könnte daher sich mancher mit solcher compendiarischen Ausführung begnügen in Bezug auf das, was ihm nicht am Herzen liegt.“ (S. 176)

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Disciplinen in gleichem Verhältnisse stehen und er selbst muß sich dessen bewußt seyn. Aus diesem Bewußtseyn geht aber eine Ungleichförmigkeit in diesen Disciplinen hervor; denn entweder lassen sie sich weitläuftiger aus über die Gegenstände, mit denen sie sich am meisten beschäftigen, oder sie sagen: manche Gegenstände, von denen wir sonst gar keine Gelegenheit zu reden nehmen, wollen wir hier nun recht aus einander setzen und PbreiterS als diejenigen, worüber wir immer lehren. Es ist auf jeden Fall bescheidener und vorsichtiger, das Materielle ganz fortzulassen bei der encyclopädischen Darstellung, um das denen zu überlassen, die sich mit dem Vortrage der Disciplinen selbst beschäftigen, damit keiner durch etwaige Widersprüche, die er sich als Anfänger nicht lösen kann, irre gemacht werde. § 22. das Princip, worauf der Schematismus der theologischen Disciplinen beruht. Hier gehen wir zurük auf das im Anfang Aufgestellte: die Tendenz der Theologie ist nichts andres als die geschichtliche Erhaltung der Kirche. Daran haben wir es zunächst zu knüpfen, aber wir müssen höher hinauf gehen. Die christliche Religion ist eine bestimmte, und daher die christliche Kirche eine bestimmte PAnordnungS. Allein darüber können wir zu keinem Verständniß gelangen, wenn wir nicht höher gehen und den Begriff Religion, bestimmte Religion und Kirche bestimmen. Wir würden sonst riskiren, entweder die ganze Theologie voraus zu setzen beim Schematismus der Theologie, oder wir würden uns begnügen müssen mit einer zusammen gerafften Vorstellung. Solche hat aber gar keine Gewährleistung in sich, und da es gerade darauf ankommt, einen Complexus von Begriffen sich anzueignen, so kann solche zusammengesetzte Ordnung gar nicht helfen. In encyclopädischen Darstellungen ist man häufig von solchen Begriffen ausgegangen, woraus einem die theologischen Disciplinen bloß als ein Aggregat erscheinen, aber wir wollen wissen warum sie da sind und so da sind und seyn müssen, wir müssen sie in ihrem Zusammenhange ergründen, das empirische Wissen hilft nichts, wir müssen also höher hinauf gehen. | Sind wir, indem wir uns mit diesem Begriff beschäftigen, schon im Gebiet der Theologie oder nicht. Man kann sagen, ja wenn die ganze Theologie eben so gut in ihrem Entstehen, als im Begriff, wie sie entsteht, liegt, so muß dieser Begriff außerhalb der Theologie liegen. Und wenn bei einem Theologen dieser Begriff von dem Wesen der Theologie nicht erzeugt wird, so ist er offenbar nicht selbstständig. 7 PbreiterS] oder PweiterS 14 KD1 Einl. § 22 (KGA I/6, S. 252)

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Dies ist also ein Uebergangspunct und die Construction ist der Punct, wo die Wissenschaft zur Wissenschaft wird. Es ist eines offenbar[:] der erste Punct für unsere encyclopädische Darstellung kann nur seyn: das Wesen und der Zusammenhang der theologischen Disciplinen als solches kann nur begriffen werden aus dem Wesen der christlichen Kirche. Zu gleicher Zeit ist dieses der leitende Begriff, der den Theologen überall begleiten muß. Denn in wie fern jeder Theologe am Kirchenregiment auf irgend eine Weise Theil nehmen muß, so wird er nicht urtheilen können, was gut was schlecht, wenn er nicht eine Idee in sich hat, der er PsoS die Erscheinung anzunähern sucht. Seine ganze Thätigkeit beruht darauf. Alles andre hilft nichts, wenn es an dieser leitenden Idee fehlt, aus der das eigentliche Leben des Theologen hervorgehen muß. Es fragt sich nun nicht mehr, Woher sollen wir nun diesen Begriff der christlichen Kirche nehmen bei unserer Encyclopädischen Darstellung sondern wie kommt der Theologe zu dieser lebendigen Idee? Diese Idee kann auf keine Weise bloß empirisch aufgefaßt werden. Man kann nicht sagen, die christliche Kirche ist ja, ein jeder kann sie sich ansehen und sich daraus die Vorstellung machen, die er braucht. Der Begriff der Kirche ist freilich ein allgemeiner, der Begriff einer Gesellschaft die auf der Religion beruht. Die christliche Kirche wird nur zur christlichen, durch das Eigenthümliche der christlichen Religion, der Begriff zerfällt nun gleich in diese beiden Elemente, 1. in den Begriff der religiösen Gesellschaft und 2. in den Begriff des Christenthums in seiner eigenthümlichen Natur. Warum können wir aber nicht so sagen, die Kirche ist da und das Christenthum ist da, also kann jeder wissen was sie sind? Eine solche empirische Vorstellung kann auf mehrley Art entstehen entweder man hält sich an das unmittelbar Gegebene. Nun in diesem ist nicht nur das Wesentliche und Zufällige der Sache untereinander gemischt, sondern auch das Gute und Mangelhafte. Das gilt schon von jedem Dinge, noch mehr eben von solchen veränderlichen. Also wenn | wir uns an das Gegenwärtige 3–11 Vgl. Stolpe: „Unter Kirche denken wir allemal die organisirte Gesellschaft, die sich aber auf das Religiöse bezieht. Im Ausdruck Christenthum liegt nun der bestimmte Charakter des Religiösen. Dann deutet aber auch das Wort auf die Richtung, Neigung zur Bildung einer darauf gegründeten Gemeinschaft. Das Wesen des Christenthums ist also dasjenige wodurch sich die christliche Religion von andern unterscheidet. Weder dieses Specielle noch auch der allgemeine Begriff der Kirche kann nun bloß empirisch aufgefaßt [werden]: es ist dies eine solche Auffassung, die sich im äußerlichen Gegebensein des Gegenstandes begründet. Es giebt zwar eine solche überhaupt, nur müssen wir [sie] hier durchaus bei Seite setzen. Ein Princip zur Leitung der religiösen Gesellschaft kann auf diesem Wege gar nicht entstehen. Denn der Gegensatz des Bessern und Schlechtern ist durchaus nicht empirisch aufzufassen, sondern setzt ein Zurückgehen auf ein andres voraus.“ (S. 177)

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Bild des Christenthums halten, so ist darin alles untereinander und eine leitende Idee kann das gar nicht werden. Ein solches Bild ist gut für den Beobachter aber nicht für den, der handeln soll, denn der soll Ursach seyn, daß einiges wirkt, was sonst nicht war, und umgekehrt. Er muß also ein Maaß haben, ob dies oder jenes gut oder schlecht sey und das kann auf empirische Weise nicht aufgefaßt werden. Dasselbe ist auch schon für den Behuf unserer encyclopädischen Darstellung wahr. Denn auch nicht um den Zusammenhang der verschiedenen Theile der Theologie zu verstehen, kann uns solche empirische Vorstellung helfen. Jede Kirche hat ihre eigenthümliche Theologie, in wie fern die eigenthümliche Religion, worauf sie beruht, sich so oder so gestaltet. Das giebt das Empirische nicht. Das Wesentliche oder Zufällige könnte PzwarS durch das Empirische herausgebracht werden, aber dann müßte es eine unendliche Reihe der Erfahrung geben. Eine jede Vorstellung in wie fern sie vollendet, hat zwei Enden, wovon sie ausgegangen, vom Einzelnen und vom Allgemeinen. Das Empirische ist vom Einzelnen ausgegangen, damit kommen wir nicht aus. Wir müssen also vom Allgemeinen ausgehen. Wo liegt das und wo holen wir es her? Wenn wir erkenntlich seyn wollen, können wir nur auf eine Art anfangen. Wir werden sagen müssen, wenn es überhaupt eine christliche Theologie geben soll, so muß die christliche Kirche auf deren Erhaltung die christliche Theologie abzwekt, etwas Gutes seyn. Was gut ist, kann nicht zufällig seyn[, ist] nothwendig in der Idee der menschlichen Natur und aus dieser Idee heraus zu begreifen und kommen wir darauf, wo von der Anschauung die wir suchen die Wurzel liegt, sie kann nur in dem Guten liegen, d. h. in der Ethik. Nun werden wir wieder sagen müssen, diese Wissenschaft ist eine speculative Wissenschaft d. h. die es nur mit dem Allgemeinen zu thun hat und nicht mit dem Besondern als solchem. Wir suchen aber das Besondere als solches. Denn das Christenthum als Christenthum ist ein Besonderes. Können wir das in der Wissenschaft des Guten finden? Eigentlich nicht. Sondern so wie uns diese Wissenschaft wol begreifen lehrt, daß sich die Menschen zu Staaten vereinigen müssen, aber nicht dem heiligen Römischen Reich, so kann sie uns auch lehren, daß wir Religion haben müssen, aber nicht gerade das Christenthum. | Also was wir in der Wissenschaft des Guten finden und was wir aus ihr als ein Lemma nehmen können, das kann nur die allgemeine 25 Anschauung] über )Begriff* 27 KD1 Einl. § 23 (KGA I/6, S. 252) 37–10 Vgl. Stolpe: „§ 23. Wenn überhaupt eine leitende Thätigkeit in der christlichen Kirche Statt finden soll und also auch eine solche, vermöge deren ein späteres Moment als vollkommener erscheinen soll als früher: so fragt sich immer in Bezug worauf findet denn hier das Mangelhafte oder Voll-

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Anschauung seyn von Religion und Kirche. Das müssen wir in der Ethik finden, ob das, was wir Religion nennen, nothwendig ist in der Idee der menschlichen Natur und ob es nothwendig ist, daß aus ihr eine gesellige Relation sich gestalten muß. Aber weiter nichts und daraus müssen wir den Grund aller Theologie hernehmen. Wenn Religion und Kirche nicht ethisch begründet sind, so kann freilich der lebendige Trieb, Religion zu haben und in der Kirche zu seyn, in allen Menschen nichts desto weniger seyn, aber in wie fern wir sagen, daß das Wesen der Theologie in wirklicher Einsicht, in wirklichen Elementen beruht, so könnte dieses nicht seyn. Die Vollendung der Theologie beruht also nothwendig auf Ethik. Der Begriff ist aber nicht die leitende Idee, die den Theologen überall begleiten muß und von welchem er ganz durchdrungen seyn muß, denn es ist nur der allgemeine Begriff nicht der specifische Begriff des Christenthums. In einem jeden allgemeinen Begriff ist der Grund zu den besondern, die darunter enthalten sind, aber diese besonderen sind aus dem Allgemeinen nicht ganz zu construiren. Z. B. Wir werden sagen müssen, die Wissenschaft des Guten muß nachweisen den Begriff des Staats. Nun aber giebt es wieder ganz verschiedene Arten und Formen dieser Staaten, die sind in der allgemeinen Idee nicht begründet, sondern die haben in ihrer Besonderheit ihren Grund anderswo. Wo kommen also die besonderen her? Allerdings, wenn der allgemeine Begriff des Staats recht lebendig und anschaulich ist, so muß doch darin auf eine gewisse Weise das mit gegeben seyn, daß nun verschiedene Formen des Staats existiren können. Wenn wir uns den Staat auf eine lebendige Weise denken in der Thätigkeit, nun so kann diese Thätigkeit mehr gleich mehr ungleich vertheilt seyn unter den Einzelnen und so sehen wir gleich die große Verschiedenheit, Staaten wo sich viele activ verhalten, andre wo viele passiv. Aus der lebendigen Anschauung bekommen wir also die Möglichkeit der verschiedenen Gestaltungen. So weit müssen wir allerdings kommen. In der allgemeinen Idee muß enthalten seyn, was in ihr verändert werden kann. § 24. In der kommene statt, natürlich in Bezug auf die Natur des Menschen. In dieser ist alles Religiöse begründet. Wenn dies der menschlichen Natur nicht fehlen kann und auch nicht unvollkommen sein kann, so müssen wir zurückgehen auf die Erkenntniß der menschlichen Natur und zwar in Bezug auf die Entwicklung des Menschen nach der Idee des Guten, und dies ist nun das was wir durch den Ausdruck Ethik bezeichnen. Anthropologie oder Psychologie setzen wir hierbei voraus. Wir gehen nun in so fern auf die Ethik zurück als hier nachgewiesen sein muß, in wie fern die religiöse Erscheinung in den Entwicklungsgesetzen der menschlichen Natur begründet ist. Sobald nun in dieser Wissenschaft das Religiöse auf eine negative Weise im Allgemeinen bestimmt würde, daß es etwa nur vorkäme unter den Aberrationen, dann wäre eo ipso alles, was wir suchen, aufgehoben. Was vom Religiösen überhaupt gilt, muß sich nachher auf das Christenthum anwenden lassen.“ (S. 177) 32 KD1 Einl. § 24 (KGA I/6, S. 253)

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lebendigen Anschauung müssen die Keime alles Besonderen enthalten seyn, aber nur die Nothwendigkeit des besonderen und die Realität desselben, die kann in der allgemeinen Idee nicht liegen. Aus der allgemeinen Idee des Staats folgt die Möglichkeit der verschiedenen Formen, daß es diese aber geben muß, das geht nicht aus der allgemeinen Idee PmitS hervor. | So auch mit der lebendigen Idee des Christenthums und der christlichen Pflicht. Allerdings muß das seiner Möglichkeit nach nachgewiesen werden können in der allgemeinen Idee der Religion und der Kirche. So wie wir sagen können es giebt in dem Verhältnisse der Einzelnen zum Ganzen im Staat Differenzen, so gut müssen wir auch sagen: in demjenigen was das Wesen der Religion constituirt und in dem Verhältnisse der Einzelnen unter sich, in wie fern sie religiös sind, giebt es Differenzen. Aber das Besondere in seiner Wirklichkeit wie das Christenthum ist, das läßt sich daraus nicht mehr constituiren und liegt nicht mehr in der Ethik. Wohin gehört es? Dadurch bekommen wir den gemischten Begriff dieser Disciplin, die nicht in der Ethik liegt und auf der andern Seite noch nicht in der Theologie, aber die das Constitutive der ganzen Theologie, ihre Wurzel ist. Worin besteht PsieS? Darin, daß aus der lebendigen Anschauung von Religion und Kirche und den Differenzen welche die Möglichkeit verschiedener Gestaltungen begründen, daß daraus das Eigenthümliche des Christenthums und der christlichen Kirche in der Unterscheidung des Wesentlichen und des Zufälligen darin richtig entwikelt werde. Diese Aufgabe ist etwas, was sich von selbst isolirt, was vor dem eigentlich positiven Theil der Theologie hergeht, was das Philosophische Fundament anknüpft, was die Brüke ist. Es würde sie aber niemand lösen, als in Beziehung auf die Theologie, der die Lösung zur Norm dienen muß, daher ist es eine theologische Disciplin, material nemlich, formal unterscheidet sie sich von den andern, denn sie muß erst vorher gehen, wenn die andern positiven Theile der Theologie sollen begründet seyn. 6 PmitS] oder versehentlich ein zweites Mal PnichtS 8–10 Vgl. Stolpe: „§ 24. Auch das Veränderliche muß hier construirt werden: so daß die Religion auf verschiedene Arten sein kann; die daher unterschieden werden müssen. Da muß auch das Individuelle des Christenthums seinen bestimmten Ort bekommen. Wenn nun in der Ethik die religiöse Thätigkeit nachgewiesen wird, und dann auch die Natürlichkeit daß dieses die Basis einer bestimmten Gemeinschaft unter den Menschen wird, so muß auch die Möglichkeit da sein, daß eine Classification auf diesem Gebiete nachgewiesen werde.“ (S. 177) 16 KD1 Einl. § 25 (KGA I/6, S. 253) 16–19 Vgl. Stolpe: „Die Benennung: philosophischer Theil der Theologie [KGA I/6, S. 253,6f] ist etwas Schleiermacher Eigenthümliches: daher nicht nachzuweisen ist, daß diese Disciplin existirte als etwas, was für sich besteht.“ (S. 177) 24 KD1 Einl. § 26 (KGA I/6, S. 253)

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Wie soll denn nun aber diese Aufgabe gelöst werden? Die allgemeine Idee von Religion und Kirche die wird aus der Ethik genommen, aber wie kann diese Entwikelung des Specifischen des Christenthums PdarausS zu Stande kommen? Das Besondere läßt sich nicht aus dem Allgemeinen construiren, es muß also anders wo hergenommen seyn und wenn wir gleich gesagt haben, die empirische Vorstellung hilft nicht, so müssen wir doch darauf zurükgehen und das Christenthum muß uns gegeben seyn, das Empirische ist also auch conditio sine qua non. Das eigentliche Wesen besteht nur darin: das Christenthum muß nicht nur gegeben seyn, sondern wer diesen Prozeß machen will, muß es auf eine lebendige Weise in sich haben und auch schon das, was uns vorher fehlte, das Maaß, zur Unterscheidung des Wesentlichen und Zufälligen in sich haben, theologisch wird es erst, durch das Zusammenhalten des Empirischen an die allgemeine Idee. Dies ist in der That das Fundament der Theologie und das empirische das lebendige Seyn des Christenthums zusammengehalten mit jenem bildet die wahre Theologie. | Dies sind also die Disciplinen der philosophischen Theologie. § 27. wird aber gesagt, daß eine solche nicht da sey. Aus dem Vorigen ist wol hervorgegangen, daß diese Disciplin [nicht] in demselben Sinne eine Wissenschaft seye wie die Kirchengeschichte, sondern sie ist nur aufgestellt durch die leitende Idee. Eine strenge Form ist ihr nicht zugesprochen. Man kann auch sagen, daß diese Disciplin, in so fern sie in einer fortwährenden Reihe von Forschungen besteht nicht da ist, gar nicht da ist. Nur das ist da. Es giebt eine Disciplin, die man Religionsphilosophie nennt, welche die Darstellung von den Differenzen der verschiedenen Religionen ist, in wie fern sie dennoch in einer aufgehen. Diese ist aber eine kritische Disciplin, die sich an die in der Ethik aufzustellende allgemeine Religion anschließt. Sie ist keine theologische und keine philosophische Disciplin. In ihr ist allerdings mit enthalten das Erste, was in unsre philosophische Theologie hineingehört, die Differenzen. Aus ihr muß also herausgenommen werden, was für das Christenthum paßt und durch die Theologie verarbeitet werden. Sie hat aber schon einen viel mehr theologischen Character, indem man das Allgemeine darin vorzüglich mit dem Christenthum verglichen hat. Als Einleitung in die Dogmatik wird diese philosophische Theologie dargestellt, freilich nicht allein, sondern in Verbindung mit anderm. Sie ist die Wurzel der ganzen Theologie, nicht bloß der Dogmatik. Es ist also dies etwas Unvollkommenes und es ist zu wünschen, 3–4 PdarausS] oder PdadurchS 19 KD1 Einl. § 27 (KGA I/6, S. 253)

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daß aus diesen beiden Formen die philosophische Theologie herausgenommen und für sich bearbeitet werde. Aller Thätigkeit und allen Regeln dieser Thätigkeit muß also zum Grunde liegen diese leitende Idee von dem Wesen des Christenthums und der Differenz des Wesentlichen und Zufälligen darin. Wenn nun der Theologe diese Idee hat, worin besteht eigentlich die Thätigkeit die er auszuführen hat? Wir gehen hier zurük auf das geschichtliche Leben einer Religion als eigentliches Object des Theologen. In der philosophischen Theologie soll nun ausgebildet werden und ihm gegeben seyn das Christenthum als Idee, es ist aber vor ihm vorhanden in der geschichtlichen Existenz d. h. es ist vorhanden in einer Masse von Menschen in einer Religion, die sich vereinigen zur Kirche und dieselbe fortpflanzen. Was soll nun der Theologe thun hierin etwas zu ändern? Die Masse von Menschen in welchen die Idee des Christenthums lebendig existirt ist dem Verhältnisse in PwelchemS die Idee des Christenthums zu der allgemeinen PKraftS und Idee der Religion überhaupt steht noch nicht angemessen, das geschichtliche Gebiet des Christenthums erscheint ihm nach seiner Idee noch nicht vollständig und er geht also darauf aus, dasselbe zu vervollständigen, d. h. das Christenthum auszubreiten. | Das PwäreS die erste Thätigkeit. Wenn wir nun die Einzelnen betrachten, so kann nun die Idee des Christenthums, die in ihnen wirklich lebt reiner seyn und unreiner. Sie kann verfälscht seyn durch allerlei Mißverständnisse und dadurch wird ebenfalls das geschichtliche Daseyn der Religion gefährdet. Die ganze geschichtliche Existenz soll die Darstellung dieser Idee seyn. Alle Thätigkeit in wie fern sie Kirche leitend ist, muß sich darauf zurückführen lassen auf diese beiden unmittelbar oder mittelbar. Womit werden wir die Thätigkeit vergleichen können? mit der politischen, mit der pädagogischen. Der Staatmann geht auch darauf aus den Staat zu vergrößern und daß in jedem die Idee des Staats 16 PwelchemS] PwelcherS oder PwelchesS

21 PwäreS] oder PwarS

15 KD1 Einl. § 28 (KGA I/6, S. 253) 15–28 Vgl. Stolpe: „Jedes geschichtliche Bestehen als ein Einzelnes ist immer in relativem Gegensatz gegen anderes: das was eben die Feststellung oder Sicherung [ist]: daß es dabei bleibt. Solange die Darstellung unvollkommen ist, ist das geschichtliche Bestehen das nicht, was es sein soll. Solange eins von jenen noch im Werden ist, so ist auch eine kirchenleitende Thätigkeit möglich und nothwendig, wären sie aber alle vollendet, so wäre ein Kirchenregiment nicht möglich. Solange es auch noch Ungleichheit giebt zwischen der großen Masse und solchen, die sich zur leitenden Thätigkeit eignen, so ist der letzte Theil noch nicht vollkommen.“ (S. 178)

§ 28.

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34 § 29.

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13v § 32.

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lebendig wohne. Diese sehen wir aber als Kunst an d. h. wir sagen es geschieht vieles im Staat und der Entwikelung der Menschen wodurch der Zwek gefördert wird oder gehindert. Der Einzelne ist in den Händen des Zufalls auf welchen Platz er gestellt ist. Aber der Staatsmann und der Pädagoge sollen aber thätig seyn um diesem Zufalle wo es seyn muß entgegen zu streben. Alles Einzelne muß aus dem Bewußtseyn und auf bewußte Weise hervorgehen auch bei dem Theologen. So wie der Staatsmann und Pädagoge gewisse Regeln und Grundsätze haben muß, so auch der Theologe und das ist die practische Theologie. Das System von Verfahrungsregeln zur Erreichung des Zweks hat Schleiermacher Technik genannt. Man nennt es sonst Theorie. Dieß scheint sich aber auf Anschauung zu beziehen und auf Handeln. Aber als Typus der Praxis, als etwas, das der Praxis vorher gehen muß liegt [es] nicht in dem Worte Theorie, sondern in dem Worte Technick, wodurch die Praxis zur Kunst wird. Die Idee der Composition muß auch in der Technik liegen. Die Theorie ist nur die Aesthetische. Die Theorie der Theologie wäre nichts anders, als die encyclopädische Darstellung in Verbindung mit dem ganzen Gebiete des Wissens überhaupt. Die Technick aber in der Theologie ist das Bestehen von Regeln, welche den Typus bilden für die unmittelbare Thätigkeit des Theologen. § 31. Diese Theologische Disciplin bildet den entgegen gesetzten Endpunct der Theologie wie von jener Seite die philosophische Theologie. Daher haben beide gleiches Schiksal gehabt. Es wollen sie viele nicht zur Theologie rechnen. Aber wir rechnen zur Theologie auch die Kunstregeln. Andre sagen: die Theologie ist der Inbegriff alles Wissens, der da nöthig ist zum Kirchenregiment. | Die practische Theologie richtet sich in ihrer Bearbeitung nach der Idee, die man von dem Kirchenregiment hat, denn durch diese wird sie bestimmt und in dieser Beziehung § 32. 1 KD1 Einl. § 29 (KGA I/6, S. 253) – Vgl. Stolpe: „Der Ausdruck Technik ist sonst nicht ungewöhnlich, doch ist die Analogie wohl leicht zu finden. Ein Werk, das die Grundsätze der Rhetorik aufstellte, hieß bei den Griechen τεχνη; so ist auch die Politik im praktischen Sinne eine τεχνη; darunter zu verstehen: die Regel des Verfahrens für die Thätigkeit, um ihren Zweck zu erreichen. In solcher Allgemeinheit müssen sich überhaupt alle Kunstregeln halten.“ (S. 179) 9 KD1 Einl. § 30 (KGA I/6, S. 253) 23 KD1 Einl. § 31 (KGA I/6, S. 253) 31 KD1 Einl. § 32 (KGA I/6, S. 254) – Vgl. Stolpe: „Ohne alle Ausnahme kann dieser Satz freilich nicht gelten. Jemand könnte uns ja das Kirchenrecht entgegenhalten: aber es ist auch wohl eben so wahr und bekannt, daß was die wissenschaftliche Grundlegung der inneren Verhältnisse der Kirche [betrifft], dort noch gar nicht von einer eigentlichen Theorie die Rede sein kann. Was das Kirchenrecht in Bezug auf die äußeren Verhältnisse betrifft, so giebt es eins dergleichen. Doch ist darüber erst kürzlich die Frage entstanden, ob dasselbe in den Kreis theologischer Vorlesungen gehöre; ob dies nicht den Juristen bloß anginge. – Liefe

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Es ist bearbeitet neuerlich die Homiletik, die Katechetik, aber in Bezug auf das Große und Ganze, wie einer zu Werke zu gehen hat, der einen großen Theil des Kirchenregiments hat, oder wie einer verfahren soll, der einen großen Zwek hat, davon ist so gut als nichts in der Form einer eigentlichen Technik behandelt. Die practische Theologie also in dem Materialen mangelhaft, wie die philosophische in der Form. Bis jetzt haben wir gefragt, nach welcher Idee hat der Theologe zu handeln? und da haben wir gefunden, daß es die philosophische Theologie ist. Dann haben wir gefragt: nach welchen Regeln? Das war practische Theologie. Nun müssen wir fragen: woraus handelt der Theologe? und das ist die historische Theologie. Seinen Zwek kann der Theologe nur erreichen von dem jedesmaligen Zustande aus, in welchem er die Kirche findet. Das ist der gegebene Zustand der Kirche, woran sein Handeln sich anschließen soll. Dies kann etwas sehr Geringes scheinen, weil bloß Erfahrung: aber daraus würden die Handlungen immer kunstlos und nichts wirkend seyn, er muß also Kunst haben. es auf die juristische Disciplin hin, so gäbe es leider dann wohl ein Kirchenunrecht.“ (S. 179) – Vermutlich bezieht Schleiermacher sich hier auf eine bereits länger währende theologisch-enzyklopädische Debatte über die Stellung des Kirchenrechts. Vgl. z. B. Johann Lorenz von Mosheim: Allgemeines Kirchenrecht der Protestanten, hg. v. Christian Ernst von Windheim, Helmstedt 1760: „Das geistliche Recht ist den Geistlichen seit sechzig Jahren zu wissen viel nöthiger geworden, als ehedem. Sonst trieben die Rechtsgelehrten diese Disciplin nur allein, und die Geistlichen glaubten nicht, daß dieselbe ihnen etwas angienge. Allein in den neuern Zeiten haben sich die Dinge gewaltig geändert. Die Herren Rechtsgelehrten haben in dem Kirchenrechte Meinungen ergriffen, davon man vorher nichts gewußt hat. Dieses erweckte die Geistlichen aus ihrem Schlummer, und zwang sie wider ihren Willen, das Kirchenrecht zu untersuchen, um die Rechte der Kirche, die unter den Händen der Rechtsgelehrten in den letzten Zügen lagen, aufrecht zu erhalten und dieselben zu vertheidigen.“ (S. 1f) Mit vergleichbaren Gründen nimmt auch Johann August Nösselt im dritten Band („Von der Anweisung zur rechten Führung des Amtes eines Lehrers der Religion“) seiner „Anweisung zur Bildung angehender Theologen“ (2. Auflage, Halle 1791) das Kirchenrecht im zweiten Abschnitt unter der Überschrift „Pastoraltheologie und Kirchenrecht“ in seine theologische Enzyklopädie auf. Hingegen heißt es bei August Hermann Niemeyer: Grundriß der unmittelbaren Vorbereitungswissenschaften zur Führung des christlichen Predigtamts. Ein Leitfaden akademischer Vorlesungen, Halle 1803, in Abschnitt III. „Grundriß der Pastoralwissenschaft“ in der „Einleitung“ über „Begriff und Hülfsmittel der Pastoralwissenschaft“: Wenn man deren Begriff „nicht über seine Grenzen ausdehnen“ wolle, könne „das, was dem Einzelnen gewisse positive Landesgesetze vorschreiben“, nicht „in ihren [der Pastoralwissenschaft] Kreis gezogen werden“; dies gehöre vielmehr „in das allgemeine und besondre K i rc h e n re c h t “ (S. 155), das bei Niemeyer auch außerhalb der Praktischen Theologie keinen Ort innerhalb der Theologischen Wissenschaften hat.

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§ 33.

§ 34.

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Wie und auf welche Weise kann er sich des Zustandes [der] Kirche bewußt werden? Die Erfahrung reicht nicht hin. Der richtige Gesichtspunct hiezu § 33. Die christliche Kirche ist ein Veränderliches, in welchem der jedesmalige Zustand begriffen werden muß als Product der Vergangenheit und als Keim der Zukunft. Man muß von einem jeden wissen, was er geworden ist, wie er geworden ist, dann kann ich nur sehen, was es gewesen ist und was es, wenn man es natürlich gehen läßt, werden muß. Darauf folgt unmittelbar § 34. daß der Theologe das, worauf und womit er wirken soll nicht verstehen kann, wenn er die Geschichte nicht kennt und diese Kenntniß ist der Begriff der historischen Theologie in ihrem ganzen Umfange. Wenn wir den Begriff so festhalten, so müssen wir fühlen, daß es einen vierten integrirenden Theil der Theologie nicht gebe, sondern daß an diesen drei der Theologe genug habe. Wenn er die Eigenthümlichkeit des Christenthums kennt und dadurch unterscheiden kann, was Wesentliches und Zufälliges, was gut was schlecht ist, wenn er den Zustand in welchem er die christliche Kirche findet wieder in Beziehung auf diese Idee weiß, wie jedes entstanden ist, wenn er dies alles kennt, so muß er auch wissen, worin die Aufgabe, die ihm in jedem Augenblick gegeben wird besteht. Kann er dazu noch die Regeln im Großen und Kleinen, nach welchen er handeln soll kennen, so läßt sich nicht | mehr denken, dessen er noch als Theologe bedürfte. Wenn wir betrachten, wie diese Eintheilung gegen die gewöhnliche steht, so bekommen wir ein wunderliches Resultat. Die Practische Theologie schließen viele von der Theologie aus, die philosophische Theologie ist erst im Werden, also steckt die ganze Theologie ganz in dem, was wir die historische nennen. Dieses könnte nun doch ein bloßer Wortstreit hier seyn, wenn im historischen Begriff alles liegt, was gewöhnlich aufgeführt wird als selbstständige theologische Disciplin. In diesem Falle ist es bloß ein Wortstreit. Wenn aber jene Disciplinen mit unter die Historie begriffen werden, so haben sie einen historischen Character, wenn man sie nicht darunter begreift so bekommen sie einen eigenthümlichen Character, und es ist kein Wortstreit. Die meisten theilen ein: 1. die exegetische Theologie 2. die historische – 3. systematische – Alle diese verschiedenen Elemente werden wir wieder finden in unsrer Eintheilung der historischen Theologie. 2 KD1 Einl. § 33 (KGA I/6, S. 254)

9 KD1 Einl. § 34 (KGA I/6, S. 254)

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Die exegetische Theologie besteht wesentlich in der Kenntniß der Urkunden des Christenthums. Nun in einem gewissen Sinne rechnet ein jeder philologische Kenntnisse mit zum Historischen und darüber scheint also in so fern hier kein Streit zu seyn. Der technische Fortschritt darin ist nichts als das historische anzuwenden. Der Inbegriff davon ist die Auslegungskunst und das ist bei allen Dingen der Fall, denn auch zur Geschichte gehört Kritik. Aber man sagt: ja der Theologe soll die christlichen Urkunden nicht nur auf diese Weise historisch wissen, PwennS er auch die Schriften der Kirchenväter historisch wissen soll und anderes, sondern die christlichen Urkunden haben einen eigenthümlichen Werth und ihre Kenntniß muß eine andre seyn als eine andre und darum müssen sie von dem Geschichtlichen getrennt werden, weil man sie nicht bloß wissen, sondern glauben soll. Hier gleich ein andrer Gesichtspunct. Ist das, was in den Urkunden anders als historisch ist, ist das in die Theologie gehörig oder eigentlich nicht, sondern nur die Religion das christlich religiöse überhaupt? Dann ist doch die Theologie nichts anderes als nur das Historische. Die andre Disciplin, die bei uns zur historischen gerechnet wird, ist die systematische Theologie. Was ist diese? Man sagt: es ist die Kenntniß von den religiösen Vorstellungen, wie sie in Begriffen und Sätzen gefaßt sind. Wir sagen | sie sind doch ein Element der Geschichte und das Wissen um diese Vorstellungen ist kein anderes als geschichtliches. Auf der andern Seite sagt man: das ist es nicht allein, das ist noch nicht die Kenntniß davon, wie die religiösen Vorstellungen abgesehen von ihrem Geschichtlichen sich zu einander verhalten und was das Wahre und Falsche ist. Das ist ein andres als ein historisches Wissen und darum muß sie ganz von der historischen Theologie getrennt seyn, denn sie ist demonstrativ und hat deßhalb einen philosophischen Character. Wenn dies zugestanden wird, so ist es Unrecht, diese Disciplin unter der historischen Theologie zu begreifen. Die Frage ist nun: ist die Dogmatik eine demonstrative Wissenschaft oder nicht? Die Dogmatik für eine solche zu PerachtenS ist das Christenthum ganz aufheben und das Christenthum in eine philosophische Schule verwandeln. Wenn man die religiösen Vorstellungen des Christenthums beweisen kann entweder an und für sich, oder bestimmte Arten, wie sie gefaßt werden im Gegensaz gegen andre, so können sie bewiesen werden entweder aus Vernunftprincipien. Nun dann versiren wir ganz in der Philosophie. Thun wir dies, so kann die religiöse Gemeinschaft nur philosophische Mittheilung seyn, die Kirche kann also nicht mehr seyn und geht die Religion aus der Vernunft hervor so ist sie eine 9 PwennS] oder PwieS

16 sondern nur] elliptisch zu ergänzen in

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§ 35. und 36.

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Wissenschaft und man kann sie jedem andemonstriren und sie hört auf eine Sache des Herzens und des Glaubens zu seyn. Oder wir sagen: die Religion soll nicht aus der Vernunft bewiesen werden, sondern aus der Schrift. Nun dann sind wir nicht so verschiedener Meinung als es wol scheint, denn dann gehen wir ja auf etwas durchaus historisches zurück. Man kann sie also nicht [aus] dem historischen Gebiet herausheben. Man könnte aber noch ein PDrittes versuchenS. Die religiösen Vorstellungen sollen bewiesen werden nicht aus der Vernunft, nicht aus der Schrift, sondern aus dem, was beiden zum Grunde liegt, aus der Idee des Christenthums. Dann wäre also die Dogmatik das Resultat der Dogmengeschichte PmitS dem was die Hauptsache in der philosophischen Theologie ist. Ist die philosophische Theologie nicht, nun so ist doch nur das Geschichtliche darin ganz gewiß, ist sie, so hat sie doch nur ihren Theil daran. Wir müssen die Frage so stellen. Ist in der christlichen Kirche irgend wo etwas apodictisches oder wenn das nicht, etwas allgemein Uebereinstimmendes über das Wesen des Christenthums. | Wenn das wäre, dann müssen wir sagen: es gebe nun ein anderes Verfahren mit den religiösen Vorstellungen: welches nicht als ein historisches angesehen werden könnte; aber das ist ja nicht der Fall. Die christliche Kirche trägt zwar das Wesen des Christenthums in sich, aber sobald von dem Aussprechen dieses Wesens und von den Begriffen davon die Rede ist, so ist nichts davon da, als Allgemeines. Was nicht historisch ist, wird also bloß subjectivisch hingestellt, was objectiv gar nicht seyn kann. Wie man sich also diese Sache stellt, darauf beruht es eigentlich ob es Recht ist, die systematische Theologie unter die historische zu subsumiren, oder sie davon zu trennen und entgegenzusetzen. § 35. 36. Man kann Geschichte nicht verstehen, als nur in Bezug auf eine Idee. Das ist wol ganz klar, denn wenn wir etwas geschicht11 PmitS] oder PundS 28 KD1 Einl. §§ 35–36 (KGA I/6, S. 254) 28–9 Vgl. Stolpe: „Eine bloße Kenntniß davon, wie die Gegenstände verschiedener Momente auf einander gefolgt sind: das ist keine Geschichte. Denkt man sich: es wüßte jemand alle Begebenheiten, die sich in drei Jahren in einem Staate ereignet haben: so kann man durchaus nicht sagen: er wisse Geschichte, sondern es muß ein Zusammenhang gedacht werden zwischen diesen Momenten. In dem Ausdruck ein Moment wird dargestellt in Bezug auf den vorhergegangenen darin liegt schon, daß der Zusammenhang mit dem früheren und gegenwärtigen Moment mitgedacht wird. Sagen wir: Geschichte giebt es nur von etwas Lebendigem: dann sind diese verschiedenen Zustände, die auf einander folgen, verschiedene Erscheinungen desselben Gegenstandes und müssen auch in der Natur desselben ihren Grund haben. [...] Wer vom eigentlichen Wesen des Christenthums ausgeht, denkt sich eine natürliche Entwicklung desselben, nun aber ist die Geschichte, d. h. die wirkliche Entwicklung, gegeben. Immer ist die geschichtliche Behandlung eine nothwendige Auslegung des Geschehenen. Sage ich nun die historische Theologie enthalte die Bewährung

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lich verstehen, so meinen wir doch, daß wir es im Werden verstehen, wir müssen es also auf eine Idee beziehen, sonst haben wir gar kein Maaß und können das positive mit dem negativen verwechseln. Wenn wir z. B. die Idee der Gesundheit nicht haben, so werden wir von einem wassersüchtigen, wenn er curirt ist, nichts andres sagen, als er hat abgenommen der arme Mensch. So kann jemand nur das Geschichtliche in der Theologie wissen, wenn er es auf die Idee bezieht. Die philosophische Theologie also in so fern sie der Besitz der leitenden Idee ist, liegt der historischen Theologie zum Grunde. In der philosophischen Theologie haben wir sie in der Ruhe in der historischen in Bewegung. Also daß wir durch das fortschreitende Geschichtliche Studium ein zusammenhängendes Bild bekommen von der Kirche im Werden, das leistet uns Gewähr daß die Idee die wir uns davon gemacht haben die richtige ist. Ohne diese Idee werden wir ein Verworrenes haben. Wenn z. B. jemand ist, der das Wesen des Christenthums in etwas ganz andres setzte, der wird also alle Bestrebungen in der christlichen Kirche, die auf das wirkliche Wesen gerichtet sind, für Verirrungen halten müssen, je mehr also diese Anstrengungen die Hauptsache bilden in der Geschichte der christlichen Kirche so wird er sagen, in der christlichen Kirche wie sie ist, ist das meiste aus Verwirrung der Menschen entstanden. Eben so wenn einer das Wesen des Christenthums darin setzt worin es liegt, ihm ist das aber Superstition, so muß ihm die Geschichte der christlichen Kirche nichts seyn, alle eine Collection von Thorheiten und das ganze Bestreben muß darauf gerichtet seyn, dies umzustürzen. Die historische Theologie in diesem Sinne also immer die Bewährung der philosophischen Theologie. | Hat man etwas Zusammenhangendes, nun so ist man auch von der richtigen Idee ausgegangen. Aber die historische Theologie schließt auch die Begründung der practischen in sich. Die historische Theologie liegt also genau in der der philosophischen Theologie, so erhellt dies schon daraus, daß jeder sein Verständniß vom Wesen des Christenthums durch die Geschichte zu bewähren sucht. Stände die philosophische Theologie fest, so könnte man sagen, diese wäre die Begründung der historischen Theologie. Doch ist das noch nicht der Fall, sondern das theologische Studium in Bezug darauf noch im Werden.“ (S. 180) 30–1 Vgl. Stolpe: „Nun aber wird kein weiterer Theil aufgeführt und aus der Art, wie die einzelnen Theile bezeichnet sind, erhellt auch, daß sie der Absicht nach das Ganze darstellen sollen. Es scheint nun als ob diese ganze Darstellung sehr unvollständig ist: Die Kirchengeschichte ist das zuerst in die Augen Fallende, dasselbe ist mit der Dogmengeschichte der Fall. Wie steht es nun aber mit der exegetischen Theologie? Sollen wir sie in der praktischen Theologie suchen?] [...] Nun aber noch mehr. Fragen wir: wo bleibt denn die Dogmatik und die christliche Moral? Da ist noch weniger der Ort gleich auszumitteln. In der philosophischen Theologie ist an die Dogmatik gar nicht zu denken, obgleich man sie häufig mit diesem Namen bezeichnet hat. Ist nun hier nicht die Rede von der Dogmatik, so ist es auch nicht von der Moral.“ (S. 181)

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§ 37.

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Mitte zwischen der philosophischen und practischen. Es giebt überhaupt geschichtliche Begriffe und Subsumtion unter diese Begriffe nur in Bezug auf eine Idee, aber auch darin, daß man jedes Einzelne betrachtet und was aus ihm geworden und wie ist das was ist geworden aus dem was war. Wie ist dies auszumitteln? Da kommen uns zweierley Arten des Werdens entgegen: diejenige die wir als von den Einzelnen oder von dem Ganzen gewollt ansehen können und diejenige, die wir als nicht gewollt ansehen, es kommt uns überall entgegen zwischen dem Absichtlichen und Zufälligen. Nemlich was mit den Zweckbegriffen einzelner übereinstimmt ist das Absichtliche. Das Zufällige ist, was ohne den Willen derer, welche eine Sache bearbeiten aus entgegengesetzten Dingen hervorgeht. In diesem Sinne enthält also die historische Theologie die practische; in so fern die Regeln construirt werden, so können sie nur aus dem geschichtlichen Wissen gemacht werden. Regeln können nicht gegeben werden ohne Exemplificationen. Das Exempel braucht gerade nicht da zu seyn, aber er kann es doch in seinem Wissen haben, erst wenn jemand so Beispiele für die Regeln hat, dann entsteht ihm die rechte Anschaulichkeit. Hiernach müssen wir auch die Ordnung des theologischen Studiums ihrem Wesen nach ausbilden. Zuerst in demjenigen was die Basis des theologischen Studiums außerhalb ist. Dieser Gegenstand ist hier nicht in dem ganzen Umfange behandelt, nemlich es ist hier nur angeführt die Ethik als Wissenschaft der Principien, also dasjenige was bei jedem theologischen Studium vorausgesetzt werden muß; diese steht hier allein, weil sie die Basis ist PundS leitende Idee und durch die philosophische Theologie die historische und practische hervorbringt. Letztere haben auch ihre Basis außer sich, die aber hier nicht mit aufgeführt sind, theils weil man sie nicht begreifen kann ehe man sie studirt hat, theils weil sie nicht der ganzen Theologie vorangehen. § 37. kann wol Einschränkungen leiden. Man kann sagen es ist hier zweifache Fortschreitung, die wir immer im Auge haben müssen, nemlich wie von einem geringen Grade der Klarheit des Bewußtseyns zu einem größeren | die vollständige Einsicht aus der unvollständigen und die Fortschreitung in dem Realen. Die philosophische Einsicht in den innersten Grund alles Geschichtlichen, in die Art, wie alle menschliche Thaten und ihre Resultate in der Idee der menschlichen Natur begründet sind und zusammenhängen, die soll das maximum der Klarheit in sich haben. Der Theologe soll fortschreiten in der Klarheit von der geringen. Können wir also sagen, daß er diese höchste 25 PundS] oder PdieS 30 KD1 Einl. § 37 (KGA I/6, S. 254)

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Klarheit schon vor dem Studium der Theologie haben soll? Das scheint [ein] Widerspruch. Die vollständige Klarheit aber in der Philosophie auch etwas allmählich Entstehendes und es soll einer also nicht eine vollkommen ausgebildete Einsicht haben, sondern in so fern die philosophische den andern zum Grunde liegen muß. Auch die Theologie wird zurükwirken positiv oder negativ auf die Philosophie. Die Ethik ist die specielle philosophische Basis für das Studium der Theologie.89 Der Theologe muß wissen was die Kirche in der Geschichte der Menschen überhaupt bedeutet und allmählich zu einem klaren und sichern Zusammenhang gelangen über alle Dinge. Wenn wir die Theologie in ihrem innersten Zusammenhang betrachten, so ist die philosophische Theologie die Wurzel der gesammten Theologie, in so fern die philosophische Theologie die historische begründet und diese die practische. Nun muß aber nicht ein Studium gerade beendigt seyn, wenn man das andre beginnt, denn es ist keines jemals vollendet. Streng genommen ist auch nicht die Rede des Anfangens eines Studiums vor dem andern; das Studium ist der Fortschritt von einem unvollendeten Zustande zu einem vollendeten. Jeder hat in sich das Wesen des Christenthums und der christlichen Kirche also den ersten Keim, was in der philosophischen Theologie zu einer Wissenschaft ausgebildet seyn soll, wie sollte er auf diesen Keim nicht die historische Theologie gleich mit anfangen? Davon ist also auch nicht die Rede. Also reden wir nur von dem Uebergewicht des Einen oder des Anderen in der Zeit des Studiums. Es wird jedem einleuchten, daß es verkehrt sey, mit der practischen Theologie anzufangen, weil es dasjenige ist, in dem die Thätigkeit in der wir alle sind, schon einen solchen Vorschub findet, daß in kürzerer Zeit mehr darin geleistet werden kann, weil das ganze Leben gleichsam eine Vorbereitung dazu ist, und je mehr sie ins Große PgehörtS, desto mehr muß man in die Geschichte zurükgehen. | 89

Es sind zweierley Ansichten woraus sich der Grund einer Sache philosophisch herleiten läßt. 1. aus der Ansicht der Vernunft. 2. aus der Ansicht der Natur. Jene muß allem Studio zum Grunde liegen, wenn es überhaupt etwas Höheres ist, diese ist aber nur die specielle Basis der Theologie.

11 KD1 Einl. § 38 (KGA I/6, S. 254) 12–13 Vgl. KD1 Einl. § 26 (KGA I/6, S. 253,8f) 18–23 Vgl. Stolpe: „Was weiter gesagt ist, daß nämlich die philosophische Theologie sich jeder selbst bilden müsse, setzt nun freilich mancherlei im Folgenden Entwickeltes voraus. Das Selbstausbilden ist nicht so, als ob die philosophische Theologie ihrem Inhalte nach erst geschaffen werden müßte. Wenn die Elemente der philosophischen Theologie gegeben sind, so stehen sie in der historischen oder praktischen Theologie. Die Aufgabe nur diese, daß indem die historische Theologie gemacht wird jeder an die Zusammenstellung der Elemente, die die philosophische Theologie bilden, denken solle.“ (S. 182) 24 KD1 Einl. § 39 (KGA I/6, S. 255)

§ 38.

§ 39.

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§ 40.

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Die practische Theologie gehört also dahin, wo der Theologe anfängt einzugreifen in seiner Laufbahn auf eine thätige Weise. Eher wird es weder zweckmäßig seyn, noch mit einem guten Gewissen vereinbar. Die philosophische Theologie enthält die Begründung der Historischen. Wie wird uns die geschichtliche Betrachtung helfen, wenn wir die Idee nicht haben? auf irgend eine Weise haben wir die Idee schon, wir müssen in der Entwickelung immer in derselben begriffen bleiben. Das Erheben der historischen zu einer wissenschaftlichen Dignität läßt sich also recht gut damit verbinden, zumal die philosophische Theologie noch nicht ausgebildet ist. Sie ist aber als eigne Disciplin nicht ausgebildet, sondern sie liegt in der Religionsphilosophie und der Dogmatik. Es ist also sehr gut, wenn der angehende Studiosus die Religionsphilosophie studirt. Jedoch auf die eigne Hand ist es nicht zu rathen. Die Sache ist sehr in Verwirrung jetzt, indem aus der Orientalischen Geschichte Vieles aufgenommen ist, was noch nicht im Klaren ist. Wir werden also mehr auf das andre gewiesen, was in der Dogmatik liegt. Mit der kann man aber nicht anfangen. Es ist also etwas Unvollkommenes, daß die philosophische Theologie erst mit jeder Disciplin klarer und vollkommener wird. Darum halte die Idee ein jeder in seinem Innern fest bis er mehr aus dem Einzelnen sie herausholen kann. Man mag anfangen, wo man wolle, man wird immer auf etwas Unvollkommenes stoßen, indem man sich doch immer auf etwas anderes berufen muß.

3 weder] entweder 5 KD1 Einl. § 40 (KGA I/6, S. 255)

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I. Theil. Von der philosophischen Theologie. Einleitung. 5

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Sie pflegt behandelt zu werden in der Religionsphilosophie und in der Einleitung der Dogmatik, aber unvollkommen. Es kommt aber etwas darauf an, das Eigenthümliche der Elemente, die diese Disciplin bilden sollen, hier zu geben. Das steht in einer Art von Widerspruch damit, daß unsre Encyclopädie es bloß mit dem Formalen zu thun haben soll. Thun wir das, so halten wir uns bloß an den Begriff, wie muß sie zusammengesetzt seyn. Wir gehen zurük auf § 22 der allgemeinen Einleitung, daß das Wesen des Christenthums nicht bloß empirisch aufgefaßt werden könne. Eben so wenig läßt sich nun aber das Wesen 4 KD1 I Einl. § 1 (KGA I/6, S. 256) 8–9 Vgl. KD1 Einl. § 21 (KGA I/6, S. 252,15– 18) 10–12 Vgl. KD1 Einl. § 22 (KGA I/6, S. 252,19–23) – Vgl. Stolpe: „Sie [die Einleitung] knüpft an das: was in der allgemeinen Einleitung gesagt war zu nächst an § 22. Es hieß dort: Das eigenthümliche Wesen des Christenthums woraus wieder die leitende Thätigkeit in der christlichen Kirche verstanden werden kann, ließe sich nicht empirisch auffassen, hier heißt es nun § 1: es ließe sich auch nicht rein wissenschaftlich aus Ideen ableiten. Hier soll aus diesem Negativen zu dem Positiven geschritten werden. Das eigenthümliche Wesen des Christenthums empirisch auffassen: wie wollte man das anfangen; offenbar müßte man die christliche Kirche in ihrer ganzen Ausdehnung und Ausbreitung betrachten. Wenn nun von dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums die Rede sein soll, so kann dies nur solche Elemente enthalten, die außerhalb der christlichen Kirche nicht gefunden werden können. Man müßte also zusammenführen aus allem | in der christlichen Kirche Vorkommenden das was nur in der christlichen Kirche aber auch immer in derselben ist. Wenn wir nun fragen: was möchte dasjenige wovon man das am gewissesten behaupten könne [sein], so liegt das nahe zu sagen: das ist der Glaube an Christus. Wo das ist, da ist christliche Kirche. Will man dies festhalten, so ist es nöthig auf nähere Bestimmungen einzugehen. Erstlich nämlich unter den Juden ist es Glaube an Christus, Christus ist ja ein nomen officii, also eine Idee an welche die Juden, die die messianische Idee annehmen, auch glauben, ebenso ist auch ein Glaube an Christus bei den Muhamedanern, welche die Person Christi als Prophet anerkennen. Nehmen wir die Sache rein empirisch, so finden wir daß immer die einen zu den anderen sagen: Hört mal ihr glaubt nicht an Christum. Andre sagen: ihr seid mir die rechten, wenn ihr sagt ihr glaubt an Jesum als Christum, da könnt ihr viele zu Bekennern Jesu rechnen, die nur Namenchristen sind. Es ist also hier ein einander Gegenübertreten in Bezug auf die näheren Bestimmungen. So wie man sagt man muß den äußeren Umfang der christlichen Kirche von dem eigentlichen Umfange der christlichen Kirche unterscheiden, so sind wir gleich aus dem erscheinungsmäßigen Gebiete geworfen. Alle diese Dinge können empirisch nicht entschieden werden.“ (S. 182f) 12–1 Vgl. Stolpe: „Was rein wissenschaftlich ist, darunter verstehen wir alle wohl dieses: das muß so

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des Christenthums rein wissenschaftlich construiren. Empirisch kann es nicht bloß aufgefaßt werden, weil durch die Erscheinung nicht das Gesunde vom Kranken geschieden werden kann. | Wenn es nicht kann empirisch aufgefaßt werden, so muß man zurükgehen in die allgemeinen Ideen, die können überhaupt nur Realität haben, in wie fern sie Glieder eines Systems sind. Darin muß sich die Religion und die Bildung der religiösen Gemeinschaft finden. Ist diese allgemeine Idee gegeben und sollen wir sie aus der Ethik hernehmen als ein Lemma und dort erwiesen als nothwendig in der menschlichen Natur gegründet, so fragt sich, wie kommen wir zum Wesen des Christenthums? Die Ethik soll die Idee der Religion nicht bloß als Formel, sondern als lebendige Anschauung enthalten, so daß also das Veränderliche mit dem Unveränderlichen nachgewiesen wird. Wenn wir eine lebendige Anschauung haben wollen von der Religion im Allgemeinen, so müssen wir darin auch dasjenige sehen, was sich in verschiedenen Gestaltungen verschieden verhalten kann. Aber das kann in jener Wissenschaft die vom Allgemeinen ausgeht auch nur auf allgemeine Art geschehen. Die Ethik muß uns eben so gut nachweisen die allgemeine Idee des bürgerlichen Lebens. Der Staat ist nur ein Gegensatz von Obrigkeit und Unterthan und das Leben darin. Das ist bloß Formel, wollen wir die lebendige Anschauung haben, so müssen wir den Umfang der Differenzen kennen. Aber das kann nur wieder allgemein seyn. Der Staat kann so seyn, daß Einer oder Mehrere bloß Obrigkeit, alle anderen Unterthanen sind, es kann so seyn, daß alle bald Obrigkeit bald Unterthanen sind. Das alles ist nur auf eine allgemeine Weise und daraus geht nicht hervor das Bild eines bestimmten Staats. Eben so mit der allgemeinen Idee der Religion. Wir wollen uns mit der Materie nicht einlassen, können also die Idee nicht analysiren. (So werfen wir also folgendes nur so hin: Die Religion kann erscheientwickelt sein, daß jeder der dem Gedankengange nachfolgen kann auch seine Überzeugung zugeben muß; nur das ist rein wissenschaftlich was auf dem Gebiete wo es vernommen werden kann, die Überzeugung nach sich zieht: dieses keineswegs eine Definition sondern mehr ein charakteristisches Merkmal. Von dem was wissenschaftlich abgeleitet werden kann, muß auch die Überzeugung nachgewiesen werden. Wollten wir annehmen: das eigenthümliche Wesen wäre so abzuleiten, so müßten wir zugeben, daß die Überzeugung allen, die auf einer gewissen Erkenntnißstufe stünden, zugänglich wäre. Dieses leugnet aber die christliche Kirche völlig. Es wird besonders hervorgehoben, daß es nicht nur denen zugänglich sondern früher aufgenommen wäre als von denen, die auf dieser Stufe stehen, dieses der Gegensatz der Unmündigen und Waisen [vgl. Mt 11,25]. Andrerseits daß durch wissenschaftlichen Gedankenverkehr die Überzeugung vom eigenthümlichen Wesen entstehen müsse, leugnen wir gänzlich, sondern behaupten nur daß sie nur entstehe in Folge einer Bedürfniß [vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, Sp.698] des Gemüths.“ (S. 183) 7–10 Vgl. KD1 Einl. § 23 (KGA I/6, S. 252,24–27)

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nen als eine natürliche oder geoffenbarte. Ist sie eine natürliche, die sich allmählich mit dem ganzen übrigen Leben entwikelt hat, nun so könnte die Basis diese oder jene einzelne Richtung, dieses oder jenes einzelne Vermögen seyn. Ist sie eine offenbarte so kann die ursprüngliche Offenbarung seyn die Art, wie das religiöse Princip in Vorschriften des Lebens ausgeht, die Offenbarung kann das Gebot seyn und daraus die Lehre entwikelt oder durch die Offenbarung ist die Lehre und was sich daraus gebildet das Gebot. Hieraus entsteht immer noch nicht die Vorstellung der einzelnen Religion.) Wenn das Eine eben so wahr ist als das Andre, das Wesen des Christenthums kann nicht empirisch und nicht speculativ aufgefaßt werden, so kann § 2. nur die Vergleichung des empirisch Aufgehobenen statt finden mit der Idee der Kir12–1 mit der Idee der Kirche] Kj nach KD1 I Einl. § 2 (KGA I/6, S. 256,10f) mit dem in der Idee der Kirche als veränderliche Größe Gesetzten 11 KD1 I Einl. § 2 (KGA I/6, S. 256) – Vgl. Stolpe: „Wir dürfen nicht verwechseln die Überzeugung vom Christenthum, die in jedem ist, in so fern er ein Christ ist, und die Erkenntniß vom eigenthümlichen Wesen des Christenthums, die wir suchen zum Behuf der Theologie. [...] Wo die Überzeugung die wir als Theologen suchen ist, muß die auf gewisse Weise gegeben sein, die jeder als Christ hat, keinesweges aber umgekehrt. [...] | [...] Die Erkenntniß die wir als Theologen suchen, gehört nicht zu dem, was wir voraussetzen, sondern wovon wir abstrahiren. Wenn also gefragt wird: welche Art von Gewißheit hat denn diese Erkenntniß? Jene ursprüngliche empirische Erkenntniß, müssen wir sagen, hat sie nicht, so PwieS die ursprüngliche wissenschaftliche Erkenntniß. Es muß also eine andre geben, nämlich die kritische Gewißheit. Darauf bezieht sich eben das hier erwähnte Gegeneinanderhalten. Diese Gewißheit kann auch einer haben, der nicht im Christenthum lebt: es braucht dies nicht die Überzeugung davon zu sein, daß das Christenthum die Erscheinung ist, in der ich versire. Wenn gleich die Erkenntniß auch solchen muß mitgetheilt werden die nicht Christen sind, so ist doch das Interesse, das die Frage voraussetzt, nur in denen vorauszusetzen, die im Christenthume sind; also haben wir die Operation nur von dieser Voraussetzung anzustellen. Das zweite Hauptelement ist nun das in der Idee der Religion und Kirche als veränderliche Größe Gesetzte. [...] Wenn man alle Religionsformen zusammen hat, so wären dies die Gesammtäußerungen der ganzen religiösen Tendenz des Menschen, verschieden sind sie und als solche werden sie erkannt unabhängig von der Beurtheilung, wodurch man die eine der andern vorzieht. Die Verschiedenheit hat jedoch einen Zusammenhang mit dem in allen Religionen Identischen: das Verhältniß nun, in welchem mit diesem, was in allen identisch ist, doch eine Richtung, verschieden zu werden, verbunden ist, muß sich eigentlich aus der lebendigen Darstellung der Idee selbst ergeben. Wenn wir uns denken die Zoologie, so kommen da die verschiedenen Formen des thierischen Lebens vor: sie sind etwas Individuelles. Eben so auf dem politischen Gebiete. Soll der Begriff Staat in uns lebendig sein, so müssen wir sagen können, wenn in dem Mannichfachen ein bestimmtes Übergewicht des Einen ist, dann entsteht dieser Typus, so wenn ein bestimmtes Übergewicht des Andern ist, dieser Typus. Die Keime des Individuellen liegen alle in diesem Veränderlichen. Davon ist § 2. die Rede, und jenes Gegeneinanderhalten: woraus das Resultat einer kritischen Operation entstände, ist eben dieses. In Folge dieser Operation ist jede geschichtlich gegebene Religionsform nur im Verhältniß zu anderen zu verstehen. In so fern wir uns dies denken im theologischen Studium, so werden wir sagen können, mir kommt es nur darauf an, das Christenthum zu verstehen.“ (S. 183f)

§ 2.

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che. Wenn man sagt, man könne das Wesen des Christenthums empirisch auffinden, so ist das bloß Täuschung, denn man könnte doch nur PdurchS Hypothesen heraus kommen und man nehme statt etwas Gesetzmäßigem etwas rein Willkürliches. Dies findet überall statt, wo man so zu Werke geht. Wenn man unterscheiden will, was dem Wesen angehöre oder nicht, so muß man eine Idee vom Zwecke zu Grunde legen. Das ist etwas andres als PdasS Empirische, aber bloß Willkürliches. Z. B. Es könnte jemand sagen, ich will das Wesen des Christenthums bloß empirisch auffassen, ich kann das nicht wenn ich das Christenthum nur betrachte, wie es in irgend einem Momente erscheint. Aber wenn ich mehrere Momente mit einander vergleiche, | und finde nun was durch alle Momente geht und wieder was in den meisten fehlt, so muß doch wol jenes das Wesen dies das Zufällige seyn und so kann ich ja dies finden. Aber wir finden immer Momente, wo in einzelnen Theilen nichts gefehlt hat. PJaS das Wesen des Christenthums beruhe auf den Urkunden (haben einige gesagt). So können wir ja Zeiten nachweisen, wo das gar nicht existirt hat und wir finden Secten, die das ganz verwerfen und doch geben die sich für PChristenthumS aus und wir müssen sie auch dafür anerkennen. Andre sagen: das Christenthum bestehe aus dem Glauben an den Christus. Worin besteht aber dieser Glaube? Wir finden immer gewisse Gesellschaften die das nicht angenommen haben. Wovon wir ausgehen, so können wir immer dasselbe PsagenS und was aus allem Einzelnen nicht hervorgeht, das kann auch aus dem Allgemeinen nicht hervorgehen. Noch könnte man sagen: [wird] das Christenthum im Vergleich mit andern Religionen betrachtet, so muß das Wesentliche seyn, was sich in den andern nicht findet und was es mit den andern gemein hat, das kann nicht das Wesentliche seyn, aber da müßte eine unendliche Reihe von Erscheinungen seyn und man kommt damit nicht durch. Ferner könnte man sagen: gehe man nur vom allgemeinen aus, so wird man immer auf etwas besonderes kommen. Dadurch bekommt man immer nur eine Menge verschiedener Möglichkeiten. Man kann das Einzelne nicht construiren aus den allgemeinen Ideen. Das Wahre kann nur da gewonnen werden, wo man das Willkürliche von beiden sondert und von beiden ausgeht. In der allgemeinen Idee finde ich etwas, womit ich die einzelnen Erscheinungen vergleichen kann. Alle Ableitungen aus der allgemeinen Idee, alles speculativ Construirte was wir zu Hülfe nehmen können zum Empirischen, das sind nur verschiedene Gesichtspuncte, aus denen sich eine 19 für PChristenthumS] oder für PChristenS 22–23 angenommen haben. Wovon wir ausgehen] Kj angenommen haben,wovon wir ausgehen 23 PsagenS] oder PseynS

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bestimmte Gestalt bilden läßt, und die geschichtliche Erscheinung in die allgemeine Idee aufgeht. § 3. muß dazu genommen werden. Auch dies Verfahren läßt sich nicht etwa mit dem Christenthum allein anstellen, auf eine ganz genügende Weise. Es würde dann dem Verfahren immer an seiner Probe fehlen. Denn was so aus Vergleichung hervorgeht, hat keine apodiktische Gewißheit. Die Gewißheit hat man nur, wenn man supplirt, was nicht eigentlich geschehen ist, sie ist also unendlich. Das Resultat auf diesem Wege wird uns nur sicher wenn alles ausgeschlossen ist aus dieser Stelle in dem speculativen Construiren, was nicht in der Erscheinung des Christenthums sondern in einer andern gegeben ist und alles Empirische ausgeschlossen ist in der Speculation und mit dieser nicht bestehen kann und dazu gehört eine gleichzeitige Construction aller gegebenen Religionen. Anders können wir nicht dazu kommen, das Wesentliche im Christenthum von dem Zufälligen zu unterscheiden. Wir werden immer fragen müssen: ist denn im Christenthum gar nichts, was in andren Religionen nicht ist? Die Frage müssen wir verneinen. Wie verhält sich nun das im Christenthum und in den andern Religionen? | Das muß offenbar in beiden das Zufällige seyn, das könnte seyn und nicht seyn. Dazu gehört also, daß ich das Christenthum vergleichen kann mit den anderen gegebenen Religionen[,] ich kann es also auch nicht allein verstehen aus der Zusammenhaltung der wissenschaftlichen Construction und des Empirischen, sondern nur indem ich das Verhältniß der übrigen Religionen zum Christenthum mit construire. Dazu ist noch ein allgemeiner und höherer Grund. Wenn wir uns denken wollen, wir hätten durch die Gegeneinanderhaltung des Empirischen und Allgemeinen das Wesen des Christenthums begriffen auf eine lebendige Weise, so müssen wir auch anerkannt haben seine Nothwendigkeit in der Entwiklung des Menschen überhaupt, das Religiöse Princip hat sich nothwendig in diese bestimmte Form gestalten müssen. Dieses können wir nicht anders haben, als wenn wir einsehen, daß die geschichtlich gegebenen Religionen ein gewisses System bilden, worin sich alles findet, was wir in der allgemeinen Idee als different möglich annehmen. Dann erst haben wir eine solche vollständige Ueberzeugung. Wir können zwar nicht dazu gelangen, aber wir müssen doch darauf ausgehen. Dahin steuert die philosophische Theologie. 3 KD1 I Einl. § 3 (KGA I/6, S. 256) 3 Gemeint ist das gerade in KD1 I Einl. § 2 (KGA I/6, S. 256) genannte Gegeneinanderhalten des empirisch Gegebenen und der spekulativ konstruierten Differenzen innerhalb der Idee der Religion bzw. der religiösen Gemeinschaft.

§ 3.

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Aus der Vergleichung mit den andern Religionen ergiebt sich § 4. Dies hat man getadelt als eine Erhebung der Speculation über die Theologie, als Stolz sich über die Religion zu stellen. Der Theologe ist ein Christ. Der Christ als solcher hat den Standpunct rein im Christenthum, d. h. alles andre Religieuse stößt er von sich ab entweder als ein fremdes, ihm nicht gehöriges oder als ein unvollkommneres. Schleiermacher will sogar zugeben, daß der Christ als solcher diesem Unterschiede gar nicht nachgehe. Der Staatsbürger als solcher hat seinen Standpunct rein im Staate, alles Fremde stößt er rein von sich ab. Freilich ist es an und für sich ein großer Unterschied, ob darin die Aussage liegt, in meinem Staate sind die besten Institutionen, oder in meinem Staate ist alles für mich eingerichtet, mir angemessen. Wir können dem Staatsbürger nicht anmuthen, daß er sich darüber auslasse. Wenn man ihn so fragt: warum bist du nicht wie ein Engländer, Franzose, hältst du ihre Einrichtungen für schlecht oder bloß für dich nicht passend. Da hat er nicht nöthig uns eine andre Antwort zu geben, als ich will nicht. Es ist bloß Gefühl bei ihm. Verwandelt sich dies Gefühl in ein Urtheil, dann bedarf PerS einer andern Begründung. Eben so auf dem religiösen Gebiet. Jeder im Staate Lebende hat das Recht das Fremde von sich zu weisen und in so fern er dies thut, ist er lebendig verwachsen in dem Staate. | Will er aber ein Urtheil fällen, ob er es verachtet als etwas Schlechtes oder als etwas Unpassendes, so geht das nicht mehr aus diesem Gefühl hervor, sondern aus der Vergleichung. Um diese mit Recht anstellen zu können, muß er den Standpunct verlassen und sich außerhalb der beiden Staaten stellen mit dem Verstande, er muß sein Gefühl schweigen lassen und sich in ein rein objectives Verfahren einlassen. Der Christ als solcher hat das Recht nicht nur das Irreligiöse sondern auch die Religion unter einer andern Form von sich abzustoßen und in dem Sinne als dies Gefühl in ihm ist, ist er ein guter Christ. Denkt man sich das Gefühl abnehmend und in Null übergehend, und dem es in Null gegangen ist, der ist kein Christ, sondern ein Indifferentist. Also 18 PerS] oder PesS 1 KD1 I Einl. § 4 (KGA I/6, S. 256) 2–3 Vgl. die anonym erschienene, vermutlich von dem Heidelberger Professor der Theologie Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766–1837) verfasste Rezension der KD1 in: Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur im Jahr 1812, 5. Jahrgang, Nr. 33, Heidelberg 1812, S. 513–532, hier: S. 522–525; diese Rezension ist ausführlicher dargestellt in KGA I/6, S. LVII–LXI. – Vgl. Stolpe: „Was im 4ten § steht, kann aus dem Zusammenhange gerißen leicht mißverstanden werden. Betrachtet man die Sache an und für sich, so könnte man fast sagen, als wolle sich der Verfasser herablassen ein Christ zu werden. Es ist ja aber hier nur von etwas Logischem [vgl. KD2 § 33] die Rede.“ (S. 184)

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der Christ als solcher muß dieses Gefühl haben. Aber als solcher hat er nicht zu entscheiden ob das von ihm Abgestoßene ein für ihn nicht passendes oder ein Unvollkommneres ist. Das geht nicht aus dem Gefühl hervor, sondern aus der Disharmonie. In wie fern also einer auf diesem Standpunct im Christenthum bleibt, kommt er hierüber zu keiner Entscheidung, kommt er nicht zur Entscheidung, so kommt er auch nicht zur Vergleichung, denn diese ist vom Standpunct des Christen aus nicht zu vollziehen. Hier müssen wir nun das sagen, was wir vorher vom Staatsbürger sagten. Wenn der Staatsbürger als solcher diese Entscheidung nicht hat, hat er als Staatsbürger einen Begriff von seinem Staat? Nein. Als Staatsbürger hat er ihn nicht und braucht ihn nicht zu haben (Begriff: d. h. die vollständige und abgeschlossene Anschauung). Hat ein Einzelner einen solchen Begriff vom Staat so hat er ihn nicht als Staatsbürger sondern vermöge einer andern Qualität. Als was kann denn ein Staatsbürger diesen Begriff haben? 1. wir können sagen: er hat ein kosmopolitisches Interesse. Er für seine Person steckt im | Staate und will auch nicht heraus. Er weiß aber, sein Staat kann nicht die ganze Welt umfassen, also muß es auch andre Formen geben, unter denen die Menschen gebildet werden. Er ist nun nicht bloß Bürger sondern schlechthin Mensch. Es muß ihm also lieb seyn, daß außerhalb seines Staates eben so das Analogon entwickelt werde, als in seinem Staate. Je mehr ein Mensch außer einem besonderen Staatsinteresse jenes allgemeine Interesse hat, so kann er von diesem Interesse aus eine bestimmte Vorstellung sich bilden von den verschiedenen Relationen der verschiedenen Staaten mit einander. 2. Wir sagen, es ist einer außer einem Staatsbürger auch Philosoph. Er hat also das Interesse nicht nur die Form seines Staates ganz und gar in sein Gefühl aufzunehmen, sondern das Interesse zu wissen wie sie sich zu der allgemeinen Idee des Staats verhält. Dazu muß er seinen Standpunct innerhalb des Staates ebenfalls verlassen. Dies thut er nicht als Staatsbürger sondern als Philosoph. Wenn nun einer als Philosoph zu diesem Begriffe gelangt ist, wird er dadurch für seinen Staat und für sein Leben im Staat irgend einen Gebrauch machen können? Nur wer außer seinem Gefühl als Staatsbürger diese Einsicht hat, ist geschikt den Staat zu leiten. Das Gefühl als Staatsbürger sichert seine Existenz. Darin ist keine objective Sicherheit und derjenige der dies Gefühl am aller stärksten ausgebildet hat kann auch nicht an die Spitze des Staates gesetzt werden. Es wäre wenigstens noch eine sehr mißliche Sache. Es ginge wol, wenn einer ganz rein dieses Gefühl in sich trüge, das ist aber nicht möglich, denn 7–8 Christen] verbessert aus Xth [= Christenthum]

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er gehört theils einem kleineren Theile des Staats an theils hat er ein bestimmtes Gewerbe und dies Provinzielle und Partielle bleibt ihm immer. Ohne dies könnte er wol den Staat regieren. Nun ist allerdings zu wünschen, daß diejenigen die den Staat leiten etwas Objectives | haben, woran sie ihr Gefühl berichtigen können. Solche Berichtigungen des Gefühls können immer nur aus dem Begriff kommen. Die also den Staat leiten, müssen den Begriff vom Staate haben und die den Begriff haben, müssen ihn von einem Standpuncte außer dem Staate haben. So werden wir sagen können: ein solcher, der zu einem solchen Begriff kommen will, um den Staat zu leiten, der muß seinen Standpunct über dem Staate nehmen. Hütet euch nur vor diesem Menschen geht das Geschrei, der ist kein Patriot, der will sich über den Staat stellen, wir stellen uns PdrunterS. Was soll man thun? Man muß ihnen sagen: liebe Leute ihr versteht es schlecht einen Staat zu regieren. Uebrigens ist dies auch nicht für immer zu verstehen, sondern nur für gewisse Zeit. Um zu dem Begriff zu kommen, muß man sich aus dem Ganzen herausstellen. Ueber dem Christenthum und außer dem Christenthum wäre hier einerlei. Denn es heißt nichts andres, daß der Theologe sich in die allgemeine Idee hineinstellen und daß er hernach als Historiker sich seine Eigenschaft als Christ auf eine Zeit ausziehend, als unparteiischer alle verschiedenen Religionen durchreisen muß, um es zu prüfen und indem er dieses zu jenem hinzunimmt, die Begriffe zu vollziehen. Schleiermacher hätte also über und außer sagen müssen, denn ü b e r, in so fern dem philosophischen Theologen die allgemeine Idee höher steht und au ß e r in so fern er durch alle verschiedenen Religionen gehen muß. Heißt das nun: indem er sich so über das Christenthum stellt, sey er mehr als ein Christ? Das Mehr und Weniger liegt hier ganz und gar nicht. Im Gegentheil müssen wir ja sagen, jede bestimmte Religion ist mehr als die allgemeine Idee, weil diese eigentlich nirgends existirt. Die bestimmten Religionen existiren nur. Wem nun das gefährlich ist, sagt Schleiermacher, nun ich will dich ja nicht dazu PberedenS, wenn du glaubst, daß wenn du einmal über dem Christenthum bist, daß du dann den Weg nicht wieder herunter findest, nun so bleibe davon und sey kein Theologe. Wer die Ueberzeugung nicht hat, daß das Eine das Andre nicht stört, der bleibe davon. Wenn einer sagt: ich lese die Bibel, sie erbaut mich sehr. Aber ich verstehe | manches nicht – ich könnte es wol verstehen, aber da komme ich in die Critik und wenn ich da hinein komme, so verliert die Bibel für mich allen Werth. Dem müssen wir sagen: Laß ja die Critik weg. Aber der muß nicht ein Theologe werden wollen und wenn er sich darin mischt, so muß man ihm auf die Finger klopfen. Er ist ein trefflicher Christ aber kein Theologe und verdirbt uns hier das ganze Geschäft.

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Wenn wir mit dem bloßen Gefühl die Vergleichung anstellen wollen zwischen dem Christenthum und den übrigen [Religionen] was werden wir für ein Resultat bekommen? Alles in den andern Religionen ist um so besser, je mehr es dem im Christenthum entspricht und das im Christenthum was etwas Analoges mit andern Religionen hat ist jemehr es dies hat, desto unvollkommner. Das Resultat ist also Null. Dieses also seinen Standpunct über dem Christenthum nehmen ist nichts andres als das Zusammenfassen des Speculativen und des Historischen und daraus den Begriff Auffassen. Das Bilden des Begriffs ist nicht Religion und muß auf einem wissenschaftlichen Wege aufgefaßt werden. Das religiöse Gefühl quiescirt aber auch nicht vollkommen, der Theologe, der den Begriff bilden will, handelt nur in Beziehung auf das lebendige Interesse am Christenthum. Von § 5. an wird noch ein andres nothwendiges Element in Anregung gebracht. Nemlich wir haben gesehn, um zu dem Begriff des Christenthums zu gelangen, müssen wir den Weg der Construction gehen, aber wir müssen von der andren Seite auch von der empirischen Seite ausgehen. Dies hat aber alle mal zwei Seiten: Ein jedes Gewordenes als solches hat einen bestimmten Gehalt, wodurch es geworden ist, was es ist, aber es hat auch eine bestimmte Art und Weise, wie es geworden und das Gewordene muß von diesen beiden Seiten betrachtet werden § 5. Die Aufgabe der philosophischen Theologie besteht darin, den vollständigen Begriff des Christenthums zu construiren ist eine unendliche, weil wir keinen bestimmten Punct haben, der Begriff kann nicht rein wissenschaftlich und nicht rein empirisch aufgefaßt werden, sondern aus beiden zugleich. Einen andern Weg giebt es nirgends daher nirgends ein Begriff abgeschlossen. Weil dies so ist, so muß auch gerade PgutS seyn, wenn wir immer wieder zwei Puncte finden, um davon auszugehen und das geschieht auf diesem Wege. Wenn wir auf dem speculativen Wege | zu einem vollständigen Begriff des Christenthums kommen könnten, so würden wir einen abgeschlossenen Begriff haben und daraus bestimmen was wesentlich was nicht ist. Wenn aber aus dem Empirischen und der Idee noch kein abgeschlossener Begriff entsteht, so muß einem dabei sehr zu Hülfe kommen die Art des Werdens. Wenn etwas dem Inhalte nach Religiöses zusammenhängt mit nicht religiösen Bestrebungen, so werde ich ja sagen müssen, es ist ganz und gar etwas Zufälliges. Diesen Weg hat 15 KD1 I Einl. § 5 (KGA I/6, S. 257) 16–19 Vgl. KD1 I Einl. § 1 (KGA I/6, S. 256,4–7) 34–38 Vgl. Stolpe: „Wenn wir betrachten, was eine Mißgeburt ist, so haben wir etwas: was wir zu einer bestimmten Klasse rechnen müssen, z. B. ein Kalb mit sechs Füßen. Hier kann man nun sagen: wie ist denn das Kalb zu sechs Füßen

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man immer eingeschlagen. Allein für sich ist er freilich nicht zuverlässig, aber er ist eine nothwendige Ergänzung des Andern. Wo finden wir die Principien zu der Beurtheilung von diesem allen? § 6. wird diese Frage beantwortet: daß diese Principien in der Ethik als der Wissenschaft aller Geschichtsprincipien dargestellt werden müssen und daß wir in der philosophischen Theologie auf eine zweifache Weise auf die Ethik zurückgeführt werden: [1.] sie muß das Allgemeine nachweisen und das Veränderliche daraus und 2. in wie fern sie die Wissenschaft der Geschichtsprincipien ist, so muß sie darstellen auf welche unterscheidende Weise dasjenige wirkt, was in einem geschichtlichen Ganzen die Idee repräsentirt. Sie muß unterscheiden ob die sittliche Kraft im Menschen ist, oder nicht. Was aus der sittlichen Kraft geworden ist, muß im sittlichen Ganzen seinen Ort haben. Aber so wenig Ethik uns einen vollständigen Begriff des Christenthums geben kann, in wie fern es ein einzelnes ist, sondern nur die Principien, ihn zu construiren, so kann sie auch hier nur etwas allgemeines geben, darum fällt auch dieses wieder unsrer Disciplin anheim. Das Christenthum ist uns als geschichtliche Erscheinung gegeben, aber in der Erscheinung vermischt, was aus dem religiösen Princip entstanden ist und manches was nur den Schein davon trägt. Die eigentliche Aufgabe ist dies beides zu unterscheiden. Das kann aber nur gelöst werden, wenn ein wirklicher Begriff vom Christenthum da ist. Also der Begriff des Christenthums ist etwas, was nur durch Annäherung vollzogen worden, er kann nicht vollkommen abgeschlossen seyn; wir können also mit dem weitern Verfahren nicht warten, bis gekommen; da gehe ich nun auf die Bildung zurück: es ist nicht die natürliche Genesis, sie ist abgewichen von der eigentlichen Art des Werdens: da ist nun ein Inhalt herausgekommen, der mit dem Typus der Genesis nicht übereinstimmt. Alles Krankhafte in jedem Gebiet ist etwas Schlechtes. – Sobald sich im Gebiete des Christenthums solche verschiedenen Schätzungen sich finden: so kann man das eigenthümliche Wesen des Christenthums auch nicht auffassen. – Die Richtigkeit besteht darin: wenn ich dieses Verhältniß allein vom Inhalte erkennen will, so muß ich eine Vorstellung vom Wesen des Christenthums haben, wenn ich aber aus der Art des Werdens das erkennen kann: dieses ist der Idee des Christenthums nicht angemessen, so brauche ich die eigenthümliche Kenntniß des Christenthums nicht vorauszusetzen. Nun kann dies in manchen Fällen möglich sein, vielleicht auch in manchen Fällen am Inhalte, ohne eine völlig bestimmte Vorstellung von dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums vorauszusetzen, eben so daß man nicht immer durch die Art des Werdens dieses Verhältniß bestimmen kann. Wenn ich nun zeigen kann, daß etwas, was geschichtlich gegeben dasteht, so entstanden ist, daß ich seinen Ursprung nachweisen kann, so werde ich sagen können, dieses ist der Idee des Christenthums nicht angemessen. Denken wir z. B.: es wäre jemand in einer Darstellung des Christenthums begriffen und jemand zwänge ihn er solle seine Vorstellung in seine Darstellung hineinbringen, so wird sich das nachher wohl eine Zeitlang erhalten; später erst möchte man das Fremdartige einsehen etc.“ (S. 185) 3 KD1 I Einl. § 6 (KGA I/6, S. 257)

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jene Operation vollzogen ist, denn sonst könnten wir niemals anfangen, es muß also beides zugleich gehen: das fortgesetzte Bestimmen des Begriffs im Allgemeinen und die Bestimmung über das Einzelne, ob es dem Begriff, der noch nicht vollkommen da ist, angemessen ist oder nicht. Das ist etwas Unvollständiges, aber was in jedem practischen | Verfahren statt findet. Wie unglücklich wären wir, wenn die Aerzte erst den Begriff abgeschlossen haben wollten, ehe sie die Krankheit curirten. Sie kauen ja noch am Begriff des Fiebers. Darin liegt aber auch, daß weil der Begriff immer unvollkommen ist, wir müssen auf seine Elemente zurükgehen, diese sind die allgemeineren Formen, die in der Ethik wirklich abgeschlossen werden, ich kann sagen: Mein Begriff von dem Christenthum ist noch nicht vollständig, aber es giebt vieles wovon ich nachweisen kann, daß es nicht wesentlich ist, so habe ich dadurch mich dem Begriff genähert, und vieles was von einem einzelnen Momente aus entstanden ist, was nicht aus der ganzen Idee hervorgeht, davon kann ich nachweisen, daß es, wenn auch dem Christenthum nicht widerspricht, doch nur zufällig ist. Von der Aufzählung des Einzelnen aus als reines Aggregat der Vergleichung mit dem allgemeinen was sich speculativ construiren läßt, muß der Begriff des Christenthums immer abgeschlossener werden. Was kann es nun geben in dem ganzen Umfange des geschichtlichen Vorhandenseyns in Beziehung auf den in Vollendung begriffenen Begriff des Christenthums? Hier haben wir auf mehrere Momente zu sehen. 1. Es giebt in der Wirklichkeit den Gegensatz des Wesentlichen gegen das Zufällige, des Gesunden gegen das Kranke. Man muß dies in seiner Allgemeinheit auffassen, um die richtige Anwendung auf den besonderen PGegenstandS zu machen. Nemlich keine Erscheinung entspricht ganz dem Begriff, sondern jede Erscheinung hat Abweichungen vom Begriff, die in den Elementen desselben nicht aufgehen. Das ist, was wir das Krankhafte nennen, was dem Begriffe nicht entspricht. Dies gilt auch von dem Christenthum. Wer es nicht glauben will, dem kann man es immer empirisch nachweisen, und wenn er sagt, zu den Menschen in denen sich dies Abweichende gezeigt hat, die sind nicht Christen gewesen, so muß er zugeben, daß Christus der einzige Christ ist. In jedem Einzelnen ist die Möglichkeit 29 PGegenstandS] oder PGegensatzS 9 KD1 I Einl. § 7 (KGA I/6, S. 257) Einl. §§ 8–9 (KGA I/6, S. 257)

26 Zu diesem „1.“ fehlt ein „2.“.

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§ 8. 9.

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des Widerspruchs, wodurch das Religiöse selbst alterirt und gar partiell verunreinigt werden kann, wodurch das Krankhafte entsteht. | § 10. Dies kann freilich scheinen etwas nicht Allgemeines sondern nur etwas Specielles zu seyn. Daß eine solche Trennung jetzt statt findet, ist offenbar. Das ist, könnte man sagen, nur vorübergehend, deßhalb ist die Betrachtung nicht in die philosophische Theologie im Allgemeinen aufzunehmen. Allein wenn wir das auch zugeben wollten, so müssen wir doch sagen: es giebt jetzt keine allgemeine christliche Theologie, sondern eine catholische Theologie eine protestantische Theologie, wie man sagen kann es giebt keine Theologie ohne in Bezug auf eine bestimmte Religion. Nun könnte man sagen: es ist vieles gemeinschaftlich, was den beiden Religionsparteien zum Grunde liegt. Das ist aber gar nicht der Fall. Die Schrift liegt z. B. allen zum Grunde, aber die Catholiken nehmen die Tradition mit dazu und leiden nicht, daß die Critik sich darüber mache, sie nehmen die Schrift an als schon ausgelegt. Der Hauptpunct in der Dogmatik [ist] die Erlösung. Ist Streit in diesem, so ist in allen Streit. „In der Kirchengeschichte darf aber durchaus keine Verschiedenheit der Parteien statt finden.“ In gewissem Sinne ist das wahr. Aber gerade da vermag sich der Einzelne am wenigsten loszumachen, davon, daß er den Gegenstand von seinem Gesichtspunct aus beurtheilt und so ist eine catholische und eine protestantische Kirchengeschichte immer verschieden. Es giebt also jetzt nur eine protestantische Theologie oder eine catholische Theologie. Es hat wenig Zeiten gegeben, wo nicht eine solche Trennung statt gefunden hätte. Wir müssen mehrere Jahrhunderte zurükgehen, um den Keim der Trennung der occidentalischen und orientalischen Kirchen zu finden. Ist aber das Verhältniß der Parteien wie das der positiven Religionen und wie diese und andre gegebenen Kirchen zur absoluten Idee der Kirche ? 1. Das Verhältniß des Protestantismus zum Catholicismus ist dies, daß sich von einem gewissen Gegensatze aus die ganze Gestalt der Kirche in allen Puncten auf eine eigenthümliche Weise deducirt. Es geht durch beide die Identität des Christenthums durch, aber ganz anders modificirt und verarbeitet. Ist das nicht das Verhältniß zwischen dem Christenthum und den anderen Religionen, in denen auch Identität ist, nemlich das religiöse Interesse? Dieses geht durch alle Religionen und gewinnt eine eigenthümliche Gestalt. 2. Wenn wir fragen: wie urtheilt das unmittelbare Gefühl über diese Gegensätze: ja das Catholische stößt den Protestanten ab, das Protestantische stößt den Catholiken ab. Im Gefühl ist nicht, ob das 3 KD1 I Einl. § 10 (KGA I/6, S. 257)

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geschieht durch eine qualitative Differenz, oder ob es für wahr oder falsch anerkannt worden. Wenn wir das untersuchen in Beziehung auf das Christenthum und die andern Religionen, so finden wir da dasselbe. Den Christen stößt das Jüdische und Heidnische ab. Ob es differente Form oder wahr oder falsch ist, ist auch nicht darin gesagt. Nur ist das Gefühl, daß das Christenthum allein wahr ist, die andren Religionen nur Verirrungen sind. Wo ist nun das Christenthum? In dem Nebeneinanderseyn dieser verschiedenen Parteien. | Wo ist Religion? Im Nebeneinanderseyn der verschiedenen Formen. Jeder Theologe kann nur für seine Partei wirken. Es könnte nicht jemand sagen, ich will für Catholicismus und Protestantismus zugleich wirken. Das Christenthum ist nirgends allein gegeben. Er lebt im Protestantismus. Also muß er auch davon sich einen Begriff verschaffen, darin das Wesentliche vom Zufälligen unterscheiden, also braucht er auch dazu dieselben Disciplinen. Es wiederholt sich also für die philosophische Theologie noch dieselbe Aufgabe in diesem speciellen Sinne. Man könnte sagen: es ist offenbar was die Anfänger des Protestantismus gewollt haben, und das ist das Wesen des Protestantismus. Aber auf diese Weise würden wir es eben so wenig anschauen, als wir das Wesen des Christenthums anschauen können, wenn wir sagen: es ist ja klar, was Christus gewollt hat, und das ist das Wesentliche des Christenthums. Man muß sehr unterscheiden dasjenige, was in der Erscheinung zuerst herausgetreten und das Princip, woraus es gekommen. Denn Christus hat gegen die Pharisäer gekämpft, also könnte das bloß scheinen, als ob er bloß das Judenthum reinigen wollte und eine besondere jüdische Theologie gehabt habe und so haben es viele angesehen. Sieht man auf die Gegenstände der Polemik zwischen den ersten Protestanten und den Catholiken, so kommt man nicht auf das Princip, woraus der Protestantismus hervorgegangen ist. Denn die Mißbräuche könnten wir daraus erkennen, aber weiter nichts. Denn sonst müßten wir ja, wenn die Catholiken die einzelnen Mißbräuche alle aufhöben wieder Catholiken werden, aber keinesweges, wir würden dennoch Protestanten bleiben. Das Wesen des Protestantismus können wir nur haben aus dem, was sich an die ersten Erscheinungen ange8 Nebeneinanderseyn] korr. aus Ineinanderseyn 12 KD1 I Einl. § 11 (KGA I/6, S. 257)

22r § 11.

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§ 12.

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reiht und entwikelt hat. Dadurch kommen wir wieder nicht ganz auf das, was wesentlich und zufällig im Protestantismus ist. Wir müssen also hier auch von der Idee des Christenthums ausgehen von der einen Seite, und von dem geschichtlich Gegebenen auf der andren Seite. Dies ist nun hier noch schwerer; denn wir sagten: die Idee der Religion muß in der Ethik seyn und wir konnten an ein rein Wissenschaftliches anknüpfen. Das können wir aber beim Protestantismus nicht. Hier müssen wir also ausgehen von etwas was nicht rein wissenschaftlich ist und der Begriff davon ist bedingt durch den reinern oder unreinern Begriff vom Christenthum selbst. Diese specielle Aufgabe der philosophischen Theologie ist also schwieriger und muß weit mehr Approximation seyn. Das Verfahren ist aber ganz dasselbe. Wir legen den Begriff des Christenthums | zum Grunde und fragen: was ist denn das Veränderliche darin eigentlich. Dazu muß das Geschichtliche genommen werden, um so den Catholicismus und Protestantismus daraus hervorgehend zu erklären. Was ist nun wieder das Wesentliche und Zufällige im Protestantismus, was das Gesunde, was das Krankhafte. Es ist also ganz dasselbe Verfahren. Es ist aber nicht dabei zu übersehen, was allgemein im 3. § gesagt ist, daß das Wesen des Protestantismus sich nur erklären läßt aus dem Verstehen des Catholicismus. Die Vollkommenheit der Untersuchung besteht also in dem reinen Parallelismus. Aber wenn nun einer kommt und sagt, die christliche Kirche war ja schon früher getheilt in die abendländische und morgenländische und die protestantische und catholische ist nur Trennung der abendländischen. Das kann ich also nur verstehen aus dem Gegensatze des Abendländischen und des Morgenländischen, das wird niemand ableugnen können und das gehört nothwendig dazu. Eben so ist auch das andre wahr, daß wir auch hier nicht allein auf den Inhalt sehen müssen, sondern auch auf die Art des Werdens und darin erkennen den Character des Protestantismus und des Catholicismus. Was aus catholischem Geschmak entsteht, das ist nicht rein protestantisch. Ungeachtet des Namens der philosophischen Theologie sind doch alle Untersuchungen kritischer Natur, denn Critik ist eine Ausmittelung des Gewissen aus dem Ungewissen. Diese Ableitung kann nur eine approximative seyn, nur durch Annäherung können wir das Gewisse finden, und sie ist keiner absoluten Evidenz fähig. Eben diesen Character haben die hieher gehörigen Untersuchungen. Es ist uns gegeben das Empirische von der Sache. Eine jede Erscheinung so empirisch gegeben ist ungewiß, nemlich in Beziehung auf den Begriff, was denselben constituiren soll und nicht das ist das 19–20 Vgl. KD1 I Einl. § 3 (KGA I/6, S. 256)

33 KD1 I Einl. § 12 (KGA I/6, S. 258)

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Ungewisse. Der eigenthümliche Character soll ausgemittelt werden aus diesem Ungewissen. Daher entsteht nun dasselbe Verfahren hier, das in der Analysis unbestimmter Aufgaben statt findet, oder wo verschiedene unbekannte Größen sind und verschiedener Werth heraus kommt. Hier müssen wir auch gleich von vorne an verschiedene Gleichungen nehmen, das speculative verbunden mit der Empirie, was rein kritisch gar nicht dialectisch ist. Eben so haben wir gesehen, daß wir den Inhalt eben so wie die Art des Werdens betrachten müssen. Der Name der philosophischen Theologie könnte also wol dieser Disciplin | nicht mit Recht gegeben seyn. Aber dieser Name stimmt noch am meisten überein mit dem was wir bisher gehabt haben, denn er kommt schon in der Religionsphilosophie vor, die auch so mit Unrecht heißt, weil sie kritisch ist, überdies hat sie ihre Wurzel in der Philosophie. In den folgenden §§ von § 13. an die einzelnen Theile der philosophischen Theologie. Sie ist ihrer ganzen Tendenz nach schlechthin eine theologische Disciplin und darf keine andre Form haben, als die sich daraus entwikelt. Es wird also auch hier wieder angeknüpft sein Interesse an der Religion und an irgend einer Abtheilung des Christenthums. Was hier der Theologe mit jedem Christen gemein hat, das ist die in dem unmittelbaren Gefühl ausgesprochene Ueberzeugung von der Wahrheit; denn es ist jeder im Christenthum und in jeder anderen Religion vermöge des Glaubens und der Glaube ist nichts andres als die Ueberzeugung des Gefühls und des religiösen Princips nicht nur im Allgemeinen sondern im Christenthum. Darin allein ist das Bestreben gegründet, diese Form der Religion in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit zu erhalten und dazu beizutragen. Wenn jemand im Christenthum nur seyn wollte, eines andren Zwekes wegen, so ist er eigentlich nicht darin, das eigentliche Seyn darin beruht nur auf diesem Glauben. Nun aber kommt für den Theologen dazu, daß er nicht nur diese lebendige Theilnahme an dem Ganzen hat, sondern daß er noch leitend in dem Ganzen auftreten will und also ein Bestreben haben muß, das geschichtliche Daseyn, die geschichtliche Gültigkeit des Christenthums und seiner besonderen Religionspartei durch seine Thätigkeit festzustellen. Nemlich Alles in der Wirklichkeit ist freilich seinem Begriffe nach nothwendig und wir erkennen es nur und haben Interesse daran, wenn wir es für nothwendig erklären, aber eben dieses ist in einem PbesonderenS Conflict, es ist in solchem Verhältniß mit andren, 38 PbesonderenS] oder PbestimmtenS 15 KD1 I Einl. §§ 13–14 (KGA I/6, S. 258) 18–19 Gemeint ist wohl das Interesse des in §§ 13 und 14 genannten „Einzelnen“ (KGA I/6, S. 258,7.10).

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§ 13. 14.

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§ 15. 16.

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was darauf ausgeht, seinem Daseyn ein Ende zu machen. So besteht jedes Einzelne in dem Conflict einer Menge andrer Einzelner. Ist dies hinweggenommen so ist zwar kein Streit aber das Beste ist dann weggenommen, weil nur darin d. M. recht hervortreten kann. So ist es mit dem ganzen Leben und mit allem. Das geschichtliche Daseyn einer Sache, dies im Conflict mit allen andren Verhältnissen, heißt es vertheidigen und also aus dem leitenden Interesse des Theologen an dem Christenthum und an der besonderen Kirchenpartei geht nothwendig hervor dieses Streben, sie zu vertheidigen, d. h. ihr geschichtliches Daseyn sicher zu stellen, gegen alles, was sie angreifen will. | Es kommt hier vorzüglich darauf an, dem Begriffe des Christenthums und der besonderen Religionspartei im Conflict mit andren Sicherheit zu verschaffen, und nur mit diesem bestimmten Theile haben wir es in der philosophischen Theologie zu thun. Die andre Seite im § 15. 16. Angeknüpft an das, was wir voraus gesetzt, daß in der Erscheinung des Christenthums alles Gegebene gemischt ist, alles was dem Begriff entspricht und was nicht und krankhaft angesehen werden muß. Zu der Ueberzeugung, daß jemand im Christenthum ist, gehört, daß jeder ein Gefühl in sich habe, was gegen dieses Krankhafte gerichtet ist und was auf das Gesunde gerichtet ist und es sich aneignen will. Welcher Art der Glaube ist, eben so dieses Wohlgefallen und Mißfallen, je mehr der Glaube dunkel ist, desto dunkler dies Wohlgefallen und Mißfallen. In dem Gefühl ist das Auffassende und das Reagirende verbunden, das mit Wohlgefallen aufgefaßt wird, das soll auch festgehalten werden und was Mißfallen erregt, das soll fortgestoßen werden. Bei dem Theologen wird dies ein großer Umfang, weil er mit seiner Thätigkeit nicht an seinen persönlichen Kreis gebunden ist, sondern in der Leitung des Ganzen muß er das Gefühl des Ganzen haben. Hier gilt ganz dasselbe, was wir vorher gesagt haben: dies ist eigentlich eine ganz andre Seite des Theologen als wir hier haben sollen. Das eine ist seine nach Innen gerichtete Thätigkeit (Wohlgefallen) und das andre (Wegschaffung des Mißgefallenen) seine nach außen gerichtete Thätigkeit. In der philosophischen Theologie haben wir nicht diesen ganzen Umfang, sondern nur was sich auf den Begriff bezieht und diese Hinwegschaffung des Krankhaften hängt aufs genaueste zusammen mit jener Vertheidigung; denn so stehen die verschiedenen Religionen und Religionsparteien neben einander, daß keine die andre will 4 d. M.] Abk. wohl für die Menge oder der Mensch 15 KD1 I Einl. §§ 15–16 (KGA I/6, S. 258)

24–25 Reagirende] Reakirende

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gelten lassen, jede glaubt sich selbst nur fest zu stellen, indem sie die andre zu vernichten sucht. Das ist eigentlich nicht das Rechte, aber das wirklich Gegebene und die Vertheidigung geht eben darauf und das geht von verschiedenen Puncten aus, es kann von dem entgegengesetzten in Beziehung auf den Begriff ausgehen, es geht aus in Beziehung auf alle Religionsparteien von denen die dem Christenthum überhaupt entgegengesetzt sind und es geht aus von denen die das religiöse Princip selbst aus rotten mögten und sagen, es sey kein solches im Menschen. Die Feststellung des Begriffs und diese Vertheidigung ist eins und dasselbe. Aber nun ist in der Erscheinung das Krankhafte dem Gesunden | beigemischt und es ist durch die Erscheinung eben so real, als das Gesunde real ist. Man muß nun nachweisen können, was das Wesentliche in der Erscheinung sey und was das Krankhafte. Und hier ist also wieder gewiß, daß das richtige Aneinanderhalten der Erscheinung in ihren einzelnen Elementen und des Begriffs zu gleicher Zeit eben das Princip enthält dieses Bestrebens, das Krankhafte heraus zu stoßen. So hängt beides zusammen und geht gantz auf eins heraus auf die philosophische Theologie, wie wir sie gegeben haben. In beiden zusammen ist die ganze Thätigkeit des Theologen von dieser Seite enthalten. Wir haben uns vorher die Aufgaben der philosophischen Theologie einzeln deducirt, ohne auf die Form zu sehen, die ihr als einer theologischen Disciplin zukommt, nun haben wir auch die Form. § 19. Die philosophische Theologie ist ganz und gar Apologetik und Polemik, Vertheidigung des Christenthums und der einzelnen Parteien desselben durch Feststellung des Begriffs, und diese Feststellung ist zugleich die Vertheidigung und auf der andern Seite ganz und gar Streit gegen das Krankhafte aber das Zerfällen der Erscheinung in Beziehung auf den Begriff das ist zu gleicher Zeit in dieser reinen dialectischen Beziehung das Hinwegschaffen, denn so wie etwas erkannt ist, als dem Begriff Entgegengesetztes, so wird es im Begriff negirt und darauf kommt es hier in der philosophischen Theologie an. Dies ist aber beides ein Zwiefaches. Die Apologethik ist die Vertheidigung des Christenthums im Allgemeinen und auf der andern Seite in der protestantischen Apologethik von dem Begriff des Protestantismus aus und in der catholischen Apologethik von dem Begriff des Catholicismus aus. Die Protestantische und die Catholische Theologie haben also nicht dieselbe philosophische Theologie? so wenig als sie dieselbe Dogmatik haben können. Wird aber in der protestantischen und in der catholischen Theologie die Vertheidigung des Christenthums ganz 17 KD1 I Einl. §§ 17–18 (KGA I/6, S. 258)

24 KD1 I Einl. § 19 (KGA I/6, S. 259)

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§ 17. 18.

§ 19.

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dieselbe seyn und nur verschieden seyn in beiden der hinzukommende specielle Theil und die spezielle Apologetik? So kann es anfangs scheinen und wenn wir ganz auf Pseinem ReinenS wären, so würde es auch so seyn. Aber dies werden wir uns erst wirklich denken können in einem vollkommeneren Zustande, und wir werden sagen müssen, daß die Aufgabe des protestantischen Theologen sey, aus dem Begriff des Christenthums gleich den Begriff des Protestantismus zu finden | und eben so des catholischen Theologen den Begriff des Catholicismus; so müssen sie einen verschiedenen Begriff des Christenthums herausfinden. Das hat seinen Grund durch die tumultuarische Tendenz der Polemik der einen Religion gegen die andren und der einen Partei gegen die andre, und man wird in dem protestantischen Theologen schon ein Bestreben finden aus dem Begriff des Christenthums den Protestantismus zu deduciren; denn er denkt der Protestantismus ist die rechte Form des Christenthums, der Catholicismus soll fortgeschafft werden. Dies ist nur aus diesem tumultuarischen Wesen herzuleiten nicht in der Natur gegründet und so werden wir sagen müssen, wenn dies etwas Vorübergehendes ist, so wird es dahin kommen, daß beim Catholiken und Protestanten der Begriff des Christenthums derselbe ist nur daß das Wesen des Catholicismus und das Wesen des Protestantismus noch hinzukommt. Ob es dahin kommen kann oder nicht, das wird daraus hervorgehen, ob die Polemik überhaupt etwas zu Lobendes oder zu Tadelndes sey. Es läßt sich eigentlich nicht denken, daß ein solches Verfahren wissenschaftlich organisirt werden könne in einer zweifachen Gestalt, wovon die eine falsch seyn muß. Wenn der Catholicismus polemisirt gegen den Protestantismus und umgekehrt, so muß doch eins von beiden falsch seyn. Wenn wir die Frage allgemein fassen und fragen gehört es zu dem lebendigen Eifer, mit welchem jeder in seiner Partei ist, und besonders zu der Thätigkeit eines Theologen, das entgegengesetzte zu vernichten? Betrachten wir den Theologen [im Hinblick] auf die Kirchenpartei, der er angehört, so soll er diese geschichtlich erhalten und ihrer Idee immer näher kommen. So lange er dies noch nicht beendet hat, warum will er gegen etwas, das ganz außerhalb des Ganzen, dem er angehört, liegt, zu Felde ziehen? Eben so, wenn wir den Theologen betrachten [im Hinblick] auf die Einheit der christlichen Kirche, so werden wir dasselbe sagen müssen von jeder Polemik gegen eine andre Religion. Es bleibt also nur eins über: die Polemik gegen eine gegenüberstehende Religionspartei ist zu erklären nicht aus der Religionspartei, der er angehört, sondern aus dem Christenthum überhaupt. Der Protestantische Theologe ist überzeugt, daß das, was das Eigenthümliche im Catholicismus ist nur

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das Krankhafte im Christenthum[,] wenn er also dagegen polemisirt, so polemisirt er dagegen aus dem Gesichtspunct des Christenthums überhaupt nicht aus dem Gesichtspunct des Protestantismus und eben so wenn einer gegen die anderen Religionen polemisirt, so thut er dies nicht aus dem Gesichtspunct des Christenthums, sondern aus | der allgemeinen Idee der Religion. Alle anderen Religionen hält er für Verkehrungen des religiösen Princips. So läßt sich die Sache vertheidigen. Ist nur das Specielle in beiden Disciplinen die Differenz oder wird sich dies auch schon finden in dem allgemein Christlichen, im Apologethischen und Polemischen? Wenn es wahr ist, daß eine sich auf die ganze Kirche erstrekende Thätigkeit nicht existiren kann, weil das Christenthum in der Einheit als Erscheinung nicht existirt, so wird gegründet seyn im Allgemeinen diese Differenz. Es ist also die Thätigkeit eine andre in der protestantischen, eine andre in der catholischen Theologie. Diese Gestaltung wird zwar immer bleiben, aber es kann doch eine Zeit kommen, wo sie ihr Betragen auf einander reduciren können. Ein großer Theil der Protestanten hält den Catholicismus für einen Krankheitszustand und umgekehrt. Andre gehen von der Vorstellung aus, daß Protestantismus und Catholicismus individuelle Formen des Christenthums sind und daß es Nationen giebt, für die der Protestantismus geeignet ist, für andre der Catholicismus. Aber den Protestanten erscheint das Bleiben im Catholicismus doch immer als ein hartnäkiges Verweilen in offenbar aufgedeckten Irrthümern und den Catholiken erscheint die Absonderung des Protestantismus vom Allgemeinen als ein Uebereiltes. Aus dem eigenthümlichen Character beider müssen wir nun verstehen, wie sich das Verschiedene in beiden gestaltet hat und jeder muß in so fern Recht haben. Die philosophische Theologie geht ganz auf in Apologetik und Polemik. Vorher wurde die Form ihr abgesprochen. Der wissenschaftliche Geist und das religiöse Interesse ist der Character der philosophischen Theologie. Darauf muß alles Theologische zurükgeführt werden. Machen wir uns den Inhalt klar, so müssen wir von dem wissenschaftlichen Interesse ausgehen, die Form liegt aber bloß im religiösen Interesse. Diese Untersuchungen ihrer complicirten Natur gehören nicht in ein rein wissenschaftliches Gebiet; und in dem gemischten wissenschaftlichen Gebiet, worin wir sie finden, finden wir sie mit anderen zusammenstehend, die nicht in die philosophische Theologie aufzunehmen sind. Wir müßten also das, was nicht aufgenommen werden könnte, ausschließen und das führte auf das religiöse Interesse. So wie man von einem bloß theoretischen Interesse ausgeht,

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so sind die Grenzen zwischen Apologethik und Polemik auch nicht gesondert, beide müssen nur umfaßt werden. Die wissenschaftliche Basis der ganzen philosophischen Theologie ist die Construction des Begriffes der Religion und der religiösen Gemeinschaft wie sie in der Ethik aufgestellt werden muß. Aber von ihr eine ächte theologische PSacheS aufzustellen, das geschieht nur wenn wir das | religiöse Interesse zum Grunde legen. Es kommt darauf an den Protestantismus gegen das Eingreifen der neben ihm bestehenden Religionsformen zu schützen nemlich vom Begriffe aus, indem man dem Begriffe des Protestantismus und des Christenthums immer näher zu kommen sucht, und je mehr dies gelingt, desto realer ist die Sache. Die Beschränkung auf die geschichtliche Erscheinung ist rein im religiösen Interesse. Die Begriffe einer jeden Religionsform sind hier jede das constituirende Princip aber weil die andern auch real sind, so ist ein Analogon in ihnen, welches das Krankhafte in jeder darthut. Die Apologethik ist das erste, was sich in der christlichen Theologie als eigentliche Kunst ausgewikelt hat. So bald das Christenthum in der Römischen Welt eine Stelle einnahm, so richteten sich die heidnischen Philosophen gegen diese neue Erscheinung und die von solchen Philosophen übergingen zum Christenthum, die wurden nachher die Vertheidiger desselben. Die Principien die wir aufgestellt haben sind aus jenen Werken zu schöpfen. Sie gingen darauf aus, dem Christenthum sein Bestehen zu sichern in Rücksicht auf die Idee des religiösen Princips und damit durch Auswuchs verbunden die Polemik, das Christenthum als die beste [Religion] zu erheben. Mit Recht stellt man diese Wissenschaft oben an in der Theologie, denn sie hat sich zuerst entwikelt. Dem Streit gegen Protestantismus und Catholicismus geht die Polemik voran, denn zuerst beim Auftreten der ersten Reformatoren war nur eine Religionspartei und die Polemik ging nur gegen das Krankhafte darin und beförderte so die Trennung. Erst als der Protestantismus ausgebildet war, konnte die Apologethik anfangen, also hierbei erst nachher. Nun hätte eigentlich die Apologetik die Polemik verschlingen sollen, wenigstens hätte die Polemik ganz untergeordnet seyn müssen. Aber es ist doch aus der Polemik das Bewußtseyn der Differenzen der Principien hervorgegangen und in so fern muß sie immerfort bestehen als eine Aufmerksamkeit, daß sich nicht einschleiche etwas von den Principien einer andern Partei. Es ist also gegen solche Meinungen ein Streit nothwendig, aber nicht eigentlich gegen den Catholicismus sondern es soll nur bewiesen werden, daß die oder die Meinung | nach den Principien des Protestantismus nicht protestantisch ist. 6 PSacheS] oder PReiheS

18 eine] einen oder einer

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Wenn man also unter Polemik verstanden hat, was besonders bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts herrschend war, den Streit g e g e n da s a u ß e r h al b G e s e t z t e so paßt das nicht in unsern Begriff von der Polemik, wir verstehen darunter den S treit g eg en da s inn e r h a l b G e s et z e . So müßten eigentlich alle Religionsparteien gegeneinander stehen, daß sie sich rein ihrer Differenz bewußt sind und sich so rein weiter zu bilden suchen. Das Vertheidigen und das Streiten ist eine Kunst auf dem intellectuellen Gebiet sowol, als auf dem physischen und wenn wir die philosophische Theologie Apologethik und Polemik nennen, so scheinen diese Disciplinen in die practische Theologie zu gehören. Denn hält man sich an die Worte, so heißt Apologethik: Reg eln der Vert heidi g u n g und Polemik: R e ge l n d e s St r e i tens. Aber es ist nicht die Meinung, daß hier vorgetragen werden sollen Regeln, wie man im Vertheidigen und Angreiffen zu Werke gehen muß, sondern es sollen nur die Materialen herbeigetragen werden zum Angriff und zur Vertheidigung, welche Herbeischaffung nur durch das critische Verfahren möglich ist. Apologetik und Polemik ist also hier nicht Kunst. De Wette giebt der Apologetik und Polemik eine ganz andre Stelle. Er theilt die Theologie in die wissenschaftliche und practische und sagt, sie verhielten sich wie Theorie und Kunst. Die wissenschaftliche Theologie theilt er in die philosophische und historische. Hier also auch der Ausdruck p h i l o so p h i s c h e Theol og ie. Er beschränkt sie aber darauf, d aß s i e d i e A n l age d e s M enschen zur Relig ion en t h ä l t und di e al l ge m e i n e n r e l i gi ö s e n Ideen, wie sie sich rein rationell entwikeln lassen. Das haben wir B a sis d er T heolog ie in der Ethik genannt und nicht gerechnet zur Theologie. Nachher sagt 19 Kunst] korr. aus Kunsttheorie 21–27 Vgl. Wilhelm Martin Leberecht de Wette: Ueber Religion und Theologie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuche der Dogmatik, Berlin 1815, S. 134: „Ganz natürlich theilt sich die Theologie in die wissenschaftliche und praktische. Jene hat die Erforschung der Religion zum Gegenstand, diese die Erziehung und Bildung der Menschen zur Religion; und beide verhalten sich zu einander wie Theorie und Kunst. Die wissenschaftliche Theologie [...] ist wieder verschieden nach den beiden Elementen, aus welchem [sic!] das religiöse Leben besteht: sie ist nämlich erstens philosophisch, in so fern sie die Anlage des Menschen zur Religion und die allgemeinen religiösen Ideen, welche der Vernunft überhaupt angehören, erforscht; zweitens historisch, in so fern sie die Erscheinungen der Religion in der Geschichte zum Gegenstand hat.“ 28–3 Vgl. de Wette: Ueber Religion und Theologie, S. 135: „Das philosophische und historische Element in ihrer Vereinigung bilden die systematische Theologie, welche zuerst in der Dogmatik die Darstellung der religiösen Wahrheit, wie sie Vernunft und Geschichte an die Hand geben, in ihrer Uebereinstimmung, nach der besten Ueberzeugung, wie sie die jedesmalige Bildung der Zeit möglich macht, versucht, und sodann die Vertheidigung derselben gegen die Ungläubigen in der Apologetik und gegen die anders denkenden Confessionen in der Polemik unternimmt.“

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Herr de Wette: die Vereinigung der wissenschaftlichen und historischen Theologie gebe die dogmatische Theologie und diese theilt er in Apologethik und Polemik. Hier also dieselben Ausdrücke aber abhängig von der Dogmatik, von der wir hier noch gar nichts wissen. Beziehen sich Apologethik und Polemik nun nothwendig auf ein theologisches System? Dann müßten sie nach unserer Ansicht hinter der historischen Theologie kommen und in die practische Theologie einfallen oder es müßte ein eigner Ort für sie ausgemittelt werden. Dies wäre ganz Recht, sie müßten sich auf ein System beziehen, wenn die Vertheidigung und der Angriff in einzelnen Fällen damit gemeint sind. Aber Schleiermacher meint es anders. | Er versteht darunter die Principien, worauf dieses Vertheidigen und dieser Angriff beruhen sollen. Freilich bildet sich die Dogmatik durch die Apologetik und die Apologetik und Dogmatik auf der einen Seite und Polemik auf der andren Seite beziehen sich auf einander. Aber alle apologethische und polemische Ausübung, wenn sie auch ein System religiöser Vorstellungen vor sich hat, muß Grundprincipien vor sich haben, wenn sie sich nicht ins Einzelne verlieren soll und nicht bestehen soll bloß aus einzelnen Inconsequenzen. Denn wenn jemand einen einzelnen Satz des Catholicismus angreift so greift er ihn entweder an als wiedersprechend ihren übrigen Vorstellungen, die die Catholiken annehmen, oder als der Schrift wiedersprechend, die die Catholiken auch annehmen. Aber die Apologethik soll den Protestantismus vor dem Catholicismus sichern und die Polemik die Vermischung des Protestantismus mit dem Catholicismus verhindern. Das sind also zwei ganz verschiedene Dinge; denn wenn man jenes, nemlich absolute systematische Vorstellungen vorhersetzt, so gehen sie ins Einzelne. Hier sind es nur Principien und beide, Apologetik und Polemik, fallen mehr der philosophischen Theologie anheim. Die Ausübung und die Theorie der unmittelbaren Ausübung gehören in die practische und setzt die historische Theologie und also auch die Dogmatik voraus.

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Erster Abschnitt. Von den Grundsätzen der Apologethik. § 1. 2.

Wir gehen vom speculativen Punct aus und fragen: wenn nun der speculative Punct gegeben ist, wenn ich wissenschaftlich angeschaut habe, was das religiöse Princip in der menschlichen Natur bedeutet 1 wissenschaftlichen] Kj philosophischen 34 KD1 I 1 §§ 1–2 (KGA I/6, S. 259)

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und wie es sich in Zusammenseyn der Menschen ausprägt, woran kann ich dann erkennen, daß eine gegebene bestimmte Erscheinung ein Product ist aus dem vorigen, wodurch kann ich dem Christenthum sein Recht sichern in dem Reiche der geschichtlichen Erscheinungen? Man setzt voraus, daß es mehrere Erscheinungen im Christenthum giebt[;] die υποθεσις ist, daß das Christenthum eine wesentlich hineingehörige sey. Hiebei kommt es also an 1. in dem Christenthum muß sich die allgemeine Idee der Religion und religiösen Gemeinschaft aussprechen, es muß also relative Identität mit dieser allgemeinen Idee haben 2. es muß etwas Eigenthümliches haben differentia specifica, wodurch es geschichtliche Erscheinung wird. Durch dieses beides ist die Realität des Christenthums nachgewiesen. Diese Untersuchung umfaßt die Wechselbegriffe des Natürlichen und Positiven. D. h. der Begriff des Natürlichen in Beziehung auf die Religion drückt dasjenige aus, worin sich die allgemeine Idee des religiösen Princips und der religiösen Gemeinschaft ausdrückt. Das Positive drückt sich aus in demjenigen, was die specifische Differenz zu erkennen giebt. | Sind die Begriffe des natürlichen und positiven auch im gemeinen Leben so? In der Politik redet man auch von einem Natürlichen und Positiven und stellt es einander entgegen, doch auf etwas differente Weise. In dem Gebiet des Positiven bezieht man das allein auf die einzelnen Elemente. Man sagt: es giebt etwas das ist von Natur Recht, etwas von Natur Unrecht und es giebt etwas was Recht und Unrecht ist in Beziehung auf etwas Einzelnes. Dies bezieht sich alles auf die specifische Differenz. Nun stellt man freilich alles zusammen, was von Natur Recht ist und das ist das Naturrecht, worin alle Elemente zusammengetragen sind und wo von aller specifischen Differenz abstrahirt ist. Auf dem religiösen Gebiet scheint freilich das reine Parallele zu seyn, wenn wir sagen es giebt natürliches Recht und positives Recht und es giebt natürliche Religion und positive Religion. Näher betrachtet ist das aber keine Parallele. Es wird nur eine, wenn man sich Kirche und Religion von einander getrennt denkt, was nie seyn kann. Nach dem Naturrecht kann nicht gelebt werden. Es enthält die Principien zum positiven Recht, wornach nur gelebt werden kann. Halten wir dies fest, dann ist die Parallele rein, aber dann giebt es keine natürliche Religion in dem Sinne wie eine positive. Nach der natürlichen Religion kann nicht gelebt werden, nur nach der Positiven. Gehen wir über diesen Gebrauch hinaus, so sind die Begriffe keine correlativa mehr. Das ganze Geschäft wird dann schon verdorben und es ist Grundprincip der Apologethik, diese Wechselbegriffe recht ins Licht 5–6 im Christenthum] Kj in der Religion

21 Positiven] Kj Politischen

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zu setzen. Das Verkennen derselben hat die Verwirrung im Christenthum hervorgebracht und den Indifferentismus gegen das Positive. Wie verhält sich das Natürliche und Positive und wie sind beide Elemente in der Religion zu unterscheiden? Das beruht auf der Art, wie beide einander entgegengesetzt werden. Darüber ist man immer sehr verschiedener Meinung gewesen. Hier werden nun die verschiedenen Meinungen angeführt, ohne jedoch ins Materiale zu gehen. 1. Das Natürliche und Positive muß rein seinem Inhalte nach bestimmt seyn, kann man sagen. 2. kann man sagen, das Positive ist nur die bestimmte Art und Weise wie das Natürliche ist, es sind also beide Elemente gar nicht neben einander. 3. Einige sagen daher: es giebt gar nichts dem Inhalte nach Positives in der Religion als PsolcherS, sondern das Positive ist nur in der Kirche, in dem gesellschaftlichen. Alles Religiöse kann nur das Natürliche seyn. Ehe man nicht zwischen diesen Ansichten entschieden kann man nicht das eigenthümliche Wesen des Christenthums festsetzen. | Woher aber diese Entscheidung nehmen? Sie beruht auf dem speculativ Construirten und der Idee einer jeden Erscheinung. Wir werden also auf die Ethik zurük geführt und da muß die Entscheidung liegen. Wenn sie da nicht wäre, so wäre nicht darüber ins Reine zu kommen. Die Rationalisten oder Naturalisten stellen am meisten den Satz auf, daß das Positive nur im Gebiete der Kirche sey. Daher viele unter ihnen die Kirche gar nicht meinen construiren zu können aus der Idee der Religion selbst sondern aus dem Staate, wo das Positive der Religion mit dem Positiven des Staats zusammenfällt. Das setzt voraus, daß alle Religionen national sind, in wie fern sie positiv sind und daß alle Kirchen national sind. Das stimmt aber nicht mit dem Christenthum. Die Supernaturalisten können nicht umhin, daß es etwas giebt im Christenthum, was auf der Vernunft beruht, und das sagen sie sey die natürliche Religion und das sey in jeder positiven Religion. Aber jede Religion habe auch etwas Eignes, was dadurch nicht zu entscheiden sey. Wie bilden aber das Natürliche und Positive ein Ganzes, da das Fundament von beiden ein anderes Element seyn muß? Diese Schwierigkeit ist bei dieser Ansicht nicht zu lösen. Was ist denn früher das Natürliche oder Positive? A priori sagt ein jeder, das Natürliche und das Positive ist erst hinzugekommen, eben weil dies sich auf Erscheinungen bezieht und jenes ein schlechthin Allgemeines ist. Man kommt also darauf daß jeder Mensch erst 14 PsolcherS] oder PsolchesS

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vermöge der Vernunft das Natürliche hat. Nun soll er noch aufnehmen, was auf ihr nicht beruht und sie zum Richter machen über die Entscheidung zwischen dem Besseren und Schlechtern. Man kommt also in zwei entgegengesetzte Verhältnisse und es ist nicht zu entscheiden wie in der Zeit entstehen kann dies Nebeneinander-seyn des Natürlichen und Positiven. Die dritte Ansicht, welche sagt in einer Religion ist alles Positiv und zwischen diesen beiden steht, die geht diesen Schwierigkeiten aus dem Wege. Es kann bei ihr nicht die Frage seyn, was früher sey, das Natürliche oder Positive? Denn sie sagt das Natürliche findet man erst durch Abstraction. Nur aus einer von diesen Ansichten kann man eine allgemeine Bestimmung festsetzen, worin das Besondere einer Religion zu setzen sey. So lange die Ansichten noch verschieden bleiben, kann darüber nicht einerlei Meinung seyn | und hierum dreht sich zuerst die philosophische Theologie in der Apologethik. § 3. 4. §§ 1. 2. von dem speculativen Puncte ausgehend. Hier müssen wir auch vom Empirischen ausgehen. § 3. ein Gegensatz, der mit aus der Wahrnehmung geleitet werden kann, nemlich daß zweierlei Entwikelungen neben einander hergehen in einer jeden positiven Religion die Entwikelung des Dogma, der religiösen Vorstellung und die Entwikelung der Constitution, des Practischen. Die Erfahrung zeigt, daß keine Religion ohne beides ist. Wir haben also zwei sehr verschiedene Gegenstände, an denen sich zeigen muß, was man festgestellt hat als das Wesen des Christenthums constituirend. Dies muß sich im Dogma finden und in der Constitution. Freilich ist dies nicht ganz und gar entscheidend, weil man nicht beweisen kann, daß es nothwendig mußte falsch aufgestellt seyn, wenn es nicht klar erscheint in beiden. Man kann ja eine Seite gewählt haben, worin es mehr hervortritt, da muß dann die andre zurüktreten und verworren werden. Es kann auch nicht ganz entscheidend seyn, weil das ganze Verfahren 10 oder] und 18 KD1 I 1 §§ 3–4 (KGA I/6, S. 259f) 18–2 Vgl. Stolpe: „Was den lebendigen Keim des Individuellen enthält, muß allemal im Einzelnen vorkommen. Es ist hier gegenübergestellt das Dogma und die Verfassung und § 4. die Congruenz. Dasselbe ist das: was das individuelle Element in allen Dogmen ist und dasselbe ist das: was das individuelle Element in der Verfassung ist: diese Congruenz muß die Probe abgeben für die Behandlung. Es liegt hier die Beziehung auf den Unterschied zwischen Idealem und Realem. Das Dogma entspricht natürlich dem Idealen, die Verfassung dem Realen. – Was ich nun als das eigenthümliche Wesen aufstelle, das muß eben so wohl das sein wodurch die Dogmen des Christenthums ihre Gestaltung bekommen als auch wodurch die Verfassung ihre eigenthümliche Gestaltung bekommt.“ (S. 191)

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ein approximatives ist. Aber ein großes Gewicht hat diese Entscheidung doch. Weiter können wir aber nicht kommen. § 5. Was Krankhaft ist unterscheidet sich nicht nur dem Inhalte nach, sondern auch gennetisch, in der Art, wie es geworden. Dies ist auch hier anzuwenden. Wenn wir das religiöse Princip in seiner Entwikelung betrachten, so werden wir sagen, das Christenthum ist auch ein Element dieser Entwikelung und nun kann ich fragen, ist es als solches [ein] mit der Idee der Religion im allgemeinen Uebereinstimmendes und aus ihr Entstandenes oder nicht? So allgemein kann diese Frage nicht aufgeworfen werden, wir haben nur einen Hypothetischen Begriff aufgestellt vom Christenthum und das Christenthum ist dies und dies und nun kann gefragt werden, in wie fern es dies ist, ist die Erscheinung gesund oder krank? Wie entstehen aber eigenthümliche Formen der Religion? Dies giebt eine neue Untersuchung. Die Begriffe des Natürlichen Positiven gehen auf den Inhalt. Hier ist die Frage, nach der Art wie sich PdurchS Entstehen, Pwie durchS Art zu seyn das Allgemeine äußert. Diese Bestimmung umfaßt Offenbarung und Wunder und Eingebung. Diese scheinen sich theils einander zu umfassen, theils promiscue gebraucht zu werden. Man kann sagen: jede Offenbarung und Eingebung ist | Wunder. Wir können das Verhältniß nicht ausmitteln als wenn wir zurükgehen auf den Gegensatz, worauf es hier ankommt. Nemlich das religiöse Princip bildet ein Element, die Religion ist also mit diesem zugleich gesetzt. Ueberall wo wir eine besondere Art desselben zu seyn in der Form von einer besonderen Religion annehmen, da gehen wir zurük auf eine besondere Entstehung der besonderen Art zu seyn. Diese Entstehung ist in den correlativen Begriffen von Wunder und Eingebung ausgedrückt. Beides aber zusammengefaßt ist der Begriff der Offenbarung, dessen Elemente die beiden andren sind. Der Begriff 3 KD1 I 1 § 5 (KGA I/6, S. 260) 23–29 Vgl. Stolpe: „Der da sagt: man habe Recht die Religion auf Wunder etc. zu be|gründen, der steht auf einem gemeinschaftlicheren Puncte mit uns, als der, welcher die ganze Realität der Sache leugnet. Es entsteht hier also die Nothwendigkeit dem, der leugnet deutlich zu machen, daß ein geschichtliches Entstehen der Religion nur auf solche Weise sein kann. – Gegen die, welche die Erscheinung des Christenthums bestreiten wollen, bezieht sich nun die eine Vertheidigung. Offenbar giebt es nun ein natürliches Interesse gegen sie. Soll das Christenthum vertheidigt werden, in so fern es überhaupt Offenbarung und Eingebung constituirt, so muß der Streit darüber geschlichtet oder vermittelt werden und gezeigt, in wie fern diese Facta und das Recht solche anzunehmen sicher gestellt werden. Offenbar ist dieser Theil der Aufgabe der bedeutendere und schwierigere. Schon dieses, daß das Christenthum als einzig wahre Religionsform soll vertheidigt werden, hängt wieder von theologischen Ansichten innerhalb des Gebietes ab.“ (S. 191f)

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der Offenbarung verhält sich zum Begriff der Eingebung wie das Objective zum Subjectiven. Eingebung ist reine Thatsache, daraus geht die Existenz der Religion die Offenbarung hervor. In diesen Begriffen liegt dasselbe als in den Begriffen des Positiven und Natürlichen nur auf die Art des Seyns Rüksicht genommen. Die Art des unbewußten Entstehens, der ursprüngliche Übergang des Unbewußten ins Bewußtseyn ist Eingebung und muß nachgewiesen werden können, wenn überhaupt der Anfang einer Religion bestimmt seyn soll. Das ist also der erste Angelpunct. Was den Begriff des Wunders anbetrifft, so können wir sagen, daß jede positive Religion sich durch Wunder beglaubigt. Da ist freilich eine neue Untersuchung in wie fern dies begründet und nothwendig ist. Dies zu entscheiden ist das Materielle der Apologethik. Die Eingebung ist offenbar ein ursprüngliches Entstehen in dem intellectuellen Gebiete: das Entstehen eines Besondern aus einem Princip, das aber in der Erscheinung noch nicht da war. Wir können dies auch außerhalb der Religion setzen, wer einen Staat stiftet, wo noch keiner gewesen ist, stiftet ihn durch Eingebung, durch die Umstände wenn dies in ihm ein Bewußtes wird, entsteht die verschiedene Form des Staats. Was ist Wunder? auch ein ursprüngliches Entstehen; denn es ist ein factum das aus einem vorigen factum nicht begriffen werden kann, aber im physischen Gebiet nicht im Intellectuellen. | Dasjenige was die Basis in dem Menschen ist aller Vorstellungen muß beständig und vor jeder Religion auftreten. Es muß das Natürliche enthalten und so fern auch Positives, nur etwas Fragmentarisches. Alle solche Aeußerungen die vor dem Auftreten der Religion da sind, sind entweder natürliche Religion oder enthalten auch schon Vorandeutungen von der nachher sich daraus bildenden positiven Religion. Wie soll nun aber daraus die positive Religion entstehen? Das ist etwas Unerklärliches. In den Begriffen Offenbarung Wunder Eingebung liegt immer etwas über die Natur des Menschen Gehendes. Sie liegen noch eine Stufe höher hinauf, als worauf uns die Sache selbst geführt hat. Aber indem wir die menschliche Natur betrachten als eine PendlicheS Kraft, so muß jede Aeußerung aus der vorigen erklärt werden können, sonst ist sie keine selbstständige Kraft. Das Entstehen einer Religion ist ein Abschneiden dieses Zusammenhangs, eine neue gleichsam ursprüngliche Aeußerung. Weiter geht aus der Sache selbst nichts hervor. Allein eben dies ist ganz anzusehen nach der Analogie eines jeden ursprünglichen Entstehens und ein solches ist doch immer auf den Grund alles Entstehens überhaupt zurükzuführen. In wie fern also vorzüglich Of34 PendlicheS] oder PrealeS

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fenbarung und Eingebung auf diese Negation und dabei auch auf das Positive hindeuten, so sind sie ganz an ihrer Stelle. Hier kann man aber nicht von der speculativen Seite ausgehen, sondern von der empirischen. Ist es nun nothwendig, indem diese Begriffe über das Gewöhnliche hinausgehen, liegt es in dem Wesen derselben zugleich auch zu negiren die Unmöglichkeit der Erklärung der Thatsache aus der menschlichen Natur überhaupt, so daß die Thatsache als eine Erhöhung der menschlichen Natur oder als eine Veränderung angesehen werden kann oder nicht? Eine Thatsache welche als der Entstehungspunct einer Religion angegeben wird, muß nicht zu erklären seyn aus der vorigen Erscheinung. Alle eigenthümlichen Religionen führen ihr Entstehen zurük auf ein unmittelbares Einwirken des Göttlichen. Dies sind doch Phänomene in der Menschlichen Natur, Phänomene des Erkenntnißvermögens und nun entsteht jene Frage, indem wir diese nicht zu erklärenden Aeußerungen auf die göttliche Einwirkung zurükführen, so müssen wir sagen, diese Einwirkung besteht nur darin, daß die Möglichkeit der Erscheinung gegeben wurde nur nicht in dem historischen Zusammenhange, oder wir fragen: ob ganz etwas Neues gegeben ist? Darüber ist noch Streit, ob die Begriffe von Offenbarung und Eingebung so streng oder nicht so streng zu nehmen sind. | Nun muß man nicht gleich die andern wegen dieser oder jener Formel verketzern. Man muß nur darauf sehen, ob sie das Eigenthümliche der Religion erhalten oder aufheben wollen. Erklären einige die Thatsache des Ursprungs einer Religion aus den früheren Zuständen so leugnen sie eine neue Religion und halten sie nur für eine Fortsetzung einer anderen. Irreligiös ist dies nicht, denn die Religion bleibt dabei stehen, aber unchristlich ist es, denn es hebt das Christenthum auf. Dies liegt aber nicht darin, daß man den Begriff von Eingebung und Offenbarung für absolut oder relativ nimmt, sondern ob sie denselben für real oder für Täuschung erklärt. Die empirische Relation dieser Begriffe ist die: wenn wir fragen, wie ist Offenbarung von Eingebung verschieden? so werden wir auf zwei verschiedene Formeln der Entstehung eines religiösen Momentes auf eine aus dem Vorigen unerklärliche Weise kommen. Beide Begriffe gehen zurük auf die Form des religiösen Gedankens, wie der Gedanke durch den Entschluß sich ausspricht. Wenn wir uns den Gedanken gewöhnlich vorstellen, so hat er ein zweifaches, wodurch er entstanden, ein Aeußeres oder ein Inneres, ein Aeußeres in wie fern eine Wahrnehmung statt findet, Inneres, in wie fern aus der combinativen Kraft hervorgehend. Letzteres ist der Begriff der Eingebung. Ersteres 41 Eingebung] folgt )Denkt man sich das Entstehen des religiösen Elements nicht sowol negirt durch das combinative Vermögen, als vielmehr durch die Wahrnehmung wird*

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der der Offenbarung, die mehr eine äußere Wahrnehmung eine Theophanie ist, jener Begriff ist mehr Inspiration. Das Richtige ist: wie sich verhält das Natürliche zum Positiven in Rüksicht auf den Inhalt, so verhält sich das Gelernte oder Gefundene zu der Offenbarung und diese theilt sich in den Begriff der Theophanie und den Begriff der Eingebung. Was Wunder betrifft, so ist allerdings Offenbarung und Eingebung auch Wunder und der Begriff des Wunders leidet auch den Begriff des Absoluten und Relativen und Offenbarung und Eingebung wird darauf zurükzuführen seyn. Aber der Begriff kommt vor in solchen Anwendungen die auf Offenbarung und Eingebung nicht zu reduciren sind, nicht auf Offenbarung indem man äußerlich vernehmbare Thaten als Wunder aufstellt, die aber keine Veranlassung geben können zur Aufstellung eines religiösen Elements. Das factum in der Apostelgeschichte von der Erscheinung die Paulus hatte fällt in den Begriff der Offenbarung, denn es wurde ihm dadurch Jesus von Nazareth, ein religiöses Princip gegeben. | Aber wenn Paulus einen Todten auferwekt, so ist dies kein religiöses Element. Das ist an und für sich keine Offenbarung, in so fern es aber Uebernatürliches ist absolut oder relativ ist es ein Wunder. Solche kommen in allen eigenthümlichen Religionen vor und daher ist der Begriff des Wunders eine neue Untersuchung. Da hier von Thatsachen die Rede ist, welche keinen religiösen Inhalt haben, ist es nothwendig daß eine eigenthümliche Religion nicht nur auf Offenbarung und Eingebung sondern auch auf andern Wundern ruht? Sollte es uns einen Verdacht erregen gegen den reinen religiösen Inhalt eines facti wenn es von Wunder begleitet ist und gleichsam seine Begründung darin sucht? In der älteren Apologetik ist es darauf angekommen zu zeigen, daß das Christenthum von Wundern begleitet gewesen und daß dies wahre Wunder gewesen. Das war Vertheidigung gegen andre Religionen. In der Vertheidigung gegen den Naturalismus ist zu zeigen, daß das Christenthum nicht darunter leidet, daß es von Wunder begleitet ist. Die Entstehung einer Religion muß also eine ursprüngliche Thatsache seyn. § 6. geht vom Entgegengesetzten aus das auch wahr ist. Alle eigenthümlichen Religionen sind facta des menschlichen Gemüths und drüken dasselbe aus, sie müssen also alle einen Cyclus bilden und jede an ihrer Stelle nothwendig seyn. Jede muß ausdrüken das religiöse Princip im Menschen, wie es sich unter den jedesmaligen Umständen 14–15 Vgl. Apg 9,1–19; 22,6–21; 26,12–18; vgl. auch Schleiermachers Predigt am 19. August 1810 über Apg 9,3–22 (KGA III/4, S. 151–156) 18 Vgl. Apg 20,7–12 35 KD1 I 1 § 6 (KGA I/6, S. 260)

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ausdrücken mußte. Das letzte Ziel aller Bestrebungen ist immer, den Begriffen desjenigen was uns nur geschichtlich gegeben ist, etwas Nothwendiges geben zu können. Gehen wir nun zurük darauf, daß wir uns zu construiren suchen die Aeußerung des religiösen Princips vor jeder eigenthümlichen Religion in Vergleich mit derselben, so ist das bloß υποθεσις, es ist uns kein bestimmtes factum gegeben, wo das Natürliche ohne das Positive sey. Jede eigenthümliche Religion in ihrem Entstehen betrachtet ist also im Gebiet einer andern entstanden und muß also zu dieser in einem Verhältniß stehen, wie sie zu keiner andern steht. Wir müssen zwar behaupten können, sie sey eine andre als jene, aber wir müssen auch begreifen, daß und wie sie in einer andern hat entstehen können. So steht das Christenthum in einem specifischen Verhältniß zum Judenthum aber es steht doch auch in einem unmittelbaren Verhältniß zu dem gleichzeitigen hellenischen und Römischen Heidenthume. | Es ist zwar nicht in demselben entstanden, aber es ist doch daraus übergegangen. Dies führt auf die Untersuchung von Weissagung und Vorbild oder typus. Es muß eine reale Verbindung existiren zwischen einer neuen Religion und derjenigen auf deren Grund und Boden sie entsteht, doch muß die specifische Differenz dabei nicht fehlen. Es muß in der Idee des Volks eine gewisse Prädestination seyn, vermöge welcher sie die neue Religion annehmen. Was ist Weissagung? Hier nicht Vorhersagung, was gar nichts Religioeses enthält. Hier soll es ein religiöser Begriff sein. Es liegt darin die Andeutung auf das Eigenthümliche einer künftigen Religion zusammen, nicht mit einem früher Gesetzten in einer positiven Religion, sondern mit dem Mangelhaften in derselben und das ist der Character aller messianischen Weissagungen. Daraus muß sich entwikeln lassen der natürliche und nothwendige Zusammenhang des Christenthums mit dem Judenthum, daß aber auch das Christenthum keinesweges eine bloße Verbesserung des Judenthums sey, sondern daß es etwas ganz Eigenthümliches habe. Die Apologethik hat sich von Anfang an mit Auseinandersetzung dieses Begriffs sehr viel befaßt, aber freilich nicht immer ganz richtig, 12–17 Vgl. Stolpe: „In der Behandlung dieser Begriffe nimmt man gewöhnlich bloß auf das Judenthum Rücksicht und sagt: beide [Christenthum und Judenthum] zusammen genommen in ihrer Succession sind die vollkommen geschichtliche Darstellung der religiösen Idee, das Andere ist nur der leere Schein davon. Bei den alten Apologeten finden wir dies nicht. Sie meinen, es habe auch in der Religion des Alterthums Weissagungen gegeben: die doch eine gewisse Wahrheit voraussetzten. Fragen wir nun: wo kommen die allgemeinen Puncte für die Apologetik vor da finden wir daß diese Begriffe abgehandelt werden in den Prolegomena zur Dogmatik. Dies jedoch nur als Hülfsmittel anzusehen.“ (S. 192)

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indem man sich zu sehr auf die Vorhersagung gewandt hat, die Ahnung aber, die Idee ganz aus dem Auge verloren hat; worauf es doch eigentlich ankommt. Der Begriff Vo r b i l d ist schwieriger. Wir müssen ausgehen von seiner Relation zur Weissagung und fragen, wie verhält sich der typus zur Prophetie? Die Weissagung ist die Ahnung eines Künftigen in der Betrachtung, typus ist dasselbe in den Institutionen. Wenn man unter diesen Begriff alles Geschichtliche rechnete, was sich deuten läßt als eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Künftigen; wenn man z. B. sagt: Es ist ein typus auf das Opfer, das Christus geworden ist, daß Abraham durch eine Erscheinung aufgefordert wurde, seinen Sohn zu opfern, so ist dies bloß etwas Geschichtliches. Wenn man auf der andren Seite sagt, das Eingehen des Hohenpriesters in das Allerheiligste und die Besprengung mit dem Blute sey ein typus auf Christus so ist dies kein Historisches factum sondern eine Institution. Dies ist das rechte Gebiet des typus. Die Begriffe sind alle parallel, sie verhalten sich wie Kunst und Wissenschaft. Weissagung geht aus der wissenschaftlichen Betrachtung, typus gleichsam als Instinct hervor. Der eine Begriff hat nicht weniger Realität als der andre. Auf eine große Menge von Einzelheiten kommt es hier gar nicht an, wenn nur von jedem Ein Beispiel da ist. Und eigentlich kann es auch nur Eine Weissagung und Einen typus geben. Das Aussprechen der Messianischen Idee selbst ist auch die einzige Prophetie des Judenthums: Wie | oft diese ausgesprochen sey, das ist gleich. Die Institution des Opfers selbst, das Eigenthümliche des Judenthums, die so beschaffen ist, daß sich die Mangelhaftigkeit und anderweitige nothwendige Beschaffenheit von selbst hervorthut (Gegenstand im Brief an die Hebräer) ist der einzige typus. Indem man alles aus dem Standpunct des Christenthums betrachtete, hat man es angesehen als den Unterschied der Dignität des Judenthums vom Heidenthum, daß das Judenthum die Möglichkeit der Entwickelung in sich trug, das Heidenthum aber nicht, und darin den Vorzug des Judenthums gesetzt, daß wenn in demselben die Begriffe von Weissagung und Vorbild real sind, sie es im Heidenthum nicht seyn können. Wenn das Christenthum auch nur innerhalb des Judenthums sich verbreitet hätte, wie es innerhalb desselben entstanden ist so wäre eben so gewiß zwar das Christenthum auch keine bloße Verbesserung des Judenthums gewesen, aber das würde nie so deutlich zur Anschauung gekommen seyn. Nur erst durch das Ablösen des 10–12 Vgl. Gen 22, bes. 1–2 13–14 Vgl. Lev 16, bes. 2.11–16; ferner Hebr 9,6f 27 Vgl. etwa Hebr 9; 10,1–26; auch 5,1–6. Jonas, bereits seit April 1815 an der Berliner Universität immatrikuliert, hat mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Schleiermachers Vorlesung über den Hebräerbrief aus dem vorangegangenen Sommersemester 1816 gehört.

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§ 7.

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Christenthums vom Judenthum, als sich nemlich geschichtlich ergab, daß sich das Christenthum auch eines andren Ortes bedienen könne, dadurch kam die Unabhängigkeit und der specifische Character zum Vorschein. Das Verhältniß des Christenthums zum Judenthum und zum Hellenischen und Römischen Heidenthum ist deßhalb nicht dasselbe. Denn wir haben kein Recht zu sagen: Christus hätte können auch eben so gut im Heidenthum geboren werden als im Judenthum und darin der Unterschied. Aber es muß die Möglichkeit nachgewiesen werden, wie die Heiden vom Christenthum konnten ergriffen werden. Und nun liegen Weissagung und typus nicht auf dem Gebiet, was die Differenz zwischen Christenthum und Judenthum und Heidenthum ausdrükt, sondern es liegt im Gemeinschaftlichen. Es muß auch im Heidenthum ein Mangelhaftes unter dem positiven Namen Ahnung entstehen und da ist dieselbe Analogie von Weissagung und typus und wir müssen ebenfalls die Wirklichkeit in dieser Beziehung nachweisen, ob sich etwas analoges, sich auf das Christenthum beziehendes im Heidenthum nachweisen läßt. Die frühere Apologethik hat sich damit beschäftigt. Nachher ist es nachgelassen. Für die Heiden die Christen geworden waren, war dies eine Selbstvertheidigung, dies nachzuweisen. Als das Christenthum weniger von außen zunahm mußte dies wegfallen. Wenn wir den Faden verfolgen, so bekommen wir dieselbe Aufgabe in einer andern Gestalt wieder. Bei den Nordischen und Scandinavischen Völkern ist dieselbe Deduction und so werden wir wieder auf Andeutungen des Christenthums geführt. | Diese Aufgabe wächst immer, je mehr sich das Christenthum verbreitet90 und sie muß jedesmal statt finden, wo es sich verbreitet. In dieser Allgemeinheit ist also der Ort, diese Aufgabe aufzustellen. Eine neue Untersuchung, die sich bezieht auf den Gegensatz des sich gleich bleibenden und sich Verändernden in einer jeden einzelnen Religion. Die Kirche ist eine geschichtliche Erscheinung, in ihr ist also ein beständiges Vergehen und Bestehen. Dies bezieht sich auf alles, was zur Art gehört, wie sie sich ausdrückt, auf die Vorstellungen und Institutionen. Wenn in diesem Veränderlichen nicht etwas sich Gleichbleibendes wäre, so hätten wir auch nicht Ursach, die geschichtliche Erscheinung als Eine aufzusuchen und daraus das Wesen abzuleiten, das darin Unveränderliche, sondern wir müßten alsdann alle einzelnen Erscheinungen zusammen nehmen und darin das Unveränderliche nachweisen und aufsuchen. Haben wir nun von unsern beiden An90

Wenn z. B. das Christenthum unter die Indier käme, so käme es auch darauf an, dies Analoge nachzuweisen.

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fangspuncten aus eine ὑποθεσις aufgestellt über das Wesen des Christenthums, so müssen wir nachweisen 1. daß es ungerechnet aller Veränderungen im Christenthum etwas sich Gleichbleibendes giebt und 2. daß in diesem sich Gleichbleibenden das Wesen des Christenthums auf eine besondre Weise sich ausspricht. Diese Untersuchung ist hier reducirt auf die Begriffe des Canons und auf das Sacrament. Das Sacrament bezieht sich auf die Institutionen, der Canon auf die Vorstellungen. Allein es kann scheinen, als ob sie sich nicht auf eine ganz gleiche Weise darauf bezögen. Wenn wir sagen: der Canon verhält sich zu der ganzen Masse der religiösen Vorstellungen und das Sacrament zu dem Complexus der Institutionen wie sich das Gleichbleibende in einem jeden Dinge zum Veränderlichen darin verhält: so kann man einwenden, ja es ist wol wahr, daß der canon derselbe bleibt, aber die Auslegung des Canons verändert sich immer. Man kann sagen, der Canon ist nicht eine Masse von Vorstellungen sondern von Reden. Wenn wir sagen: es kommt zu dieser Masse von Schriften nichts mehr hinzu, nichts mehr davon, und dies ist der Canon, so ist dies ganz falsch, denn wir können nicht sagen, daß die Rede und Schrift die im canon enthalten ist, nicht immer gleich verstanden wird. Darin scheint der Begriff Sacrament vom Canon verschieden zu seyn. Sacrament ist eine Institution, die immer dieselbe geblieben und wir haben unmittelbar das Unveränderliche in den Institutionen und es wäre Unrecht, wenn man | jenes hineinzwingen wollte, daß es auch nicht immer dieselbe Bedeutung gehabt hat; denn eine Institution ist nicht das, was sie ist, durch die Vorstellung, sondern durch den Effect. Aber auf einem anderen Puncte ist auch hier etwas Analoges. Von dem Canon müssen wir sagen: Als Masse von Rede und Schrift betrachtet ist nichts dazugekommen und nichts davon. Man kann aber nicht sagen, daß zum Sacrament nichts gekommen und nichts davon genommen sey. Es ist z. B. davon genommen im Protestantismus oder es ist dazu gekommen im Catholicismus, wenn wir behaupten wollen, daß erst bei der Scheidung des Catholicismus und des Protestantismus die sieben Sacramente bestimmt sind. Aber was beiden gemein ist, ist doch unverändert geblieben. Die Un21–34 Vgl. Stolpe: „Es muß nachgewiesen werden wegen des bestimmten Wechsel in der Erscheinung etwas in der Realität der Erscheinung, worin sich die Identität darstellt, daß die Gesellschaft wirklich ein Continuum ist. Wenn einer fragen will, wo ist denn die christliche Kirche? so sagen wir ihm sie ist da wo die Getauften sind. Mit dem Abendmahl ist es etwas anderes, es ist dies etwas Specielles, ein Punct also, wo die allgemeine Apologetik in die specielle übergeht; allein wir halten doch das katholische Abendmahl ebenfalls für ein Sacrament, selbst in der Polemik gegen die katholische Kirche unterscheiden wir genau das Meßopfer als den Gegenstand der Polemik und dann die Art und Weise des Mahles: die wir als Differenz PkleinS ansehen.“ (S. 193)

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gleichheit in der Zahl ist hier eine Unvollkommenheit, die im canon nicht ist, im canon ist die Verschiedenheit der Auslegung, die im Sacrament seiner Natur nach nicht seyn kann. Was ist das Wesen des canons, wodurch sich die Masse von Rede und Schrift von allen anderen unterscheidet? Der Unterschied kann nur darin liegen, daß im Canon die Reduction des Veränderlichen auf das Unveränderliche gleichsam niedergelegt ist und die verschiedene Art der Auslegung des Canons ist nur die verschiedene Art der Reduction eines Neu entstandenen Veränderlichen auf das Unveränderliche. Die Schwierigkeit bleibt die: es kann keine Zeit geben in einer geschichtlichen Erscheinung, wo nicht das Veränderliche auch wäre; denn jede Erscheinung ist das Veränderliche; die Idee ist das Unveränderliche. So ist im Christenthum nur das Unveränderliche die Art der Gedanken, denn die Gedanken selbst sind auch noch veränderlich und so muß der canon auch veränderliche Vorstellungen in sich enthalten und dies muß sogar von allen einzelnen Vorstellungen im canon gelten. Das ist nur ausgesprochen in der Erklärung vom Canon, daß er die Schrift ist, worin die Reduction des Veränderlichen auf das Unveränderliche niedergelegt ist. Das Wesen des Canons ist darin, daß in der Rede und Schrift es am leichtesten und anschaulichsten ist, das Eigenthümliche der Form in der Gedankenproducirung zu finden, d. h. das Wesen des Christenthums als gedankenproducirender Trieb muß im Canon am anschaulichsten zu finden seyn. | Im Sacrament sollen eben so die Grundempfindungen ausgedrükt werden, von welchen alle andern religiösen Elemente ihrem Inhalte nach können hergeleitet werden. Beide Begriffe werden jetzt in der christlichen Kirche nicht in gleichem Umfange genommen. Allein es bleibt dessenungeachtet ein gemeinschaftliches Gebiet und der Streit ist mehr Wortstreit. Es gehört mit in die Apologethik die Rechtfertigung, wie eine jede Kirche die Begriffe anwendet. Eine neue Untersuchung. Da die Apologetik nur von dem einen Punct ausgehen kann, daß das Religioese im Menschen gegeben ist, so muß immer diese Untersuchung hinzukommen, welche die Compossibilität betrifft. Es muß gezeigt werden, daß dasjenige was aus der Religiosität entsteht, die Kirche daß diese zusammenbestehen kann mit den Gestaltungen des gemeinschaftlichen Lebens auf eine andere Weise. Dies muß von der Apologetik nicht nachgewiesen werden vom 37–38 den Gestaltungen des gemeinschaftlichen Lebens auf eine andere Weise] Kj den Gestaltungen des auf eine andere Weise gemeinschaftlichen Lebens 32 KD1 I 1 § 8 (KGA I/6, S. 260)

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Christenthum im Allgemeinen, sondern in wie fern es sich zur Kirche gestaltet. Diese Untersuchung geht aus in die Deduction der Begriffe Hierarchie und Kirchengewalt. Neben der Kirche ist auf dreierlei Rüksicht zu nehmen 1. auf das gemeinschaftliche Leben: im Staat. 2. auf das gemeinschaftliche Leben in wie fern es von der Wissenschaft ausgeht. 3. auf das gesellschaftliche Leben der Einzelnen untereinander. Es muß nachgewiesen werden, daß Eins das Andre nicht stört. In den andern Gebieten bewegt sich der Einzelne auf eine mehr oder weniger freie Weise. Das dritte ist das freiste das erste das gebundenste. Ein andres ist es wo der Einzelne gebunden ist im Staat und wo die eine Art des Gebundenseyns mit der andern im Widerstreit ist. Im Staat ist das Verhältniß der Obrigkeit und Unterthanen also keine absolute Freiheit. Ist man in der Kirche ganz frei? Nun dann ist kein Widerstreit zwischen den beiden Staat und Religion. Darin daß man sich die Möglichkeit eines solchen Widerstreits denkt oder daß man sich nicht klar denkt, daß ein Widerspruch unmöglich sey, ist das Bestreben entstanden die Religion zu nationalisiren. Die Religion soll bestimmt seyn durch die Form des bürgerlichen Lebens oder umgekehrt. Dies finden wir in der Geschichte häufig. Wo dies der Fall ist, da hat H i e r ar c h i e kein besonderes Gebiet, wenn die Religion durch den Staat bestimmt ist so ist eine Theocratie, bestimmt die Religion den Staat, so ist eine Staatsreligion. Ohne das ist der Widerstreit gelöst. Diese Art der Lösung findet im Christenthum statt. Es verbreitet sich über verschiedene Völker und verschiedene Verfassungen. Es hat sich eben deßhalb in der Kirche der Gegensatz von Obrigkeit und Unterthan im Staat in Geistliche und Laien ver2–3 Vgl. Stolpe: „Mit dem Wort Hierarchie verbinden wir oft einen Tadel und verstehen darunter schon etwas was nicht ohne Corruption besteht. Das Verhältniß in welchem die beiden Ausdrücke Hierarchie und Kirchengewalt stehen, ist dieses. Unter Hierarchie versteht man nichts anderes als die Organisation der Kirche in Bezug auf das, was in ihr das öffentliche Leben ist. Sobald es eine bestimmte Geschäfftsführung in der Kirche giebt, so giebt es eine Hierarchie, sie ist eben so gut in der evangelischen wie in der katholischen Kirche, sowohl in unsrer Consistorial wie Synodalverfassung. Was unter dem Ausdruck Kirchengewalt begriffen ist, steht mit dem Begriff der Hierarchie in genauem Zusammenhang, der letzte Ausdruck hat es mehr mit dem Persönlichen zu thun, der erste drückt das Sachverhältniß aus. [...] In neueren Zeiten hat es viele gegeben, die sagten: die christliche Religion als solche ist schon etwas was man dulden kann, aber daß es eine christliche Kirche giebt, wäre etwas Verderbliches und gar nicht zu dulden: Diese Vorwürfe haben wir ja oft genug von der antikirchlichen Partei gehört. Wir vertheidigen das Bestehen der christlichen Kirche in unserer Form und überlassen der katholischen Kirche dasselbe zu thun.“ (S. 193)

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wandelt. | Diejenigen welche in der Kirche regieren, können regiert werden im Staat und die in dem Staat regieren, können Laien seyn in der Kirche und es ist zu zeigen, daß Eins dem Anderen nicht im Wege steht. Diese Deduction ist allerdings sehr schwierig, nemlich so bald man auf die Möglichkeit zurükgeht, daß eine von den geschichtlichen Erscheinungen krankhaft ist. Aber man muß vorzüglich nachweisen, daß wenn ein Streit entsteht zwischen der Politik und der Religion nothwendig Eins von beiden in einem krankhaften Zustande seyn muß. Es ist nun nur zu zeigen: hält sich beides gesund, so ist kein Streit. Es geht immer darauf zurük, ob ein Streit oder Schein von Widerstreit entstehen kann zwischen dem Religiösen Gefühl als Princip und dem Politischen Gefühl als Princip, zwischen dem religiösen und politischen Gewissen. Wenn der Fall vorkommt, daß einer, der in der Kirche regiert, in dem Staate regiert wird, etwas was der Staat verordnet nicht für übereinstimmend mit der Religion hält, so wäre eins von beiden krankhaft. Wenn der Kirche nichts im Wege steht, sich so rein zu halten, als sie will durch die Kirchengewalt, so ist sie ganz unschuldig an allem Streit. Das ist aber nicht leicht zu erwarten. Was der Staat von dem Einzelnen fordert und was die Kirche von dem Einzelnen fordert muß niemals so aneinander kommen, daß es der Einzelne nicht vermöge seiner Freiheit zu lösen im Stande sey. In demselben Maaße, in welchem die persönliche Freiheit des Einzelnen beschränkt ist, werden die Differenzen geringer und je mehr die Differenzen wachsen, desto größer muß die Freiheit seyn, die Differenzen auszugleichen. Gesetzt der Staat befiehlt einem etwas gegen die Religion. Kann man die Pflicht vom Staat aufgelegt auf irgend eine Weise ablehnen? Dies scheint in das Gebiet der persönlichen Freiheit zu führen und nicht mehr theologische Deduction zu seyn. Dies ist der Punct, wo die Deduction nie kann zu Ende gebracht werden. Sie endigt, daß nachgewiesen werden muß, wenn bei einem solchen Falle kein Ausweg ist, der Staat oder die Kirche in dem Puncte krank sey. Z. B. die Mennoniten und Quäker ziehen nicht in den Krieg. Wenn er dazu aufgefordert wird und er kann einen andren für sich stellen, nun so ist die Sache ausgeglichen. Aber wenn nun der Staat befiehlt, daß durchaus jeder das Vaterland vertheidigen soll, so liegt eine Unverträglichkeit des Staats auf diesen Seiten zum Grunde. | Es muß hier aber nothwendig gezeigt werden: entweder es ist ein krankhafter Zustand vom Staat, daß er die Verbindlichkeit zum Kriegsdienst so stellt, daß man für sich keinen andern schiken kann, oder es verträgt sich das Christenthum recht gut mit dem Kriegsdienst. Hierarchie ist nur indem einer regierend ist auf der religiösen Seite und untergeordnet auf der andren. Hier ist ein zwiefaches Verhältniß des Gehorchens, was der Staat befiehlt und was die Obere Geistlich-

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keit befiehlt. Darum hat man gesagt: es sey durchaus nothwendig die Religion zu nationalisiren, und die Geistlichen zu Staatsmännern mit zu machen. Das ist eine Ansicht, welche sich das Christenthum nicht kann gefallen lassen, denn es verliert seine Einheit dadurch. Der Clerus in seiner Selbstständigkeit, (was eigentlich Hierarchie ist,) muß in der Apologethik gezeigt werden, daß beide recht gut neben einander bestehen können. In der catholischen Kirche ist die scheinbare Möglichkeit eines Streits weit bestimmter ausgesprochen, dadurch, daß die Hierarchie endigt in einer Spitze, in einem Menschen, wodurch ihm also jeder Einzelne untergeordnet ist. In der protestantischen Kirche ist ein solcher Zustand nicht, vielmehr ist da ein Schein, als ob die Kirche dort in jedem Staat national ist, weil da die Geistlichkeit nicht in Verbindung ist mit ausländischer Geistlichkeit, sondern nur mit der in einem Staate, und als ob der Staat immer mehr und weniger die Kirche beherrscht. In der Kirche ist aber die Tendenz, den Clerus immer mehr zu heben, im Staat ist die Tendenz, dies zu verhindern und so muß einmal der Streit entstehen, wenn die Deduction nicht richtig geführt wird. Es können aber bald Umstände entstehen in der protestantischen Kirche, welche sie der catholischen noch näher bringen. Alle größere Vereinigung von Kräften bringt größere Resultate hervor. Es sind mehrere kleine Staaten, in welchen die protestantische Kirche entweder allein herrscht oder doch am meisten herrschend ist. In diesen muß sehr bald ein Wunsch entstehen, je mehr sich in größeren Staaten der Clerus zur Hierarchie bildet, sich daran anzuschließen. Es wird dann zu einer Form der Vereinigung kommen. Wenn sich das nicht löst, so wird die Aufgabe eintreten. | Man könnte es einseitig finden, daß die ganze Untersuchung hier auf Hierarchie und Kirchengewalt bloß gerichtet ist, da es doch auf das Gefühl ging. Wir haben aber gesehen: betrachten wir die Gefühle beider Art, so beruht die Möglichkeit der Lösung des Streits auf dem Umfang der persönlichen Freiheit. Ist dieser bestimmt so, daß jeder Einzelne sich wirklich frei fühlt, so, daß er nicht zu einem innern Widerspruche gezwungen ist, so ist die Beschaffenheit der Organisation der Kirche etwas Gleichgültiges. Aber das Gefühl eines Einzelnen ist nur das gemeinschaftliche Gefühl und dies ist gerade derjenige Theil der Untersuchung, der mit dem Wesen der Religion am genausten zusammenhängt und der in der Apologethik allein kann geführt werden. Dies ist das Aeußere. Nun kommt aber noch der specielle Theil wie fern das Christenthum in verschiedene Parteien fällt. Das Christliche schlechthin verhält sich alsdann wie das Natürliche und 39 KD1 I 1 § 9 (KGA I/6, S. 261)

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was den Character der einzelnen Partei ausmacht ist das Positive. Man muß also nachweisen, in wie fern die Partei etwas für sich Bestehendes ist oder nicht und das ist Offenbarung, Wunder, Eingebung. Dazu die Correlate § 6. Es muß schon Andeutungen gegeben haben. Endlich ist auch nachzuweisen der Gegensatz zwischen dem sich Gleichbleibenden zum Veränderlichen wie im Christenthum durch Canon und Sacrament. Für die einzelne Kirchenpartei ist Confession oder Symbol was canon für das Christenthum und Ritus was im Christenthum Sacrament ist. Wenn eine Kirchenpartei Symbole aufstellt, so geschieht das, um ihre eigenthümlichen religiösen Vorstellungen in einen bestimmten Gegensatz von der Kirchenpartei, wovon sie sich trennt aufzustellen. Dies kann nur geschehen, während die neue Kirchenpartei im Werden ist. Die Kirche konnte zwar gegen einzelne heretische Secten Symbole aufstellen und sie war doch schon da und nicht im Werden. Aber es ist im Grunde dasselbe, denn es kamen doch verschiedene Begriffe zum Vorschein und mehrere Fragen, durch deren Beantwortung sich die Heretiker von der allgemeinen Kirche trennten und in Rüksicht auf diese Begriffe war die Kirche im Werden. Was im Werden ist, ist noch nicht fertig, es kann also etwas das festgesetzt wird, nur ein Durchgangspunct seyn und so scheint die Confession wandelbar zu seyn? Dasselbe gilt auf eine andere Weise vom Ritus. Dieser ist als bestimmte Art und Weise d P S PimS Cultus zu construiren, etwas Entgegengesetztes andrer Kirchenparteien, | aber auch in sich selbst ist er verschieden. Selbst die Catholiken haben verschiedene Ritus. Die constanteste mag die englische bischöfliche Kirche seyn, die aber 22 seyn?] vermutlich nachträglich korr. aus seyn. 4 Vgl. KD1 I 1 § 6 (KGA I/6, S. 260) 10–14 Vgl. Stolpe: „Da giebt es nun bedeutende Schwierigkeiten, diese liegen besonders im Grundsatz der evangelischen Kirche, daß die heilige Schrift die einzige Quelle der christlichen Lehre [sei] und diese nur durch ein bestimmtes Forschen in der Schrift könne ausgemittelt werden. Als es darauf ankam die evangelische Kirche zu constituiren, wollte dies Negative nicht zulangen, und da ergab sich die Nothwendigkeit eines Positiven, wie die Confession ist. Der Ausdruck ‚symbolische Bücher‘ hat nicht denselben Gehalt, es bestehen dieselben aus zwei verschiedenen Klassen: es giebt auch symbolische Bücher, die nur ein Regulativ sein sollten für das was in der Confession verhandelt wird. Die Confession ist eben das, wodurch sich die Kirche nach außen hin constituirt. Solche Erklärung und jener Grundsatz stehen in scheinbarem Widerspruche: Das Forschen in der Schrift ist in Bezug auf das Feststehende immer abgebrochen. Jeder kann die Schrift nur zur Norm machen, in wie fern er sie einsieht. Die Aufgabe der Apologie ist also denn, das Bestehen einer Confession und die Haltung an derselben so darzustellen, daß jener Grundsatz doch feststeht. Schwerlich möchte diese Aufgabe schon ganz gelöst sein.“ (S. 195) 22–3 Vgl. Stolpe: „Das Positive des die Kirche constituirenden Ritus ist daher bloß in den Sacramenten, doch ist in diesen auch in der Art und Weise wieder eine große

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zur reformirten Kirche gehört, sie ist also PalsS Theil davon und der Ritus ist partiell. In der protestantischen Kirche ist überall Verschiedenheit im Ritus. Wie kann man dies also als das Beständige ansehen? Dies ist dieselbe Weise zu behandeln, wie wir es beim Begriff des canons gesehen haben. Er ist bezogen auf die productiven Kräfte, worin das sich selbst Bleibende ist, nicht ein Aggregat von Erscheinungen. Die Confession entsteht auch nur indem eine Kirchenpartei im Werden ist. Dasselbe gilt auf eine andre Weise vom canon. Wenn wir ihn auf die ursprünglichen Elemente reduciren, so werden diese schon vorhanden gewesen seyn, ehe das Christenthum sich vollkommen ausgesondert hat von dem Judenthum. Aber wie war es ins Werden gekommen? Durch die eigenthümliche Gestaltung, und diese muß sich im canon gegen die andren Gestaltungen offenbaren. Es giebt darin viele Vorstellungen, Grundvorstellungen des Christenthums die ausgedrükt sind bald gegen das Judenthum bald gegen das Heidenthum. Sie sind also gebildet für die Zeit und in der Zeit, und so müssen sie verändert werden können. Wir haben also auch hier das Veränderliche, und das gilt von allem Einzelnen. Auch in der Confession ist das Product der gegenwärtigen Lage aus der vorigen mehr polemisch mehr negativ. Man muß immer im Auge behalten, daß alle Begriffe dieser Art dem allgemeinen, dem canon der ganzen Kirche untergeordnet sind. Es hat zu einer ungeheueren Vorstellung vom Protestantismus Anlaß gegeben, wenn man sagt: es liegt dabei zum Grunde ein sich Weigern gegen jede menschliche Autorität in Glaubenssachen. Das ist wahr und das ist dem Catholicismus entgegengesetzt. Aber wenn man den canon selbst als menschliche Autorität ansieht, so wird der canon verschlungen und der Protestantismus protestirt nicht nur gegen den Catholicismus sondern gegen das Christenthum und das ist die unförmige Vorstellung. 22 sind] ist Verschiedenheit. So haben wir keinen positiven Ritus als die Taufe und das Abendmahl: hierin nichts Wesentliches als in der Taufe die im Kanon festgestellte Formel und im Abendmahl die Darreichung beiderlei Gestalten. – Wir haben einen Lehrstand wie die katholische Kirche, also die bestimmte Art und Weise wie der Einzelne in dies Amt tritt, dies die Ordination. Nun müssen wir aber sagen: wie die Ordination vollzogen werde, darüber stehe bei uns nichts fest. Dann aber halten wir die Ehe nicht in diesem Sinne wie die Katholiken für ein Sacrament, doch gestehen | wir, daß die Existenz der Kirche vom christlichen Hausstande abhängt, daher die kirchliche Einsegnung auch vollzogen wird. Auch hier müssen wir wieder festhalten das was im Wesen der Kirche beruht, zugleich die für die Festhaltung der geschichtlichen Einheit der Kirche nothwendige Freiheit.“ (S. 195f)

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Aus der gemeinen Apologetik muß sich eine ausschließlich specielle entwikeln und diese specielle Apologetik zieht sich in die allgemeine zurük. Die vorigen Begriffe werden in den verschiedenen Kirchenparteien nicht auf gleiche Weise angewendet. Wir haben zwei Sacramente, die Catholiken sieben, welche bei uns als kirchliche Handlungen vorkommen. Es müssen also andre Begriffsbestimmungen seyn. Ist der Begriff anders, so muß er auch anders deducirt seyn und so zieht sich der specielle Begriff in den allgemeinen zurük. | Wenn wir das Identische des Christenthums fixiren im canon und in dem Sacrament wie wir Protestanten sie uns fixiren, so setzen wir das Christenthum als etwas Festes gegen andre Religionen als etwas bestimmtes und nicht zu Turbirendes. Die Catholiken nehmen dieselbe Operation vor. Wir werden dies aus gleicher Dignität anerkennen und das sollen wir, weil hier das Specielle nur das Untergeordnete ist und es wäre Unrecht, wenn wir sagen wollten, es wäre besser das Christenthum gar nicht zu vertheidigen als vom catholischen Standpunct aus. Wenn wir anerkennen das specielle Verfahren welches ausgeht von PeinerS entgegengesetzten Partei, so könnte man sagen, es beschränke sich die specielle Apologethik nicht darin, daß man den Protestantismus sichere, sondern indem wir dies als etwas Specielles annehmen, so setzten wir ein anderes Specielles daneben und erkennen es zu gleicher Zeit mit an. Dies kann man sich gewissermaaßen als das höchste Ziel denken, wohin wir einmal kommen könnten, wenn die unruhige Polemik zwischen beiden Parteien aufhörte und eine Partei die andre anerkennte. Damit wird zugleich die Polemik sich bloß auf das Heretische beziehen. Allein das ist ein Punct, der schwerlich jemals wird erreicht werden und die Unerreichbarkeit desselben liegt schon darin, daß das Specielle in der Apologethick seinen Einfluß in das Generelle hat. Dies hat alle Analogie für sich. Wir können uns das Christenthum nicht anders denken als eine im allgemeinen Princip gegründete Form, neben welcher aber auch andre Formen bestehen können und wir sagen: die andren Religionen sind PebenS unvollkommner und wir würden keine Christen seyn, wenn wir dies nicht dächten, und keine Protestanten, wenn wir den Protestantismus nicht für besser hielten als den Catholicismus. Dazu gehört keine Verblindung und man wird deßhalb nicht alles im Catholicismus für schlechter halten, ja Einiges für ausgebildeter sogar, aber wir werden immer sagen, was im Prote34 PebenS] oder PaberS 1 KD1 I 1 § 10 (KGA I/6, S. 261)

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stantismus anderes ist, das ist das Wesentliche. Die ganze Apologethik wird von diesem Gegensatz afficirt. Wir sollen bloß ein klares Bewußtseyn davon haben, was sich von dem einen und dem anderen herleiten läßt. Dies führt auf § 11. Schon was gesagt ist über die Schwierigkeit die Begriffe Symbol und Ritus vollkommen zu fixiren und über das Ineinandergreifen des Specifischen und Allgemeinen im apologetischen Verfahren[:] beides beruht auf der Entstehungsart einzelner Parteien. | Eine Kirchenpartei im Gegensatz gegen eine andre kann nicht anders entstehen, als aus einem Zustande, wo der Gegensatz null war. Die Kirche die bis jetzt Eins war fängt sich an zu theilen in zwei einander entgegengesetzte Gebiete, so wird jede eine Beziehung auf den vorigen Zustand haben und dadurch den Gegensatz ausdrüken. Die catholische Kirche sagt: sie ist dieselbe geblieben und der Protestantismus ist entstanden als ein Schisma. Die Protestantische Kirche sagt: wir sind die wiederhergestellte ächte alte Kirche der Catholicismus ist neben uns entstanden nur aus der Weigerung, die Mißbräuche abzuschaffen und er ist nichts als das Fixirtseyn dieser Mißbräuche also ein organischer Krankheitszustand. So sieht jede Partei die andre an, in wie fern sie sich nicht als coordinirt ansehen. Sie führen sich also alle auf den vorigen Standpunct zurük. Daher entsteht, daß jede Partei der anderen einen solchen Vorwurf macht hinsichts der Entstehung und daß jede Partei genöthigt ist, sich dagegen zu vertheidigen. Der Vorwurf hat eine doppelte Gestalt. Wir Protestanten können nicht leugnen, wenn wir auf die Aehnlichkeit der äußeren Erscheinungen sehen, so gleicht die catholische Kirche, wie sie ist, weit mehr dem Zustande, in dem sich die Kirche befand vor der Entwikelung des Protestantismus. Wir sagen nun: eben in dieser ganzen äußeren Gestaltung der Kirche hatten die Mißbräuche den größten Einfluß gehabt, indem wir diese entfernten, mußten wir uns von jener äußern Gestalt entfernen. Aber wir können mehr nachweisen unsre Identität mit einem früheren Zustande, wo die Mißbräuche noch nicht waren. Wir beschuldigen also die catholische Kirche, daß sie die Corruptionen fixirt hat. Die catholische Kirche sagt: was wir festgehalten haben ist alles in dem Princip des Christenthums und seinen geselligen Aeußerungen gegründet. Ihr seyd also, indem ihr glaubtet Mißbräuche abzustellen, aus der Einheit der Kirche herausgegangen, ihr habt Anarchie und ein Schisma gemacht, worin das Heretische zugleich liegt. Die Catholiken können sich ohne diesen Vorwurf nicht vertheidigen und wir nicht ohne jenen. Wenn wir uns den Vorwurf der Catholiken 5 KD1 I 1 § 11 (KGA I/6, S. 261)

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gefallen lassen, so müssen wir sagen: wir sind Schismatiker und Heretiker. Wenn die catholische Kirche sich unseren Vorwurf gefallen läßt, so muß sie ihre Corruption zugestehen, daß sie [ein] nicht auf dem religiösen Gebiet | liegendes, oder wenn ein darauf liegendes, ein nicht christliches Princip habe. Wir werfen ihnen also vor: daß ihr Princip ein unchristliches sey, ein heidnisches und daß das constitutive Princip desselben ein politisches kein religiöses sey. Wir haben uns auch gegen zwei Vorwürfe zu vertheidigen 1. daß unser Princip ein antikirchliches sey und 2. daß es ein nicht im religiösen Princip sondern im wissenschaftlichen Gebiet begründetes daß es ein philosophirendes nicht ein religieuses sey. Wir müssen uns also dagegen vertheidigen, und sagen daß der Schein der Anarchie nur hervorgegangen ist aus Bestrebungen, die keinesweges darauf hinzielten, eine äußre Spaltung zu begründen. Es ist nur die negative Seite, wenn eine Kirchenpartei deducirt, daß sie weder auf dem Wege der Anarchie oder Corruption entstanden ist. Was ist nun die positive Seite? Siehe § 5. Wenn wir sagen das Christenthum ist eigenthümliche Religion, Protestantismus und Catholicismus zwei verschiedene Gestaltungen desselben, so fragen wir: warum setzen wir nicht jede als eine eigenthümliche Religion und halten das Christenthum bloß für einen abstracten Begriff? Dies vermeiden wir, weil das Christenthum früher nicht getheilt war. Was für Analogie findet danach statt zwischen dem Entstehen des Protestantismus und des Christenthums überhaupt? Finden auch hier die Begriffe von § 5. statt? Dies leugnen wir: denn wenn diese anzuwenden wären, so müßte der Protestantismus eine ganz neue ursprüngliche Religion seyn. Diese analogie leugnen wir und das ist auch ein Negatives. Wir können das Positive jedoch aus § 11. herausnehmen. Nemlich wenn der Catholicismus nichts wäre als ein Corruptionszustand, so wäre der Protestantismus nichts als die Befreiung des Christenthums von dieser Corruption. Wenn wir ihn so bloß darstellen könnten, so würden wir nicht vertheidigt seyn gegen den Catholicismus, welcher seine Corruption leugnet. Indem wir den Protestantismus wollen als eigenthümliche Modification aufstellen, müssen wir dies auch in seinem Entstehen nachweisen, daß er nicht bloß Mißbräuche abgeschafft, sondern schon Eigenthümliches in sich trug. Dies hängt zusammen [mit dem,] was für das Christenthum im Allgemeinen § 6. ausgedrükt war. So wie in diesem ausgedrükt war die Verbindung 17 Vgl. KD1 I 1 § 5 (KGA I/6, S. 260,4–7) 24–25 Gemeint sind die Begriffe Offenbarung, Wunder und Eingebung; vgl. KD1 I 1 § 5 (KGA I/6, S. 260,4–7). 38– 1 Vgl. KD1 I 1 § 6 (KGA I/6, S. 260,8–13)

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mit dem Judenthum und Heidenthum so muß man in der speciellen Apologetik zeigen, daß schon vor der Entstehung des Protestantismus einzelne Spuren vorhanden gewesen, welche darauf hingedeutet haben und sich unter Weissagung und typus subsumiren lassen. Dies auf der einen Seite und auf der andren Seite | das Nachweisen eines eigenen Gestaltungstriebes, hat sich eine Kirchenpartei gestaltet, und das ist die positive Gestalt. Dazu muß man alle Anfangspuncte des Protestantismus die norddeutschen mit den schweizerischen combiniren. Wenn wir uns das bisher gesagte als die wesentlichen Theile dieser Aufgabe denken, so können wir leicht zu der Besorgniß kommen daß wir zu viel thun könnten. Wenn wir sagen: der Protestantismus verhält sich auf eine ähnliche Weise zum Christenthum, wie das Christenthum zum religiösen Princip und dies zu beweisen suchen, so scheint der Protestantismus als etwas immer dauerndes nachgewiesen zu seyn. Er kann aber nur immer dauern im Gegensatz gegen den Catholicismus und es scheint aus dieser Deduction hervorzugehen, daß dieser Gegensatz nicht wieder untergehen kann. Dies scheint aber in der That zu viel zu seyn und gegen die ganze Analogie sowol früherer Geschichte als der Art, wie sich das Verhältniß selbst zwischen Protestantismus und Catholicismus verschieden gebildet hat. Es hat schon ähnliche Gegensätze im Christenthum gegeben, wenn gleich nicht so vollständig ausgebildet. Die judaisirenden Christen und die universalistischen. Die catholische Partei und die gnostische Partei. Diese verhalten sich im Wesentlichen eben so und sie sind wieder verschwunden. Das Fundament, worauf sie beruhten, war eben so durch die ganze Kirche dringend, der Streit eben so heftig und dennoch sind sie verschwunden, woraus man den analogen Schluß machen kann, wenn uns jetzt die Beziehungen des Gegensatzes auch solche zu seyn scheinen, daß sie nicht wieder aufhören, so wird man auch damals das gedacht haben. Wenn wir sehen auf die Art, wie sich das Verhältniß schon umgebildet hat, so müssen wir sagen, daß der Gegensatz schon sehr gemildert erscheint, denn als die Reformatoren zuerst auftraten, so glaubten sie nicht, daß zwei Kirchenparteien entstehen sollten, es war weder ihre Absicht noch ihre Ahnung. Die Trennung kam zu Stande. Jede Partei erklärte die andre für heretisch, das im Christenthum sich Gleichbleibende den canon und die Sacramente verfälschend. Dieser zu scharfe Gegensatz hat sich sehr gemildert. Die Protestantische hat angefangen mit einer liberalern Ansicht von der PentgegenstehendenS Partei, die Catholische fängt an, zu folgen. Sie erklärt die Protestanten nicht mehr für Heretiker sondern bloß für Schismatiker, und es läßt sich voraussehen, daß der Gegensatz noch viel verlieren wird. Wir 9 KD1 I 1 § 12 (KGA I/6, S. 261)

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können freilich noch nicht schließen, daß | er im Verschwinden begriffen sey. Die Reformatoren hielten zu ihrer Zeit den Gegensatz für vollendet. Die Zeit hat aber gelehrt, daß der Gegensatz noch gar nicht vollkommen ausgebildet war und es giebt eine Seite, wo die Bildung immer noch nicht in ihrer Vollendung ist. Wenn auch dies der Fall ist, so ist diese Läuterung des Protestantismus von allem Catholischen doch nicht der Art, daß Streit darüber entstehen könnte und die Milderung des Gegensatzes geht ihren ungestörten Gang. Aus dieser Milderung folgt auch noch nicht das gänzliche Verschwinden. Man kann sagen: sie leben bloß friedlich neben einander und erkennen einander an. Aber die Möglichkeit des Verschwindens der ganz ausgebildeten Gegensätze aus den obigen Analogien ist klar und indem wir die Möglichkeit anerkennen müssen, so müssen wir auch der Apologetik eine solche Gestalt geben, daß wir nicht in dem corpus der theologischen Disciplin eine Revolution veranlassen, so daß wir darin etwas fixiren, was darin nicht bestehen kann. Revolutionen sind immer gefährlich und rühren von der menschlichen Kurzsichtigkeit her. Wenn man alle Uebel wahrnimmt so lange sie klein sind und ihnen entgeht, und wenn man nicht fixirt, was nachher einer Verbesserung bedarf, so kann keine Revolution statt finden. Die Wissenschaft ist nun gerade dasjenige was zum Richtmaaß dienen soll, worin alles durchschaut oder vorausgesehen werden soll, und in ihr muß der Grund nicht liegen, daß eine Revolution möglich ist und man muß sagen, daß wenn man sie angewandt hätte in der Praxis, es ohne Revolution abgegangen wäre und wenn man etwas so fixirt, daß es nicht ohne Revolution kann abgeschafft werden, so ist das zu viel gethan. Wie muß sich dagegen die Apologetik rein begrenzen? Es ist nicht einerlei ob man sagt: es war natürlich daß sich ein solcher Gegensatz zwischen Catholicismus und Protestantismus bilden mußte oder wenn man sagt: dieser Gegensatz ist in der Idee des Christenthums selbst begründet. Das Veränderliche nemlich muß mit in die allgemeine Idee aufgenommen werden. In so fern dies geschieht und realisirt werden kann, so sind die verschiedenen Formen der Religion in der allgemeinen Idee selbst begründet und als ein mit ihr Gleichzeitiges, wenn sie gleich sich erst in der Zeit entwikelt haben. Wenn wir den Gegensatz aus dem Christenthum selbst herleiten so muß der Gegensatz auch im Christenthum gegründet seyn und kann eigentlich nicht aufhören. | Dies muß man nicht als die Aufgabe streng stellen, denn so verlangt man, daß sich alle gegen das Verschwinden wehren und verschwindet es dann doch, so kann es nur auf revolutionäre Weise geschehen. Der Gegensatz zwischen Catholicismus und Protestantismus ist zwar in der Idee selbst möglich aber er hat einen Theil der dieser

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Idee selbst zufließt. Wenn z. B. gezeigt würde, um diesen Gegensatz hervorzubringen, muß ein Nationalgegensatz seyn vermöge dessen sich das Christenthum auf diese und in andern Staaten auf die entgegengesetzte Weise bildete und einige, so lange sie nicht in dieser Form staken, nicht im ruhigen Zustande PwarenS. Ferner wenn man sagt: dieser Gegensatz mußte auftreten in einer gewissen wissenschaftlichen Bildung, aber dann ist der Gegensatz nicht in der Idee des Christenthums nothwendig begründet und es wird ein ruhiges neben Einanderseyn beider Theile geben wenn jeder sich gehörig ausgebildet hat. Aber wenn eine Vermischung und Durchdringung statt findet der Völker, dann muß auch Durchdringung dieser Formen statt finden, dann haben sie ihre Basis verloren und können nicht bestehen. Wenn das wissenschaftliche Gebiet in eine andre Relation tritt, daß die verschiedenen Ansichten seiner Verhältnisse zum Religiösen nicht mehr statt finden, so ist auf diese Weise die Basis verloren und die Möglichkeit des Verschwindens ist da. Die Apologetik beruht also auf der größten Geschichtsforschung und ist nichts als die Anwendung der speculativen Geschichte auf eine gewisse Erscheinung und die philosophische Theologie kann nicht vollendet seyn, als in dem Maaße, als die historische vollendet ist, denn erst wenn das Factische klar ist, ist eine speculative Behandlung möglich und diese ist Apologethik und muß immer im Werden bleiben. In wiefern die theologische Disciplin aber in so fern sie als Disciplin nicht vollendet seyn kann, doch angewandt werden muß, d. h. in so fern das Christenthum wirklich vertheidigt werden muß, so ist dies die Kunst, wozu die Disciplin Theorie ist. |

Zweiter Abschnitt. Von den Grundsätzen der Polemik.

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Man pflegt unter Polemik am meisten zu verstehen die Widerlegung einer Kirchenpartei von Seiten der anderen, die Widerlegung des Rationalismus und Naturalismus im Gegensatz gegen die positive Religion, die Widerlegung des Atheismus gegen Religion überhaupt. Alles dies wird hier vom Begriff Polemik ausgeschlossen. Wohin gehört das aber? oder soll es gar nicht statt finden? Letzteres Schleiermachers Meinung. Dies sind Differenzen der Gesinnung. Je höher wir hinaufsteigen, desto deutlicher ist dies und es findet ein Streit durch Begriffe

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gar nicht dagegen statt. Wenn z. B. einer ein Atheist ist, wie kann es eine theologische Angelegenheit seyn, ihn zu widerlegen? Es ist freilich eine, zu wirken auf ihn, daß er kein Atheist mehr bleibe, aber durch einen Streit der sich auf Principien zurükführen ließe, ist nichts zu bewirken, denn man müßte gewisse Puncte haben, von denen man ausgeht von beiden Seiten. Solche kann es aber nicht geben zwischen zwei so verschiedenen Meinungen. Philosophisch wäre das Unternehmen nicht theologisch. Wir sagen das Christenthum ist eine positive Religion es gründet sich auf Offenbarung. Wenn also einer sagt: es könne keine Offenbarung geben, sondern alle Erkenntniß von Gott könne sich nur auf gesetzmäßig fortschreitende Weise im Bewußtsein des Menschen entwikeln. So sagen wir freilich: diese Theorie verneint die Realität des Christenthums. Es kommt aber nur darauf an, wie viel wir uns von dieser Theorie anfechten lassen und wenn wir bei der Offenbarung bleiben, so ist nicht einzusehen, wie ein wissenschaftliches Interesse entstehen kann, ihn davon abzubringen. Aber solche Leute verbreiten ihre Lehre, wenn man also die Ansicht nicht widerlegt, so kann sie sich in die Gemüther einschleichen und dem Christenthum Schaden thun. Aber es ist niemals der Fall gewesen, daß die Naturalisten wären je durch den Streit zum Schweigen gebracht worden. Die Begriffe zu entwikeln ist ein der Theologie würdiges Geschäft und gehört in die Apologethik nicht in die Polemik. | Wie viel hat man nicht gegen und für die Wahrheit der Neu Testamentischen Wunder gestritten? und das kann nie ins Reine gebracht werden, sondern jeder hat darüber seine Ansichten. Was die Polemik gegen andere Religionsparteien und andre positive Religionen betrifft, so verhält es sich damit etwas anders. Die Polemik gegen andre positive Religionen ist nicht viel vorgekommen. Man hat wol einige Zeit gegen die Juden polemisirt, das war aber auch mehr Apologie; denn was konnte man anders sagen, als wenn man die Messianischen Weissagungen recht betrachtet, so kann nicht geleugnet werden, daß Christus der Messias sey? Was den Streit gegen andre Religionsparteien betrifft ist schon gesagt: Es giebt für diesen Streit eine zwiefache Ansicht. Jede Partei muß eine andre neben sich anerkennen und so kann keine Polemik statt finden, man sucht nur das Gebiet einer jeden richtig zu bestimmen. Die andre Ansicht rührt mehr aus der gennetischen Betrachtung her. Wenn wir fragen, wie ist der Protestantismus entstanden?, so müssen wir sagen, er hatte sich gebildet durch Abschaffung der Mißbräuche. Der Catholicismus ist entstanden, indem er diese Irrthümer und Mißbräuche fest hielt. Die Irrthümer und Mißbräuche sind nur Krankheiten und dies fällt in die Polemik hinein, aber indem wir strei-

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ten gegen die Mißbräuche des Catholicismus so erkennen wir doch an, daß im innersten Kern der Protestantismus etwas Differentes ist, das wir aber nicht bestreiten wollen, sondern welches eine verschiedene Modification ist. Der Streit kann also nie gegen das Wesen einer Partei gehen. Die Polemik ist nur eine wahre, wenn sie gegen die Irrthümer und Mißbräuche geht und so ist sie nicht ausgeschlossen von diesem Begriff hier; denn die Mißbräuche sind schon früher da gewesen. Die Polemik ist also die Aufzeigung desjenigen was in der Idee der Erscheinung des Christenthums nicht entspricht. So allein kann sie aufgenommen werden in den Begriff aller theologischen Disciplinen, der sie auf das Kirchenregiment zurükführt. | Kein Theologe ist im Christenthum überhaupt, sondern in einer Partei. Die andre Partei kann also nicht zu seinem Kirchenregiment dienen. Meine Kirche wird dadurch nicht besser, wenn eine andere zerstört wird. Aber die Ausmerzung des Schlechten muß immer ein wesentliches Element der die Kirche leitenden Thätigkeit seyn. Schleiermacher hat mit Bedacht die gelinden Ausdrücke A uf find u n g und An e r k e n n u n g gebraucht. PNemlichS unter Anerkennung ist die Darstellung in der Rede, in wie fern sie nichts ist als der Ausdruk der Gedanken, mitenthalten. Aber wenn man unter der Polemik auch mit verstehen wollte alles andre, um dem der Idee des Christenthums Widersprechenden in seiner Existenz Abbruch zu thun, so kommt man in die practische Theologie. Hier kommt es nur darauf an, durch Begriffe das Gesunde und Kranke darzustellen. Werden diese Begriffe als deutlich anerkannt, so hat die Polemik ihren Zwek erreicht. Alles andre gehört in die practische Theologie. Wir müssen uns an den Gegensatz des Gesunden und Kranken halten und den anwenden auf eine bestimmte äußerliche Erscheinung. Es fragt sich also: was ist das Krankhafte? und was wir von der Art aufzeigen können im Allgemeinen, in wie fern ist das auch in der geschichtlichen Erscheinung der Kirche vorhanden? Daraus müssen wir uns alles andre erklären. Die nähere Betrachtung des ersten § 2. und das Nähere in der Erscheinung der christlichen Kirche und Religion selbst in den folgenden §§. Wir müssen hier ausgehen von der Anschauung eines bestimmten einzelnen Lebens, denn die religiöse Gemeinschaft ist eben ein solches. 9–10 Idee der Erscheinung] I korr. aus E ; Kj Erscheinung der Idee 18–19 Vgl. KD1 I 2 § 1 (KGA I/6, S. 262,3–6, bes. 5) 37 KD1 I 2 § 2 (KGA I/6, S. 262) – Vgl. Stolpe: „§ 2. sind die allgemeinen Formeln aufgestellt: Der Typus ist von der Idee eines lebendigen Ganzen hergenommen. Zuerst kann es nun einen Zustand der Schwäche in einem lebendigen Ganzen geben: der ist etwas Allgemeines. Dann

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Jedes einzelne Leben befindet sich in so fern im Gegensatz gegen alles außer ihm. Dieser Gegensatz ist ein lebendiger, beides wirkt unaufhörlich in einander, eines kann aber nur auf Kosten des Anderen entstehen und alles außer ihm Gesetzte hat sein Daseyn nur nach einer sich allenthalben hin verbreitenden Thätigkeit und diese sucht dasselbe zu zerstören. Das ist der allgemeine Proceß. Jedes einzelne Leben ist aber ein zusammengesetztes und aus diesem doppelten Gesichtspunct im Gegensatz gegen alles anderes zu betrachten. | Sehen wir es als eine Einheit an, so kann nichts krankhaft erscheinen als eben die Schwächung des Lebensprozesses und diese geht bis zur Vernichtung des innern Lebens. Das ist das erste, was in jeder lebendigen Erscheinung krankhaft seyn kann, der allgemeine Krankheitszustand, wo von aller specifischen Differenz abstrahirt ist, die Schwäche. Betrachten wir das Leben als Mannigfaltigkeit von Kräften, so erscheint wieder eine Duplicität. Nemlich es kann nur ein Einzelner Theil des Ganzen von jedem allgemeinen Krankheitszustande ergriffen seyn, in einem Verhältniß wo das Ganze nicht darin begriffen ist, es kann ein partielles Absterben seyn. Das andere ist Pdas PositiveS. Nemlich in dem Maaße als die Kraft des Lebens in der Erscheinung abnimmt, so stellt sich her die Kraft welche außer dem Leben gesetzt ist. Wenn wir das Leben nun betrachten in seiner Mannigfaltigkeit so kann das Fremdartige sich eben so wie der allgemeine Schwachheitszustand an einen bestimmten Punct concentriren und dann entwickelt sich ein Prozeß, der dem Naturzustande des Dinges entgegen ist und das ist im engern Sinne Krankheit, und diese hört nicht eher auf, als bis der Theil wieder befreit ist vom Einfluß des Fremdartigen. Es kann keinen anderen Krankheitszustand für das religiöse Leben geben als diesen und darum bezieht sich hierauf allein die Polemik. 18 Pdas PositiveS] oder Pdie PositionS das theilweise Absterben, etwas Specielles, ferner das eigentlich Desorganisirende: was gegen die eigenthümliche Weise des Organismus im Ganzen gerichtet ist; dieses allerdings auch etwas Einzelnes. Haben wir nun in dieser Aufstellung den ganzen Gegenstand umfaßt? Diese Sicherheit können wir nur haben, wenn wir diese drei Puncte auf bestimmte Gegensätze bringen, ein Gegensatz ist nun der zwischen dem Allgemeinen des Lebens und dem Einzelnen: er scheidet den ersten Punct von den beiden andern. Nun ist aber wieder der Gegensatz zwischen einem Positiven und einem Negativen: ein Lebendiges ist ein solches auf der einen Seite im Gegensatz gegen das Elementarische, Todte, auf der anderen Seite in seiner Individualität im Gegensatz gegen andere: was der Idee des lebendigen Ganzen widerspricht, aber doch zugleich positiv auftritt, muß mehr eine Analogie mit einem andern haben. Eigentlich sollte ein solcher zweifacher Gegensatz eine Viertheiligkeit hervorbringen, doch wenn im Ganzen eine Schwäche gesetzt ist, und der zugleich einen anderen Charakter hätte, so läge das außer der Natur: im Allgemeinen kann der positive Gegensatz nicht gesetzt sein und wiederum kann der positive Gegensatz nicht allgemein werden.“ (S. 196)

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Das religiöse Leben ist eben so gut Eins und Vieles zugleich als jedes andere Leben. Die Mannigfaltigkeit wird auf Gegensätzen ruhen innerhalb des Christenthums und diese haben wir schon gehabt z. B. zwischen der idealen Seite und der realen Seite. Deßhalb also auch doppelte Betrachtung und es giebt also auch drei verschiedene Krankheiten im religiösen Leben und wir müssen nur fragen, worin sie bestehen und worunter sie gefaßt werden müssen? Der Indifferentismus [ist] das sich gleichgültig Verhalten gegen die Parteien im Christenthum dann eben auch das sich Gleichgültigverhalten gegen das Christenthum selbst als eine positive Religion. Das Gegentheil Celotismus wo man sagt: ich will lieber gar kein Christ seyn als nicht Protestant oder ich will lieber gar keine Kenntniß von Gott haben, als kein Christ seyn. Der Indifferentismus in der größeren Ausdehnung offenbar sehr verwandt mit dem Naturalismus, daher beides auch immer neben einander gegangen ist in der Erscheinung. | In dem Maaße der Indifferentismus als Theorie aufgestellt ist, ist das Gemeinschaftliche aus allen Religionen hervorgesucht. Das ist nicht zu verwerfen, ist aber durchaus nichts Wesentliches. Sobald es aber dahin führt, daß es auf dasjenige was auf die Formen geht, einen Werth legt, so ist es ein Uebel. Einen andren Begriff giebt uns der Indifferentismus nemlich Tolleranz. Diese ist allerdings nothwendig; denn wenn sich die verschiedenen Parteien nicht gegenseitig anerkennen, so wird das religiöse Leben der schwächeren Partei durch die stärkere gehemmt. Die christliche Liebe soll auf das Innere gehen, wenn ich nun eine celotische Ansicht habe, so muß ich nothwendig so viele als möglich zur meinigen Partei ziehen. Dies führt zur Intolleranz und diese soll nach der christlichen Liebe nicht seyn, also ist im Wesen des Christenthums Indifferentismus. Wenn man dieses stehen läßt und nicht widerlegt, so hebt sich das Christenthum selbst auf. Man muß also zeigen, daß diese Theorie des Indifferentismus nicht im Wesen des Christenthums ist, und so muß die Polemik gegen sie angewandt werden. Weder der Indifferentismus noch der Celotismus geht aus dem Christenthum hervor, sondern was in der Mitte von beiden liegt. Aus dem eigentlichen Gebiet der Polemik haben wir die directe Polemik einer Partei gegen die andre ausgeschlossen. Wenn man die Geschichte verfolgt, so kann es scheinen, als ob jenes doch nothwendig sey. Es hat eine Zeitlang eine Polemik gegeben zwischen der Reformirten und der Lutherischen Kirche. Diese ist allmählig eingeschlafen 16 Indifferentismus] Differentismus 8 KD1 I 2 § 3 (KGA I/6, S. 262)

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und nun kann man sagen, ist an die Stelle derselben ein vollkommener Indifferentismus getreten. Dieser hat so überhand genommen, daß man fast keine Gegend mehr findet, wo noch etwas von der alten Spannung da wäre. Nun kann man sagen: so wird es mit der andren auch seyn. Das wäre richtig, wenn der Fall derselbe wäre. Aber das ist nicht, schon eben deswegen, weil wir beide Parteien unter den einen Namen der Protestanten begreifen, so setzen wir ihre Differenz schon weit niedriger, als die mit der catholischen Kirche. Es kommt darauf [an] zu zeigen, daß gar nicht zwei verschiedene individuelle Grundprincipien in beiden waren und was different ist in beiden, das trat hervor, in wie fern beide in einem Ganzen sind | isolirt aber eine schädliche Einwirkung ist. Der Indifferentismus wird also zur Verschmelzung beider Parteien in Eins führen. Hierüber können wir uns weit eher beruhigen, als wenn vorauszusehen wäre, daß Protestantismus und Catholicismus in Eins verschmelzen würden, also ist wol dieser Schluß nicht zu machen. Der zweite Theil der Polemik gegen den Indifferentismus ist der positive; es muß gezeigt werden, daß er ein wirklicher Krankheitszustand im Christenthum ist. Man muß auseinandersetzen: auf beiden Seiten auf der idealen, und auf der realen, d. h. auf der Seite der Lehre und des Lebens, ist die Lebendigkeit und die Anschaulichkeit überall verloren, wenn das Interesse am Specifischen verloren geht. D. h. Es muß gezeigt werden, daß alle unmittelbare Anschaulichkeit in der Lehre eben darauf beruht, daß das specifische Moment die ganze Lehre durchdrungen hat. Man würde sagen müssen: der Indifferentismus will von jedem mehr Positiven auf ein mehr Allgemeines zurükführen. Das Allgemeinste ist das Bewußtseyn Gottes und es wäre also zu zeigen, daß dies nur in so fern ein lebendiges ist, als es von dem specifischen Character der Einzelnen Religion durchdrungen ist. Er muß sich eines christlichen, jüdischen, muhamedanischen Gottes bewußt seyn. Nehmen wir dies heraus, so wird dies Bewußtseyn Gottes eine todte Formel die keine productive Kraft mehr hat und der Indifferentismus ist dann Krankheitszustand. Das Partielle Absterben ist das zweite Krankhafte, das wir aufgestellt haben, wenn ein Theil vom allgemeinen Lebensprincip nicht mehr durchdrungen ist. Dies liegt im Separatismus. Dies nennt man gewöhnlich die Neigung einzelner sich aus der allgemeinen Kirchengemeinschaft abzusondern. Es könnte hierdurch der Schein entstehen, 17 Indifferentismus] Differentismus 37 KD1 I 2 § 4 (KGA I/6, S. 262)

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als verhielten sich Indifferentismus und Separatismus, wie sich die ideale Seite des Christenthums zur realen verhält, wenn nemlich ersterer auf den Inhalt die Lehre, letzterer auf die Gemeinschaft geht. Der Indifferentismus scheint aber nur deswegen mehr auf die Lehre zu gehen, weil eine lange Zeit hindurch mehr von der Lehre die Rede gewesen ist, wie von der realen Seite | des Christenthums und er bezieht sich also auch auf diese. Der Indifferentismus kann doch die Sacramente auch nicht annehmen, er bezieht sich also auch nicht auf die Lehre allein. Der Separatismus bezieht sich auch wieder auf die Lehre, nicht nur in wie fern sich die Lehre auf die Gemeinschaft bezieht, woraus sie geworden ist, sondern auch wird man finden, daß ihnen der canon seine Gültigkeit verloren hat und das Absterben geht also eben so gut auf die ideale Seite als auf die reale. Der Separatismus hat seine Haltung vorzüglich an dem Gefühl der Corruption des Christenthums. Alle Corruption ist in das Christenthum erst gekommen nachdem es eine große Gemeinschaft geworden ist, also ist zu vermuthen, daß dieser großen Gemeinschaft die Corruption anhängt und um sich davon frei zu machen, muß man sich aus der Gemeinschaft ziehen. Man kann auch sagen, alle Corruption in der allgemeinen christlichen Kirche könnte nicht statt finden, wenn das religiöse Princip überall recht lebendig wäre. Aber das Leben und die Freiheit hängen nothwendig zusammen. Wenn das Leben in feste Formeln gezwungen wird, so stirbt es. Das kann aber in einer großen Gemeinschaft nicht anders seyn. Das Leben wird an feste Formen gebunden. Man muß also ganz aus der großen Gemeinschaft heraustreten und nur unter dieser Bedingung kann das religiöse Princip sein lebendiges Spiel unter 20–2 Vgl. Stolpe: „Das lebendige Ganze besteht nur in einer beständigen Erneuerung: so wie ich einen der Momente denke, muß ich mir ihn als etwas Verschwindendes denken. In wie fern hier nun der Ausdruck Separatismus gerechtfertigt werden kann, schon zweifelhaft. Wir meinen solche Separatisten, die die kirchliche Gemeinschaft durch ihre Handlung nicht erneuern wollen, in so fern dies von Einzelnen geschieht, ist es ein Unmerkliches. Man bedient sich dieses Ausdrucks nur, in so fern dies ein Gemeinschaftliches ist. In so fern es als Gemeinsames ausgetragen würde, wird es dadurch eine Art. [...] Es wird nun gesagt: die christliche Kirche könnte nicht existiren, wenn dies dem Princip des Christenthums gemäß wäre. Noch neuerlich ist ein sehr geistreiches Buch erschienen: Betrachtungen über den Protestantismus, worin der Gegensatz aufgestellt wird. Dies eigentlich eine Aufhebung des Christenthums. Die separatistische Tendenz ist in jenem Buche eigentlich nicht vorherrschend: sondern die eigentliche Voraussetzung des Separatismus ist die: der gegenwärtige Zustand einer Gemeinschaft sei jetzt so schlecht, daß man ihn nicht solle erneuern wollen. Dies doch offenbar etwas Krankhaftes. Es ist hier eben ein solches Aufhören des Lebens in einem Theile des Ganzen.“ (S. 197) Schleiermacher bezieht sich auf [Karl Gustav Jochmann:] Betrachtungen über den Protestantismus, Heidelberg 1826.

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den Menschen erneuern. Dies ist eine indifferentistische Anknüpfung des Separatismus. Wenn man nun sagt: 1. es ist niemals die Absicht Christi gewesen und der Apostel das religiöse Leben an solche bestimmte Formeln zu binden, sondern um daßelbe zu erregen, also sind diejenigen gar nicht die wahren Nachfolger Christi die an der Formel festhalten, sondern nur diejenigen welche demselben einen neuen Puls geben, im Fall sie auch aus der alten Formel heraustreten, so wird das Christenthum dadurch aufgehoben 2. alle Corruption im Christenthum ist nur entstanden aus der großen Verbreitung desselben und es kann die Corruption nur aufgehoben werden durch die Zertrümmerung der religiösen Gemeinschaft so wird wiederum das Christenthum von seiner realen Seite aufgelöst werden und dies ist immer der Fall, wenn man gelten läßt, daß der Separatismus im Christenthum gegründet ist. | Zuerst muß dies die Polemik also negiren. Der Separatismus spielt immer in das Mystische, er ist nicht denkbar ohne etwas Antihistorisches. Dem muß natürlich noch zu Hülfe kommen dieses Hinüberspielen in das Symbolische; denn wenn man Christus selbst eine geschichtliche Gültigkeit beilegt, so ist darin schon im Princip die Vernichtung des Separatismus. Hält man sich bloß an das Symbolische an Christus, so hat man es dann frei, sich wieder ein immer neues Symbolisches zu stellen. Daher der Separatismus immer nach neuen Formeln der Offenbarung strebt. Dieses und das Abstoßen der allgemeinen Formel sind sein Wesen. Die Polemik beruht PhingegenS darauf 1. daß man zeigt: wenn das Christenthum auch im Anfang keine große Gemeinschaft war, so war sie doch darin schon angelegt. Dies ist also nothwendiges Correlat, nothwendige Folge des Christenthums. Daß die Christen anfangs nur eine kleine Versammlung bildeten, darin drükt sich nicht das Wesen des Christenthums aus, sondern nur die Zeit. Aber sobald die Bedingungen gegeben waren, bildete sich eine große Gemeinschaft. 2. zu zeigen: Christus habe gar nicht nur auf allgemeine Weise, oder nur indem er polemisirte gegen andre Formen das religiöse Princip anregen wollen, sondern nur in der That unter einer bestimmten Form. Wenn das Wesen des Christenthums in der Idee der Erlösung besteht und dies in Verbindung steht mit der historischen Dignität Christi und nicht in der symbolischen, so hat man den Separatismus in seiner zweiten Wurzel in der negativen Seite angegriffen. Das Positive ist, [1.] zu zeigen, daß der Separatismus Krankheitszustand ist. Gerade durch das Medium der großen Gemeinschaft soll die Corruption im Christenthum aufgehoben werden, da ist das Wesen desselben. Dies 25 PhingegenS] oder PhiegegenS

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stößt den Separatismus um. 2. muß man ihm zeigen, daß das Isoliren des Einzelnen von dem Ganzen nothwendig etwas Unchristliches ist, nach der Art, wie im Christenthum alles Einzelne dem Ganzen untergeordnet ist und dies bildet dann die positive Seite der Polemik. | Was ganz außerhalb des Christenthums ist, dagegen kann keine Polemik statt finden. Es kann ein solcher Streit gar nicht als in eine theologische Disciplin gehörig angesehen werden, weil es gar nicht zu der die Kirche leitenden Thätigkeit gehören kann. Man kann zwar sagen: der Streit gegen den Atheismus müsse nicht der Kirche wegen geführt werden, sondern um die Anstekung der einzelnen Mitglieder zu verhindern. Aber solche Anstekung kann gar nicht besorgt werden. Es muß ja immer vorausgesetzt werden, daß jeder im Christenthum Glauben hat und die Thätigkeit geht dahin den Glauben lebendiger und klarer zu machen und damit kommt man auch schon immer jener Anstekung zuvor. Ein jeder Christ muß solchen Atheismus mit dem Bedauern ansehen, womit nur der dagegen polemisirt ihn ansehen kann und auch darin liegt Bewahrung genug vor der Anstekung. Man hat auch gesagt: die Polemik habe doch das bewirkt, daß Beweise für das Daseyn Gottes aufgestellt sind. Aber wer an Gott glaubt, der bedarf des Beweises nicht. Kein einzelner dieser Beweise hat niemals allgemeine Gültigkeit gehabt. Das kann auch nicht anders seyn. Sie können nur von einem bestimmten philosophischen Gebiet ausgehen. Der also gegen das philosophische System protestirt, der protestirt auch gegen diesen Beweis. Indem nun diese Beweise sich mittelbar einander bestreiten der Glaube aber ein sicheres, in sich übereinstimmendes Gefühl ist, können sie gar keinen Vortheil haben und wenn er davon Notiz nimmt, so können sie ihn mehr erschüttern, als nützen. Dieser Streit hat immer mehr Philosophie und Theologie in ihren Grenzen verwirrt, da wir doch streben sollten, sie immer mehr festzusetzen. Man hat oft über den Primat der einen über die andre gestritten, ein Streit der nicht eher geschlichtet werden kann, als bis das Gebiet beider genau getrennt ist. So lange in der Theologie noch philosophische Operationen vorfallen kann das nicht seyn. Wenn man die Beweisführung des Daseyns Gottes mit in die Theologie aufnimmt, so hängt daran alles und die ganze Theologie wird der Philosophie unterworfen. Dagegen sagt der Theologe: was ich aus der Philosophie nehme ist nur die Form, ich habe die göttliche Erkenntniß, die an der Spitze der Philosophie und Theologie steht, von mir hängt also auch alles ab, was sich daran schließt. Die theologischen Disciplinen müßten ganz rein gehalten werden von aller Philosophie. Von der Logik und den allgemeinen Regeln ist 5 KD1 I 2 § 5 (KGA I/6, S. 262)

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nicht die Rede | denn sonst wäre das ganze Leben Philosophie, aber bloß von demjenigen was zur eigentlichen Philosophie gehört. Wenn man schlechthin voraussetzt, es giebt einen Gott, so wird eine Beweisführung diese Voraussetzung schwächen und geht man davon ab, so werden sich die Grenzen beider weit leichter bestimmen lassen, indem man dann unpartheiisch dabei verfährt. Als Correlatum zum Atheismus im Leben ist ein antireligiöser Verein [genannt]. Der ist hier nur hypothetisch aufgestellt um auf beiden Seiten aufmerksam zu machen. Es giebt auch keine Polemik gegen eine andre positive Religion. Eine jede solche beruht schon auf einer besonderen Modification des religiösen Elements im Menschen. Gegen die Einwirkung davon muß sich das Christenthum schon durch die Kraft seiner eigenen Modification gesichert halten und es bedarf keiner Polemik dazu. Wenn sie geführt ist so ist das von zwei Gesichtspuncten aus geschehen 1. indem man das Christenthum in Vergleich mit andren Religionen überwiegend stellt, wie die wahre gegen die falsche. Wenn man von diesem Gegensatz auf die Offenbarung zurükgeht, so sagt man, die christliche Offenbarung ist die wahre, die andere falsch und dann wird die Polemik dagegen geführt als gegen eine erlogene oder falsch entstandene Offenbarung. Diese Polemik ist schon deßwegen ungenügend, weil wir das Judenthum wegen des geschichtlichen Zusammenhanges mit dem Christenthum nicht ganz für falsch ausgeben können. Aber auch in den andern Religionen müssen wir ja negative Wahrheit anerkennen, weil die Möglichkeit in allen war, daß sie zum Christenthum übergingen. 2. Eben wenn man andre Religionen rein als eigenthümliche dem Christenthum coordinirt, man immer gestehen muß, sie enthalten zugleich Corruptionen des religiösen Elements. Gegen diese als solche zu polemisiren, in wie fern alle andren Religionen außer Verbindung mit dem Christenthum sind, ist keine Veranlassung. Aber in wie fern sie einander berühren, ist eine Einwirkung in das christliche Gebiet möglich und zu besorgen, weil jede Berührung Assimilationen mit sich führt. So wie wir was wir in dem Catholicismus für Mißbrauch erkennen aus dem Heidenthum gekommen ansehen, so kann dies immer noch seyn. Für Christen also | die unter den Türken leben, kann Polemik gegen die Corruption nothwendig seyn. Aber das ist nichts Allgemeines und es ist ledigliche Ausübung in Weisheit des Kirchenregiments. Hier haben wir uns lediglich zu beschränken auf das Krankhafte innerhalb des Christenthums. Dies in § 6. auf Ketzerei haeresis und Spaltung schisma hinausgeführt. Beides geht zurük auf 7–8 Vgl. KD1 I 2 § 5 (KGA I/6, S. 262,27) 39 KD1 I 2 § 6 (KGA I/6, S. 263) 40–3 Vgl. KD1 I 2 § 2 (KGA I/6, S. 262,7–12, bes. 11f)

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den dritten Hauptbegriff von Krankheit, wo in einem äußerlichen Theile das Christenthum etwas Mangelhaftes als ein Besonderes hervorbringt. Haeresis und schisma sind nur relativ verschieden. Die Spaltung ist nur im Gefolge der haeresis, und wenn die haeresis das allgemeine Leben constituiren will, so ist das Schisma das Ursprüngliche. Es wird sich nun aber auch ein Dogma bilden und so ist die haeresis im Gefolge des Schisma. Die Aufgabe der Polemik ist die Kenntzeichen aufzustellen von allem was Heretisch und Schismatisch ist und so viel hieraus von selbst hervorgehen muß, einen Schematismus für das Heretische und Schismatische aufzustellen, alles was der Art vorkommen kann, in gewisse Klassen zu bringen. Die letzte Aufgabe entsteht schon aus der ersten. So wie wirklich Kenntzeichen aufgestellt sind, so muß in ihnen ein allgemeines Theilungsprincip liegen wie in der allgemeinen Idee des religiösen Princips die Principien liegen müssen, woraus sich die verschiedenen Formen entwikeln lassen. Hier müssen wir zurükgehen auf etwas früher allgemein Aufgestelltes: daß überhaupt das Wesen des Christenthums selbst und jeder andern positiven Religion sich eben so wenig rein wissenschaftlich aus Ideen ableiten als empirisch auffassen ließ. Dasselbe wird auch von den allgemeinen Kenntzeichen des heretischen Lebens gelten, indem wir es als den Gegensatz des Christenthums aufstellen, wir werden also denselben Prozeß beobachten müssen wie dort. Wir werden dasjenige im Gegebenen auffinden müssen, was in der Idee aufgeht und was nicht. Nun aber ist natürlich wir müssen hiebei durchaus voraussetzen auf eine gewisse Weise, daß jene große Apologethische Operation beendigt ist, wir eine bestimmte Anschauung vom Christenthum haben, sonst können wir auch keine vom Entgegenstehenden haben. Wir müssen uns nur an dasjenige halten, was das sich Gleichbleibende in demselben ist und das Veränderliche. In einem gewissen Grade ist das Christenthum veränderlich durch die Gemeinschaft. | Was diesem entgegengesetzt ist, ist noch nicht heretisch, wenn es auch dem Gefühl so erscheinen kann. Aber das Gefühl kann nicht zum Richter genommen werden. Die Sache muß 3–7 Vgl. Stolpe: „Was sich in der Lehre selbstständig organisirt heißt es hier ist Ketzerei, wenn das dem Wesen des Christenthums Widersprechende in der Gemeinschaft sich entwickelt, Spaltung; Ketzerei ohne Spaltung giebt es nicht. Diejenigen die das Abweichende annehmen werden den Gottesdienst nur da aufsuchen, wo sie dieses finden, die anderen aber werden einen solchen Gottesdienst meiden und ausstoßen. In der älteren Geschichte spricht man immer von der arianischen Ketzerei, die aber war eine arianische Spaltung der ganzen kirchlichen Ordnung. Form der Verfassung war dieselbe, wäre der Streit über die Dogmen entschieden gewesen, so wäre die Spaltung zusammengeflossen.“ (S. 197) 8 KD1 I 2 § 7 (KGA I/6, S. 263) 16–20 Vgl. KD1 I Einl. § 1 (KGA I/6, S. 256,4–7)

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auf Anschauung und Begriff zurükgeführt werden und darum ist sie theologische Disciplin. Wir müssen sie also auf das sich Gleichbleibende zurükführen auf den Canon für die Lehre und das Sacrament für die Gemeinschaft. Aber in jedem Moment sind diese unvollendet, man muß also um sich einen rechten Begriff zu machen von dem, was heretisch ist, die Construction dazu nehmen und fragen: welches sind die möglichen Abweichungen von dem Wesen des Christenthums aus über seine natürlichen Grenzen? Wir gehen davon aus: heretisch ist dasjenige dem Wesen des Christenthums Widerstreitende, was in der Erscheinung zum Vorschein kommt. Wir müssen also fragen, wie kann das geschehen? Ein Irthum muß zu Grunde liegen und es kann entweder einer das Wesen des Christenthums nicht richtig aufgefaßt haben, diesen werden wir aber nicht im Mittelpunct aufsuchen müssen weil im Mittelpunct gewöhnlich die größte Sicherheit ist, sondern an den Grenzen oder es hat einer das Wesen des Christenthums richtig gefaßt, aber es ist ein Irthum, daß er sich selbst nicht richtig unter das Christenthum subsumirt hat und hat nicht das Christenthum sondern sich selbst verkannt und will nun das aus sich selbst sich Herleitende für Wesen des Christenthums ausgeben. Daher muß alles heretische kommen, doch letzteres ist mehr heretisch als ersteres. Wir müssen also alles in seinen bestimmten Grenzen auffassen, wie die verschiedenen Momente, die das Christenthum constituiren bedingt sind, so also, wenn eins über seine Grenzen geht, die andren es nicht mehr bedingen und so entsteht etwas Unchristliches. Hat man dazu einen Schematismus, so kommt man der Sache näher und wenn man so gleich zu Werke gegangen wäre und hätte es gleich zur theologischen Disciplin gemacht, so würden nicht so viele falsche Anklagen gewesen seyn, aber man würde auch das nicht gekonnt haben, denn um einen Schematismus aufzustellen und alle Kenntzeichen des wirklich Heretischen anzugeben, bedurfte es schon einer großen Menge von Erfahrungen. | Das dem Wesen des Christenthums widerstreitende muß sich auch kundthun durch seine Entstehungsart und die Polemik hat auch dafür wieder einen Schematismus aufzustellen, wie bei der haeresis. Dies ist um so nothwendiger, da auffallende Aehnlichkeit statt findet zwischen Entstehung heretischer Meinungen und der Gegensätze im Christen3 KD1 I 2 § 8 (KGA I/6, S. 263) 3–4 Vgl. Stolpe: „Bekannt ist daß vor einigen Jahren sich in Pommern Keime zu einer Spaltung entwickelten, die darauf ausgingen eine bestimmte Form der supernaturalistischen Ansicht als die allgemeine anzusehen, sie äußerte sich dadurch daß die Leute sagten: wir können von solchen nicht rechtgläubigen Priestern die Kinder nicht taufen lassen und das Abendmahl nicht bei ihnen genießen. Da hing sich gleich die Spaltung an das Sacrament.“ (S. 198) 32 KD1 I 2 § 9 (KGA I/6, S. 263) 34 KD1 I 2 §§ 10–11 (KGA I/6, S. 263)

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thum. Was in der Lehre Neues entsteht, sind Meinungen Einzelner und was in der Gemeinschaft entsteht, entsteht auch nur durch Einzelne. Die Concilien z. B. können etwas Neues hervorbringen, aber das ist etwas Altes, in der Kirche durch das Gesetz Gegründetes. Wenn ein solches aber verändert, so muß sich doch das Bedürfniß aussprechen darnach und das kann denn als etwas Neues angesehen werden. Ganz dasselbe § 11. ist es im Entstehen der Kirchenpartei. Was da entsteht, entsteht durch Einzelne und eben so das, was nachher von dem Ganzen als häretisch anerkannt wird. Zu jenem Erweis, der sich auf den Inhalt bezieht muß noch hinzukommen, daß doch, wenn auch das Entstehen fast gleich ist, ganz etwas Verschiedenes zum Grunde liegt. Ohne diesen polemischen Erweis ist der apologetische unvollkommen; denn die Apologie vertheidigt ihre Partei gegen den Vorwurf der Anarchie und der Corruption. Aber das würde nicht helfen, wenn man sagen könnte, jene Heresis ist eben so entstanden. Wie entsteht es denn nun? Wenn das Christenthum oder jede historische religiöse Erscheinung ein völlig isolirtes Ganze wäre, dann müßte man in jedem einzelnen Falle etwas Zufälliges erkennen und den Grund bloß in dem Subjectiven suchen, in dem persönlichen Irthum. Wenn sich aber eine Maaßregel weit verbreitet, so muß ein andrer Grund seyn, der ist aber in dieser Voraussetzung nicht möglich. Das Christenthum wie jede andre geschichtliche Erscheinung ist nicht völlig isolirt: so fragt sich: womit steht denn das Christenthum als solche geschichtliche Erscheinung in Wechselwirkung. Hier sind zweierley Antworten möglich. Das Christenthum steht in Wechselwirkung mit den ihm coordinirten religiösen Erscheinungen, oder es steht in Wechselwirkung mit den andren gleichzeitigen neben ihm stehenden Erscheinungen die nicht religieus sind Staat, Wissenschaft. Die erste Wechselwirkung offenbar weit geringer, als die andre. Es giebt ja nur wenige Puncte, wo sich | [das] Christenthum mit anderen Religionen berührt. Dar dies also der Ursprung seyn könnte, das werden gewiß die geringsten seyn. Das andre wird der Ursprung seyn, worin der Grund des meisten Schismatischen und Häretischen wird zu suchen seyn. Nemlich auf der einen Seite sind alle, die in die christliche Gemeinschaft aufgenommen sind, zugleich in eine politische und gesellschaftliche Gemeinschaft aufgenommen und auf der anderen Seite sind diejenigen, welche die Kirche zu leiten haben, in eine wissenschaftliche Gemeinschaft aufgenommen. Es kann also Heretisches und Schismatisches entstehen aus einem mißleitenden Einfluß des Wissenschaftlichen auf das Religieuse, oder aus dem mißleitenden 31 Dar] veraltete Nebenform von ‚da‘, hier in der Bedeutung von ‚wo‘, ‚in dem Fall‘; vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 1256 und 1228f

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Einfluß des Politischen und Gesellschaftlichen auf das Religieuse. So bald dies erwiesen ist, ist auch bewiesen, daß es in einem fremdartigen Einfluß entstanden ist. Der Inhalt dieses Theils der Polemik muß also darauf gehen, die Art, wie das Häretische in dem Fremden begründet seyn kann und daraus hervorgehen kann aufzudeken und den Unterschied zeigen, wie sich dies Entstehen, vom Entstehen der Religionspartei unterscheidet. In der Anwendung wird es zwar Schwierigkeiten finden, denn jede Partei geht darauf aus, die andre für heretisch zu erklären. Die meisten Catholiken glauben nemlich der Protestantismus sey entstanden aus der Skepsis in der Philosophie und aus politischem Interesse nemlich dem Interesse der Fürsten, sich der Gewalt der Kirche zu entziehen. Wenn das wahr wäre, so wäre der Protestantismus keine wirklich entstandene Kirchenpartei, sondern eine Häresis vermöge der Einwirkung der Philosophie und wäre eine Spaltung, vermöge des Einflusses der Politik. Es müssen also möglichst wenige Irthümer in der Anwendung vorkommen können. Und es ist nicht genug, daß man nachweist eine gewisse Möglichkeit des Entstehens, sondern man muß diese Möglichkeit aus mehreren Puncten nachweisen und so würden wir z. B. jene Beschuldigung des Catholicismus zurükweisen können, wenn wir sagen, daß der Protestantismus vorzüglich und zuerst im Volke sich entwikelt hat und nachher in den Fürsten. Das Volk hatte gar kein politisches Interesse. Je genauer auf dergleiche Puncte in der Theorie schon Rüksicht genommen ist, wie das auch wieder hervortreten muß in der Erscheinung, was als Entstehungspunct angegeben ist, desto weiter ist die Disciplin ausgebildet. |

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Schluß.

§ 1.

§ 1 geht ganz aus dem Vorigen hervor. Die philosophische Theologie auf der einen Seite muß eine rein theologische Form haben, auf der anderen Seite aber ihrem Inhalte nach überall zurükgehen auf die Wissenschaften, auf das Ethische. Die Theilung der philosophischen Theologie in Apologetik und Polemik haben wir rein hingestellt als Folge, daß sie religiöse Disciplin sey und die Form hingestellt als religiöses Interesse. Es bleibt also nichts übrig als das Feststellen aus wissenschaftlichen Principien desjenigen was der Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses ist, und das Ver35 wissenschaftlichen] Kj religiösen 27 KD1 I Schluss § 1 (KGA I/6, S. 264)

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werfen desjenigen, was dem religiösen Interesse widerspricht und das ist jenes Apologethik dies Polemik. Wir haben die philosophische Theologie an den Anfang gestellt als die Wurzel der gesammten Theologie, offenbar weil die theologischen Disciplinen als Wissenschaften von einem gewissen wissenschaftlichen Gebiet abgeleitet werden müssen. Die ganze Auseinandersetzung der Grundsätze der Apologetik und Polemik war ein solches, man mußte bei jedem einzelnen Punct auf das Wissenschaftliche zurükgehen, auf die wissenschaftlichen Principien. Zu den übrigen Theilen des theologischen Studiums steht sie in einem Verhältniß der Wechselwirkung, nicht so, daß die andren Theile aus ihr hervorgehen, sondern so, daß eigentlich jede, wenn sie als vollendet gedacht werden soll, die andren als auch schon vollendet voraussetzt und daß sie nur miteinander werden und zur Vollendung kommen können. Ohne das müßte der ganze Gang der Theologie ein andrer seyn. Wenn die historische und practische Theologie rein aus der philosophischen abgeleitet wären, so müßten wir sagen, es wäre ja ganz verkehrt, sich mit der historischen und practischen Theologie abzugeben, ehe die philosophische ins Reine gebracht ist. So ist es aber nicht, und so kann es nicht seyn, sondern wie es sich in der Geschichte zeigt, daß sie alle gleichzeitig fortgeschritten sind, so ist es auch in der Natur der Sache begründet. Die Philosophische Theologie setzt in einem gewissen Sinne die historische Theologie voraus. Nemlich die philosophische Theologie muß von zwei Enden anfangen, von der Construction und von der Beobachtung das Letztere setzt aber das Gegebenseyn des Geschichtlichen voraus in seinem Zusammenhange. Was vorausgesetzt wird ist das Materiale, das Factische der historischen Theologie.91 | Die Art, wie uns das Einzelne wirklich geschichtlich Lebendiges wird, die hängt wieder von der philosophischen Theologie ab, indem dazu erforderlich ist, daß alles auf die Begriffe zurükgeführt werde 91

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Zum Verstehen der philosophischen Theologie gehört die historische. Was aber dazu aus der historischen Theologie genommen wird, muß schon durch die philosophische erleuchtet seyn und eben so muß das, was aus der philosophischen Theologie zum Verstehen der historischen genommen wird, durch die historische erleuchtet seyn.

3 KD1 I Schluss § 2 (KGA I/6, S. 264) 3–4 Vgl. KD1 Einl. § 26 (KGA I/6, S. 253,8f) 32–34 Vgl. Stolpe: „Was den zweiten Satz [KGA I/6, S. 264,7f] betrifft die philosophische Theologie enthalte die Begründung alles Urtheils über das Einzelne, so kann man natürlich hier in dies Gebiet ziehen die Betrachtung: daß Geschichte nur Statt findet in Bezug auf die Idee. Die gesammte geschichtliche Anschauung ist nur durch die philosophische Theologie in ihren beiden Zweigen bedingt; hier haben wir also den Aufstieg des Unwissenschaftlichen zum Wissenschaftlichen.“ (S. 199)

§ 2.

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§ 3.

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und diese sind ja in der philosophischen Theologie. Auf der einen Seite setzt also die philosophische Theologie die historische voraus und auf der andren Seite bedarf man zur historischen Theologie die philosophische und beides in lebendiger Wechselwirkung bleibend. Die Apologetik und Polemik sind Theorie die Ausübung derselben offenbar die theologische Thätigkeit. Es existirt also eine unmittelbare Relation zwischen der philosophischen Theologie und der Practischen. Alles was in der practischen Theologie als einzelne Theorie vorkommt, muß unmittelbar oder mittelbar auf die philosophische Theologie zurükgehen. Man kann sagen: die philosophische Theologie verhält sich zu der practischen wie sich eine eigentlich speculative Theorie zu einer unter ihr stehenden technischen verhält. Hieraus ergiebt sich ein gemeinschaftlicher Gegensatz beider mit der historischen Theologie. In der philosophischen und practischen Theologie ist auch Betrachtung, aber bloß in Rüksicht auf die Ausübung. Die historische Theologie hat zu ihrem Gegenstande, was aus jener Ausübung entstanden ist, sie ist aber selbst wiederum die Betrachtung dieser Ausübung. Gerade als solche wird sie von der philosophischen Theologie vorausgesetzt. Dies wäre ein vollständiger Zirkel, wenn wir nicht unterscheiden müßten das Bewußte und Unbewußte und das Vollkommene und Unvollkommne. Die Ausübung entsteht ohne Theorie, die Theorie entwikelt sich erst in der Betrachtung und so vervollständigt sich die eine Seite durch die andre. Dies ist das gemeinschaftliche Verhältniß der philosophischen und practischen Theologie zur historischen. Die Philosophische als das Speculative, die Practische das unter ihr stehende Technische ruht auf den einzelnen gegebenen Bedingungen der Ausübung. Jede hängt also an den beiden Puncten, wovon alles theologische Verfahren ausgehen muß. | Jeder muß alle theologischen Disciplinen besitzen, kann aber nicht alle vollkommen haben. Dies vereinigten wir, indem jeder Theologe das Allgemeine haben müsse, der gelehrte aber vorzüglich eine besondere Disciplin. Freilich läßt sich das Besondre vom Allgemeinen nicht genau trennen. Bei der philosophischen Theologie ist es gar nicht möglich, weil sie eigentlich darauf ausgeht, den Gegenstand zu fixiren. Ueberall sonst beruht dieser Unterschied darauf, daß jede Erkenntniß auf einer Mannigfaltigkeit ruht, da findet also ein doppelter Prozeß statt. 1. muß jeder wissen, wie auf einem Gebiete eine Erkenntniß abgeleitet ist und aus welcher Quelle sie kommt. Das ist das Allgemeine aber 2. kann Keiner ganz und gar die einzelnen Erkenntnisse aus den Quellen schöpfen, denn wer sich damit abgiebt, der bleibt 5 KD1 I Schluss § 3 (KGA I/6, S. 264) 29 KD1 I Schluss § 4 (KGA I/6, S. 264) 30–32 Vgl. KD1 Einl. §§ 15–18 (KGA I/6, S. 251,11–28)

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immer in den Elementen. Man würde also nie weiter kommen, wenn man nicht fortbauete auf dem Grunde, den andre gelegt haben. Da aber die philosophische Theologie Bestimmungen von Begriffen enthält, die coordinirt sind einander, da ist gar nichts, was traditionell ist. Wer die Philosophische Theologie von andren nimmt, der hat sich zum Knecht andrer gemacht und ist nichts als ein Organ derer, die die Begriffe aufgestellt haben. Er kann auch nicht sagen, daß er ein bestimmtes theologisches System habe. Denn wer die Begriffe bloß traditionell übernimmt, der hat sie weder als Ansicht noch als System. Ein jeder muß sich also seine philosophische Disciplin selbst gemacht haben und es ist nichts darin, was nicht jeder Theologe ganz besitzen muß. Es wird allerdings auch ein vorläufiges Verfahren geben, das Aehnlichkeit hat mit dem Herübernehmen von andren und dieses Verfahren ist untadelhaft. Nemlich die philosophische Theologie kann nie fertig angenommen werden, woraus von selbst hervorgeht, daß es in Rüksicht auf das darin Vorkommende differente Ansichten giebt. | Es kann einer mit dem noch nicht recht wissenschaftlichen Leben diese Begriffe bilden wollen, welches eine Sache des religiösen Characters ist, wodurch der eine auf diese, der andre auf jene Weise zu der Bestimmung der Begriffe schreitet. Wenn also einer zwei Wege dazu sieht und den einen für sich mehr so geeignet findet, daß er sich daran wird halten können, so ist dieses praejudicium untadelhaft ja man kann ohne dasselbe fast gar nicht zu den Begriffen kommen. Es muß dieses aber nie mehr werden als ein praejudicium, so wie man von vorn herein hierin zu weit geht, so ist die Freiheit verloren, juramus in verba magistri und die Freiheit ist nirgends nothwendiger als in der Theologie. Jeder muß sich gleich anfangs auf den speculativen Standpunct setzen, wie doch alle Gegensätze nur relativ sind und wenn er erkennt, daß er in einem Gegensatze steht, so muß er auch erkennen, daß die andren dennoch eben so nothwendig sind, und daß die Gewißheit nicht eher da seyn kann, als wenn die Gegensätze ganz verschwinden. So wird man die entgegengesetzte Meinung nicht nur 3–12 Vgl. Stolpe: „Wenn wir die historische Theologie im Allgemeinen betrachten, so kann man historische Notizen nur von andern überkommen, die Tradition ist hier gerade das Wesentliche. Nun aber giebt es kein geschichtliches Auffassen ohne Urtheil und diese kann man eigentlich nicht überkommen [...]. [...] Ein Urtheil von einem andern überkommen heißt eigentlich selbst nicht urtheilen, dies ist nun in der philosophischen Theologie durchaus nicht möglich.“ (S. 200) 26–27 Anspielung auf Quintus Horatius Flaccus: Epistulae I 1, 14; Eclogae, cum scholiis veteribus ex editione W. Baxteri, ed. J. M. Gesner, Leipzig 1752, S. 486; Opera, ed. D. R. Shackleton-Bailey, Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana, 3. Auflage, Stuttgart 1995, S. 251

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§ 5.

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§ 6.

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bestehen zu lassen haben, sondern sie sogar zu verstehen suchen müssen in ihrem individuellen Princip und in dem Elemente der Wahrheit in ihr. Ohne das entsteht eine Versteinerung und wo solche ist, wie in den Naturalisten und Supernaturalisten, ist die Theologie todt, sie lebt nur, wenn der Theologe selbst in einer Partei ist und die andre anerkennt. Die philosophische Theologie eines jeden enthält nun die gesammten Principien seiner theologischen Denkart. Alles kommt ja auf die Begriffe an, die oben aufgestellt sind und nach deren Bestimmung bestimmt sich die ganze Denkart des Theologen. Darum ist es rathsam, seine philosophische Theologie | nicht zu schnell abzuschließen. Es ist schon genug treibende Kraft in dem unmittelbaren Zusammenhange dieser Operationen der Begriffsbestimmung mit der inneren Neigung und dem Character eines jeden. Es muß dieser Kraft vielmehr ein Gegengewicht gelegt werden, welches nur in einer rechten Anwendung der Skepsis bestehen kann. Das Gefühl ist die unmittelbare Aeußerung des Innern eines Menschen aber es ist nur in so fern rein, als das Gefühl sich unbefangen äußert und die Reflexion erst nachher kommt. Nach der Reflexion ist die natürliche Aeußerung des Gefühls nicht mehr möglich. Da aber die Begriffsbildung beständige Reflexion ist, so kann auch niemand gewiß sagen, daß die Begriffe reiner Abdruk seines Inneren sind, sondern er ist immer geleitet durch die Reflexion, die ja darin besteht, daß sie die Gegensätze betrachtet. Wer also zu sehr eilt, der wird nicht rein speculativ die Sache ausbilden können und sein Verfahren muß mehr polemisch werden. Man muß sich also nicht übereilen hierin. Jeder der noch neu ist, sein intellectuelles Fundament sey noch so groß: muß sich zur völligen Ausbildung seiner philosophischen Theologie noch unfähig fühlen, theils weil es ihm an den durchgearbeiteten Kenntnissen des Materialen fehlt, theils weil er nicht vermeiden kann von den Gegensätzen berührt und aus der speculativen Ruhe herausgebracht zu werden und er sich noch nicht so oft in die Gegensätze hineinversetzt hat, daß dadurch die Ruhe wiederhergestellt werden könnte. Durch die Praxis muß sich jeder erst von der Einseitigkeit zur Vielseitigkeit und von der Unruhe zur Ruhe wenden. Was vom Einzelnen gilt, gilt auch vom Ganzen. Jede Periode kann zur Reife kommen in der philosophischen Theologie. So bald 7 KD1 I Schluss § 5 (KGA I/6, S. 264) 35 KD1 I Schluss § 6 (KGA I/6, S. 264) 35–3 Vgl. Stolpe: „Was in § 6. gesagt ist, bedarf noch einer näheren Erörterung. In dem ganzen Geschäfft denken wir überwiegend an die evangelische Kirche, so wie wir in der philosophischen Theologie eine allgemeine und eine besondere Apologie, eine allgemeine und eine besondere Polemik unterschieden haben, so haben wir uns immer unter der besonderen die Evangelische gedacht. [...] Wenn wir also sagen: was die gesammte theologische Denkungsart enthält wird nicht gleich Disciplin werden, so

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aber neue Gegensätze entstehen, wird auch die philosophische Theologie wieder neu und daher wird sie keine förmliche theologische Disciplin werden. |

kann das nur darauf beruhen, daß man voraussetzt: es sei zu viel Differenz in der theologischen Denkungsart der Einzelnen, als die gesammten Principien derselben eine Disciplin bilden könnten. Indessen wollen wir fragen: wie die Sache in der katholischen Kirche steht? Da finden wir, daß die Gegenstände absolut unter die Botmäßigkeit der Tradition gebracht worden sind: indem nun hier die Kirche als Kirche gesetzt ist, so ist sie auch zugleich als Tradition gesetzt, daß also | die philosophische Theologie nichts enthalte, was jemand von einem andern überkommen könnte, dieser Satz ist also ein rein evangelischer. [...] Wenn das wahr ist, daß jeder gerade diese Feststellungen der philosophischen Theologie für sich selbst produciren muß und diese die Principien der theologischen Denkungsart bilden, so ist klar, daß man in allem, worin sich die theologische Denkungsart manifestirt, auf die Principien zurückgehen muß. So ist es unmöglich, daß nicht sollten so lange es den Gegensatz zwischen supernaturalistischen und rationalistischen Ansichten giebt auch verschiedene Arten geben wie über Offenbarung, Eingebung und Weissagung gedacht wird, aber eben deshalb vieles in die Streitigkeiten hineingezogen wird die in verschiedenen Gebieten ihren Ort haben, so hängt es sich an diese an und erscheint nur im Zusammenhange mit diesen.“ (S. 200f)

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Zweiter Theil. Von der historischen Theologie. Einleitung.

§ 1.

Nicht bloß die exegetische, sondern auch die dogmatische Theologie gehört hieher. Alles Philologische pflegt man überall auch zum Historischen zu rechnen, weil es nur auf einem historischen Wege kommt. Dies dürfte auch weniger Widerspruch finden. Was die dogmatische Theologie betrifft, so muß man sie ganz von der philosophischen unterscheiden, weil ihr Gegenstand rein historisch ist. Das Verhältniß beider zur eigentlichen historischen Theologie wird durch diese Einleitung noch mehr entwikelt. In dieser wird die historische Theologie zwiefach angesehen 1. als Theil der Geschichte d. h. in wie fern sie in alles historische Wissen fällt 2. als theologische Disciplin, also in ihrem specifischen Character. Da ist besonders die Rede von den Principien, worin ein geschichtliches Ganzes für die Erkenntniß getheilt werden kann. Die historische Theologie ist also, wenn wir von der Form abstrahiren, ein Theil der neuern Geschichte und zwar der intellectuellen, d. h. der Sitten und Bildungsgeschichte. Freilich ist es nicht überall gleichförmig angenommen, wie man alte und neue Geschichte unterscheidet, so wie überhaupt in den Theilungspuncten eine gewisse Duplicität ist. Einige fangen die neuere Geschichte mit der Völkerwanderung an, andre mit der Entstehung des Christenthums. Von dem letzteren ist hier ausgegangen, weil das Christenthum Bildungsprincip einer ganz neuen Geschichte geworden ist, wie die Geschichte überhaupt in coordinirte Theile getheilt werden kann und eigene Dis4 KD1 II Einl. § 1 (KGA I/6, S. 265) 16–21 Vgl. Stolpe: „Der Ausdruck neuere Geschichte [KGA I/6, S. 265,5f] ist allerdings etwas Willkürliches. Abgesehen vom theologischen Gebiet wird ja häufig das Entstehen des Christenthums als ein wesentlicher Abschnitt gesetzt: darauf ist nun hier am meisten zurückgegangen. Wenn nun gesagt wird: das Materiale der historischen Theologie sei in der Sitten und Culturgeschichte einheimisch, so geht das Erste darauf zurück, daß die christliche Kirche Gemeinschaft ist, das Zweite, daß diese Gemeinschaft auf identischen Ansichten beruht, und dadurch eine Communication Statt findet. Indem nun das Religiöse überhaupt nur als ein ordnendes Princip da sein kann, also auch die Sätze, die das eigenthümliche Wesen des Christenthums aussprechen, hierher gehören, so gehört also das Entstehen dieser Ansichten allerdings mit zur Bildungsgeschichte und was in diesem Bezug in der christlichen Kirche entstanden ist, wie es in die historische Theologie gehört: gilt eben so gut von anderen Religionsformen.“ (S. 202)

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ciplinen ausmacht, in welche die historische Theologie gehört. Es versteht sich aber aus der Art, wie alles seinem geschichtlichen Inhalte nach relativ entgegengesetzt ist, daß das Eine ein mehr nach Innen Liegendes, das Andre ein mehr nach Außen sich Entwikelndes ist. In Beziehung auf den allgemeinen Begriff wird hier ein Punct aufgestellt, der sehr wichtig ist, der nemlich, daß jede Geschichte, als auch jede geschichtliche Betrachtung, etwas neben und um sich habe, was selbst historischer Natur ist, aber nur ein anderes, was sich also zu einer besonderen geschichtlichen Erkenntniß als Hülfswissenschaft verhält. Betrachten wir auch alles Historische in jenem Gegensatze, so ist es doch in der äußeren Erscheinung aufzufassen. Es muß sich irgendwann und wo offenbart haben und es muß das Frühere zum Späteren, das da und da Gewordene in einem Verhältniß der Wirksamkeit und Bedingtheit auf einander stehen. Also schon in diesem Theile der Geschichte der am meisten innerlich ist, hat die Kenntniß des Wann und Wo den bestimmtesten Einfluß. Dies ist aber nicht die Kenntniß der Sache selbst und erscheint also nur als Hülfswissenschaft. So ist es aber auf jedem historischen Gebiet. Es gehören also hieher folgende Puncte: 1. die Kenntniß des Schauplatzes; darin fällt das Allgemeine der Raum- und Zeit-verhältnisse zusammen; denn jeder geschichtliche Raum ist zu verschiedenen Zeiten verschieden. Die politische Geographie z. B. verändert sich am meisten, aber auch die topographische und physische ja sogar die mathematische. 2. die äußeren Verhältnisse des Gegenstands. So wie wir aus der ganzen Geschichte einen Theil herausgreifen und ihn besonders betrachten, so sind die andren Theile ihm coordinirt, aber das ist kein reines Abgeschnittenseyn, sondern alles Gleichzeitige ist mittelbar oder unmittelbar leidend von einander und wirkend auf einander. Ein besonderer Theil der Geschichte hat also ein inneres Princip, woraus sich die Veränderungen entwikeln, so die Geschichte eines besonderen Volks hat ein Lebensprincip; aber dies ist nicht völlig abgeschieden da, sondern steht in lebendiger Beziehung zu den Lebensprincipien aller andren Völker. Was aber überwiegend auf diesem Wege hervorgetreten ist, unterscheiden wir von dem, was überwiegend aus dem inneren Princip hervorgegangen ist. | Letzteres ist mehr die eigentliche Geschichte, ersteres mehr die äußeren Relationen, die aus dem Wann und Wo zu begreifen sind. 3. das, was zum Verstehen der Monumente gehört. Fragen wir nemlich, woher wir etwas aus der Vergangenheit wissen, so müssen wir sagen, nun in wie fern aus der Vergangenheit noch etwas übrig ist, was uns unmittelbar berührt d. h. in wie fern die Vergangenheit noch nicht ganz vergangen ist. Das Uebriggebliebene 5 KD1 II Einl. § 2 (KGA I/6, S. 265)

§ 2.

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ist das, was wir im weitesten Sinne M onument e nennen. Dahin gehören der Masse nach 1. die Schriften und schriftlichen Urkunden, die übrig geblieben sind. 2. alles, was von Werken der Kunst noch da ist. Dies sind die beiden Hauptarten, denen alles andre untergeordnet ist. Darauf bezieht [sich] ein eigner Zweig von Kenntnissen, die wieder rein wissenschaftlich sind für sich, aber in Beziehung auf andre Theile sich als Hülfswissenschaften verhalten. Z. B. der Kunsttrieb ist ein eignes Princip im Menschen, so wie auch der politische und so wie nun die Staatsgeschichte ein eigner Zweig des geschichtlichen Studiums ist, so auch die Kunstgeschichte. Umgekehrt ist dann die Staatengeschichte eine Hülfswissenschaft für die Kunstgeschichte, indem die Veränderungen an den Kunstwerken nur aus der politischen Geschichte zu verstehen sind. So wie wir die Geographie besonders herausgreifen und betrachten, so erscheinen Staatsgeschichte und Culturgeschichte auch nur als Hülfswissenschaft. Betrachten wir aber die Staatsgeschichte als einen besonderen Theil, so ist für sie die Kunstgeschichte Hülfswissenschaft. Um zu entscheiden über die Aechtheit des Denkmals oder über die Bedeutung, die es gehabt hat, giebt es kein festes Urtheil, als solches, welches in der Geschichte begründet ist. Aber alles, was sich für eine vergangene Zeit auffinden läßt, wird sich auf Monumente begründen und so wird die Kenntniß der Sprachen eines Volks in verschiedenen Perioden und der Litteratur auch zu den historischen Hülfswissenschaften gehören. Für die Sprache ist politische Geschichte wieder Hülfswissenschaft. Wenn wir dies auf die historische Theologie anwenden und sie als theologische Disciplin betrachten, so wird sie als solche bestimmt durch ihre Beziehung auf den Zwek aller Theologie, d. h. auf die Vervollkommnung der christlichen Kirche. Zur Hervorbringung von etwas, was noch nicht da ist, ist die Kenntniß des Daseyenden unnachläßliche Bedingung. Durch diese ist die historische Theologie bestimmt und ihre Erklärung als theologische Disciplin ist diese: sie ist die möglichst wissenschaftliche Kenntniß von der Art, wie aus dem ersten Anfange des Christenthums der gegenwärtige Zustand entstanden ist durch alle Zwischenräume hindurch. Alles, was zur Gestaltung des Christenthums gehört, was ein bedeutender Durchgangspunct gewesen ist, ist ein wesentliches Element der historischen Theologie und ihr wissenschaftliches Element besteht in der wissenschaftlichen Art, dies richtig auf einander zu beziehen, so daß die Einsicht vom lebendigen Zusammenhange aller Elemente untereinander eine richtige der Wahrheit gemäße sey. Das religiöse Princip ist eine eigne Function des menschlichen Geistes und es können seine Erscheinungen ein Ganzes bilden. Solches Ganze nicht auf das religiöse Princip überhaupt, sondern auf das christliche religiöse Princip bezogen also die Masse von Erscheinungen, die von dem

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christlichen religiösen Princip ausgegangen ist, ist die historische Theologie. Alle andren Theile des theologischen Studiums sind ihr coordinirt und treten in das Verhältniß von Hülfswissenschaften zu ihr. Also um den ganzen Schematismus zu verstehen, mit Zurückbeziehung auf das allgemeine ethische Princip, so sind Hülfswissenschaften für die historische Theologie 1. die politische Geschichte 2. die gesammte Sitten und Bildungsgeschichte der Völker, wovon die Religionsgeschichte ein Theil ist 3. die Geschichte der Wissenschaft unter den verschiedenen Völkern, welche zugleich eine Geschichte des Christenthums haben. Alles wird aber auch Hülfswissenschaft für die historische Theologie, was Hülfswissenschaft für die Geschichte ist, wie Geographie, Chronologie und Sprachkunde. | Vieles von dem Gesagten wird immer in das corpus der historischen Theologie unmittelbar selbst hineingehen aus der politischen Geschichte, so wie die Geschichte der Wissenschaft wird in der Geschichte des Christenthums selbst schon müssen vorgetragen werden, denn diese sind zu eng verbunden, als daß sie sich streng als Hülfswissenschaften davon absondern ließen. Was das Verständniß der Monumente betrifft, wozu Chronologie und Geographie gehören, so verhält es sich hiemit anders; denn dies geht nicht mit in die historische Darstellung hinein und bleibt rein Hülfswissenschaft. Die Monumente der historischen Theologie sind besonders Documente, d. h. schriftliche Denkmäler, also Urkunden. Was also besonders Hülfswissenschaft für historische Theologie ist, ist dasjenige, was zum Verständniß der Urkunden gehört. Darin nimmt Sprachkunde den ersten Platz ein. Dann aber gehören dazu alle antiquarischen und paläologischen Kenntnisse, welche einwirken auf das Verständniß. Einleitung der Principien für die Theilung der ganzen Masse der historischen Theologie. Wie jedes Aussondern eines Theils der Geschichte eine Theilung der Geschichte ist in nebeneinanderfortlaufenden Theilen, aber nirgend ein geschichtliches Ganzes gehörig betrachtet werden kann, ohne zugleich auf die gleichzeitigen Entwikelungsstufen zu sehen, so giebt es für jedes historische Studium ein zwiefaches Thei2 theologischen] Kj historischen oder geschichtlichen 13 KD1 II Einl. § 3 (KGA I/6, S. 265) 21–23 Vgl. Stolpe: Der „Ausdruck Monument [KD1 II Einl. § 2, KGA I/6, S. 265,11] ist nun in den des Documents verwandelt: da ist von einer mündlichen Tradition nichts zu sagen, also ist es nur das Denkmal der Schrift aus früherer Zeit. Nun ist es wohl klar, daß es keine anderen Monumente in der christlichen Geschichte geben kann, als diese, alle andern gehören wieder zur Kenntniß des Schauplatzes und der Verhältnisse.“ (S. 202) 28 KD1 II Einl. § 4 (KGA I/6, S. 265) – Vgl. Stolpe: „In dem folgenden § 4. wird nun auf etwas allgemein Historisches zurückgegangen werden: es sind dies Lemmata aus der Theorie der Geschichte überhaupt.“ (S. 202)

48v; § 3.

§ 4.

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§ 5.

§ 6. 49r

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len. 1. in nebeneinanderlaufenden Zweigen 2. in verschiedenen Perioden. Z. B. die Geschichte eines Staats ist auch ein abgesondertes geschichtliches Ganzes. Dies läßt sich gleich von selbst theilen in ein zweifaches neben einander Hergehendes d. h. 1. in das, was den innern Zustand des Staats betrifft, in Geschichte der Verfassung, Sitten und Bildung desselben 2. in die Geschichte der äußeren Erscheinung, oder in die Geschichte seiner Kriege, Verträge und Relationen zu andern Staaten. Aber jedes Leben hat wesentlich seine verschiedenen Entwikelungsstufen und keine einzelne Erscheinung wird gewürdigt ohne 1. eine Beziehung auf das Ganze zu PandernS 2. eine Beziehung auf die bestimmten Entwikelungsstufen, worauf sie beruht, daher die Theilung von Perioden von jeher für nothwendig gehalten ist. Es kann willkürlich oder gleichgültig erscheinen, wovon man zuerst ausgeht. Wir gehen aus von der Theilung der historischen Theologie in gewisse Zeitabschnitte. Hier beruht Alles, was rein historisch genommen ist, abstrahirt von dem Theologischen auf jener Duplicität der Ansicht. Die Geschichte ist ein beständiger Fluß und bei jedem Einzelnen sind wir in den Zwiespalt geworfen, ob wir es wollen als Einzelnes oder als Theil eines andren ansehen. Im letzten Falle trennen wir es nicht von dem Vorhergehenden und Folgenden, im ersten Falle ist es umgekehrt und dann muß es auch seinen Entstehungspunct haben und muß aus dem Nichtseyenden oder nicht Soseyenden geworden seyn und es ist ein plötzliches Entstehen. Nur in wie fern wir etwas so betrachten erscheint es als ein Einzelnes. Wird es aber als allmähliches Fortbilden betrachtet, so erscheint es als Theil eines größeren Geschichtlichen und ist Durchgangspunct. Wir sind immer darin begriffen, dasselbe bald auf die eine, bald auf die andre Weise anzusehen. Aus dieser Ansicht geht hervor, was § 5. gesagt ist, daß dieser Gegensatz nur ein relativer ist. Auch das Kleinste kann als Neuentstandenes angesehen werden und ist ein Bild des absoluten Werdens. Aber eben so kann auch das Größte als aus einem andren Werdendes angesehen werden. Doch findet hier keine reine Willkür statt, sondern durch die Grenzen der Erkenntniß wird bestimmt, ob ein Element auf diese oder jene Weise betrachtet werden muß. Daher ist jeder geschichtliche Verlauf ein Wechsel beider Zustände. Nimmt man das Leben eines Menschen, so giebt es Momente in ihm, die er nur ansehen kann als plötzliche | Entwickelung. Diese werden aber in einem größern geschichtlichen Umfange gar nicht als solche hervortreten und so umgekehrt. Das erste, was also zu thun 10 PandernS] oder PordnenS 28 KD1 II Einl. § 5 (KGA I/6, S. 266)

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ist, um eine geschichtliche Kenntniß zu ordnen ist: daß man auf diesen Gegensatz achtet und die Momente, die auf entgegengesetzte Weise betrachtet werden müssen, von einander trennt. Dazu wird § 7. der Grund gelegt und das Verhältniß im Allgemeinen angegeben. Ueberall sind es nur eine kleine Anzahl Momente, welche in einem geschichtlichen Ganzen als plötzliches Entstehen anzusehen sind, die größten Theile nehmen das allmähliche Fortschreiten und Entwikeln ein. Dies ist natürlich im Allgemeinen zu begreifen. Wie wir gesehen haben, ist jedes geschichtliches Ganzes ein Fließendes. Wir können es zurückbringen auf eine beständige Größe, die eben das Wesen des Ganzen ausdrükt und diese tritt in Berührung mit veränderlichen Factoren. Alles ist also als die Fortwirkung derselben veränderlichen Größe zu begreifen. Das Fortbilden in der Zeit muß also das Ueberwiegende seyn. Alle Momente als plötzliches Entstehen angesehen sind nur zu begreifen daraus 1. entweder es ist etwas Neues hinzugekommen in die beständige Größe selbst und dann wäre der Gegenstand nicht mehr derselbe. Es ist also richtig gesagt nur etwas in die Erscheinung getreten, was vorher latitirte, daher dieser erstere Grund streng genommen nicht aufgestellt werden kann, sondern nur das 2. wenn eine Umkehrung sich in dem zeigt, was die veränderlichen Factoren im Ganzen bilden. Solche Umkehrung ist aus dem Vorhergehenden an sich nicht zu verstehen, läßt sich also nicht als unmittelbares Fortschreiten ansehen, ist also ein plötzliches Entstehen. Solche Umkehrung ist eine Revolution und das Neu Hinzukommende eine Evolution. Dies ist also die Classification und wir müssen sagen, jedes geschichtliches Ganzes ist so zu construiren, daß eine Reihe allmählich sich entwikelnder Momente zusammensteht, welche in gewissen Entfernungen durchbrochen wird durch evolvirende und revolutionaire Momente, welche neue Perioden hervorbringen, ein besonderes Princip d. i. was durch sie in Erscheinung getreten ist. Denn die Momente, welche nur als ruhiges Fortgehen anzusehen sind, bilden einen einzelnen Periodus, d. h. einen in sich selbst zusammenhangenden Zeitraum. Die evolvirenden und revolutionairen Momente, welche eine neue Periode bilden und ihr den eigenthümlichen Character aufdrüken, verhalten sich zu diesen Perioden, wie die Natur des Gegenstands zum ganzen geschichtlichen Verlauf. Diese Puncte sind die Epochen. Eine Epoche heißt eigentlich ein Innehalten des allmählichen Fortschreitens, in dem ein neuer Zeitraum beginnt und dies drükt der griechische Ausdruk besser aus, als der deutsche. | Es ist das erste, diesen Gegensatz richtig zu sehen und gehörig aufzufinden, denn eben deswegen weil der Gegensatz nur ein relativer 4 KD1 II Einl. § 7 (KGA I/6, S. 266)

40 KD1 II Einl. § 8 (KGA I/6, S. 266)

§ 7.

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§ 11.

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ist, so ist es nicht jedermanns Sache, die ersten Erscheinungen, die einen wirklichen Periodus bilden, zu sehen. Ja es wird Fälle geben, wo diese sich gar nicht als rein Einzelnes darstellen lassen. Ein Punct ist überhaupt nicht darstellbar weder im Raum noch in der Zeit. Daraus geht hervor, jede Begebenheit kann ihren Character umändern, wenn sie an eine andre Stelle gebracht wird und dies muß auch gelten von jedem einzelnen geschichtlichen Ganzen, wie groß es auch seyn möge. Für das Christenthum wird dasselbe gefolgert. Seine Geschichte läßt sich als besonderes auffassen, weil darin das religiöse Princip auf eine besondre Weise ausgedrükt ist, aber es kann auch mit in die Geschichte der Religion überhaupt gehören und inwiefern es die höchste Ausbildung der Religion ist, ist es in der Religionsgeschichte eine Periode. Betrachten wir es für sich, so wird es sich theilen in mehrere Perioden wo jede ihren eigenthümlichen Character hat und es müssen diese Perioden und das Princip, wodurch sie sich unterscheiden, zuerst bestimmt werden. Die historische Theologie betrachtet das Christenthum für sich und als ein Selbstständiges. Jede andre Betrachtungsart ist entweder ganz untheologisch oder ist bloß Hülfsmittel für die philosophische Theologie wo man es oft im Zusammenhang mit andren Religionen ansehen muß wie z. B. in der Bestimmung der Begriffe Weissagung, Wunder, Offenbarung. Zwei verschiedene Methoden, wie nun, nachdem der geschichtliche Verlauf auf diese Weise getrennt ist, mit [der] Betrachtung selbst kann verfahren werden. Die eine ist eben die fortgesetzte Theilung des Zeitganzen, so daß also ehe man gleichsam die zusammenhängende Darstellung anfängt, man erst die Theilungspuncte vervielfältigt; dann aber alles im Zusammenhange darstellt, was in solches minimum eines Zeitraums fällt. Die zweite ist: daß man, nachdem man die Haupteintheilung gemacht hat in der Zeitreihe | die fortgesetzte Theilung mehr auf den Inhalt macht und nun die Betrachtung so anstellt, daß, nachdem die Differenz zwischen beiden gemacht ist, man alles zusammenfaßt, was in der gesammten Zeit, je einen einzelnen Theil betrifft. Ersteres ist Synchronismus, letzteres Chronologie. Theilt man nemlich die Geschichte in diese und diese Periode und verhandelt nun erst die Lehre in der Periode und nachher die Verfas8 KD1 II Einl. § 9 (KGA I/6, S. 266) 16 KD1 II Einl. § 10 (KGA I/6, S. 266) 16–17 Vgl. Stolpe: „§ 10. Die historische Theologie faßt nun die Ansicht auf die Geschichte des Christenthums als ein geschichtliches Ganzes zu betrachten. Es giebt aber eine theologische Ansicht: daß die wahre Kirche von Anfang an nur eine gewesen bis jetzt, somit könnte man sagen, müßte man die ganze Kirche als eine Geschichte behandeln. So giebt es Kirchengeschichten, die von Adam anfangen und das Ganze als eins ansehen. Da tritt aber das PvielS bestimmter heraus, daß das Erscheinen Christi nicht ein neues war.“ (S. 203) 22 KD1 II Einl. § 11 (KGA I/6, S. 267)

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sung, so heißt das ein chronologisches Verfahren. Oder wir theilen nur die Zeit; was wir in eine Abtheilung eingeschlossen haben, das behandeln wir nun als reine Einheit ohne Lehre von der Verfassung zu trennen, sondern beides geht neben einander her und das ist das synchronistische Verfahren. Wie stehen diese beiden Methoden gegen einander? welches ist die beste? Dies im folgenden. § 12. Der Grund [liegt] darin, daß die beiden Methoden gehalten werden gegen den ursprünglichen characteristischen Unterschied § 4. zwischen der ruhigen Entwikelung und dem plötzlichen Entstehen. Wenn wir nemlich den Zeitverlauf eines geschichtlichen Ganzen ordentlich getheilt und die Epochen richtig aufgestellt haben, so werden wir sagen können, das Neue da Eintretende muß eigentlich den ganzen Gegenstand durchdringen und für solchen Moment wird die objective Trennung gleich aufgehoben. In dem Leben des einzelnen Menschen sehen wir eben den Zeitpunct der Mannbarkeit als neue Evolution an, von wo alle Erscheinungen einen Character annehmen, der früher nicht war. Wenn wir dies bloß von der physischen Seite ansehen, als Entwikelung des Geschlechtstriebes, dann haben wir die Sache nicht ergründet und nicht als Epoche bildend aufgefaßt. Wenn wir aber darstellen könnten, daß mit dieser physischen Evolution zugleich eine geistige entstanden ist, dann wäre der Moment erst als Epoche erkannt. Wenn wir den Anfang der neuesten Geschichte darstellen wollen, da ist der Grund gelegt worden zu wesentlichen Veränderungen im Wissenschaftlichen, im Staate, im religiösen Gebiete. Dieser enge Zeitraum bildet eben eine Epoche. Was da geschehen ist, können wir nicht chronologisch | darstellen, sondern wir müssen es zusammenfassen denn in diesem Zusammengefaßtseyn beruht eben der Character der Epoche. Aber eben so ist wiederum für den ruhigen Verlauf einer jeden Periode das entgegengesetzte Verfahren aufgegeben, daß man da das Objective vor Augen habe und jeden Theil für sich verfolge. Das ist eigentlich das natürliche Verfahren, daß in jeder einzelnen Periode die großen objectiven Differenzen gesondert werden und in der Kirchengeschichte gesondert wird die Lehre von der Verfassung. Wo aber Epoche eintritt, da muß diese Differenz ganz aufgehoben werden und als Eins dargestellt werden. Die Theilung geschieht vom organischen Princip der Theologie aus in Beziehung aller Disciplinen auf die Kirchenleitung. Diese ist das 7 KD1 II Einl. § 12 (KGA I/6, S. 267) 9 Vgl. KD1 II Einl. § 4 (KGA I/6, S. 265) 31 KD1 II Einl. § 13 (KGA I/6, S. 267) 31–36 Vgl. Stolpe: „In Bezug auf die Kirchengeschichte theilt man Dogmengeschichte und Geschichte der kirchlichen Verfassung. Wenn aber jemand eine Reformationsgeschichte schreibt, wird er das nicht thun können, weil die Wechselwirkung zwischen beiden viel zu lebendig ist.“ (S. 204) 37 KD1 II Einl. § 14 (KGA I/6, S. 267)

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Hervorbringen eines Künftigen aus dem Gegenwärtigen. Das Künftige hängt unmittelbar am Gegenwärtigen und die Kenntniß des jedesmaligen Gegenwärtigen ist das, woran die Production des Künftigen muß geknüpft werden, und es muß einen eigenen Bestandtheil bilden. Dies führt aber weiter hinauf und die Kenntniß der Gegenwart ist nur gegeben, wenn ihre Entstehungsweise gegeben ist, die in der Vergangenheit liegt. Daraus entsteht die Nothwendigkeit der eigentlichen historischen Theologie. Die Gegenwart betrachtet in Beziehung auf die Production der Zukunft ist nicht anzusehen als bloßes Aggregat des für sich Gesetzten, sondern die Kenntniß kann für jenen Zwek nur dienen, in wie fern alles Gegenwärtige im Zusammenhange mit dem Vorigen betrachtet wird. Die größten objectiven Differenzen können mit beobachtet werden, aber innerhalb dieser muß alles als Ganzes dargestellt werden; daher die Kenntniß des gegenwärtigen Moments nur nach der Weise jener behandelt werden kann, in welche wir revolutionaire Momente gesetzt haben. | Die Kenntniß muß also den Character haben mit dem Einzelnen den lebendigen Zusammenhang unter sich nachzuweisen und so entsteht ungeachtet wir die Dogmatik g a nz historisch betrachten doch der Character derselben, vermöge welches wir sie philosophisch betrachten, so daß die Lehre des gegenwärtigen Moments als Ganzes betrachtet wird. Dies thut aber der Natur der historischen Disciplin keinen Eintrag. Die Kenntniß des Vergangenen aber muß ganz entgegengesetzt behandelt werden, denn wollten wir jeden Moment als Ganzes betrachten, so verlören wir den Einfluß jedes einzelnen Elements auf das künftige. Die objective Differenz muß also hier dominiren und die einzelnen Theile des Ganzen müssen in ihrer Zeitfolge betrachtet werden, dann sieht man wie sich alles Einzelne bis jetzt verändert hat. So entsteht der theologische Zusammenhang zwischen der Kenntniß der Vergangenheit und der Gegenwart. Der dritte Haupttheil der historischen Theologie § 16. entwikelt. Wenn wir irgend ein abgesondertes geschichtliches Ganze in seinem 9 KD1 II Einl. § 15 (KGA I/6, S. 267) 32 KD1 II Einl. § 16 (KGA I/6, S. 267) 33–3 Vgl. Stolpe: „Z. B. wir haben gesehen, daß es ein Wesentliches ist in der Geschichte des Christenthums, daß sich das religiöse Leben in Gedanken darstellt in seiner Eigenthümlichkeit und also das Christenthum als Lehre heraustritt. Nun ist aber die Entwicklung der Sprache und des Begriffssystems etwas anderes als die Entwicklung des Religiösen im Menschen. Betrachten wir die verschiedenen Gestalten der Lehre z. B. im dritten Jahrhundert mit der Gestalt in der Scholastik, so finden wir hier eine große Differenz im Qualitativen wie im Quantitativen. Können wir da sagen: das sei Wirkung der geschichtlichen Entwicklung des Christenthums? Keinesweges. Es hing dies von der grammatischen und logischen Entwicklung jener Zeit überhaupt ab.“ (S. 205)

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Zeitverlauf betrachten so ist jeder einzelne Zustand ein Resultat vom eigenthümlichen Lebensbestande, und ein Resultat von allem neben diesem Gegenstand gesetzten Lebendigen, das Einfluß auf ihn hat. E i n Gesetz können wir dabei befolgen: jedes Ganze ist näher seiner Entstehung ein Unbedeutendes, ein Kleines und es entwikelt sich also in dieser Zeit weit mehr aus seinem eigenen Lebensbestand, als durch die Einwirkung andrer Potenzen. Dies sehen wir überall im organischen Leben. So [ist] ein neu entstehender Staat ein Gegenstand, um den sich die anderen gar nicht bekümmern. Er bekümmert sich nicht um sie, weil er mit sich selbst zu thun hat. Je mehr er sich ausdehnt, sendet er Wirkungen nach anderen Gegenden hin, wodurch Gegenwirkungen entstehen. Das Lebensprincip ist also bei weitem das meiste Entwikelnde, weit weniger ist auf äußere Einwirkung zu geben. Was ist der letzte Zwek aller Theologie? Man muß lernen aus welchem Früheren welches Spätere entsteht. Aber in allem Entstehenden soll sich nichts andres als das Lebensprincip der christlichen Kirche offenbaren. Das soll darin angeschaut werden. Die Einwirkungen andrer Dinge sollen nur der Stoff seyn, woran sich das lebendige Princip der Kirche offenbart. | Dies ist mitten in der Zeitreihe eine schwierige Beschäftigung und man kann darin nicht anfangen und man muß sich an der Zeit üben, wo es leichter ist, nemlich wo das Lebensprincip noch das allein Wirkende ist. Und nun ist es nothwendig, daß wir uns eben jene ursprüngliche Periode des Christenthums als einen eignen Gegenstand aussondern, weil in dieser Zeit sich die entwickelnde 14 Was ist der letzte Zwek aller Theologie?] korr. aus Was ist der theologische Zwek alles Vergangenen. 4 KD1 II Einl. § 17 (KGA I/6, S. 268) – Vgl. Stolpe: „In § 17. ist nun gefolgert worden: diejenige Kraft, die das Subjekt der geschichtlichen Entwicklung ist, erscheine am reinsten in ihren frühesten Äußerungen. Es kann hier leicht scheinen, als ob man behauptete daß die spätern Äußerungen solcher Kraft unvollkommener seien. In dieser Behauptung liegt aber gar nicht die Rücksicht auf einen Rückschritt. Gegen den Gedanken daß eine Kraft sich selbst corrumpire durch sich selbst, muß sich das eigentliche sittliche Gefühl sträuben. Rein ist hier nur das mit der Verbindung mit etwas Anderem Unvermischte. – Durch diese Behauptung wird gar nicht gehindert, daß nicht in der Entwicklung jeder spätere Punct eine Fortschreitung sein könne. Doch müssen wir nicht unbemerkt lassen daß der Superlativ weniger ist als der Positiv: völlig rein kann nie eine Kraft auch in der ersten Äußerung erscheinen: es ist dies hier nur approximative zu verstehen. Eben dieses daß die ganze Operation, auf die es hier ankommt den gegenwärtigen Augenblick so zu kennen daß sich daraus richtige Zweckbegriffe in Bezug auf die Leitung entwicklen, so ist eben diese kritische Operation nothwendig. Es scheint also daß in der Darstellung der frühesten Äußerungen des Christenthums eine Norm zu haben für die Beurtheilung der vergangenen Zeitreihe als solcher ein unentbehrliches Hülfsmittel ist: sonst könnte kein Grund angegeben werden warum ein erster Zeitraum anders als in so fern alles Theil einer Reihe ist, betrachtet werden sollte.“ (S. 205) 14 KD1 II Einl. § 18 (KGA I/6, S. 268)

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Kraft das eigenthümliche Princip des Christenthums sich am allerstärksten und reinsten zeigt, und seine Grundzüge der Lehre und Gemeinschaft am aller reinsten hervortreten. Von dieser ersten Zeit muß dasselbe gelten, was von der Art des letzten Momentes aufzufassen ist, daß wir alles auch hier in seinem lebendigen Zusammenhange zu betrachten haben, daß wir diese erste Zeit als Ein Ganzes vornehmen müssen, wo gesehen werden kann, wie die Bildung der ganzen christlichen Kirche und Religion jedes Theil nur in seiner Abhängigkeit von dem Ganzen und im Zusammenhange mit dem andren geworden ist, also hier auch die zusammenfassende Methode die beste ist. Dies bestätigt durch § 20. 21. Die größte objective Differenz ist die der idealen Gestaltung des Christenthums und der realen, des Lehrbegriffs und der Gemeinschaft. § 21. die Grenze, wodurch sich uns diese Periode der ersten Entwikelung des Christenthums von der folgenden Zeitreihe scheidet, daß man das Urchristenthum nur in den Grenzen suchen dürfe, wo jene größte objective Differenz auch noch nicht einmal völlig auseinandergetreten, wo die Lehre noch nicht so unabhängig von der Verfassung, und umgekehrt, sondern das eine wie das andre nur in dem anderen und durch das andre bedingt erscheint. Es war ein Lehrstück festgesetzt auf dem Concilium der Apostel daß in dem Christenthum an sich keine Verpflichtung liege am Judenthum aber dies war rein eben so gut Verfassungssatz als wir es als dogmatische Thesis ansehen müssen. Und so ist es in allem Einzelnen dieser Zeit. Wir haben getrennt die Kenntniß des Urchristenthums, die gleichsam nur ein Zeitganzes, einen Zeitpunct abgeben soll, wo wir nur die sich entwikelnde Kraft des Christenthums in seinen Hauptzügen bemerken wollen. | Hier haben wir also wieder einen Zeitraum, der als Zeitpunct wieder verschwindet. Dann haben wir die Kenntniß der Vergangenheit die eigentliche historische Theologie. Diese bietet uns statt einer einfachen Zahl von Erscheinungen eine große unübersehliche eigentlich unendliche Masse von sehr verwikelten Erscheinungen dar. Für jeden einzelnen wesentlichen Bestandtheil der Kirche die Art, wie er gegenwärtig gegeben ist, aus seiner Reihe zu verstehen, schon aus diesem Zweck war uns aufgegeben, den Gegenstand zu theilen und alles objectiv Vereinzelbare nach einander zu betrachten, also Lehre und Gemeinschaft und so weiter getrennt. Allerdings indem wir hier den ganzen Verlauf haben, so haben wir hier wieder die natürliche Eintheilung von Perioden und Epochen. Doch übergehen wir die letzten und betrachten jeden Gegenstand durch die ganze Reihe der 10 Eine eigene Erörterung von KD1 II Einl. § 19 (KGA I/6, S. 268) fehlt. Einl. §§ 20–21 (KGA I/6, S. 268) 20–21 Vgl. Apg 15,1–29, bes. 28f

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Geschichte und dann haben wir drittens die zusammenfassende Methode d. h. die eigentliche historische Theologie überliefert uns die Gegenwart als ein Aggregat von lauter einzelnen Elementen. Das ist aber nicht die Kenntniß der Gegenwart die wir haben wollen. Denn da haben wir nur die einzelnen Elemente aus welchen die Gegenwart besteht, als Resultat aus der Vergangenheit. Aber wir wollen den innern Zusammenhang betrachten und die eigentliche historische Theologie muß bis auf den gegenwärtigen Augenblik inclusive geführt werden. Aber erst das Zusammenfassen der Elemente zunächst in dem besonderen Gebiete einer jeden der größten objectiven Theilungen dann aber auch zu allerletzt die zusammenfassende Betrachtung der Einflüsse die das Eine auf das Andre abgiebt, daraus entwikelt sich der rein practische Sinn, davon kann die Kirchenleitung angehen. Als wir von der nothwendigen Theilung der Geschichte sprachen, gewisse Perioden und Epochen sich bilden müßten, so fanden wir: für jede Periode gehört die theilende GeschichtsDarstellung, für jede Epoche gehört die zusammenfassende Darstellung. | Hier erscheint uns das Ganze auf eben die Weise. Die Kenntniß der Vergangenheit ist uns gegeben als eine Reihe, wo die Betrachtung in dem ganzen Verlauf das Dominirende ist. Darin finden wir einzelne Puncte, wo die Organisation des Ganzen sich entwickeln und woraus wir bloß den Schematismus finden sollen, die historische Theologie einzurichten und den wir auf zusammenfassende Weise betrachten müssen. So wie also jede Periode durch zwei Epochen begrenzt ist, so ist es mit der ganzen historischen Theologie und dies ist Gewährleistung für die Richtigkeit des Verfahrens, das zum Grunde liegt. Der Unterschied zwischen dem Urchristenthum, der Gegenwart und der Vergangenheit als der eigentlichen historischen Theologie ist der Art nach derselbe, als in jeder Periode der Unterschied zwischen dem ruhigen Verlauf und dem Evolutiven und Revolutionairen und so gehört allerdings Dogmatik PundS Exegese in die historische Theologie. Wenn wir sagen: die Dogmatik ist nicht zusammenfassende Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande der verschiedenen christlichen Lehrstüke in ihrem Zusammenhange unter sich, sondern sie ist eine ideale Aufstellung der christlichen Lehrsätze nach einem Princip des Zusammenhanges, welches rein aus der Idee hervorgegangen und daher macht jeder seine Dogmatik selbst. Wenn wir dies annehmen, was soll dann die Dogmatik für die Zukunft wirken? Sie kann nur zerstörend seyn; denn es wird bloß ein Streit seyn, den jeder Einzelne mit seiner Dogmatik, die er sich gebildet mit andren führt und es ist kein vermittelndes Princip, sondern wer seine Sache am geschiktesten führt, der wird 14–17 Vgl. KD1 II Einl. §§ 7 und 11–13 (KGA I/6, S. 266. 267); oben S. 111,4–113,36

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§ 22.

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auf die Zukunft wirken. Dies hebt also alle Besonnenheit auf und die Zukunft für die Kirche wird ganz als das Ungefähre hingestellt. Aber wenn wir das Unsrige annehmen, so kann sich ja doch jeder auch seine Dogmatik bilden und so bleiben dieselben Wirkungen. Aber in unserer Ansicht ist doch vermittelndes Princip: nemlich dies: es soll jeder das glauben | was das Zusammenstimmende ist, nicht was er selbst sich bildet. Jeder muß also aus dem Differenten das Zusammenstehende hervorsuchen und das als das für die Zukunft Feststehende gelten lassen, das Differente als null ansehen und daraus entsteht natürlicher Weise ein andres Verfahren und die Differenz ist also nicht bloßer Wortstreit sondern wesentlicher Unterschied, denn diese Ansicht bringt Ordnung für die Kirchenleitung hervor, jene Confusion. Die Zeit des Urchristenthums ist die Zeit, wo die Keime sich erst darlegen, wo keine getheilte Betrachtung seyn kann. Man hat freilich beim Urchristenthum auch solche getrennte Betrachtung angestellt, so hat man dann z. B. die biblische Dogmatik für sich behandelt als eine Zusammenfassung der Elemente des christlichen Lehrbegriffs nach dem Neuen Testament.92 Eben so hat man einzeln behandelt die Verfassung der Kirche, was ganz daßelbe ist. Gewöhnlich liegt darin eine gewisse Polemik gegen die mehr organisch ausgebildete Kirchenverfassung der spätern Zeit ganz analog mit der biblischen Dogmatik. Die eigentliche Kenntniß des Urchristenthums ist dazu, um darin die ursprüngliche Kraft des Christenthums am reinsten anzuschauen, diese ist nicht in solchen vereinzelten Betrachtungen, sondern § 23. nur in der Kenntniß der Documente jener Zeit, welche auch gar keine Vereinzelung der Art in sich tragen. Wir haben keine andre Quelle, als die Documente, welche den Canon bilden und welche sich demselben anschließen. Daraus 92

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Diese Betrachtung hebt aber offenbar den Zusammenhang dieser kleinern erstern Momente mit der ganzen Geschichte auf. Es sollen in der Darstellung des Urchristenthums die Wirkungen des eigenthümlichen innern Princips deßelben von allen andren Elementen abgesondert herausgehoben werden, die gewöhnlichen biblischen Dogmatiken thun das aber nicht, sondern stellen den Inhalt des Urchristenthums, wie es im neu testamentischen dargestellt ist nur in Vergleichung mit spätern Darstellungen oder auch mit frühern, dem Judenthum und Heidenthum. Ich will nicht sagen, daß es solche biblische Dogmatik nicht geben solle, sondern sie ist | Ergänzung der eigentlichen Dogmatik, wenn gleich nicht alles Historische darin fehlen muß.

15 angestellt] folgt )das ist aber keine Betrachtung mehr, wie sie für diesen Theil paßt, wie dies bei der biblischen Dogmatik ist. Dies Verfahren ist genau begründet darin, daß das Christenthum von der einen Seite mit dem Früheren in Zusammenhang ist* 13 KD1 II Einl. § 22 (KGA I/6, S. 268)

25 KD1 II Einl. § 23 (KGA I/6, S. 268f)

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müssen wir uns erst das christliche Leben bilden und darin liegt unsre Kenntniß des Urchristenthums. Was wir also hier ausgesondert haben in der historischen Theologie als einen besonderen Theil ist nichts andres, als die sonst [so] genannte exegetische Theologie. Es scheint als müßte doch Kenntniß des Urchristenthums und exegetische Theologie verschieden seyn. Das rührt nur her von dem, was bei dem Namen geben im Spiel ist. Was versteht man unter exegetischer Theologie? So | müssen wir 1. sagen, die Hermeneutik versteht man nicht darunter, denn die ist nur Hülfswissenschaft, 2. die Kenntniß der Sprache auch nicht, denn die wird vorausgesetzt. Es ist also auf nichts abgesehen, als auf die Kenntniß des Canons. Nun fragt Schleiermacher, weßwegen ist denn der Canon etwas für sich? Da kann man sagen: ja aus dem Canon soll hernach Beweis geführt werden vorzüglich für die einzelnen Sätze der Dogmatik und der christlichen Sittenlehre und so hat man lange die Schriften behandelt. Aber jetzt wird doch niemand mehr sagen, daß dies der Zwek der exegetischen Theologie sey. Ja man sagt, daß man die dogmatischen Anwendungen, die von einem Satze gemacht werden, in der exegetischen Theologie ganz vergessen müsse, um sich nicht von ihnen leiten [zu] lassen. Es ist keine andere, als die unmittelbare lebendige Anschauung des Canons und dies ist nichts anderes, als die lebendige Auffassung des Bildes jener Zeit, des Urchristenthums. Aus unserm Gesichtpunct und vermittelst unserer Bezeichnung fassen wir weit mehr die Grenzen auf. § 24. und 25. wird noch zuerst von der Stellung dieses Theils der historischen Theologie geredet. Nemlich[:] Sie muß natürlich den übrigen vorangehen in dem beschränkten Sinne, wie dies möglich ist, denn alle Theile des Studiums hängen zusammen und man kann nicht sagen, man will das Eine erst beendigen und dann das andre anfangen, vielmehr müssen alle Theile zugleich nebeneinander ausgebildet werden. Doch eine relative Priorität giebt es. Wenn der exegetischen Theologie eine Priorität zukommt auf die andren Theile des historischen Studiums, so schließt sie sich zunächst an die philosophische Theologie an, welche wieder relativ der historischen Theologie vorhergeht. Wenn man in dem theologischen Studium gleich mitten hineingehen wollte | oder wenn man von der Gegenwart anfangen wollte, so wird man sich sehr verwirren. Diese Verwirrung würde es unmöglich machen zu einer klaren Ansicht zu kommen. Man muß sich also üben an demjenigen Moment, worin die größte Einfachheit ist. Dazu kommt, daß alles Spätere doch willkürlich erscheinen muß, wenn man es auch versteht und oft auch die Vorstellung willkürlich 24 KD1 II Einl. §§ 24–25 (KGA I/6, S. 269)

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ist, wenn man es nicht in der Ableitung von der ersten Gestaltung des Christenthums angesehen wird. § 25. Vergleichung dieser Disciplin mit den übrigen zwischen demjenigen was zum allgemeinen Gebiet eines Theologen gehört und demjenigen was zum speciellen Gebiet der Virtuosität einer Disciplin gehört. Dieser Unterschied ist nicht in allen theologischen Disciplinen auf gleiche Weise, sondern einige haben mehr in sich, was zur Virtuosität gehört eines Faches, andre weniger und eben dies ist hier ausgesagt von der exegetischen Theologie daß in ihr der Unterschied des Allgemeinen und Besonderen den kleinsten Spielraum hat. Wenn wir die Sache in ihrem ganzen Umfange betrachten, so kann dies unrichtig erscheinen. Z. B. kann man sagen: welche ungeheuere Masse von Kenntnissen gehört zu der Kritik des Neuen Testaments? Kein Mensch wird sagen, daß dies jeder Theologe auf dieselbe Weise haben müsse? Aber das gehört auch nicht zur Sache selbst, sondern zu den Hülfswissenschaften und auf diese will Schleiermacher das nicht beziehen, er meint es nur von der Sache selbst. Wenn wir uns das geben lassen, daß uns der Kritiker einen reinen Text des Neuen Testaments liefert und was von anderen Seiten noch eben so durch Hülfswissenschaften herbeigeführt werden muß, so ist das eigentliche Wesen doch dies, daß ich eine genaue Kenntniß des Canons mir erwerbe und vermittelst derselben eine lebendige Anschauung vom Werden des Christenthums nach allen Seiten hin und da ist nun nichts, was wir einem | erlassen könnten. Könnten wir aber nicht auch sagen, daß wir uns vom Hermeneuten eben so eine vortreffliche Uebersetzung machen lassen könnten, woraus wir dieses Bild vom Urchristenthum nehmen? Dies geht nicht, so bald wir uns dazu bequemen sind wir nichts als das Echo des Uebersetzers. Wir können dann nicht sagen, daß wir uns das Bild selbst produciren, sondern der Uebersetzer macht uns eins, welches er will und wenn wir erst die Uebersetzung wieder critisiren wollen, so haben wir ja nur doppelte Arbeit. Dies ist also das Erste, daß die Vorstellung vom ersten Anfange des Christenthums, daß der Theologe davon selbst sich ein Bild mache und es kann also kein bedeutender Unterschied des Besonderen und Allgemeinen statt finden. Nun giebt es ja aber so viele Auslegungen verschiedener Stellen im Einzelnen? Kann man sich da nicht nach dem und dem richten, der ein guter Exeget ist? Das ist wieder nichts, wenn ich nicht das Urtheil begründen kann, warum der ein guter Exeget ist. Kann ich das, so kann ich 1–2 wenn man es nicht in der Ableitung von der ersten Gestaltung des Christenthums angesehen wird] Kj wenn man es ... ansehen wird oder wenn es ... angesehen wird. 3 KD1 II Einl. § 25 (KGA I/6, S. 269)

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auch gleich selbst so über die Stelle urtheilen, kann ich es nicht, so bin ich das Echo meines Exegeten und weiter nichts. Jedoch kann man sich durch die Hülfswissenschaften so verwikeln lassen, daß man sagt: entweder alles umfassen, wie es noch keiner umfaßt hat, oder sich ganz von andren leiten lassen. Da giebt es aber immer noch einen Mittelweg. Ich brauche nicht so viel die Hülfswissenschaften zu kennen, als andre, denen ich folge, sondern ich darf nur beurtheilen können, wie sie dies oder jenes angewandt haben und ob nicht der und der ein Steckenpferd reite. Was also zu den Hülfswissenschaften gehört, davon ist nicht | die Rede, sondern bei der eigentlichen exegetischen Theologie und bei der Benutzung ist keine Trennung des Allgemeinen und Besonderen da muß jeder sein eigner Mann seyn; sonst weiß Schleiermacher nicht, wie sich so einer je Theologe nennen lassen kann. Aber sollen wir nicht den Geistlichen der nichts weiter seyn will dispensiren von der Kenntniß der Ursprache, da wir eine so gute Uebersetzung haben? Diese Theorie hat man häufig aufgestellt. Aber diese Sache würde sich den Augenblik entscheiden, wenn es möglich wäre daß man sich in die Lage versetzen könnte, so ganz ohne Ursprache, so ganz als Fremder, die Bibel vorzunehmen in der Uebersetzung, ob wol jemanden das geringste daraus würde klar werden. Wenn man sich das recht lebendig denkt, so sehen wir alle Kenntniß von religiösen Begriffen und mittelst religiöser Begriffe kommt nur aus der Belehrung darüber, aus Predigten und Catechisation, sonst ist es nicht möglich und es würde einer eher griechisch lernen, als so die Bibel aus der Uebersetzung verstehen. Wir stellen also einen solchen Theologen ganz unter die Laien, stellen ihn unter dieselbe chaotische und elementarische Masse. Das ist recht gut, wenn wir uns denken eine kleine religiöse Partei, die auf die Wissenschaft in der Religion Verzicht thut, wo Cleriker nur der ist, dessen religiöses Gefühl größer ist, als das der andern. So wird denn auch bei diesen kleinen Parteien bald die Auslegung willkürlich und antichristlich. Und man sieht wol, was daraus werden mögte, wenn man im Großen so die Geistlichen bilden wollte, dann wäre es um das ganze selbstständige Leben der Kirche im Großen offenbar gethan, weil es nichts geben kann, was diese große Masse wieder in ihre Schranken zurük bringt, da sie selbst, wenn sie rein | erhalten ist durch die Gelehrsamkeit ihrer Theologen, die kleinen Parteien, wenn die Verirrungen unter ihnen überhand genommen haben, zu der reinen Lehre leicht zurükführen kann. 21 jemanden] mögliche Dativform von jemand (vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 1433)

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In der eigentlichen Geschichte ist am meisten der Gegensatz zwischen dem Besonderen und Allgemeinen. Die Begebenheiten lassen sich immer mehr vereinzeln und es läßt sich immer mehr in die Wissenschaft hineinziehen. Man muß anfangen mit einer ganz allgemeinen Uebersicht. Von dieser schreitet man dann fort und muß nun wiederum eine andre Klasse von Einzelheiten hineinziehen und so geht das immer fort; denn jede Begebenheit läßt sich in solche Einzelheiten auflösen, die man entweder hervorzieht oder verstekt. Der Punct ist nicht zu bestimmen wo sich hier scheidet das Wissen, was einem jeden Theologen zukommt und was nur für einen Virtuosen ist. Die Scheidung kann nur gemacht werden nach Einleitung I. 20., was anzuwenden ist. Haupteintheilung der historischen Theologie im engeren Sinne in die Geschichte des Lehrbegriffs, oder Dogmengeschichte und die Geschichte der Verfassung oder Kirchengeschichte. Der letztere Ausdruk ist freilich nicht erschöpfend. Es gehören nemlich dahin auch die äußeren Begebenheiten derselben z. B. die Ausbreitung, da doch die Verfassung nur Inneres ist. Doch hängt dies sehr genau damit zusammen mit ihrem politischen Verhältniß. Die Geschichte des Lehrbegriffs ist durch diesen Ausdruck bezeichnet genug. Man hat oft wieder gefragt: ob es der Sache ganz angemessen ist, die historische Theologie im engern Sinne so zu trennen und ob es nicht besser wäre nicht zu trennen? Wenn wir auf die Geschichte sehen, so scheint die Trennung ein Fortschritt zu seyn, denn ehedem wurde die Geschichte des Lehrbegriffs sehr verstekt. Oft hat man eins auf das andre zu sehr bezogen | und so die Sache nicht genau darstellen können. In der Geschichte des Lehrbegriffs waltet weit mehr die Speculation und die äußeren Einwirkungen sind da etwas Zufälliges. In der Geschichte der Verfassung sind sie aber ein Hauptmoment und der eigentliche religiöse Sinn, der die Verfassung bilden sollte, wird immer durch sie afficirt. Man muß sie also nothwendig trennen, dadurch wird eine richtige Ansicht beider Seiten weit mehr gefördert. Wenn man so die Ausführung der historischen Theologie in einem großen Geschichtsbuche hat, so muß je ausführlicher desto mehr die Kirchengeschichte und Dogmengeschichte eins von beiden zerstükelt werden oder sie werden Massenweise gesondert, so daß das Ganze doch wieder in zwei verschiedene Dinge fällt. Dasselbe was man sagen 1 KD1 II Einl. § 26 (KGA I/6, S. 269) 11 Gemeint sein muss KD1 Einl. § 20 (KGA I/6, S. 252,5–14). 13 KD1 II Einl. § 27 (KGA I/6, S. 269) 15 „Der letztere Ausdruck“ bezieht sich sowohl vom Sinn als auch von der Textgenese her auf „die Geschichte der Verfassung“; „oder Kirchengeschichte“ ist nachträglich über der Zeile eingefügt.

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kann von der Abfassung eines historischen Werks, das kann man auch sagen von den Cetera der historischen Theologie. § 28. allgemeiner Begriff, wie sich in Beziehung auf die zweifache Form der Behandlung womit unsre specielle Einleitung angefangen hat, das Ganze nun gestalten muß. Wir haben nemlich damals gesehen, daß alles Geschichtliche entweder ein ruhiges Fortschreiten ist oder ein revolutionaires theilweise Umkehren. Die Umkehrung der Verhältnisse verhält sich immer zu einer ruhigen Fortschreitung, wie sich ein Zeitpunct zu einem Zeitraum verhält. Nun kann jeder einzelne Punct im geschichtlichen Ganzen ein zweifaches Verhältniß haben. Wir haben gesehen, daß sich die Theilungen von selbst da ergeben, wo eben ein neues Moment gleichsam als Exponent eintritt und also am Anfang einer besonderen Gestaltung. Aber wir haben auch gesagt, daß so ein Punct nicht genau | aufzufinden ist, sondern immer eine Vorbereitung da ist. So ist Luthers erstes Auftreten Anfang der Reformation und auch nicht. Die Vorzeichen dazu sind Jahrhunderte vorher. Ein Punct aus der Zeit vor der Reformation der kann entweder zu demjenigen gehören, woraus sich schon vorher erkennen läßt, was nachher in der Reformation geschehen wird, oder er kann von dem allem nichts in sich haben, sondern ganz zu der Zeit gehören die nachher der Reformation entgegengesetzt ist. Jener Punct ist in der Periode, diese hat ihren Character von der Epoche, wodurch sie geworden, jede hat aber auch einen Culminationspunct. Nachher nimmt der dominirende Character ab, so daß die Vorzeichen der neuen Periode schon erscheinen. Es kommt also immer darauf an, ob ein Punct vor oder nach dem Culminationspunct einer Periode ist, ob er in ihrem Steigen oder ihrem Fallen ist, oder ob er mehr das Resultat der vorherigen Epoche darstellt oder ob er die folgende vorbereitet. Halten wir dies fest, so haben wir einen Gegensatz. Es ist also sehr wichtig für die ganze Geschichte, daß man die Eintheilung des Ganzen richtig macht, daß man auch wirklich die wichtigsten Puncte ins Auge faßt, und daß man sich da nicht von Parteilichkeit habe verleiten lassen. Z. B. Wenn ein Catholik wollte so parteiisch seyn, daß er dächte, die deutsche Reformation ist doch nur eine Spaltung im einzelnen Theile der Kirche also nicht werth, daß die viel Aufhebens davon mache und sie also nicht als epochemachend annehme, so wird gewiß kein klares Bild herauskommen können. Diese Betrachtung der Begebenheiten in Beziehung auf den Gegensatz ist nur die eine Seite, auf der andern müssen wir sagen, daß alles uns | einen beständigen Fluß darstellt, ein beständiges Entstehen 3 KD1 II Einl. § 28 (KGA I/6, S. 269) S. 265,19–266,13)

4–5 Vgl. KD1 II Einl. §§ 4–7 (KGA I/6,

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und Vergehen wo Eins aus dem anderen folgt und das ist das Wesen der eigentlichen historischen Theologie. Dies gilt von der Dogmengeschichte ebensowol als von der äußeren Kirchengeschichte. Die Dogmengeschichte kann nicht anders anknüpfen, als an das Resultat der exegetischen Theologie. Dies muß sie voraussetzen und alles Folgende die ganze successive Entwickelung hierauf zurükbeziehen und hieraus begreifen. Daher die Entwickelung der Begriffe aus dem Canon der Dogmengeschichte als Norm dienen muß und als Princip, woher alles gekommen ist. Und so muß die Kirchengeschichte zurükgehen auf den eigenen Geist geselliger Gestaltung, wie sie im Canon ist und aus jenem ursprünglichen Gefühl der Kirche nach Einheit und Unabhängigkeit vom Staat alles herleiten. Man kann dies also nur, wenn man sich das im Canon liegende auf eine lebendige Weise angeeignet hat. Das ist eben der große Fehler so mancher historischer Darstellungen, daß man mehr aus andern geschöpft hat, nicht aus demjenigen was das eigene Resultat ist aus dem Canon geschöpft. So scheint also auch das Ganze nur wie zusammen geweht. § 29. Der dritte Theil der historischen Theologie ist die Kenntniß des gegenwärtigen Augenblicks. Die exegetische Theologie wird auch eigentlich im Vergleich mit dem ganzen geschichtlichen Verlauf als Keim, wenn man auf den Raum sieht, als Moment, wenn man auf die Zeit sieht, betrachtet. Das erste, was einem hiebei einfällt ist dieses, eine solche Theilung könnte nur recht natürlich seyn, wenn der gegenwärtige Augenblick wieder Epoche bildend ist. Hier kommt es also darauf an, daß wir uns eine richtige Vorstellung machen, warum doch auch in diesem Falle die Kenntniß des gegenwärtigen Augenblicks etwas für sich Bestehendes ist. Er knüpft sich auf ganz andre Weise | und zunächst an die Ausübung. Die Kenntniß des geschichtlichen Verlaufs[:] für die ist es wichtig, daß man das Ganze aus seinen wesentlichen Functionen vertheile. Diese Theilungen lassen sich dann auch noch weiter fortsetzen. Die Kenntniß also des gegenwärtigen Augenblicks ist uns dann etwas Zerstükeltes, und unsre Kenntniß ist dann ein bloßes Aggregat von einzelnen Puncten ohne Zusammenhang. Was können wir mit solchen Kenntnissen machen, als warten bis wieder etwas kommt und dann an jeden Punct anreihen? Aber in Beziehung auf die Ausübung ist die Gegenwart ein Ganzes, in der alles durch einander greift und wenn ich sie so nicht kenne, so kann mir ein andrer gar nicht helfen. Ich kann zwar jeden einzelnen Punct mit der Idee vergleichen aber die Art und Weise, wie sich daraus etwas gestalten soll, das kann ich nicht daraus wissen. Soll es also eine Ausübung geben und sollen wir nicht erst auf etwas Folgendes warten, 18 KD1 II Einl. § 29 (KGA I/6, S. 270)

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was wir anreihen können, so muß auch die Gegenwart etwas für sich Gesetztes seyn, so daß alles in lebendige Verbindung gesetzt wird, die aber doch wieder im Größeren angesehen, eine Verschiedene ist und ungeachtet dieses Zusammenfassen die Hauptbedingung ist, so werden wir doch sehen, daß nothwendig noch gewisse Verschiedenheiten eintreten. Es scheint freilich als ob bei Darstellung der gegenwärtigen Zeit alle Theilung aufhören müßte. Es zeigt sich aber bald, daß es anders seyn muß, wenn wir den Gegenstand beziehen auf den Gegensatz, ob ein Moment mehr in den Character einer Epoche oder eines ruhigen Verlaufs falle. Je mehr ein Punct, der für sich betrachtet werden soll als der letzte, schon in den Augenblik verwikelt ist, der Epoche ist, desto weniger | kann die Trennung statt finden. Z. B. die symbolischen Bücher der protestantischen Kirche sind großentheils dogmatischen Inhalts aber nicht Darstellungen des ganzen Lehrbegriffs, sondern dieser stehe in ihnen nicht isolirt. Von der Zeit an, wo also eine zusammenhangende Darstellung der Reformation anfangen konnte können wir sagen, daß die Reformation als Revolution beendet war. So lange die Unruhe noch dauert, kann solche Betrachtung nicht statt finden. Der gegenwärtige Augenblik kann für eine Zeit in der Revolution liegen, für die andre im ruhigen Fortschreiten, aber der letzte wird der Darstellung nicht fähig seyn, bis Ruhe ist, und alle Betrachtung wird sich so lange nur auf den Hauptpunct hinziehen. Er muß also noch warten bis er dargestellt werden kann, oder er kann gleich dargestellt werden und dann in seiner vollkommensten Trennung. Je mehr der Augenblik in eine Epoche verwebt ist, desto weniger kann er für sich dargestellt werden. Die objectiven Darstellungen, die Darstellungen der Kirche können in einem unruhigen Moment nicht angestellt werden, wol aber die subjectiven. In der Darstellung des Lehrbegriffs ist zu unterscheiden die dogmengeschichtliche und die dogmatische. In der dogmengeschichtlichen wird jedes Einzelne betrachtet aus seinem Vorigen. In der Dogmatik im Zusammenhange mit dem Gleichzeitigen. Diese Darstellung giebt eben der Dogmatik diesen strengen scientischen Character, was dahin geführt hat, sie in die Philosophie zu bringen. Nach den gewöhnlichen Begriffen wird man § 32. und 33. nicht gelten lassen. Man wird sagen: die Dogmatik ist allerdings die Darstellung des Lehr7 KD1 II Einl. § 30 (KGA I/6, S. 270) 26 KD1 II Einl. § 31 (KGA I/6, S. 270) 38–1 Vgl. Stolpe: „Wenn hier stände: die 31 KD1 II Einl. § 32 (KGA I/6, S. 270) Darstellung des Lehrbegriffs einer Kirche sei die Dogmatik, so würde das keiner leugnen: eine allgemeine christliche Dogmatik würde etwas ganz Unbestimmtes sein: daß aber hier gesagt ist ‚in einem gegebenen Momente‘ ist eine Unterscheidung, die mit der

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begriffs einer Kirche aber nicht in einem gegebenen Moment und die Darstellung der Verfassung der Kirche in einem gegebenen Moment ist wol die Statistik aber nicht mit der Dogmatik parallel. Man sagt in der Dogmatik soll bewiesen werden. Wenn bewiesen wird, so kann auf keinen gegebenen Moment Beziehung seyn. | Ihr redet aber von einer Dogmatik, die nicht existirt. Meine [Erklärung] paßt auf jede Dogmatik, denn jede ist Darstellung eines Moments und ihr wollt sie nicht so haben. Aber nicht nur paßt die gewöhnliche Erklärung [nicht] auf eine Dogmatik die wirklich existirt, ganzen Stellung die hier der Dogmatik gegeben wird, zusammenhangt. – | Die Dogmatik als einen Theil der historischen Theologie anzusehen ist etwas der gewöhnlichen Ansicht ganz Widerstreitendes, durch die nähere Bestimmung tritt aber hier PerstS der historische Charakter hervor. Wenn man davon ausgeht, daß die christliche Lehre sich so construiren lasse wie ein philosophisches System so würde man von solcher Darstellung gänzlich abstrahiren müssen. Es kann kein Mensch ein philosophisches System anders construiren als mittelst der Sprache, die also etwas voraussetzt, was aus ihm nicht herausgekommen ist. Jeder Philosoph der ein neues System aufgestellt hat, hat immer mehr oder weniger eine andere Terminologie hervorgebracht; also wird jedes philosophische System nur unter der Bedingung der vorherigen Sprachentwicklung zu Stande kommen können; bei dieser Verbindung von Wort und Gedanke läßt sich nicht leugnen, daß jedes philosophische System eine geschichtliche Erscheinung ist. – Sobald man sich aber auf den Standpunct des Christenthums wie es geworden ist, stellt, so hängt es doch ganz von einem geschichtlichen Moment ab. Es könnte einer sagen: ehe Christus erschien war doch die Idee des Messias und eine Construction dieser Idee des Messias hätte ja nichts anderes sein können als die Construction Christi selbst und der christlichen Kirche. Aber worauf beruht denn die Idee des Messias? sie war doch auch ein historisches Product, und dann worauf beruht nun die Realisation dieser Idee? Die christliche Lehre wäre immer nur Pgewesen einS Factum der Beziehung der Idee auf die einzelne Erscheinung, welche hervortritt, offenbar wäre aber dieses Factum der Anerkennung in allen auf vollkommene Weise vollzogen worden. Es würden ohnstreitig alle Fragen in Bezug auf die Anwendung der Idee auf die Person doch wieder entstanden sein. Wenn hier gesagt wird: in einem gegebenen Momente, so liegt darin 1. daß es in jedem Moment ein solches Gemeinsames giebt 2. daß ein einzelner der sich diese Aufgabe stellt nur in Gemeinschaft mit diesem Gemeinsamen sein könne. Wenn wir uns denken: es gäbe gar nichts Gemeinsames der Lehre so gäbe es auch keine Kirchengemeinschaft, es ist ja diese der Austausch des Gemeinsamen der Lehre in der einzelnen Anwendung. Ein solches Gemeinsames muß es geben, doch kann es in demselben wieder eine ganze Menge einzelner Vorstellungen und Ansichten geben. Wenn dieses Eigenthümliche in den Vorstellungen das Wesentliche und Überwiegende ist, so wird eine solche Darstellung nicht mehr eine dogmatische sein, denn eine Kirchengemeinschaft wird sie nicht anerkennen können. Allerdings ist es wohl möglich daß ein Einzelner kann mit seiner Vorstellungsweise aus seiner eigenen Zeit herausgehen, entweder vorschreitend in die Zukunft oder zurückgehend in die Vergangenheit. Denken wir uns: es trete ein Rationalist mit einer entgegengesetzten Ansicht hervor, so sagte einer wieder: der will den Augustinus auferwecken, wäre aber die ganze Kirche nicht dieser rationalistischen Ansicht, so wäre die Darstellung nicht eine Dogmatik, sondern bloß eine Dogmatik jener Zeit in die Sprache einer spätern übersetzt. Wenn einer mit seiner Vorstellungsweise in die Zukunft geht, so kann es sich freilich ziemlich weit versteigen: das ist dann aber nur eine individuelle Darstellung und durchaus keine Dogmatik.“ (S. 208f)

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sondern wenn wir uns auch einen Moment dächten, nachdem keine Veränderung mehr möglich wäre und die Dogmatik dieselbe wäre, so würde die gewöhnliche Erklärung die Dogmatik doch noch nicht bestimmen, aber unsre Erklärung immer. Die gewöhnliche Erklärung, welche die Dogmatik als eine wissenschaftliche Begründung des Lehrbegriffs aus gewissen Principien ansieht, kann dann nicht genug seyn. Man muß hier sehr unterscheiden die Darstellung des objectiven Zustands der Kirche und die Darstellung des subjectiven Zustands eigner Ueberzeugung. Diese Unterscheidung ist freilich immer nur relativ, denn wir können uns keine subjective Darstellung denken, die nicht zugleich objectiv wäre und keine objective, die nicht zugleich subjectiv wäre; aber relativ ist der Gegensatz immer. Diesen wollen wir festhalten und ihn in Beziehung auf die Form der Darstellung betrachten, was er da hervorbringen wird. Wenn jemand geben will eine Entwikelung der verschiedenen Puncte des christlichen Lehrbegriffs, wie diese seine Ueberzeugung ausdrüken dann wird er nicht umhin können diese Darstellung in einen mehr philosophirenden Character hineinzuspielen. Entweder er sucht aus Principien den Lehrbegriff, wie er ihn sich denkt zu deduciren. Das ist etwas durchaus Philosophisches, den Character des Christenthums Aufhebendes. Wenn dies auf Principien zurükgeführt werden könnte, so wäre es etwas Allgemeines nicht Positives, und es wäre eine vollständige Verwandlung aller christlichen Dogmen in philosophische Theoreme. Sobald eine Darstellung diesen Character hat, ist sie keine Dogmatik. Sie setzt das Christenthum nicht als gegeben voraus, sondern sie will es a priori machen. Was kann sein Zwek seyn? Er will bloß seine christliche Ueberzeugung in einem solchen Sinne rechtfertigen. Seine religiösen | Ansichten hat er geschöpft in seinem ganzen Leben und durch seine Stelle in der christlichen Kirche. Indem er sich dies, was ihm so gekommen ist auf eine andre Weise deduciren will, so sagt er: Wenn ich meine christlichen Vorstellungen betrachte, so sind sie bedingt dadurch, daß ich im Christenthum gelebt habe und ich bin mit meinen Ueberzeugungen ein Kind des Moments. Aber das will ich nicht, ich will beweisen, daß ich doch so denken müßte, wenn ich auch nicht im Christenthum geboren wäre. Darin liegt gar nicht mehr der Character, den eine Dogmatik haben soll, die soll im Gegentheil die Denkungsweise der Kirche auf eine bestimmte Art darstellen, so daß ein jeder daran seine eigne Ueberzeugung orientiren kann. Durch dies Verfahren aber wird dies rein umgekehrt. Jener wird immer sagen, die Kirche ist nur so fern in der Wahrheit, als ihre Vorstel10–12 denn ... wäre] am Rand

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lungen mit den meinigen aufgehen. Aber solche Dogmatik ist keine, sie ist bloß Darstellung einer subjectiven Ueberzeugung. Oder es kann einer so verfahren, seine subjective Ueberzeugung darstellen, indem er ausgeht von dem in der Kirche Gegebenen und nicht eine Construction a priori anfängt, dieses Gegebene aber nun durch Combination mit rein philosophischen und philosophisch erkennbaren Sätzen zu rechtfertigen sucht. Dieses Verfahren weicht freilich nicht so ganz von dem eigentlich dogmatischen ab, wie jenes. Dies ist keine Construction des Christenthums mehr a priori. Aber die Tendenz des Verfahrens ist: daß einer sagt, ich will zwar nicht behaupten, daß ich auf diese Vorstellungen von selbst gekommen seyn würde, sondern ich konnte sie nur haben, in wie fern ich im Christenthum geboren war. Aber mein Glauben daran der gründet sich in meinen anderweitigen Vernunftoperationen und ungeachtet ich im Christenthum geboren und erzogen bin, so würde ich doch diese | Meinung weggeworfen haben, wenn ich sie so nicht mit der Vernunft hätte festhalten können. Auch hier verschwindet der Character der christlichen Dogmen bei solcher Demonstration. Die Begründung der Ueberzeugung, in wie fern ihr Gegenstand ein Dogma ist, kann nur dann seyn der logische Ausdruk und das Dogma in ein Theorem umkehren. Eine jede solche Verwandlung des Dogma in einen philosophischen Lehrsatz das ist mehr oder weniger zuletzt immer eine Aufhebung des Christenthums und seines eigenthümlichen Wesens, seines individuellen und positiven Characters. Es ist etwas, was durchaus eine wirkliche Thätigkeit der Kirche nicht repräsentirt und auch mit dieser in gar keinem realen Zusammenhang steht. Nun wenn dieses beides streng gesondert werden soll, wenn das Dogma seine Begründung immer nur haben kann in dem Bewußtseyn dessen der es ausdrükt, und jeder sagt, ich nehme dies Dogma PnunS an, weil es mein religiöses Gefühl ist, halten wir dies fest jenen Gegensatz des Theorematischen, so folgt: daß es keine andre Erklärung der Dogmatik geben kann, die dies rein festhält, als die, welche wir aufgestellt haben. An eine Allgemeingültigkeit der Dogmatik ist unter dieser Voraussetzung deßhalb nicht zu denken, weil an keine Allgemeingültigkeit der Sprache zu denken ist. Wir können uns denken, das religiöse Gefühl könne dasselbe bleiben, aber die Darstellung der Dogmen würde doch von Zeit zu Zeit eine andre seyn müssen. Jenes Verfahren das muß auch zugeben, daß an keine Allgemeingültigkeit zu denken ist, weil eine solche in der Philosophie nicht ist, aber die Dogmatik muß doch dann nach der Allgemeingültigkeit streben die in der Philosophie ist und dann sagen, es sind nur die zufälligen Stö29 PnunS] oder PnurS

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rungen, wodurch die allgemeine Gültigkeit verhindert wird, aber so wie es nur eine Vernunft | giebt, so giebt es auch nur eine Philosophie. Wenn die Dogmatik nicht aus dem religiösen Gefühl hervorgeht, so ist eine Umkehrung, denn dann ist das religiöse Gefühl nur Resultat der Dogmatik. Aber wenn die Dogmatik Resultat ist des religiösen Gefühls, so ist sie nichts Philosophisches und sie kann nur noch etwas Historisches seyn. Die größere Vollkommenheit in der Darstellung kann nicht auf philosophischem Wege erlangt werden durch philosophische Ausmerzung der Irthümer, sondern nur durch die mehrere Verbreitung des unmittelbaren Bewußtseyns und des Zurükgehens des Wortes auf dieses Bewußtseyn. Und eben weil dieses unmittelbare Bewußtseyn mehr von der Totalität des Lebens abhängt, so ist das etwas Historisches. Eine philosophische Begründung der Dogmatik abstrahirt ganz von der Totalität und geht ins Specielle. Rauben wir der Dogmatik ihren historischen Character, der darin besteht, daß eine jedesmalige Dogmatik sich auf irgend einen Moment bezieht, rauben wir ihr diesen, so muß er philosophisch werden und das religiöse Gefühl geht verloren. Die Statistik kann man ansehen als bloße Beschreibung der kirchlichen Verfassung wie sie in einer gewissen Zeit ausgebildet ist und wenn man die Dogmatik damit parallelisirt so scheint sie auch nichts weiter als eine Beschreibung zu seyn. Viele begnügen sich damit: es sey dies der statutarische Kirchenglaube, der nur so beschrieben werden könne, er ließe sich nicht beweisen. Das ist aber nicht die Parallele die Schleiermacher will, er will auch nicht die Statistik als bloße Beschreibung, sondern es soll in ihr auseinandergesetzt werden, wie die verschiedenen Theile und ihre Beziehung auf das Politische u. s. w. in Verbindung stehen. Die Darstellung soll eine lebendige seyn. So wird sich nicht finden, was hinter dem eigentlichen Begriff der Dogmatik stehen bleibe und beide sind also parallel. | Es soll nicht gesagt werden bloß, daß etwas so sey, sondern daß es im Zusammenhange mit andern so sey und so seyn müsse, aber keine philosophische Begründung darf dies seyn, wie eben gezeigt ist. Je mehr Einer darstellt den Lehrbegriff der Kirche in einem gegebenen Moment, desto vorzüglicher ist die Dogmatik. Beschränkung der Parallele zwischen der Dogmatik und Statistik, daß letztere sich mehr über das Ganze verbreite, erstere mehr stehen 21 parallelisirt] parallesirt

29 eigentlichen] korr. aus eigenthümlichen

19 KD1 II Einl. § 33 (KGA I/6, S. 270) 19–20 Vgl. Stolpe: „Hier muß man die Verfassung [KGA I/6, S. 270,19] in weiterem Sinne nehmen, sie ist nicht etwa Constitution, sondern der gegenwärtige Ge|sammtzustand.“ (S. 209f) 36 KD1 II Einl. § 34 (KGA I/6, S. 270)

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bleibe in einer Kirchenpartei. Wenn wir uns ein Werk denken, was den protestantischen und catholischen Lehrbegriff umfaßt, so wird das keine eigentliche Dogmatik seyn. Er der das Werk verfaßt, muß doch eins von beiden seyn und so kann eins nur seine Ueberzeugung seyn. Eins könnte er also nur beschreiben und das wäre keine Dogmatik. Nach dem was wir von der Statistik gesagt haben ist dies dasselbe. Aber es ist wahr, daß die Statistik noch nicht so lebendig geworden ist und daß sie noch mehr beschreibend ist, und darum leidet sie mehr eine solche Verbreitung. Doch wäre dieser Grund noch nicht hinreichend. Die Verschiedenheit aber der kirchlichen Verfassung hängt auch auf der einen Seite sehr zusammen mit dem Character einer jeden einzelnen Kirchenpartei. Der catholischen Kirche ist auch der Pabst nicht nothwendig, was man daraus sieht, daß man verschiedene Ansichten über ihn hat. Er ist zwar nicht in ihr nothwendig, aber doch nöthig. In der protestantischen Kirche könnte ein solches Oberhaupt unmöglich seyn. Dasselbe könnte man von dem Gegensatz zwischen Geistlichen und Laien in beiden Kirchen sagen. Auf der andren Seite hängt viel ab von den Verhältnissen der einzelnen Parteien zum politischen Körper. Nun ist wahr, daß sie sich auch ausbilden nach der Differenz, die in den Kirchenparteien ist. | Aber es ist dies nicht etwas in ihnen Liegendes, sondern bloß die Ansicht die von ihnen der politische Körper hat. Daher nun, weil hier das ausbildende Princip größtentheils ein solches ist, welches von der Ueberzeugung des Einzelnen gar nicht abhängt, so kann ein darstellendes Werk auch die Darstellung einer solchen Kirche mit beschreiben in der sich der Beschreibende nicht befindet, weil seine eigene Kirche auch so constituirt ist, daß seine Ueberzeugung nicht damit paßt. Dasselbe paßt keinesweges vom Lehrbegriff. Der zweite Punct ist das Allgemeine was sich jeder aneignen muß und das Besondre in diesen Disciplinen. Sie stehen hierin offenbar 1–3 Vgl. Stolpe: „Man denkt sich leicht, als ob das nur ein Rechenexempel wäre, Protestanten und Katholiken seien doch Christen, man könne ja hier substrahiren, dann bliebe doch das Christenthum übrig, aber die Sache verhält sich anders: diese entgegengesetzten Charaktere durchdringen das Ganze. Jede Bestimmung der dieses Charakteristische fehlte, wäre eine unbestimmte müßte man sagen. Z. B. Man sagt: der Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus fange an in der Soteriologie und zeige sich in ganzem Umfange in der Lehre von der Kirche. Die eigentliche Theologie die Lehre von Gott aber müsse doch dieselbe sein. Dies offenbar nicht der Fall: wenn wir die Unterscheidungslehre von der Rechtfertigung hierher ziehen; eben so: die göttliche Allmacht müsse doch über allen Conflict hinaus sein. Nun stellt aber der Katholizismus das Wunder als ein wesentliches Kriterium der Kirche [auf]. Wir aber stellen das Gegentheil auf: es wird sich daher bald zeigen, daß auch hier ein Unterschied sein muß. Ein gänzliches Abstrahiren von den Differenzen kann nur eine Darstellung hervorbringen, die ihren wissenschaftlichen Charakter verliert.“ (S. 210) 28 KD1 II Einl. § 35 (KGA I/6, S. 270)

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mit der Kirchengeschichte gleich. Beide sind durchaus unendlich und darum liegt der Grund schon in ihnen selbst, daß der Gegensatz des Allgemeinen und Besondren in ihnen statt findet. Die Abweichungen würden das Besondre seyn für den Virtuosen. Keiner kann das, was er sich aneignen muß, unmittelbar aus Quellen ganz schöpfen. Das Princip worauf es dabei ankommt ist: je mehr jemand von den Vorarbeiten andrer abhängt, um desto nothwendiger ist auf der anderen Seite, daß doch jeder seine geschichtliche Anschauung aus dem, was er von andren hernimmt, sich selbst bilden muß. Dies ist gerade für den Theologen, bei welchem alle Kenntniß mehr auf die Praxis geht, nothwendig in einem ganz eigenen Sinne. Denn wenn seine geschichtliche Anschauung vom gegenwärtigen Zustande, woraus die Praxis hervorgehen muß, nicht seine eigene ist, so ist auch die Praxis nicht seine eigene, und diese geschichtliche Anschauung des gegenwärtigen Moment hängt wieder von der Anschauung der eigentlichen KirchenGeschichte ab, dann ist er nur das Organ eines andren Einzelnen. | Die Selbstbildung aber der historischen Anschauung, die man doch aus andren schöpfen muß, hängt von der geschichtlichen Kritik ab, weil selbst im allereinfachsten nicht bloße Materialien, sondern 5 KD1 II Einl. § 36 (KGA I/6, S. 271) 5–17 Vgl. Stolpe: „§ 36. Die geschichtliche Anschauung in Bezug auf die Thätigkeit in der Leitung der Kirche muß durchaus eine selbstgebildete sein. Zuerst müssen wir hier auf die philosophische Theologie zurückgehen: wo wir das aufstellen, daß hierin nichts enthalten sei, was sich auf traditionelle Weise darstellen könne. Wenn ich zu Principien nur auf diese Weise komme, so könnten die Handlungen, die auf diesen Principien beruhen, durchaus nicht die meinigen sein: denn das Princip ist nicht das meinige. Die geschichtliche Anschauung ist die unmittelbare Anwendung von den Principien, die in der philosophischen Theologie aufgestellt wurden. Wenn die Anwendung abhängt von den Principien, so ist sie ganz natürlich eine eigene. Diese geschichtliche Anschauung ist aber das, wodurch die Thätigkeit in Beziehung auf die | Zukunft bedingt ist; sind die Principien nicht ausgebildet worden, so giebt es durchaus keine selbstständige Thätigkeit.“ (S. 210f) 18 KD1 II Einl. § 37 (KGA I/6, S. 271) 18–7 Vgl. Stolpe: „Alles geschichtliche Bewußtsein beruht auf einer Mittheilung der Erfahrung. Eine geschichtliche Darstellung ist nun der Complexus einer wer weis durch wie viele Reihen gegangenen Mittheilung von Erfahrung, sie kann nur entstehen indem die verschiedenen Erfahrungen von ursprünglichen Zeugen und Theilnehmern dargestellt werden: es giebt wohl keine irgend bedeutende geschichtliche Darstellungen, die nicht wieder geschichtliche Darstellungen zu Hülfe nähmen. Wenn also hier gesagt wird: geschichtliche Darstellungen könnten nicht frei sein von den eigenthümlichen Ansichten der Darstellenden, so ist das noch nicht genug, sondern es sind auch die Ansichten, die der Darstellende aus schon frühern geschichtlichen Elementen entlehnte, hier herzuziehen. Hier ist also eine unendliche Möglichkeit nicht des Irrthums, sondern vielmehr der Verwirrung. Für die eigenthümliche Bearbeitung das Materiale rein auszuscheiden, ist unumgängliche Erforderniß, wenn jemand sich seine geschichtliche Anschauung bilden soll. Nur durch solche Scheidung wird die geschichtliche Anschauung eine eigene, also eine solche, welche die Wahrheit des Anschauenden sein kann.“ (S. 211)

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§ 38.

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auch schon ein Urtheil ist: Von der Simplicität der Chronik an bis zu der allerwillkürlichsten Darstellung giebt eine unendliche Reihe von verschiedenen Puncten, worin dies verschieden ist; aber ich kann ja den Punct, auf welchem die Darstellung steht nicht finden und so das Materiale ausscheiden, wenn ich nicht weiß die Kritik anzuwenden, wenn ich den Einfluß nicht beurtheilen kann den des Verfassers Eigenthümlichkeit auf die Darstellung gehabt hat. Ohne dies ist niemand im Stande, sich etwas anzueignen auf dem historischen Gebiet, und dies ist die historische Kritik, die Beurtheilung nemlich derjenigen, die in der Geschichte vorgearbeitet haben. Dies gilt auch der Dogmatik, wiewol auf andre Weise. Weil hier alles auf Begriffsbestimmung ankommt, so könnte es scheinen, als wenn dies nicht darauf paßt. Wenn wir ausgehen, von der Art, wie die ganze Sache in der protestantischen Kirche liegt, so haben wir gar keinen schlechthin feststehenden Buchstaben, sondern alles hat noch etwas Relatives. Von der Zeit an, wo die protestantische Kirche entstanden ist, hat sich der Lehrbegriff weiter entwickelt und mancherlei Veränderung erfahren. Hier hat also immer die Auslegung der symbolischen Bücher, die Auslegung derjenigen Ausdrücke wodurch die religiösen Vorstellungen ehedem bezeichnet sind, immer mitgewirkt und wenn ich also eine Darstellung des Lehrbegriffs von einem Einzelnen [habe,] sey sie durch die Abweichungen von den anderen zu vergleichen, oder durch die Darstellung, so werde ich daraus nie etwas bestimmen können | wenn ich nicht über die Art und Weise die symbolischen Bücher der Kirche auszulegen und über die Art und Weise die gewöhnlichen Ausdrüke festzuhalten oder mit andren zu vertauschen, wenn ich darüber nicht die Principien des Schriftstellers kenne. Ohne historische Kritik der Darstellung und des Darstellenden kann keine Kenntniß der Dogmatik im Einzelnen statt finden. Ohne sie kann ich nicht wissen, ob unter neuen Worten neue Vorstellungen und unter alten Worten alte Vorstellungen gemeint sind. Dies ist das allgemeine Supplement und der Maaßstab aller Bestrebungen auf diesem Gebiete. Je mehr man seiner Sache gewiß seyn will, muß man sich die historische Kritik aneignen. 8 KD1 II Einl. § 38 (KGA I/6, S. 271) 8–10 Vgl. Stolpe: „§ 38. Das Vorige zusammengezogen: die Operation der Scheidung durch den Ausdruck der historischen Kritik bezeichnet. Sie ist die Basis zu allem wirklich eigenen Handeln. Das Wesen besteht immer in dem was hier aufgestellt ist, gewöhnlich braucht man den Ausdruck in einem engern Sinne, man bezieht ihn nur auf die historische Wahrheit und den Irrthum.“ (S. 211)

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Erster Abschnitt. Von der exegetischen Theologie.

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Der eigentliche Gegenstand kann nichts andres seyn als die Kenntniß des Urchristenthums oder der Entwikelung des Christenthums in seiner ursprünglichen Reinheit, welches zusammenfällt mit demjenigen was den Canon des Neuen Testaments ausmacht. Hieraus folgt, daß nur auf diese Idee des Canon die exegetische Theologie als solche sich bezieht. § 2. die eigentliche Idee des Canon noch einmal aufgestellt, wobei zu bemerken, daß es nicht einerlei ist, die Idee des Canon aufzustellen, oder das aufzustellen was in den Canon gehört oder nicht. § 2. paßt nur auf das Ganze der Neu Testamentischen Schriften. Eine einzelne Schrift davon kann das nicht enthalten, sondern nur einen Theil davon, der mit vielen andren vermischt ist. Die Frage nach der Idee des Canons ist allerdings auch historische und kritische Frage; denn der Canon mögte nun durch absichtliche Construction | oder mehr unbewußt entstanden seyn, so ist er doch in und durch die Kirche entstanden und die Frage, wie diese zu Werke gegangen, ist mit der Idee des Canon so genau verwandt, daß beides Eins und dasselbige ist. Es ist hier, wo die Idee des Canon im Allgemeinen aufgestellt ist, gar nicht gesagt, von was für Verfassern kann eine Schrift seyn? Das wäre eine Frage, die erst von dieser müßte abgeleitet seyn. Weil wir es aber nur mit dem Princip zu thun haben, wodurch sie verbunden sind, so schien es richtiger, dies nicht mit hineinzutragen, sondern rein das objective Kriterium. Verhältniß zwischen dem, was wir im theologischen Sinne den Canon nennen und zwischen dem, was man im gewöhnlichen Gebrauch die Bibel nennt. Die hier aufgestellte Idee des Canon ist auf das Alte Testament gar nicht anwendbar. Der ganze Zwek, den wir ihr gegeben haben, kann auch nicht auf das Alte Testament gehen, 3 KD1 II 1 § 1 (KGA I/6, S. 271) 9 KD1 II 1 § 2 (KGA I/6, S. 272) 9 Vgl. Stolpe: „§ 2. Die Idee des Kanon ist, daß er die Sammlung derjenigen Documente enthält, welche die ursprüngliche absolut reine und deshalb für alle Zeiten normale Darstellung des Christenthums enthalten. § 17 der Einleitung war gesagt, daß eine Kraft in ihren frühsten Äußerungen am reinsten erscheine [KD1 II Einl. § 17, KGA I/6, S. 268], hier ist gesagt: der Kanon enthielte die absolut reine Darstellung. Dies ist also unendlich mehr. Aber in der Einleitung war auch nur allgemein gesprochen. Der Ausdruck normal modificirt seinen Gehalt offenbar nach dieser Bestimmung, was das relativ Reinste ist, kann nicht zum Normalen dienen. Wenn diese Veränderung des Ausdrucks begründet sein soll, so wird die Kraft des Christenthums als eine besondere, als eine göttliche, sich darstellen. Je weniger streng die Vorstellung von der Göttlichkeit des Christenthums gefaßt wird, desto weniger genau darf es mit diesem Ausdruck genommen [werden].“ (S. 212) 26 KD1 II 1 § 3 (KGA I/6, S. 272)

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§ 4.

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denn wir können nicht sagen, daß es die ersten Ideen des Christenthums enthält. Dies erscheint nicht nur als Veränderung in Beziehung auf den Ausdruk, sondern auch auf den Begriff. Dies ist allerdings eine Neuerung, sie ist nur nicht so groß als sie scheint und so ist § 4. 4 KD1 II 1 § 4 (KGA I/6, S. 272) 4–135,6 Vgl. Stolpe: „Mit der Erscheinung Christi ist eine Einsicht aufgegangen, die vorher unter den Menschen nicht habe sein können und eine Gemeinschaft gestiftet worden: wozu vorher das Factum nicht gegeben. [...] – Wenn ich die Wahl habe, die Erscheinung Christi nur auf die satisfactio vicaria zu beschränken oder zwischen dem zu sagen: durch die Erscheinung Christi ist viel mehr geschehen: so kann ich gar nicht schwanken: ich muß das Letztere vorziehen. In der Thatsache daß in der christlichen Kirche das Alte und Neue Testament ein Ganzes bilden, ist das von der Einheit der Kirche [seit Adam] ausgesprochen: wer nun meint: diese Lehre habe jenen Inhalt, bei welchem der Gehalt der Erscheinung Christi durchaus ein Minimum ist, der muß auch die Sache so fassen, daß das Alte Testament die normale Darstellung des Christenthums ist: dieser muß dann den Alttestamentlichen Stellen dieselbe Stringenz beilegen wie den Neutestamentlichen. [...] Man kann nur sagen, daß das Alte Testament die normale Dignität nur in Beziehung auf das Neue Testament habe. Daß es als Begründung jeder Darstellung der christlichen Lehre gebraucht werden kann, wird nie ohne die größte Gewaltthätigkeit die doch der Tod der exegetischen Theologie ist, in Ausführung zu bringen sein. | Alle Künstelei, die den reinen exegetischen Tact verdirbt hat nur darin seinen Grund, daß man aus dem Alten Testament die christlichen Lehren begründen wollte. So hat die Erscheinung Christi auf die Bildung der religiösen Gedanken gar keinen Einfluß gehabt und das Alte Testament muß dann auch die normale Darstellung von aller Tugend und Gottseligkeit sein. Unsere Praxis ist immer eine dreifache gewesen; wir haben das Neue Testament besonders, dann aber das Neue Testament und anhangsweise die messianischen Weissagungen aus den Psalmen und Propheten und zuletzt die ganze Bibel des Alten und Neuen Testaments. Einzelne Schriftsteller des Neuen Testaments zu ediren, gehört dem gelehrten, nicht dem kirchlichen Fache an. Wir sehen also, wie das Geschichtliche schon in dieser Praxis mitenthalten ist. Unsre evangelischen Missionen haben ja auch immer sich selbst dargestellt: und die Völker nicht etwa erst durch das Judenthum geführt. Es ist klar, daß das Christenthum anfänglich nicht anders dargestellt werden konnte als in seinem Verhältniß zum Judenthum und die Neutestamentliche Darstellung durchaus keine andre sein konnte. Wenn wir sagen müssen, daß die Gemüther davor, in denen sich erst das Gefühl für das Christenthum ausbildete, selbst im Jüdischen gebildet waren, so muß man daher sagen, daß das Zurückgehen auf das Alte Testament die Hauptsache immer [war] und auch sein mußte. Nun ist aber die Kenntniß des jüdischen Codex auch eine allgemeine Hülfswissenschaft für die Kirchengeschichte: die wir getheilt haben in die Geschichte des Lehrbegriffs und der Verfassung. Sagen wir nun: die Lehrweise der Apostel und die Entwicklung christlicher Vorstellung in ihren Vorträgen ist das, woraus sich die ganze folgende Entwicklung ableitet, so muß doch hier die jüdische Vorbildung mit verstanden werden, also [ist] die Kenntniß des Alten Testaments Hülfswissenschaft für die ganze Dogmengeschichte. Mit der Geschichte der Verfassung ist es dasselbe. Das Judenthum war vollkommene Theokratie: die nun bloß als religiöses Fundament stehen blieb, nachdem die Nationalität aufgehört hatte. Hieran schloß sich die christliche Gemeinschaft: sie hing sich nicht an den Tempel- wohl aber an den Synagogendienst. So werden wir sagen müssen: die ganze erste Anordnung der christlichen Gemeinschaft ist nur zu verstehen aus dem Früheren obgleich nicht Christlichen an das sie sich der Form nach knüpfte. Der ganze Typus der Synagoge war nichts anderes als der Ersatz für ausgestorbene Prophetie: dieses also, d. h. der Gebrauch des Gesetzes

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die eigentliche Stellung des jüdischen Codex gegen das theologische Studium überhaupt aufgestellt. Indem die Kenntniß desselben eine gemeinsame Hülfswissenschaft für alle einzelnen Theile der historischen Theologie ist, aber daß man auf der einen Seite sie nicht kann in Beziehung auf die exegetische Theologie gleichstellen mit dem Neu Testamentischen Canon. Dies ist die Differenz. Das Christenthum ist eine individuell bestimmte und also von jeder andern verschiedene Religion. Es ist also keinesweges auf irgend eine Identität mit dem Judenthum zurükzuführen, wogegen allerdings es eine nähere geschichtliche Verwandschaft hat mit dem Judenthum als mit jeder anderen dem Anfange | des Christenthums gleichzeitigen Religion. Das Christenthum ist allerdings im unmittelbaren Gebiete des Judenthums entstanden so zu sagen in seinem Leibe und hat sich erst hernach allmählig ausgelöst, aber das Christenthum ist so PzeitigS in das Gebiet des classischen Heidenthums eingedrungen und von diesem so begierig aufgenommen, daß wir allerdings auch darin eine vorläufige PBearbeitungS dieses Stoffs für das Christenthum annehmen müssen und es muß etwas in ihnen gewesen seyn, was eine Receptivität für das Christenthum enthielt. Diese Verwandschaft führen wir zurück auf Weissagung und typus und diese muß es im Heidenthum so gut geben als im Judenthum, wenn gleich nicht in so vorzüglichem Maaße. Berüksichtigen wir dies hier, so scheint daraus hervorzugehen, daß die Verwandschaft zwischen Christenthum und Judenthum nicht Prein specifischS ist. Das Specifische bleibt nur die geschichtliche Ableitung. Dazu gehören nicht nur, daß der Stifter des Christenthums als Jude geboren ist und also auf die religiöse Sprache des Judenthums und auf den Inhalt desselben seine Gesetze für die Kirchengemeinschaft und seine Lehre gründen mußte und daß er auftrat mit einem Namen und unter einer Bestimmung, welche rein in der religiösen Entwikelung des Judenthums begründet war, als Messias, und daß so wie er als PAnfänger undS Stifter des Christenthums anzusehen ist, so auch als Vollender und Beender des Judenthums. Hieraus müssen wir 14 PzeitigS] oder PgeistigS 24 Prein specifischS] oder Peine specifischeS undS] oder PAnfänglicherS

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als die religiöse Vorstellung in sich schließend, war das Wesen der Prophetie, an deren Stelle die PLesungS der Synagoge trat. Was die Kenntniß des gegenwärtigen Zustandes betrifft so ist sie von der Kenntniß des Verlaufs so abhängig, daß eine besondere Deduction davon nicht mehr nothwendig ist. Nun werden wir sagen können: es sind keine Alttestamentlichen Stellen unmittelbar als Darstellung christlicher Ideen aufzuführen wohl aber nothwendig um die Beziehung des Neutestamentlichen auf das Jüdische zu verstehen und den jüdischen Coefficienten vom eigentlich Christlichen zu scheiden.“ (S. 212f)

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uns den individuellen Unterschied des Christenthums und Judenthums suchen, PdaßS die heiligen Bücher der Juden sind in die Bibel aufgenommen worden. Daß Christus zugleich als der Messias erscheint, das kann nur aus dem Alten Testament entwickelt werden und Christus als Anfänger des Christenthums kann zwar erkannt werden aus den Neu Testamentischen Büchern aber als Vollendung des Judenthums kann er nur erkannt werden aus dem Alten Testament. Die ersten christlichen Gemeinden | bestanden aus Juden und Judengenossen, also gingen auch die Alt Testamentischen Bücher zum kirchlichen Gebrauch zur Erbauung über, ehe die Neu Testamentischen Bücher da waren. Wir können allerdings nicht annehmen, daß das Alte Testament damals Fundament ihrer Erbauung in damaliger Zeit hat seyn können, sondern indem man das Individuelle des Christenthums daran reihte, und daraus geht hervor, daß auch als Fundament der Erbauung nicht ein gleicher Rang angenommen werden kann zwischen den Alt Testamentischen Büchern und den Neu Testamentischen. Ihr Gebrauch war nur ein PHerüberführenS vom Christenthum zum Judenthum. Daß sich aber nun die Alt Testamentischen Bücher aus dem kirchlichen Gebrauch PsoS nicht mehr haben lassen trennen wollen und daß kein eigentliches Bestreben dahin gegangen ist, das erklärt sich ganz natürlich aus dem zu großen Werth, den man auf das Prophetische und Typische legte. Wenn wir nun den Begriff des Canon, den mehr theologischen aufstellen wollen, so müssen wir in der Sonderung noch weiter gehen und können nicht mehr sagen, die Alt Testamentischen Bücher gehören mit in die Bibel, aber sie haben nicht den Werth der Neu Testamentischen sondern: es ist allerdings der theologische Gebrauch des Alten Testaments ein noch größerer als der kirchliche Gebrauch, aber doch auch wiederum strenger geschieden von dem Eigenthümlichen der Neu Testamentischen Bücher. Nemlich wenn wir von dem Begriff ausgehen: der Canon ist die Sammlung derjenigen Documente, welche die PeinzigartigeS reine normale Darstellung des Christenthums enthalten, so ist dieser Begriff gar nicht auf das Alte Testament anzuwenden. Es wird zwar auf das Christenthum darin hingewiesen, aber so daß das Eigenthümliche des Christenthums darin ganz latitirt. Das ist das Positive für uns, wie die Ausbildung der messianischen Idee | im Judenthum für uns die negative Seite ist. 19 PsoS] oder fälschlicherweise wiederholtes PsichS thümlicheS 31–33 Vgl. KD1 II 1 § 2 (KGA I/6, S. 272,1–4)

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Der eigentliche Werth des Canon in Beziehung auf die Fortbildung der Kirche ist: PsodaßS man von jedem einzelnen gegebenen Punct aus unmittelbar zurükgehen kann an das Ursprüngliche und Reine, um zu erkennen, was darin positiv und was negativ in Beziehung auf das Christenthum. Dazu ist auf der einen Seite der dogmatische Gebrauch des Canons. Das muß in allen Dogmen gleich gelten. Was entsteht nun daraus, wenn man in der Lehre von Gott z. B. dem Alten Testament die gleiche Dignität einer normalen Darstellung geben will, wie dem Neuen Testament? Es herrscht darin ein Anthropopathismus der auf das Speculativ-Religiöse zurükgeht. Ist nun das Alte Testament normale Darstellung, so muß man auch alles, was von Gott gesagt ist, auch in den Begriff, den das Alte Testament davon hat, aufnehmen. Wir können nicht umhin anzuerkennen, daß damals die Vorstellungen von Gott auf einer weit unvollkommneren Stufe standen und daß es gar nicht dasselbe ist, ob man sagt dies sind bildliche Ausdrüke, als man es nachher sagen kann: sie sind bildlich indem die rechten Ausdrüke daneben stehen, für sich allein aber im Alten Testament sind diese anthropopathischen Bilder nicht bildlich zu nehmen. Aus dieser theologischen Gleichstellung des Alten Testaments mit dem Neuen Testament ist der Verderb der exegetischen Theologie herzuleiten, so daß man dasselbe hat auf das Neue Testament angewandt, was man für das Alte Testament brauchte, und was wir Verkehrtes finden in der Auslegung des Neuen Testaments das ist verschuldet durch dieses Gleichsetzen des Alten Testaments und des Neuen Testaments, denn dadurch ist entstanden, daß man alle festen Principien in der Auslegung hat fahren lassen und rein willkürlich verfahren ist. Wir müssen also das Uebel in der Wurzel | angreifen und sagen, als Canon kann das Alte Testament nicht mit dem Neuen Testament gleich gelten. Es sind darin nicht die christlichen sondern die jüdischen Vorstellungen enthalten, nur die ersten Keime vom Christenthum. Die können wir aber nicht mit aufnehmen, sonst müssen wir auch Heidnisches aufnehmen, was einen allgemeinen religiösen Inhalt hat, woran christliche Vorstellungen geknüpft werden können. Dies war die geschichtliche und practische Seite der Sache. Gehen wir rein auf den Begriff zurük, so bekommt die Sache die Gestalt wie sie § 3. ausgedrükt ist, daß wenn wir das Alte Testament in den Canon aufnehmen, wir den eigentlichen Begriff desselben ganz auflösen, und das Christenthum als Fortsetzung des Judenthums betrachten. Dagegen ist die richtige Stellung der Sache § 4. daß die Kenntniß des jüdischen Codex eine unentbehrliche und gemeinsame Hülfswissenschaft für die gesammte historische Theologie ist und also auch Theil nimmt 35–38 Vgl. KD1 II 1 § 3 (KGA I/6, S. 272,5–8)

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§ 5.

§ 6.

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an dem Verhältnisse der Hülfswissenschaften, daß sie nemlich von allen müssen besessen werden, die Kenntniß derselben kann von keinem entbehrt werden. Das begründet sich theils in der Entstehung der Neu Testamentischen Sprache aus dem Alten Testament theils wie die Vorstellungen des Neuen Testaments zum Theil entstanden sind aus dem Alten Testament. Von der Seite des Wortes und des Gedankens ist uns das Neue Testament unverständlich wenn wir nicht eine lebendige Anschauung haben von den damals herrschenden jüdischen Vorstellungen und diese können wir aus nichts anderem schöpfen, als aus dem Alten Testament. Denn die Rabbinischen Bücher sind nicht mehr so wichtig, weil sie sich zugleich mit dem Entstehen des Christenthums gebildet haben und einen absoluten Gegensatz aufstellen zwischen dem Judenthum und dem Christenthum. Wenn man so das Alte Testament mit in den Canon aufgenommen hat, so sollte man es auch zum besondren Studium gemacht haben. Aber das ist nicht sonderlich geschehen und sehr oft hat man sich erlaubt, die | Theologen von dem Hebräischen zu dispensiren. Auch in den öffentlichen Bildungsanstalten wird zu wenig dafür gethan. Ueberdies ist das Hebräische noch nicht der Repräsentant aller Morgenländischen Sprachen, weil darin wenige Schriften nur sind. Die Erklärung die wir vom Canon gegeben haben zeigt schon, daß eine Begrenzung nicht leicht möglich ist. Das Urchristenthum war die Zeit, wo die ideale und reale Seite des Christenthums noch nicht getrennt war. Das ist eine leichte und anschauliche Formel aber die Grenze schwankt. Es ist auch schon im Protestantismus Wesen, daß man annimmt, dies sey unmöglich, die Grenze zu bestimmen. Der Catholicismus nimmt hievon keine Notiz, weil er eine Position annimmt, wodurch diesem Schwanken ein Ende gemacht sey, nemlich die Entscheidung der Kirche über den Canon. Wir sehen solche Entscheidung der Kirche immer nur als etwas relativ Normales an, als etwas, was immer noch anders seyn kann, und wenn sich auch gegenwärtig eine Ansicht darüber bildete, so müssen wir diese nicht als absolut normal für alle Zeiten annehmen, sondern glauben, daß sie sich noch ändern und besser werden könne. Sehen wir darauf daß die Documente, welche den Canon bilden sollen, nothwendig ausgehen müssen von den PbildendenS Hauptpuncten des Christenthums, so ist dies § 6. genauer auseinander gesetzt. Der erste bildende Hauptpunct des Christenthums ist Christus selbst, also auch das erste was in den Canon gehört. Das sind alles 36 PbildendenS] oder PbeidenS 21 KD1 II 1 § 5 (KGA I/6, S. 272)

38 KD1 II 1 § 6 (KGA I/6, S. 272)

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Documente, die wir von Christus haben. Christus hat aber selbst nichts geschrieben, also gehört alles zum Canon, was seine Jünger von ihm aufgefaßt haben. Das haben wir aber nirgends allein, sondern nur in anderweitigen Schriften der Jünger und diese bilden die zweite Classe. Das dies unzertrennlich ist, leuchtet ein. | Wenn man aber von den Jüngern Christi redet, wie weit geht die Grenze? Noch auf die Jünger der Jünger? Auch schwankt der Begriff Jünger noch, welches § 8. und 9. vorkommen wird. Sollen Schriften der Jünger Christi, die keine Aufzeichnung von Christus enthalten auch zum Canon gehören, oder nicht? Allerdings wenn hat denn das Christenthum in der Differenz seiner beiden Seiten der idealen und realen angefangen dazuseyn? Wir müssen dem Anfang, weil er sich vom Fortbilden nicht genau trennen läßt, einen gewissen Spielraum geben. War diese Differenz schon da, als Christus noch lebte? Das wird niemand behaupten können. Was die ideale Seite betrifft, so sagt er ja, es gehöre noch vieles zu seiner Lehre, was er ihnen noch nicht sagen könne, sondern was sich erst entwikeln werde aus dem Geist des Christenthums. Was die reale Seite betrifft, so hatte die Gemeinschaft Christi mit seinen Jüngern ein Familienverhältniß. Außer diesem Verhältniß war sie etwas Fließendes. In der idealen Form finden wir sie wol als Lehre aber realisirt noch nicht. Es wird niemand sagen können, daß es einen früheren Anfang der christlichen Kirche gab als am Pfingsttage streng genommen oder als die Jünger sich zusammen eine Gemeinschaft organisirten nach der Himmelfahrt Christi. Wir müssen also diesem An10 wenn] zeitgenössisch noch völlig üblich für wann; vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 5/ 1, Sp. 170 5–10 Vgl. Stolpe: „Der Ausdruck Jünger ist hier in beiden Sätzen [KGA I/6, S. 272, 19–21] gleichbedeutend gebraucht. Der Ausdruck zur Gründung des Christenthums [KGA I/6, S. 272,20f] bestätigt dies: daß aber hier Paulus ausgeschlossen sein sollte, davon ist natürlich hier nicht die Rede. – Es folgt aus dem was hier gesagt ist, daß wenn wir keine Schriften der Apostel selbst hätten und keine authentischen Nachrichten vom Leben Christi und seinen Jüngern, wir ein Neues Testament gar nicht haben könnten. Machten wir einmal diese Fiction, so käme Folgendes heraus: wir würden dann kein schriftliches Document haben, worin wir die reinsten Äußerungen des christlichen Princips fänden, also würde der eine Zweig der historischen Theologie fehlen. Wie würde nun die evangelische und katholische Kirche gegen einander stehen? Die letzte würde sagen: alles, was als eine wirkliche Äußerung der Kirche anzusehen ist ist auch als normale Äußerung des christlichen Princips anzusehen, das könnten wir doch durchaus nicht annehmen, obgleich für uns dasselbe überhaupt nicht da ist, insofern wir jetzt sagen: daß wir außer der heiligen Schrift keine Norm des Christenthums kennen. – [...] Sagen wir: wenn wir die Evangelien nicht hätten hätten wir keine ipsissima verba Christi, so wäre das allerdings ein großer Mangel, aber wenn wir nur das Vertrauen hätten daß alles, was die Jünger Christi als christliche Lehre aufstellen aus dem Unterrichte Christi hergenommen sei: so wäre das eben so gut, als ob wir die ipsissima verba Christi [hätten].“ (S. 214) 15–17 Vgl. Joh 16,12f

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§ 7.

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fang einen Spielraum geben. Ueberdies offenbarte sich das Christenthum erst in seiner ganzen Natur, als es ins Heidenthum übergegangen ist, auch das muß noch im Canon seyn und so bekommen wir von der Idee aus wesentlich das, was wir in unserm Canon finden. § 6. giebt in der Art, wie die Elemente gestellt sind, die Art, wie sich uns der Canon, wie er ist, ganz natürlich theilt. Nemlich indem wir die beiden Zeiten unterscheiden müssen, das Zusammenseyn Christi mit seinen Jüngern und das | Zusammenwirken der Jünger nach seiner Entfernung, so wird das erste gegeben durch die Evangelien, das zweite durch die Apostelgeschichte und die apostolischen Briefe. Wir sind in der Regel an eine andre Eintheilung gewöhnt, wir theilen in historische und didactische Bücher. Diese Eintheilung fällt nicht ganz mit unsrer zusammen, indem die Apostelgeschichte obgleich historisch in den Zweiten Theil gezählt wird. Aber diese Eintheilung ist der Idee nach nicht ganz rein. Der Inhalt der geschichtlichen Bücher ist großentheils didactisch, indem uns die Reden Christi darin gegeben werden und in den didactischen ist viel historisches. Der erste Zeitraum hat didactische und historische Elemente, das historische ist das die Form bestimmende, der zweite Theil hat auch die didactischen und historischen Elemente, das Ueberwiegende aber ist das Didactische. Dies ist in der ganzen Composition des Canon PmerkwürdigS, daß man keine Trennung vornehmen kann, die nicht gewaltsam wäre. PErS hat sich also nothwendig so gestalten müssen. Man hat viele apostolische Briefe eher im Canon gehabt, als die Apostelgeschichte. Aber da mußte ein nothwendiges Document im Canon fehlen. Sie mußte auch aufgenommen werden, weil das Evangelium des Lucas aufgenommen war. Durch das Zusammenseyn dieser beiden Theile im Canon ist also schon gesetzt, daß die äußere Grenzbestimmung desselben durch die Art, wie die Idee erklärt wird, niemals kann auf allgemein-gültige Weise und für immer gezogen werden, eben weil Entstehen und Fortbildung unzertrennt ist. Wie weit dürfen wir gehen Pauf demS unbestimmten Gebiete derer, die Jünger Christi waren oder was müssen wir da für Grenzen ziehen in Beziehung auf die Canonicitaet der Schriften? Eine ganz bestimmte Grenze | kann wieder nicht gezogen werden und den Begriff Jünger selbst können wir verschieden aufstellen. Hier nimmt nun der Begriff der Inspiration seinen Platz ein, der soll das Schwanken aufheben, aber er kann es nur relativ. Es ist nicht genug, daß jemand Christus gehört hat, um seine Aufzeichnung in 23 PErS] oder PEsS 28 KD1 II 1 § 7 (KGA I/6, S. 272)

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den Canon zu bringen, sondern er muß auch mit der rechten Gesinnung gehört haben. Das ist das erste Element in dem Begriff der Inspiration. Aber es kann einer mit rechtem Sinne gehört haben, hat aber vieles vergessen, und der zweite Punct des Begriffs der Inspiration ist die Direction.93 Aber auch von dieser Seite bleibt etwas Schwankendes, wenn man vom innern Bestimmungsgrunde ausgeht, wie es auch etwas Schwankendes wird, wenn man vom Aeußeren ausgeht, was § 8. und 9. enthalten ist. Es giebt auch eine zweifache Unbestimmtheit in seiner äußeren Begrenzung 1. weil es doch späterhin Lehrer geben muß, deren Schriften nicht mehr canonisch sind, denen man aber doch den christlichen Geist nicht absprechen kann und 2. weil viele von den Schülern Christi ohne den christlichen Geist vieles können geschrieben haben. Die ersten sind die apostolischen Väter. Aus den meisten Fragmenten, die uns übrig geblieben sind, ist deutlich zu sehen, daß der canon damals noch nicht abgeschlossen war. Aber da späterhin der größte Theil ihrer Schriften nicht in den christlichen Canon aufgenommen wurden, so muß man auch sagen: er war nicht mehr im Werden begriffen und 93

Die Anwendung unterliegt aber denselben Schwierigkeiten. Wann sollen wir einen als inspirirt ansehn? Aeußere Kriterien sind nicht da und die innern schwanken. Das aber steht fest, daß der Begriff der Inspiration nicht bloß auf die unmittelbaren Jünger Christi ausgedehnt werden kann in Beziehung auf das Historische, wiewol allerdings in Beziehung auf das Didactische; es hat aber mehrere Apostel gegeben die nicht unmittelbar von Christus erwählt waren und hätten wir didactische Schriften von ihnen, so würden wir sie unbedingt in den Canon aufnehmen, weil die Apostel sich mehrere zugesellen ließen, die eben, wie sie, Christus immer gehört hatten und immer um ihn und sie gewesen waren.

22 Begriff der Inspiration] für )Canon* 10 KD1 II 1 § 8 (KGA I/6, S. 273) 10–14 Vgl. Stolpe: „§ 8. geht auf § 5. [KD1 II 1 § 5, KGA I/6, S. 272] zurück. Es wird hier die Gränze des Schwankens näher bestimmt. – Das Nächste nach dem eigentlich kanonischen Zeitalter ist also die Zeit der apostolischen Väter. Zwischen diesen beiden kann die Gränze nur schwanken. In den Reden und Schriften der unmittelbaren Schüler der Apostel können wir noch eben so die Worte und Lehren der Apostel selbst finden: es würde dadurch aber ein Sorites hervorgebracht werden: dann könnte alles als eine Stellvertretung angesehen werden und dies [ist] nichts anderes als die Lehre von der Tradition. Wir müssen daher sagen: die Schüler der Apostel können nicht so Stellvertreter der Apostel sein, wie diese Stellvertreter Christi sind. Jene Gränzen können wir füglich mit in den Kanon aufnehmen: im Katholizismus existirt natürlich diese Aufgabe gar nicht.“ (S. 215) – Sorites bezeichnet in der Logik einen Ketten- oder Haufenschluss (von σορς = Haufen abgeleitet). 15 Schleiermacher besaß folgende Ausgabe: Sanctorum patrum qui temporibus apostolicis floruerunt opera vera et suppositicia, edd. J. B. Cotelier / J. Clericus, 2. Aufl., Bd. 1–2, Amsterdam 1724. 26–28 Vgl. Apg 1,15–26, bes. 21–25

§ 8.

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das ist das Unbestimmte, weil man keinen rechten Grund angeben kann, warum auf der einen Seite Schriften von den apostolischen Vätern nicht in den Canon gekommen sind und auf der andern Seite Schriften von Männern, die nicht bestimmt mit Christus in Berührung gesetzt werden können, doch in den Canon aufgenommen sind, wie z. B. einige der catholischen Briefe. | Dies betrifft im Ganzen nur den didactischen Theil des Canon, weil uns nemlich von den apostolischen Vätern nichts Historisches mehr übrig ist. Dies gilt jedoch immer nur von dem größten Theil, denn es gab auch Schriften der apostolischen Väter die viel Historisches enthielten. Der Canon soll die Documente enthalten von dem Zusammenseyn Christi mit seinen Jüngern. Dahin kann also alles gehören was von seinem Leben geschrieben ist. Dergleichen Schriften haben viele existirt, welche doch nicht in den Canon aufgenommen sind. Wenn wir nun sagen könnten, unsere Schriften dieser Art, d. h. vorzüglich der historische Theil rührten alle her von den Zwölfen, dann wäre das eine bestimmte Grenze. Aber das kann nicht angenommen werden von Marcus und Lucas. Wodurch soll nun entschieden werden PjenesS was von andern über Christus erzählt ist, daß es nicht in [den] Canon aufgenommen werden soll? Der Ausschließungsgrund ist der innere und er beruht nur auf Gefühl. Unsre Evangelien selbst sind von der Art, daß PsieS das allmähliche Verlieren des Canonischen durch das Apocryphische in einer Gradation darstellen. Denn es mögte wol schwer zu läugnen seyn, daß im Marcus schon Vieles vorkommt was sich zum apocryphischen Character hinneigt, d. h. das Leben und Thun Christi in das Wunderbare und Fabelhafte hineinzuspielen. So müssen wir also eine unsichere Grenze haben. Wie es zugegangen ist, daß aus der ganzen Zeit, in welcher der Canon wurde, gerade diejenigen Bücher, die itzt das Neue Testament bilden, sind zusammengefaßt in den Canon, das werden wir schwerlich je ausmitteln können. Es ist auch natürlich bei der Art, wie die christliche Kirche entstanden ist, daß solche Sammlungen nicht sind gemacht zufolge eines gemeinsamen Beschlusses, sondern daß sie erst privatim waren nachher für gewisse Gemeinen. | Nun haben wir einige Schriften aus der Zeit, wo der Canon noch nicht derselbe war, wo bald dies bald jenes von dieser oder jener Gemeine angenommen wurde, wir haben auch Schriften aus der Zeit, wo der Canon für alle derselbe war. Von dem Uebergange aber haben wir keine Nachrichten und es liegt auch in der Natur der Sache, daß keine seyn können. Was wir haben als Act der Kirche ist nur Anerkennung des lange schon bestimmten Canon. Die 11 KD1 II 1 § 9 (KGA I/6, S. 273) S. 272,18–21)

11–12 Vgl. KD1 II 1 § 6 (KGA I/6,

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catholische Kirche sieht dies als den den Canon abschließenden Beschluß der Kirche an. Wir Protestanten müssen uns das frei behalten was § 10. gesagt ist; denn 1. erkennen wir überhaupt keinen untrüglichen äußeren Beschluß der Kirche an und dann 2. haben wir keinen eigentlichen Beschluß der Kirche und hat auch wahrscheinlich keinen gegeben, sondern in einzelnen Kirchen ist der Canon gewiß bestimmt durch einzelne Autoritäten. Je mehr eine allgemeine Communication der Kirche zu Stande kam und man sah, daß die größten Autoritäten glücklicherweise übereinstimmten, so nahmen die noch davon abweichenden Gemeinden diese Autoritäten an. Es hat also nichts gewaltet als ein kritisches Gefühl des ausgezeichneten Kirchenlehrers und dies muß noch eben so fortwalten können und kann sein Recht noch nicht verloren haben. Es liegt auch in der Art, wie wir den Canon auffassen, daß wir, weil wir ihm in Rüksicht auf die Idee eine größere Heiligkeit beilegen, sehr behutsam damit umgehen, ihn zu schließen. Im Catholicismus wird die Tradition gleichsam canonisch. Bei uns ist ein specifischer Unterschied zwischen dem Canon und den anderen Schriften. Der Canon übt eine ausschließliche Autorität über die anderen Schriften | aus, nach ihm sollen sie beurtheilt werden. Darum müssen wir sehr behutsam seyn, etwas auszuschließen und etwas aufzunehmen. Es hat aber dieses, daß wir noch im Bestimmen des Canon begriffen seyn müssen einen doppelten Sinn. 1. daß wir uns vorbehalten müssen, daß dies und jenes nicht in den Canon gehöre, was darin ist und umgekehrt. 2. daß wir immer noch in der Erforschung, wie der Canon zu Stande gekommen ist und aus welchem Grund begriffen sind. Dieses letztere ist offenbar der wichtigere Theil. Von der catholischen Ansicht aus ist dies überflüssig, weil man sich da mit dem Beschluß der Kirche beruhigen muß. Wir bedürfen darüber Gewißheit, die nie groß genug seyn kann und dies ist der wichtigste Theil der fortwährenden Bestimmung des Canon. Bei dem andern mögte doch ein vollständiges Resultat mehr heraus kommen können. Das zweite ist § 11. auseinandergesetzt, daß wir es immer noch als Aufgabe für die höhere Kritik anerkennen müssen. Daß noch etwas in den Canon kommen 31 Das zweite] vermutlich bezogen auf Bei dem andern oder zu korrigieren in Das erste 3 KD1 II 1 § 10 (KGA I/6, S. 273) 31 KD1 II 1 § 11 (KGA I/6, S. 273) 33– 20 Vgl. Stolpe: „Es giebt | allerdings keine andere Form des kritischen Geschäffts als die Frage zu stellen: gehört nicht manches in den Kanon, was nicht darin ist, und wieder gehört nicht manches nicht in den Kanon was jetzt darin ist? Seit einiger Zeit ist bekannt gewesen eine Correspondenz zwischen der korinthischen Gemeinde und Paulus: die in unserem Kanon nicht ist und ein bekannter Theologe Ring hat sie für ächt ansehen wollen [vgl. Das Sendschreiben der Korinther an den Apostel Paulus und das dritte Sendschreiben Pauli an die Korinther. In armenischer Uebersetzung erhalten, nun verdeutscht und mit einer Einleitung über die Aechtheit begleitet v. W. F. Rinck, Heidelberg 1823]. Wäre dies nun wahr, so wäre etwas doch aus dem apostolischen Zeitalter

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sollte, ist freilich nicht wahrscheinlich, aber für die Theorie ist es nothwendig, daß wir den Ort dafür aufbehalten. Daß noch sollten uns unbekannte Schriften aus der catholischen Zeit, die in den Canon aufgenommen werden könnten, gefunden werden ist zwar unwahrscheinlich aber nicht unmöglich; es ist nemlich das Christenthum auch östlich von Jerusalem in Arabien, Mesopotamien ausgebreitet worden und wahrscheinlich nicht ohne Mitwirkung der Apostel. Nun sind freilich diese Gegenden nicht mit in die litterarische Combination PgezogenS und daher ist unwahrscheinlich daß sich dort sollten Schriften aus jener Zeit erhalten haben. Aber angenommen man fände einmal einen Brief von Petrus oder Paulus und die Aechtheit ließe sich nachweisen, sollte uns der Beschluß der Kirche binden, sie | nicht in den Canon aufzunehmen? Aber freilich wir würden sie immer nur als Anhang zum Canon rechnen können und es würde eine lange Anerkennung der Kirche dazu gehören, wenn sie den anderen sollten gleichgesetzt werden. Ein Beispiel andrer Art: Es sind schon in früher Zeit Zweifel aufgeworfen, daß die Offenbarung nicht von Johannes sey. Wir wissen zwar nicht, woher diese Zweifel zuerst kommen aber wir werden die Sache nie zur Gewißheit bringen. Auch haben wir noch keine klare Deutung dieses Buchs. Wir können es jetzt ganz ruhig im Canon lassen, denn das Chiliastische ist jetzt nichts, das beunruhigen könnte. Aber es könnte jetzt angenommen eine vollkommene Erklärung gefunden werden und es fände sich etwas darin dem Christenthum nicht entsprechendes, wie auch dies im Chiliastischen ist, und es käme ein Moment, wo dies gefährlich werden könnte, sollen wir es dann in dem Canon lassen? Freilich dürfen wir nicht bei der nächsten Ausgabe des Neuen Testaments es gleich fortlassen, sondern es nur erst den canonischen Büchern nachsetzen und dann würden ebenfalls viele Jahrhunderte dazu gehören, bis die Kirche allgemein anerkannt habe, daß sie nicht in dem Canon nöthig ist. Diese ganze Sache also, die fortgehende Bestimmung des Canon sowol was die Gründe als die Gegenstände der Anerkennung und der Ausschließung betrifft ist Gegenstand der höheren Kritik. Was gehören für einzelne Untersuchungen dazu, die Canonicität eines Buches zu bestimmen? Es herrscht hier noch ein verwirrender unbestimmter Sprachgebrauch. Das erste ist die rein historische Unaufgefunden, was vorher nicht bekannt war. Wozu soll dies nun führen? Die Aufgabe der Kritik kann nur das Geschäfft Einzelner erfordern, es ist dieses Leben der Kritik in der evangelischen Kirche durchaus etwas Unbegränztes; ein Beispiel dafür giebt der Streit über die Ächtheit des Joh., den Dr. Bretschneider veranlaßt hatte [vgl. Karl Gottlieb Bretschneider: Probabilia de Evangelii et Epistolarum Joannis Apostoli, indole et origine, Leipzig 1820].“ (S. 215f)

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tersuchung der Canonicität im engern Sinne, wenn wir unter Canon verstehen | die Sammlung der christlichen Schriften, die vor allem zum Grund christlicher Erbauung gelegt sind. Das erste ist also die historische Untersuchung über das Ganze und die einzelnen Bücher, welche wol nie ganz beendigt werden wird, nemlich die Untersuchung: wann sind diese Bücher entstanden und wann sind sie aufgenommen und wie ist die Gleichförmigkeit des Canon entstanden? Dies betrifft eigentlich die ganze Sammlung nicht ein einzelnes Buch sondern nur das Verhältniß deßelben mit dem Ganzen. Denn es ist nicht möglich daß ein Buch sollte canonisch geboren seyn, sondern es ist es erst geworden. Darin sind sie sich alle gleich, der Gegenstand ist also nur das Entstehen derselben in ihrer Einheit. Nun kommen Untersuchungen über die Authentie und über die Inspiration. Was das erste betrifft, so ist sie von der Untersuchung über die Canonicität in gewissem Grade unabhängig, nemlich die Authentie der Schrift ist nichts andres, als daß sie wirklich von dem Verfasser ist, dem sie zugeschrieben ist und das ist vom Begriff der Canonicität unabhängig. Es könne also nachgewiesen werden, daß der 2. Brief Petri nicht von Petrus sey, so kann das kein Grund seyn, ihn vom Canon auszuschließen, sondern es muß ein andrer Grund hinzukommen, man könnte sagen, er muß ausgeschlossen werden, weil er sich für Petrus ausgebe, aber dies fällt nun in den Begriff der Inspiration. Diese Untersuchung ist nun offenbar mehr critisch, jene historisch. Die dritte ist über die Inspiration. Das Inspirirte in diesem Sinne ist der eigentliche Gegensatz zu dem apocryphen. Die eigentliche Tendenz ist: zu entscheiden ob in einem Buche nun der christliche Sinn in seiner völligen Reinheit ohne Beimischung eines fremden Princips | sey? Eine solche, von der werden wir sagen müssen, sie hat diejenige Inspiration, welche den Character einer canonischen Schrift bildet. Dies hat man zuweilen an äußern Merkmalen bestimmen wollen z. B. wenn man die Thesis aufgestellt: keiner ist inspirirt gewesen als ein Apostel. Aber dies ist nur innerlich zu entscheiden, und die eigentliche Untersuchung der Inspiration ist keine Andre als die der analogia fidei, die sich in Beziehung auf die normale Darstellung des Christenthums von selbst ergiebt, nemlich daß nicht nur darin ist, was nicht im Widerspruch steht mit andren christlichen Sätzen, sondern daß es auch gänzlich aus dem christlichen Princip herausgeflossen ist. [§ 12.] führt aus, was nach äußeren und inneren Kenntzeichen durch die höhere Kritik erreicht wird. Im allgemeinen versteht man unter inneren Kenntzeichen diejenigen die aus dem Dinge hergenommen sind, unter äußeren, die aus der Form hervorgehen. Doch 38 KD1 II 1 § 12 (KGA I/6, S. 273)

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schwankt das noch. Auch ist zu unterscheiden bei diesem Proceß was positiv und negativ ist. Ein negativer Beweis z. B. gegen die Authentie einer Schrift kann immer vollständiger seyn als der positive Beweis, wobei die alleräußersten Kenntzeichen die sichersten sind, nemlich wenn seine Zeitgenossen seine Schrift anerkannt haben. Doch leidet das noch verschiedene Modificationen, indem man nicht bestimmen kann, wie der pseudonime Verfasser sich dem hat gleich stellen können, dem er das Buch zuschreibt. Was die Inspiration betrifft, so ist diese lediglich aus innern Kenntzeichen zu beurtheilen, weil wir aus keiner äußern Grenze den Begriff der Inspiration ziehen können, ja nicht einmal so, daß wir sagen müßten, alles was ein Apostel geschrieben hat muß in den Canon aufgenommen werden vermöge seiner Inspiration. Hier ist also mit äußeren Kenntzeichen nichts auszurichten und die Mühe die man darauf verwandt hat ist verloren. § 13. für sich klar. | Hauptgegenstand dieser Untersuchung. Dies ist gerade von der größten Wichtigkeit. Ganze Schriften, die bis jetzt im Canon bestanden haben, können immer nur auf bedingte und beschränkte Weise entcanonisirt werden und so können wir auch nur bedingt ganze Schriften gleichsam nur provisorisch in den Canon bringen. Ganz anders ist es mit einzelnen Stellen. Sie können Veranlassung geben an der Authenticität des Buchs zu zweifeln. Gehören nun solche Stellen in der That nicht in die Schrift hinein, sondern sind späterer Zusatz, so ist dies von der größten Wichtigkeit, damit die Zweifel gelöst werden. Hier ist freilich ein Grenzpunct zwischen der niedern und höhern Kritik. Wenn in Handschriften dergleichen fehlen, so kann man sagen, es ist schon ein Theil der niedern Kritik zu bestimmen, was das Richtige sey, das die Stelle hat, oder nicht. Wir müssen hier den Canon wie jedes andre Buch betrachten aus alter Zeit. Man hat lange Zeit dieses Recht für das Neue Testament bezweifelt. Die nehmen an, was die Kirche instinctmäßig gethan hat und schließen das Neue Testament von der wissenschaftlichen Bearbeitung aus. Dieser § vindicirt nun dem Canon seine gegenwärtige Gestalt auch für die Zukunft. Wenn wir mit gehörigem Grund jetzt eine 14 KD1 II 1 § 13 (KGA I/6, S. 273) 16 KD1 II 1 § 14 (KGA I/6, S. 274) 33 KD1 II 1 § 15 (KGA I/6, S. 274) 33–9 Vgl. Stolpe: „Allein insofern die Kirche immer im Bestimmen des Kanon begriffen sein muß, kann der Kanon doch durchaus nicht als historisch gegeben anzusehen sein. Der Kanon hat bei uns allerdings eine zweifache Bedeutung nämlich insofern wir die heilige Schrift als die einzige Norm der christlichen Lehre ansehen, deshalb weil wir keine Autorität der Einzelnen über alle anerkennen, so muß doch jeder das Maß, wonach er das, was seine Überzeugung werden soll, [beurteilt,] in Händen haben, in so fern ist es Volkssache, für das Volk giebt es nun ein kritisches Verfahren nicht: für dieses muß er also bleiben wie er ist. Dies könnte auch den Schein einer Duplicität haben, wie in der katholischen Kirche | das Verhältniß zwischen Geistlichen und Laien. Weil nun der Gedanke unstatthaft ist, daß die erste

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Schrift oder einzelne Stellen für nicht canonisch erklären, so können wir sie deßungeachtet nicht ganz aus dem Canon entfernen, sondern sie nur als solche bemerken. Diese Vorsicht ist wesentlicher begründet im Neuen Testament als in irgend einem andern Buche. Eben so wird es auch mit alten Büchern gehen. Aber wie es nun eben in diesem kleinen kritischen Gebiete geht, daß man nach langer Zeit, wenn einige Stellen geschwankt haben, sie ausstößt und andre aufnimmt, so ist es auch in dem größeren mit ganzen Schriften. Die Zeit entscheidet nur. | Wichtiger Punct in der exegetischen Theologie. Keine Rede kann vollständig verstanden werden als in der Ursprache. Wenn dagegen der Satz gestellt wird, daß auch die allervollkommenste Uebersetzung nicht das leisten könne, was die Kenntniß der Ursprache leistet, weil zwischen zwei Sprachen immer eine Irrationalität statt findet, so könnte dies etwas zu stark scheinen. Weder die einzelnen Wörter noch die Formen von zwei Sprachen sind vollkommen gleich bedeutend. Kirche wesentlich über den Kanon falsch sollte entschieden haben, so ist doch kein Grund da einzelne Schriften zu entkanonisiren. Erkennen wir eine Schrift für ein Product eines späteren Zeitalters; so kann sie in das Gebiet, worin die Norm der Beurtheilung liegt, nicht gehören. Das hier aufgestellte Resultat kann nur richtig sein in so fern in solchen Schriften nichts enthalten ist, was mit den normalen Äußerungen in kanonischen Schriften in Widerspruch stände. Die äußere Überschrift ist immer nur ein Urtheil, weil sie nichts Ursprüngliches ist; wenn also dies ausgemittelt würde, daß eine Schrift einen anderen Verfasser hat, aber es ist in ihr nichts enthalten, was nicht Apostel gesagt hätten, so erscheint der Verfasser als einer der die apostolische Vorstellung in sich aufgenommen hat.“ (S. 216f) 10 KD1 II 1 § 16 (KGA I/6, S. 274) 10– 16 Vgl. Stolpe: „Hier ist gleich der erste Satz einer, der in Bezug auf dieses Gebiet die Ansicht der evangelischen Kirche ausspricht: in dem Vergleich zwischen der Grund oder Ursprache und zwischen den Übersetzungen. Der Ausdruck Irrationalität [KGA I/ 6, S. 274,13] bedeutet: daß keine Sprache durch die Einheit gemessen werden kann. Es ist nämlich wohl ziemlich allgemein zugestanden, daß kein Wort in einer Sprache vollkommen einem in einer anderen entspricht. Wenn dies der Fall wäre, ließe sich alles in der Sprache auf die andre reduciren. So denkt wohl Einer, daß ,und‘, et und καὶ gleich sei: dies ist doch im Grunde gar nicht der Fall. So sollte man glauben, daß Gott im Deutschen dasselbe wäre wie Deus, Θεος. Es ist jedoch bekannt der Unterschied zwischen einem Deisten und Theisten, also giebt es auch einen Unterschied zwischen Deus und Θες. Es ist dieses Wort doch unstrittig weit mehr monotheistisch wie die beiden andern. So muß nun zugegeben werden, daß die vollkommenste Übersetzung die Differenzen nicht aufheben kann: die Sätze in der Übersetzung haben ein ganz anderes Verhältnis als die in der Grundsprache. Daraus folgt also, daß eine Rede nicht anders vollständig verstanden werden kann, als in der Grundsprache. Daraus folgt aber auch noch nicht, daß sie in der Grundsprache ganz vollständig verstanden werden kann. Als die lateinische Übersetzung die vollkommene Gültigkeit erwarb, war die lateinische Sprache die Muttersprache, also soll die heilige Schrift in der Muttersprache eine Autorität haben, dies geben wir auch zu: die kirchliche Autorität der lateinischen Übersetzung könnte nur gelten, wenn die lateinische Sprache noch Muttersprache wäre. – Die katholische Kirche mit ihrer Gültigkeit der lateinischen Übersetzung auch in der gelehrten Beziehung hat gar keine Haltung.“ (S. 217)

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71r § 17.

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Die Wörter sind die äußere Seite der Begriffe und sie sind nur deßwegen nicht gleichbedeutend, weil auch die Begriffe nicht auf gleiche Weise gebildet sind in verschiedenen Sprachen. Dies ist der Grund, warum eine Uebersetzung niemals ihrem Original völlig entsprechen kann. Durch eine künstliche Behandlung läßt sich freilich die Ungleichheit heben, aber eine vollkommene Gleichheit kann daraus niemals entstehen, weil eine solche Behandlung eine neue Ungleichheit in der Form hervorbringt. Dies beweist noch mehr, daß nemlich kein Werk der Rede vollkommen als von seinen Sprachgenossen verstanden werden kann und daß der Uebersetzer also schon in demselben Fall ist, als seine Leser. Wenn die Irrationalität der Sprachen darin besteht, daß das System von Begriffen verschieden ist, so muß ja das eine System dem der die Sprache nicht versteht fremd seyn, denn wenn die Sprache irrational ist, ist es auch das Denken, und man wird nie etwas rein auffassen können, wenn man nicht Sprachgenosse ist. Ein solches vollkommenes Verstehen des Canon nun, daß wir eben so gut als die Verfasser wissen, was sie wollen, ist nun nicht möglich. Sollte es nun viel Unterschied seyn, wenn man noch etwas weniger davon wüßte? und warum sollte sich der Theologe nicht | davon dispensiren und den Canon blos aus der Uebersetzung kennen lernen? Hier giebt § 17. an den Weg, den man einschlagen muß, diese Ansicht niederzuschlagen. Nemlich auch von einer Uebersetzung würde es ein sehr verschiedenes Verstehen geben. Derjenige wird sie besser verstehn, der zugleich mit der Ursprache bekannt ist, und derjenige weniger, der nicht damit bekannt ist. Eine höhere Stufe des Verstehens kann nur der haben, der auch die Ursprache kennt und die Differenz beider Sprachen. Der andre kann immer nur unvollkommen verstehen. Gesetzt nun auch, wir wollten einige Theologen an die Uebersetzung verweisen und andre sollen sich mit dem Canon in der Ursprache beschäftigen, so werden wir doch sagen, wenn jene auch für den gewöhnlichen Gebrauch mit der Uebersetzung ausreichen, so wird doch ihr Verstehen selbst unvollkommener seyn, sie werden etwas hineinlegen, was nicht darin liegt oder umgekehrt, wenn sie die Ursprache nicht kennen. „Der Theologe hätte ja aber die Spracherläuterungen der Gelehrten dabei!“ Das kann immer kein lebendiges Verstehen seyn. Die Erläuterungen sind immer nur todte Formeln, die den Ausdruck so oder so begrenzen aber keine lebendige Anschauung hervorbringen. Soll es hier einen Unterschied geben zwischen Laien und Geistlichen, so muß die allgemeine Basis der Unterscheidung die Kenntniß der Ursprache seyn und ist die Kenntniß der Ursprache 21 KD1 II 1 § 17 (KGA I/6, S. 274) – Vgl. Stolpe: „§ 17. Corollarium zu § 16.“ (S. 217)

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nothwendig, so folgt von selbst, daß die hauptsächliche Beschäftigung mit dem Canon nicht in der Uebersetzung sondern in der Ursprache geschehe, sonst ist immer ein Herabziehen in die Sphäre der Laien. Zwar muß der Geistliche auch die kirchliche Uebersetzung genau kennen, zumal wenn er Stellen anführen will, aber er muß doch auch vorzüglich die Ursprache genau inne haben, damit wenn in der Uebersetzung etwas vorkommt, was der | Erklärung bedarf, er diese gleich beifügen könne. Was ist als Grundsprache des Neu Testamentischen Canon anzusehen? Wir haben ihn jetzt ganz griechisch, und keiner wird wol sagen, daß eins oder das andre darin nicht ursprünglich griechisch gewesen. Aus der gewöhnlichen Gräcität ist dieses Griechisch aber nicht vollkommen zu verstehen, denn es ist dasjenige, wie es ein Volk und eine Generation gesprochen hat, welche nicht zu den Griechen gehörten. Es ist also immer gewissermaaßen eine Uebersetzung aus der Muttersprache in das Griechische. Als Uebersetzung ist es aber ohne Kenntniß der Ursprache, wie oben gezeigt ist, nicht zu verstehen. In fremden Sprachen bringen wir es wol so weit, daß wir sie verstehen auch wol ein Gefühl bekommen für das, was gewöhnlich und ungewöhnlich, gut oder schlecht, aus späterer oder früherer Zeit ist, aber das ist doch noch weit entfernt von der Leichtigkeit mit einer Sprache umzugehen und diejenigen welche nicht gebildet darin sind, nehmen nun die Worte und construiren, wie in der Muttersprache. Seit der macedonischen Herrschaft begegnete dies den Juden und für einen großen Theil derselben wurde das Griechische die Geschäftssprache vor Gericht, in der Religion und auch im Handelsverkehr; denn es ist wol gewiß, daß in den großen Synagogen die griechische Uebersetzung des Alten Testaments gebraucht und griechisch darüber geredet wurde. Je mehr nun die hebräischen Dialecte ganz anfingen unterzugehen, wurde das 9 KD1 II 1 § 18 (KGA I/6, S. 274) – Vgl. Stolpe: „Das Verhältniß des Griechischen zum Aramäischen ist dieses, daß vieles im Kanon unmittelbar, noch mehres aber mittelbar Übersetzung aus dem Aramäischen ist. Auf die erste Weise | sind nur die im Neuen Testament enthaltenen Reden zu betrachten. Nimt man dagegen an, daß Lucas die in der Apostelgeschichte vorkommenden Reden selbst componirt hat, wie Eichhorn [vgl. Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung in das Neue Testament, Zweyter Band, Leipzig 1810, S. 1–98] und andre [vgl. z. B. Johann Leonhard Hug: Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, Bd. 1–2, Tübingen 1808, Bd. 2, S. 201–213; Novum Testamentum Graece perpetua annotatione illustratum, ed. J. B. Koppe, 2. Aufl., ed. J. H. Heinrichs, Bd. 2–10, Göttingen 1809–1821, Bd. 3/1, S. 2, Göttingen 1809] meinen, so könnte das natürlich nicht gelten. Über die Art der Aufnahme der Reden Christi in die Evangelien ist man jetzt auch so ziemlich einig: daß sie keineswegs ganz so immer bei ein und derselben Gelegenheit gesagt worden sind. Daß Christus nicht griechisch gesprochen habe, soll aber damit nicht geleugnet werden.“ (S. 217f) 17 Vgl. die beiden vorangehenden Paragraphen KD1 II 1 §§ 16–17 (KGA I/6, S. 274,11–17)

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§ 19.

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griechische immer mehr die Muttersprache und deßhalb auch reiner, wie das die Alexandrinischen Juden es reiner geschrieben haben, als unsre Verfasser der Neu Testamentischen Schriften. Da sich aber dies immer noch gründete auf der Uebersetzung des Alten Testaments ins Griechische beruhte, so haben sich wenige ausgezeichnet. In Palaestina war die Ausbildung der griechischen Sprache nicht so leicht. Es gab dort um diese Zeit nicht PlauterS Juden daselbst. | Es waren daselbst viele griechisch redende Juden, denn es war bei den beschwerlichen Aufgaben, die das Gesetz auflegte, das Streben eines jeden Juden, wenn er es irgend PaufschwingenS konnte, vor dem Heiligthum von Zeit zu Zeit zu erscheinen und viele blieben dann in der Nähe. So gab es auch Synagogen daselbst für Griechischredende. Es gab also dort viele Griechischredende, aber die Muttersprache bestand auch und so blieb jenes dieser unterwürfig, und es giebt in dem Neuen Testament eine große Menge von Wendungen, die nur aus der hebräischen Grammatik verstanden werden können. Wegen der Verschiedenheit des Neu Testamentischen Griechisch und des eigentlichen hat man das Griechische des Neuen Testaments für sich in den Schulen eingeführt und vor dem eigentlichen Griechisch gelehrt. Dies ist unstreitig der unrechte Weg gewesen. Die jetzige Maxime weit richtiger, erst einen solchen Grund in dem reinen Hellenismus zu legen, ehe man mit dem Neuen Testament anfängt, daß man nicht wieder irre gemacht werden kann. Das Neue Testament hat seine zweite Wurzel in dem Aramäischen und niemand kann sagen, daß er das Neue Testament durch sich selbst und für sich selbst verstehe, wenn er sich nicht diese beiden Wurzeln des Neuen Testaments, die aramäische und griechische Sprache angeeignet hat. 2 wie das die Alexandrinischen Juden es] Kj wie das die Alexandrinischen Juden oder wie die Alexandrinischen Juden es 3–5 Da sich aber dies immer noch gründete auf der Uebersetzung des Alten Testaments ins Griechische beruhte,] Kj Da sich ... gründete ... ins Griechische, oder Da aber dies immer noch auf ... beruhte, 7 PlauterS] oder PlautreS 25–26 Vgl. KD1 II 1 § 19 (KGA I/6, S. 274) – Vgl. Stolpe: „§ 19. wird gesagt, daß jeder sich sein Urtheil was in den ursprünglichen primitiven Äußerungen des christlichen Princips enthalten ist, bilden müsse. Für den Kreis der katholischen Theologen gilt dies nicht: hier bestimmt die Kirche was der Sinn desjenigen sei, was den Inhalt des Kanons bildet. Jeder muß sich daher ein richtiges Verständniß des Kanons durch sich selbst aneignen: jeder muß die Bedingungen wodurch das Verständniß möglich ist, durch sich selbst realisiren, also jeder die Grundsprache des Neuen Testaments inne haben.“ (S. 218)

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Mittelbar ist vieles Uebersetzung der darin enthaltenen Reden Christi, denn diese sind gewiß größtentheils aramäisch gewesen; denn so oft Christus in Jerusalem, Judaea war, hat er gewiß sich nur der Landessprache bedient. In Gallilaea kann er vielleicht griechisch gesprochen haben und es sind Spuren davon nachgewiesen. Die Reden Christi also, die aramäisch gewesen, sind also gewiß von vielen aramäisch, von vielen auch für Griechischredende griechisch übersetzt. Man muß sie also wo es noth thut vom Griechischen in das Aramäische zurükübersetzen. Was ist denn eigentlich die zweite Wurzel der Neu Testamentischen Sprache? Nicht das Hebräisch des Alten Testaments, sondern dasjenige Aramäisch, welches in Judaea | gesprochen wurde. Für das Verständniß des Neuen Testaments sollte nun jeder Aramäisch wissen und für das Verständniß des jüdischen Canons sollte jeder Hebräisch wissen. Jeder dieser einzelnen Dialecte ist für sich selbst nicht recht vollkommen für sich verständlich, theils weil nicht jeder nach allen Seiten hin ist ausgebildet. Das Aramäische z. B. ist nicht so poetisch ausgebildet wie das Hebräische und Chaldäische, theils weil jede nur eine sparsame Litteratur darbietet. Es gehört also zum Verstehen des Canons die Kenntniß aller semitischen Sprachen, was sich auch auf das Arabische ausdehnen läßt. Aber hier kommen wir in ein so weitläuftiges Gebiet, daß man bald sieht, dies kann nicht mehr für jeden Theologen gehören, sondern für das Gebiet der Virtuosität. Fragen wir aber, wo ist die Grenze, so ist dies etwas schwieriges. Nur etwas Negatives bestimmt, daß die vollkommene Kenntniß aller Dialecte nur kann ein Specielles Gebiet bilden. Kann nun jeder Theologe ausreichen mit dem Hebräischen oder gehört auch die Kenntniß des Aramäischen zu den allgemeinen Erfordernissen? Die allgemeine Praxis entscheidet jetzt, daß es mit dem Hebräischen genug ist, und das Aramäische wird fast nirgends zu den allgemeinen Erfordernissen der Theologie gerechnet. Allein nach der früheren Bestimmung des Canon, die wir gegeben, scheint es, als ob wir uns damit nicht beruhigen PkönnenS. Nemlich daß man das Hebräische des jüdischen Canons für genug hält, geht eben hervor daraus, weil man das Alte Testament dem Neuen Testament gleichstellt. In so fern können wir dies nicht zugeben, als wir gesagt haben, wir können die Kenntniß 3 in] folgt )Palaestina* 6–7 aramäisch] zu ergänzen wohl verstanden oder aufbewahrt 34 PkönnenS] oder PkönntenS 16 KD1 II 1 § 20 (KGA I/6, S. 274) 26 KD1 II 1 § 21 (KGA I/6, S. 275) 1 Vgl. vor allem KD1 II 1 § 3 (KGA I/6, S. 272,5–8)

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§ 21.

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des jüdischen Canons nicht der des Neuen Testaments gleichstellen. Nun drängt PsieS also das Hebräischen zurük. Das Aramäische ist die Wurzel des Neuen Testaments und so ist es nothwendig | und es entsteht die Frage: sollte man nicht von diesem Gesichtspunct aus die Praxis umkehren, das Aramäische zuerst wählen und dem Hebräischen erst eine zweite Stelle anweisen? Diese Frage kann man freilich nicht beantworten als nur von einer bestimmten PDarstellungS aus über das Verhältniß der beiden Dialecte untereinander. Man sagt: wer ordentlich hebräisch weiß, für den ist es sehr leicht, aramäisch zu lernen. Das ist auch wahr, der ganze typus ist derselbe. Kann man dasselbe auch umgekehrt sagen, wenn einer aramäisch gelernt hat, kann er sich auch eben so leicht des Hebräischen bemächtigen? Das Verhältniß ist nicht ganz dasselbe. Der Dialect des Alten Testaments ist ein früher ausgebildeter und regelmäßiger und aus diesem Grund, weil das Hebräische des Alten Testaments lange ist als heilige Sprache gepflegt worden, kann man es gewissermaßen als den Urtypus für die verschiedenen Dialecte ansehen und es also auch natürlich finden, daß man ihn als den ältesten und gebildetsten eben diesen zum Grunde legt. Auf der anderen Seite ist nicht zu leugnen, daß es große Vortheile gewährt, wenn man das Aramäische zu Grunde legt. Erstlich haben wir in der Aramäischen Uebersetzung des Alten und Neuen Testaments ein Bindemittel, um mit dem Studium des Neu Testamentischen Canons das mit dem Alt Testamentischen Studium zu vereinigen. Denn wenn einer damit anfängt in der Syrischen Bibel das Syrische zu lernen, so hat er an dem Syrischen dann offenbar die andre Wurzel des Neu Testamentischen Griechischen und kann auch leicht das Hebräische damit vergleichen und so vielleicht das Hebräische eben so leicht lernen. Dazu kommt, daß es eine reichere Litteratur darbietet. Außer der Bibel gewährt es noch eine größere Litteratur und hat reichere Hülfsmittel als das Hebräische, in welchem wir nichts, als das Alte Testament haben und man kommt gewiß öfters in den Fall bei dem Hebräischen das Aramäische zu Hülfe nehmen zu müssen, als umgekehrt. Es würde also vortheilhafter seyn, die Praxis | umzukehren. Noch vortheilhafter wäre ein Drittes. Sonst wurde auf den Schulen allgemein hebräisch gelehrt. Da es jetzt bloß für Theologen ist, so wäre es allerdings das Beste, wenn man beim ersten Unterrichte beides verbände. Dann würde für das theologische Studium viel gewonnen werden, denn jetzt ist es wirklich schlimm, daß die Kenntniß des Aramäischen gar selten bei den Theologen ist. Auf der Schule wird es nicht gelehrt und auf Universitäten wenig. Auf Universitäten ist über2 PsieS] oder PsichS

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haupt nichts quälender, als sich mit Elementarischem beschäftigen zu müssen, darum sollte dies ganz auf die Schulen gewiesen werden. Man kann sich bei der Praxis obwol unvollkommen begnügen mit der Kenntniß des Hebräischen, weil dies doch die Wurzel des Neuen Testaments schon mit hat. Die Hauptsache ist der typus der Sprache und die ganze Compositionsweise. Das ist im Hebräischen und Aramäischen daßelbe und in der Grammatik in der Construction ist auch nicht viel Unterschied. Nur wo das Wort aus dem Aramäischen ins Griechische übertragen ist, da kann man sich nicht mehr aushelfen mit dem Hebräischen und dazu hilft die Septuaginta, die auch schon einen Geschmack aus dem Aramäischen hat. Indessen sind dies nur Beruhigungen und das Hebräische und Aramäische müssen parallel gehen. [§ 22.] Enthält zum Schluß nur etwas hier Uebertragenes aus dem Bisherigen da was das Gebiet der speciellen Virtuosität angeht, das Gebrauchen der Kritik hier besonders nothwendige Ergänzung ist, weil die Auslegung des Canons oft gelitten hat, durch die Liebhaberei der Virtuosen, alles Schwierige aus dem Aramäischen herleiten und auflösen zu wollen. Dazu gehört nothwendig Kritik. Eben so ist es früher mit dem Arabischen gegangen. Hier ist die Rede von der eigentlichen Auslegungskunst oder Hermeneutik. Sonst versteht man darunter nicht nur die Auslegungs10 Septuaginta] 70 14 KD1 II 1 § 22 (KGA I/6, S. 275) 21 KD1 II 1 § 23 (KGA I/6, S. 275) – Vgl. Stolpe: „23. wird nun gehandelt von einem anderen Zweige, der eigentlichen Hermeneutik oder Auslegungskunst. Hier der allgemeine Begriff aufgestellt, daß alles Verstehen einer Rede oder Schrift Kunst ist. – In einem weitern Sinne nennen wir alle Thätigkeiten bei welchen das Gelingen von der richtigen Anwendung gewisser Gesetze abhangig ist, eine Kunst. Wir schließen davon eigentlich nur das Momentane aus. Hier aber ist eine nähere Bestimmung gegeben: eine Ausübung der Selbstthätigkeit nach Gesetzen, deren Anwendung nicht wieder auf Gesetze zu bringen ist. Hierzu muß es nun ein coordinirtes Glied geben. Man könnte dies mit dem relativen Unterschied der mechanischen und freien Kunst nennen. Z. B. wir nennen das Rechnen eine mechanische Beschäfftigung, aber es giebt dabei doch gewisse Puncte, wobei wir das nicht behaupten können, z. B. das Ansetzen einer Gleichung ist immer ein freier Theil der Sache, von dem man erst zum Mechanischen übergeht. Das Erste was zum Auslegen gehört, ist nun, daß man die Rede richtig construirt, so wie aber die Sache zweifelhaft wird sind auch Entscheidungen [zu treffen] wobei die Kunst vorherrschend: es ist etwas rein Individuelles, auf den Tact Zurückgehendes. Alle Composition in der Kunst beruht auf gewissen Regeln: wie man diese nun anwendet, ist die Beschäfftigung der Kunst. Das Verstehen erscheint einfach gar nicht als eine selbstthätige Production, man sollte sagen: das Reden selbst wäre nur eine Production. Wollen wir uns diese auf einen bestimmten Begriff bringen, so werden wir sagen: in Bezug auf die Auffassung bekomme ich alles auf die atomistische oder chaotische Weise, das eigentliche Verstehen ist, daß ich die Rede als einen Act des Andern auffasse. Dies ist aber nun nicht mehr eine Auffassung, sondern eine innere Nachbildung der Thätigkeit des Andern. So kann man nicht zweifeln, daß dieses eine Production ist, die unter den Begriff der Kunst zu subsumiren ist.“ (S. 219)

§ 22.

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kunst, sondern auch die Kunst das Ausgelegte zu erklären, andern deutlich zu machen. Das scheint aber Schleiermacher ganz in ein anderes Gebiet zu gehören. Das ist wieder eine Composi|tion. Es ist nicht mehr die Kunst des Auslegens, sondern des Mittheilens. Allerdings liegt es im Worte, daß man es mit dazu rechnet, so wol im deutschen als im griechischen, aber in sich ist das etwas ganz verschiedenes und PdaS das hieher gar nicht gehört, so hat Schleiermacher alles Verstehen nur genommen, nur das sich selbst auslegen. Das scheint nun dem Begriff Kunst zu widerstreiten, in so fern als das Verstehen bloß Empfangen seyn kann, Kunst aber ist Produciren. Darum wird hier gesagt, es gehöre selbstthätige Production zum Verstehen einer Rede. Die Gedanken werden mitgetheilt durch das Medium der Rede. Die Art und Weise aus der Rede die Gedanken zu verstehen ist nicht etwas, was mit dem Hören der Rede selbst unmittelbar gegeben ist. Das allerinnerste, wobei wir die Sache fassen können ist dieses: daß jeder Gedanke durch seinen Zusammenhang mit andern bestimmt wird und daß es nur einzelne Elemente sind, wo ein Gedanke aus dem Worte unmittelbar entstehen würde. Aber bei jedem Hören einer Rede werden nur wenige seyn, die sich die Gedanken derselben gerade so oder so construiren. Nun aber giebt es einen Zusammenhang zwischen der Rede und dem Wort, der uns aber in seiner tiefsten Wurzel noch nicht aufgeschlossen und es ist dies eine Aufgabe, die niemals wird vollkommen gelöst werden. Aber es giebt nun einen solchen innern Zusammenhang, wo jedem Menschen eine eigne Sprache gegeben ist. In diesem nun liegen die Gesetze, nach welchen wir verfahren müssen um aus der Rede die Gedanken zu verstehen. Allerdings ist noch nicht jede Production nach Gesetzen, eine Kunst und es ist hier noch etwas hinzu gesetzt, was nicht als Definition der Kunst dienen soll, was auch hier nicht hingehört. Wir müssen uns recht klar machen, wie das Verstehen gar nicht mechanisch werde. „Kunst ist Production nach Gesetzen deren Anwendung nicht wieder auf Gesetze zu bringen ist.“ Alle mechanischen Fertigkeiten sind solche, wo die Gesetze ganz ins Einzelne | hineingehen. Z. B. das Rechnen als Thätigkeit angesehen, darin giebt es nichts, was nicht auf Gesetze zurückgebracht werden könnte und wenn einer diese Gesetze kennt, so muß er das Vollkommen richtige heraus bringen. Das ist das Wesen aller sogenannten mechanischen Geschiklichkeit. Sieht man auf die höhere Kunst, so findet man da auch Gesetze, aber nicht solche, durch welche unmittelbar das Vollkommne producirt wird. Die Regeln umfassen das Ganze, es kann sie einer bei einer Composition z. B. alle angewandt haben 7 PdaS] nachträglich über der Zeile; vermutlich wieder zu tilgen

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und doch ist die Musik schlecht. Für jedes Einzelne giebt es Regeln, aber für die Verbindung des Einzelnen in der Kunst giebt es keine. Denn wenn einer fragt: wie soll ich ein schönes Gemälde machen? so kann man ihm nur negative Regeln geben, keine positiven. Wie ist dies anzuwenden auf das Verstehen der Rede? Die Rede geht von zwei Puncten aus, der eine ist ein objectiver und liegt in der Sprache selbst. Jedes Wort in der Sprache hat gewisse Grenzen, über welche es nicht hinausgehen kann, aber da ist große Mannigfaltigkeit übrig gelassen, und man muß immer sehen, welcher der verschiedenen möglichen Gebräuche anzuwenden ist. Der andre ist ein subjectiver, indem jeder eine besondre Art hat, wie sich das Bewußtseyn entwickelt, wie er von Einem auf das Andre kommt und wie er jedem Worte einen Gedanken giebt. Indem man ohne dies die Rede nicht verstehen kann, so sieht man wol, daß man hier nicht dies alles in Regeln fügen kann, sondern das Gefühl entscheiden muß und daher ist die Auslegungskunst keine mechanische. Die Regeln können nur wie die in der Composition negativ seyn. Hieraus geht hervor, daß es hier einen großen Unterschied giebt zwischen dem Leichten und dem Schweren, daß es eine große Masse giebt von Reden, wo das Verstehen ganz an den Character der mechanischen Geschiklichkeit zu grenzen scheint und wo es fast auf nichts ankommt, als nur nicht zerstreut seyn, um die Rede | zu verstehen, daß es aber auch wieder einen ganz entgegengesetzten Punct giebt, wo die Sicherheit des Verstehens sehr schwankt, wo viele Zuhörer verschieden verstehen und wo es sehr schwer zu entscheiden ist, wer richtig verstanden hat oder nicht. Je weniger die Rede zurükgeht auf Wissenschaft und Kunst, je weniger große Combination darin ist, um desto leichter ist die Rede zu vernehmen und um desto weniger ist Kunst dabei. Je mehr sich die Rede als jenes ausdrückt, je mehr der objective Punct in Anwendung kommt, desto schwerer die Rede, wie die philosophischen Werke und die der höheren Dichter. Wohin gehört nun der Canon? Gehörte er ins leichtere Gebiet, so würde man der Auslegungskunst nicht bedürfen. In dieser Hinsicht wird § 24. dem Canon seine Stelle angewiesen und behauptet, daß er am schwierigsten auszulegen sey. Es kommen 34 KD1 II 1 § 24 (KGA I/6, S. 275) 34–157,33 Vgl. Stolpe: „Der religiöse Gehalt in Rede und Schrift ist überhaupt etwas leicht Misszudeutendes: wenn nun die Sprache in der jemand schreibt, nicht die ist, in der er beständig zu denken gewohnt ist, ist er nicht so mit der Sprache zusammengewachsen: daß nicht manches verschieden könnte aufgefaßt werden. Je mehr man es mit dem bloß Einzelnen zu thun hat, desto mehr macht der kunstgemäßige Gebrauch der Sprache die geringste Differenz; es sind hier also eigentlich alle schwierigen Puncte bei der Beschäfftigung mit dem Kanon zusammengekommen. Jedem speculativ Religiösen [KGA I/6, S. 275,15] ist nun coordinirt das wissenschaftlich Speculative. Da kann es nun geschehen, daß man sich einer angebornen Sprache nicht bedient, wo sich dann die Schwierigkeiten sehr häufen. Der

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in Betracht 1. der Inhalt. Der ist der religiöse und zwar auf eine objective Weise auf eine doctrinale, wo es nun doch immer auf die Principien und wie bestimmte Gedanken und Ansichten aus diesen Principien Pher angesehenS ankommt. Jede Rede ist so leichter, je mehr sie dem Sinnlichen nahe ist, und alles Religiöse und Speculative muß deshalb für die Auslegung das schwierigste seyn. Und hier ist wieder ein Unterschied zu machen. Wenn bloß von dem Subjectiven die Rede ist, von den religiösen Zuständen, wie sie im Menschen wechseln, dann sind diese auch unter der Bedingung einer Kenntniß des einzelnen Menschen leicht zu verstehen. Aber ein ganz anderes ist es, wo von den religiösen Begriffen und Principien die Rede ist, da ist die sinnliche Haltung ein minimum, wir haben außer der Rede dann nichts, was uns zu Hülfe kommen kann. Das gilt von allen Elementen der Rede die etwas Abstractes haben. Also schon des Inhalts wegen gehört der Canon zu den schwierigsten; denn das Speculativ religieuse ist noch schwerer | als die wissenschaftliche Speculation. 2. die Beschaffenheit der Schriftsteller. Wenn man hier auf den objectiven Punct zurükgeht, daß der einzelne Gebrauch eines bestimmten Elements einer Sprache in einem bestimmten Zusammenhange, daraus gezogen werden muß, daß man die Elemente vergleicht, so werden wir sagen müssen, das ist ein Verfahren das allemal zum Ziel führt. Aber das setzt allemal voraus, daß die Sprache auch nach ihren Regeln vollkommen gebraucht sey. Derjenige wird also leichter verstanden, der von der Sprache eine genaue Kenntniß hat. In Beziehung auf diesen Punct, wo steht uns der Canon? Da wo es leicht, oder da wo es schwer ist? Der größte Theil unsrer Neu Testamentischen Verfasser war wissenschaftlich ungebildet, und wer auch, wie Paulus wissenschaftlich gebildet war, der war es doch nicht in der Sprache 26 Neu] Alt zweite Grund beschäfftigt sich nun mit dem Subjectiven. Die Gedankencombination eines Einzelnen in einem bestimmten Falle ist immer ein Product aus zwei Factoren: 1. der Denkweise 2. den Umständen, die die Combination hervorrufen und wodurch sie bedingt ist. Je mehr wir von einem Schriftsteller haben und je verschiedenere Productionen, desto leichter kann man ihn erklären: je weniger man von ihm hat, desto beschränkter ist man ja in der Anwendung der Analogie. Bei den Neutestamentlichen Schriftstellern steht die Eigenthümlichkeit zu sehr unter Potenz der Sache. Das den Gedankengang bestimmende ist nun der andere Factor: dieser ist nun beim Neuen Testament häufig ganz unbekannt. [...] Wenn wir zum Beispiel genau wüßten in welcher Lage sich Paulus wirklich befand, als er schrieb, dann würde die Auslegung seiner Briefe viel leichter sein. Wo uns Schriftsteller geschichtliche Personen sind, haben wir außer dem, was wir von ihm verstehen wollen, in dem, was von ihm anderswo gesagt ist, Anknüpfungspuncte. Von den Neutestamentlichen Schriftstellern haben wir nun fast gar keine dergleichen Notizen: selten können wir daher die Abfassungszeit und übrige Beschaffenheiten der paulinischen Briefe ausmitteln.“ (S. 220)

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und da müssen also nothwendiger Weise Ungeschiktheiten in der Sprache vorkommen. Wenn nun solche Schriftsteller über Gegenstände der sinnlichen Erfahrung reden, dann gleicht sich das wieder aus, wenn man sich am Gegenstande wieder orientiren kann, aber über höhere Gegenstände sind sie schwer. 3. Die Bedingungen unter welchen sie geschrieben haben, sind uns nicht vollständig gegeben. Wenn zwei Leute reden, ein dritter hört zu und ein vierter kommt hinzu wenn sie schon lange gesprochen haben, so wird es dem letzten am schwersten werden, die Rede zu verstehen. Vieles wird ihm unverständlich bleiben. Eine jede Rede und jede Schrift die bezieht sich immer schon auf eine frühere und wer das nicht weiß, der ist immer wie einer, der erst mitten in der Rede dazu kommt. Dasselbe bei unserm Canon in zweifachem Verhältniß 1. was die Bildung der ganzen Sprache selbst betrifft, wo nun unser Canon zwar ein Anfang aber kein PrechterS ist und 2. was die Bildung der einzelnen Schriften betrifft, die sich auf Relationen, Verhältnisse beziehen, die uns nicht mitgegeben sind. | Der erste Punct ist der: das Christenthum hat ganz neue Ideen entwikelt. Das Neue Testament ist freilich das erste Buch, worin diese Ideen sind, aber es ist nicht so anzusehen, als das Buch, was eine neue Form einer Wissenschaft enthält, sondern es hat angefangen, mündlich mitgetheilt zu werden. Und auf das Mündliche beziehen sich die Bücher und wir sind immer anzusehen als solche, die mitten in der Rede hineinkommen. Dasselbe gilt in Beziehung auf die einzelnen Bücher selbst; denn diese sind nicht für ein unendliches Publicum geschrieben, sondern diese sind alle Gelegenheitsschriften die sich auf bestimmte Zustände einzelner Gegenden beziehen. Dies gilt aber nicht nur von den didactischen, sondern auch von den historischen Schriften. Von allen diesen Puncten aus gehört der Canon unter die schwierigste Auslegung. Er ist schwieriger in Rüksicht jener zwei Puncte, als alles andre, was wir kennen. [§ 25. und 26.] Ist die Rede in wie fern jeder diese Kunst für sich haben muß. In der Sprachkenntniß gab es ein Gebiet, das nicht jeder sich anzueignen braucht. Etwas ganz andres ist es mit der Theorie der Auslegung. In der Sprachkenntniß giebt es allerdings ein allgemeines und ein mehr ins Einzelne Gehendes. In einer Theorie ist dergleichen Unterschied gar nicht anzutreffen, sondern jede Regel hat ihren be16 PrechterS] oder PechterS 34 KD1 II 1 §§ 25–26 (KGA I/6, S. 275)

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stimmten Kreis von Anwendbarheit und wird erst Regel, wenn die Anwendung eintritt, wie dies § 26. ist. Dabei würde herauskommen § 25. daß man die Auslegung andrer auf Autorität annehme. Dazu ist viel Gelegenheit. Der Canon ist so vielfältig ausgelegt, daß die Versuche darüber eine unabsehbare Masse bilden und es ist unwahrscheinlich, daß von jeder Stelle nicht die richtige Auslegung schon irgend wo seyn sollte. Aber hier kann die Critik nicht zum Supplement dienen; denn hier giebt es kein andres Mittel, die beste Auslegung zu finden als die Theorie selbst. Die Critik kann mir nichts sagen, als daß dieser oder jener Verfasser in diesem oder | jenem Fache vorzüglich ist oder nicht. Aber da viele in dieser Hinsicht gleichstehen könnten, die doch sehr verschieden sind in der Auslegung, so ist das doch nur ein Umhertappen. Jeder Theologe muß also nothwendig die Auslegungskunst selbst üben. Keinesweges soll man deßhalb den Schatz von Auslegungen vernachlässigen. Denn eben weil die Auslegung des Canon sehr schwierig ist, so hat man gar nicht Ursach zu glauben, daß wenn man nur die Theorie recht inne hat, sich das andre von selbst findet, denn dann wäre die Kunst etwas mechanisches. Jeder muß immer sehen, ob es auch etwas giebt, worauf er nicht geachtet hat. Man soll nur die Gesichtspuncte finden, von denen die Auslegung ausgehen kann und die einem sonst nicht würden vorgeschwebt haben. Die Benutzung des Auslegungsapparates ist also sehr nothwendig und die Auswahl kann nur gemacht werden durch Vergleichung mit den Regeln der Hermeneutik und PalsoS man es nur als Supplement braucht für ein eignes hermeneutisches Verfahren. Es giebt verschiedene Wege, wie die Hermeneutik ausgebildet wird. Der eine mehr der aus den allerinnersten Principien, der andre mehr der von unten herauf und die Vollkommenheit ist nur in einer vollständigen Durchdringung dieser beiden. Der Weg aus den allgemeinen Principien geht eben von dem Punct aus: in welchem Zustande befindet sich einer der da redet oder schreibt in Beziehung auf die Sprache und in Beziehung auf die Zuhörer und in welchem Zustande befindet sich der welcher hört in Beziehung auf wen er hört oder liest. Wie muß der Schreibende es machen, wenn er sicher seyn will, daß seine Hörer oder Lesenden ihn verstehen und wie muß der Leser es machen, wenn er sicher seyn will, daß er den Verfasser recht verstanden? Da kommt man freilich auf Regeln, mit denen aber in der Anwendung noch nicht viel zu machen ist. Der andre Weg ist der, daß man sich eine recht ausgebreitete Kenntniß verschaffe von den verschiedenen Arten, wie Eins und daßelbe von verschiedenen ist ausgebildet. | Nun giebt es ein Urtheil, 26 KD1 II 1 § 27 (KGA I/6, S. 276)

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daß das eine einen höheren Grad von Wahrscheinlichkeit hat, als das andre. Man vergleicht und kann sich so Regeln abstrahiren. In Fällen dieser und jener Art hat man auf diese und jene Puncte zu merken. Das nennt man hermeneutische Observationen, die aus der Beobachtung entstehen. Betrachten wir die Sache geschichtlich, so müssen wir sagen: die Hermeneutik hat mit solchen Observationen angefangen. So ist es mit jeder Technik. Der Künstler geht sehr oft unmittelbar auf unbewußte Art zu Werke ohne eigentliche Reflexion und ohne daß er würde gleich Rechenschaft geben, warum er so oder so gethan. Die Kunstwerke kommen fast nie durch die Theorie zu Stande. Die Theorie wird auch gar nicht durch die hervorgebracht die selbst produciren, sondern nur von denen welche die Kunst zu genießen suchen und sich nun Rechenschaft ablegen von ihrem Genuß. Das ist schön, das nicht, worin liegt das? Wodurch bringt der eine das Schöne hervor, wodurch verfehlt es der andre? Daraus entstehen Beobachtungen und nachher wird eine Technik daraus. Eben so ist es mit dem Auslegen gegangen, dies ist seine Geschichte. Es wird aber weit mehr ein bewußtes Verfahren gefordert, weil die Auslegung theils Kunst ist, theils wissenschaftliche Gegenstände hat. Auf dem Punct der hermeneutischen Observationen kann man also nicht stehen bleiben, die Kunst ist weiter gegangen und man kann auch bei ihnen nicht für den Gebrauch stehen bleiben. Wenn nun von diesen beiden Puncten die Theorie zu Stande gekommen seyn [soll], so müssen die Endpuncte specielle Regeln seyn. Wenn ich nun diese speciellen Regeln anwenden muß, warum soll ich sie nicht gleich aus den Observationen schöpfen? Diese speciellen Regeln aber begrenzen einander und es ist also niemals genug, daß ich weiß, es giebt diese oder jene einzelne Regel die ich anwenden muß, | sondern ich muß auch wissen, ob nicht andre specielle Regeln anzuwenden sind. Wie kann man das anders finden, als durch das Zurükbringen der Regeln auf Principien? Man muß nicht bloß die Regeln haben, sondern auch ihre Begründung durch die Art, wie sie entstanden. Und noch mehr wenn man die Regeln in ihrem ursprünglichen Zustande, wie sie als hermeneutische Observationen vorkommen, nimmt, da folgt man bloß einer fremden Unklarheit. Z. B. Ernesti institutio interpretis Novi Testamenti. Ein Buch von großem Ruf und auch gut an seiner Stelle, wenn man es geschichtlich betrachtet. Man findet aber darin nichts, was auf den eigentlichen Grund zurükgeführt ist, es ist nichts als ein Aggregat von Observationen. Die Zurükführung auf Principien bleibt ganz im Dunkeln. Ernesti 35 Schleiermacher hat in seiner Bibliothek folgende beiden Ausgaben besessen: Johann August Ernesti: Institutio interpretis Novi Testamenti, Leipzig 1761; Institutio interpretis Novi Testamenti, 4. Aufl., ed. C. F. Ammon, Leipzig 1792.

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war ein großer Ausleger, aber er war es eben durch seinen großen Instinct für die Sprache. Seine Institutio hat auch Epoche gemacht, aber bloß darum, weil die Observationen gegen den allgemein verbreiteten Irrthum und Mißbrauch gingen. Nun macht man diese Fehler nicht mehr und das ist das Verdienst dieses Buchs. Es hat aufgedekt, daß etwas Falsches falsch ist, ohne auf die Principien zurükzugehen. Diese Observationen können dem Theologen noch nicht genügen, sondern er muß die Sache mehr bis in die Principien verfolgen. Wie verhält sich nun die Hermeneutik als theologische Disciplin zu der Hermeneutik als allgemeiner philologischer Disciplin? Wenn die Auslegung von oben anfängt, so ist das allgemeine philologische Hermeneutik. Das Ganze muß ausgehen von dem Verfasser und dem Leser cet. und ist ganz etwas Allgemeines. Die Auslegung in diesem Sinne ist correlata zur allgemeinen Hermeneutik. Allein es sind nun alle anderen theologischen Disciplinen allerdings viel früher zu einer gewißen Reife gekommen, als gerade diese. Sehr natürlich. Nemlich das Interesse an dem Verstehen der Rede und Schrift im Zusammenhang hängt immer weit mehr am Gegenstande. Der Sprachforscher besonders wenn von | classischen und nicht mehr lebendigen Sprachen die Rede ist, geht immer mehr auf das Einzelne. Das eigentliche Auslegen ist gar nicht ex professo getrieben PvonS den Philologen, es waren nur grammatische Bemerkungen bis diejenigen kamen die die Rede im Zusammenhange verstehen wollten. Erst so ist die Hermeneutik ausgebildet und diese ist mehr von der Theologie und Jurisprudenz ausgebildet als von einer andern Wissenschaft. Nun ist offenbar, daß die speciellen PBemühungenS PundS Regeln, die sich nur auf besondere Arten von Schriften beziehen keinen festen Grund haben, als wenn sie nachher zurükgegangen sind in die allgemeine Hermeneutik. So steht die Sache jetzt. Man hat sich mehr mit dem Speciellen beschäftigt als mit der allgemeinen Theorie. Aber es hat doch jeder, was er bedarf, in so fern er auf die allgemeine Theorie zurükgegangen und daraus die Regeln geschöpft hat. Die allgemeine 26 PundS] oder PderS 9 KD1 II 1 § 28 (KGA I/6, S. 276) 26–32 Vgl. Stolpe: „Fragen wir aber, wie es um die Kunstlehre steht, so kann man freilich [...] sagen, [...] die Idee der Disciplin [ist] aufgestellt und es giebt auch schon Behandlungen, allgemeine wie specielle aber in vielen ist die Theorie ein Fachwerk, worunter das Aggregat von Observationen geordnet ist, andre gehen freilich von Principien aus aber sind noch nicht so ins Specielle hinein bearbeitet, daß sich davon eine Anwendung bis auf einen gewissen Grund machen ließe. So sehen wir denn, wodurch die Auslegung ein sehr schwieriges Geschäfft ist, in Bezug auf die Theorie kann doch wohl keiner im reinen Stande der Unschuld sein.“ (S. 222)

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Hermeneutik ist keine theologische Disciplin, sondern nur die Specialhermeneutik der Theologie. Wie verhalten sich beide? Die allgemeine Hermeneutik hat es zu thun mit der Sprache in ihrer objectiven Bedeutung und mit der Rede in der subjectiven Bedeutung, aber aus der Natur der besonderen Sprache gehen auch wieder besondere Regeln hervor und aus der Natur einer besondern Rede gehen auch wieder besondere Regeln hervor für das besondre Verstehen. Also die Specialhermeneutik der Theologie ist die nähere Anwendung der allgemeinen hermeneutischen Regeln auf die besondere Beschaffenheit der Sprache, worin das Neue Testament geschrieben. Sie ist eine besondre Anwendung der allgemeinen Regeln auf die besondre Classe von Schriften, wozu die Neu Testamentischen Schriften gehören. Das Christenthum hat neue religiöse Zustände, neue religiöse Vorstellungen entwikelt. Diese erfordern also auch eine neue Sprache, was natürlich nicht materiell gewonnen werden kann, sondern nur erreicht durch neuen Gebrauch und neue Combinationen. Die Sprache konnte keine andre seyn, als die jüdische und es ist also zuerst hier zu bestimmen in wie fern die technische Sprache des Neuen Testaments aus dem analogen Sprachgebiet des späten Judenthums entstanden ist, oder nicht. | Hieher gehört noch ein andrer Punct. Die religiöse Sprache des Judenthums ruht auch vorzüglich auf dem jüdischen Codex. Alles Religiöse war irgendwo Auslegung oder Benutzung des in den heiligen Büchern Enthaltenen. Es wird also hier noch ein besonderer Punct: hat die neue religiöse Entwikelung einen veränderten Einfluß gehabt und haben müssen auf die Benutzung der Alt Testamentischen Bücher? findet sich auf der einen Seite eine neue Benutzungsweise, die vorher nicht üblich war, oder auf der anderen Seite: mußten wegen ihres besonderen Characters die Neu Testamentischen Schriftsteller nicht einer mehrfachen Gebrauchsweise der Alt Testamentischen Bücher entsagen und sich nur an eine einzige halten? Was die Sprache selbst in philologischer Hinsicht betrifft so gehört freilich hieher noch die Untersuchung in welchem Verhältniß entweder im Allgemeinen oder in Beziehung auf die verschiedenen Arten des Vortrags und der Umstände das Griechische des Neuen Testaments zum Aramäischen steht. Der zweite Hauptpunct betrifft die besondre Gattung zu der die Neu Testamentischen Schriften gehören, nicht mehr den Inhalt, son3 KD1 II 1 § 30 (KGA I/6, S. 276); eine Erörterung von § 29 folgt danach. 19– 20 Zur ‚technischen Sprache‘ vgl. die Unterscheidung von grammatischer und technischer Dimension im Sprachgebrauch in Schleiermachers früheren Entwürfen zur Hermeneutik; vgl. bes. KGA II/4, S. 51,5–9; 54,7–11.

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dern die Art und Weise des Vortrags. Hier haben wir zu unterscheiden die historischen und die didactischen. Es kommt also darauf an, den eigentlichen historischen Character der Neu Testamentischen Schriften zu bestimmen um daraus die Regeln der Interpretation abzuleiten. D. h. man muß wissen, in wie fern ist der historischen Composition mehr auf die Zusammenstellung und Folge angekommen. Sind sie von bestimmten Gesichtspuncten ausgegangen und von welcher Art sind diese gewesen? Dies läßt sich nicht a priori entscheiden. Es setzt das Verstehen der Schriften schon voraus und wir sind also hier im Kreise. Es ist also eine Aufgabe die von beiden Enden zugleich muß aufgefaßt werden. Sie wäre aber ganz unauflösbar, wenn sich nicht gewissermaaßen a priori etwas annehmen PließeS, wozu nicht erst das Verstehen PgehörteS. Was das didactische betrifft, so ist hier noch zu achten auf die besondre Art des didactischen Vortrags. Hier ist nun derselbe Fall. Man kann ihn auch nur kennen aus der Schrift selbst, aber allerdings Paus einerS | solchen, die noch kein Verstehen voraussetzt. Da finden wir 1. den Hauptunterschied des didactischen Vortrags, der ursprünglich mündlich war, wie er in den Evangelien ist, und 2. des didactischen Vortrags, der ursprünglich schriftlich war, wie in den apostolischen Briefen. Der Vortrag PinS den historischen Schriften, der ursprünglich mündlich in dem unterscheiden wir nach der Art und Weise der damaligen Zeit vorzüglich einmal den Vortrag der sich dem dialectischen schon mehr nähert, dergleichen allerdings in der Apostelgeschichte und in den von Johannes aufgezeichneten Reden Christi sich findet und denjenigen der schon mehr einen eigenthümlichen Character des Mündlichen trägt, worin wir das Gnomische und Parabolische unterscheiden. Das sind die wesentlichen Puncte, welche die Specialhermeneutik des Neuen Testaments bilden. Natürlich kann darin nicht seyn isolirt für sich, was dem Neuen Testament allein eigen wäre. Aber fast überall wird es etwas geben, was sich auf die Eigenthümlichkeit des Neuen Testaments besonders bezieht und da ist es am schwierigsten auf Regeln zu kommen, die allgemeine Anerkennung finden, wie z. B. die Art, wie das Alte Testament im Neuen Testament ist. Zweierlei ist noch besonders zu beherzigen nemlich § 29. und 31. Nemlich in wie fern dem Neuen Testament ein ganz eigenthümlicher Character einwohnt als göttliches Wort angesehen, so entsteht die 12–13 PließeS ... PgehörteS] oder PläßtS ... PgehörtS 37 KD1 II 1 § 29 (KGA I/6, S. 276)

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Frage, ob nicht dieser eigenthümliche Character alle Regeln der Auslegungskunst für das Neue Testament aufhebt? oder ob durch diesen Character die Anwendung dieser Regeln auf eine ganz eigenthümliche Weise modificirt wird? oder ob das Neue Testament ganz muß nach den Regeln der Hermeneutik behandelt werden? Schleiermacher hat hier etwas gethan was aus den Grenzen des Verfahrens, das in dieser Darstellung herrscht, zu liegen scheint, nemlich wie es scheint eine wirklich materielle Darstellung in § 29. Allein es ist dies doch nicht so materiell als es auf den ersten Anblick erscheint. Nemlich es geht ganz natürlich daraus hervor, daß wenn | auch die Neu Testamentischen Schriftsteller als inspirirte Schriftsteller in einer andren Lage gewesen, als andre Schriftsteller, so fragt sich, sind wir und die ursprünglichen Leser auch in eine andre Lage gesetzt, als die Leser andrer Schriften? Davon kann der Begriff der Inspiration, wenn wir ihn protestantisch auffassen, nichts haben. Die catholische Kirche nimmt einigermaaßen eine fortwährende Inspiration an. Doch wohnt den Laien davon nichts ein. Die Sache wird doch auf ein andres Feld hingespielt, wo wir weniger gewohnt sind die Kunstregeln anzuwenden, in der Belehrung und so wird der Begriff scheinbar aufgehoben bei den Catholiken. Schränken wir aber die Inspiration auf die Schriftsteller des Neuen Testaments ein, so müssen wir jene Frage verneinen. Wir sind in keinem andren Verhältniß als die Leser andrer Schriften. Sie werden nur durch die Inspiration der Verfasser nicht verständlicher und nicht unverständlicher. Selbst die strengste Vorstellung von der Inspiration führt eben dahin, wohin die strengste Leugnung der Inspiration führt. Denn wenn der göttliche Geist Theil hat an den Schriften so muß er sie doch nach menschlicher Vorstellungsweise behandelt und geschrieben haben, sonst wäre die Schrift gar nicht verständlich. Schwieriger § 31. Unser Canon ist eine Sammlung von einzelnen Schriften. Auf der andren Seite sehen wir ihn als Ein Ganzes an, wo nichts hinzugethan und nichts hinweggenommen werden kann. Diese beiden Gesichtspuncte müssen ganz verschiedene hermeneutische Verfahrungsweisen hervorbringen, wenn man sie isolirt. In so fern man jede Neu Testamentische Schrift als ein Werk für sich ansieht, so muß 10 wenn] wenn | PwennS 16 einigermaaßen] in der Bedeutung von ‚auf einige Art‘; vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 392 9–15 Vgl. Stolpe: „Da hier keine Vorstellung von Inspiration ausgeschlossen ist, so muß der Satz gegen alle Ansichten von dieser indifferent sein. Dies beruht darauf, daß sich die Inspiration immer nur auf die γενεσις der Schrift, nicht aber auf den Act der Auffassung bezieht. Diese Auffassung findet sich eben nur in der Hermeneutik.“ (S. 222) 30 KD1 II 1 § 31 (KGA I/6, S. 276)

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sie auch für sich verstanden werden können. Sehen wir aber die Schriften des Neuen Testaments als geschlossenes Ganzes an ohne auch gerade auf den Begriff der Inspiration zurükzugehen, so müssen wir denn sagen, die Eigenthümlichkeit und die persönliche Differenz der einzelnen Schriftsteller verschwindet gegen die Kraft desjenigen Princips, | welches in ihnen allen Eins und dasselbe war und daraus folgt dann eine ganz andre Anwendung welche von einer Neu Testamentischen Schrift auf die andre gemacht werden kann. Alle zusammengenommen müssen das Maaß der einzelnen seyn d. h.[:] Nach diesem Gesichtspuncte dürfte in den andern Schriften nichts vorkommen, dem in der einen widersprochen würde. Nun sieht man sehr leicht, daß sich diese Gesichtspuncte nicht völlig isoliren lassen; denn die persönliche Individualität kann niemals ganz verschwinden. Wenn wir auch nur bei der ganz reinen Idee des Canon bleiben daß in ihm die ursprüngliche Darstellung des Christenthums als normale niedergelegt sey, so müssen wir doch schon sagen, daß diese nicht kann durch die verschiedenen Persönlichkeiten alterirt seyn, und es ist die eigenthümliche Aufgabe zu bestimmen, wie die Eigenthümlichkeit des Princips und ihre persönliche Eigenthümlichkeit sich verhalten. Dies ist offenbar eine Aufgabe, welche in allgemeinen Formeln nicht auf eine genaue Weise, sondern nur durch Approximation gelöst werden kann. Jeder muß also diese relativ entgegengesetzten Puncte vor Augen haben und nach dem jedesmaligen Gegenstande berüksichtigen. Die allgemeine Formel ist allerdings sehr leicht aufzustellen: je mehr etwas die normale Darstellung der christlichen Principien betrifft, um desto mehr muß die Einheit des Ganzen obwalten und um desto weniger kann die Persönlichkeit Einfluß gehabt haben. Aber mit dieser allgemeinen Formel ist an und für sich wenig ausgerichtet und sobald es darauf ankommt, die Anwendung wieder auf Gesetze zu bringen, so geht das nicht und wir haben also auch hier kein mechanisches Gebiet. Dies ist der schwierige Begriff der analogia fidei als Canon für die Auslegung betrachtet. | Von hier an bis § 37. ist von einem anderen Theile der exegetischen Theologie die Rede, welcher gewöhnlich unter dem Namen der Einleitung in das Studium des Neuen Testaments bezeichnet wird. So wie diese gestaltet ist in den mannigfaltigen Werken und wie diese Disciplin in dem academischen Unterricht behandelt zu werden pflegt, ist es sehr schwer die wirkliche Einheit darin zu finden. Das ist auch wirklich so in der Praxis, weil man manches mit hineingezogen hat, was in den eigentlichen Begriff der Disciplin nicht gehört wie z. B. was Kritik und den Begriff von Kritik betrifft. Wir müssen also diese 31 Vgl. Röm 12,6

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Disciplin uns hier in ihrem eigentlichen Umfange construiren und also von dem Puncte aus, wo sie mit den übrigen zusammenhängt und sich als Eignes gestaltet. Dabei müssen wir [darauf] zurükgehen, daß kein Werk der Rede und Kunst ein für sich selbstständiges ist, sondern jedes steht im Zusammenhange mit andern und kann nur in diesem Zusammenhange verstanden werden. Ist es nun publicirt in dem Kreise, wo wir sind, so haben wir schon das, was außer dem Werk zu dessen Verstehen gehört. Ist es in einer andren Welt publicirt, so müssen wir das vor dem Werke erhalten. Dazu zwei Wege, der eine der allein hinreicht und unendlich ist und der andre ein compendialer, in dem das Studium der Einleitung des Neuen Testaments die Propedeutik begründet ist. Keine Schrift ist absolut durch sich selbst verständlich. Sie steht zusammen mit dem Publicum cet. für das sie geschrieben. (lies § 32.) [1.] Jede kann nun nur verstanden werden durch die Kenntniß der Litteratur. In so fern liegt das Neue Testament in der hellenistischen Litteratur. Vieles was hieher gehört liegt allerdings in der Kenntniß der Sprache. Diese ist aber selbst nur ein Resultat von der Kenntniß der Litteratur. 2. gehört dazu die Kenntniß des Zeitalters und des Publicums, die Kenntniß aller Verhältnisse und Sitten, welche in den Gegenden mit welchen das Neue Testament zu thun hat, damals bestanden. Hieher gehört also zuerst, was als eigne Disciplin behandelt werden kann, aber hier doch nur in dieser Beziehung vorkommt, nemlich die Kenntniß der jüdischen Alterthümer. Wenn man die damalige bürgerliche | Verfassung nicht kennt, was noch übrig geblieben war von dem alten Gesetz und der alten Theokratie, so muß natürlich sehr vieles dunkel bleiben im Neuen Testament und geht man von einer falschen Vorstellung aus, so wird man ein ganz falsches Resultat bekommen. Nun aber versirt das Neue Testament nicht allein in Palästina sondern in vielen anderen Theilen des Römischen Reichs und da kommt es wieder darauf an den Zustand der damaligen Welt auf gewisse Weise zu kennen. Dazu gehört die Kenntniß von dem Zustande der Juden außerhalb Palästina und von den Rechten, deren sie sich erfreuten und von den verschiedenen Graden des Zusammenhangs zwischen den ausländischen Juden und den Palästinensischen. Was die besonderen Beziehungen betrifft, woraus das Neue Testament hervorgegangen, so ist das Positive das, was die didactischen Schriften betrifft, was die historischen Schriften betrifft, so ist die Hauptsache nur 13–14 Vgl. Stolpe: „Indem die Neutestamentlichen Schriften als Norm eine allgemeine Gültigkeit haben für die ganze christliche Kirche so entsteht nun sehr leicht die Vorstellung, als ob nun auch die ganze christliche Kirche das Publicum der Neutestamentlichen Schriftsteller wäre, dann würden alle specielle Bedingungen nicht mehr gelten, dann wären sie auch für alle Zeiten gültig.“ (S. 222)

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negativ. Man urtheilt ganz falsch, wenn man glaubt, daß die historischen Schriftsteller hätten einen Canon bilden wollen, um auf alle Zeiten die Geschichte Christi zu bringen. Daher macht man ganze falsche Forderungen an sie. Aber die didactischen Schriften, indem sie an gewisse Gemeinden sind, beziehen sich auf diese Gemeinden. Es giebt also etwas allgemein Einleitendes in das Neue Testament und dann in die einzelnen Schriften was hieher vorzüglich gehört. Die jüdischen Alterthümer stellt man immer als eigne Disciplin auf, da doch nach unsrer Ansicht ein Theil davon hieher gehört. Dabei ist ein Uebel, wenn die jüdischen Alterthümer als selbstständige Disciplin behandelt werden, so dienen sie eben so sehr zur Erklärung des Alten Testaments als des Neuen Testaments. Es ist also dann etwas historisches und man betrachtet das Ganze in gewissen Perioden. Da nun das Neue Testament in die letzte Periode fällt, so kommt es ganz dabei zu kurz. Es wäre also wol besser, wenn man alles isolirte, was zum Neuen Testament gehört und das mit in die Einleitung zum Neuen Testament nehme. Gar vieles weiß man nur aus dem Neuen Testament. Dies pflegt man in der Einleitung zum Neuen Testament immer mitzugeben. Aber damit kann sich Schleiermacher nicht vertragen, denn | das setzt die Auslegung voraus und ist diese falsch gewesen, so pflanzt sie sich immer fort und es ist kein rechtes Mittel dagegen. Man rechnet zur Einleitung in das Neue Testament noch mehr, als nur die Kenntnisse, welche uns in dieselbe Lage setzen, in welcher die ursprünglichen Leser gewesen sind. Wenn wir uns aber auch in die Lage der ursprünglichen Leser setzen, ist denn das Buch auch noch in derselben Lage? Das läßt sich a priori nicht sagen, denn das Buch hat PselbstS Geschichte. Diese hat man dann immer als wesentlichen Theil in der Einleitung zum Neuen Testament angesehen. Darin ist etwas Wahres. Allein die ganze Geschichte des Canon gehört doch weit mehr in die höhere Kritik. Auf der einen Seite ist sie das Resultat dieser höheren Kritik, auf der anderen Seite ist alles wirklich Geschichtliche darin Hülfsmittel für die höhere Kritik. In der Praxis ist aber etwas zu ihrer Rechtfertigung. Nemlich da die höhere Kritik noch gar nicht als besondere Disciplin vorhanden ist, so hat man dies mit in die Einleitung zum Neuen Testament aufgenommen und dabei mag es noch einige Zeit sein Bewenden haben, weil diese höhere Kritik für das Neue Testament nicht eher kann daseyn, als bis die höhere philologische Kritik, worauf sie beruht ausgebildet ist. Wenn man die höhere Kritik mehr als wissenschaftliche Disciplin behandeln kann, so wird dann die ganze Geschichte des Canons dahin 28 PselbstS] oder PseineS

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gehören und also auch die ganze Frage von der Authentie und der Integrität der Neu Testamentischen Schriften und alsdann wird sich das mehr herausnehmen können, was zu der Einleitung ins Neue Testament in einem besonderen Sinne gehört. Noch besonders [wird § 33.] erinnert in Beziehung auf den Begriff der Inspiration, daß er auch hier nicht von der Wirksamkeit seyn kann, die Kenntnisse, welche zum Verstehen des Neuen Testaments nöthig sind, als überflüssig anzuerkennen. Man hat nemlich oft gesagt: der heilige Geist ist der Autor der heiligen Schrift und hat sie nicht für | einzelne Leser, sondern für die ganze christliche Kirche aller Zeiten geschrieben und jeder der an ein Publicum schreibt, muß doch so schreiben, daß die Schrift aus sich selbst verständlich ist und wer es noch nicht versteht, als Einzelner, der ist nicht der rechte Leser. Aber dann hätten die didactischen Schriften Abhandlungen seyn müssen. Da sie sich aber nur auf einen einzelnen Theil bezogen, so löst sich diese Vorstellung selbst als irrig auf. Wenn also der heilige Geist die Schrift geschrieben hätte, so hätte auch das in der Schrift seyn müssen, was wir jetzt als Einleitung ins Neue Testament ansehen, denn sonst kann die Schrift nicht verstanden werden. In wie fern ist auch hier wieder ein Unterschied zwischen demjenigen was sich jeder aneignen muß, oder was als Virtuosität einer besonderen Disciplin anzusehen ist. Das Ganze ist hier historisch und daher unendlich. Deßhalb kann das Allgemeine und Besondere auch hier seyn. Da theilt die Praxis aber wieder § 36. Was man nemlich als Einleitung ins Neue Testament betrachtet, das muß jeder wissen. Was in die tiefere Forschung geht, das muß anderswo niedergelegt werden und sie finden ihren Platz in den Commentaren des Neuen Testaments. Was das weitere Gebiet betrifft, so ist darauf § 37 [bezogen]. Nemlich die Talmudischen und Rabbinischen Schriften sind noch gar nicht, wie es zu wünschen ist, Gemeingut geworden für die Theologie. Es hat in jeder Zeit Theologen gegeben, die sich bemüht haben aus diesen Quellen das Neue Testament zu erklären und Einzelnes ist auch ganz geleistet z. B. von Augusti. Aber was das allgemeine Bild der Zeit und der nationalen und litterarischen Verhältnisse betrifft, da scheint noch nicht genug aus dem Einzelnen in das allgemeine Gebiet 13 nicht] ist 5 KD1 II 1 § 33 (KGA I/6, S. 276) 20 KD1 II 1 § 34 (KGA I/6, S. 277) 24 KD1 II 1 §§ 35–36 (KGA I/6, S. 277) 29 KD1 II 1 § 37 (KGA I/6, S. 277) 34 Vgl. vermutlich Die katholischen Briefe, neu übers. u. erklärt u. mit Exkursen u. einleitenden Abhandlungen hg. v. Johann Christian Wilhelm Augusti, Bd. 1–2, Lemgo 1801– 1808

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hinübergetragen zu seyn. Freilich ist das nicht leicht zu erwerben, ohne eine Talmudische Litteratur und Schleiermacher glaubt, daß eine Chrestomathie | etwas sehr wichtiges wäre. Allerdings die Apocrypha thun einiges, aber die Rabbinischen und Talmudischen Schriften sind das Supplement dazu, weil das Neue Testament recht zwischen beiden liegt. Von hier an die Rede von der Kritik und zwar von dem, was man im PengenS Sinne die niedere Kritik nennt, die es mit der Berichtigung des Textes zu thun hat. Auch diese ist eine unentbehrliche Disciplin. Die Grenze zwischen der höheren Kritik und der niederen Kritik ist sehr schwer. Zu erkennen, was ein Sprachfehler sey oder ein Schreibfehler gehört in die niedere Kritik, aber die Entscheidung über ein einzelnes Wort kann auch zur höheren Kritik gehören. Nach der Größe des Gegenstands sind also die Grenzen nicht zu bestimmen. Wornach denn? Die niedere Kritik muß man so sehr als möglich beschränken in einer kurz aufzufassenden Erklärung: Was in ein Werk der Rede durch den Mechanismus Falsches hineingekommen, dies wieder auszumerzen ist niedere Kritik. Doch muß sie zuweilen die höhere Kritik zu Hülfe nehmen. Jeder Canon ist dieser niedern Kritik unterworfen. Es müssen die Fehler aufgesucht werden, die durch Fehler des Auges und des Ohrs in die Schriften gekommen sind. Also schon beim ersten Entstehen können Fehler seyn, die sich nachher immer fortpflanzen. Doch nicht allein mit Wörtern beschäftigt sich die niedre Kritik. Wenn z. B. in einer Handschrift eine Stelle ist, die in den anderen nicht steht, so ist zu entscheiden, ob die Worte wol ausgelassen sind und das ist für die niedre Kritik. Doch muß man da von der höheren Kritik ausgehen. Wenn man von der besonderen Eigenthümlichkeit des Canons von dem Begriff der Inspiration aus den Gegenstand betrachtet, so 8 PengenS] oder PengernS 7 KD1 II 1 § 38 (KGA I/6, S. 277) 10 KD1 II 1 § 39 (KGA I/6, S. 277) 1 28 KD II 1 § 40 (KGA I/6, S. 277) 28–4 Vgl. Stolpe: „An die Lehre von der Inspiration knüpft sich eine Theorie an, die auf die höhere Kritik sich bezieht: man sagt: es sei eine besondere Aufgabe der göttlichen Vorsehung gewesen dafür zu sorgen, daß nichts Unverfälschtes sich einschleiche noch weniger daß durch einen Frevel oder Nachlässigkeit einzelne nicht kanonische Stellen hineingesetzt würden oder etwas Kanonisches entfernt werde: ferner daß dadurch es nicht unmöglich gemacht werde sich ein richtiges Bild von der Thätigkeit des Autors sich zu bilden, und daß der ursprüngliche Text des Neuen Testaments rein erhalten werde. Dies Letzte muß man geradezu leugnen. So wie wir vom Factum ausgehen, daß die Handschriften des Neuen Testaments nicht übereinstimmen so folgt gleich daß man bei dem Ausgleiche der Differenzen nur auf dieselbe Weise zu Werke gehen | kann, wie bei allen Urkunden. Die Thatsache verwirft hier durchaus alle Inspiration.“ (S. 223f)

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geben die Principien der niederen Kritik selbst die Antwort, daß die Fehler in der Abschrift auf Irrthümern beruhen, die | jeden beschleichen, und daß also die Inspiration auf diejenigen welche dictiren und schreiben sich ausdehnen muß, wenn das nicht seyn soll. Von der Protestantischen Kirche [aus betrachtet] können wir davon gar nicht ausgehen. Aber auch d Katholiken müssen doch verschiedene Lesarten angenommen werden, aber das thut ihnen nichts, denn sie sehen auf denjenigen Text, der von der Kirche sanctionirt ist und so hat die vulgata ein höheres Ansehen, aber auch da sind Fehler. Wenn man also den Begriff der Inspiration absolut ansehen will für alle Zeiten, so muß man annehmen, daß das Neue Testament eben so der niederen Kritik bedarf, wie jede andre der alten Schriften. Man hat gesagt: bei anderen alten Schriftstellern können wir oft den Text nur durch Vermuthungen wiederherstellen. Dies sey auf das Neue Testament nicht anwendbar, denn es sey der wesentliche Unterschied, daß die Zahl der Abschriften hier so groß sey, daß es unmöglich sey, daß alle Handschriften alle dieselben Fehler hätten. Es fragt sich, ob dies wirklich einen wesentlichen Unterschied begründet und ob er so groß ist, daß man sagen kann, der Emendation kann nichts eingeräumt werden beim Neuen Testament? In einzelnen Fällen wissen wir, daß Lesarten verloren gegangen sind, die früher da waren. So ist also die Möglichkeit gegeben, daß alle Handschriften irren können. Dann wissen wir auch noch nicht, wie hoch die Handschriften in unsern Canon hinaufgehen, wann die Handschrift eine nach der andern berichtigt und gleichförmig gemacht ist. Es ist gar nicht eine Grenze 6–7 d Katholiken müssen doch verschiedene Lesarten angenommen werden] Kj durch Katholiken ... oder die Katholiken ... annehmen 13 KD1 II 1 § 41 (KGA I/6, S. 278) 13–5 Vgl. Stolpe: „Unter den verschiedenen Texten kann nun einer der richtige sein oder es ist der ursprüngliche Text verloren gegangen: also hat man die Wahl zwischen den verschiedenen Lesarten und der eigentlichen Emendation. In Bezug auf das Neue Testament hat man immer gern das minimum kritischer Thätigkeit anwenden wollen. Wenn nun von einer Schrift nur eine einzige Handschrift da ist und es kommt ein Fall, wo man sieht: so kann der Verfasser nicht geschrieben haben, so ist gleich die Nothwendigkeit da, etwas Richtiges an die Stelle des Unrichtigen zu setzen. Freilich sind vom Neuen Testament so viele Handschriften vorhanden wie von keiner Schrift der alten Literatur: also kann man sagen: die Wahrscheinlichkeit des Verlorengehens der ursprünglichen Zeit ist hier nicht vorhanden. Alle jungen Handschriften kommen aber hierbei gar nicht in Anschlag. Wäre also die Neutestamentliche Kritik geübt worden in einem höheren Grade zu der Zeit, wo man das Neue Testament zuerst dem Drucke übergab, so kann man sagen an vielen Stellen wo der richtige Text vorhanden war, hätte nur einer nach der Vermuthung etwas ändern können. Indessen ist es wahr, daß die bloße Conjecturalkritik im Neuen Testament einen geringen Spielraum hat: dies rührt von der Ursprünglichkeit des Textes, da die Neutestamentliche Grammatik nicht so bestimmt ist wie die für die Classiker.“ (S. 224)

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zu ziehen zwischen dem Stande der Sache und dem Stande des Schriftstellers. Unsre Handschriften stammen aus dem 4. Jahrhundert und sind nachher nach diesen verbessert. Nun aber legt uns der Stand der Sache Vorsicht auf, in Anwendung der Conjecturen auf das Neue Testament. | Aber ganz und gar a priori kann man die Emendation nicht ausschließen. Wie verhält sich nun die Kritik in dieser ihrer Anwendung auf den Canon zu dem gemeinsamen Gebiet aller theologischen Kenntnisse und wie fern ist sie ein eignes Gebiet, das Virtuosität für Einzelne seyn muß? Da das Gebiet so groß ist, da man alle Handschriften vergleichen muß, so kann das kein Gebiet seyn, das allgemein wäre. Was fällt nun aber denen anheim, die die Kritik zum besonderen Gegenstande machen und was den andren? Wo ist die Grenze? Dazu das Vorläufige 43. und 45. Die vollkommene Wiederherstellung des Textes unseres Canon hat keinen solchen philologischen Werth, wie die vollkommene Wiederherstellung eines anderen classischen Schriftstellers. Bei einem classischen Schriftsteller kann oft für das richtige Bild der Sprache und ihrer Entwickelung die Berichtigung des Textes von großer Wichtigkeit seyn. Aber dieses genaue und reine Bild hat nur einen Werth für die höchste Entwickelung der Sprache und dieser größere Werth der Kritik geht nun mittelbar auf alle Gegenstände, in wie fern sie auf die classische Zeit der Sprache sich beziehen. Das findet nun beim Canon gar nicht statt, seine Sprache hat mit dem Griechischen nichts zu thun. Die hellenistische Sprache ist ein Gemisch, nicht einmal Verfall des Griechischen. Also wird kein Philologe Interesse haben an der Berichtigung des Textes, sondern nur ein Theologe. Dazu [§] 45. Die Verschiedenheiten haben nur Wichtigkeit, welche Einfluß auf den Sinn einer Stelle haben und zwar auf solche, die zur eigentlichen Darstellung des Christenthums gehören. Deren sind aber nur wenige. Um nun aber über diese wenigen ein Urtheil zu haben, ist die ganze Kritik unerläßlich nothwendig. Man muß ja wissen, wie vieler | 6 KD1 II 1 § 42 (KGA I/6, S. 278) 14 KD1 II 1 § 43 (KGA I/6, S. 278) 16– 28 Vgl. Stolpe: „§ 43. zuerst die Differenz zwischen den Neutestamentlichen und klassischen Schriften aufgestellt: indem es heißt: daß Wiederherstellung des Textes nicht denselben wissenschaftlichen Werth habe. Die Neutestamentlichen Schriften sind zu sehr in der kunstlosen Sprache des gemeinen Lebens geschrieben: flüchtig, der beständigen Form unterworfen. In einem gemischten Idiom bestimmte Regeln festzustellen hat durchaus nicht einen wissenschaftlichen Werth, weil es einmal eine trübe Mischung bleibt. Wenn wir nun sagen: dieser Theil der Aufgabe hat hier nicht dieselbe Bedeutung so folgt daraus, daß alles im Neuen Testament sich rein mehr auf das theologische Gebiet bezieht.“ (S. 224) 29 KD1 II 1 § 45 (KGA I/6, S. 278); eine Erörterung von § 44 folgt danach.

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Werth jeder von den Quellen zukommt, die auf dieser oder dieser Seite sind. Das ganze unendliche Gebiet der Kritik muß also hier angewandt werden. Diese ganze Operation durchzumachen und den ganzen Apparat gegenwärtig zu haben, das kann unmöglich die Sache aller Theologen seyn, aber wegen der einzelnen Stellen dogmatischen Inhalts kann auch niemand sagen, ich will mich gar nicht um die Kritik bekümmern. Ganz lossagen kann sich keiner. Es ist ein Unterschied zwischen der Kenntniß der Principien und der Anwendung derselben auf die ganze Masse. Die Kenntniß der Principien muß jeder haben, doch bedarf sie keiner andren Anwendung, als PnurS die Resultate der Virtuosen prüfen zu können. Und darum ist es sehr gut, daß es unter den Virtuosen noch Streit giebt. Es ist auch nicht die Aussicht, daß die Differenzen so bald aufhören werden. Die nächste Aufgabe der Kritik ist die, eine möglichst richtige und genaue Geschichte des Textes zu geben. Es kann eine Handschrift sich als ungenaue verrathen durch die Schreibfehler. Dadurch verliert sie ihr Vertrauen, wenn sie einmal eine wichtige Abweichung hat. Hieraus haben einige eine Classification und einen Unterschied der Handschriften machen wollen. Da bleibt aber immer noch Verschiedenheit des Characters. Nun fing man an, die verschiedenen Lesarten zu beachten und die verschiedenen Recensionen zu erwägen. Die Theorie ist immer noch nicht ausgebildet; denn es giebt immer noch eine Menge von Handschriften, die man nicht rein auf eine Recension zurükführen kann, sondern von denen man annimmt, daß sie aus verschiedenen Recensionen zusammengeflossen. Diese Recensionen sind Eigenthum gewisser Gegenden, wie sollte das also kommen? Es giebt also noch Räthsel in dieser Sache und sie kann noch eine andre Gestalt gewinnen. Die ganze Hypothese von solchen constanten Recensionen | setzt voraus eine grammatische oder dogmatische Bearbeitung. Eine dritte ist nicht möglich. Besonders in den Evangelien hat es im weiteren Sinne eine dogmatische Bearbeitung gegeben, indem sie sich einander ergänzt und so also eine 10 PnurS] oder PumS 7 KD1 II 1 § 44 (KGA I/6, S. 278) 14 KD1 II 1 § 46 (KGA I/6, S. 278) 18– 28 Vgl. Stolpe: „Diese ganze Erhaltung der Neutestamentlichen Handschriften bis zur Buchdruckerei ist ein geschichtliches Factum, es giebt daher einen localen und Zeitzusammenhänge zwischen ihnen. So unterscheidet man Lesarten, die aus einer gewissen Zeit abstammen, ältere und jüngere. Eben so giebt es gewisse Gesetze der Verbreitung der Handschriften in so fern sich an verschiedenen Orten bestimmte Schulen bildeten, die ihre eigenthümliche Art von grammatischen Ansichten haben. Dies die zusammenhängende Ansicht von jenem an und für sich Chaotischen der Handschriften. – Es haben sich hiermit besonders englische deutsche und niederländische Kritiker beschäfftigt: wir müssen jedoch ihre Leistungen nicht für vollkommen ansehen.“ (S. 225)

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dogmatische Richtung gehabt haben. Im engern Sinne ist aber dogmatische Bearbeitung nicht denkbar, daß man einiges sollte hinausgeworfen haben, weil es heterodox schien oder umgekehrt. Ein eigentlich grammatischer Gesichtspunct, wornach die Recensionen gemacht ist auch nicht recht denkbar; denn woher die vielen Fehler? Die Kirchenväter schrieben besser und konnten also den Text verbessern. Etwas Wahres muß bei der Hypothese zum Grunde liegen, aber so wie sie jetzt da liegt muß man sie nicht für eine ausgemachte und völlig abgeschlossene Untersuchung halten und sie kann bei einer neueren Bearbeitung immer noch anders werden, als es in dieser Semmlerschen Schule bestimmt ist. Das Verständniß des Canon, das Resultat der aus den besonderen Verhältnissen des Neuen Testaments näher bestimmten Regeln der Auslegungskunst, dann das Resultat aus den Untersuchungen der höheren und niederen Kritik und wie wir immer voraussetzen können, daß uns viele Bedingungen des vollkommenen Verstehens fehlen, das ganze Verständniß des Canon kann niemals vollendet werden. Es ist ein Verfahren was durchaus seiner Natur nach nur approximativ seyn kann und wenn auch alle Puncte richtig sind, so fehlt doch immer apodictische Gewißheit. Das eigentliche Ziel der Auslegung (§ 31.) nemlich die genaue Nachconstruction des Zustandes, in welchem der Schreibende gewesen[,] ist etwas was wir nie als völlig abgeschlossen ansehn können beim Neuen Testament. Die Neu Testamentische Auslegung ist also etwas, woran alle Theologen aller Zeiten immer noch etwas zu bessern haben werden. Was hat bei diesem Zustande der Wissenschaft der Einzelne zu thun? | Er muß natürlich die Operation niemals auch bei sich als vollendet ansehen. Die Auslegung hängt immer noch ab von gewissen allgemeinen Ansichten die immer noch hypothetisch bleiben. Zuerst muß man sich also hüten, sich fest in eine solche Ansicht hineinzubannen und die Skepsis ist immer dabei anzuwenden. Von irgend einer Ansicht muß man ausgehen, sonst hat man kein allgemeines Bild, das man zum Grunde legt und es werden ihm viele Momente entgehen und seine Auslegung wird schwanken. Von einer solchen Ansicht muß 10–11 Johann Salomo Semler (1725–1791), seit 1753 Professor der Theologie in Halle, wo Schleiermacher 1787 bis 1789 studierte, hat, dabei wichtige Anregungen und Vorarbeiten von Johann Albrecht Bengel (1687–1713) und Johann Jakob Wettstein (1693–1754) aufnehmend, die neutestamentlichen Codices beschrieben und nach unterschiedlichen Textrezensionen kategorisiert, vor allem in den Bänden 3 und 4 seiner „Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik“ (Bd. 1–4, Halle 1760–1769). Diese kritische Arbeit am Text des Neuen Testaments wurde vor allem von Johann Jakob Griesbach (1745–1812) fortgesetzt, der u. a. bei Semler studiert hatte. 12 KD1 II 1 § 47 (KGA I/6, S. 278) 20 Vgl. KD1 II 1 § 31 (KGA I/6, S. 276,14–20)

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also jeder provisorisch ausgehen. Nun muß man Acht haben auf dasjenige, was sich darunter fügen will und was sich nicht fügen will. Was nicht paßt, muß man alles zusammenfassen und so kann man vielleicht auf eine neue, bessre Ansicht kommen. Man muß also in der Auslegung immer unterwegs bleiben. Dieses beständig Unterwegsbleiben gilt von dem ganzen Lebenslauf eines Theologen. Die Schrift muß doch seine besondere Beschäftigung bleiben, er versire in welchem Theile er wolle und sie soll es immer auf eine eines wissenschaftlichen Mannes würdige Weise. Am wenigsten darf man glauben daß hier der academische Unterricht etwas vollenden könnte. Der sollte nie streben, etwas zu vollenden, sondern nur in der Kunst fortzuschreiten und dasjenige zu erhalten, was zur exegetischen Production gehört. Auch hier ist ein großer Zwiespalt zwischen der Tendenz des academischen Unterrichts und zwischen denen welche den Eingang in das practische Gebiet hüten; denn diese sehen auf die unmittelbare Praxis und so kann die größte kritische Vorsicht ihnen nicht genügen, sondern sie werden von dieser oder jener Auslegung eine bestimmte Antwort und Entscheidung verlangen. Darnach sollte man nicht fragen, sondern nur ob jemand die Mittel hat, sich eine feste Ansicht wo es Noth thut zu verschaffen. Der Studirende muß auf die höchste wissenschaftliche Stufe ausgehen und kann sich an die | beschränkten Ansichten nicht kehren. Was Gemeingut aller Theologen seyn soll, hat überall Priorität, aber indem auch dasjenige, was zur Virtuosität gehört auch auf Princi9 KD1 II 1 § 48 (KGA I/6, S. 279) 23–5 Vgl. Stolpe: „Die besondere Art und Weise unsers akademischen Unterrichts ist keineswegs die einzige Art, wie solche Grundlage erworben werden kann: der strenge Gegensatz davon findet ja in England Statt: wo die Vorlesungen ganz etwas Zufälliges sind: das Wesentliche aber die Anleitung zum allgemeinen wie besonderen Studium. Wir haben auch etwas dergleichen[:] die wissenschaftlichen Seminarien in jeder Disciplin. Das Eigenthümliche der Vorlesungen kann nur darin bestehen, daß sie die Principien genetisch entwickeln: wogegen die Verfahrungsart bei uns immer nur auf Wenige beschränkt sein kann. Diese Seminarien sollen nun die Virtuosität für die eine oder andre Disciplin anleiten. [...] Die Folge, in welcher die verschiedenen Elemente der exegetischen Theologie hier entwickelt worden sind, muß man nicht [für] einerlei halten mit der Folge, worin das Studium am besten getrieben werden kann. Hier müssen wir von der Frage | ausgehen: wie die beschaffen sind, die zum akademischen Unterricht kommen. Eine gewisse Vorübung und Vorkenntniß haben wir hier vorauszusetzen. In Bezug auf die Sprachkunde setzen wir voraus: in der allgemeinen Bildung der Gymnasien ist eine gewisse Kenntniß des klassischen Griechisch nothwendig, das hellenistische Griechisch wurde nicht gefordert. Früher war es anders: da hielt man aber das griechische Alterthum durchaus für kein Bildungsmittel. Bei uns ist das also ein bedeutender Fortschritt: daß das Griechische dem Lateinischen gegenübersteht. Das Neutestamentliche Griechisch überlässt man ganz der Behandlung auf der Universität. – Dies eine Unbequemlichkeit: da wir nur praktische Vorlesungen haben: man müsste eigentlich bei den Vorlesungen auf alle Abweichungen der Structur vom klassischen Griechisch Rücksicht nehmen. Das Wünschenswertheste wäre, wenn

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§ 49. § 50.

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pien beruht, so muß auch dies seine Anfänge im gemeinschaftlichen Anfange des Ganzen haben, d. h. schon im ersten Studium muß sich eine PgewisseS Richtung auf Virtuosität richten. Wer also dazu Neigung fühlt, bei dem wird sie sich auch schon auf der Academie entwikeln und er muß sich also die besonderen Mittel dazu verschaffen. Geht noch von dem besonderen Materialen dieser Disciplin auf die allgemeinen Principien zurük, um diese auch daran zu bewähren. Das religiöse Interesse und der wissenschaftliche Geist müssen sich vereinen diese theologische Wissenschaft zu construiren. Daß sich ohne religiöses Interesse kein Studium des Canons denkbar ist, ist natürlich. Denn wen das religiöse Interesse nicht treibt, den kann die Sprache nicht bewegen, sich daran zu machen und überdies ist der Canon zu fragmentarisch, als daß er ein Studium für einen solchen seyn sollte, der kein religiöses Interesse daran hat. Das bloß polemische Verfahren gegen den Canon ist auch nur immer sehr oberflächlich, denn ein recht tiefes Eingehen ist nicht nothwendig dazu, das ist nur nothwendig sie zu widerlegen. Das religiöse Interesse bedarf nun, wenn es zu seinem Ziele gelangen soll, des philologischen Geistes und um so nothwendiger, je größer die Schwierigkeiten sind, Schwierigkeiten, bei denen, weil die Ausbeute so klein ist für die Philologie, die Philologie nie aushalten würde 9–10 Daß sich ohne religiöses Interesse kein Studium des Canons denkbar ist] Kj Daß ohne ... denkbar ist oder ... Daß sich ... denken läßt 17 sie] verstehe vermutlich die Polemik oder ‚diejenigen, die das bloß polemische Verfahren praktizieren‘ die Grammatik ex professo behandelt würde, daß da auf dieses Eigenthümliche Rücksicht genommen würde nicht was je auf allgemeine Weise Statt finden könnte, aber das Neue Testament auf die Schulen zu bringen, ist unpassend. – Es ist dies durchaus dem Privatfleiße überlassen. Vor der Exegese muß durchaus Einleitung ins Neue Testament und Hermeneutik vorausgehen. In Bezug auf das Erste kann nichts vorausgesetzt werden. In dieser Disciplin muß aber mehr enthalten sein von der Realkenntniß des Neutestamentlichen Zeitalters, dagegen müßte das Kritische mehr zusammengezogen sein: welches sehr oft über das Allgemeine hinausgeht. Was die Theorie der Auslegung betrifft, so wird freilich manches davon schon vorgekommen sein, aber doch nur unter einer unzureichenden Form, nämlich von einzelnen Observationen. Wenn nun jeder Theologe sich sein Verständniß des Kanons selbst bilden soll, so muß auch das Geschäfft der Auslegung von jedem kunstmäßig betrieben werden: die eigentliche Specialhermeneutik ist eigentlich nur Anwendung der allgemeinen Hermeneutik auf das besondere Studium des Neuen Testaments. Entweder kann nun die allgemeine Hermeneutik für sich vorgetragen und hernach die Specialhermeneutik des Neuen Testaments darauf gebaut werden: dann kann man beides mit einander vereinigen und zwar auf verschiedene Weise so daß die allgemeine Hermeneutik zum Grunde gelegt, in allen einzelnen Fällen aber gleich auf das Besondere gesehen wird oder 2. daß die Specialhermeneutik Typus ist und die allgemeinen Sätze als Lemmata vorgetragen werden. Das Natürliche ist hierbei immer das erste. Erst in Bezug auf beides kann eine Theilnahme an der Auslegung Statt finden.“ (S. 225f) 6 KD1 II 1 §§ 49–50 (KGA I/6, S. 279)

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ohne lebendig religiöses Interesse und mit dem religiösen Interesse und wenn es auch das allerhöchste ist, kann man ohne philologischen Geist nichts thun in dieser Wissenschaft. Ohne den wissenschaftlichen Geist kann alle Beschäftigung mit dem Canon nur asketische seyn, die subjective Erbauung kann befördert | werden, aber was der Canon objectiv wirken soll, das kann er ohne philologisches Interesse nicht. Durch das Zurükziehen also des philologischen Interesses geht das wahrhaft Theologische verloren und durch das Zurükziehen des religiösen Interesses das wahre Christenthum.

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Zweiter Abschnitt. Von der historischen Theologie im engern Sinne oder der Kirchengeschichte. Der Gegenstand der geschichtlichen Behandlung ist hier alles dasjenige, was das Christenthum geworden ist und gewirkt hat. So scheint der erste Abschnitt die Kenntniß des Urchristenthums nicht subsumirt zu werden, ausgeschlossen durch die geschichtliche Behandlung. Aber die Kirchengeschichte ist auch nicht berechtigt da anzufangen, wo das Urchristenthum aus ist, weil keine Grenze da. Die erste Behandlung fängt also natürlich mit dem Entstehen des Christenthums an. Was den Unterschied betrifft, zwischen dem was das Christenthum geworden ist und gewirkt hat, so scheint das mit hineinzuziehen etwas Aeußeres, was nicht zum Christenthum gehört. Es ist so, wie man in jedem organischen Wesen ansehen kann die Bewegung und die Organe und bei der Unterscheidung geht das eine mehr auf dasjenige, was als die innere Begründung, das andre mehr auf dasjenige, was als das Consolidirte des Christenthums anzusehen ist. Wie sind Einheit und Vielheit verbunden und wie verhalten sie sich? Die Vielheit muß immer unbestimmt und unendlich seyn, sonst 13 KD1 II 2 § 1 (KGA I/6, S. 279) 20–26 Vgl. Stolpe: „Das Wirken des Christenthums ist ein Extensives und ein Intensives. Gehört nun die Wirkung nach außen auch in die Kirchengeschichte? unmittelbar nein: weil das keine Veränderung der Kirche selbst ist. Was sich im Gebiete verändert, gehört in die Kirchengeschichte hinein: aber die Wirkungen nach außen sind nicht etwas an und in der Kirche selbst. | Auf der anderen Seite wird man sagen: wenn ich Vorstellungen bekomme, worin nicht die Wirkungen nach außen berechnet sind, so wäre das etwas Unvollständiges: nun giebt es aber hier eine Rückwirkung nach [Kj: von] außen auf die christliche Kirche selbst. Warum ist nun beides hier von einander geschieden? um das lebendige Ganze des Christenthums recht darzustellen. In so fern das Ganze rein für sich betrachtet wird, geht alles aus von der Wirkung der einzelnen Functionen des Lebens auf einander: alles Werden und Gewordensein beruht nur darauf.“ (S. 226f) 27 KD1 II 2 § 2 (KGA I/6, S. 280)

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ist schon Einheit darin, die Einheit muß unzertrennbar seyn, sonst liegt eine Vielheit darin. Bei allen endlichen Dingen muß also beides seyn und wir können dann auch jedes Ding als beides ansehen. Wenn wir das Wesen eines Ganzen verstehen wollen, so müssen wir es als Eins betrachten und es als Eins trennen von allem andren. Vollkommen können wir jedoch nicht aus dem Ganzen heraustreten, denn wenn | man eine Anschauung isolirt, so ist diese immer in Verbindung mit andren Anschauungen. Eben so ist jedes ein unendliches Aggregat von unendlichen kleinen einzelnen Theilen und hier wieder die Aufforderung, daß die Betrachtung nicht vollendet seyn, bis wir nicht in das unendliche Kleine hineingegangen sind, was nie vollendet werden kann. Es könnte scheinen, als ob sich dies bezöge auf die innere und die äußere Seite des Gegenstands, man könnte sagen, das Innere ist die Einheit, das Aeußere die Vielheit. Aber das ist doch nicht so. Wenn wir uns auch die wirksame Kraft des Gegenstands, das Innere, isoliren, so müssen wir sie doch spalten und eben so ist das Aeußere freilich als mannigfaltig uns gegeben in Zeit und Raum. Aber auch das Aeußere müssen wir wieder als Einheit setzen und so schneiden sich diese Eintheilungen. Die geschichtliche Behandlung besteht darin, PdaßS sowol die innerliche Entwikelung als die äußerliche Gestaltung jedes von beiden in seiner innern Einheit und in seiner unendlichen Vielheit betrachtet werden, beides nicht von einander getrennt, sondern überall verbunden. Indem wir also den Gegensatz wieder aufnehmen von einer Einheit, die den ganzen Gegenstand begreift und von einer unendlichen Vielheit worin er PverfälltS, so müssen wir fragen, was ist denn in beiden das Qualitative? Das ist nichts anders als die Thatsache. Das ganze Christenthum läßt sich ansehen als Eine Thatsache und als ein Unendliches von Thatsachen und es kommt also nun auf diesen Begriff an. Das Wesen einer Thatsache besteht darin daß ein äußeres, welches eben so fern eine Veränderung seyn muß, mit einem Inneren, welches 24 KD1 II 2 § 3 (KGA I/6, S. 280) 30 Vgl. Stolpe: „[...] Thatsache: diese wird beschrieben als Identität von Äußerm und einem Innern, jenes wird beschrieben als die räumliche Veränderung, dieses als die lebendige Function der Kraft. – Daß in allem Geschichtlichen eine solche Identität das Wesentliche ist klar, denn ohne ein äußeres Hervortreten giebt es keine Geschichte. Man muß aber nothwendig etwas Innerliches dabei voraussetzen: ohne welches man nur ein unendliches Aggregat von Einzelnem ohne allen Zusammenhang hat. [...] Die Kraft, die betrachtet wird, ist hier keine andre, als die wir dem Christenthum zuschreiben für die von Christo ausgehende geistige Kraft. Nämlich es ist immer die Kraft selbst das Innere aber nur in einem bestimmten Moment gedacht, nicht an und für sich: denn dann ist sie der in allen Momenten gleiche Grund des geschichtlichen Verlaufs. Im Allgemeinen wird nun hier gesagt: in jeder Thatsache sei dies beides identisch. Einen geschichtlichen Gegenstand giebt es gar nicht wofern man nicht auf die Kraft Rücksicht nimt[,] das was also Thatsache ist, nicht bloß Begebenheit.“ (S. 227)

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eben eine Kraft seyn muß, identisch gedacht wird. Setzt man eine Kraft ohne Veränderung, so ist keine Thatsache gesetzt, sondern bloß die Möglichkeit dazu, setzt man die Veränderung ohne Kraft, so ist auch keine Thatsache, sondern | bloß ein Problem, ein sinnliches Bild. Das ist also die Construction aller Elemente in der geschichtlichen Behandlung. Was darin soll aufgenommen werden, muß Thatsache seyn, das Verstehen des Veränderlichen aus der Kraft. Wir haben also zweierlei, was in der Geschichte zusammen ist, und wenn es getrennt ist, gar nicht Geschichte ist. Isolirt sich einer den Begriff, so kommt das heraus, was wir philosophische Theologie genannt haben. Wenn wir auch alle Veränderungen an einander reihen, so haben wir doch keine Geschichte. Wenn wir uns denken, das Christenthum ist nirgend andres, als in den einzelnen Menschen, so ist überall das Aufeinanderfolgen im Umfang der Kirche eine Veränderung, aber ist solche ein geschichtliches Moment? Das ist gar kein geschichtliches Element. Dies ist nur die nähere Bestimmung von § 2. Alle diejenigen Elemente, die nicht geschichtlich sind, müssen wir ausschließen von dem Aggregat von Anschauungen. So wie aber die Aneinanderreihung der Kraft etwas war, nemlich die philosophische Theologie, so ist auch die Aneinanderreihung der räumlichen Veränderungen etwas, aber nicht Geschichte, sondern ganz außerhalb derselben Liegendes. Wer dies auch in der größten Vollständigkeit inne hat, der hat doch noch gar keine Geschichte. Der Unterschied zwischen demjenigen was geschichtliches Element ist und nicht, fällt dann ganz weg. Wenn ein Fürst stirbt, und ein andrer folgt, so ist das eine Veränderung für die Chronik, aber nicht Thatsache; diese wird es nur dadurch, daß in beiden die Function der Kraft eine verschiedene ist. In der Kirchengeschichte geht beides noch weiter auseinander, als irgendanderswo und indem wir die geschichtliche Behandlung als Theologische Disciplin ansehen, so müssen wir hier ganz und gar Chronik ausschließen. Denn von dem Interesse aus zu wirken entsteht gar nicht die Frage nach Veränderungen. Wenn wir die Geschichte für sich als Wissenschaft betrachten, so können wir beides nicht so genau trennen. Wer sich für einen guten Historiker ausgiebt, von dem verlangen wir auch das Chronologische. Zur theologischen Disciplin | kann es gar nichts andres seyn als Hülfswissenschaft, Apparat und Vorarbeitung. Von hier aus kommen wir dahin uns näher zu orientiren, auf welche Thätigkeit es eigentlich bei dieser Disciplin ankomme. Man sieht 12 das] daß 11 KD1 II 2 § 4 (KGA I/6, S. 280) 38 KD1 II 2 § 6 (KGA I/6, S. 280)

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oft die Geschichte an als Sache des Gedächtnisses. Das ist sie aber nun ganz und gar nicht. Die äußeren Veränderungen im Bewußtseyn zu behalten, ist Sache des Gedächtnisses und in wie fern es bloß die äußeren Veränderungen sind, ist das eine mechanische Fertigkeit. Das ist gar nichts von der Geschichte sondern nur der äußere Rahmen. Von der anderen Seite kann es ein geschichtliches Wissen geben, welches mit einem minimum von dieser mechanischen Fertigkeit verbunden ist z. B. kann jemand eine lebendige Anschauung haben von dem Wesen eines Volks ohne daß dieses Wissen fest und sicher gebunden ist an ein fortlaufendes Wissen der äußeren Veränderungen. Deßwegen ist seine geschichtliche Anschauung doch immer geschichtlich. Denn was ihm fehlt ist bloß äußerlich und kann alle Augenblicke äußerlich erworben werden. Beides zu verbinden, an dem Faden der äußeren Veränderungen hineingehen in die Function der Kraft das ist das Talent. Es ist dies Talent unterschieden vom eigentlich Philosophischen, welches das Successive im Lebendigen vernichtet und alles auf einen Schlag sieht, wogegen dies darin besteht, das Successive aufzufassen und jedes in seiner lebendigen Entwikelung. Nun entsteht die Frage, wie sich das wiederum verhält was sich ein jeder aneignen muß oder nur einige? Es ist dies ein Talent, das jeder hat. Keiner wird ohne Reflexion und diese ist nichts andres, als in seinem eigenen Daseyn ein beständiges Zurüksehn von dem Aeußeren auf das Innere, kein Mensch wird, ohne daß er sich durch diese Beobachtung der Function der Kraft seiner selbst bewußt wird. Jeder lernt sein Inneres nur aus seiner geschichtlichen Entwikelung kennen. So ist also das geschichtliche | Talent in jedem nothwendig involvirt. Von dieser Seite kann also niemand sagen, daß er kein Talent habe. Freilich ist dies wieder unendlich verschieden, so wie auch der Gegenstand ein unendlicher ist. 19 KD1 II 2 § 7 (KGA I/6, S. 280) 20–26 Vgl. Stolpe: „Man macht oft den Unterschied und es ist auch etwas Wahres darin zwischen solchen Talenten, welche man bei jedem voraussetzen kann und solchen, die etwas Specielles sind: doch ist dies nur ein gradweiser Unterschied. Wenn nun das Historische überwiegend auf jene Seite gehörte, so könnte dies nur eine besondere Bedingung sein: der Theologe müsse außer dem lebendigen Interesse und dem wissenschaftlichen Geiste noch das historische Talent besitzen oder wir müssen sagen: es kann nicht von allen bearbeitet werden, sondern sei einer Virtuosität anheimgestellt. Die Hauptsache ist nun die Verknüpfung des Äußeren mit dem Innern, also die Nachbildung des Innern mittelst des Äußern. In allem Verkehr mit den Menschen wird uns ursprünglich nur das Äußere gegeben; was wir haben wollen, ist immer etwas Inneres. Wenn ich sage: es ist die geschichtliche Existenz des Einzelnen selbst das dieses [scilicet: Talent; KGA I/6, S. 280,24f] entwickelt, so meine ich die geschichtliche Form seines eigenen Daseins. Es wäre das die absolute Bewusstlosigkeit, wenn wir von jemanden sagen könnten, es fehle Einem gänzlich an der geschichtlichen Anschauung des eigenen Lebens: es ist also eine vollkommen allgemeine Basis.“ (S. 228)

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Das Christenthum hat sich offenbart und gestaltet durch Reflexion, durch Lehre und Bildung des gemeinsamen Lebens. Nur aus beiden kann man erkennen was im Gefühl, im unmittelbaren Selbstbewußtseyn ist. Das sind die beiden Thätigkeiten in welche das Christenthum als thätiges Princip ausgeht, die also auch im ersten Anfang zu finden seyn müssen. In ruhigen Zeiten müssen wir die Darstellung und Betrachtung trennen und daher ist das die Haupttrennung in der Kirchengeschichte im engern Sinne. Beim Beginn des Christenthums bildet die ungetrennte Betrachtung die exegetische Theologie auch in dieser Zeit, eben weil sich die Grenze nie ziehen läßt zwischen dem Ruhigen und Revolutionären, PundS ist nothwendig, daß immer beides zusammen ist. Die beiden Functionen § 9. Was wir historische Theologie im engern Sinne genannt haben ist Kirchengeschichte im weitern Sinne, die Kirche ist die Erscheinung des religiösen Princips in mehreren und also eine gemeinsame Existenz hervorbringend, sie ist als das religiöse Princip als Gemeinschaftstiftend anzusehen und ihre Geschichte ist nichts, als das Fortgehen der Thätigkeit dieses Princips. Die ganze geschichtliche Betrachtung des religiösen Menschen geht in die Betrachtung der Kirche auf. Die Kirche ist aber eben so wol die Gemeinschaft der Lehre als die des Lebens, im Begriff derselben ist beides 11 PundS] oder P)und*S 1 KD1 II 2 § 8 (KGA I/6, S. 280) 1–8 Vgl. Stolpe: „§ 8. Von hier geht die weitere Organisation unseres Gegenstandes an. Es ist hier die Haupteintheilung des Ganzen aufgestellt. Wir können hier die ideale und reale Seite unterscheiden. Es wird hier postulirt im Folgenden im Sinne zu haben daß alles, was in den geschichtlichen Verlauf gehört, unter einen dieser Puncte gebracht werden könne. Wenn wir uns also davon überzeugen können, daß es nichts anderes geben kann, als was in das Eine oder Andre gehöre, so werden wir mit desto größerer Zuversicht weiter gehen können. Zwischen diesen beiden und den beiden Ausdrücken Religion und Kirche findet nun ein offenbares Verhältniß Statt. Bei der Religion denkt man immer am meisten an religiöse Vorstellungen, bei der Kirche an ein bestimmtes gemeinsames Leben. Eine dritte Betrachtungsweise kommt hier nicht vor: das spricht sehr dafür, daß die Eintheilung eine richtige sei. Wenn wir nun auf die zu Grunde liegende Einheit sehen, so muß es klar sein, daß alles unter eins von diesen beiden muß begriffen sein. Bei solchen Duplicitäten muß man sich zuerst fragen, ob es nicht ein Drittes giebt, das beides zugleich ist. Das finden wir offenbar. Es ist ja eine Lehre von dem gemeinsamen Leben. Dies bringt die Frage hervor, ob es nicht etwas gebe, was auf | die andere Weise beides ist; da werden wir sagen müssen: daß ein Verkehr mit den religiösen Vorstellungen, ein Austausch derselben, ein Leben in Bezug auf die Lehre Statt finden muß. Sobald wir dies zusammengenommen denken: die Lehre als ein rein Objectives eben so die Lehre als ein Gewordenes hingestellt und nun den lebendigen Verkehr mit der Lehre und dann die Betrachtung des Lebens mittelst der Lehre: so haben wir ein vollkommen abgeschlossenes Ganze; die Lehre bildet sich nicht anders als durch den Verkehr, das Leben wird nicht anders als durch die Vorstellungen der Lehre.“ (S. 228f) 13 KD1 II 2 § 9 (KGA I/6, S. 281)

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nicht zu trennen und so scheint auch in der Geschichte beides nicht getrennt werden zu können. Indem beides im Begriff der Kirche liegt, so ist ein gegenseitiger Einfluß des Einen auf das Andre gesetzt. Das gemeinschaftliche Leben wird ein andres, wenn die Lehre eine andre wird. Auch die Lehre ist von dem Leben abhängig. Nemlich die Vorstellungen von dem z. B. was Recht ist und Unrecht, hängen offenbar von der Art ab, wie sich das Leben entwikelt hat. Sind Fehler in einer gewissen Zeit und Gegend herrschend, so ist auch das Gefühl des Fehlerhaften zurükgedrängt | und dann muß es auch in der Lehre anders hervortreten. Die Richtung nach der Reflexion und nach der unmittelbaren Thätigkeit d. h. die Richtung der Lehre und der Gemeinschaft ist nicht von einander zu trennen. Wenn wir das eine ohne das andre betrachten, so würden wir immer [ein] sehr unvollkommenes Verständniß haben. Wenn wir die Differenz der catholischen und protestantischen Lehre und auch die Entstehung recht schlicht begreifen und ganz davon abgehen, wie sich das Leben, wo die specifische Gestalt des Catholicismus und Protestantismus erscheint, gebildet, so wird der Begriff nie vollständig seyn. Es ist also ein beständiges Zurükgehen der einen Function auf die andre, auch bei der Betrachtung der einen, durchaus nothwendig und die Trennung, welche die Betrachtung der ruhigen Zeit fordert, kann nie absolut seyn. Trennen kann man aber es muß auch die Leichtigkeit da seyn zu der ungetheilten Betrachtung zurükzukehren und den Moment in seiner Lebendigkeit aufzustellen. Wenn solcher gegenseitiger Einfluß der einen Betrachtung auf die andre nicht statt findet, so wird alles nicht ein Geschichtliches sondern bloß die Schaale, die Chronik, die Geschichte ist verloren. Wenn wir davon ausgehen, daß wir trennen können, und wir betrachten dies in seiner Getrenntheit und diese Getrenntheit ist eine absolute, so können wir darin nicht die Identität der äußern Erscheinung und des Innern wahrnehmen und so gehört es bloß der Chronik an, es wird als Veränderung ins Gedächtniß aufgenommen. Wir haben gesehen, das religiöse Princip als eigenthümliche und selbstständige Kraft hat zwei Seiten, diese müssen wir sondern und verbinden, wenn wir geschichtliche Anschauung von seiner Erscheinung haben wollen. Nun ist aber das religiöse Princip selbst keine selbstständige Kraft, sondern nur eine Seite, worin sich eine Potenz des Intelligenzvermögens äußert. Wir müssen also nothwendig die andren Seiten des höheren Intelligenzvermögens dazu nehmen, weil die Beziehung darauf eben so seyn wird, als vorher | die Beziehung des äußern und innern. Die theologische Betrachtung ist die, daß das religiöse Princip als selbstständige Kraft nicht nur soll betrachtet werden, sondern es liegt ja auch der Theologie ein Zwek zum Grunde, ein Interesse, welches lediglich darauf beruht. Das religiöse Interesse ruht

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auf der Kirchenleitung, daß die Kirche immer mehr die reinere Darstellung des religiösen Princips werden soll. Heißt das nun es soll alles vernichtet werden, was in der Kirche Einfluß der andren menschlichen Vermögen ist? Das ist erstlich unmöglich und dann auch gar nicht zwekmäßig, weil das religiöse Princip erst recht durch Beziehung auf die andren Intelligenzvermögen klar wird. Das religiöse Princip muß eben alles was von anders woher in die Kirche kommt, rectificiren und in Uebereinstimmung mit sich bringen. Das ist das Geschäft der Kirchengeschichte was § 10. gesagt ist. Es muß unterschieden werden, was dem religiösen Princip und was andren Functionen zuzuschreiben ist. Es wird aber nichts Einzelnes, keine Thatsache geben, die als solche völlig rein Eins oder das Andre wäre, bloß eine Wirkung des religiösen Princips oder eine Wirkung einer andren Function, sondern in jeder Thatsache wird beides seyn. Es muß also alles zurükgeführt werden auf diese beiden Principe und der Antheil bestimmt werden, den das eine oder das andre darauf gehabt hat. Von der geschichtlichen Betrachtung müssen wir über das religiöse Princip hinausgehen und es in seinem Zusammenhange mit dem übrigen menschlichen Vermögen, welches auch hervorbringt geschichtliche Erscheinungen betrachten. Die ganze geschichtliche Anschauung in ihrem Zusammenhange beruht darauf, daß eine Vorstellung zum Grunde liegt von dem Antheile, den die übrigen Vermögen an dem Antheil des religiösen Princips nehmen können. Daraus entsteht | das geschichtliche Gefühl. Hiezu ist das Wesentliche § 11. 12. Nemlich wir gehen aus von der Theilung des religiösen Princips selbst in seine Haupttheile, in die Construction der Lehre und der Gemeinschaft. Was ist außer dem religiösen Princip dasjenige was am stärksten einwirkt auf die Lehre und was auf die Construction des Lebens? Hier dürfen wir nur auf die allgemeine ethische Betrachtung zurükgehen. Alles was Lehre ist versirt im Gebiet der Sprache und des Wissens und das wird also den meisten Einfluß ausüben auf die Construction der religiösen Lehre. Das zeigt sich auch überall ganz klar. Die Lehre ist nicht zu trennen von dem Ausdruk derselben, so wie Wort und Gedanke nicht zu trennen ist und die Terminologie der Dogmatik steht immer in genauem Zusammenhange mit der philosophischen Terminologie. Es giebt also nächst des religiösen Princips nichts andres, was einen so PbestimmtenS Einfluß ausübt auf die Lehre, als das Wissen des Menschen. Dasselbe findet man eben so leicht in Beziehung auf die andre Seite; denn da ist es eben so klar. Wenn wir sagen: das religiöse Princip 36–37 PbestimmtenS] oder PbestimmendenS 8 KD1 II 2 § 10 (KGA I/6, S. 281)

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geht aus auf die Construction eines gemeinsamen Lebens, so muß dies Leben auch ein Aeußeres haben, es ist zwar nach seinem Wesen nichts anders als die Mittheilung des religiösen Selbstbewußtseyns, diese Mittheilung muß eben durch etwas Aeußeres hindurchgehen. Das äußere Leben fällt aber dem Staat anheim und dieser geht zurük auf das politische Vermögen im Menschen und die Art, wie hier die Menschen constituirt sind, hat den größten Einfluß auf die Constitution des gemeinsamen religiösen Lebens nächst dem religiösen Princip. Dies in solcher Allgemeinheit aufgefaßt ist sehr leicht zu finden. Aber nun entsteht gleich ein ganz verschiedener Character der geschichtlichen Anschauung und Darstellung daraus, wie viel nun | quantitiv darin sey, das was vom religiösen Princip hergenommen und von andren Vermögen aufgefaßt wird und hierin liegt die innere Verschiedenheit, die wir in der Auffassung finden. Z. B. die scholastische Theologie besteht in einer eigenthümlichen Art und Weise die christliche Lehre auszubilden und darzustellen und es liegt dabei eine bestimmte eigenthümliche Art und Weise der Dialectik zum Grunde. In der Construction der Lehre müssen solche Einwirkungen statt finden. Nun sagt man: ja die scholastische Theologie ist in ihrer ganzen Form eine Wirkung der verschiedenen Art und Weise zu philosophiren der damaligen Zeit. Da können wir also die Thätigkeit des religiösen Princips nicht finden. Dieser Ansicht liegt ganz nahe, daß eigentlich das religiöse Interesse darauf gerichtet seyn solle, das wieder aufzuheben und das ist denn auch eine Maxime, welche aufgestellt ist und so daß man nicht sagen kann, man müsse das Eine oder das Andre hinauswerfen. Auf der andren Seite eine völlig entgegengesetzte Ansicht: Man sagt hier ist freilich eine bestimmte Art und Weise zu philosophiren, aber der Gegenstand ist doch kein andrer als das religïose Princip, also muß auch die scholastische Theologie in der Reihe der geschichtlichen Darstellung stehen bleiben, denn sie ist eine bestimmte Art gewesen der Aeußerungen des christlichen Princips, bedingt freilich durch die Art zu philosophiren. Es kommt also nur darauf an, beides zu trennen, um so zu finden, was aus dem Philosophiren hervorgegangen. Das sind die verschiedenen Arten der geschichtlichen Auffassung, welche von jeher statt gefunden, welche nothwendig richtig angesehen und gewürdigt werden müssen. Alles ist Product des Christenthums[,] die Philosophie und die Politik. Diese Ansicht ist der ersten Ansicht ganz entgegengesetzt. Eines ist so wahr als | das andre. Eben darum ist jede Ansicht von diesen einseitig. Die geschichtliche Wahrheit liegt nur in dem Zusammenfassen von beiden also in der Mitte. Diese drei Darstellungen muß man beständig gegenwärtig haben. Der Einfluß des Christenthums auf die wissenschaftliche und gesellige Constitution der neuern Zeit ist unverkennbar. Allein wenn man nun sagen

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will, das Christenthum allein und das religiöse Princip hat den geselligen und wissenschaftlichen Zustand hervorgebracht, so ist das gewiß falsch. Das religiöse Princip für sich allein constituirt keinen bürgerlichen Zustand, es führt gar nicht auf die Idee desselben, indem es auf seinem Gebiete einer äußerlichen Gewalt nicht bedarf. Schon daraus, daß die Kirche keine bürgerliche Gestalt PundS Gewalt hat, zeigt sich deutlich, daß dieses bürgerliche Leben nicht aus dem religiösen Princip hervorgegangen ist. Aber auf die Modification des bürgerlichen Lebens hat das Christenthum so viel gewirkt, so daß das Entstehen des Christenthums eine Epoche für die ganze Welt geworden ist. Eben so ist es mit der Wissenschaft. Das religiöse Princip bringt sie nicht hervor. Dazu müssen wir wiederum ein besondres Vermögen im Menschen haben und sobald das da ist, so müssen wir sagen wie vorher, daß das religiöse Princip auf die Modification den größten Einfluß gehabt hat. Wenn wir zurükgehen auf die erste Hälfte des vorigen Jahrhunderts so können wir verfolgen, wie die Behandlung der Kirchengeschichte sich von der einen Seite auf die andre geschlagen hat, ohne noch jetzt einen festen Sitz in der Kirche zu haben; denn die neologische Behandlung ging darauf aus, die ganze wissenschaftliche Form PdurchS Beziehung auf ein geltendes philosophisches System als bloß der Philosophie angehörend darzustellen, als gar nicht angehörend dem religiösen Princip. Dieselbe Behandlung ist noch stärker in der Geschichte der Hierarchie hervorgetreten, man hat sie darstellen wollen als hervorgegangen aus dem Mißgriff des Politischen und behauptet | daß das religiöse christliche Princip gar nicht in der großen Kirche sey, sondern bloß in den kleinen Parteien, die sich von der großen Kirche getrennt, bloß in der Subjectivität der Einzelnen. In der neuern Zeit finden wir Ansichten, die wieder auf das entgegengesetzte Extrem hindeuten, die ganze wissenschaftliche und politische Geschichte der kirchlichen unterzuordnen und ihnen gar kein selbstständiges geschichtliches Daseyn zu gönnen, sondern aus der kirchlichen Geschichte zu entwikeln. Aber so gut das seyn mag als Polemik und Gegengewicht gegen das andre Extrem, so übel ist es in der Darstellung der Kirchengeschichte, da soll gar keine Polemik seyn. Von beiden Extremen müssen wir uns also ferne halten und bloß auf die Mitte lossteuern. Wir haben gesehen: In der geschichtlichen Betrachtung müssen die verschiedenen Functionen des lebendigen Princips für sich betrachtet werden, daß die eine von den beiden Hauptfunctionen, die ideale ohne die reale in keinem Moment ihrer lebendigen Thätigkeit anzu6 PundS] oder PderS

20–21 Form PdurchS] oder Form, PdieS

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§ 13.

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§ 14.

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schauen ist (§ 9.) und daß die Entwickelung des religiösen Princips nicht zu verstehen ist ohne die Gestaltung des wissenschaftlichen Princips und der Gemeinschaft mitzuverstehen, so geht daraus hervor § 13., daß der geschichtliche Verlauf nur erkannt werden kann durch die vielseitigste Combination beider Verfahrungsarten, indem jede das nothwendige Supplement der andren ist. Hier können auch wieder verschiedene Darstellungen seyn. Es wird solche geben, die sich mehr an der eigentlichen geschichtlichen Entwickelung der einzelnen [Function] halten und nur andeuten, was der andren zufällt und es wird solche geben, welche mehr darauf ausgehen, die geschichtliche Anschauung gerade durch das Zurükgehn auf das alles Verwandte zu betrachten und es dem Leser überlassen, sich den Faden zu bilden. Diese werden Verschiedenes leisten. Den geschichtlichen Verlauf wird man mehr aus den ersten lernen; zur eigenen geschichtlichen Thätigkeit angeregt werden, das werden mehr die letzten leisten. | Die meisten Darstellungen werden aber überwiegend den ersten Character an sich tragen. Das überwiegende Betrachten des Christenthums in der Abhängigkeit sowol jeder Function von der andren als der Abhängigkeit des Ganzen von andren menschlichen Vermögen, das wird immer nur statt finden in einzelnen geschichtlichen Darstellungen und da ist dieses Verfahren ganz an seiner Stelle. Betrachtung der beiden Haupttheile der historischen Theologie im engern Sinne, der Kirchengeschichte im engern Sinne und der Dogmengeschichte, der Geschichte des christlichen Lebens und der Entwikelungsgeschichte der christlichen Lehre. Zuerst von der Kirchengeschichte im engeren Sinne.94 Man muß sie eben doch so bezeichnen, weil (§ 9.) die Kirche eben sowol die Gemeinschaft der Lehre in sich schließt als des Lebens. Dies also vorausgesetzt, werden die beiden Hauptbestandtheile dieser Disciplin aufgezählt. Es kommt dabei an auf die Bildung des christlichen Lebens überhaupt in wie fern das Christenthum ein auf die Gestaltung des ganzen geistigen Daseyns des Menschen seinen Einfluß äußerndes Princip ist und das fassen wir am besten zusammen in dem Begriff der Sitte dann kommt es an auf die Bildung des Cultus, d. h. auf die Bildung der gegenseitigen Mittheilung der religiösen Zustände, in wie fern das Leben des Einzelnen von dem Ganzen und das Leben des Ganzen von dem Einzelnen ausgeht. Beides verhält sich wie das mehr 94

(Von der Entwickelungsgeschichte der christlichen Lehre § 26.)

1 KD1 II 2 § 9 (KGA I/6, S. 281) 4 KD1 II 2 § 13 (KGA I/6, S. 281) 22 KD1 1 II 2 § 14 (KGA I/6, S. 281) 27 Vgl. KD II 2 § 9 (KGA I/6, S. 281,1–5, bes. 1f) 38 Vgl. KD1 II 2 §§ 26–35 (KGA I/6, S. 283,14–284,24)

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Materielle zu dem mehr Formellen. Das ganze Leben wird hier als der Stoff angesehen, in welchem sich das religiöse Princip manifestirt, es wird als das gestaltende Princip betrachtet und dieses gennetisch und geschichtlich angesehen ist die Geschichte der Sitte, wie sie durch das Christenthum geworden ist, die bestimmte Art und Weise, wie sich das gemeinsame Leben durch das Christenthum gestaltet hat. Der Cultus ist die Form wie überhaupt das religiöse Princip ein gemeinschaftliches wird und sich als gemeinschaftliches darstellt. In dem Cultus | ist das Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen und umgekehrt ausgedrückt. Man kann auch sagen, was den Inhalt des Cultus ausmacht, das ist die Aeußerung religiöser Zustände, das Aeußerlich werden eines Innerlichen und so wird es etwas Gemeinschaftliches. Die religiöse Gestaltung des Lebens ist auch ein Aeußerlichwerden des Inneren, welches sich hier durch die That äußert, wie im Cultus durch Kunstelemente. Dies ist diejenige Betrachtungsweise auf die sich § 15. bezieht. Die Theilung kann nur relativ seyn, denn beides geht wieder in einander auf. Der Cultus ist nichts andres als ein Theil der christlichen Sitte und auf der anderen Seite kann man das ganze christliche Leben ansehn als fortgesetzten und erweiterten Cultus. Der Cultus soll erbauen und das gemeinschaftliche christliche Leben auch. Daher wird hier die Trennung schon viel unvollkommener und es muß häufig von dem einen auf das andre zurükgegangen werden. Auf eine andre Weise ist dies nach § 16. Wenn wir uns jedes in seinem besonderen Begriff denken, so muß doch beides immer mit einander gehen, wenn nicht jedes verlieren soll. Wenn es irgendwo einen Cultus gäbe ohne christliches Leben, so wird man offenbar gleich fühlen, daß in solchem Zustande auch der Cultus nicht erbauen kann, denn wenn er erbaute, so müßte es sich im Leben äußern, er ist nur Ceremonie oder Superstition alsdann. Wenn man sich eben so ohne allen Cultus ein religiöses Leben denkt, so ist zweifelhaft, ob das Leben wirklich religiös sey, oder bloß der Schein. Ist es das religiöse Princip, was die Erscheinung hervorbringt, so muß auch das Bedürfniß der gegenseitigen Mittheilung seyn. So bald dieses Bedürfniß nicht da ist, kann das religiöse Leben nicht aus diesem Bedürfnisse erklärt werden und es ist nur noch die todte Sitte, der durch gewohnte Sitte fixirte Ueberrest eines gewesenen religiösen Lebens, oder es ist nur das Resultat einer bestimmten geselligen Modification. Was man im allgemeinen sagen kann, muß man auch von der geschichtlichen Fortschreitung | sagen. Die Fortschreitung des Einen ohne das Andere kann keine wahre seyn. Eines ist immer das natürlichste Maaß des andren. In jeder geschichtlichen Darstellung eben weil sie eine empiri15 KD1 II 2 § 15 (KGA I/6, S. 281)

23 KD1 II 2 § 16 (KGA I/6, S. 282)

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§ 15.

§ 16.

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§ 17. 18

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sche ist, kommt alles darauf an, daß man das rechte Maaß finde und man muß auch in diesem Gebiete beständig von dem Einen auf das Andre zurükgehen, weil das Eine das Maaß des Andren ist. Es könnte gesagt werden: es ist unvollständig, die Kirchengeschichte in die Geschichte des Cultus und des religiösen Lebens einzutheilen, denn da fehlt noch die Geschichte der Verfassung. Allerdings der Cultus setzt gewissermaßen eine Verfassung der Kirche voraus. Aber die Verfassung selbst ist doch etwas andres, sie ist nicht der Cultus. Es ist nun aber wol bei näherer Betrachtung sehr leicht zu sehen, daß das Eigenthümliche der kirchlichen Verfassung darin liegt, daß sie nicht allein für sich ist. Wäre sie das, so wäre sie ganz in der Analogie der bürgerlichen Verfassung. Diese ist etwas andres, als das bürgerliche Leben, die bürgerliche Sitte. Das liegt aber darin, daß die bürgerliche Verfassung ruht auf der Constitution einer äußeren Gewalt. Das darf aber in der Kirche gar nicht seyn, denn solche Verfassung wäre dann nicht das Product des religiösen Princips, sondern des politischen. Ist aber die Kirchenverfassung nicht äußerlich sanktionirt, so fällt auch aller Unterschied zwischen der Sitte und ihr fort, sie ist dann nur integrirender Theil der Sitte. Wenn wir nun den Zustand der geschichtlichen Behandlung nach dieser Eintheilung betrachten, so ist freilich wahr, daß größtentheils eine große Ungleichförmigkeit statt findet und was wir als die [eine] 4 KD1 II 2 §§ 17–18 (KGA I/6, S. 282) 9–19 Vgl. Stolpe: „§ 17. Wenn wir uns eine theokratische Verfassung denken (Mosaisch. Islam) da ist die kirchliche Verfassung ein äußeres Gesetz und alle Elemente derselben sind nicht von der politischen Constitution zu sondern[;] hier ist also eine äußere Sanction oder im Mosaismus äußerliche Strafen für Vergehungen die gar kein bürgerliches Gesetz haben. Wenn wir uns nun die kirchliche Verfassung unter der Form der Hierarchie denken so gilt darin das selbe eine äußerliche Sanction. Nun müssen wir auch dies als eine nichtchristliche Form ansehen, denn Christus selbst hat die Trennung der kirchlichen Gesellschaft und der bürgerlichen vollkommen ausgesprochen [vgl. Mt 22,21; Joh 18,36]. Wenn wir uns nun eine ganz rein kirchliche Verfassung denken deren Verhältniß zum bürgerlichen Regiment doch auf bestimmte Weise geordnet ist, so könnte man sagen da wär ja auch eine Äußere Sanction. Aber dies wäre nur eine unvollkommene Verfassung der Kirche. Allein dies ist nicht so gemeint[,] ein solcher Zustand im Staat ist nur außen Sanction in Beziehung auf den Staat nicht auf die Mitglieder der Kirche selbst und davon bin ich hier ausgegangen. Wir finden daß es von Anfang an in der christlichen Kirche bestimmte Ordnungen gegeben hat und nur der Complexus dieser Ordnungen ist die kirchliche Verfassung. Wir finden nun niemals daß das Fortbestehen der kirchlichen Verfassung in demselben Zustand irgend einen äußerlichen Stützgrund hätte, denn so wie jemand eine Unvollkommenheit in dieser Ordnung entdeckt so ist es Pflicht dessen dies kund zu thun und wenn dies anerkannt wird hier zu ändern. Daher sind alle Veränderungen in der Kirche mehr auf allmählige Weise entstanden. Und eben darin liegt dies, daß ein jeder was er für das Beste hält auch gleich anfangen kann es mit Bewilligung der andern zu realisiren. Sowie sich nun die Sitte allmählig ändert so auch muß der Weg wie sich die kirchliche Verfassung ändert.“ (S. 232)

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Hälfte ansehen, die geschichtliche Ansicht von der Entwiklung des Lebens, das geht fast gar nicht hervor, sondern die meisten versiren bloß in der Geschichte der Verfassung und äußeren Umstände. In so fern also ist die Disciplin noch in einer unvollkommenen Gestalt, und wir bedürfen noch einer ganz neuen Entwickelungsepoche dieser Disciplin. So bald ist dies aber nicht zu erwarten, weil die äußeren Relationen noch zu lebendig sind. Wenn die werden mehr aufgehört haben, wird man mehr in das Innere gehen können. | Die Gewalt des religiösen Motivs weist die andren Motive mehr und mehr zurük. Die Betrachtung des Zustands muß zum Grunde gelegt werden in welchem ein Volk sich befand, als das Christenthum es durchdrang. In wie fern nun sich deutlich von einander trennen muß was aus dem religiösen Princip hervorgegangen ist, und was nur die Wirksamkeit andrer Motive ist, indem dies nothwendig hervortreten muß, so leistet die historische Theologie auch was sie als theologische Wissenschaft leisten muß, sie lehrt, was aus der Kirche hervorgegangen ist und was von andren Motiven gekommen ist, von welchen letzteren sie sich reinigen muß. Das ist die geschichtliche Anschauung der Gegenwart, die man aber nicht anders haben kann als durch die Geschichte der Vergangenheit. Wie das religiöse Princip allmählich die andern Motive überwindet und assimilirt, das kann man die äußere Geschichte nennen, in wie fern es mehr auf die Extension des religiösen Princips geht. Die intensive Verschiedenheit beruht natürlich auf der jedesmaligen moralischen Constitution des Volks. Unter diese Momente läßt sich das gemeinsame Leben, das zum Begriff der Sitte gehört zusammenfassen. Was die Geschichte des Cultus betrifft, so haben wir früher schon gesehen, daß beides nicht so ganz verschieden ist. Der Cultus ist Darstellung des religiösen Bewußtseyns, mimischer Ausdruk desselben. Die Sitte ist eigentlich dasselbe, nur es stellt sich darum die Wirkung an einem andren dar. Der Cultus verhält sich zu der Sitte, wie Kunst zum geselligen Leben. Der Cultus ist die Aeußrung des religiösen Princips, welche unter den Begriff der Kunst fällt, auch gehören alle seine Elemente zu irgend einer Kunst. Die Sitte ist das gemeinsame Leben. Der Cultus wird sich also geschichtlich eben so betrachten lassen, als die Sitte. Man muß eine Vorstellung haben von dem Zustande, in welchem die Kunst des Volks zur Zeit, als das Christenthum sich dahin verbreitete, war. Je mehr schon Kunstbildung da ist, desto mehr muß sich der Cultus daran anschließen. | 9 KD1 II 2 § 19 (KGA I/6, S. 282) 23 KD1 II 2 § 20 (KGA I/6, S. 282) 27 KD1 II 2 § 21 (KGA I/6, S. 282) 27–28 Vgl. KD1 II 2 § 16 (KGA I/6, S. 282,1–5)

93r; § 19.

§ 20.

§ 21.

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§ 22.

94r § 23.

§ 24.

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In wie fern der Cultus für sich gesetzt wird, werden wir sehen, daß zu verschiedenen Zeiten verschiedener Werth demselben ist. Hier kommen wir oft auch auf verschiedene Motive, es kann Unempfänglichkeit da seyn. Aber nicht allein diese negativen, sondern auch positive Bestrebungen, in so fern zwar Werth darauf gelegt wird, aber die Kunst einen frivolen Character angenommen hat. Von § 22–25. Indem der Gegenstand der geschichtlichen Betrachtung überall die Veränderungen sind, die Differenz, die diese alleine für sich betrachtet haben, so ist das keine andre Differenz als die der Geschwindigkeit. Die schnellen Veränderungen haben den meisten Schein, die langsamen haben das meiste Fundament. Das ist allerdings für die geschichtliche Betrachtung wichtig. Man wird gar leicht getäuscht durch den Schein schneller Veränderungen und wenn man sich täuschen läßt, so versteht man die ganze geschichtliche Entwikelung nicht. Alle geschichtlichen Veränderungen fallen unter das Gesetz der Oscillation. Es giebt Veränderungen, die gerade die allertiefsten sind, wie die Bekehrung eines Volks, die treten dann auch im Aeußern sehr hervor. Was aber in der äußeren Erscheinung liegt, das kann sich nicht halten. Im Aeußern findet man dann wieder Rükschritte, das Gesetz der Oscillation. Das Aeußere kann Beharrlichkeit nur allmählig bekommen, durch Gewohnheit. Wenn man nun die scheinbaren Rükschritte im Aeußern als Rükschritte im Innern betrachtet, so thut man daran Unrecht. Für die geschichtliche Betrachtung werden wir aber immer auf etwas sehr Kleines geführt. Es wird z. B. aus einem Heiden ein Christ, aus einem irreligiösen Menschen ein religiöser, so werden plötzliche Veränderungen geschehen. Aber diese halten nicht Stich, sondern was Stich hält, das wird allmählig und unsichtbar. Nun gehört es mit zur | geschichtlichen Darstellung, dieses Unsichtbare darstellbar zu machen. Dies kann man aber nicht anders, als wenn man das Unendlich Kleine in discrete Puncte zerlegt, welche den Fortschritt von einer Zeit zur andren darstellen. Darin besteht die Kunst, diese discreten Puncte auf die richtige Weise aufzufassen, solche Puncte, die sich von selbst hervorgeben und an welchen man den Fortschritt auffassen und darstellen kann. Wenn dies auch geschehen ist, so bedarf doch die geschichtliche Behandlung um Darstellung zu werden, noch einen bestimmten Faden, woran diese Bilderreihe sich vor dem Auge des Betrachters entwikelt und wodurch die discreten Puncte wieder etwas Ganzes werden. Darum bedarf es außer jenen discreten Puncten noch eines Fadens, 7 KD1 II 2 § 22 (KGA I/6, S. 282) II 2 § 24 (KGA I/6, S. 283)

30 KD1 II 2 § 23 (KGA I/6, S. 283)

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woran sich die Betrachtung durchzieht, so daß die Puncte nun als Ruhepunct erscheinen und man von dem fortlaufenden Faden das ganze Gebiet überschaut. Dieser Faden § 24. Es ist die Entwikelung der kirchlichen Verfassung dieser Faden. Die Geschichte zerfällt uns von dieser Seite in die des Cultus und der Sitte, die Kirche als geselliges Leben steht in der unmittelbaren Berührung mit dem Staat. Die kirchliche Verfassung ist nun wesentlich die Art, wie der Clerus sich constituirt. Der Gegensatz zwischen Geistlichen und Laien ist derjenige, worauf der Cultus beruht. Die Kirchenverfassung ist nichts, als nur ein Theil der Sitte überhaupt, sie muß also auch in einem bestimmten und nothwendigen Zusammenhange mit der Sitte selbst stehen. Sie ist also das Band zwischen der geschichtlichen Betrachtung des Cultus und der Betrachtung der Sitte. In der Art und Weise der kirchlichen Verfassung und ihrer Veränderung manifestirt sich auch das Verhältniß der Kirche zum Staat. Die kirchliche Verfassung muß vom Staat anerkannt seyn, es kommt also darauf an, wie sie d. Staat begrenzt. In ihr finden sich alle die wesentlichen einzelnen Gegenstände. | Was die Dogmengeschichte betrifft, so setzt diese § 26. auseinander und die Betrachtung muß so viel als möglich getrennt seyn von der andern. Nur wenn man die Bildung des Lehrbegriffs isolirt kann man eine Gesetzmäßigkeit mit dem Wesen des Christenthums auffinden. Dies steht in sehr genauer Verbindung mit § 27. nemlich daß keine äußeren Lebensverhältnisse Entscheidendes geben können. Viele glauben, daß den wichtigsten Begebenheiten in der Kirche besonders 17 d.] Abk. wohl für den oder der 14 KD1 II 2 § 25 (KGA I/6, S. 283) 19 KD1 II 2 § 26 (KGA I/6, S. 283) 19– 23 Vgl. Stolpe: „§ 26. Von der geschichtlichen Auffassung des kirchlichen Lehrbegriffs (Dogmengeschichte). Es werden hier die Principien aufgestellt um diese Disciplin in ihrer eigenthümlichen Structur PaufzufassenS. | Es ist bekannt daß es sehr viele geschichtliche Darstellungen in dieser Hinsicht gegeben hat, die diese Disciplin als Wirkung der äußerlichen Begebenheit darstellen. Soll dieses nun eine richtige Darstellung sein so liegt das Princip zu Grunde daß die Bestimmung des Lehrbegriffs auf eine solche Weise bestimmt wurde, welche schlechthin zufällig war, wenn dies richtig ist, so ist seine Gestaltung immer fort von außen bedingt gewesen. Indem nun hier die besondere Betrachtung der Entwicklung des Lehrbegriffs als etwas nothwendiges dargestellt wird so liegt die Ansicht zu Grunde daß der christliche Lehrbegriff sich von innen heraus selbst entwickelt hat. Doch werden wir gestehen müssen daß in dem Gebiete der Theologie eine andere Voraussetzung nicht gemacht werden kann. Denn wenn die christliche Lehre nicht etwas inneres wäre so müßte die Kirchenleitung in dieser Beziehung ganz aufgegeben werden. Denn wenn es etwas zufälliges ist so ist es auch etwas ganz gleich gültiges. Und dies ist hier als Grundvoraussetzung hingestellt, weil die Betrachtung der Dogmengeschichte ganz davon abhängt.“ (S. 234f) 23 KD1 II 2 § 27 (KGA I/6, S. 283)

§ 25.

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§ 28. 29.

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Streitigkeiten beigelegt sind durch bloße Intriguen. Feindschaften hat es wol gegeben in der Kirche, aber warum hätten sie sich sollen gerade an diesen Gegenständen reiben? Also bleibt das immer eine unzulängliche Erklärung. Wenn einzelne Lehrsätze eine neue Gestalt bekommen haben und dies durch persönliche Verhältnisse bestimmt ist, warum hat es dann nicht gleich wieder aufgehört, als die persönlichen Verhältnisse andre waren? Man muß also diese äußern Umstände für die Bestimmung des Lehrbegriffs als ganz zufällig ansehen und glauben, daß dasselbe ohne diese Umstände auf eine andre Weise würde hervorgetreten seyn. Die ganze Aufgabe ist nicht darauf gerichtet, diese Zufälligkeit zu betrachten, sondern sie kann dieselbe ganz der Kirchengeschichte überlassen. [§ 28. und 29.] wird bezeichnet, welches die Hauptmomente sind, worauf es ankommt, die Bildung des Lehrbegriffs zu begreifen. Das eine ist ein inneres und unmittelbares, das andre ein äußeres und mittelbares. Nemlich der Lehrbegriff entsteht aus der Reflexion über das religiöse Bewußtseyn und diese Reflexion muß für das Ganze der Kirche wesentliche Beschäftigung seyn. Ohne diese Reflexion fällt der ganze Lehrbegriff fort. Davon giebt uns die morgenländische Kirche ein Beispiel. Seit mehreren 100 Jahren ist der Lehrbegriff ganz auf demselben Flek geblieben, die Religion ist ganz aus dem allgemeinen Zusammenhang der Betrachtung herausgetreten. Diese Thätigkeit ist da rein abgestorben. Wo aber diese | Reflexion fortgeht, da kann es nicht fehlen, daß es nicht größere oder kleinere Veränderungen in der Lehre geben sollte, weil die Aufgabe eine ganz unbestimmbare, unendliche ist. In Beziehung auf dieses innere Moment gilt vorzüglich was § 26. hingestellt war als die eigentliche Aufgabe dieser Disciplin, zu zeigen, wie eigentlich und weßhalb die Betrachtung successiv gerade auf diese Gegenstände zuerst fallen mußte und wie allmählich und weßhalb gerade in dieser wesentlichen Ordnung die verschiedenen Theile des Lehrbegriffs sind entwikelt worden und was die Entwikelung des Einen für einen Einfluß gehabt hat auf die Entwikelung des anderen. Dies ist freilich eine Aufgabe, die sich jede Geschichte zu stellen hat, aber keine ganz löset. Die Geschichte sollte immer in dem Wirklichen das Nothwendige finden. Diese Aufgabe kann auch nicht ganz gelöst werden, theils weil niemals das Successive der Erscheinung ganz aufgehen kann PinS dem innern Grund der Erscheinung, theils weil was wir isoliren nicht ganz isolirt ist und so das Innere immer 37 PinS] oder PvonS 13 KD1 II 2 §§ 28–29 (KGA I/6, S. 283) S. 283,14–17)

27 Vgl. KD1 II 2 § 26 (KGA I/6,

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mit einem Aeußeren verbunden ist. Die Geschichte ist nur Annäherung daran, das Wirkliche als Nothwendiges zu begreifen. Das zweite Moment ist dies: die Reflexion über das religiöse Bewußtseyn kann selbst zwiefach seyn. Sie kann den Character haben, den sie im allgemeinen Leben hat, sie kann aber auch einen höhern sich an die Wissenschaft anschließenden Character annehmen. Dies ist nicht geradezu Gegensatz, denn die Reflexion ist immer an die Wissenschaft geknüpft. Dies ist also bloß allmähliche Fortschreitung. Nimmt die Reflexion aber das System ein, so muß sie sich genau an die Wissenschaft halten | sonst geht sie in das Verworrene und Chaotische über. Nun ist die Reflexion im Lehrbegriff auch an den wissenschaftlichen Character der Sprache geknüpft und da die Religion sich sehr genau an die Speculation schließt, so hat sich große Verwandschaft gezeigt zwischen der Dogmatik und den philosophischen Bestrebungen überhaupt. Verschiedene philosophische Systeme haben neben einander bestanden und sind auf einander gefolgt; die religiösen Speculationen sind davon unabhängig, aber sie können nur ausgedrükt werden durch die Sprache der herrschenden Philosophie. Wenn mehrere philosophische Systeme neben einander sind, so wird auch in der Dogmatik, wenn man gleich vielleicht daßelbe meint, eine verschiedene Sprache seyn, denn es kommt jedesmal darauf an, in welcher Sprache jemand sein höheres Bewußtseyn ausdrükt. Mit der Entwikelung des Lehrbegriffs muß man also auch geschichtlich entwikeln die Philosophie. Aus beiden kann man nur begreifen, wie sich der Lehrbegriff so und nicht anders entwikelt hat. § 29. ausgedrükt, welches die beiden Puncte sind in der Gestaltung des Lehrbegriffs, von denen der eine sich auf die eine, der andre sich auf die andre Thätigkeit bezieht. Wenn ein Dogma aufgestellt wird, so wird es mit seinem Grund aufgestellt d. h. es wird hingestellt als Vorstellung und anderen zugemuthet, daß sie es anerkennen, weil es mit andren in Verbindung ist. Nun giebt es Eins, was alle Christen als solches anerkennen, das ist die Gestaltung des christlichen Princips in der Schrift der Normalausdruk des christlich religiösen in der Schrift. Jede dogmatische Aufstellung endet aber in der Deduction [aus] der Schrift. Wir sehen das Urchristenthum die Entwikelung desselben in Vergleich mit der folgenden Geschichte als ein Moment an, also auch die Gestaltung desselben, wie | wir sie in der Schrift sehen, sehen wir an als einen einzigen Act, wie es in den Naturerscheinungen auch dergleichen giebt, aus dem Wesen der innern Kraft unmittelbar hervorgegangen. In wie fern man also eine dogmatische Vorstellung aus 3 KD1 II 2 § 29 (KGA I/6, S. 283)

26 KD1 II 2 § 29 (KGA I/6, S. 283)

§ 29.

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96v; § 31.

§ 32.

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der Schrift deducirt so führt man sie zurük auf die beharrliche Fortschreitung der Reflexion. Die Zurükführung auf das zweite Moment ist die philosophische Deduction einer dogmatischen Vorstellung. Da wird das unmittelbare religiöse Bewußtseyn als Thatsache der höchsten Intelligenz im Menschen verglichen mit einem philosophischen Satz d. h. mit einem objectiven Satz der höchsten Intelligenz im Menschen und die Reflexion über dieses Religiöse muß eben deswegen so und nicht anders gefaßt werden, weil sonst, was der Ausdruk des Subjectiven seyn soll, im Streit seyn würde mit dem Objectiven. Beides kommt überall vor in der Entstehung der einzelnen Theile des Lehrbegriffs. Bei jedem Dogma beruft man sich auf die Schrift und auf philosophische Systeme und das Begreifen einer Entstehung einer dogmatischen Vorstellung ist nichts anderes als das Begreifen, wie aus diesen beiden Elementen etwas hervorgegangen ist. Wenn überall gleiches Verhältniß dieser beiden Momente statt fände und wenn es keinen Streit geben könnte weder über die Anwendung der Schriftstellen und der philosophischen Sätze, d. h. wenn das Philosophiren eine absolute Wissenschaft wäre und keine Kunst und eben so das Auslegen eine Thatsache wäre und nicht eine Kunst, dann wären die Dogmen ohne Streit hervorgetreten. Aber solche Identität ist nicht und das ist der Grund der Verschiedenheit und desjenigen, was uns als das Zufällige erscheint; denn daß Menschen zu gleicher Zeit von entgegengesetzter Meinung | waren ist doch etwas Zufälliges. In dieser nothwendigen Relativität in den Momenten und dem Interesse darin liegt der Grund verschiedener gleichzeitiger Parteien und verschiedener folgender Parteien die sich einander entgegenstehen. Die lebendige Anschauung vom Lehrbegriff ist also bedingt, dadurch, daß man weiß, wie sich die beiden Momente verhalten haben zu einander. Jedoch ist die Dogmengeschichte auch nicht zu bestimmen ohne den Blik auf die Persönlichkeit auf das Biographische. Im § 32. ist nur die Auseinandersetzung von diesem. Das Zurükgehen auf das Philosophirende geht ab von dem Zurükgehen aufs Biblische, wer Virtuose in dem einen ist, ist es sehr selten im Andern und so unterscheiden sich einzelne Parteien und ganze Zeitalter. Wo die eine Deduction vorherrschend ist, ist selten die andre eben so ausgebildet und daher kommt aus der Anwendung der biblischen Deduction etwas Skeptisches in den Ausdruk, aus der einseitigen Anwendung der philosophischen geht das Polemische hervor. Das Geschichtliche ist bloß das Zusammenwirken von diesen beiden. 14 KD1 II 2 § 30 (KGA I/6, S. 284) II 2 § 32 (KGA I/6, S. 284)

23 KD1 II 2 § 31 (KGA I/6, S. 284)

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Wo lebhafte Bewegungen in der theoretischen Seite des Lehrbegriffs sind da ruht die practische Seite und umgekehrt, aber ist beides gut zu trennen. Unter Dogmengeschichte versteht man aber vorzüglich nur die theoretische Seite des Lehrbegriffs und die practische, die christliche Moral hat sich noch nicht so ausgebildet, geht auch zu sehr ins Leben hinein. [§ 34 und 35] klar. Es giebt nun für alles dies ein Wissen aus den Quellen, und aus geschichtlichen Darstellungen. Wer sein Wissen aus den Quellen hat, der hat sein Urtheil selbst gebildet. In geschichtlichen Darstellungen ist immer wieder ein Urtheil und will man daraus selbst ein Urtheil haben, so muß man jenes erst fortschaffen. | Alles was schon zusammengesetzte Darstellung, wenn auch von einem Zeitgenossen, ist, ist in diesem Sinne nicht mehr Quelle, denn da stekt auch schon Urtheil darin. Hier giebt es nur Quellen für einzelne Thatsachen, nur Monumente und Urkunden, welche selbst Theile der gesuchten Begebenheiten sind. Das Studium aus den Quellen ist also höchst weitläuftig und beschwerlich und wir mögten wol nicht leicht ein Feld haben, wo wir die Geschichte allein aus Quellen in diesem Sinne liefern könnten. Daher wird man immer das andre mit zu Hülfe nehmen müssen, wenn man auch auf die Untersuchung der Quellen ausgeht. Dies ist nun keine Forderung, die von jedem Theologen gemacht werden kann. Was sind Quellen für die Kirchengeschichte? Die wichtigsten sind die acta der Kirche, die unabsichtlichen und gar nicht auf geschichtliche Darstellung berechneten. Briefe der Merkwürdigen Männer und ihre Schriften. Hier also sehen wir sehr große Masse, welche durchgearbeitet werden will und eine große Aufgabe, aus diesen zerstreuten Elementen ein Ganzes zusammenzubringen. Dazu § 39. die Hülfswissenschaften. Vorzüglich nothwendig die höhere Kritik, die über die Aechtheit der Urkunden entscheidet. Wenn wir das Ganze auf diese Weise construiren, so kann es in diesem Sinne nicht von jedem verlangt werden. Was muß nun jeder inne haben und was muß in den Kreis eines besonderen Studiums gewiesen werden? Das minimum einer jeden theologischen Disciplin ist was sich am allerunmittelbarsten auf die Kirchenleitung bezieht. Das möglichste maximum ist das wünschenswertheste für denselben Zwek. Das minimum müssen wir nun auch aufstellen. Der Zwek eines jeden ist nicht die Kirchenleitung überhaupt sondern die Kirchenleitung in der Zeit, worin er lebt und dem Ort, wo man ihn hinsetzt. | 1 KD1 II 2 § 33 (KGA I/6, S. 284) 7 KD1 II 2 §§ 34–35 (KGA I/6, S. 284) 1 8 KD II 2 § 36 (KGA I/6, S. 284) 15 KD1 II 2 § 37 (KGA I/6, S. 285) 23 KD1 II 2 § 38 (KGA I/6, S. 285) 29 KD1 II 2 § 39–41 (KGA I/6, S. 285)

§ 33.

§ 34. 35. § 36.

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§ 37.

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§ 39. 40. 41.

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§ 42.

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Wenn man sich die ganze Geschichte denkt als unendliches Aggregat von unendlich getheilten Thatsachen, was kann man für ein minimum aufstellen? Die äußere Ansicht beschränkt sich auf chronologische und synchronistische Tafeln. Das wird oft so angesehen, aber wie das nun gar keine Geschichte ist, so ist auch ein solches tabellarisches minimum rein gar nichts, was in die Thätigkeit hineingreift. Wir müssen die Sache von einer andern Seite also eingreifen. Wenn wir zurükgehen auf den Gegensatz zwischen dem allgemeinen Fortschreiten und den revolutionären Momenten, so werden wir sagen müssen, jeder Augenblik aus dem ein künftiger entstehen soll, der hat viel mehr Aehnlichkeit mit dem was innerlich in der Epoche liegt, als was jenseits liegt und also das Detail von geschichtlichen Einzelheiten, was jeder wissen muß liegt überwiegend innerhalb der letzten Epoche d. h. einem jeden Theologen ist nothwendig eine größere Kenntniß des Zusammenhangs in der neusten Zeit, seit der Reformation also ist ihm die Kenntniß des Einzelnen nöthig, wenn seine Thätigkeit zwekmäßig seyn soll. Wenn aber solcher revolutionärer Moment angesehen werden muß als ein relativ neues Princip, so durchdringt dies seinen Gegenstand erst allmählig und wir müssen uns z. B. sagen, die protestantische Kirche und der protestantische Lehrbegriff ist immer noch nicht fertig d. h. es giebt auch in der Gegenwart noch Theile, welche von dem Princip der Gegenwart noch nicht durchdrungen sind, und also nur aus dem vorigen verständlich sind. Man kann ja die Epoche selbst nicht verstehen, wenn man nicht weiß, was darin das Neue ist, und das kann man ja nur aus Vergleichung mit dem Alten und so kann man sich nicht durch bloße Kenntniß der letzten Periode beruhigen. Die Periode des Urchristenthums muß die Thätigkeit | leiten als normale Darstellung des Christenthums, so daß es keine genauere in der christlichen Kirche giebt, und die Kenntniß davon ist wenigstens eben so nothwendig als der Character des Reformatorischen. Aber geschichtlich angesehen ist diese Zeit die fernste, die also auch am wenigsten mit der Gegenwart in der Verbindung steht. Für einen jeden ist in der neusten Zeit das meiste Einzelne nöthig, davon an nimmt es ab. Das Geschichtliche im Urchristenthum ist am wenigsten nothwendig, die origines ecclesiasticae. Was den Canon betrifft, so ist der freilich das Normale, aber nicht die eigentliche Geschichte. Was ist nun allgemeiner Bedarf in der neusten Zeit, und von dem abnehmenden aus den früheren Perioden? Das Gesetz ist kein andres als der Zusammenhang mit dem gegenwärtigen 7 eingreifen] vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 1565f 7 KD1 II 2 § 42 (KGA I/6, S. 285)

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Augenblik. Einzelnes als solches hat keinen Werth, sondern nur so fern es auf das Gegenwärtige gewirkt hat; man hat es also dann nur mit dem Characteristischen jeder Periode zu thun. Durch die Reformation sind entgegengestellt Protestantismus und Catholicismus. Der Protestantismus ist entstanden von dem Bestreben aus Irthümer auszumerzen und also auf den richtigen Zustand einer früheren Zeit zurükzugehen. Wir haben hier also ein zwiefaches Interesse an der Vergangenheit. 1. wir müssen kennen aus der vergangenen Zeit alles was eine Analogie von diesem jetzt bestehenden Gegensatz von Protestantismus und Catholicismus in sich trägt, alles was Spuren des Protestantismus enthält was aber nur aus 2. verstanden werden kann, aus demjenigen, was das Characteristische des Catholicismus sey. Das wichtigste ist die Entstehungsweise der Irrthümer und Mißbräuche | welchen der Protestantismus zuerst entgegengewirkt. Das hat das allgemeinste Interesse. Wir haben gesehen, daß außer dem von der Gegenwärtigen Zeit an abnehmenden Erkennen der einzelnen geschichtlichen Thatsachen, nothwendig ist die Kenntniß der Epochemachenden Begebenheiten insgesammt, in wie fern nemlich auch aus diesen nur die gegenwärtige, die letzte verstanden werden kann. Die Kenntniß des Einzelnen ist etwas Fragmentarisches. Zusammenhang kommt nur hinein, dadurch, daß dieses zweite hinzukommt, aber auch das kommt noch hinzu, in wie fern jede Epoche eine individuelle Art herbeiführt, so ist jede etwas ganz Neues, also ist auch noch kein eigentlicher Zusammenhang da, sondern wir haben nur Discretes. Der Zusammenhang wird dadurch hervorgebracht, daß man die epochemachenden Begebenheiten combinirt. Sie werden aber dadurch combinirt, daß in jeder früheren schon Typen auf die folgende vorkommen und der Character der vorigen allmählig anfängt zu ersterben und der neuen Platz zu machen. Thut man das, so hat man den geschichtlichen Zusammenhang, wenn auch noch so viel Einzelnes fehlt. Eben das ist das letzte 1

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26 KD II 2 § 43 (KGA I/6, S. 286) 32 KD II 2 § 44 (KGA I/6, S. 286) 32– 28 Vgl. Stolpe: „Besteht nun das jedem Nothwendige eigentlich nur in einer Übersicht und den lebendigen Anschauungen ohne welche der Nutzen der Kirchengeschichte verloren geht, so ist freilich wahr daß bei dem großen Reichthum von Literatur es doch noch sehr fehlt an Darstellungen die diese Anschauung am Gesammtzustande gewähren; die Sache stellt sich so: die Geschichtsschreiber tragen sich das Materiale zusammen, dann fragen sie nach der Verarbeitung desselben[,] dadurch entsteht aber großentheils eine Art mosaischer Arbeit: dadurch bekommt aber keiner eine lebendige Anschauung des geschichtlichen Zusammenhanges; die größeren kirchengeschichtlichen Werke sind daher eigentlich nur zum Nachschlagen zu gebrauchen. Nun giebt es aber eine ganz andre [Art] von Geschichtsschreibung, die man als Ergänzung brauchen muß, das sind die Biographien: die am besten dahin führen sich vom Zeitalter eines Mannes eine lebendige Anschauung zu machen. Alle bedeutenden Männer sind freilich

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§ 43.

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§ 45.

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Resultat von diesem Gemeinen der Kirchengeschichte, daß aus dem zerstreuten Einzelnen, was jeder wissen muß nicht in Beziehung auf den Character der Zeit, wozu es gehört, sondern auf die gegenwärtige Zeit, und daß aus der geschichtlichen Betrachtung sich jeder von einer jeden Zeit ein richtiges historisches Bild, wenn auch nur in allgemeinen Zügen verschafft. Ohne das kann man den vollständigen chronologischen und synchronistischen Inhalt im Gedächtniß haben, aber für die Kirchenleitung hat man nichts, man kann nichts außer sich selbst wieder als etwas | Lebendiges hinstellen aus einem frühern, was doch der wahre Zwek aller Geschichte ist. Wie kann solche Kenntniß erreicht werden? Im wesentlichen wird hier jeder auf das abgeleitete Studium gewiesen. Die Quellen sind nemlich gar nicht solcher Art, daß man sich könnte heraussuchen, was in diesen Umfang gehört und das andre bei Seite legen könnte. Jedoch möge sich niemand allein mit dem abgeleiteten Studium begnügen, wenn man kein bloßes geschichtliches Echo werden will. Es ist also eine Vergleichung hier nöthig. Jeder muß verschiedene Arten der Darstellung vergleichen, woraus das Urtheil einestheils hervorgehen kann, andrentheils kann man es durch das Studium der Quellen, aber nicht der todten Quellen, die nur das Abstracte haben; denn wenn jemand die Geschichte eines Concils liest und man wollte dann sagen, ja nun muß ich auch die Acten selbst noch lesen, so wäre das überflüssig, aber nur auf diejenigen Quellen, die das eigentliche Leben enthalten muß man zurükgehen. Nächst dem abgeleiteten Studium wenn es lebendig seyn soll ist nothwendig daß man irgend etwas weniges von den bedeutendsten Männern der Zeit und von den Schriften, worin die bedeutendsten dogmatischen Sachen sind unmittelbar besitzt und parallel beides zu verbinden suche. Es soll gar keine Virtuosität in einem Studium geben, welche nicht darauf ausgeht die Wissenschaft zu erweitern. So kann man sich sein nicht immer universell, aber in der Kirchengeschichte läßt sich nicht ein hervorragender Zeitpunct denken, worin nicht einige ausgezeichnete Männer gewesen wären, durch deren Lebensbeschreibung man sich über das Zeitalter orientiren kann. Was aber das wesentlichste Mittel ist, um zu einem Skelet zu gelangen, sind allerdings historische Tabellen, da werden die einzelnen Begebenheiten die eine bestimmte Beziehung auf das Ganze haben, herausgehoben, aber freilich bedarf eine solche Tabelle immer eines Commentars: der in den größeren geschichtlichen Werken liegt. Hier nur die Rede von dem Selbststudium. Für geschichtliche Gegenstände können Vorlesungen am wenigsten leisten: das Buch ist in dieser Hinsicht immer vorzüglich weil man es in der Hand hat; Pdie VorlesungenS eigentlich nur ein Mittel sich ein solches Buch zu verschaffen, indem man Schwarz auf Weiß nach Hause trägt. Sollten also hier die Vorlesungen einen eigenthümlichen Nutzen haben, so kann es nur geschehen, in so fern sie den rechten geschichtlichen Sinn erwecken können. Was darüber hinaus geht ist hier also dem Gebiete der Virtuosität zugeschrieben.“ (S. 237) 29 KD1 II 2 § 45 (KGA I/6, S. 286)

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ganzes Leben lang mit der Kirchengeschichte beschäftigen ohne daß diese etwas gewinnt. Auf der andren Seite ist es nicht möglich etwas für das Fördern der Wissenschaft zu thun, ohne sie selbst zu umfassen. § 46. Dies kann auf zweierley Weise geschehen, indem entweder Thatsachen aus den Quellen vollständiger ausgemittelt, theils in dem dasjenige was | das Materielle betrifft auf eine bessere Art dargestellt wird. Was das erstere betrifft, so kann jemand sich dadurch auszeichnen, ohne gerade vorzüglich Virtuose zu seyn im Gebiet der Kirchengeschichte. Es kommt darauf an in welcher Lage jemand ist. Es giebt noch eine große Menge von Documenten in den bischöflichen Archiven und so weiter, die noch nicht benutzt sind. Es giebt Gegenden, wo [es] noch große Monumente giebt. Es ist da noch viel zu thun, aber dies kann sich niemand zum Zwek setzen, weil es auf die Gelegenheit ankommt. Viele Documente bedürfen auch noch der Kritik. Das zweite ist die richtige Darstellung der Kirchengeschichte. Das Geschichtsschreiben hat man schon lange als eine Kunst angesehen und das Höchste, was man sich in geschichtlichen Darstellungen denken kann, muß immer als Kunst betrachtet werden. Werke die sich über das Ganze der Kirche erstreken können nicht leicht den vollendeten Character haben, weil die Masse zu groß ist. Ein solches Ganze kann nur sehr universalhistorisch seyn. Auch ein solches wäre dankenswerth. Es könnte nur die großen Hauptbegebenheiten einer Zeit 4 KD1 II 2 §§ 46–49 (KGA I/6, S. 286f) 16 Vgl. Stolpe: „§ 47. ein Bild vom gegenwärtigen Zustande der Geschichte, das freilich nicht sehr erfreulich ist; an geschichtlichen Kunstwerken, wird gesagt, mangelte es noch, und die Vollkommenheit der Forschung wäre in der Kirchengeschichte schwerer [zu] erlangen, als anderwärts. Worauf soll nun der letzte Punct beruhen? auf dem Mangel der Quellen gewiß nicht; der findet sich nur in den ersten Jahrhunderten. Es muß also an der Beschaffenheit liegen: daher scheint dieses Urtheil eine besondere Kritik der geschichtlichen Quellen vorauszusetzen. Zum Grunde konnte hier nur das gelegt werden: grade auf dem kirchengeschichtlichen Gebiet hat man die Menge von Unterschleifen in den Quellen entdeckt, da liegt also die Schwierigkeit in der Aufgabe der höheren Kritik, doch gilt das nur von einem Theile des Mittelalters und von Quellen für etwas sehr Specielles, aber wahr ist es, daß wir in vielen Beziehungen die Quellen nur mittelbar haben, und wir sie in den Darstellungen nicht ausdrücklich für sich finden, sondern sie erst aus den Darstellungen schließen müssen. Die vollkommene Richtigkeit der Darstellung ist daher nur sehr allmählig zu erwarten. Was die Virtuosität | in der Darstellung betrifft so ist hier gesagt, daran mangle es überall. In die christliche Kirche ist nun die Wissenschaft in eigentlichem Sinne und die Kunst nur allmählig und spät hineingekommen. Zu der Zeit als die große Kunst in ihrer Blüte war, war die christliche Kirche erst in ihren Anfängen, die Kunst offenbar selbst da nur in der Homilie und öffentlichen Rede überhaupt. Bei Eusebius und Epiphanius kann durchaus von einem geschichtlichen Kunstwerke nicht die Rede sein. Erst in neuerer Zeit ist man dahin gekommen die historische Kunst diesem Gebiete anzupassen. Wir müssen also sagen: in dieser Beziehung soll die Kirchengeschichte ihre höchste Periode erst vor sich haben.“ (S. 237f)

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§ 50.

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behandeln und zeigen, wie sie sich gebildet. In ein großes Detail von Einzelheiten könnte sie sich nicht einlassen. So wie eine geschichtliche Darstellung über das Ganze geht und auch ins Einzelne, so muß sie den eigentlichen künstlerischen Character fahren lassen. Wenn Darstellungen die ins Einzelne gehen, der Kunst entsprechen wollen, so müssen sie einen solchen Theil des Ganzen nehmen, der in Verhältniß steht mit der Art, wie so etwas behandelt werden soll. Das Kleinste was auf diese Weise zwekmäßig gethan werden kann ist das Biographische, die Geschichte der Männer deren Wirksamkeit vom religiösen Princip ausging auf die religiöse Gemeinschaft. Da ist ein sehr großes Feld, denn an solchen kleinen Kunstwerken sind wir auch nicht reich in der Kirche. Doch scheint sich seit kurzem die Neigung des theologischen Publicums darauf zu legen. Dies ist auch sehr angemessen. Um den religiösen Geist zu | beleben, ist das Hineinführen in die Geschichte der Kirche sehr zwekmäßig, aber Hauptsache dabei ist, daß derjenige, welcher durch solche Darstellung wirken will auf den Geist seiner Zeit nicht einer einseitigen Richtung dienen muß. Denn gerade die Geschichte soll der Einseitigkeit entgegenstreben. Die höchste Aufgabe der geschichtlichen Darstellung ist die, zu zeigen, wie alle entgegengesetzte Bestrebungen individuelle Formen desselben Geistes sind. Ist das nicht die Aufgabe die man sich stellt, wenn das nicht der natürliche Prozeß eines Geschichtsschreibenden ist, so ist er allemal in einem Studium parteilich gewesen und die schöne Darstellung ist nur um so gefährlicher, weil sie sophistisch werden muß, solche die den einen Theil begünstigt, den andren unterdrükt. Es giebt sehr viele solcher Gegensätze, welche die geschichtlichen Darstellungen vermitteln sollen und in welchen die Geschichtsschreibung nicht soll befangen seyn. Das erste, was einem einfällt sind eben die entgegengesetzten kirchlichen Parteien selbst und da ist doch eine gewisse Nothwendigkeit. Jeder stekt in einer und es wäre ja sehr schlimm, wenn wir verlangen müßten, der Geschichtsschreiber der Kirche müsse weder rechter Protestant noch Catholik seyn. Die Geschichte dieser Zeit könnte also nicht eher geschrieben werden, als bis der Protestantismus und Catholicismus aufgehoben wären. Das würde sich nicht nur auf die Geschichte der neuern Zeit beschränken 12–13 Vermutlich denkt Schleiermacher an folgende Titel, die zeitnah erschienen sind und die er in seiner Bibliothek besessen hat: Johann Georg Dahler: Memoria viri reverendi amplissimi Johannis Laurentii Blessig, Straßburg 1816; Jean Gaspard Hess: Lebensbeschreibung M. Ulrich Zwingli’s. Aus dem Französischen. Nebst einem literarisch historischen Anhang von Leonhard Usteri, Zürich 1811; August Neander: Der heilige Bernhard und sein Zeitalter, Berlin 1813; ders.: Über den Kayser Julianus und sein Zeitalter. Ein historisches Gemälde, Leipzig 1812. 26 KD1 II 2 § 50 (KGA I/6, S. 287)

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sondern auch weiter hinaufgehen, denn es giebt einen Protestantismus vor 1517 und alle diese Andeutungen und Keime könnten auch nicht rein dargestellt werden. Eine solche Unpartheilichkeit ist freilich nicht möglich daß einer sagen sollte, ich wäre gern guter eifriger Protestant, aber weil ich Geschichtsschreiber bin, so will ich mir das abgewöhnen, oder daß einer sagen | müßte, ich bin 200 Jahre voraus, wo es vielleicht keinen Catholicismus und Protestantismus mehr geben wird und darum muß ich Geschichtsschreiber seyn. Aber auf diesem Fuße kann es keine Geschichtsschreibung geben. Jeder also, der sich an die Geschichtsschreibung wagt, stekt also in einer von beiden Parteien. Wie fern ist darin Gefahr? Wir wollen die Sache auf einem anderen Felde betrachten, ob es nicht mit der politischen Geschichte dasselbe ist. Ein Deutscher kann freilich eine Geschichte von China schreiben ohne parteiisch zu seyn, aber eine chinesische Geschichte von einem Chinesen, der auch Talent hätte, müßte doch eine ganz andre seyn, als die von einem Deutschen. Etwas andres ist es mit der alten Welt. In der leben wir noch und so können wir uns mehr hineindenken in ihre Lage. So wie aber bei einem Geschichtsschreiber das Vaterland zu beschreiben ist, ist der Geschichtsschreiber eben so daran, als der Kirchengeschichtsschreiber und man kann doch wol nicht sagen, es kann keiner die Vaterländische Geschichte schreiben, der nicht über die Vaterlandsliebe hinaus ist. Aber eben die große Bewegung setzt das Interesse am Vaterlande voraus. Soll denn aber immer der Fehler daraus entstehen, soll denn die Liebe des Vaterlandes eine Affenliebe seyn, wo man den Fehler nicht anerkennt? Dann freilich wäre die Geschichtsschreibung eines solchen nicht erträglich. Die Liebe zum Vaterlande ist bedingt durch das Anerkennen der andern Staaten als ihr coordinirt. Jeder Staat ist im Werden. Könnte nun die Liebe einen bewegen, das Frühere eben so darzustellen, als das Spätere? Dann würde ja das ganze allmähliche Fortschreiten | und die Entwikelung vom Geringen zum Großen übergangen. Der Geschichtsschreiber will aber auch, daß ihm geglaubt werde. Daher kann er die Unvollkommenheit seines Volkes gar nicht verbergen wollen. Die Liebe die in einem jeden nothwendig seyn muß thut der Unpartheilichkeit in der Geschichtsschreibung keinen Schaden. Eben so im Religiösen. So wie der Gegensatz zwischen Protestantismus und Catholicismus jetzt steht, so wäre das eine Ansicht, die jemanden ganz ausschlösse von der Geschichtsschreibung, wenn er sagen wollte, der Protestantismus repräsentirt die ganze christliche Kirche. Er muß anerkennen, daß die catholische Kirche eine eben solche eigenthümliche Form ist und ebenfalls die allgemeine christliche Kirche repräsentirt nur von einer andren Seite. Dabei muß er als Protestant freilich annehmen, daß in der catholischen Kirche viele Mißbräuche sind, die durch den Protestan-

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§ 51.

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§ 52.

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tismus abgeschafft sind. Auf der anderen Seite muß jeder eingestehen, daß der Protestantismus eigenthümliche Mängel erzeugt hat, die die catholische Kirche nicht hat, die eben so dem Geist des Christenthums widersprechen, wie die Mißbräuche der catholischen Kirche. Ohne dieses Eingestehen ist keiner als Geschichtsschreiber denkbar. Die Liebe selbst setzt die Unpartheilichkeit voraus. Da ist also gar keine Gefahr. In der protestantischen Kirche leiden wir selbst noch an der Spaltung zwischen den beiden Confessionen. Man hat seit längerer Zeit schon angefangen in dem gelehrten Organismus der Kirche auf diesen Unterschied keine Rüksicht mehr zu nehmen. Aber das ist nur stufenweise vorgegangen. Man hat gesagt: kann wol der Exeget von der einen Confession die Schrift so erklären, daß ein angehender Theologe der andren Confession ohne PNoththunS bei ihm hören kann? | Bei der Kirchengeschichte hat man sich schon länger besonnen. Eben so mögte es wol auch mit dem Protestantismus und Catholicismus seyn. Freilich kann kein Protestant Exegese hören bei einem Catholiken, weil er andre Principien der Auslegung hat. Aber bei der Kirchengeschichte ist es einerlei, wenn die Liebe eine vernünftige ist. Ein andres ist es mit Gegensätzen, die mehr das Innere des religiösen Lebens selbst betreffen, z. B. die Gegensätze von Orthodox und Heterodox. Wie sehr haben diese Gegensätze die Kirchengeschichte verdreht? Diese Einseitigkeiten sind viel eher zu berüksichtigen denn der Gegensatz zwischen dem Scholastischen und Mystischen, wobei sich aber niemand etwas denken kann, denn das ist ein Schwindelprincip. Doch der Gegensatz ist da. Hier ist es nun schon schwer, denn die religiöse Liebe beseitigt die Parteilichkeit nicht. Aber da ist es der wissenschaftliche Geist, der alles ordnet und der die Unpartheilichkeit von selbst mit sich führt. Wenn es an Unpartheilichkeit fehlt dann fehlt es auch am wissenschaftlichen Geiste, und da ist keinesweges von einem Indifferentismus die Rede, sondern nur davon, daß jedem sein Geschäft angewiesen ist, und so sieht man leicht, daß das Uebel vorzüglich daher gekommen ist, daß der eine das Geschäft des andren hat übernehmen wollen. |

5 KD1 II 2 § 51 (KGA I/6, S. 287) 7–8 Gemeint ist die konfessionelle Spaltung in Lutheraner und Reformierte. 19 KD1 II 2 § 52 (KGA I/6, S. 287)

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Dritter Abschnitt. Von der geschichtlichen Kenntniß des Christenthums in seinem gegenwärtigen Zustande.

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Schon in der Einleitung II. [32–]33. ist gesagt, wie hieher gehört die Dogmatik und die christliche Moral von Seiten des Lehrbegriffs, von Seiten der Gemeinschaft die kirchliche Statistik. Es ist nun hier Streit, ob Dogmatik und Moral historische Disciplinen sind, oder nicht. Wir wollen aus dem Begriff einer historischen Disciplin die Disciplin entwikeln und wenn sich daraus entwickelt, was alle Welt Dogmatik nennt, so sind wir im Reinen. Den gegenwärtigen Zustand als einen fließenden darstellen, heißt die geschichtliche Betrachtung hemmen und es muß natürlich ein andres Verfahren entstehen, es wird daraus die Darstellung der Einheit des Moments. Ein jeder solcher Punct, wo man einen Durchschnitt nehmen kann liegt in einer Periode und bezieht sich auf die Epoche, von welcher die Periode datirt. Jede Periode hat ihren eigenthümlichen Character. Die Hauptabzwekung jeder solcher Darstellung, das wesentliche in jeder geschichtlichen Kenntniß des gegenwärtigen Zustands, läuft darauf hinaus, zu sehen, wie weit sich in einem Moment der eigenthümliche Charakter der Periode entwikelt hat oder nicht. Jeder Moment ist also zu betrachten in Beziehung auf die Idee und auf die Eigenthümlichkeit der Periode worin er liegt. Deßhalb kann auch hier die Trennung statt finden zwischen der realen und der idealen Seite. Aber das eine versteht man nur vollkommen, wenn man das andre versteht. Doch hängen die einzelnen Theile des Lehrbegriffs genauer zusammen unter sich, als der Lehrbegriff überhaupt mit der realen Seite der Kirche und umgekehrt. Der jedesmalige | Zustand der idealen und realen Seite verwirrt sich sehr oft, und diesen Zustand zu finden, ist die höchste Aufgabe. Im Beginn des Studiums muß man also beides trennen und für sich betrachten, damit man nur erst recht inne werde, wie die verschiedenen Elemente des Lehrbegriffs und des kirchlichen Lebens unter sich zusammenhängen. Also findet auch hier die Trennung wie in der eigentlichen historischen Theologie statt. Doch muß die eine Betrachtung die andre schon vorbereiten. Doch ist das schwer wissenschaftlich darzustellen daher die Trennung der Dogmatik und kirchlichen Statistik.

§ 1.

4 KD1 II 3 § 1 (KGA I/6, S. 287) 4–6 Vgl. KD1 II Einl. §§ 32–33 (KGA I/6, S. 270,15–20) 23 KD1 II 3 § 2 (KGA I/6, S. 288)

§ 2.

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202 § 3.

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Nun hat man auch die dogmatische Theologie getheilt in die eigentliche Dogmatik, d. h. in die geschichtliche Kenntniß des theoretischen Lehrbegriffs in seinem gegenwärtigen Zustande und in die Kenntniß der christlichen Sittenlehre. Diese Trennung ist noch nicht sehr alt. Früher hat man beides immer als Eins behandelt. Das läßt sich auch gut erklären. Eine wesentliche Verschiedenheit findet nicht statt. Die Glaubenslehre ist die Kenntniß von dem was für wahr gehalten wird und die Sittenlehre von dem, was für recht und gut gehalten wird in der Kirche. Das letzte muß doch immer von der Einsicht, von der Wahrheit her kommen, und eben so ist jenes erste Resultat aus der Wahrheit. So lange beides in einem behandelt wird, ist doch die theoretische Seite die dominirende. Die practische Seite ist als correlativ behandelt. So hat man denn die christliche Sittenlehre nicht abgesondert, sondern den Lehrbegriff als Eins zusammengefaßt und dargestellt, was als kirchlich geltend angesehen werden kann. Später hat man diese Trennung gemacht und die didactische Theologie getrennt in die eigentliche Dogmatik und Sittenlehre. Jetzt hat man wieder gefragt, ob nicht beides | wieder vereinigt werden müsse. Schleiermacher würde dies für einen Rükschritt halten. Eins von beiden würde PmanS verlieren und weniger klar seyn. Die christliche Sittenlehre enthält die Reflexion über das sittliche Gefühl, in so fern es unter der Potenz des religiösen Princips gedacht wird und darstellend den Zustand des sittlichen Gefühls in der christlichen Kirche in einer gewissen Zeit, aber das nicht unmittelbar, sondern im Zustand der Reflexion darüber. Hier muß man nun combiniren, was ist Falsches in der practischen Seite und was in der theoretischen Seite. Dies geht leichter, wenn man sie im Zusammenhang unter sich darstellt. Auf der andren Seite leidet auch die rechte Darstellung der theoretischen Lehrsätze und es wird etwas hineingeschoben, was nur Nebensache ist und kann sehr leicht die Hauptbetrachtung verdunkeln. Es ist sehr lange Gebrauch gewesen, alle religiösen Lehrsätze auf die moralischen Folgen zu führen und gesagt [worden]: also religiöse Lehrsätze haben nur so fern Werth, als sie die Menschen zum Guten füh1 KD1 II 3 § 3 (KGA I/6, S. 288) – Vgl. Stolpe: „Diejenige theologische Disciplin, die jetzt dogmatische Theologie heißt, hat es eigentlich zu thun mit dieser Darstellung des gegenwärtig geltenden Lehrbegriffs. Dies allerdings eine von der gewöhnlichen Ansicht sehr abweichende, doch hat sich seit 1811 noch mehr die andere Ansicht geltend gemacht, daß die Dogmatik eine philosophische Construction des christlichen Glaubens wäre.“ (S. 239) 4–5 Für Schleiermacher beginnt die Selbständigkeit der christlichen Sittenlehre gegenüber der Dogmatik bei Lambertus Danaeus und Georg Calixt (vgl. SW I/12, Anhang S. 3); vgl. Lambertus Danaeus: Ethices christianae libri tres, Genf 1577; Georg Calixt: Epitomes theologiae moralis pars prima, Helmstedt 1634. 17– 18 Vermutlich bezieht Schleiermacher sich auf Friedrich Heinrich Christian Schwarz: Grundriß der kirchlich-protestantischen Dogmatik, Heidelberg 1816 S. XIXf.

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ren. Das ist doch [eine] unvollkommene Betrachtung. Jetzt machen wir uns wieder los davon, aber sind doch noch nicht so weit gekommen, daß ohne Gefahr die theoretische und practische Darstellung wieder verbunden werden könnte. Vor der Hand muß also beides noch getrennt bleiben und es zerfällt uns hier wieder die Darstellung des Lehrbegriffs in die Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des theoretischen und practischen Lehrbegriffs. Dies ist hier anticipirt, um die Disciplinen, die unter diese Rubrik gehören, zusammen zu haben. Von § 4. an kommt noch vieles vor, was sich auf beide Disciplinen gemeinschaftlich bezieht, wir wollen also denken, die Trennung sey noch nicht gemacht. | [§ 4.] hat die Tendenz zu zeigen, daß wenn man die didactische Theologie aus einem andren Gesichtspunct betrachtet, sehr leicht eine 12 KD1 II 3 § 4 (KGA I/6, S. 288) 12 Vgl. Stolpe: „§ 4. hat eine polemische Tendenz, um andere Vorstellungen von der dogmatischen Theologie abzuweisen. Hier ist Dreierlei nahmhaft gemacht, was für dogmatische Theologie nicht gehalten werden kann: 1. zusammenhängende Darstellung einer abweichenden subjectiven Überzeugung 2. die biblische Theologie als Unterschied von der dogmatischen 3. die irenische Theologie gleichsam eine zusammenhängende Darstellung mit geflissentlicher Beseitigung alles Streitigen. – Überzeugung ist eigentlich immer etwas Subjectives, das Objective ist die Wahrheit selbst, Überzeugung ist immer nur der Zustand des für wahr haltens: der doch nur | im Subject sein kann. Hier aber steht subjectiv von dem einzelnen Subject; und zweitens hängt es noch vom Abweichenden ab. Die Überzeugung eines Einzelnen in so fern sie sich von der einer Kirchengemeinschaft unterscheidet, ist etwas im gegenwärtigen Augenblick Vorhandenes, aber nicht etwas in der Kirche Geltendes. 2. die biblische Theologie eine Darstellung des Lehrbegriffs in so fern er in der Zeit des Urchristenthums entwickelt ist, dies ist etwas jetzt nicht mehr Geltendes, als geschichtliche Erscheinung betrachtet. Das Dritte ist etwas auch nicht Geltendes: solange die verschiedenen Überzeugungen da sind, ist eine Beseitigung bloß ein Versuch den Streit aufzuheben, ist der Streit aufgehoben, so bedarf es der Beseitigung nicht mehr: es liegt dies also in der Zukunft. So hängen diese Gegenstände zusammen, die von dem aufzustellenden unterschieden werden sollen. Noch jetzt können wir es sagen, es galt aber damals besonders, daß Darstellungen von Lehren, die von den in der Kirche geltenden ganz abweichen, als Dogmatik PhingegebenS werden. Die Kirche soll sich nun in der Mittheilung der Lehre erhalten, und die leitende Thätigkeit kann ja nur den Zweck haben, daß der Einzelne zu einem freien, selbst thätigen Werkzeuge gebildet werden soll, also muß der Typus der Kirche mitgetheilt werden. Spricht man von der zusammenhängenden Darstellung, so fragt man nur nach dem herrschenden Charakter nicht von Einzelheiten. Eine Zeit lang ist es nun eine herrschende Ansicht gewesen, daß der in der Kirche geltende Lehrbegriff ein Gewebe von Spitzfindigkeiten sei und in die gegenwärtige Zeit nicht mehr gehöre: und man wollte daher zu einer biblischen Theologie zurückkehren, daher sagte man: eine Kenntniß vom gegenwärtigen Lehrbegriff müsse man nur historisch haben, aber als eigentliche Überzeugung solle man nur die einfache Neu Testamentliche Lehre entwickeln. Jedoch ist diese Ansicht in Beziehung auf die Kirchenleitung willkürlich und einseitig: Nur diejenige Darstellung, welche das kirchlich Geltende voraussetzt und sich darauf bezieht, ist Dogmatik. Allerdings ist ein Unterschied vorhanden aber doch nur in Beziehung auf den Zustand des Schreibenden, nicht in der Sache; es kann hier keine Darstellung von einem Complexus von Lehren

103v; § 4.

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Darstellung derselben herauskommen kann, welche dem eigentlich zum Grunde liegenden Begriff gar nicht entspricht. Wenn man die didactische Theologie überwiegend aus dem Gesichtspunct des Systematischen ansieht, also als philosophische Entwikelung und Bestimmung der Lehrsätze in ihrem Zusammenhang, so kann solche sehr leicht vieles enthalten, was in der Kirche gar nicht gilt. Es kann einer ja eben eine Menge von religiösen Meinungen haben, die von dem Lehrbegriff der Kirche ganz abweichen. Er hält sie für die richtigen, sie sind seine Ueberzeugung und wie sie in ihm zusammenhängen, so stellt er sie auch auf und sagt, das ist mein System. Das ist recht gut, aber ist das Dogmatik? Keinesweges. Wenn einer, dessen religiöse Meinungen mit denen, die in der Kirche gelten, übereinstimmen, eine Dogmatik schreibt, ist das Dogmatik? Nach 300 Jahren wird das keine Dogmatik für die Zeit seyn. Wer eine Dogmatik schreiben will, muß immer sehen, was jetzt in der Kirche gilt. Es ist etwas andres, wenn ich einem etwas Geschichtliches mittheile; ich verlange, daß er mir das glaubt und etwas andres ist, wenn ich etwas philosophisch mittheile. In so fern ich es beweisen kann, verlange ich auch Glauben, aber der Glaube ist ganz andrer Art. Unser Begriff von der Dogmatik hat etwas von beiden. Indem ich das, was jetzt gilt, darstelle, so verlange ich Glauben PvonS ihm, aber indem ich es in den und den Zusammenhang bringe und ich sage, weil man über den Punct | so votirt, so muß man über den andren so votiren, so ist das etwas, was sich aufs wissenschaftliche hinneigt. Wenn wir aber das Eine ganz bei Seite stellen und sagen, mit der Dogmatik will ich die Einsicht in den Zusammenhang meiner religiösen Meinung geben. Will ich weiter nichts, so gehe ich nicht von dem in der Kirche Geltenden aus, sondern von dem Subjectiven. Ferner soll er mir glauben. Ja es sind so verschiedene Meinungen über manche Gegenstände, wenn ich das alles vortrage, worüber diese entgegengesetzten Meinungen statt finden, so kann ich nicht annehmen, daß mir die Leute mit Ueberzeugung glauben werden und hier ist also die Ueberzeugung nicht hervorzubringen und so ist man auf 21 PvonS] oder PinS geben, wenn sie nicht die Gründe und damit die Überzeugung der Kirche darstellt. Anders ist es mit einer polemischen Darstellung. Wirklich Abweichendes kann nur in einzelnen Puncten vorkommen. – Wenn ein Complex von religiösen Meinungen dargestellt wird, der eine individuelle Ansicht ausspricht, so nennt das eigentlich niemand eine Dogmatik: daß einer dieses darstellen sollte, der selbst die Überzeugung nicht hätte, ist ein durchaus nicht vorauszusetzender Fall, daß einer seine Überzeugung verschwiege und verdrehte, das ist wahr, aber leicht würde sich dann die Darstellung schwach zeigen.“ (S. 239f)

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den Gedanken gekommen, das ganz wegzulassen, worüber eine philosophische Ueberzeugung nicht statt finden kann. Das ist das Significationssystem der Dogmatik doch wenn alles das herausgebracht ist, kann es dann noch Dogmatik seyn? Unmöglich; denn ein Protestant kann in der Dogmatik das nicht fortlassen, worüber die Catholiken andrer Meinung sind. So wie wir nur isoliren die philosophische Ableitung und den historischen Zusammenhang, so kommt immer etwas andres als Dogmatik heraus. Was also bloß aus der philosophischen Subjectivität wenn auch noch so schön hervorgeht, ist keine Dogmatik, noch die Aneinanderreihung der Sätze der biblischen Theologie ist Dogmatik. Jeder Moment liegt in einer Periode und diese bekommt den Character durch die Epoche und es kommt darauf an zu zeigen, wie sich in einem Moment dieser Character entwikelt habe. Aber in jedem Moment ist auch schon etwas vom Künftigen | und wenn also der Zustand des gegenwärtigen Moment soll dargestellt werden, so soll nicht bloß gezeigt werden, wie weit alle protestantischen Sätze ausgebildet sind oder nicht, sondern auch aufgezeigt werden, was sich PgeregtS hat im Lehrbegriff, was nicht aus dem Protestantischen Princip hervorgeht und also ein Vorbote ist von dem, was da kommen wird. Das letzte kann immer nur sehr einzeln dastehn und das erste muß bei weitem das Ueberwiegende seyn und die ganze Masse constituiren. Das Verhältniß wird nicht immer gleich seyn. In der ersten Zeit der protestantischen Kirche war noch so vieles nicht protestantisch ausgebildet und die Stifter dachten über manche Puncte noch gar nicht daran, daß es mal sollte verändert werden durch das eigenthümliche Princip. Nur wenn die Periode ihren Culminationspunct erreicht hat, können solche Puncte mit hineingehen, aber auch dann ist es die schwerste Aufgabe des divinatorischen Princips, dasjenige was nicht aus dem protestantischen Princip hervorgeht, aber doch angenommen wird zu unterscheiden von demjenigen was dem Princip der Periode angemessen ist und aus diesem sich entwikelt. Jeder, der das Eine allein setzt und nicht auch das andre aufnimmt, ist immer nur ein unvollkommenes Organ der Kirche und auch jedes solches Auffassen des gegenwärtigen Zustandes der Kirche ist ein unvollkommenes. In einer jeden Periode können erst später, wenn sie ihren Culminationspunct gehabt hat, solche Puncte [sich] trennen, welche mehr die 6 philosophische] phisolos.

18–19 PgeregtS] oder PgemachtS oder PgewagtS

12 KD1 II 3 § 5 (KGA I/6, S. 288) 33 KD1 II 3 § 9 (KGA I/6, S. 289)

21 KD1 II 3 §§ 6–8 (KGA I/6, S. 288f)

§ 5.

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§ 6. 7. 8.

§ 9.

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§ 10. 11.

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folgende Zeit vorbereiten als sich auf die gegenwärtige beziehen, und auch da nur einzeln. Zu gewissen Zeiten können sie null seyn. Selbst in dieser Zeit ist die aufgestellte Behauptung wahr. Gesetzt auch es sind solche Elemente gar nicht da, so muß doch der Sinn dafür daseyn, der bestimmte Character der laufenden Periode in seiner individuellen Gestalt muß | als ein für eine gewisse Zeit nur geltender angesehen werden, wo das Künftige, ohne dem Wesen des Christenthums entgegenzutreten, dennoch hervortreten kann. Ohne das ist die Differenz aufgehoben zwischen dem Christenthum im allgemeinen, und dem eigenthümlichen Character einer Periode. Wer es also so unvollkommen darstellt, ist ein unvollkommenes Organ der Kirche. Man denke zurük in die Zeit des 17. Jahrhunderts, wo die Darstellung des protestantischen Lehrbegriffs zu ihrer größten scholastischen Vollkommenheit gebracht ist. Dies war eine Zeit, die auf jeden Fall noch zwischen dem Anfang des Protestantismus und dem Culminationspunct desselben liegt, denn vieles war damals noch indifferent. Da konnte also von dogmatischen Vorstellungen, die über den Character des Protestantismus hinausgehen, nicht die Rede seyn. Da kann aber keiner die Unvollkommenheit leugnen, weil der Character des Protestantismus nicht vollkommen als individuell sondern absolut wie als Christenthum dargestellt wurde. Das ist doch eine Einseitigkeit. Was also hier doch gefordert werden kann ganz allgemein, das ist eben dies, daß der Character einer bestimmten Periode auch nur als ein solcher anerkannt werde und also durch die Darstellung immer durchblicke die Möglichkeit einer andren individuellen Formation unbeschadet des allgemeinen christlichen Characters. Nun werden wir wol im Stande seyn das Weitere von § 10. richtig aufzufassen. Es handelt hier von dem Gegensatz zwischen Orthodox und heterodox, nicht von dem Gegensatz zwischen orthodox und heretisch. Das ist bestimmt zu unterscheiden. Der Unterschied sollte wol in der Terminologie selbst liegen und wir sollten nicht den Gegensatz von heterodox und heretisch mit demselben Namen belegen. Heretisch ist dasjenige, was die äußere Form des christlichen an sich trägt und auch innerhalb des Christenthums geworden ist, aber einen dem Christenthum entgegengesetzten Character in sich trägt. | Dem ist entgegengesetzt, alles, was den Character des Christenthums rein ausdrükt. Dem heretischen kann das Protestantische eben so gut entgegengesetzt seyn, als das Catholische, weil beides den Character des Christenthums an sich tragen kann. Das Dogmatische, was den Character des Scholastischen an sich trug, vor dem Scholastischen war heterodox ohne heretisch zu seyn. Dogmatisches, was den Character 27 KD1 II 3 §§ 10–11 (KGA I/6, S. 289)

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der jetzigen Periode an sich trägt zur Zeit der Scholastik war heterodox nicht heretisch. Die specielle Orthodoxie kann die einer bestimmten Partei seyn, davon ist aber hier nicht die Rede. Denn wo von der Gegenwart die Rede ist, da können wir uns gleich in den Protestantismus hineinversetzen. Alle dogmatischen Vorstellungen, welche dem Princip der Periode auf positive Weise entgegenstreben, sind heterodox. Es kann ein und dasselbe dogmatische Element dargestellt seyn, auf eine Weise, wo sich der Character des Protestantismus ausspricht und auf eine Weise, wo er sich noch nicht ausspricht was also auch recht gut in einer catholischen Dogmatik stehen kann. Das letztere ist gewiß nicht heterodox sondern nur das ist heterodox, was dem Character einer Periode positiv entgegenrükt. Die Erklärungen § 10. und 11. stimmen damit überein, wenn sie gleich buchstäblich anders lauten. Was nach dieser Beschreibung orthodox ist, muß das Princip der gegenwärtigen Periode in sich tragen und dann wird das bereits bestehende und was aus dem Princip entstehen kann, festgehalten. Ein andres aber dadurch nicht gesetzt. Wenn aber ein Element construirt ist in PdiesemS Sinne des Heterodoxen, so daß darin die Beweglichkeit des Lehrbegriffs ausgedrükt ist, d. h. die Unabhängigkeit von dem Princip der gegenwärtigen Zeit, so ist | darin die Möglichkeit andrer Principien positiv ausgesprochen. Wie verhält sich dieser Gegensatz zu der allgemeinen Aufgabe der Disciplin mit der wir es zu thun haben? So ist klar, daß sie nur lebendig ist, in wie fern beide Elemente in ihr vereinigt sind. Eine Darstellung die nichts orthodoxes enthält, die stellt auch den Lehrbegriff nicht dar als ein in der Kirche seyendes und das ist nicht Dogmatik. Aber solche Darstellung die nichts Heterodoxes enthielte, wäre auch keine rechte Darstellung, denn die setzte die ganze Entwikelung des Lehrbegriffs als völlig abgeschlossen und diese ganze Entwikelung [als] tod. Damit also die Darstellung wirklich den Zustand der Kirche darstelle, muß sie orthodox seyn, damit sie aber das Leben in der 24 KD1 II 3 § 12 (KGA I/6, S. 289) 24–13 Vgl. Stolpe: „Wenn das Orthodoxe im Gegensatz gegen das Heterodoxe nicht wäre, so wäre die geschichtliche Entwicklung ein beständiger Fluß: wenn dasjenige fehlte, was wir als das Heterodoxe bezeichnet haben, so wäre alles eine bestimmte Stagnation. Der geschichtliche Verlauf kann nur auf der Zusammenwirkung dieser beiden Elemente beruhen, von hier aus kann der Gegensatz des Wahren und Falschen auf beiden Gebieten bestimmt werden. Wenn das Festhalten wollen des bestehenden ein solches ist, das die Fortschreitung hemmt, so ist diese Richtung eine falsche. Nennt man also das Falsche eine Orthodoxie so ist das eine contradictio in adjecto: mit der Etymologie darf man es daher hier nicht so genau genommen [haben]: sonst müsste die erste Glaubenslehre Pseudodoxie heißen.“ (S. 241)

106r § 12.

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§ 13.

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Kirche in Beziehung auf den Lehrbegriff darstelle, muß sie heterodox seyn. Wenn wir eins von beiden ausschließen, so ist so viel gewiß, daß in solcher Darstellung die Geschichte ganz aufgehoben ist, denn schließen wir das frei und unabhängig von einem objectiven Princip sich Entwikelende aus, so schließen wir das Leben selbst aus, schließen wir das allgemein Fixirte aus, so ist auch das Gemeinschaftliche und Kirchliche ausgeschlossen. Damit das lebendige und kirchliche Eins sey, müssen die Elemente mit einander gehn. Es scheint also, daß wahre Orthodoxie und wahre Heterodoxie an und für sich sich mit einander vertragen und es ist wunderbar, wenn man einzelne Menschen so entgegensetzen will, denn wenn einer nicht Eins von beiden ist, so ist er nichts, und ist er etwas allein, so ist PesS auch nicht das Rechte. Nun giebt es neben dem eine falsche Orthodoxie und Heterodoxie. Die können nicht mit einander bestehen, sondern die schließen einander aus. Wenn einer, der die Heterodoxie lobt, nun sagt: je | wenn ich die Orthodoxie tadle, so meine ich die falsche, so muß man sich verständigen. Die Begriffe sind unvollkommen, weil sie in der Polemik entstanden sind. Was in der Kirche galt, das war orthodox, was neu und dem entgegen war, war heterodox. Als aber in letzterem auch etwas Gutes war, wurde das Orthodoxe verächtlich. Worin besteht die falsche Orthodoxie? Das speciell orthodoxe einer jeden Periode wird durch das Entwikelungsprincip derselben bestimmt. Das ist in beständigem Fortschreiten und dies ist ein extensives und intensives, extensiv indem ein Princip allmählich sich umbildet, intensiv, wenn nach dem Entwikelungsprincip selbst die Theile können vollkommner und unvollkommner dargestellt seyn. Die unvollkommne setzt schon alles in Ruhe, was früher war und jede vollkommnere Darstellung soll die unvollkommnere antiquiren. Das Bessere muß sich ja nothwendig festsetzen. Widersetzt man sich dieser Fortschreitung so daß man nur das früher schon bestandne festhalten will, damit nicht unter dem Schein einer vollkommneren Darstellung, nach dem Entwikelungsprincip der Periode selbst, sich PmitS etwas einschleiche, so ist dies die falsche Orthodoxie. Sie geht offenbar von der Unwissenheit aus, von der Skepsis. Wenn ich mir nicht traue, ob eine neuere Vorstellung besser ist als die ältere zu untersuchen, so habe ich ja das Alte bloß angenommen und das ist der Character der 12 PesS] oder PerS 20–21 Als ... Gutes war,] Kj Insofern als ... Gutes war, oder Als ... Gutes entdeckt worden war, 14 KD1 II 3 § 13 (KGA I/6, S. 289)

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falschen Orthodoxie, daß sie sich an Tradition hält und die Einsicht zurükhält. Das ist verwerflich. Eben so giebt es nun auch falsche Heterodoxie, welche alles beweglich machen will. Sie geht von demselben Princip | mit der wahren Heterodoxie aus, von dem Princip der freien Entwikelung das sagt: es muß eine Menge von Ansichten geben, die den Protestantismus nicht bestreiten aber eine andre Gestalt an sich tragen und aus dem Princip nicht begriffen werden können. Das ist die wahre Heterodoxie. Man darf auch nach dieser nicht hemmen, was mit der gegenwärtigen Zeit in Widerspruch steht, denn es kann ja das etwas Künftiges entwikeln. Das steht aber doch unter der Grenze des eigenthümlich christlichen Characters und alles Heterodoxe kann nur geduldet werden in so fern es nicht heretisch ist, nicht dem Eigenthümlichen des Christenthums entgegen ist. Sagt man nun, es kann dem Eigenthümlichen des Christenthums nicht widersprechen, so wird alles beweglich gemacht, und die Einheit ganz zerstört. Das ist die falsche Heterodoxie. Diese sind in absolutem Gegensatz unter sich, also auch mit der Ansicht welche die Vereinigung des Orthodoxen und Heterodoxen will. Sie sind beide unter sich entgegen und entgegen der wahren Orthodoxie und Heterodoxie. Wer nicht auf dem Standpuncte steht, dieses Zusammenseyn, die Orthodoxie und Heterodoxie, das Kirchliche und Lebendige zu begreifen, der ist, wenn er auf der Orthodoxie steht[,] in Gefahr, die wahre Heterodoxie herabzuwürdigen und umgekehrt. Beides muß im gegenwärtigen Zustand immer anerkannt werden. Daher die natürliche Conclusion § 16., daß jede treue Darstellung vom gegenwärtigen Zustande des Lehrbegriffs beides mit einander vereinigen muß. Das Fundament muß das Orthodoxe seyn. Aber wer nicht neben der Orthodoxie die Heterodoxie aufnimmt, der hat nicht das Leben der Kirche ergriffen und es ist zweifelhaft, ob auch das Orthodoxe richtig aufgefaßt ist. Von hier aus können wir noch vergleichen die geschichtliche Ansicht der Dogmatik und die systematische oder philosophirende. | Den Begriff des Heterodoxen muß man negativ bestimmen, es ist dasjenige was aus dem Princip der laufenden Periode nicht kann erklärt werden. Daraus folgt, daß wenn die vollständige Kenntniß vom Gegenwärtigen Zustande des Lehrbegriffs der Kirche verbindet das Orthodoxe und Heterodoxe, so wird in die Darstellung nicht bloß aufgenommen seyn, was in die weitere Fortbildung nothwendig verflochten ist, sondern auch dasjenige was so eben erzeugt, auch wieder verschwindet; denn es ist uns um die Gegenwart zu thun. Jede solche 3 KD1 II 3 § 14 (KGA I/6, S. 289) 20 KD1 II 3 § 15 (KGA I/6, S. 290) 24 KD1 II 3 § 16 (KGA I/6, S. 290) 33 KD1 II 3 § 17 (KGA I/6, S. 290)

§ 14. 107r

§ 15.

§. 16.

107v; § 17.

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§ 18.

108r; § 19.

§ 20.

Vorlesung 1816/17 · Nachschrift Jonas

Vorstellung ist nicht nur ihres Inhalts wegen merkwürdig, sondern es muß aus ihnen mit erkannt werden wie sich das Ganze eben befindet. Das Ganze ist doch anders, wenn viele neue Vorstellungen bestehen, als wenn gar keine, man muß also nothwendig von ihnen Notiz nehmen. Man kann also auch nichts andres sagen, als daß alles, der Inhalt und das Verhältniß zum Orthodoxen mag seyn welches es wolle, mit aufgenommen werden muß in die Kenntniß des gegenwärtigen Zustands. Dadurch wird eben die Kenntniß ein Unendliches und es ist aufgegeben, so viel als möglich von allen Meinungen die gegenwärtig in der Kirche sind, Notiz zu nehmen. Nun wird aber die Idee gar nicht erreicht, wenn die abweichenden Meinungen nebeneinander aufgestellt werden in besondren Artikeln: denn die Gegenwart wird immer nur verstanden, wenn sie als Resultat der Vergangenheit und als Keim der Zukunft verstanden wird. Aus der Darstellung muß das Gennetische hervorgehn und in der Darstellung muß das Urtheil enthalten seyn, was wol daraus werden kann, ob sie sich mit dem Orthodoxen verbinden werden, oder ob sie verschwinden werden, oder etwas Neues bilden. | Dies ist nun freilich nicht zu allen Zeiten gleich reich. Ob es leicht oder schwer ist zu beurtheilen, was da werden wird, das hängt von der Lage ab. Je vollständiger nemlich das dominirende Princip schon entwikelt ist in einer Periode, desto leichter ist es zu beurtheilen, ob einzelne Vorstellungen damit übereinstimmen oder nicht, je unvollständiger, desto schwerer. Hier also auch ein Unendliches nicht nur in der äußeren Vollständigkeit sondern auch im inneren Umfang. In dieser Disciplin werden wir also auch einen Unterschied aufstellen müssen zwischen demjenigen was für jeden ist und was für besondre Virtuosität. Von § 20. [an] ist von der eigentlichen Behandlung des Gegenstandes mehr die Rede. Nemlich indem nun das Einzelne in dem Lehrbegriffe hier soll in seinem gegenseitigen Zusammenhange dargestellt werden, so giebt es nach den Principien, die früher aufgestellt sind, ein Zweifaches, worauf der Zusammenhang muß bezogen werden, den Canon auf der einen Seite, die Speculation auf der andren Seite. Der Canon enthält die normale Darstellung des Christenthums, in dem wesentlichen Puncte. Die weitre Entwikelung in verschiedene Puncte wird also nur richtig seyn, in so fern sie mit dem Canon in Beziehung ist und von dieser Seite kann man ihren Zusammenhang unter sich erkennen. 1

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6 KD II 3 § 18 (KGA I/6, S. 290) 20 KD II 3 § 19 (KGA I/6, S. 290) 30 KD II 3 § 20 (KGA I/6, S. 290) 33 Vermutlich bezieht Schleiermacher sich auf KD1 II Einl. § 18; II 1 § 2; II 2 §§ 28–32 (KGA I/6, S. 268,4–7; 272,1–4; 283,21–284,12).

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Allein der gegenwärtige Augenblick soll dargestellt werden vorzüglich in seiner Bedeutung für die Entwikelung der besonderen Periode. Diese hat wieder ihre besondre normale Darstellung und diese ist in den Symbolen enthalten. Die Symbole selbst beziehen sich alle auf den Canon. Das nächste ist also der nothwendige Zusammenhang mit der Beziehung auf das Symbol, worin dann die Beziehung auf den Canon enthalten ist. Die Behandlung des Lehrbegriffs muß sich zuerst entwikeln | aus dem Symbol und das Verhältniß mit demselben zeigen und wo das noch nicht ist, da hat sie Ursach auf den Canon zu gehen. Das hat man oft verkannt in der neuern Zeit, scheinbar vom eigenthümlichen Princip des Protestantismus aus welches keine absolute menschliche Autorität anerkennt. Man hat gesagt: aus den symbolischen Büchern die Begriffe entwikeln sey gegen dies Princip. Sie müßten aus dem Canon entwikelt werden. Das ist Zerstörung des geschichtlichen Characters dieser Disciplin, Pdaher daßS man gerade PsieS von dem geschichtlichen Character ausscheidet. Aber es ist doch eine Verwirrung wenn man so auf den ersten Punct zurükgeht, statt auf den nächst vorhergehenden zu gehen. Alles Successive hört auf. Diese Behandlungsweise der Dogmatik hat viel beigetragen, die Entwikelung des Protestantischen Princips in Vergessenheit zu bringen. Es wurde nichts zusammengeknüpft, als das aller allgemeinste, der Canon und das aller Einzelnste, die einzelne Darstellung der Vorstellungen aus dem Canon. Das ist gar nicht historisch, die Mittelpuncte wegzulassen. Indem sie sich von allen geschichtlichen Banden lossagt, PliegtS der Uebergang zur philosophischen Richtung derselben. Wenn ich sage die dogmatischen Vorstellungen müssen zunächst in Verbindung gebracht werden mit dem Symbole und daraus abgeleitet werden, so scheint das doch nicht gelten zu können für alle Zeiten; denn Symbole kommen nicht zu Stande, in so fern eine neue Periode entsteht; sondern nur in so fern ein neuer Gegensatz sich bildet. Das scheint also wahr zu seyn für die gegenwärtige Zeit, aber gar nicht allgemein. Die Sache ist diese: In einem gewissen Sinne läßt sich freilich sagen, daß eine neue Periode ohne | dogmatischen Gegensatz hervorzubringen, entstehn kann. Auf der andern Seite muß man aber gestehen, daß ohne einen Gegensatz keine neue Periode sich bilden kann; wenn auch keine äußere Trennung vorfällt, so ist sie doch PinS der Gesinnung vielleicht. So ist es z. B. im Scholastischen und Mystischen. Man muß also das Symbol etwas weiter fassen. Das Symbol liegt nun in der Entgegenstellung der verschiedenen Gesinnungen, wenn das auch nur bloße Schulen werden, wie die Scholastische und Mystische. Und so im weitern Sinne wird das immer statt finden. 1 KD1 II 3 §§ 21–22 (KGA I/6, S. 291)

§ 21. 22.

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212 § 23.

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§ 25.

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In der nähern Anwendung auf uns müssen wir sagen: unser gegenwärtiger Zustand ist begründet in dem Zeitpunct, wo die beiden Parteien gegen einander waren und wodurch der Lehrbegriff ein doppelter wird. Die Darstellung des Protestantischen Lehrbegriffs muß immer zurükgehn auf die Symbolischen Bücher der Protestantischen Kirche und die Darstellung des Catholischen Lehrbegriffs auf die Beschlüsse des Tridentinischen Concils und den darauf gegründeten Catechismus. Die Symbolischen Bücher der Protestantischen Kirche können aber nur verstanden werden mit der Tendenz der catholischen Kirche überhaupt. Protestantismus ist nicht verständlich ohne Catholicismus. Keine einzelne Vorstellung im Protestantismus ist also vollkommen dargestellt, wenn nicht das Verhältniß zu ihr in der catholischen Kirche mit dargestellt ist. Das eigenthümliche Princip des Protestantismus, wie es dem des Catholicismus entgegengesetzt ist, muß alle Theile durchdringen. Ich habe also nur das Maaß eines Lehrstüks, wenn ich weiß, wie stark sich darin der Gegensatz ausspricht des Protestantismus und des Catholicismus. Natürlich kann das Mehrhervortreten des Einen | nicht immer gleich seyn. Bei der Behandlung des Lehrbegriffs, in wie fern sie dogmatisch seyn soll, muß man diese Beziehung nie verabsäumen. Dies ist ein Punct, wo wir den mangelhaften Zustand der Disciplin in dem gegenwärtigen Augenblick nicht verkennen können. Die Protestanten kennen viel zu wenig den Catholicismus und in ihren Werken ist die Vergleichung nicht wie sie seyn sollte. Es ist wol natürlich, daß dies mehr und mehr aufhört. Je mehr die Protestantische Kirche sich consolidirt hat und die positive Feindschaft abnahm, je mehr man zu thun hatte, auf das Differente im Protestantismus zu sehen, desto mehr hat diese Vergleichung abgenommen, die in den Symbolischen Büchern am stärksten ist und seyn mußte, weil sie gerade den Gegensatz klar machen sollte; dem müssen wir aber wieder entgegenstreben und wir müssen wieder Rüksicht nehmen auf das Catholische. Eine dogmatische Darstellung die überwiegend von der Speculation ausgeht, kann sich freilich begnügen, nur die Hauptpuncte des Gegensatzes anzuführen. In welcher aber die Symbole und die Beziehung auf den Canon vorherrscht, da muß die Beziehung öfter seyn, um das lebendige Bild zu geben. Hier ist in Beziehung auf den Canon und das Symbol aufmerksam gemacht, wie das dogmatische Verfahren sich ändern muß, wenn und so oft die Behandlung des Canons sich ändert, ohne daß die behandel1 KD1 II 3 § 23 (KGA I/6, S. 291) 38 KD1 II 3 § 25 (KGA I/6, S. 291)

9 KD1 II 3 § 24 (KGA I/6, S. 291)

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ten Gegenstände anders werden. Aber die Ableitung aus dem Canon muß anders werden, wenn die Behandlung des Canons sich ändert. Aus den verschiedenen Behandlungen des Canons | müssen nothwendig verschiedene Behandlungen der Dogmatik statt finden. Je mehr man das Wesentliche in jedem Punct ohne Beziehung auf den andren betrachtet bei der Betrachtung des Canon, desto mehr muß das Bestreben seyn, in der Dogmatik aus diesem Herausgerissenen zu argumentiren. Je mehr man den Canon im Zusammenhang betrachtet, desto mehr wird man auch aus diesem Zusammenhange für die Dogmatik argumentiren. § 26. ist die Rede von der Beziehung der dogmatischen Behandlung auf die Speculation. Es ist offenbar daß diese Beziehung in Vergleich mit jener nur Nebensache ist, denn sie trifft weit weniger das Innere als das Aeußere. Dies ist ein Punct, worin die beiden Ansichten von der Dogmatik, ob sie geschichtlich oder philosophisch sey, sich scheiden. Das ist aber gewiß, daß sieht man die Dogmatik philosophisch an, so ist sie keine theologische Disciplin. Die Speculation ist aber für sie unentbehrliches Mittel. Nicht nur der Ausdruk, sondern auch die Combinationen der Dogmatik werden immer philosophisch seyn. Das ist aber nur das äußere, das innere ist das religiöse Bewußtseyn, was immer an das Christliche anknüpft und also das Wesentliche ist, wie jenes das Untergeordnete. Kehrt man es um und sagt: das Speculative ist die Hauptsache in der Dogmatik. Indem ich mir meine Dogmatik bilde, kann ich mich selbst an Symbol und Canon nur in so fern binden, als ich diese speculativ construiren kann. Was man Rationalismus nennt im Gegensatz gegen Supernaturalismus, ist nichts anders als die Umkehrung dieses Verhältnisses und so bleibt diese Dogmatik keine theologische Disciplin. Sie hört ganz auf. Man kann nichts anderes auf diesem Wege erlangen, als rationale Theologie, in welcher man sich | überredet, das Christenthum demonstrirt zu haben und so ist Transcendentalphilosophie und Dogmatik einerlei. Dadurch bekommt man keine positive Religion also auch nicht das Christenthum denn es ist ein geschichtlich Gewordenes und nicht ein wissenschaftlich Gewordenes. Wenn nun jedes einzelne religiöse Bewußtseyn, welches Inhalt eines Dogma ist, seine Begründung nur haben kann von dem bestimmten religiösen Character, und der Ausdruk in den Ausdruk des christlichen religiösen Typus aufgelöst werden muß und diese die eigentliche dogmatische Demonstration ist, so sieht man, daß sie zurükgeht auf den Canon und das Symbol. Das Speculative in der Dogmatik ist nichts anders, als das Zusammenstimmen der Terminologie. Das Zu11 KD1 II 3 § 26 (KGA I/6, S. 291)

12–13 Vgl. oben § 20 (KGA I/6, S. 290,23–25)

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§ 27.

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sammenstimmen Pder SachenS liegt auf einem ganz andern Gebiet, auf der Nachweisung aus dem Canon und dem Symbol, denn darin ist der bestimmte religiöse Typus. Aber es kann ja dieses nicht völlig bestehen und sobald ich das religiöse Bewußtseyn in Gedanken auflöse, in Worten ausdrüke, so kann die Zusammenstimmung wieder zweifelhaft werden, indem der Eine sich bei den Worten dieses, der andre jenes denke. Wenn also die Darstellung vollkommen seyn soll, so muß sich die Sprache eben so rechtfertigen als Eines, wie die Sachen und dies kann nur speculativ geschehen. PDaS aber die speculative Sprache dominirt, so müssen auch die speculativen Begriffe in der Anordnung dominiren. Der Ausdruk des Einzelnen und die Anordnung des Ganzen ist in genauem Zusammenhange. Betrachten wir nun, wie es mit der Speculation steht, so werden wir | finden fast immer sehr verschiedene speculative Ansichten. Es muß also auch verschiedene dogmatische Darstellungen geben in Beziehung auf diese verschiedenen speculativen Ansichten. Aber das Dargestellte braucht deßhalb nicht verschieden [zu] seyn, und wenn man die Verschiedenheit des Ausdruks nicht von der Verschiedenheit des Inhalts zu sondern weiß, so verwikelt man sich in Streite, die völlig leer sind, nemlich in der Dogmatik, der Streit ist dann bloß über die verschiedenen philosophischen Systeme. Hätte man das nicht verwechselt, so hätte die Dogmatik viel mehr Ruhe gehabt. Es steht also fest, daß es verschiedene Ausdrüke der religiösen Zustände geben kann, wobei das religiöse Bewußtseyn ganz dasselbe seyn kann. Wenn wir nun die Speculation selbst auf geschichtliche Weise betrachten, so werden wir sehen, die Differenz ist hier auch von ganz andrer Art als man gewöhnlich denkt. Es giebt einen Streit zwischen der Speculation und der Antispeculation, der auch philosophisch aussieht, weil man gegen Speculation als solche nur philosophisch streiten kann. Der Streit der meisten philosophischen Systeme ist aber auch nur ein Streit über die individuelle Gestaltung und so findet auch eine Coordination der verschiedenen philosophischen Systeme statt, wie bei den Religionen und das Verhältniß ist ganz dasselbe. Wenn sich zwei philosophische Systeme nicht so verhalten, daß das eine Vertheidigung der höchsten Anschauung ist, das andre eine Protestation dagegen, so sind sie sich nicht entgegen. An jedes wahrhaft philosophische System kann sich also die Darstellung des Lehrbegriffs anschließen, nur nicht an das antiphilosophische System, denn was gegen die höhere Anschauung protestirt, das hebt in der Speculation und im Gefühl alles auf. Ist also 1 Pder SachenS] oder Pdes WahrenS 25 KD1 II 3 § 27 (KGA I/6, S. 291)

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das System Ausdruk der höhern Anschauung | so kann es zum Medium der dogmatischen Darstellung dienen. „Ein System ist vollkommner ausgebildet als ein andres. Nun ist das vollkommenere System das bessere Medium. Wenn es nun verschiedene Formen der höheren Anschauung und verschiedene Formen des religiösen Bewußtseyns giebt, so kann das eine System besser zum Ausdruk des religösen Bewußtseyns dienen als das andre.“ Aber in der Praxis wird das nicht viel Anwendung finden, denn der christliche religiöse Typus hat sehr viel verändert und umgeschaffen in den Systemen der Philosophie. Sobald von solchen Systemen die Rede ist, die sich von diesem Princip aus entwikelt haben, und nicht von alten Philosophien, die dazu gar nicht mehr passen, so sind sie alle gleich geschikt, daran die dogmatische Darstellung zu knüpfen. Das Darstellen unter dieser oder jener Form ist nur Nebensache, es kommt nur darauf an, wie einer das religiöse Princip in sich trägt und klar ausgebildet hat. Damit man aber die Differenz des christlichen Inhalts nicht verwechsele mit der Form des Ausdruks, muß man in mehreren verschiedenen Ausdrüken für dasselbe christliche religiöse Bewußtseyn sich eine Gewandheit verschaffen. Ist es denn nun durchaus nothwendig, die Darstellung an die philosophischen Systeme [zu] knüpfen oder nicht? Man hat gesagt nein und das ist der sogenannte Ecclecticismus. Jeder Theologe muß ein wissenschaftlich gebildeter seyn und das kann er nicht, ohne in das Speculative zu gehen. Muß also ein Theologe ein eignes philosophisches System haben? Ja sagt man: der wissenschaftlich gebildete muß Ecclectiker seyn, muß sich aus allen Systemen das beste heraussuchen, um | nicht durch ein einzelnes System einseitig zu werden. Das klingt schön, aber ist es gar nicht. Aus allem das beste aussuchen heißt ein Fricasse aus sich selbst machen und daß man blank und baar von aller Individualität ist. Die systematischen Leute, wenn sie geschichtlich und critisch zugleich sind, so wird ihre Receptivität gar nicht gefährdet und sie werden nicht einseitig. Eben so kann nun auch keine Dogmatik existiren ohne sich an ein philosophisches System anzuschließen. Die nicht wissenschaftlich gestaltete, die in der gewöhnlichen Volkssprache abgefaßte Reflexion über die religiösen Begriffe, die populaire Dogmatik, soll jeder haben und sie stellt Geistliche und Laien gleich. Aber in dieser gewöhnlichen Sprache verwirrt sich vieles und es ist für eine höhere Erkenntniß durchaus die philosophische Sprache nothwendig sonst bekommt man lauter Catechismen. § 28. Von nun an die Trennung. Die Unendlichkeit des Inhalts ist hier dadurch nachgewiesen, daß der Lehrbegriff der Kirche von den 40 KD1 II 3 § 28 (KGA I/6, S. 292)

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§ 28.

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§ 29. 30.

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Einzelnen und ihren Meinungen entsteht. Wenn wir von der Protestantischen Ansicht ausgehen, so läßt sich dies leicht klar machen, nemlich wir haben nichts andres, worin sich die Kirche als solche über den Lehrbegriff ausgesprochen habe, als die symbolischen Bücher. Diese umfassen aber nicht den ganzen Lehrbegriff, sie sind nur davon ausgegangen, die streitigen Puncte auseinanderzusetzen. Auf Vollständigkeit machen sie nicht Anspruch. In wie fern in ihnen über viele gar nichts gesagt ist, so wird man immer Unrecht thun zu sagen, in diesen Puncten solle der Protestantismus vom Catholicismus nicht abweichen. Nun kann man sagen: wenn man nur von ihnen aus das Protestantische | Princip recht entwikelt, so kann das ja leicht auf alles andre angewandt werden. Diese Folgerung aber aus den symbolischen Büchern geht auf sehr differente Art, also bleibt es dabei, daß der Lehrbegriff aus den Meinungen Einzelner entsteht. Aber man muß nicht nur auf die symbolischen Bücher sehen und daraus folgern, sondern man muß auf das Gennetische zurükgehen, weil man sonst dies oder jenes für unwesentlich PerklärenS würde oder dürfte, und so finden wir dann, daß die symbolischen Bücher selbst Meinungen Einzelner sind. Dasselbe gilt auch von der catholischen Kirche. Der Lehrbegriff braucht da weniger durch Folgerungen gemacht zu werden, er ist da das Aggregat aller Aussprüche der Kirche. Da muß man aber auch das Zufällige vom Wesentlichen unterscheiden und auf das Gennetische sehen und so entsteht auch der Lehrbegriff im Einzelnen. Princip der Scheidung. Alles im Lehrbegriff aller coexistirenden Kirchenparteien, was sich aus dem Princip der letzten Epoche verstehen läßt, gehört zu dem allgemeinen Gebiet, das muß jeder wissen. In alle demjenigen, was als Folgerung aus den symbolischen Büchern bestimmt ist, in denjenigen Puncten, die noch nicht auf eine auf das Princip des Protestantismus sich beziehende Art festgesetzt sind, darin sind noch mehre Versuche vorhanden, das Scholastische mehr umzubilden, ohne auf das Princip des Protestantismus zu sehen, sondern unbewußt, PaberS das alte festzuhalten, und diese Versuche können nicht zum allgemeinen gehören. Aber wo soll die Grenze seyn? Was von geschichtlicher Bedeutung ist. Das ist aber nicht absolut zu bestimmen. Man kann aber zwei Voraussetzungen machen: Die ersten Stifter des Protestantismus haben schon alles bestimmt aus der Scholastik, was geschichtlich war. Also bleibt es hiernach beim Alten. Die zweite setzt alles dies für zufäl17 PerklärenS] oder PverkennenS 25 KD1 II 3 §§ 29–30 (KGA I/6, S. 292)

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lig, weil PsieS den Protestantismus nicht als etwas beim | Entstehen Abgeschlossnes, sondern als etwas sich Fortentwikelndes ansieht. Auf eben die Weise kann auch nur § 30. verstanden werden, daß zum Gebiet der Virtuosität gehöre die genaue Kenntniß aller Streite und Meinungen auch derjenigen, welche wieder verschwinden. Welche aber gewagte Meinungen sind, das läßt sich wieder nur aus den beiden Voraussetzungen herleiten, und es hat jeder sich zwischen beiden zu entscheiden. Diese Entscheidung kann einer nur haben in der Uebersicht des ganzen Lehrbegriffs und der Entstehung des Protestantismus im allgemeinen. Also ist es natürlich, erst Kirchengeschichte zu hören und dann Dogmatik. Dazu gehört aber wol eine genauere Kenntniß des geschichtlichen Studiums als man gewöhnlich auf der Universität treibt, also müßte dies wol auf der Autorität wiederum beruhen, da er nicht alles selbst entscheiden kann? Aus einer elementarischen Kenntniß des geschichtlichen Verlaufs können aber schon die Bedingungen erworben werden, unter welchen jemand bei der Dogmatik ausgegangen ist von dem einen oder dem andren und so geht doch die Kirchengeschichte natürlich voran. Die Dogmengeschichte muß aber hiebei vollkommen historisch behandelt seyn und ist PnichtS nach den einzelnen Lehrstüken zu trennen, was d. Lehrbegriff der gegenwärtigen Zeit voraussetzt. § 31. Alles bisher Gesagte gilt von der theoretischen und practischen Seite des Lehrbegriffs, was von selbst klar seyn wird. Da die Trennung erst später ist, wie steht es jetzt? Offenbar mußte erst die Entwikelung auf einen bestimmten Punct gekommen seyn, um beide zu trennen und eine gewisse Differenz mußte da seyn. | Daß aber die Trennung so spät erfolgt ist, liegt in geschichtlichem Umstande. Die Ausbildung der Dogmatik hat sich an die aristotelische Philosophie geknüpft. Es war aber sehr schwierig, die christliche Sittenlehre auch an die aristotelische Form zu knüpfen. Dieses [vorausgesetzt] und eben damit im Zusammenhange kann man es sich wol denken, daß die ganze wissenschaftliche Ausbildung weit mehr die Dogmatik ergriff. Es ist dadurch sehr anschaulich, wenn man das erste Product betrachtet, welches aus der scholastischen Zeit als solches erstes Product der Sittenlehre da ist, das nosce te ipsum von Abelard. 1 PsieS den] oder PsichS der

20 d.] Abk. wohl für der oder den

3 KD1 II 3 § 30 (KGA I/6, S. 292) 22 KD1 II 3 § 31 (KGA I/6, S. 292) 24 KD1 II 3 § 32 (KGA I/6, S. 292) 35 Vgl. Petrus Abaelardus: Scito te ipsum (Ethica), ed. Rainer M. Ilgner, CCM 190, Turnhout 2001 – Wie Schleiermacher selbst im Zusammenhang seiner Kollektaneen zur Vorbereitung seiner kirchengeschichtlichen Vorlesungen notierte, war zu seiner Zeit die Schrift „Nosce te ipsum“ des Petrus Abaelardus (1079–1142) nicht ediert (vgl. Vorlesungen über die Kirchengeschichte, hg. v. Simon Gerber, KGA II/6, S. 329).

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§ 31. § 32. 113v

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§ 34.

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Das Zeitalter machte den Mangel dadurch gut, daß wenn über die christlichen Lebensmaximen weniger reflectirt wurde, sie desto fester standen, in der Tradition und den kirchlichen Einrichtungen. Je laxer dies nachher wurde, muß man es wieder an die Speculation anknüpfen, daher die erste Schrift der christlichen Sittenlehre in der Laxität der Tradition und kirchlichen Einrichtungen entstand. Unter welcher Bedingung ist sie nun nothwendig diese Trennung? Die Antwort § 33. Je mehr practische und theoretische Philosophie übereinstimmen, desto mehr wird Dogmatik und Sittenlehre zusammen seyn. Diese Correspondenz tritt aber immer noch nicht heraus im gegenwärtigen Zustande der Philosophie. Die meisten Umwälzungen allerdings haben zwar andre philosophische Sittenlehren herbeigebracht, wenn gleich in verschiedenem Grade der Ausbildung. Das Fichtische System der Moral z. B. ist weit ausgebildeter als das Kantische. Im Schellingschen System ist noch keine Ethik zusammenzubringen. Die Correspondenz ist aber mehr im Geiste, als in der Organisation der Disciplinen. | Der letzte Punct ist ebenfalls ein springender für diese Sache. Je mehr sich das Princip des Protestantismus gleichförmig nach beiden Seiten ausbildet, so wird man desto mehr sagen müssen, wo es hervorgetreten ist auf der dogmatischen Seite, da auch auf der moralischen, wo auf der dogmatischen nicht, da auch auf der moralischen nicht. Aber auch von dieser Seite ist die Trennung beider Seiten jetzt noch zwekmäßig. Der in die Mitte gelegte Punct ist ebenfalls ein für die Frage bedeutender. Nemlich die Differenz oder die Uebereinstimmung der Reflexion mit der Praxis auf dem sittlichen Gebiete ist hier der Punct, worauf es ankommt. Je weniger die Lebensweise übereinstimmt mit der speculativen Meinung, d. h. je laxer die Sitte ist, desto nothwendiger ist die Trennung; denn die Darstellung der Disciplin ist dann ein Riegel, welcher der Laxität vorgeschoben wird. Wenn aber auch von allen diesen Puncten aus die Veränderung statt finden könnte, daß beide zusammen bleiben, so kann doch die Vereinigung der beiden Disciplinen nur dann erfolgen, wenn der Lehrbegriff im Einzelnen weit mehr ausgebildet seyn wird. Dann wird aber wieder die große Masse die Trennung nothwendig machen und so ist keine Hoffnung zur Vereinigung da. Die christliche Moral muß [eine] ähnliche Abhängigkeit haben als der Lehrbegriff, sie kann auch nur in philosophischer Sprache abgefaßt werden. Auf welche philosophische Disciplin beziehen sich nun 7 KD1 II 3 § 33 (KGA I/6, S. 293) 17 Gemeint ist KGA I/6, S. 293,5–7. meint ist KGA I/6, S. 293,3–5. 37 KD1 II 3 § 34 (KGA I/6, S. 293)

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die beiden theologischen Disciplinen? Die theoretische Seite des Lehrbegriffs § 34. cet. Hier ist zweierley zu bemerken: rationale Theologie erinnert zuerst nur an verschollene philosophische Systeme. In der LeibnitzWolffischen Philosophie ist diese Disciplin zuletzt aufgestellt. | Sie ist nichts andres, als was philosophisch festgesetzt ist über die Theologie. Dies muß wenn auch nicht getrennt doch immer da seyn. Ein philosophisches System, welches das höchste Wesen ganz ableugnete, wäre ein antiphilosophisches und die Dogmatik könnte sich nicht daran anschließen. Der theoretische Lehrbegriff bezieht sich auf die Speculation als auf dasjenige, was speculativ über das höchste Wesen festgesetzt ist. Er knüpft an an das höchste Princip der Speculation. Die christliche Moral knüpft an nicht nur an jede PuntergeordneteS Philosophie die rationale Ethik, sondern auch an eine gewisse Form derselben. Der Begriff der Tugend ist offenbar auch in der religiösen Beziehung uns eben so geläufig, als der Begriff der Pflicht, warum könnte sich also diese Moral nicht eben so gut an eine rationale Tugendlehre als eine rationale Pflichtenlehre anschließen? Sehr lange freilich hat sie sich bloß an die Pflichtenlehre gehalten. Das kann aber zufällig erscheinen, weil sie sich an den Decalogus gehalten, der die Pflichtenlehre enthält. Aber eines Theils finden wir im Canon selbst schon ein Uebergewicht von Pflichtausdrüken über die Tugendausdrüke andrentheils ist es aus der Natur der Sache zu erklären. Das religiöse Bewußtseyn wird immer das Bewußtseyn eines bestimmten Handelns und das fällt unter die Pflichtenlehre. So ist es natürlich gewesen und so wird es auch wol bleiben. Dies giebt Uebergang zu § 35., der die Differenz recht vor Augen stellt. Lange Zeit ist als rationale Theologie angesehen, was eigentlich nur Dogmatik war, und als rationale Ethik angesehen, was eigentlich nur religiöse Moral ist, doch mit Absonderung des allgemein christlichen. Eine jede Sittenlehre, die bloß ein | philosophisches Gefühl zum Grund hat, ist eigentlich nicht philosophisch, weil sie auf kein System zurükgeht. Die Objectivität geht bei solcher Darstellung ganz verloren. Die englischen Philosophen haben alle Tugend und alle Pflicht aus dem Gefühl, aus der Sympathie hergeleitet. Aber die Bewegung des Gefühls an und für sich kann nur religiöse seyn, und es ist ein Mangel, wenn man das nicht wahrnimmt. In jeder solchen Darstellung muß ganz der Character seyn, der der religiösen Moral zum Grunde liegt, das eigentlich Christliche ist nur davon genommen. Aber auf allgemeine religiöse Sittenlehre kann sich eine christliche Sit27 KD1 II 3 § 35 (KGA I/6, S. 293)

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§ 35.

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§ 37.

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tenlehre nicht so beziehen, wie auf eine rein speculative Ethik. So auch die andre. Nemlich man kommt sehr bald dahinter, daß man aus reiner unmittelbarer Anschauung nichts Mannigfaltiges aussagen kann über das höchste Wesen, und daß es keine rationale Theologie giebt, die viele Sätze enthalten konnte, sondern daß man das Bewußtseyn von Gott immer nur zum Grunde legt, ohne selbst darüber etwas zu sagen. Will man über das höchste Wesen etwas Mannigfaltiges geben, so kann man sich nur an das Gefühl halten, weil keine Anschauung da ist, das ist aber nichts als Reflectiren über das Gefühl und ist keine philosophische Disciplin, sondern eine religieuse, nicht was man rationale Theologie nennt, sondern natürliche Theologie, abstrahirt von allem Individuellen. Zu solcher natürlichen Theologie kann die Dogmatik auch nicht in dem Verhältniß stehn, in welchem sie zu einer rationalen stehn soll. Auf verschiedene philosophische Systeme können Dogmatik und Moral nicht bezogen werden, ohne das Verhältniß der beiden Disciplinen aufzulösen und sich zu verwirren. Die Trennung der beiden Disciplinen | ist zwar rathsam und hat sich geschichtlich gestaltet, aber sie müssen doch immer zusammen seyn, man muß immer von einem Punct zum andren gehn können. Das wird aber unmöglich, wenn jede Disciplin auf ein andres philosophisches System bezogen ist. § 37. 38. 39. ist die Anwendung gemacht von dem was § 33. auseinandergesetzt war auf die gegenwärtige Lage der Sache, zu zeigen, daß die Trennung noch mit demselben Recht besteht, womit sie eingeführt. Der kirchliche Gegensatz der gegenwärtigen Periode hat sich auf der practischen Seite noch nicht so ausgebildet als auf der Theoretischen, und die practische bedarf deßhalb noch einer besondren Bearbeitung, um der theoretischen nachzukommen. Das ist eine wunderbare Erscheinung. Die catholische und die protestantische Sittenlehre sind ganz andre, der Catholik wird in vielen Fällen ganz anders handeln als der Protestant und wenn sie auch gleich handeln, so ist doch dem einen ganz anders dabei zu Muthe als dem andren. Das Verhältniß des Staats zu beiden Kirchen ist ein ganz verschiedenes und so wird also schon das erste zu erklären seyn. In der ganzen Protestantischen Gesinnung tritt der Einzelne ganz anders heraus als in dem Catholicismus, wo jeder sich weit mehr nur als Theil des Ganzen setzt, also muß eine ganz verschiedene innere Construction des Handelns seyn und das zweite ist also auch klar. So bestimmt wir das einsehen können, so wenig tritt es in der Reflexion, in der christlichen 1–2 So auch die andre] scilicet: Seite des Lehrbegriffs (KGA I/6, S. 293,10) 15 KD1 II 3 § 36 (KGA I/6, S. 293)

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Sittenlehre heraus. Freilich auf gewisse Weise, denn eine catholische Moral sieht viel dogmatischer aus, als eine protestantische, aber lassen wir das fort, so stellt sich das nicht so dar, man vermißt den Gegensatz darin. [§ 38. wird] auf das zweite im 33. § gesehen und gefragt, was ist das Maaß, wornach sich bestimmen läßt, ob die speculativen Meinungen und die Lebensweise | zusammenhängen und in welchem Grade oder nicht? Die speculativen Meinungen hängen von der Wissenschaft ab und die Maximen von dem bürgerlichen Leben. Je mehr Wissenschaft und bürgerliches Leben zusammen sind, desto mehr müssen auch die Lehrmeinungen die Maximen bestimmen. In dem gegenwärtigen Zustande aber ist gewiß kein Grund diese Trennung aufzulösen. Nun muß aber ja nicht der lebendige Zusammenhang der Disciplinen verlorn gehen, und es müssen immer die Puncte herausgehoben werden, woran man das andre anknüpfen kann. Von § 40. [an] noch einiges Methodische hinzugefügt. Nemlich womit nun das Studium des gegenwärtigen Zustands des Lehrbegriffs anfangen müsse. Das erste ist offenbar die zusammenhängende Darstellung dessen, was in der Kirche wirklich feststeht, und zwar nicht bloß, was früher ist festgesetzt durch die symbolischen Schriften, sondern alles wodurch der Lehrbegriff allmählig entstanden ist. Wir müssen den Protestantismus immer noch als im Werden ansehen, aber wenn auf der einen Seite diese Entwikelung nicht gleichmäßig ist, so hat sich doch immer schon ein Bestreben gezeigt, überzugreifen und das Protestantische in alles hinüberzubringen. Hier entsteht nun ein Dilemma für den ersten Anfang. Was noch nicht nach dem Princip der herrschenden Periode entwikelt ist, muß ganz gleich gestellt werden mit dem, was schon entwikelt ist. Im größten Theil der Lehre von Gott ist der Protestantische Lehrbegriff noch nicht ganz eingedrungen. Deßhalb kann man nicht diese Lehre auslassen. Dann ist auch gewiß, daß Pdie ArtS des Zusammenhangs der einzelnen Lehren sich weit leichter zeigen läßt, an denen die sich schon ganz entwikelt haben. Doch diesem Dilemma ist nicht auszuweichen, es ist kein andres Mittel, als sich den Zustand der Disciplin recht lebendig zu halten, daß er verschieden ist. | Zu dem, was sich jeder aneignen muß gehört nun nicht bloß das Verständliche sondern auch das noch nicht Verständliche, was von 31 Pdie ArtS] oder Pder OrtS 5 KD1 II 3 § 38 (KGA I/6, S. 293) 5 Vgl. KGA I/6, S. 293,3–5 13 KD1 II 3 1 § 39 (KGA I/6, S. 294) 16 KD II 3 § 40 (KGA I/6, S. 294) 36 KD1 II 3 § 41 (KGA I/6, S. 294)

§ 38. 116r

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geschichtlicher Bedeutung ist. Hier tritt besonders ein, daß die geschichtliche Bedeutung auch eine zweifache ist. Es kann eine hellere Entwikelung des Protestantischen Princips entstehen, also was symbolisch ist, aber es kann auch eine bestimmte Handlung bedeutend seyn, in wie fern sie den Zusammenhang durch das speculative Medium bestimmt. Man muß sehen, in wie fern es Bedeutung hat, ob von der canonischen oder symbolischen oder von der speculativen Seite. Das ist der bestimmte wissenschaftliche Character der dogmatischen Elemente, daß sie auf der einen oder der andern Seite stehn und man hat zu sehen, auf welcher Seite sie stehen. Was aber mit dem kirchlichen Lehrbegriff übereinstimmt, kann in dieser Qualität nicht vollständig erkannt werden, als nur durch Nebeneinanderhaltung des Entgegengesetzten. Es muß also gleich anfangs auch das Abweichende im gegenwärtigen Zustande dargestellt werden. Dies muß auch auf allgemeine Ansichten zurükgeführt werden, auf ein tiefer liegendes entweder antiprotestantisches, oder anti-christliches oder irreligiöses Princip und nur so ist es Erläuterung für dasjenige, was aus dem christlichen Princip hervorgeht. Daher das bloße Anführen oder Verdammen der einzelnen Meinungen noch nicht das Rechte ist, sondern zu diesem Negativen muß ein Positives hinzukommen, man muß sie auf ein bestimmtes antiprotestantisches, antichristliches, irreligiöses Princip zurükführen. Von der Kenntniß des gegenwärtigen Zustands in Beziehung auf die reale Seite. Wir nennen diese Disciplin die kirchliche Statistik. Unter Statistik versteht man gewöhnlich nur die Kenntniß der Verfassung und der äußeren Relationen und der mehr quantitativen Verhältnisse im Staat. Zu unsrer | Disciplin gehört noch vorzüglich die Kenntniß der Entwikelung des religiösen Lebens selbst außer der Verfassung und den äußeren Verhältnissen. Die Benennung paßt aber doch ganz, weil es im Staat auch so seyn sollte, weil auch die Kenntniß der Entwikelung dabey seyn sollte. Sie hat es zu thun mit zweierlei, mit der Kirche selbst, mit der Constitution derselben und den äußeren Verhältnissen im gesammten Gebiet der Christenheit. Allgemeine Dogmatik gab es nicht, sie mußte entweder catholisch oder reformirt seyn. Findet dasselbe aber auch nicht hier statt? Wenn die Trennung die jetzt entsteht, wirklich epochemachend ist, so muß sie eben so wol im Lehrbegriff als in der Constitution Specifisches hervorbringen. Das ist § 44. nicht geleugnet. Dennoch muß die Statistik über die ganze Christenheit sich erstreken, 28 Entwikelung des religiösen] religiösen Entwikelung des religiösen 10 KD1 II 3 § 42 (KGA I/6, S. 294)

23 KD1 II 3 § 43 (KGA I/6, S. 294)

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weil sie weit mehr historisch ist. Die Gegensätze können nicht so betrachtet werden, als im Lehrbegriff, sondern sie müssen rein nebeneinander hingestellt werden. Hier können wir nicht sagen, indem das Eine gesetzt wird, wird das andre ausgeschlossen. § 44. wird gesetzt, daß vermöge der jetzt bestehenden Trennung auch in dieser Disciplin ein Gegensatz fortwaltet. Durch den Catholicismus sind andre äußere Verhältnisse, es ist darin eine andre Constitution und ein andres religiöses Leben als im Protestantismus. Diesem Hauptgegensatz sind die übrigen unterzuordnen. Für uns Protestanten ist der Catholicismus immer, was im Allgemeinen den Gegensatz ausdrükt und wir sollten also eher sagen das nicht Protestantische und auch die morgenländische Kirche darunter mit begreifen in ihren verschiedenen Gestalten. Diese sind deßwegen weniger für diese Disciplin geeignet, weil sie weit weniger eine Geschichte haben und sie sind noch auf dem Puncte, auf welchem sie waren, als sie lebendig eingriffen in die Kirche. | Was zuerst die Darstellung des religiösen Lebens in jeder bestimmten Kirche, das Innere der Disciplin betrifft, so kommt es an auf das, was § 45. [gesagt] ist. Einmal haben wir den Lehrbegriff abgesondert, aber der Lehrbegriff bekommt seinen Zustand, wird entwickelt immer doch nur durch den Clerus. Er ist aber nicht für den Clerus allein da, sondern für die ganze Kirche. Da läßt sich also eine große Verschiedenheit denken zwischen dem religiösen Bewußtseyn des Clerus und der ganzen Gemeinheit. Das ist der erste Hauptpunct. Wenn der Clerus sehr speculativ den Lehrbegriff festsetzt, so ist die Gemeinheit sehr weit davon entfernt und ganz verschieden, als wenn sie selbst von der idealen Seite mit leben könnte. In der Schilderung muß also auf beides Rüksicht genommen werden. Der zweite Hauptpunct ist das Verhältniß worin das religiöse Motiv zu den übrigen Motiven im Menschen steht. Hier ist wieder der Maaßstab zweifach, 1. die Beschaffenheit und die Summe des Irreligiösen im Leben 2. die Art wie der religiöse Character sich auch in demjenigen ausspricht, was sich nicht unmittelbar auf das religiöse Leben selbst im engeren Sinne bezieht. Hier kommt es also bei der Darstellung selbst auf die ganze Composition der Gesellschaft selbst an, ob sie einfach oder zusammengesetzt ist, und ob in den einzelnen Theilen eine verschiedene Gesinnung sich manifestirt. Dieser ganze Theil der Disciplin ist also eigentlich ein Portrait, eine lebendige Schilderung desjenigen Aeußern, worin sich der innere Character ausdrükt. Es ist nun aber schwer ein solches 5 KD1 II 3 § 44 (KGA I/6, S. 294f) 35 KD1 II 3 § 46 (KGA I/6, S. 295)

17 KD1 II 3 § 45 (KGA I/6, S. 295)

§ 44.

117v; § 45.

§ 46.

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118r; § 47. 48.

§ 49.

§ 50. 51.

118v § 52.

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hervorzubringen, eben weil es schwer ist ganz unparteiisch zu seyn, in Absicht auf die verschiedenen Spaltungen der Kirche, daß man nicht Vorliebe habe für seine eigene Partei, oder wenn das auch nicht ist, doch so viel Interesse für das Entgegengesetzte, daß man es nicht vernachlässige. | In der kirchlichen Verfassung ist das Wesen das Verhältniß von Clerus und Laien. Es ist geschichtliche Bemerkung, die im Großen durchaus wahr ist, daß hier überall eine Analogie mit den Politischen Verhältnissen heraustritt, wo in den Politischen Verhältnissen das Democratische vorwaltet, da waltet es auch in der Kirche vor, wo das Strenge monarchische vorwaltet, da nähert sich dem auch die Constitution der Kirche, wo die persönliche Freiheit stark heraustritt im Politischen, da wird sie auch in den kirchlichen Verhältnissen besonders heraustreten. Das liegt darin, daß das Gesellschaft constituirende Princip etwas für sich ist. Daraus die natürliche Folge PdaßS die Constitution der Kirche sich sehr richtet nach den verschiedenen Staaten und sich darnach richtet und man auch nur die Verfassung der Kirche nach den Staaten beschreiben kann. In der catholischen Kirche ist mehr Einheit. Es giebt gewisse Puncte, die allen Staaten des Catholicismus gemein sind, andre die jeder Staat für sich hat. Die Protestanten haben nicht so viel gemein, das Protestantisch-allgemeine ist nur das Negative, das nicht haben des Catholischen. Was die äußern Verhältnisse selbst betrifft so ist dies zweifach, gegen den Staat und gegen die Wissenschaft. Das letztere verbirgt sich sehr oft unter dem ersten und wird oft in der kirchlichen Statistik vernachlässigt. Doch muß es als verschieden gesetzt werden, die Kirche steht in gleichen Verhältnissen zu beiden und das Gleichgewicht darf nicht gehoben werden. Hiebei muß vorzüglich auf das Nationalverhältniß Rüksicht genommen werden; denn es giebt eben so gut nationale Wissenschaft und nationale Constitution der Wissenschaft als der Staat national ist | also wird auch das Verhältniß von beiden in jeder Nation ein andres seyn. Wenn nun auf das zurükgegangen wird, was § 48. gesagt ist, daß die Constitution der Kirche in jedem Staat eine andre seyn wird, so folgt daraus, jeder Einzelne ist mit seiner Wirksamkeit auf das politische Gebiet beschränkt, worauf er steht und so hat man gesagt, wenn 17 richtet und] entweder fehlt nach richtet ein Satzbestandteil oder zu korrigieren in richtend 6 KD1 II 3 §§ 47–48 (KGA I/6, S. 295) 23 KD1 II 3 § 49 (KGA I/6, S. 295) 1 29 KD II 3 §§ 50–51 (KGA I/6, S. 295) 34 KD1 II 3 § 52 (KGA I/6, S. 296) 34 Vgl. oben, Z. 7–22; KGA I/6, S. 295,16–18

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einer auch nur die Verhältnisse der Kirche in seinem Land kennt, so hat er genug für seine clericalische Wirksamkeit. Aber das ist ganz ungenügend. Wenn auch die Kirche in verschiedene Gebiete zerfällt, so können sie sich doch nur verhalten wie organische Theile eines Ganzen, die Protestantische Kirche bleibt doch immer ein Ganzes. Ein PwahresS Leben kann sich nur wieder entwikeln in dem Maaß als sich jenes Gesammtbewußtseyn entwikelt und die protestantische Kirche in jedem wieder ein Ganzes wird. Daher ist die Kenntniß von dem dermaligen Zustand des Ganzen auch eine unerläßliche Pflicht eines Jeden. Eben so auch die Kenntniß von dem Zustand der catholischen Kirche und um so mehr, wenn in einem und demselben politischen Gebiet beide neben einander stehen. Was in dem unmittelbaren Geschäft der Kirchenleitung der Mangel an Kenntniß des gegenwärtigen Zustandes hervorzubringen [pflegt,] ist das, daß er die Hauptursache des Todten und Mechanischen in der Praxis ist. Wenn das einzelne Dogma nicht im Zusammenhang mit allen übrigen und in seinem gegenwärtigen Leben aufgefaßt [wird], so muß es ein todter Buchstab werden und als solcher kann es dann in der gesammten religiösen Praxis nicht anders als nachtheilig wirken. Es giebt allerdings PeineS Entstehungsart desselben Uebels aus dem Entgegengesetzten, aber das ist ja auch ein Fall der überall in der Praxis vorkommt. Die zu genaue Kenntniß aller Differenzen kann eine Art von Verzweiflung | hervorbringen, sich an irgend etwas zu halten und alles andre fahren zu lassen. Das bewirkt dasselbe. Dies liegt aber nicht an der Sache, sondern am Subject, am Mangel philosophischer Einsicht und Bildung. Das kann einem nur begegnen, der sich diese Verschiedenheit nicht lösen kann, der nicht zu recht zu finden weiß in der Vergleichung dieser verschiedenen Sätze und das ist Mangel an philosophischer Fähigkeit. Das andre ist der todte Mechanismus und der ist am gewöhnlichsten. Es kann niemand hineinkommen, der nicht eine große Portion von der vis inertiae hat. Wo reges Leben ist, ist auch rege Umschauung. Was vom Dogma gilt gilt auch von der kirchlichen Constitution, den kirchlichen Verhältnissen und vorzüglich vom kirchlichen Leben. Wenn dieses fehlt, dann kann die Praxis nur mechanisch seyn und tod. Da könnte er aber vielleicht mit einer lebendigen Anschauung von seiner Diöcese fertig werden? Aber das eine ist nicht ohne das andre und da kommt man auch in den Mechanismus hinein indem man die Sache nur von einzelnen Puncten aus anfassen kann. Die 6 PwahresS] oder PwachesS 13 KD1 II 3 § 54 (KGA I/6, S. 296); eine Erörterung von § 53 erfolgt anschließend.

§ 54.

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§ 53.

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§ 56.

§ 57.

120r § 58. 59. 60.

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allgemeinen Ursachen der Einzelheiten erlangen wir nur durch die ganze Anschauung des gegenwärtigen Augenbliks. Das Eine muß aber immer mit dem andren verglichen werden und das Wirken kann nicht lebendig seyn, wenn man nur eine Partei kennt. § 55. Wenn die Kenntniß des gegenwärtigen Zustandes nun eine solche allgemeine seyn soll, so ist zweierlei möglich, entweder daß ich in einer Partei stehe, das hindert mich den Zustand der andren zu beurtheilen, oder daß ich den Zustand der andren Partei einsehe und das Gute anerkenne, | so hindert das in der Thätigkeit für meine Partei. Das ist aber ein unnützes Raisonnement. Unpartheilichkeit kann nie Schaden bringen. Nur dadurch allmählig kann das vollkommne Bewußtseyn von dem Wesen unsers Standpunctes entstehen, wenn wir beständig die eine Partei mit der andren vergleichen. Der Werth aller einzelnen Erscheinungen für den eigentlichen Zwek dieser Disciplin ist nun nur der Zusammenhang mit der allgemeinen Kraft mit dem christlichen Princip und mit den eigenthümlichen Modificationen desselben. Im Lehrbegriff giebt es nichts Einzelnes, worin er sich nicht ausdrükt. In der andren Seite ist aber bloß etwas Aeußeres und das bildet die größte Masse. Wenn wir die Kenntniß des gegenwärtigen Zustands uns analysiren, so finden wir verschiedene Formen in Rüksicht der verschiedenen Nationalverhältnisse. Dies aufzufinden ist das Innere, aber das kann man nur am Aeußeren, am topographischen finden. Das gehört offenbar mit zum Ganzen, aber man muß es nicht für die Hauptsache ansehen. Das ist das allen Statistiken anklebende Uebel, daß sie nur das Topographische, das Onomastische und Bibliographische haben. Dies ist etwas ganz Gleichgiltiges, obgleich man davon in das Innere hineingehn kann. Es ist nur die Schaale. Es ist nur lebendiger Bestandtheil in der Disciplin, so fern es auf das Innere bezogen und so dargestellt wird. Rein von ihrer äußern Seite angesehn, sind alle diese Kenntnisse ins Unendliche hinein zu spalten und zu vervielfältigen. Aber sieht man auch auf das Innere, so ist doch die Kenntniß und alles verschieden Gebildete auch etwas Unendliches und gehört also in das Gebiet | der Virtuosität. 58. cet. Noch allgemeine Betrachtungen. Auf der einen Seite, wie es immer wieder ein Verbindendes Mittel geben muß, wenn man auch nicht Virtuose ist, sich doch was [man] braucht von ihnen zu nehmen und das ist hier die Critik, um aus ihnen das Rechte wählen zu können 3 KD1 II 3 § 53 (KGA I/6, S. 296) 15 KD1 II 3 § 56 (KGA I/6, S. 296) 36 KD1 II 3 §§ 58–60 (KGA I/6, S. 296f)

6 KD1 II 3 § 55 (KGA I/6, S. 296) 31 KD1 II 3 § 57 (KGA I/6, S. 296)

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und bestimmen, wer das maximum von Zuverlässigkeit verdient und daß religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist durchaus vereinigt seyn müssen, so daß wenn das eine fehlt, auch das andre verloren geht. Ohne religiöses Interesse kann einer nur Sammler seyn und geistlose Gedächtnißsachen bringen wenn er ins Einzelne geht und betreibt er die Sache wissenschaftlich, so wird die Kenntniß skeptisch und polemisch. Denken wir uns das religiöse Interesse von dem wissenschaftlichen Geist verlassen, so kann auch kein treues Resultat entstehn. Der wissenschaftliche Geist, das objective Anschauungsvermögen mildert die Parteilichkeit, ohne ihn ist alles bloß auf Subjectivität und auf die einzelne Kirchenpartei berechnet.

Schluß.

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Noch einige theologische Disciplinen, die nicht in den Schematismus hineingehen auch nicht als besondre theologische Disciplinen anerkannt werden. Das ist die Symbolik und die biblische Theologie. Von unserm Gesichtspunct aus hat sich das Studium des Canons als ein selbstständiges, als organischer Theil des Ganzen als Kern gestaltet und zwar in derselben Form, wie die Kenntniß des gegenwärtigen Zustands, d. h. so daß die einzelnen Elemente in ihrem lebendigen Zusammenhang aufgefaßt werden. Dies war darin begründet, daß uns im Canon [die] Normaldarstellung gegeben ist. | Nun haben wir gesehn, dasselbe was der Canon für die ganze Kirche ist, das sind die symbolischen Schriften einer jeden einzelnen Partei für dieselbe. Freilich nur in gewissem Sinn, denn vollkommene Identität findet nicht statt. Alle Symbole sind als Glaubensbekenntnisse absichtlich, der Canon ist aber in dieser Hinsicht auf keine Weise absichtlich producirt, sondern er ist in diesem höhern Sinn bewußtlos geworden. Das ist allerdings ein Unterschied der nicht aus der Acht gelassen werden muß und der große Verschiedenheit bringt in das Studium der symbolischen Schriften in Vergleich mit dem Canon. Wir werden aber doch immer sagen können, die symbolischen Schriften enthalten eben so die Normaldarstellung einer bestimmten Kirchenpartei, nur mit dem Unterschied: eben das Zufällige des Canons ist Ursach seiner Allseitigkeit. Sehn wir auf den didactischen Theil deßelben so besteht er aus 4 religiöses Interesse] )religiöses Interesse* )philosophischen Geist* religiöses Interesse 13 KD1 II Schluss § 1 (KGA I/6, S. 297) 20–21 Vgl. KD1 II Einl. § 16–18; vor allem II 1 § 2 (KGA I/6, S. 267,26–268,7; 272,1–4) 21–23 Vgl. KD1 II 3 § 21 (KGA I/6, S. 291,1–3)

§ 1.

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§ 2.

§ 3.

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lauter Schriften die aus den Bedürfnissen hervorgegangen sind. Es manifestirt sich aber auch die Totalität der Bedürfnisse und darum ist im Canon solche Totalität, in der unmittelbaren Darstellung des Christenthums aus sich selbst und in der Polemik gegen Judenthum und Heidenthum und auch der Totalität des Moralischen. Das können wir nicht von den Symbolen sagen, weil sie Productionen nach außen gerichtet sind. Der Canon liegt in viel größerer Ferne und wir können nicht leugnen, wir müssen die Vorstellungen selbst erst übersetzen, um das Verhältniß zu den unsrigen zu beurtheilen und in dem Verkehr mit dem Canon kommt dies beständig vor. Die symbolischen Bücher liegen uns viel näher. Das ist die Differenz des Canons und der Symbole. Das Studium der Symbole kann also nicht so ein Ganzes | bilden als das Studium des Canons, also kann auch die Symbolik nicht eben so eine eigne Disciplin seyn. Wir können sie zweifach construiren, entweder sie ist herausgehobener Theil der historischen Betrachtung im engern Sinne. In der historischen Betrachtung scheidet sich die Betrachtung der ruhigen Zeit und des revolutionären Moments. Also die Bildung dieses Gegensatzes ist ein solcher revolutionärer Moment, der für sich betrachtet werden kann und die Symbolik ist ein Theil, in diesem Theile soll man das Ganze anschauen, die ganze Beschaffenheit des Gegensatzes der beiden Parteien zu entwikeln. Oder wenn wir auf die Natur der Symbole sehn, so sind sie Fragmente einer Dogmatik. Sie können PdannS betrachtet werden rein als dogmatische Production und können bloß erklärt werden PdurchS Inhalt der Sätze, den Zusammenhang mit dem Canon und der Rükweisung des einen auf das andre. Faßt man die Sache so, so ist die eigentliche Interpretation der Symbole die Hauptsache und dies ist dann nur Vorbereitung zum eigentlichen dogmatischen Studium, sehr nützlich weil man das Hauptelement, das in der Kirche Fixirte zu seinem Augenmerk macht und nachher das Fremde und Abweichende in der Dogmatik gleich erkennt. Die Symbolik muß also entweder auf die Kirchengeschichte bezogen werden oder auf die Dogmatik. Wenn § 2. gesagt wird, daß in der Symbolik das Historische die Hauptsache sey und das Philologische das Zurüktretende, so geht dies auf beide Ansichten. § 4. Von der biblischen Dogmatik. Man kann ganz im allgemeinen sagen: Nach dem Begriff, den wir hier aufgestellt haben, muß sich eine Dogmatik machen lassen für jeden gegebenen Moment und für jede gegebne Partei in einem gege23 PdannS] oder PdadurchS 33 KD1 II Schluss § 2 (KGA I/6, S. 297)

37 KD1 II Schluss § 3 (KGA I/6, S. 297)

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benen Punct, und die | Sicherheit, mit der man dies thun kann, ist die Probe von der Kenntniß die man von der Dogmengeschichte hat. Alle Lehrsätze, die in dem Zustande sich befinden, werden da zusammenhängend vorgestellt und die Dogmatik ist also fertig. Wer sich lebendig die Dogmengeschichte angeeignet hat, der wird von jedem Puncte sich auch eine Dogmatik entwerfen können. Damit können wir auch zurükgehen in den Zeitraum, worin unsre canonischen Bücher liegen und man kann eben so darstellen, wie ein jeder Punct des Lehrbegriffs damals ist entwickelt gewesen und wie sie unter sich zusammenhingen. Auf den Canon kann da nicht zurükgeführt werden, aber auf die Tradition vor Christus und das führt auf das Alte Testament zurük. Von Speculation ist da noch nicht die Rede und der Unterschied zwischen Clerus und Laien war noch nicht ausgebildet. Es ist aber nothwendig Zusammenhang zwischen allen Puncten, bald stärker, bald schwächer, in wie fern sie ausgebildet. Im Wesentlichen kommen wir doch immer auf dasselbe zurük. Die Geschiklichkeit, die jemand hat, sich gleich eine biblische Dogmatik zu machen ist die Probe PauchS zu dem Urchristenthum selbst, denn dies ist im Canon und der Canon besteht nicht aus Gedanken, die ein System bilden, sondern aus lebendigen Gedanken der Rede. Die biblische Dogmatik verhält sich zur kirchlichen also, wie etwas Früheres zu etwas Späterm. Die Darstellung der biblischen Dogmatik kann also nur unvollkommen seyn als Dogmatik, weil sie sich nicht begründen kann auf etwas Festes, als auf den Canon, und weil noch keine Speculation da ist. Daß sie Norm ist, ist das Hervorgehen aus der reinen Idee des Christenthums, womit jene Unvollkommenheit der Form sehr gut sich vereinigen kann. Sie muß aber durch eine ganz bestimmt zum Grunde | liegende Idee gebildet werden. So wie jeder Lehrbegriff besteht und entsteht aus den Meinungen Einzelner, so müssen wir das auch von einem Lehrbegriff in der biblischen Dogmatik sagen. Ist das Orthodoxe und Heterodoxe auch in der biblischen Dogmatik? Im engern Sinne kann keine Zurükführung auf den Canon und auf die Speculation seyn und so auch im engern Sinne kein Nebeneinanderseyn des Orthodoxen und Heterodoxen. Heterodox war ja theils das in dem Princip der Periode nicht Erkannte, theils das Zukunftbestimmende, theils gerade zu krank. Der Canon enthält aber nur die religiösen Vorstellungen Pderer,S die das Fundament des Christenthums geworden sind und in so fern in unsrem Canon nichts Apocryphisches ist, ist auch nichts Heterodoxes darin. Im Canon ist bloß das ursprüngliche Entfalten des Christlichen im Begriff. Also kann nichts 7 KD1 II Schluss § 4 (KGA I/6, S. 298)

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§ 4.

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§ 5.

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Heterodoxes darin seyn. Aber im weitren Sinne wol. Es waren ja doch Einzelne, die die religiösen Begriffe aufstellten. Es waren doch Verschiedene von verschiedener Eigenthümlichkeit und so ist eine Differenz gesetzt, welchem man eine Analogie zuschreiben kann mit dem Orthodoxen und Heterodoxen. Die biblische Dogmatik muß aber durchaus das analogon des Orthodoxen dominiren, und das analogon des Heterodoxen untergeordnet seyn lassen. Welche aber die verschiedenen Rubriken aufstellt: so hat Petrus, so Paulus cet. gedacht, dann ist sie keine biblische Dogmatik mehr, sondern Skepsis. Sie soll nur das allen Gemeinschaftliche darstellen. Für die Organisation des ganzen Studiums aber können wir der biblischen Dogmatik keine Stelle einräumen | und für dasselbe halten, was das Studium des Canons ist, sondern dafür ist sie nur die Probe. Sie steht also nicht in demselben Range als die Dogmatik vom gegenwärtigen Zustande. Daran kann man auch nur die Thätigkeit anknüpfen mit Zurükgehen auf die philologische Betrachtung des Canons nicht mit Zurükgehen auf die Vorstellung von den Begriffen der damaligen Zeit als Dogmatik. Scheint sich nur auf den zweiten Abschnitt unseres Theils zu beziehen. Es geht aber auf alle drei. In Beziehung auf den zweiten Theil drängt sich wol auf, daß in der Geschichte der Kirche die einzelnen Personen weit mehr hervortreten. Dies liegt natürlich darin, weil das Christenthum weit bestimmter von einer einzelnen Person ausgegangen ist, wie z. B. die Gründung eines Staats, daher in der Geschichte des Staats die Gewalt des Ganzen wichtiger ist als des Einzelnen. Dadurch tritt also der Einzelne mehr zurük. In der Geschichte des Christenthums und jeder positiven Religion ist es ganz anders, da ist überall ein Einzelner, in welchem die göttliche Offenbarung ist, gegen den die ganze Masse tod ist, von ihm belebt zu werden. Erst allmählig und zwar sehr allmählig nimmt dies ab. Dasselbe gilt aber auch von der Kenntniß des Urchristenthums und von der Kenntniß des gegenwärtigen Augenblicks; denn den Canon haben wir nur verstanden, wenn uns durch den Canon ein möglichst vollkommenes Bild von dem Schriftsteller gebildet worden. Eben so bei der Kenntniß des gegenwärtigen Augenblicks. Jeder Zustand des Lehrbegriffs geht je aus den Ansichten und Meinungen Einzelner hervor. Versteht man nicht mit der besonderen speziellen Gestalt der einzelnen Dogmen | in ihren verschiedenen PAbartungenS die einzelnen Charactere der Repräsentanten dieser Zeiten, so hat man nichts Vollkommenes. Die lebendigen Bilder der wirkenden Per18 KD1 II Schluss § 5 (KGA I/6, S. 298) 18–19 Gemeint ist KD1 II 2 „Von der historischen Theologie im engeren Sinne oder der Kirchengeschichte“ (KGA I/6, S. 279,11–287,12).

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sonen müssen durchblicken. Das ist eben das Durchdringen des wissenschaftlichen und historischen Characters dieser Disciplin, worin erst ihr wahres Leben besteht. Von § 7. an das Verhältniß dieser Disciplin zur philosophischen Theologie. Beide bedingen sich. Die philosophische Theologie ist nicht ursprüngliche Speculation, sondern das Christenthum ist da schon gegeben und sie setzt eine Kenntniß des Christenthums voraus. Aber die historische Theologie setzt wiederum die philosophische voraus, denn darin müssen die Grundbegriffe liegen, worauf sich die philologische, die historische und dogmatische Ausbildung beziehen. Ist nicht in jemanden solches System von Grundvorstellungen lebendig geworden, so kann auch seine historische Theologie nicht lebendig seyn. Die einzelnen Bilder können nicht in Uebereinstimmung seyn, wenn die Grundbegriffe verworren sind, dann kann die ganze historische Theologie vom Canon bis zur Dogmatik nur tod seyn. Die historische Theologie ist nichts als die Anwendung der Begriffe der philosophischen Theologie auf die Erscheinungen. Das ist also ein Zirkel; woraus hervorgeht, daß beide Disciplinen nur mit einander werden können. Wir müssen also auch einen doppelten Anfang setzen. Die philosophische Theologie welche voraus gesetzt werden muß für die historische ist eigentlich noch nicht philosophische Theologie, sondern nur ein analogon davon, etwas Instinktmäßiges, das noch nicht zu einem System der Begriffe gekommen ist. Eben so ist die historische Theologie welche voraus gesetzt wird nur exoterische, nicht eigentlich historische. | Wie verhalten sich beide? Sie bezweken ganz dasselbe, das Bild ist in der philosophischen Theologie, der Begriff in der geschichtlichen Anschauung. Beides muß sich gleich und nebeneinander ausbilden, je klarer und besser das Eine wird, desto besser auch das Andre. Eine Vollendung der einen Disciplin kann nicht ohne die andre gedacht werden, diese beiden bleiben immer im Werden. Aber ein ungleiches Verhältniß entsteht daraus, daß die historische Theologie, weil sie weit mehr am sinnlich Gegebenen hängt, sich auch viel leichter in eine bestimmte Disciplin gestaltet. Die philosophische Theologie hat diese Gestaltung immer noch nicht gewonnen, auf der einen Seite liegt sie in der allgemeinen Religionsphilosophie, auf der andren Seite in der Dogmatik, wo sie gewöhnlich als Propädeutik, Prolegomena erscheint. Dadurch werden beide Behandlungsarten noch verwechselt. 10–11 jemanden] mögliche Dativform von jemand (vgl. Adelung: Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 1433) 4 KD1 II Schluss §§ 6–12 (KGA I/6, S. 298f)

§ 6.–12.

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Beide sollen mit einander werden und sich gegenseitig vervollkommnen. Daraus entsteht ein bestimmtes gegenseitiges Mißverständniß, weil keiner auf beiden Seiten gleich steht. Stellt jemand seine Geschichte dar nach seinen philosophischen Begriffen, so halten sie das für Willkühr. Andre stehen wieder allein auf der philosophischen Seite. Wollen sie die gan z e Geschichte construiren, was nie geschehen kann, aus dem Begriff und sehen sie nun von ihrem einseitigen Standpunct aus auf diejenigen, welche sagen, es ist recht gut, sie abzuleiten aus den Begriffen, aber es bleibt doch immer nur etwas Todtes, weil ich nur die eine Seite habe, so halten sie die für bloße Empiriker und jene halten diese für willkürliche Träumer. Die vollkommene Ausbildung besteht aber nur darin, daß er die andre Seite vollkommen anerkennt, wenn er auch auf beiden Seiten nicht gleich steht. Welche die eine Seite, die sie nicht haben, durch die, welche sie haben, ersetzen wollen, sind die unheilbar Einseitigen. |

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Dritter Theil. Von der practischen Theologie.

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Allgemeine Einleitung § 28. die Wirkung des practischen Theologen und dazu eine Technik § 29. 30. welche die practische Theologie sey. § 1. dasselbe. Wir werden nur hier gleich auf den Standpunct gestellt, uns in einem Zustand der Kirche zu denken mit Interesse daran. Die Bewegungen des Gemüthes sind das Ursprüngliche und die Technik besteht darin, daß diese in eine geordnete Thätigkeit übergehen, nicht in eine verworrene und zufällige. Eben so ist in diesem 1. § das Verhältniß der practischen und philosophischen Theologie dargestellt. Die philosophische Theologie enthält nichts andres, als die correspondirenden Begriffe, das Interesse an der Kirche vorausgesetzt, was Lust oder Unlust bringt an den Ereignissen der Kirche. Es verhält sich also die practische Theologie zur philosophischen wie die Technik der Gemüthsbewegungen zu der Reflexion über das diesen Bewegungen zum Grunde liegende Gefühl. Daraus ergiebt sich also § 2. ganz von selbst; denn wo das Bestreben ist eine Technik zu lebendiger besonnener Thätigkeit zu gestalten, da muß es wissenschaftlich geschehen. Wo das religiöse Interesse fehlt, fehlt der Gegenstand der Technik. PWasS dem Geschäft der Kirchenleitung fehlen wird, wenn die practische Theologie wegfällt, ist nun klar. Es ist gar nicht möglich besonnen in die Kirchenleitung einzugreifen ohne practische Theologie. § 4. Dasjenige was jedem, der in die Kirchenleitung einwirken will für seinen Zwek erkennt, das wird durchaus abhängen von der Art, wie ihm der gegebene Zustand der Kirche erscheint, d. h. wie er die Begriffe gebildet hat | wodurch ihm die Erscheinungen zu Thatsachen werden, d. h. wie er seine Begriffe gebildet hat in seiner philosophischen Theologie. Die philosophische Theologie ist also die Wurzel des ganzen theologischen Studiums. Jede Veränderung wird uns aber 22 PWasS] verbessert aus PwasS ; oder PDasS 4–5 Vgl. KD1 Einl. §§ 28–30 (KGA I/6, S. 253,13–23) 6 KD1 III Einl. § 1 (KGA I/6, S. 300) 18 KD1 III Einl. § 2 (KGA I/6, S. 300) 22 KD1 III Einl. § 3 1 (KGA I/6, S. 300) 25 KD III Einl. § 4 (KGA I/6, S. 300) 30–31 Vgl. KD1 Einl. § 26 (KGA I/6, S. 253,8–9) 31 KD1 III Einl. § 5 (KGA I/6, S. 301)

§ 1.

§ 2.

§ 3.

§ 4.

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§ 5.

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§ 6.

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nur zur bestimmten Thatsache, in wie fern sie als etwas Einzelnes im Raum bestimmter Theil des Ganzen und als Einzelnes in der Zeit als Moment zwischen der Vergangenheit und Zukunft ist, d. h. die Gegenwart hängt ab von seiner philosophischen Theologie und von seiner geschichtlichen Anschauung. Die practische Seite eines Gegenstands kann nur bestimmt werden durch das Gennetische und wenn der Theil ein Einzelnes ist, so kommt es darauf an, wie man es als ein Ganzes aufnehme. Die practische Theologie beruht also auf der philosophischen Theologie und auf der historischen und zwar auf beiden in doppelter Hinsicht. Durch beide wird ihr erst der Gegenstand gegeben, so wie er wirklich Aufgabe für das Handeln werden kann durch die Subsumption der Begriffe durch die philosophische Theologie und durch die Erscheinungen durch die historische Theologie. Eben so auch nach der Form. Was ist eigentlich die practische Theologie als Technik, wie wir es vorher schon im Allgemeinen festgestellt haben? Die philosophische Theologie ist die allgemeine Theorie eben weil in ihr das ganze System von Begriffen niedergelegt ist. Unter Theorie verstehen wir eigentlich doch immer die allgemeine Form, durch welche ein System von Anschauungen construirt ist. Die Theorie des Staats ist die Einsicht in den systematischen Zusammenhang der verschiedenen Formen des Staats und der wesentlichen verschiedenen Elemente des Staats. Ganz anders ist es mit dem, was wir Technik nennen. Das bezieht sich immer auf einen Zweck und sie ist die Construction der | Mittel, diesen Zwek zu erreichen. Es giebt hier eine gewisse Verworrenheit in der Sprache nemlich gerade der Art wie man Theorie und Praxis PdieS Technik und Ausübung auf einander bezieht. Was ist die Uebereinstimmung von Praxis und Theorie? Nichts andres als wenn meine Zwekbegriffe in Beziehung auf einen Gegenstand mit der wahren unmittelbaren Anschauung deßelben in einer Theorie übereinstimmen. Wenn man sich denkt ein Künstler unternimmt ein Werk auszuführen, wovon sich voraussehen läßt: die Idee des Schönen kann da nicht befriedigend ausgeführt werden, da wird jeder sagen: es fehlt dem Mann an der Theorie. Wo die Theorie nicht taugt, taugt auch die Praxis nicht. Es kann aber die Praxis eines Künstlers als solche untadelhaft seyn, aber die Ausführung kann schlecht seyn. Woran kann das liegen? an der Technik und an der Uebung. Nemlich hier ist Uebung etwas andres als Praxis und Technik andres als Theorie. Die Uebung besteht in den bestimmten Fertigkeiten, die zur Ausführung 27 PdieS] oder PundS 9 KD1 III Einl. § 6 (KGA I/6, S. 301)

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III. Teil: Praktische Theologie

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gehören, nun kann einer das Rechte wollen, d. h. Technik haben, aber er hat die Uebung nicht. Es kann ihm aber auch an der Technik fehlen, an der rechten Kenntniß der Mittel und der Construction derselben, seinen Zwek auszuführen. Die Technik setzt also voraus, daß der Zwek feststehe. Sie hat es nur mit den Mitteln zu thun, um auf jedem gegebenen Gebiete jeden gegebenen Zwek erreichen zu können. Das ist die practische Theologie. In der philosophischen Theologie liegt die ganze Theorie und die richtige Bestimmung des jedesmaligen Zwekes hängt ganz von der philosophischen Theologie ab. | Die practische Theologie ist die gehörige Kenntniß von den Mitteln, die entstehenden Zweke auszuführn. Wir dürfen nicht übersehn, daß eben dieser Gegensatz zwischen Praxis im höhren Sinne und Ausführung im niedern und Theorie und Technik, daß dieser Gegensatz nur ein relativer ist und dies alles in einander spielt. Es kommt hiebei alles auf den Standpunct an, den man sich setzt. Indem wir von dem Begriff ausgehen, daß es hier von der richtigen Wahl und Anwendung der Mittel zum Zwek zu gelangen ankommt, so ist das erste, daß durchaus nichts, was, an und für sich betrachtet, den Gegenstand der practischen Theologie auflösen würde, der Zwek enthalten muß, d. h. die Gewalt der Kirche zerstören oder dem Protestantischen Princip entgegenwirken. Das muß bei jedem Umfang der practischen Theologie feststehn, daß kein Mittel gewählt werden muß, was der Totalität aller Zweke entgegen wäre. Hier also eine gewisse wenn gleich negative Begrenzung alles deßen, was in der practischen Theologie gesetzt werden kann. Eine ähnliche Begrenzung finden wir, wenn wir, wie dieses auf den Gegenstand sich bezog, dasselbe auf das Subject beziehen. Alles was einer wollen kann in der Kirchenleitung, wozu er die Mittel sucht, das muß hervorgehen aus der Combination von religiösem Interesse und wissenschaftlichem Geist, also darf auch nichts in der practischen Theologie als Mittel nichts an sich tragen, was einem von beiden dieser Elemente entgegen wäre. Nun das Positive. Alles was wir uns als Zwek denken können, wofür die practische Theologie die Mittel aufstellen soll, ist also Eins von Folgenden: Erhöhung der Gewalt des christlichen Princips, oder | Reinigung deßelben in der Erscheinung, oder Erweitrung seines Gebiets. Das alles ist durchaus aber etwas in den Gemüthern. Wenn wir sagen das christliche Princip ist in der Kirche verunreinigt, so hat das religiöse Princip in den Gemüthern nicht ganz die rechte Form darin. Wenn das Gebiet der christlichen Kirche noch erweitert werden muß, 11 KD1 III Einl. § 7 (KGA I/6, S. 301) 26 KD1 III Einl. § 9 (KGA I/6, S. 301)

18 KD1 III Einl. § 8 (KGA I/6, S. 301) 33 KD1 III Einl. § 10 (KGA I/6, S. 301)

125v; § 7.

§ 8.

§ 9.

§ 10.

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§ 11.

126v; § 12.

§ 13.

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so giebt es Menschen in denen dieses Princip noch nicht ist. Also jeder denkbare Zwek für den in der practischen Theologie Begriffenen fällt unter den Begriff der Ψυχαγογια, der Seelenleitung. Aber was können nun die Mittel seyn zu diesem Zwek? Wir mögen sehn worauf wir wollen, so ist niemals ein Zwek erreicht als nur durch freie Handlung deßen in welchem er erreicht werden soll in religiöser Hinsicht, wo durch Gewalt nur scheinbar etwas erreicht werden kann. Wir werden sagen der Staat kann es, der besteht auch aus der Psychagogie. Aber es ist ihm gleich, wenn er nur verhindert oder bewirkt, was auch der welcher verhindert und angetrieben wird nicht will, daß es verhindert und angetrieben werde. In religiöser Hinsicht kann nur etwas ausgerichtet werden, wenn ein Wollen im Menschen selbst ist. Also der Zwek selbst kann nur erreicht werden durch Aufregung des Wollens im Menschen selbst, also fallen alle Mittel, wie der Zwek selbst unter den Begriff der Seelenleitung. Der Zwek ist Einwirkung auf die Gemüther. Eben dasselbe die Mittel. Also Mittel und Zwek fallen völlig zusammen und das giebt allerdings eigenthümliche Verhältnisse der Technik und Theorie auf diesem Gebiete, was theils erleichtert, theils erschwert. | Alle practisch theologischen Vorschriften können nie die Handlung oder den Erfolg bestimmt angeben. Das ist wol allgemeiner Character des Technischen, doch verschieden je nachdem sie sich dem Mechanischen nähern oder davon entfernt sind. Je mehr der Gegenstand, worauf sich die Technik bezieht, Kunst ist, um so weniger tritt das Mechanische ein. Da hier nun von der Seelenleitung die Rede ist und alles Geistige am wenigsten Mechanisch, so können bei der practischen Theologie alle Vorschriften nur relativ und unvollkommen seyn. Eben in ihrer Entfernung vom Mechanischen sind dies mehr Kunstregeln und sie können den Künstler nicht bilden, sondern nur leiten, und durch sie allein kann keiner ein Künstler werden. Dies gilt sowol von der Theorie als von der Technik. Die Technik geht ins Besondre, die Regeln aber können sich nur auf das Allgemeine beziehen. Das ist der bedingte Werth, den die practische Theologie als Technik hat. Nun erleben wir auf jedem Gebiet, daß die Betrachtenden den Gegenstand sehr hoch stellen, die wahren Künstler ihn herabsetzen und so giebt es ein zwiefaches Schätzen der practischen Theologie, ihrer höhern Seite, was in ihr am meisten wissenschaftlich ist, ihrer niederen Seite, was empirisch ist. Es giebt viele, die sich nur an die niederen mechanischen Regeln halten. Die Wahrheit liegt in der 11 KD1 III Einl. § 11 (KGA I/6, S. 301) 29 KD1 III Einl. § 13 (KGA I/6, S. 302)

20 KD1 III Einl. § 12 (KGA I/6, S. 302)

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Mitte. Das am meisten Mechanische ist der practischen Theologie am wenigsten eigenthümlich, denn das meiste Mechanische hat sie gemein mit andren Gebieten, von denen man es nur herüberzunehmen braucht. Das Höhere was am meisten nach der Theorie PhingehtS ist allerdings von höherem Werth. Es hat immer, so wie in der ganzen Welt und allen verschiedenen Gebieten so auch in der Kirche, hat es Menschen gegeben, die immer vortheil|haft gewirkt haben ohne diese Technik. Aber das darf die Technik nicht herabsetzen und wir müssen immer sagen, daß sie noch mehr gewirkt haben würden, wenn die Theorie mehr in ihrem Zeitalter ausgebildet gewesen wäre. Für gewöhnliche Zeiten und Menschen ist beständige Complication zwischen dem Triebe und der Betrachtung, der Thätigkeit und Theorie durchaus nothwendig, darin das sichere Fortschreiten des Handelns. Für das Ganze ist also die practische Theologie als Technik unentbehrlich. In § 14. wird die practische Theologie betrachtet in Beziehung auf ihre Entstehung. Nemlich überall sind Theorie und Technik später, als die Ausübung selbst. Sie können nicht anders entstehen als durch Reflexion über das was schon da ist. Welches ist denn der Punct auf welchen die Sache muß gekommen seyn, wenn sich die Technik entwikeln soll? Hier ist gesagt: sie konnte es nur in dem Maaß, als in der Kirche der Gegensatz zwischen Klerus und Laien heraustrat. Dies ist offenbar begründet in unsrer ersten Erklärung, daß es uns bei der Kirchenleitung auf ein bewußtes, besonnenes, geordnetes Handeln ankomme. Nur so fern das Handeln ein solches seyn kann, hat man Technik nöthig. Im ersten Anfang als die Kirche coalescirte, war alles durch den Moment und unbewußt bestimmt, an solches besonnenes Handeln war nicht zu denken. Der Grund aller Ordnung ist in der Kirche der Gegensatz zwischen Klerus und Laien sey [es] in personeller Hinsicht oder bloß in functioneller. An die Entwickelung dieser Gegensätze ist auch die practische Theologie nothwendig gebunden und sie kann nur bestehn, in der Voraussetzung daß solche bestehn, denn alle Leitung, wenn sie besonnen seyn soll erfordert einen Schematismus, worunter | das Geleitete steht. Je weniger gespannt dieser Gegensatz ist, desto mehr hört alle Kunst und kunstmäßige Verfahren auf. Je stärker gespannt, desto zusammengesetzter wird auch das Verfahren und um desto mehr kann sich die Technik ausbilden. Stärker 4 PhingehtS] oder PhinziehtS 16 KD1 III Einl. § 14 (KGA I/6, S. 302) 22–25 Vgl. die Ausführungen zu KD1 III Einl. § 1 (KGA I/6, S. 300,4–8), oben S. 233,6–17

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§ 14.

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§ 17.

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ist sie nicht ausgebildet worden als in der catholischen Kirche, wo der Gegensatz am aller gespanntesten ist. Nun müssen wir zu einer zwekmäßigen Eintheilung des Gebiets kommen von § 15. an. Wenn wir davon ausgehn, daß die practische Theologie nur möglich ist, wenn der Gegensatz zwischen Klerus und Laien hervorgetreten ist, so bezieht sich die practische Theologie auch auf den jedesmaligen Zustand einer gewissen Kirche. Wie diese geworden ist, darnach läßt sich auch die practische Theologie eintheilen. Welches ist nun der Schematismus der Thätigkeiten, welche sich beziehen auf die so ausgebildete Gesellschaft? Haben wir den dann werden wir auch den Schematismus für die practische Theologie haben. Deßwegen § 16., daß die Kirche ein organisches Ganzes ist. Gehen wir auf den primitiven Zustand der Kirche zurük, so sind da auch die Hauptbestimmungen eines organischen Ganzen, aber unvollkommen. – Das Wesen eines organischen Ganzen ist Einheit des Lebens in einem Systeme in selbst lebendigen Theilen, in welchen jeden dieses PLebenS ist und daß die Theile des Ganzen zu gleicher Zeit auch Mittel sind zur Erhaltung des Ganzen. Sie sind Theile, in wie fern die Einheit des Lebens gleichmäßig in sie gesetzt ist, sie sind Mittel, in wie fern die Einheit des Lebens in jedem specifisch gesetzt ist. – Nun ist auch der wechselnde Zustand in jedem organischen Ganzen | ein zwiefacher. Es kann darin etwas seyn in Beziehung auf die Einheit des Lebens, und so ist das allgemein. Oder es ist etwas darin gesetzt, was Beziehung hat auf die specifische Beschaffenheit eines besondren Theils und das ist dann ein besonderes locales und auf diese verschiedenen Zustände PmußS sich auch die Kirchenleitung beziehn. Dieser Gegensatz ist aber immer nur relativ. So wie die Aerzte oft im Zweifel sind, wenn sich etwas Krankhaftes manifestirt. Bisweilen manifestirt es sich im ganzen Körper, dann ist freilich der Zustand allgemein. Oft aber, wo er nur an einem besondren Theile ist, sind sie zweifelhaft. Geht es aus dem Specifischen des Theiles hervor, so läßt er sich besonders heilen. Die Einwirkung auf das Allgemeine und das Einzelne werden also nie ganz können getrennt werden und sie werden nur in ihrer beständigen Beziehung auf einander wirken können. Bei alle dem wird dies die Haupteintheilung seyn. Es soll ein besserer Zustand hervorgebracht werden. Dies kann geschehn theils durch Einwirkung auf das Ganze, theils auf die einzelnen Theile. Das Ganze ist die Kirche. Das Einzelne, was ist das? Hier kommen wir gleich in ein Dilemma. Wir können sagen, das Kleinste ist in 17 PLebenS] oder PdabeiS

26 PmußS] oder PmüßeS

3 KD1 III Einl. § 15 (KGA I/6, S. 302) 38 KD1 III Einl. § 17 (KGA I/6, S. 302)

12 KD1 III Einl. § 16 (KGA I/6, S. 302)

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der Kirche der einzelne Mensch. Aber wir werden doch sagen müssen der kleinste Theil der Kirche, der als organischer angesehen werden kann, ist eine Gemeine, welche auch wieder eine Totalität aller menschlichen Verhältnisse in sich schließt und wenn sich die Thätigkeit auf den Einzelnen zu beziehn scheint, so muß diese doch ausgehen von der Ansicht des Einzelnen nicht als solches, sondern als Theil der Gemeine. Stellt man sich dem Einzelnen als Einzelner entgegen, | so ist das eine freundschaftliche Behandlung und keine clericalische Thätigkeit. Die kann sich nur auf die Gemeine beziehen. Wo in der Kirche ein Gegensatz dominirt, da kann alle Kirchenleitende Einwirkung auch nicht auf das Ganze der Kirche gerichtet seyn, sondern das maximum kann nur die Kirche seyn, in wie fern sie Einheit hat, also jede Partei. Das Christenthum ist zwar eins, und also auch die Kirche Eins. Aber das ist nur rein geistig wahr. Will man auf dies Ganze wirken, so kann es auch nur rein geistig seyn. Die Kirchenparteien sind aber nicht rein geistig, sondern auch leiblich, weil sie ein Lebendiges sind und wir müssen sagen, daß die Wirkung auf die ganze Einheit der Kirche wieder nur ein Privatunternehmen seyn kann und als solches nicht in die practische Theologie gehört. Die Grenze in dieser Hinsicht § 19. nemlich in Beziehung auf die Idee, daß ein gegebener Zustand der Trennung in der Kirche irgend einmal aufhören muß muß es auch ein maximum des Gegensatzes geben und dann Abnahme. Ist die Annäherung schon bemerkbar, so kann man schon auf sie Rüksicht nehmen. Noch [eine] andre Differenz. Nemlich welche in den beiden Elementen der theologischen Gesinnung beruht, das Eine ist das religiöse Interesse an der Kirche und ihrer Vervollkommnung. Das Andre ist der wissenschaftliche Geist. Nun haben wir gesehen, daß fast unmöglich beide gleich seyn können im Menschen. Jeder sieht nun die Kirche an und behandelt sie von der Seite, die in ihm das Uebergewicht hat. Aber er muß nur anerkennen, daß auch die andre Seite nothwendig ist. Je stärker dieses Uebergewicht sich ausprägt, desto stärker werden die Einwirkungen selbst. Die einen sind die didactischen, die andren die von dem gemeinsamen Leben ausgehenden Einwirkungen. Diese Differenz | wird aber nun überall durchgehen. Der Haupttheilungspunct wird immer seyn der, den wir vorher gefunden und dieser [liegt zu Grunde] § 21. 22. Zuerst eine auf das Ganze gerichtete Thätigkeit. Diese nennen wir das Kirchenregiment. Es sind darin alle Thätigkeiten eines Einzelnen 10 KD1 III Einl. § 18 (KGA I/6, S. 302) 20 KD1 III Einl. § 19 (KGA I/6, S. 303) 1 25 KD III Einl. § 20 (KGA I/6, S. 303) 35–36 Vgl. KD1 III Einl. §§ 16–18 (KGA I/6, S. 302,16–26) 38 KD1 III Einl. § 21 (KGA I/6, S. 303)

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§ 22.

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auf das Ganze. Jedes Ganze muß bestehn aus solchen, welche das Ganze bestimmt, und solchen, welche das Ganze bestimmen. Letztere haben in der Kirche das Kirchenregiment. Was ist denn nun das Ganze für diese Thätigkeit? Das ist allerdings sehr verschieden. Wir haben ja nur maximum und minimum entgegengestellt. Gehört zum Kirchenregiment im engeren Sinne alles was mehr ist als das minimum, oder bloß das maximum. Die Protestantische Kirche ist nicht zu einer wirklichen auch äußeren Einheit verbunden. Sie hat zwar eine Einheit des Bekenntnisses, wo auch noch Unterschied ist, zwischen Lutherischen und Reformirten, außerdem sind beide noch verschieden in sich selbst. Wenn wir aber diese Differenz ignoriren wollen, so ist doch nun keine Einheit der Form, kein allgemeiner Zusammenhang in der ganzen protestantischen Kirche, sondern dieser ist nur bestimmt durch die politische Grenze. Die catholische Kirche hat allgemeine Leitung, theils in der Person des Papstes, theils in der Idee einer allgemeinen Kirchenverfassung. Der Protestantismus schließt beides aus. Vom Standpunct der protestantischen Kirche aus ist das maximum der Kirchenleitenden Thätigkeit immer nur ein Staat. Setzen wir diesen als das maximum, so finden wir immer noch große Abstufung. Der kleinste Gegenstand ist die Gemeine, der größte die ganze Landeskirche. Das einzige vollkommen angemessene scheint zu seyn daß man sagt: alles was zwischen der Landeskirche und der einzelnen Gemeine liegt, ist allemal nur Ausfluß der kirchlichen Autorität, welche das Ganze zu ihrer Thätigkeit hat und das Kirchenregiment übt, und der Kirchendienst ist beschränkt auf die einzelne Gemeine. Nur so offenbart sich die Trennung. Kirchendienst ist Einwirkung des Geistlichen | auf die Gemüther selbst in der Gemeine. Kirchenregiment hat die ganze Landeskirche zum Zwek. Die der Provinz vorgesetzten Geistlichen sind nicht unabhängig und hängen von dem Kirchenregiment der Landeskirche ab. Der andre Theil umfaßt alle Anweisungen, zu derjenigen Thätigkeit, deren Gegenstand die einzelne Gemeine ist. Diese ihrem Wesen nach locale dagegen am meisten unmittelbare und lebendige nennen wir im Gegensatz vom Kirchenregiment den Kirchendienst. Die Benennung ist sehr allgemein. Es giebt zu derselben doppelten Grund. Gewöhnlich sieht man sie von der Seite an, daß man sagt: in der Kirche ist überhaupt keine Gewalt, sondern ein einzelner kann nur Einfluß ausüben über einen andren, indem er ihm dient. Dies gilt auch vom Kirchenregiment. So könnte man also den Dienst eines Geistlichen in einer einzelnen Gemeine Kirchenregiment nennen. Das ist also nicht der Grund dieser Terminologie, sondern der wahre Grund der 31 KD1 III Einl. § 22 (KGA I/6, S. 303)

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Benennung ist der § 22. daß diese Einwirkung von dem Einzelnen nur im Namen des Ganzen ausgeübt wird und er immer nur betrachtet werden kann in seiner Unterordnung unter das Kirchenregiment, wovon er ganz abhängt und nach deßen Vorschrift er alles thun muß, er soll nur ein Organ deßelben seyn. Der Geistliche ist nur was er seyn soll, wenn er sich keine absoluten Selbstständigkeiten zuschreibt und die höchste Kirchengewalt ist nur die rechte, wenn sie so lebendig ist, daß alle Geistlichen als Organe derselben erscheinen. Der einzelne Geistliche ist also in dieser Abstufung das niedrigste Glied und daher [verwenden wir] für seine Leitung den Namen Kirchendienst. Nachdem diese Haupttheilung gemacht ist, von welcher § 23. gesagt wird, daß sie die practische Theologie erschöpft, so wollen wir auf § 20. zurükgehn, daß es zwei verschiedene Kirchenleitende Thätigkeiten gebe, | deren eine mehr von dem religiösen Interesse, die andre mehr vom wissenschaftlichen Geist ausgehe. Wie verhalten sich diese in Kirchenregiment und Kirchendienst? In der allgemeinen Einleitung war gesagt: die innere Thätigkeit des wissenschaftlichen Geistes vom religiösen Interesse geleitet sey die Theologie. Aber alles Handeln mit dem theologischen Wissen falle gleich der Ausübung anheim, sey schon Element des Kirchenregimentes. Die Anweisung zu der zwekmäßigen Ausbildung dieses Handelns fällt schon in das Wissen zurük. Welches sind dann diejenigen Kirchenleitenden Thätigkeiten von welchen man sagen kann, sie gehn am unmittelbarsten vom wissenschaftlichen Geiste aus? Alle diejenigen, die auf einem Mittheilen des religiösen Wissens beruhen. Die Mittheilung an Einzelne, in wie fern sie Einzelne sind gehört nicht in die theologische Thätigkeit. Die Mittheilung des Wissens an eine Masse von Einzelnen, die ein unbestimmtes Aggregat ist, ist das Kirchenleitung? Da ist ein schwer zu bestimmender Grenzpunct; denn solche Einwirkung ist alle schriftstellerische. Auf der einen Seite also ist dies bloße Privatthätigkeit, zum Regiment der Kirche gehört solcher Schriftsteller nicht. Von diesem Gesichtspuncte aus gehörn auch Anweisungen zu dieser Einwirkung nicht in die practische Theologie. Aber von der andren Seite läßt sich nicht berechnen, wie groß die Einwirkung auf die ganze Kirche seyn kann durch die schriftstellerische Thätigkeit. Was die Reformatoren als Schriftsteller gethan haben, das hat es ihnen erst möglich gemacht, ihre Stelle einzunehmen, wie sie sie eingenommen haben. So kann sich also die Kirchenleitung dieser Thätigkeit nicht entziehn. Das scheint also [ein] Widerspruch. Der Einfluß dieser Thätigkeit kann | so groß seyn, daß er große Veränderungen in der Kirche über11 KD1 III Einl. § 23 (KGA I/6, S. 303) 12–15 Vgl. KD1 III Einl. § 20 (KGA I/6, S. 303,4–7) 16–20 Vgl. KD1 Einl. §§ 11–12 (KGA I/6, S. 250,21–251,2)

§ 23.

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haupt hervorbringt. In wie fern dies Privatthätigkeit ist, ist es revolutionair und es muß also eine Kirchenleitung geben, die diesen Gegenstand zu ihrem Geschäft macht, nemlich ihn nicht hervorzubringen, sondern ihn in Schranken zu halten, in wie fern er revolutionair wird. Dies ist also negative Kirchenleitung und eine andre läßt sich hier nicht denken. Nun giebt es aber von dem wissenschaftlichen Geiste ausgehende Thätigkeiten die unmittelbar in die practische Theologie gehören, die aber nur in dem Kirchendienst gedacht werden können. Hier muß es also durch die practische Theologie Anweisung geben für die Mittheilung des Wissens in der Belehrung der Jugend und eben so wesentlich im Cultus, daß er müsse auf zwekmäßige Weise in einer feststehenden Form sein Wissen der Gemeine mittheilen und ihr Wissen dadurch mehr zur Klarheit bringen. In Beziehung auf das Kirchenregiment sind die Leitungen negativ und positiv. Hier sind aber beide Einwirkungen in demselben Dienst. Man muß wissen, was muß geschehn vom religiösen Interesse aus, und was vom wissenschaftlichen Geiste aus. In allen kirchlichen Thätigkeiten ist beides verbunden, aber jedes ist wiederum ein Einzelnes. Wenn nun Anweisung zur richtigen Führung des Kirchenregiments und des Kirchendienstes die Hauptabtheilungen sind, womit fängt man an? Beides ist so mit einander verbunden, daß es ganz gleichgültig ist. Eins ist durch das andre bedingt und von jedem muß man die Hauptpuncte vorher wissen, sonst kann man mit keinem von beiden anfangen. |

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Erster Abschnitt. Von der Theorie des Kirchenregiments.

§ 1.

Wir können sagen, jeder Einzelne kann als Mitglied der anerkannten Kirche nur innerhalb der protestantischen Kirche wirken innerhalb der Kirche seines Staats, aber eine besondre Theorie für die Kirche jedes Staats wird es nicht geben. Nun könnte man sich denken, es wäre dies auch eben so in Beziehung auf die catholische und protestantische Kirche. Allein da müssen wir nun factisch anerkennen, daß in der That nun hier ein ganz andrer Fall statt findet und das Kirchenregiment von einem ganz andern Begriffe ausgeht. Die Constitution der Kirche ist eine andre im Catholicismus als im Protestantismus. 9 können] kann 28 KD1 III 1 § 1 (KGA I/6, S. 304)

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Die Grundvorstellungen von dem Verhältniß der Kirche zum Staat und zur Wissenschaft sind im Protestantismus ganz anders als im Catholicismus, also muß PauchS das Kirchenregiment ein andres seyn. In allen wesentlichen Dingen ist die Theorie des Kirchenregiments in beiden Kirchen sehr verschieden. Dies paßt aber nicht auf den Kirchendienst. Allerdings ist zwar der Cultus in beiden Kirchen wesentlich ein andrer, aber das hindert nicht, daß da nicht in beiden dieselbe Theorie statt finden sollte. In der protestantischen Kirche hat die Predigt größere Bedeutung als in der catholischen. Wird aber gepredigt, so wird nach denselben Regeln gepredigt und es giebt für die Catholiken keine andre Homiletik als für uns. So mit allem. Die ganze Entwiklung also des Kirchenregiments ist in beiden Kirchen eine andre. Daraus folgt unmittelbar, daß die Theorie auf dem richtigen Bewußtseyn dieses Gegensatzes ruhen muß, und | das Fundament ist, daß der Gegensatz richtig aufgefaßt sey. Die philosophische Theologie ist Basis der practischen. Also gerade derjenige Theil der philosophischen Theologie, der sich auf den Gegensatz bezieht, wird das Spezielle seyn, was von der philosophischen Theologie der practischen zum Grunde liegt. Die ganze Kirchenleitung muß darin bestehen, daß so lange der Gegensatz besteht, alles Catholische entfernt wird aus dem Protestantismus und umgekehrt. Ist falsche Vorstellung von diesem Gegensatze, so tritt auch falsche Kirchenleitung ein. Welches sind denn nun die Abweichungen von diesem richtigen Auffassen, die der Theorie des Kirchenregiments von Grund aus müssen verderblich werden? Die [sind in] § 3. aufgestellt. Nemlich wenn wir das protestantische und catholische nebeneinander stellen, und alle Differenzen auffassen, so wird darunter vieles seyn, was sich auf den Gegensatz beider nicht bezieht, sondern was nur beruht auf dem Entwikelungsprincip der jedesmaligen Partei, was keine Verwandschaft hat mit dem Vorigen und nicht mit der Gegenpartei. Sieht man dies aus dem Gegensatz entsprungen an, so muß das die Entwikelung des Ganzen seinem Wesen nach nothwendig hindern. Wenn ich z. B. sage: in der Protestantischen Kirche steht dies bei dieser Gelegenheit fest, bei der Catholischen Kirche jenes verschieden von diesem. Darin offenbart sich also der Gegensatz, und so müssen wir das festhalten, als Gegensatz zum Catholicismus. Das hemmt alles Leben und läßt den Punct sich gar nicht weiter entwikeln. | Sieht man darauf wie etwas wirklich Verschiedenes geworden ist, so wird man sich das 16 KD1 III 1 § 2 (KGA I/6, S. 304) 16–19 Schleiermacher verweist in § 2 selbst zurück auf KD1 I 1 §§ 9–12 (KGA I/6, S. 261,1–20). 24 KD1 III 1 § 3 (KGA I/6, S. 304)

131v § 2.

§ 3.

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§ 4.

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Ganze gennetisch auflösen können, so, daß man alle Differenzen als zufällig ansehen kann. Das ist das zweite Gefährliche, wobei die Differenz wirklich in Gefahr ist aufgehoben zu werden. Hier ist also die materiale Basis für die Richtigkeit der Theorie und es kommt hier alles darauf an, wie der Gegensatz zwischen Catholicismus und Protestantismus zu richtigem Bewußtseyn gelangt ist. Von § 4. an wird eingeleitet die weitere Theilung dieses bestimmten Theiles der Theorie selbst. Es wird unterschieden Einwirkung auf das Ganze, in wie fern sie von der constituirenden Autorität ausgehet und wie fern sie von Einzelnen ausgeht, die nicht zur constituirenden Autorität gehören. Diese Unterscheidung beruht darauf, daß in jedem geschichtlichen Ganzen der Einzelne allerdings unter dem Ganzen steht, auf der andren Seite [es] die Entwikelung des Ganzen nur geben kann durch Einzelne. Man könnte PebenS sagen, die Einzeln, welche das Ganze weiter bringen, sollen gerade diejenigen seyn, die die Autorität haben. Aber das ist nicht so. Das sehen wir schon im Staat. Alle eigentliche Verbesserungen können die ausgehen von der Regierung? Setzen wir das, so haben wir einen völlig despotischen Staat gesetzt, worin alle Fortschreitung gehemmt ist. Wir werden überall setzen müssen lebendige Einwirkung auf das Ganze von Einzelnen neben jener. Die Regierung thut nur das, wodurch die Einwirkung der Einzelnen eine bestimmte Form bekommt. Eben so hier. Die kirchliche Autorität besteht allerdings aus Einzelnen. | Diese aber geben ihre Einzelnheit auf, in so fern sie das sind. Sie geben der Einwirkung der Einzelnen die Form, können aber diese Einwirkung auf das Ganze nicht repräsentiren. Wir sehen das nur recht in der protestantischen Kirche, weil die catholische Kirche keine Einwirkung der Einzelnen annimmt. Z. B. wir müssen sagen, jede weitere Entwikelung des Lehrbegriffs ist Einwirkung auf das Ganze. Ist sie dem Princip des Protestantismus gemäß, so ist sie Verbesserung des Ganzen und sie wird ins ganze religiöse Leben eingehn. Aber niemals kann eine Verbesserung des Lehrbegriffs von der constituirenden kirchlichen Autorität ausgehen und soll es gar nicht nach den Principien der protestantischen Kirche. Keine kirchliche Autorität kann gebieten über den Lehrbegriff, der kann nur von den Einzelnen ausgehn. Diejenige Einwirkung also, welche auf das Ganze der Kirche geht, gehe theils von der kirchlichen Autorität, theils von Einzelnen aus und wir müssen den Character beider Einwirkungen unterscheiden. Schon früher ist ge14 PebenS] oder PaberS 7 KD1 III 1 § 4 (KGA I/6, S. 304) 38–4 Vgl. die Ausführungen zu KD1 III Einl. § 18 (KGA I/6, S. 302,23–26), oben S. 239,10–19

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sagt: jede Einwirkung eines Einzelnen, welche das Ganze der Kirche zum Gegenstand hat und sich weiter erstrekt als auf ein äußerlich gegebenes Ganzes der Kirche könne kein Gegenstand der practischen Theologie seyn. Das aber ist nun nicht zu erstreken auf diese Einwirkung Einzelner auf das Ganze, denn diese haben das gegebene Ganze zu ihrem Gegenstande. Wenn man sich denkt alle diejenigen Bestrebungen welche auf die Entwikelung des Lehrbegriffs gerichtet sind, so thut diesen doch Technik noth, denn wenn es solche nicht giebt, die da fragt: ist es heilsam für den ganzen Zustand der Kirche jetzt oder auf diese und jene Weise zu wirken?, wenn es solche Technik nicht giebt, und die | Bestrebungen keinen kunstgerechten Gang haben, so wird viel Verwirrung entstehn. Also der Sache nach muß es wünschenswerth seyn, dies mit unter die practische Theologie zu ziehn. Aber man denke sich ein auf den Lehrbegriff gerichtetes Bestreben, welches beabsichtigte den Gegensatz der beiden Kirchen aufzuheben, so ist das solches, wofür keine Technik gegeben werden kann, denn es ist kein Ganzes da, von dessen Zustande aus ich sagen könnte, es ist zwekmäßig, dies so und so auszudrüken; denn das Ganze wäre der Indifferentismus beider Kirchen und der existirt doch nicht. Aber ein jedes Bestreben, was sich auf den Gegensatz bezieht, wird unter einer gewissen Technik stehen, damit es zu Stande bringe was es will auf eine Art, die dem Zustande der Dinge gemäß ist. Der Gegensatz ist also da. § 5. Die Einwirkung der constituirenden Autorität, der Kirchengewalt, geht ihrer Natur nach auf Erhaltung und Ausbildung desjenigen, was im individuellen Princip der laufenden Periode, worauf es sich bezieht, gesetzt ist. Alles was aus dem eigenthümlichen Princip der laufenden Periode nicht zu begreifen ist und das Folgende vorbereitet kann nur von Einzelnen ausgehn. Alle Einwirkungen der kirchlichen Autorität als solche sind mehr negativ. Die positiven gehn von Einzelnen aus. Das ist der Begriff, der dem Geist der protestantischen Kirche am meisten angemessen ist. Schleiermacher nennt nemlich alles negativ, was seinem Wesen nach nichts andres enthält als Hindernisse aus dem Wege räumen gegen etwas schon Gesetztes. Die Autorität ist zwar gesetzgebend und das scheint positiv. Aber alle Gesetze welche sie geben kann, berufen sich darauf, dem Festgestellten seine Wirksamkeit zu sichern, | nichts Neues zu bestimmen, denn das muß sich von selbst entwikeln, von den Einzelnen ausgehen. Das ist alles im weiteren Sinne immer noch negativ. Selbst die Ausbildung des durch die letzte Epoche fixirten, so fern sie analytisch ist, so fern es schon enthalten ist in dem durch die letzte Epoche fixirten ist auch negativ. 24 KD1 III 1 § 5 (KGA I/6, S. 305)

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§ 5.

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§ 6.

§ 7. 8.

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Die Handlungen der kirchlichen Autorität sind bloß conservatorisch und bekommen dadurch ein positives Ansehn, obgleich sie nur negativ sind. Die Einwirkungen der Kirchengewalt liegen alle mehr auf der Seite auszugehen von dem religiösen Interesse, die Einwirkungen der Einzelnen auszugehen von dem Uebergewicht des wissenschaftlichen Geistes. Gegen das letztere könnte man sagen: ein Schriftsteller z. B welcher Erbauungsbücher schreibt, übt die Einwirkung auf das Ganze aus, und es geht doch dies nicht aus dem Uebergewicht des wissenschaftlichen Geistes hervor. Das ist wahr, aber das ist keine Einwirkung des Einzelnen auf das Ganze, die in dem Gebiet der practischen Theologie liegt, das ist bloß Thätigkeit, die der Einzelne als Einzelner privatim ausübt. Beide Puncte sind einander relativ entgegengesetzt und deßhalb muß die Theorie eines jeden Theils auf den andren Rüksicht nehmen. Die Grenzen zwischen beiden müssen bestimmt gezogen werden und davon die Construction ausgehen. Nun von der Thätigkeit der in jeder Kirche PconstituirendenS Autorität. Was sie besonders betrifft ist § 9. noch einmal herausgehoben der Unterschied zwischen dem Catholicismus und Protestantismus. Die Aufgaben sind formell betrachtet dieselben, die Aufrechterhaltung des religiösen Lebens, die Verbesserung und das | Verhältniß der Kirche zum Staat und zur Wissenschaft, aber die Theorien selbst werden in der Protestantischen Kirche ganz andre seyn. Der Schematismus kann für beide derselbe seyn, die Lehrsätze aber werden verschieden seyn. Es fragt sich nun: wie verhält sich die Kirchengewalt in den verschiedenen Puncten worauf es hier ankommt gegen den Kirchendienst? Hier giebt es keinen adäquateren Ausdruk, als daß die Kirchengewalt eine gesetzgebende, obgleich der Ausdruk von anderswo herübergenommen ist. Die Thätigkeit der Kirchengewalt soll nur das auf allgemeine Weise anordnen, was durch den Kirchendienst ausgeführt werden muß. § 12. Von dem, was die Kirchengewalt in Absicht auf das religiöse Leben zu thun hat. Hier gehn wir zurük auf die in der philosophischen Theologie aufgestellten Begriffe desjenigen, was krankhaft ist und was gesund ist. Hier sind also zweierley Thätigkeiten, nemlich das dem 1 sind] ist

18 PconstituirendenS] oder PconstituirtenS

4 KD1 III 1 § 6 (KGA I/6, S. 305) 14 KD1 III 1 §§ 7–8 (KGA I/6, S. 305) 18 KD1 III 1 §§ 9–10 (KGA I/6, S. 305) 27 KD1 III 1 § 11 (KGA I/6, S. 305) 1 34 KD III 1 § 12 (KGA I/6, S. 306) 35–37 Vgl. KD1 I Einl. §§ 8–9; I 2 §§ 3–4 (KGA I/6, S. 257,14–21; 262,13–23)

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Wesen und dem bestimmten Character der Kirche überhaupt oder in einer gewissen Zeit Widerstreitende muß weggeschafft werden, aber dies kann, da das Krankhafte immer wieder in Einzelnen ist auf zweifache Weise geschehen, 1. es wird in dem Einzelnen weg gebracht, der Einzelne wird bekehrt, oder 2. wenn das nicht geht, so müssen die Einzelnen aus dem Gebiet der Kirche selbst weg geschafft werden. Dies sind die beiden Aufgaben, Kirchenzucht und Kirchenbann. Nun muß richtig bestimmt werden, was sich auf die Kirchenzucht und den Kirchenbann bezieht, wie beide Thätigkeiten am besten einzurichten sind. Wir können uns nur auf die Stellung der Aufgabe einlassen. Es ist lange Zeit hindurch eine sehr weit verbreitete Ansicht gewesen in der protestantischen Kirche, daß alles was unter diese beiden | Begriffe gehört gar nicht protestantisch sey, sondern Ueberbleibsel aus der catholischen Kirche. Die Erfahrung hat dieser Meinung hinlänglich wiedersprochen, aber die Ansicht ist da und in der Theorie muß erst die Frage entschieden werden, sind Kirchenzucht und Kirchenbann der Idee der protestantischen Kirche völlig zuwieder oder nicht? und im letzteren Falle, welches ist die bestimmte Art und Weise wie beides statt finden kann in der protestantischen Kirche im Gegensatz gegen die Art und Weise in der catholischen Kirche? Wir werden sagen können, wir wollen nur die Worte gebrauchen in möglichst weitem Sinne, da hier nicht darüber entschieden werden kann; denn wenn Thätigkeit statt findet, so muß auch eine solche seyn, das Krankhafte auszustoßen; in wie fern Kirchenzucht und Kirchenbann schon etwas Materielles sind, so können wir sie so gebrauchen und wenn wir sie bloß formell betrachten so gehört diese Frage in die practische Theologie. So bald man überhaupt zugiebt, daß es eine Kirchenleitung geben soll, so muß auch der Kirchenbann auf gewisse Weise statt finden. Fassen wir die Begriffe ganz formell, so enthält die Theorie der Kirchenzucht das Verfahren, was sich auf das bewegliche Kranke im Einzelnen bezieht und die des Kirchenbanns, was sich auf das relativ Unbewegliche bezieht. In Beziehung auf beides ist noch die Bestimmung hinzuzufügen die auch § 13. 14. [behandelt] ist, nemlich das ganze Verfahren muß rein aus der Idee der Kirchenleitung hervorgehn und nicht der Idee der Kirche fremdartig seyn. So wie man das Beweglichkranke in dem Einzelnen wegzuschaffen Motive anwendet, die selbst nicht rein und christlich und protestantisch sind, nun dann geht | das Verfahren aus der Kirchenleitung heraus, und wenn das andre Verfahren, das doch immer Trennung von der Kirchengemeinschaft erfordert, eine Gewalt zu Hülfe nimmt, die nicht in der Idee der Kirche liegt, dann ist das Verfahren ein falsches, weil es 33 KD1 III 1 §§ 13–14 (KGA I/6, S. 306)

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aus der Idee der Kirche nicht hervorgehn kann. Von diesen beiden Puncten aus muß die Frage entschieden werden: giebt es Mittel aus der Idee der protestantischen Kirche heraus, solche zu heilen, oder wenn nicht, sich von ihnen zu trennen? Das letzte wird gar keine Aufgabe seyn, wenn man so raisonnirte: ist in dem Einzelnen etwas, was gegen das Princip aller andren ist, so wird er ja von selbst nicht in der Gemeinschaft bleiben. Aber man kann nicht so raisonniren, weil es gegenwärtig fast überall äußere Motive giebt, die den Einzelnen in der kirchlichen Gemeinschaft fest halten können wider seinen Willen. Nun werden sich gegenseitig bedingen, was die Kirche auf diese Weise thun kann, solche zu entfernen und was sie thun kann und thun muß, sich gegen den Staat zu sichern. Einige haben nun gesagt: es falle dies fort, wenn der Staat nicht eine Partei begünstige und die andre zurüksetze. Die Theorie des Kirchenbanns kann nicht eher aufgestellt werden, bis entschieden ist, ob ein solches Verhältniß vortheilhaft ist. Daß für den Cultus die Kirchengewalt gesetzgebend seyn muß leuchtet ein, wenn eine Einheit in den Gemeinen herrschen soll. Die Tendenz muß darauf gerichtet seyn, daß der Cultus immer mehr der vollkommene Ausdruk des religiösen Sinnes werde und bleibe. | Daß die Thätigkeit der Kirchengewalt überhaupt und streng genommen auch hierin einen negativen Character hat ist deutlich; denn das Positive kann von der Kirchengewalt nicht ausgehen, sondern sie kann nur die Hindernisse aus dem Wege räumen, welche der Fortschreitung, die nur vom Cultus selbst ausgehen kann, und welche die Kirchengewalt nicht hervorbringt, sondern bewacht, entgegen sind. Das Positive in diesem ganzen Gebiete geht vom Kirchendienst aus und darin muß also auch die nöthige Freiheit und Beweglichkeit statt finden. Ist alles unter einer Form im Kirchendienst, dann bleibt alles auf demselben Flek und es ist keine Fortbildung möglich. Die gesetzgebende Gewalt muß selbst dafür sorgen, dem Cultus seine Beweglichkeit und Freiheit zu erhalten. Diese Freiheit und Beweglichkeit muß constitutionell seyn und die Kirchengewalt constitutionell gemacht werden. Die Aufgabe welche darauf geht, den Kirchendienst zu sichern, der muß die andre zur Seite gehen, daß der Kirchendienst nicht aus der Gemeinschaft der allgemeinen Idee der Kirche herausgehe. Das ist eben die Gleichheit des Cultus. Die Freiheit des Cultus muß sichern, 11 was] was was 17 KD1 III 1 § 15 (KGA I/6, S. 306) 35 KD1 III 1 § 17 (KGA I/6, S. 306)

27 KD1 III 1 § 16 (KGA I/6, S. 306)

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daß die Einförmigkeit nicht tod wird und die Uebereinstimmung muß sichern, daß die Freiheit nicht hinausgehe aus dem Gemeinschaftlichen. Also auch diese Aufgaben lassen sich nur in genauer Beziehung auf einander lösen. | Es hat sich die Ansicht festgesetzt, als ob alles was auf Gleichförmigkeit ausgehe statutarisch, nicht protestantisch, sondern catholisch sey. Die Theorie muß also entscheiden, ob und wie fern eine völlige Aufhebung dieser Forderung im Protestantischen liege oder nicht. § 18. ist in der Beziehung der beiden Aufgaben auf ein ander ausgedrükt, daß nicht gänzliche Unterordnung und Verschlingung der einen durch die andre statt finden darf. § 19. die Rede von der Einwirkung der Kirchengewalt auf dasjenige was sich auf den Lehrbegriff bezieht, auf die ideale Seite. Die wirkliche Thätigkeit kann hier durchaus nur von den Einzelnen ausgehen, die Kirchengewalt kann sich nur auf das beziehn, was die Einzelnen vorher gethan haben. Das erste Fundament des protestantischen Lehrbegriffs sind die Symbole, welche aber von der Thätigkeit der Einzelnen ausgegangen sind, nur vom Allgemeinen anerkannt wurden. So müssen wir denn sagen, daß die Kirchengewalt hiebei nichts gethan, und kann beim Lehrbegriff nichts thun, sondern dafür können nur die Einzelnen nach ihrem Gewissen aus der Forschung der Schrift wirken. Wie hat aber die Kirchengewalt es anzufangen um den Einzelnen ihre freie Wirksamkeit zur Fortbildung des Lehrbegriffs zu sichern, auf der andren Seite die Lehre an dem Symbol festzuhalten? Das ist sehr schwer zu lösen. Da sie selbst die Kirchengewalt den Lehrbegriff nicht befördern kann, wie weit kann sie Widerspruch gegen das Symbol dulden? Es ist nicht genug sich an den Buchstaben sondern auch an den Geist des Symbols zu halten und da werden immer Streitigkeiten seyn. Fast keine kirchliche Autorität hat bis jetzt beides verbunden, entweder ist sie gewaltthätig geworden gegen die wissenschaftliche | Fortbildung oder sie hat die Lehre im Symbol gar nicht berücksichtigt, oder wenn sie beides verbunden, so ist es bloß Formel gewesen. Dieser Aufgabe wird man [sich] also nur durch Approximation nähern. Die Praxis wird immer nach einer von beiden Seiten hinüberschwanken und die Kunst wird darin bestehen, von dem einen immer auf das andre zurükzukommen. Die Kirchengewalt darf keinesweges die lebendige Thätigkeit aufgeben, wenn dies gedeihen soll. Das Verhältniß der Kirche constituiren zu helfen und es zu erhalten und allmählig zu berichtigen ist die nächste Aufgabe in der Theo9 KD1 III 1 § 18 (KGA I/6, S. 307) 12 KD1 III 1 § 19 (KGA I/6, S. 307) 23 KD1 III 1 § 20 (KGA I/6, S. 307) 39 KD1 III 1 § 21 (KGA I/6, S. 307) 39 Gemeint ist das im behandelten § 21 (KGA I/6, S. 307,12–15) genannte Verhältnis zum Staat.

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§ 18.

§ 19.

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§ 21.

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§ 23.

§ 24.

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rie der Kirchengewalt. Hier ist besonders ein Punct, wo die Verschiedenheit einleuchtet zwischen der Protestantischen und catholischen Kirche in der Art die Aufgabe zu lösen, indem in dem Wesen beider Kirchen ein ganz andres Verhältniß zum Staat gesetzt ist. Wir können es zwar nicht ansehen als allgemeines Dogma, daß die Kirche über dem Staat steht, es ist nicht zu allen Zeiten und von allen in der catholischen Kirche anerkannt, sie neigt aber nach dieser Seite hin. Das Verhältniß beider ist niemals ruhiges Gleichgewicht. Wenn Kirche und Staat sich verständigten, nun so besteht von diesem Punct an ein festes Verhältniß, aber es wird doch in jeder von beiden Seiten eine Neigung seyn, alle Gelegenheiten zu arripiren, etwas mehr für sich zu gewinnen. Das liegt in der Natur der Sache. Jedes dieser zwei Ganzen fühlt sich von der andren beschränkt. Setzen wir uns ganz in die Theologie so werden wir sagen: das ist wol natürlich, daß die Kirche durch den Staat gestört und beschränkt ist, aber wie der Staat sich kann durch die Kirche gekränkt fühlen, das ist nicht einzusehen. Aber wir finden es doch in der Praxis überall von zwei verschiedenen Puncten aus. | 1. Wenn der Staat in gewissem Sinne die kirchliche Autorität an sich gezogen hat, so sieht er nun diejenigen, welche die kirchliche Autorität ausüben als Staatsdiener an. Das ist allerdings ein Irrthum. Diejenigen, welche als Glieder der kirchlichen Autorität angehörn, opponiren dagegen und diese Opposition sucht der Staat auf zweifache Weise zu unterdrücken, entweder er sucht denen welche sich widersetzen immer mehr die Autorität zu entziehen und solchen zu geben, die sich mehr als Staatsdiener ansehn, oder er sucht die clericalischen Elemente auf alle Weise dahin zu bringen, sich ganz als politische anzusehen. Das in protestantischer Beziehung. Nun muß entschieden werden, in wie fern ist dies ein Eingriff des Staats in die Kirche und was ist zu thun, diesen Eingriffen entgegen zu arbeiten? § 23. ist die Frage so: wie soll die Kirche das hemmen ohne Eingriffe in die Rechte des Staats zu thun? Wir können dies als Theil der Auflösung selbst ansehen. Es wäre gar nicht mit der Kirche zu vereinen, daß sie Repressalien ausübte. Ein Eingriff in die Rechte des Staats wäre ein Eingriff in das Fremdartige und die Kirche hat es nur zu thun mit dem Fortschaffen des Fremden. Die Kirche schadet sich also dadurch selbst. § 24. wird etwas weiter zurükgegangen auf die Sache selbst, nemlich wie das Verhältniß der Kirche zum Staat eigentlich zu stellen ist? Wenn wir es auch als ein Gegebenes ansehn und durch Verträge Feststehendes so ist es doch niemals ein unwandelbares, sondern da ist 8 KD1 III 1 § 22 (KGA I/6, S. 307) 18 Zu diesem „1.“ fehlt ein „2.“. 30 KD1 III 1 § 23 (KGA I/6, S. 307) 37 KD1 III 1 § 24 (KGA I/6, S. 307)

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immer latitudo und es werden immer Verhältnisse entstehen die die Sache ändern, ohne das Wesen zu ändern. | Es müssen hier Extreme aufgestellt werden, die vermieden werden müssen und das ist nicht die Lösung der Aufgabe, sondern nur die Stellung. Ein gänzliches Getrenntseyn der Kirche vom Staat ist nicht möglich 1. die Kirche kann nicht bestehen ohne äußere Seite. Alles Aeußere aber steht unter dem Staat. In dieser Beziehung ist die Kirche also nothwendig im Staat und unter dem Staat. 2. der Staat ist nicht lebendig ohne die Gesinnung. Wenn er nicht in der freien Thätigkeit seiner Glieder besteht, so ist er nur todter Mechanismus. Aber von allem, was wir Gesinnung nennen können ist immer Religion die Quelle. Jedes Verhältniß des Menschen zum Endlichen ist abhängig von seinem Verhältniß zum Unendlichen. So steht also der Staat in uns unter der Kirche. Hier sind also zwei Extreme als unmöglich gesetzt: 1. die Kirche kann nicht gänzlich unabhängig vom Staate seyn, aber 2. sie kann auch nicht in völliger Dienstbarkeit seyn vom Staat und wenn sich der Staat recht versteht, so darf er das auch nicht wollen. Aber auf der andren Seite ist relative Unabhängigkeit wünschenswerth und die Unterwürfigkeit der Kirche unter den Staat ist wiederum wünschenswerth, denn sie kann doch nur groß seyn, wenn ihr Besitz groß ist. Dieser ist unentbehrlich für die Kirche wird aber größere Unterwürfigkeit unter den Staat hervorbringen; aber wenn nun die äußere Unterwürfigkeit die innere Gewalt über die Gemüther mit vernichtet und wenn sie um ganz frei zu werden auch allen Besitz aufgeben muß, so ist das nicht wünschenswerth für die Kirche. Vor diesen Extremen hat man | sich zu hüten. Ist die Kirche unabhängig vom Staat, aber durch Verlust des Aeußeren kraftlos, so ist die Aufgabe, wie dies zu ändern? ist die Kirche äußerlich groß, aber in großer Dienstbarkeit unter dem Staate so ist die Frage, wie ist die Kirche davon zurükzubringen? Die meisten Eingriffe des Staats in die Kirche entstehen durch die Mißverständnisse, die dadurch entstehen, daß die Kirchengewalt viel Analogie mit der weltlichen hat. Es kann z. B. keine Kirchenleitung gedacht werden ohne Kirchenzucht und Kirchenbann. Kirchenzucht besteht in der Ausschließung vom Abendmahl für einige Zeit. Da hat der Staat eingegriffen und gesagt, dies sey willkürlicher Eingriff in die Rechte eines Bürgers, daß man seine Erbauung hindern will, sobald er sie begehren sollte. In der catholischen Kirche ist ein andres Mißverständniß gewesen. Man hat gesagt: Krieg ist Feindschaft. Feindschaft soll nach den Vorschriften des Christenthums nicht seyn und ist sie zwischen Christen, so hebt sie offenbar die Gemeinschaft auf. Es dürfen also zwei christliche Völker, die beide in der christlichen Gemeinschaft sind nicht eher

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§ 25.

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Krieg führen, als bis eines davon ausgeschlossen ist und eben dadurch als Feind der Kirche angesehen werden kann. § 25. Die auf das Ganze gerichtete Thätigkeit der Einzelnen ist im gegenwärtigen Zustande der Kirche nur die des academischen Lehrers und die des Schriftstellers. Der Eifer eines ascetischen Schriftstellers ist jedoch vorübergehend, weil er nur auf das Gemüth wirkt. PSonstS ist es gleich, wie viele gerade der Schriftsteller überzeuge. Kann es nun hierüber eine Theorie geben? Es scheint als ob die | dadurch ausgeschlossen wird, daß der academische Lehrer und theologische Schriftsteller bloß seiner inneren Ueberzeugung der Wahrheit folgen muß. Das kann ihn niemand lehren. Alle Regeln könnten nur Klugheitsregeln seyn, in denen oft etwas Unsittliches seyn kann. Das scheint so und es kann keine Theorie aufgestellt werden, nach welcher einer sich wissenschaftlich mittheilte ohne seine Ueberzeugung auszudrüken. Aber es kann doch noch vieles daneben stehen. Man kann seine Ueberzeugung besser und schlechter vortragen, es verträgt sich also mit dieser allgemeinen Vorschrift eine Theorie noch recht gut. Wir haben hier zweierlei zu unterscheiden 1. die unmittelbare Einwirkung, die psychagogisch ist und auf welche Weise erreicht nun der sich Mittheilende seinen Zwek am besten? 2. bezieht sich mehr auf den Zustand des Ganzen und da fragt sich, wie erreicht er seinen Zwek auf solche Weise, daß dadurch nicht zugleich etwas Nachtheiliges bewirkt wird und daß von der andren Seite das maximum der Bewegung in dem Ganzen entsteht? Es wird immer in der Theorie einiges geben für den academischen Lehrer und Schriftsteller, was auf einem andren Gebiet steht, was zur Sicherheit und Klarheit der Mittheilung gehört, das ist die didactische Kunst, des mündlichen Vortrags und der schriftlichen Composition. Außerdem wird PebenS übrig bleiben, was sich auf den besondren jedesmaligen Zustand der Kirche bezieht und das ist der Gesichtspunct, der hier vorzüglich festzuhalten ist. Der öffentliche wissenschaftliche Lehrer hat es offenbar mit dem einen Elemente der theologischen Gesinnung vorzüglich zu thun, nemlich | mit dem wissenschaftlichen Geist. Er soll auf der einen Seite Resultate des wissenschaftlichen Geistes mittheilen, auf der andren Seite, den wissenschaftlichen Geist anregen und zum Bewußtseyn bringen. Beides muß coordinirt seyn. Die Aufgabe ist, wie ist die Belebung des wissenschaftlichen Geistes so einzurichten, daß das theologische Interesse nicht geschwächt werde, wenn gleich nicht unmittelbar 29 PebenS] oder PaberS 3 KD1 III 1 § 25 (KGA I/6, S. 307)

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darauf gewirkt werden kann? Es entsteht jetzt häufig die Klage, daß die ganze Bildung des Theologen auf falschem Wege sey, daß auf das Religiöse gar nicht gesehen werde und in einer und derselben öffentlichen Thätigkeit und in demselben öffentlichen Institut müsse beides verbunden werden. Das ist Irthum. Dadurch würde das Wesen unserer Universitäten so alterirt werden, daß sie nicht mehr würden ihren eigentlichen Zwek erreichen können. Es geht aber doch daraus hervor, daß man unsicher ist in der Ausübung, und daß eine Lüke in der Theorie ist, da in der practischen Theologie gar nichts davon vorkommt. Das Fehlen des religiösen Interesses kann ganz anderswo seinen Grund haben und das Uebel muß dann von anderswo geheilt werden. Es entsteht daraus, daß man auf der Universität das religiöse Interesse als die eine Hälfte nicht gehörig mitbringt. Aber es giebt, auch wenn das ist, solche die das religiöse Interesse mit anregen, andre die es untergraben. Nun kann man sagen, daß den öffentlichen Lehrern selbst das religiöse Interesse fehlt. Aber es liegt gar nicht darin allein, sondern es liegt darin, daß es sehr oft an einer besonnenen Rüksicht auf den Zustand im allgemeinen in dieser Hinsicht fehlt. Die Puncte worauf es ankommt | sind klar zu machen. Es giebt gewisse Richtungen im religiösen Interesse, welche dem wissenschaftlichen Geist entgegen sind. Sind solche da, so muß man sehr behutsam seyn und nur allmählig die Abschaffung des Irthums bewirken. Thut man es auf einmal so stößt man sie zurück und verleidet ihnen auch wol den wissenschaftlichen Geist. Auf der andren Seite giebt es eine Richtung des wissenschaftlichen Geistes, welche dem religiösen Interesse zuwider ist, wenn in dem wissenschaftlichen Streben das skeptische überwiegt. Der Skepticismus ist zwar ganz unentbehrlich, aber er kann so entwickelt seyn daß ein verborgener Zwiespalt entsteht zwischen dem wissenschaftlichen Geist und dem religiösen Interesse. Hier kann die Theorie nur aufgestellt werden, in wie fern man im Auge hat, wie sich der Zustand, wie er wirklich ist, befindet. Hier ist also eine Stelle für die Theorie, die nicht ausgeführt ist, die aber nicht zu einer Disciplin kann ausgebreitet werden, sondern bloß Hauptcautelen enthalten kann. § 27. bezieht sich auf dasselbe Verhältniß. Es ist Aufgabe der didactischen Kunst durch die wissenschaftliche Einwirkung einem jeden zum Bewußtseyn zu bringen, auf welcher Seite auf der orthodoxen oder heterodoxen er steht. Die Einwirkung muß aber nicht einseitig seyn und nicht vorgreifen. Der Lehrer selbst steht auch auf einer oder der andren Seite, aber er muß mit dieser seiner Einseitigkeit nicht 35 KD1 III 1 § 27 (KGA I/6, S. 308)

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§ 27.

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vorgreifen, damit nicht einwirken, sondern bloß mit seiner Indifferenz einwirken. Dazu ist allerdings eine Theorie nothwendig. Was die schriftstellerische Thätigkeit und Mittheilung betrifft | so ist sie entweder rectificirend oder productiv und das geht nicht auf das rein Didactische allein, sondern auch auf das Historische. Das Falsche ist immer nur an dem Wahren, wenn man die Wahrheit verkennt, woran der Irthum haftet, so gießt man das Kind mit dem Bade aus und ruft neue Irthümer hervor und so geschieht es, daß [es] von einem Irthum auf den andren, von einem Aeußersten zum andren Aeußersten geht, so daß die ganze Geschichte der Wissenschaft eine Geschichte der Irthümer ist. Aber in der Kirche ist jeder Irthum Spaltung, denn die Kirche ist Wahrheit. Diese soll vermittelt werden, aber das heißt nicht vermitteln wenn man aus einer Spaltung zwei macht. Es lohnt also wol der Mühe über diesen Zustand besonnen nachzudenken und das heißt einen Grund der Theorie legen. In wie fern Neues mitgetheilt wird, so ist derselbe Fall, das Neue steht im Gegensatz mit dem Alten. Es tritt nicht an die Stelle von nichts, sondern es ist immer im relativen Gegensatz mit etwas früherem. Der Gegensatz darf nun nicht fehlen und darf auch nicht zu weit ausgeführt werden. Er fehlt, wenn man das Neue als ganz vom Himmel gefallen darstellt, aber er darf auch nicht verworren vorgetragen werden und dazu gehört allerdings eine Theorie. § 30. ist die Aufgabe gestellt über den Umfang der Mittheilung. Nemlich jede Mittheilung hat einen gewissen Kreis, wofür | sie gehört. Diejenigen welche sie nicht verstehen, kann sie auch nur verwirrn. In den öffentlichen Verhältnissen des Lehrers ist das ein andres, da ihm etwas gegeben ist, das er voraussetzen kann, wenn das nicht da ist, so ist er darin unschuldig. Mit dem Schriftsteller ist es ein andres, eben weil er seinen Kreis nicht abschließen kann und diese Klage führt schon Plato. Nun ist die Frage, in wie weit kann man durch die Mittheilung sich zum Herrn über sie selbst machen und so einrichten, daß sie von selbst sich nicht weiter verbreitet, als wo sie nutzen kann. Sie schadet nur da, wo sie mißverstanden wird, denn wo sie nicht verstanden wird, da verdirbt sie bloß Zeit, was in eines jeden Belieben steht. Man hat sie also so einzurichten, daß keine Mißverständnisse möglich sind. Sie muß sich jedoch in einem gewissen Kreise halten. Mit dem Lateinschreiben ist nichts gewonnen, da es so viele Vermittelungen giebt zwischen dem Deutschen und Latein. Die 3 KD1 III 1 § 28 (KGA I/6, S. 308) 16 KD1 III 1 § 29 (KGA I/6, S. 308) 23 KD1 III 1 § 30 (KGA I/6, S. 308) 29–30 Vgl. Platon: Epistulae VII 341b–e; Opera, ed. Societas Bipontina, Bd. 11, Zweibrücken 1787, S. 129f; Werke in acht Bänden, hg. v. G. Eigler, Bd. 5, Darmstadt 1981, S. 412–415

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Hauptsache ist darüber ein gewisses Gefühl zu haben, welcher Character jeder Darstellung gebührt. Es ist viel geschadet dadurch, daß man popularisirt hat, wozu das Volk nicht die Vorkenntnisse hatte, es zu verstehen und darauf kommt es hauptsächlich an. Diese beiden Zweige, die Thätigkeit der kirchlichen Autorität und der Einzelnen müssen jede sich auf die andre beziehen, und durch Uebereinstimmung wirken. Das ist am wenigsten einer bestimmten Theorie fähig und läuft in das Gefühl zurük. Was darin theoretisch behandelt werden kann und muß | ist § 32., daß die Kirchengewalt sich selbst muß rege erhalten, damit sie der sich fortwickelnden Einsicht entsprechen kann. Sie muß also nicht, zu viel thuend, die Hände binden, und, zu wenig thuend, das Fixirte festhalten und sich hüten nicht unnütz eine Opposition gegen die Einzelnen zu führen.

§ 31. 32.

141r

Zweiter Abschnitt. Von der Theorie des Kirchendienstes. Der Gegenstand aller Thätigkeit ist hier die einzelne Gemeine. Der einzelne Mensch nur in Beziehung auf sie. Die ganze Theorie kann also nur [darauf] beruhen, daß nun die christliche Gemeine als Einheit auch wirklich organisches Ganzes ist, wirklich organisirt ist und sie als Gegenstand der Thätigkeit und von dem die Thätigkeit ausgeht entgegengesetzt ist. Es kommt also hier auf den Gegensatz von Klerus und Laien zurük. In dem Maaß als dieser Gegensatz ausgebildet ist, wird auch die Theorie stehen. Das ist nicht nöthig, daß die Kleriker einen besondren Stand bilden. Diese Thätigkeit kann sich in zweierlei theilen: 1. Cultus im engern Sinne, 2. das religiöse Leben überhaupt im weitern. Im Cultus erscheint die Gemeine im eigentlich bestimmten Zustand der Organisation. Im religiösen Leben überhaupt treten nur die Einzelnen hervor. Ihr Hervortreten muß aber doch auf die Organisation des Ganzen sich beziehen, das heißt, sie müssen Glieder der Gemeine seyn. Darin theilt sich also die Theorie. Von der Theorie des Kirchendienstes in Beziehung auf den Cultus. Erklärung des Cultus: Er ist ein aus Kunstelementen zusammengesetztes | Ganze, so daß eine Theorie dabei seyn kann. Wo der Cultus z. B. ein Opfer erforderte, da ist dies nicht Kunst, nicht Theorie, nur Mechanisches. Dasselbe gilt von dem Cultus, wo viele symboli5 KD1 III 1 §§ 31–32 (KGA I/6, S. 309) 16 KD1 III 2 § 1 (KGA I/6, S. 309) 1 1 17 KD III 2 § 2 (KGA I/6, S. 309) 25 KD III 2 § 3 (KGA I/6, S. 310) 33 KD1 III 2 § 4 (KGA I/6, S. 310)

§ 1. § 2.

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§ 6.

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sche Handlungen vorkommen, was nur mechanisch eingeübt wird. Was sich aber auf Theorie bezieht, das ist kunstgemäß, als Rede, Gesang cet. Die Theorie des Cultus ist also die religiöse Kunstlehre und wird aus ganz verschiedenen Dingen bestehn. Die Theorie der religiösen Rede wird ein Theil der Rhetorik seyn, die Theorie des Gesangs ein Theil der Musik u. s. w. Das gemeinschaftliche ist nur das Religiöse. In wie fern Theile aus verschiedenen Kunstgebieten zusammenkommen, so ist in allen diesen Gebieten 1. etwas Besondres, was durch die religiöse Beziehung hineinkommt und was der religiöse Stil jedes ist. 2. Das ist die Theorie, wie aus diesen Elementen aus verschiedenen Künsten ein Ganzes gebildet wird. Dieser zweite Theil ist eigentlich das selbstständigste. Das andre muß eigentlich in den Theorien der verschiedenen Künste selbst vorkommen. Das rein specifisch Theologische ist die Zusammensetzung dieser Elemente zum Cultus. Wenn wir mit dieser Construction den gegebenen Zustand der practischen Theologie vergleichen, so ist dasjenige, was am meisten rein theologisch ist, gerade dasjenige, was am wenigsten existirt. Worin liegt das? Das hat seinen Grund vorzüglich in der Art wie hier Kirchendienst und Kirchenregiment zusammentreffen. Der Kleriker der es mit der einzelnen Gemeine zu thun hat, ist der eigentlich Fungirende. Der hat aber nicht freie Hand. Was wir Liturgik nennen sollte eigentlich diesen ganzen Inhalt haben, hat ihn aber darum nicht. Wenn der Kirchendiener | ganz ungebunden wäre, so würde bald eine Theorie zu Stande kommen. Das Kirchenregiment könnte es ist aber zwiefach gehindert 1. weil die PGewaltS als solche nicht das fungirende ist und kein unmittelbares Interesse ist 2. hindert sie etwas Positives: nemlich die kirchliche Autorität ist immer nur gut, in sofern sie Neuerungen scheut. Will sie Neuerungen machen, so ist das blosse Willkühr und diese kann es auch nur seyn, die sie zur Umänderung des Cultus bringen kann. Sie sucht den Cultus zu erhalten in der Form wie sie ihn erhalten und strebt demjenigen immer entgegen, was sich neu entwikeln will. Haben sie diesen Character nicht, so ist Willkühr in ihnen. Eine Theorie wird sich erst entwikeln können, wenn Kirchendienst und Kirchenregiment mehr in Eins geschmolzen seyn werden. Wir sind davon ausgegangen, der Cultus besteht aus Kunstelementen, das ist seine Form. Was ist nun sein Inhalt? Sie sollen der 11 jedes] ist jedes 32 strebt] streben oder zu korrigieren in Hat sie 8 KD1 III 2 § 5 (KGA I/6, S. 310)

33 Haben sie] scilicet: die Neuerungen

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Ausdruk seyn der religiösen Zustände. Von diesem Punct des Inhalts aus kommt eine Betrachtung hinzu, die nicht in der religiösen Kunstlehre liegt und die nur wichtig wird, je nach dem die redende Kunst hervortritt. Wenn wir auf die redende Kunst sehen und wir fragen nach ihrem Inhalt, wie PbestimmtS sie den religiösen Zustand? Nur durch Begriffe, welche auf eine oder andre Art Elemente des Lehrbegriffs sind. Nun entsteht die Frage, was für Elemente der religiösen Sprache sind in die Kunst, so fern sie Cultus ist, aufzunehmen? Was im Cultus in das Gebiet der Sprache fällt, ist | auf den Lehrbegriff zu beziehn, es ist also ein wesentlicher Theil der Kunst, das Verhältniß beider zu finden und zu bestimmen. Da fragt sich nun, wie fern kann man sich wissenschaftlich, wie fern populair, wie fern bildlich ausdrüken? Was ist die Grenze zwischen der religiösen Rede und der Rede überhaupt? Das ist eine Seite der Frage. Die zweite: Welche Gestaltung der religiösen Gegenstände in Beziehung auf das Orthodoxe und Heterodoxe soll man gebrauchen, was für Gegenstände gehörn eigentlich in den Cultus, welche nicht? Dieser Theil der Theorie ist auch noch wenig oder gar nicht ausgeführt. Einiges davon ist in demjenigen, was man populaire Dogmatik nennt. Das ist aber immer nur ein Theil und die Bearbeitungen sind höchst einseitig. Es fehlt an der Theorie und darum so viel Ungeschik in der Praxis. Bezieht sich auch noch auf den Kirchendienst im Cultus. Der Kleriker tritt hier in doppeltem Verhältniß auf 1. mehr als Individuum mit seinen persönlichen Eigenthümlichkeiten, 2. mehr als Repräsentant eigentlich zunächst der Gemeine selbst; denn indem er den Cultus leiten soll, das Bewußtseyn der religiösen Zustände, so muß er sich ja ganz in die Stelle derer setzen, deren religiösen Zustand er ausdrüken soll; aber er muß sich auch dabei ansehen als Repräsentant der Kirchengewalt. Diese beiden Verhältnisse sind hier entgegengesetzt durch die Ausdrüke Liturgus und Prediger. Ist er Liturg, so ist er Repräsentant der constituirten kirchlichen Gewalt, ist er Prediger so handelt er individuell. Doch greift beides mehr in einander. | In der Regel verstehen wir unter Liturgie (eigentlich alles heilige Handeln verrichten) wir verstehen darunter nur die zur Rede gehörenden Theile des Cultus, die nicht von dem Einzelnen selbst abhangen, sondern festgestellt sind von der kirchlichen Autorität. Damit tritt aber die Eigenthümlichkeit des Klerikers sehr zurük und die Repräsentation tritt ein. Die Religiöse Rede hat aber auch etwas Constituirtes und so greift beides in einander, denn was die Liturgie betrifft, so muß ihm auch da freies Spiel gelassen werden. 8 KD1 III 2 § 7 (KGA I/6, S. 310)

22 KD1 III 2 § 8 (KGA I/6, S. 310)

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258 § 9.

§ 10.

§ 11. 12.

143v § 13.

§ 14.

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§ 9. dies weiter ausgeführt. Wenn die Predigt kein Richtmaaß hätte, so könnte sie heraustreten aus der christlichen Gemeinschaft. Ist dem Liturgen keine Freiheit gelassen, so wird er tod werden und mechanisch und mit ihm auch der Cultus. Die Aufgabe muß also gelöst werden, wie die Glieder dieser beiden Gegensätze in einander seyn müssen. Wohin gehört dieses? Allerdings seinem Inhalt nach in die Theorie des Kirchendienstes. Es ist dies aber die Wurzel, die der Kirchendienst hat im Kirchenregiment, wovon doch dies ausgehn muß. Die Thätigkeit in der Kirchenleitung knüpft sich, wie wir gesehen haben an die Vergangenheit. Was für die Zukunft gewirkt werden soll, geht von Einzelnen aus. Sehen wir nun den Kleriker als Prediger, wo seine Eigenthümlichkeit dominirt, so ist es der größere Antheil, der aus der Gegenwart die Zukunft hervorbringen soll. Was die kirchliche Autorität darüber bestimmt ist das: wie hält man, was der Kleriker schafft, in Uebereinstimmung mit dem Ganzen ohne seine Freiheit zu beschränken. Eben so auf der andren Seite: in allem, worin | der Prediger als Liturg auftritt waltet die Vergangenheit vor. Alles worin seine Individualität eine Rolle spielt, läßt sich unter die religiöse Rede fassen. Ist keine Freiheit gegeben bei den vorgeschriebenen liturgischen Elementen, so kann nur der lebendige Vortrag dieselben erbaulich machen. Ist Freiheit gegeben, daß er abkürzen kann und auslassen und zusetzen, so geschieht dies nur eben durch die religiöse Rede. Etwas in der religiösen Rede muß bestimmt seyn aus der kirchlichen Autorität. Denn kirchlich ist ja bestimmt, daß jede Rede einen Schrifttext haben muß, das sind die vorher bestimmten Puncte. Aber nun findet doch eine große Mannigfaltigkeit statt; ob es nun so oder so ist, das scheint zufällig. Ein jeder muß wissen, welchen Grad von Empfänglichkeit seine Gemeine hat, und darnach wird er den Umfang seiner Rede im Cultus bestimmen müssen und es giebt also unendlich viele Abstufungen und Verschiedenheiten. Auch kann die Form der religiösen Rede verschieden seyn. Ihrem Sprachgebiet nach liegt sie in dem Gebiet der Entwikelung des Lehrbegriffs und darin ist wissenschaftliche Tendenz. Es giebt zwar große Abstufungen zwischen dem populairen und wissenschaftlich dogmatischen. Wo er sich halten soll muß er nach seiner Gemeine bestimmen. Je wissenschaftlicher gebildet die Gemeine ist, desto mehr muß auch die Rede wissenschaftlich seyn in der Form. Je mehr Ursach man hat populair zu seyn, desto weniger kann die wissenschaftliche Form vorherrschen und es muß der dialogische Typus vorherrschen. 1 KD1 III 2 § 9 (KGA I/6, S. 310) 4 KD1 III 2 § 10 (KGA I/6, S. 311) III 2 §§ 11–12 (KGA I/6, S. 311) 17 KD1 III 2 § 13 (KGA I/6, S. 311) III 2 § 14 (KGA I/6, S. 311)

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Der Cultus und auch die religiöse Rede ist ein Kunstwerk, und | hat als solche auch Anspruch auf das Poetische. Will die Theorie der Rede vollständig seyn, so muß der ganze Cyclus darin seyn. Das wäre aber zu viel. Die Homiletik hat sich also nur zu beschäftigen mit dem, was zur Praxis gehört und deßhalb ändert sie sich. Will sie allumfassend seyn, so geht sie über den practischen Gebrauch hinaus. Doch ist solche Homiletik noch nicht da. § 15. Ist die Rede von der klerikalischen Thätigkeit, deren unmittelbarer Gegenstand die Einzelnen der Gemeine sind. Die Einzelnen stehen zu der Gemeine in zweifachem Verhältniß. Auf der einen Seite sind sie Bestandtheile derselben, auf der andren Seite Producte derselben, in wie fern sie in und von der Gemeine entstehen. Hierdurch spaltet sich also schon die Thätigkeit, in die, welche schon auf diejenigen geht, die schon in der Gemeine sind, und in die, welche erst zu Bestandtheilen der Gemeine gebildet werden sollen, auf die Jugend. Wenn mit den Einzelnen die wirklich Mitglieder der Gemeine sind gewirkt werden soll, so hat ihr religiöses Leben seine Nahrung in der allgemeinen Wechselwirkung worin der Kleriker als Freund mit den übrigen zusammen ist und auf der andren Seite im Cultus. Sind die Einzelnen gesund, so bedürfen sie weiter nichts. Soll der Geistliche auf die Einzelnen wirken, so muß eine Differenz seyn zwischen demselben und der Gemeine. Darauf bezieht sich also die ganze Thätigkeit denn die Jugend ist auch noch in Differenz. Der Religionsunterricht, Cathechetik. Worauf kommt es dabei an? Die Hauptsache ist die Erwekung des religiösen Princips | in der Jugend, das allerdings jedem angeboren ist, das aber erst später sich entwickelt. Diese Leitung von dem Unbewußten zum Bewußten ist nothwendig. Wenn man der Sache den freien Lauf lassen wollte, so würde die Entwikelung des religiösen Bewußtseyns sehr verspätet werden wegen der vielen sinnlichen Reizungen. Daher ist ein wichtiges Bestreben, die Entwikelung des Princips zu beschleunigen. Das religiöse Princip aber soll auch hineingeleitet werden in die individuelle Form des Christlichen und der besonderen Kirche, in welcher das Kind geboren ist. Das sind die beiden Hauptpuncte worauf es ankommt. Aber hierin ist nicht alles der Einwirkung des Klerikers überlassen, sondern diese ist nur mitwirkend. Nemlich das religiöse Princip muß in einem kirchlichen Leben schon viel eher zum Bewußtseyn kommen, als das Kind dem Geistlichen übergeben wird, der muß es schon auf einer gewissen Stufe der Ausbildung des religiösen Princips bekommen. Das hängt also vom Familienleben ab und dies muß dem 8 KD1 III 2 § 15 (KGA I/6, S. 311) 24 D1 III 2 § 19 (KGA I/6, S. 312)

10 KD1 III 2 §§ 16–18 (KGA I/6, S. 311f)

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§ 15. § 16. 17. 18

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145v § 23.

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Geistlichen vorarbeiten. So ist das also wieder sehr unbestimmt, wie das Kind ist ausgebildet, vielleicht ist schon zu viel Sinnliches ja Irreligieuses in ihnen. Dies ist also wieder ein großer Cyclus und hält sich die Thätigkeit an diesen, so ist sie zu groß, hält sie sich bloß an die Praxis, so ist sie zu bedingt. Daß das Kind in die christliche Kirche geleitet wird und in die Partei ist die Mittheilung des Lehrbegriffs. In welcher Form soll der mitgetheilt werden? entweder als | Aggregat von populairen Vorstellungen, oder auf eine mehr zusammenhängende wissenschaftliche Weise. Welche Stufe da zu wählen sey, hängt wieder ab von der Gemeine, von der Fassungskraft des Einzelnen und von dem Zustand der Kirche. Hierüber eine Theorie aufzustellen ist also sehr schwer und nur möglich wenn man den ganzen Cyclus umfaßt. Bis jetzt hat sich die Cathechetik noch sehr fern hievon gehalten. Man hat sich bloß an die Methodik gehalten und das auch sehr untergeordnet. Die Hauptpuncte waren: ob die dialogische Form dominiren solle. Das ist eigentlich Nebensache. Ist der Vortrag bloß dialogisch, so versirt man bloß im Lehrbegriff, soll er ins religiöse Leben gehen, so muß er ascetisch seyn. Auch hat man bei der Methode viel zu wenig Rüksicht genommen auf die Verschiedenheit der Individuen, denn es wäre doch ungereimt, wenn man eine Jugend vom Lande oder die gebildete Jugend einer großen Stadt auf dieselbe Weise behandeln wollte. § 22. Eine neue Differenz, welche natürlich aus dem verschiedenen geselligen Verhältniß des Klerikers zu den Catechumenen entsteht, was davon abhängt, wie sein geselliges Verhältniß ist gegen die ganze Gemeine. Je mehr er als Freund der Leute Rath ist kann er die Erziehung schon immer mehr vorbereiten. Wo aber der Zusammenhang des Klerikers außer dem Cultus mit der Gemeine Null ist, da muß eine ganz andre Methodik seyn. Im entgegengesetzten Falle ist es bei weitem nicht so schwierig | und man bedarf nicht erst einer künstlerischen Theorie. § 23. 24. ist etwas was auch zur Theorie noch nicht ausgebildet ist und doch derselben sehr bedarf, Alles nemlich was sich auf Missionen im weiten Sinne des Worts liegt. Die christliche Kirche hat auf fremden Gebieten angefangen. Sie hat noch keine Grenze gefunden und es kann auch keine finden, weil es seiner Natur nach für alle Völker ist. Diese Erweiterung der christlichen Kirche geht auch durch 33–34 was sich auf Missionen ... liegt.] Kj was sich auf Missionen ... bezieht oder was im Gebiet von Missionen ... liegt. 6 KD1 III 2 §§ 20–21 (KGA I/6, S. 312) 32 KD1 III 2 § 23 (KGA I/6, S. 312f)

23 KD1 III 2 § 22 (KGA I/6, S. 312)

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die ganze Geschichte durch. Dies muß doch nun in der Kirchenleitung mit seyn. Es dem Ungefähr zu überlassen geht nicht. Die Theorie theilt sich in ein zweifaches 1. die Frage: wenn wir uns das Ganze ausgehend denken vom Bestreben der Kirche selbst, wohin soll es gerichtet werden? Darüber ist keine Theorie aufzustellen. Da muß man sagen: das kann nur bestimmt werden durch das, was der Verkehr mit den Völkern lehrt. 2. Wie soll denn verfahren werden, wenn nun bestimmt ist, nach einer gegebenen Seite hin soll das Christenthum verbreitet werden? Wenn es eine Theorie darüber gebe, so würde sie dem Kirchenregiment angehören. Die Theorie aber wie verfahren werden soll gehört in den Kirchendienst. Entweder ist da eine Gemeine wo die Missionare hingeschikt werden, nun dann soll sich der Geistliche derselben anschließen, oder es ist keine da und dann soll eine Gemeine gegründet werden. Das liegt sehr genau zusammen mit der Cathechetik, denn man hat es immer mit einem unentwikelten religiösen Princip zu thun. Soll hierüber eine Theorie gegeben werden, so muß sie wieder ein Mannigfaltiges von Verhältnissen berüksichtigen. Einige werden weiter seyn als die andren und so giebt es ja ganz verschiedene Anknüpfungspuncte. Dann kommt es an auf den Grad der Verständigung, der statt findet zwischen dem Missionar und den Convertenden. Die Sache ist | bisher in der neueren Zeit bloß empirisch behandelt und zwar von ungebildeten Menschen. § 24. behandelt noch eine andere Frage, die sich auf einen mehr in der Nähe befindlichen Fall bezieht, indeß auch eine allgemeine Geltung hat. Nemlich aus der ersten Frage: wohin soll das Bestreben sich richten? geht eine andre hervor: wenn ein Missionair sich unter einem Volke befindet, welches sind nun die Individuen, die den meisten Anspruch auf seine Thätigkeit haben? Es sind da schon Verdienste, der eine verdient es mehr, als der andre, oder einer kann mehr ein größeres Mittel werden zur Bekehrung der andren, der eine ist also in dieser Hinsicht mehr als der Andere. In so fern hat also die Frage etwas allgemeines. Aber Schleiermacher hat auch etwas Spezielles im Sinne gehabt, die Juden. Da entsteht ein sehr schwieriger Punct für die Theorie des Kirchenregiments. Ein Geistlicher kann dabei in üble Verlegenheit kommen, wenn ein Jude zu ihm sagt, daß er ihn im Christenthum unterrichten soll. Der Geistliche als solcher hat dazu gar keine Verpflichtung, weil er für seine Gemeine da ist und der Jude gehört nicht zu seiner Gemeine. Es muß also da ein Punct aufgegeben werden. Man muß glauben, daß das Uebergehen zum Christenthum immer mehr Reales bekomme und kann sie also nicht zurückweisen. Aber offenbar ist es sehr unrecht, wenn Geistliche sich bestreben 23 KD1 III 2 § 24 (KGA I/6, S. 313)

146r § 24.

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§ 26. § 27.

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§ 30.

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schlechte Christen zu machen und es ist ein schreklicher Scandal, daß die kirchliche Autorität diesem so zusieht. Die Thätigkeit des Geistlichen kann nur statt finden auf Einzelne, wenn die Identität derselben innerlich oder äußerlich mit der Gemeine verletzt ist und seine Thätigkeit ist dann eine solche als auf die | ganze Gemeine. Dieser Fall ist ein Krankheitszustand, der gehoben werden muß. Hier greifen Kirchengewalt und Kirchendienst wieder in einander. Kirchenzucht und Kirchenbann gehören der kirchlichen Autorität, der Geistliche kann bloß administrativ in dieser Hinsicht seyn. Auf der andren Seite muß ihm doch ein selbstthätiges Verfahren dabei zukommen. Denken wir uns den Einzelnen in solchem Zustande, daß Kirchenzucht und Kirchenbann bei ihm angewandt werden muß, so ist in ihm kein Bestreben, die Gemeinschaft wiederherzustellen und da erscheint der Geistliche als Repräsentant und das ist nicht eigentliche Seelsorge. Dazu rechnet man nur das Verhältniß in welches er [zu dem] tritt, der aus der Identität der Gemeine herausgetreten ist nicht als Repräsentant der Kirchengewalt, sondern rein als Seelenarzt. Das Bestreben nach der Wiederherstellung kann ausgehen von dem Einzelnen selbst, aber auch von dem Geistlichen, entweder in einem Falle, wo sich Kirchenzucht und Kirchenbann noch nicht anwenden lassen, oder als Versuch. Nun ist also zu bestimmen, auf welche Weise ein Verfahren sich einleiten läßt? Denken wir uns das Verhältniß angeknüpft, so kann es einen Erfolg haben und nicht. Im letzten Falle ist das Heraustreten des Einzelnen aus der Gemeine offiziell ausgesprochen, im ersten Falle ist die Identität wieder hergestellt. Welches wird nun das rechte Verfahren seyn, den rechten Erfolg hervorzubringen? Ohne bestimmte Theorie wird leicht der günstige Ausgang eintreten. Der Hauptpunct ist, das Verfahren so einzurichten, daß sich von keiner Seite etwas Leidenschaftliches hineinmischen kann. Es kann auch die Identität des Einzelnen mit der Gemeine bloß äußerlich [verletzt] seyn. Dieser Theil der Seelsorge begreift die klerikalische | Krankensorge. Hier tritt die Frage ein: muß der Geistliche damit warten bis er dazu aufgefordert wird, oder kann er es aus freien Stücken thun? Darüber hat man wieder ganz entgegengesetzte Meinungen gehabt. Es kann darüber nicht allgemein, sondern nur nach Berüksichtigung der Umstände entschieden werden, aber entschieden werden muß durchaus. Wie ist aber der Ersatz zu leisten? und das ist allerdings eine schwierige Sache. Dasjenige was unmittelbar eintritt ist das gesellige Verhältniß wobei der Geistliche als Einzelner eintritt. 3 KD1 III 2 § 25 (KGA I/6, S. 313) 15 KD1 III 2 § 26 (KGA I/6, S. 313) 1 17 KD III 2 § 27 (KGA I/6, S. 313) 22 KD1 III 2 § 28 (KGA I/6, S. 313) 30 KD1 III 2 § 29 (KGA I/6, S. 313) 37 KD1 III 2 § 30 (KGA I/6, S. 314)

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Da kann der Geistliche viel Gutes wirken, aber das ist kein Ersatz für den Cultus. Der Eindruk den der Cultus machen soll zwischen zweien ist aber sehr schwierig und sehr wenig bearbeitet. § 31. und 32. die Rede von demjenigen, was doch in dem rein geselligen Verhältniß des Einzelnen zu seiner Gemeine Gegenstand der Theorie seyn muß. Wir haben früher zwar festgesetzt, daß das rein gesellige Verhältniß des Geistlichen zu den Laien an und für sich keiner Theorie fähig ist, weil es nicht in die Amtsführung gehört. Schleiermacher hält es auch für etwas Verfehltes, wenn man eine positive Theorie darüber aufstellen will, denn es liegt darin, daß der Geistliche sich überall in seinem Amtsverhältnisse constituiren soll. Das hat man als ein PCapittelS in der practischen Theologie behandelt unter der Rubrik der Pastoralklugheit. Darin liegt immer eine Aufhebung des geselligen Lebens, denn das soll ein allgemeines seyn, in welchem die Schranken des Geschäftslebens aufgehoben sind. Setzen wir dies nicht als das Princip der freien Geselligkeit, so fällt sie ganz weg und wird leer. Das zeigt auch die Erfahrung. | Der Geistliche steht dabei auf besonders üblem Standpunct. Als Geistlicher ist er der Repräsentant der Kirche, des Allerheiligsten. In der Geselligkeit soll aber Fröhlichkeit seyn, in der zwar die Heiligkeit immer seyn muß, aber wodurch sie nicht dargestellt werden soll. Der Geistliche kann also dann nur stören. Es kann hierüber keine Theorie statt finden, weil die Sache nicht statt finden soll. Doch ist eine gewisse Theorie darüber, PwennS wir uns das gesellige Leben in seiner Unvollkommenheit denken. Wir sehen von Zeit zu Zeit Streit und Unsittlichkeiten aus dem Unvollkommnen des geselligen Lebens. Es geht keiner in seinen Geschäftsberuf hinein, sondern incognito als ein Mensch. Aber ist etwas Unvollkommenes, so kann das doch gegen seinen Geschäftsberuf seyn. Dem Geistlichen soll so etwas gar nicht vorkommen, sein Geschäftscharacter soll nie angegriffen werden und kann nie Restitution dafür statt finden wie bei anderen Leuten. So sind also für den Geistlichen Vorsichtsmaaßregeln nöthig. Der Geschäftsmann, Gewerbsmann, Wehrmann, die wissen sich zu helfen, wenn sie angegriffen werden, der Geistliche nie, denn wie Engländer kann er sich doch nicht schlagen und eine Injurienklage wegen Verletzung des Amtscharacters ist ein unauslöschlicher Fleken für ihn. Im Staat und im wissenschaftlichen Verein ist es eben so. Ist er in einem gelehrten Streit einmal ridicul gemacht, so ist das auch ein Fleken 24 PwennS] oder PwieS 4 KD1 III 2 §§ 31–32 (KGA I/6, S. 314) 6–8 Vgl. oben die Ausführungen zu KD1 III Einl. § 17 (KGA I/6, S. 302,20–22), oben S. 238,38–239,9

§ 31. 32.

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der nicht abgewischt werden kann. Im staatsbürgerlichen Verhältniß können viele Dinge seyn, die einen andren gar nicht stören. Wenn ein Geistlicher Streit bekommt, | eine Injurienklage und einen Prozeß, so ist das schon eine üble Sache. Es sind also in diesem Verhältniß Cautelen nöthig für den Geistlichen wie für keinen andren. Es muß eine negative Theorie, ein System von Cautelen statt finden und das ist die Amtsklugheit.

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Schluß. § 1.

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Bei einer Disciplin, die Theorie ist, d. h. die ein Verfahren soll classificiren ist es weit eher denkbar als in einer wissenschaftlichen Disciplin, daß die Theorie noch nicht recht ausgebildet ist, wie die practische Theorie, denn auf die Theorie kommt es doch nicht allein an und so ist sie der Praxis bei weitem nachgegangen PinS diesem Punct. Wir müssen uns darüber trösten, denn im Staate ist es nicht besser, da haben wir nicht einmal solche Fragmente aufzuweisen, wie es in der practischen Theologie giebt. Wenn aber die Disciplin in ihrer Idee aufgefaßt wird, so muß nothwendig gezeigt werden, was fehlt. Ob es sich bald finden wird oder wann es sich finden muß, das ist eine andere Frage. Ob die Theorie nothwendig ist, das hängt ab von den Schwierigkeiten, die sich jedesmal finden. Ist in denjenigen, die in der Kirchenleitung sind, ist in ihnen das religiöse Princip in seiner individuellen Bestimmtheit das herrschende Princip, dann ist es recht gut und anständig, daß die Theorie warte, denn aus der Handlungsweise solcher Menschen läßt sich die beste Theorie machen. Fehlen aber solche wie es jetzt der Fall ist, dann ist es sehr wünschenswerth, daß die Theorie ausgebildet wird. Statt dessen steht es umgekehrt um die practische Theologie. Als | Theorie können sie doch nur ausbilden die wissenschaftlichen Theologen. Unter denen steht sie aber in einer gänzlichen Verachtung. Das liegt auch bloß darin, weil so wenige in die eigentliche Idee derselben hineingehen und sich an das Gegebene halten. Wenn man es nur den wissenschaftlichen Theologen recht plausible machen könnte, daß sie selbst eine practische Theologie gebrauchten. (§ 1.) Jeder Theologe soll Antheil haben an der leitenden Thätigkeit und darzu bedarf er einer Theorie, weil er sich seinem Gefühl und dem Ungefähr nicht 11–12 practische Theorie] vielleicht zu korrigieren in practische Theologie 9 KD1 III Schluss § 1 (KGA I/6, S. 314) S. 314,18–24, bes.19)

33–34 Vgl. KD1 III Schluss § 1 (KGA I/6,

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überlassen kann. Er muß also suchen sich dies auszubilden auf mehr subjective oder objective Weise, nemlich das, wie sich erkennen läßt das richtige Verhältniß jedes Theils der Praxis zum Ganzen. Die Thätigkeit der kirchlichen Autorität ist wesentlich auf das Fixirte gerichtet, die Thätigkeit des Einzelnen ist eine entwikelnde. Das Ganze kann nur in dem richtigen Verhältniß von beiden bestehn. Wie sind aber die wissenschaftlichen Theologen zu Werke gegangen? Sie haben die kirchliche Autorität als hemmendes Princip angesehen. Die Kirchengewalten haben gestrebt mit Recht und Unrecht sich so zu constituiren, daß sie es dahin brächten, die Thätigkeit der Wissenschaftlichen zu hemmen. Dieser Gegensatz hat sich nur abgestumpft, wo sich das religiöse Leben abgestumpft hat und viele Kräfte werden noch unnütz auf jene Feindseligkeit gewandt. Es ist dem nicht mehr zu wünschen, als daß jeder sich von der Nothwendigkeit einer Theorie auf seinem Standpuncte überzeuge, und sich eine entwerfe, dann wird sie PvielleichtS von größerem Gesichtspuncte aus zu Stande kommen. | Die Fortbildung dieser Theorie muß von zwei Puncten ausgehn. Jede solche Theorie hat eine Seite die von den Principien ausgehen muß. Das ist die constitutive, und eine andre, die von der Beobachtung ausgehn muß und das ist das Critische. Beide müssen sich verschmelzen und es muß von beiden zugleich ausgegangen werden. Die Practische Theologie in so fern sie von der Beobachtung ausgeht ist daran gewiesen, was geschieht und was geschehn ist und von dieser Seite würden sie am besten bearbeiten, die am meisten geschichtlich in der Gegenwart leben. Die constitutive Seite bezieht sich auf die philosophische Theologie, daß ein lebendiges Bewußtseyn sey vom Religiösen und Irreligiösen, vom katholischen und Protestantischen, Gesunden und Krankhaften. Alle Principien der practischen Theologie ruhen auf diesen Begriffen. Dies System von Begriffen ist als selbstständiges immer nur im Werden und kann nur mit der historischen Theologie gemeinschaftlich gehen. Wer seine philosophische Theologie also am meisten aufs Reine gebracht hat von der richtigen Betrachtung des Gegebenen aus und von der Idee aus, der wird mit dem meisten Erfolg für die practische Theologie arbeiten können. Die practische Theologie kann also nicht von den ersten besten ausgehen, sondern nur von den besten. Also nur von diesen beiden von denen, die lebendig geschichtlich in der Gegenwart leben und die ihre philosophische Theologie ausgebildet haben, kann die practische Theologie recht ausgehen. Nun ist es wol natürlich, daß so wie die practische Theologie uns als der letzte Theil im Studium erscheint so sie sich | auch am späte17 KD1 III Schluss § 2 (KGA I/6, S. 314f)

40 KD1 III Schluss § 3 (KGA I/6, S. 315)

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sten ausbildet. Es hat lange Zeit Kirchenleitung im Großen und Kleinen gewesen, ohne daß eine Theorie darüber war. Bleibt die protestantische Kirche noch lange in dem Zustande, worin sie jetzt ist, so ist nicht viel von der Ausbildung dieser Disciplin zu hoffen, denn wenn man am Ende nicht weiß, ist die Kirche selbstständig oder nicht, ist sie Staatsverwaltung und was hat sie als solche für einen Werth, dann kann ja nichts geschehen. Tritt aber das Kirchenregiment wieder mehr hervor, dann wird der Gegenstand der practischen Theologie wieder wachsen. Ein Punct ist noch zu betrachten, der allerdings der schwierigste ist in Beziehung auf das Innerste der ganzen Sache, auf die Art, wie die Theorie sich unbewußt aus dem Gegensatz entwikelt. Das ist derjenige, der sich aus dem Gegensatz in der Kirche bildet. Wie der Gegensatz jetzt ist, ist die practische Theologie für jede Partei eine andre. Die Hauptaufgaben sind dieselben, aber sie modificiren sich ganz anders, je nachdem das Verhältniß der Kirche zum Staat und des Klerus und der Laien unter sich ein andres ist. Sollte der Gegensatz einmal aufgehoben werden, so kann das nur revolutionaire Thätigkeit seyn und nur von Einzelnen kann die Aufhebung ausgehen, wie das Entstehen von ihnen ausgegangen ist und darüber kann es keine Theorie geben. Die Revolution wird aber desto heftiger werden und desto schwieriger, je mehr die Einzelnen an ihrer Ausübung festhalten. Dies liegt also über den jetztigen Zeitpunct hinaus, aber es ist doch daran zu denken und diejenigen die dann die Kirchenleitende Thätigkeit haben, müssen dann einsehen, die Zeit sey gekommen. Befördern kann sie die Revolution nicht, eben so wenig | als eine Obrigkeit revolutionair seyn kann. Aber sie kann doch die Revolution mehr mildern und die Krisis verkürzen. Die allgemeine Aufgabe ist, den Zustand der Kirche jedesmal genau zu erkennen und die amtliche Thätigkeit in Zusammenhang zu bringen mit dem geschichtlichen Zustand. Jeder geschichtliche Gegensatz hat geschichtliche Form, er fängt an mit dem minimum der Spannung er hat ein maximum, das der Culminationspunct ist. Die Reformation war der Anfang des Gegensatzes und die symbolischen Bücher konnten geschichtlicherweise nichts andres als Producte des ersten Anfangs seyn. Sie bezeichnen aber auch was in der Kirche fixirt ist. Die Constitution ist auch ein Anfang gewesen. Der Gegensatz muß in Entwikelung bleiben, in der Constitution ist also noch manches, was indifferent geblieben ist. Wenn nun die kirchliche Autorität dasjenige, was in den Sym1–2 hat ... gewesen] Kj hat ... gegeben oder ist ... gewesen 10 KD1 III Schluss § 4 (KGA I/6, S. 315)

18 KD1 III Schluss § 5 (KGA I/6, S. 315)

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bolen feststeht und die Constitution wie sie sich anfangs an verschiedenen Orten verschieden gebildet, als das maximum ansieht, so wird sie selbst die Fortschreitung hemmen. Es ist also die größte Aufgabe in der Theorie, zu entscheiden, ob der Culminationspunct vorbei ist oder nicht. Davon müßte vollkommenes Bewußtseyn seyn und es ist bedingt durch die Begriffe der philosophischen Theologie und durch die Vollkommenheit, die man in der Kenntniß der Gegenwart mit der Vergangenheit hat. Dies ist aber nicht möglich, wenn wir nicht unabläßig an der Ausbildung der practischen Theologie arbeiten, ohne das kann auch kein Einzelner ein klares Bewußtseyn haben, auch eine Theorie wird wol rein theoretisch nie gelöst werden. Ende.

Vorlesung 1831/32 (nach Schleiermachers Lehrbuch „Kurze Darstellung des theologischen Studiums“, 2. Auflage, Berlin 1830) Nachschriften Strauß und Anonymus

Schleiermachers theologische Encyclopaedie Berlin Winter 1831/32. |

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Encyclopädie der theologischen Wissenschaften. Diese Disciplin soll eine klare Uebersicht von den verschiedenen Disciplinen der Theologie und ihrem Zusammenhange geben. Sie ist nicht blos für den Anfänger nüzlich, sondern auch für den, welcher sich schon ins Einzelne der Theologie vertieft hat. Eine allgemeine Uebersicht über einen zusammengehörigen Kreis von Wissenschaften beruht auf zwey Punkten: 1) auf dem Begriff der zusammenhaltenden Einheit, – hier der christlichen Theologie, und 2) von dieser aus die natürliche Gliederung derselben.

Einleitung. § . 1 . Der Begriff der Theologie wird zurückgeführt auf den allgemeinern einer Wissenschaft. Es giebt zweierley Arten von Wissenschaften, reine oder nothwendige und positive. Jene sind solche welche vermöge einer Beziehung des Wissens auf das Se yn sich ergeben, wie z. B. die 8–10 Vgl. Nachschrift Anonymus: „Damit will ich nicht sagen daß es nur für den der [das] Studium der Theologie anfängt von Nutzen ist. Leicht vertieft man sich in das einzelne unseres so complicirten Studii und vergißt den Zusammenhang des Ganzen, kann also auch das einzelne nicht richtig betreiben, vielmehr wird das Betreiben des einzelnen untheologisch. Darum ist es nöthig sich wieder in den Zusammenhang zu setzen. Dies ist nicht bloß bei der Theologie so sondern bei jeder zusammengesetzten Wissenschaft. Ueberall kommt das Vertiefen in das einzelne vor, aber es kann nur Theologie etc. werden durch den Zusammenhang des Ganzen. Die Kirchengeschichte läßt sich sehr ins einzelne verfolgen. Wenn nun jemand sich vertieft in die Geschichte einer Partikularkirche, so gehören hiezu eine Menge Untersuchungen etc. die einen nähern theologischen Werth nicht haben. Aber man muß sagen es wäre sehr gut, wenn man die KirchenGeschichte so behandeln könnte. Denn dann würde es nie für einen theologischen Zwek an Stoff fehlen. Der einzelne kann sich aber so in antiquarische Studien vertiefen daß aus dem Theologen ein Geschichtsforscher wird. Daher ist immer wieder für einen jeden der nicht die theologische Laufbahn verlassen will zu Gunsten eines speciellen Gebietes, nothwendig die allgemeine Uebersicht des Ganzen zu haben.“ (S. 1)

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Naturwissenschaft. Alle nothwendigen Wissenschaften faßt die Phil o s o p h i e zusammen wogegen die übrigen Facultäten positive Wissenschaften enthalten. So bezweckt die Medicin die Herstellung des menschlichen Körpers in seinen NormalZustand, die Jurisprudenz die Hervorbringung des Rechtes, die Theologie die Erhaltung des christlichen Glaubens in der Gemeinschaft. Alle diese Wissenschaften sind positive, weil sie nicht blos ein Seyn d arstellen, sondern eines herv o r b r i n g e n wollen. Ist nun die practische Aufgabe der Theologie Alles, was in Beziehung auf die christliche Kirche geschehen soll, – ist dann der Name Theologie passend? | Wenn die den Staat zum Zwecke habenden Wissenschaften Staatswissenschaften heißen, so sollten genauer die theologischen Wissenschaften kirchliche Wissenschaften genannt werden. Aus dem Namen Theologie läßt sich nicht entwickeln, was sie ist, er hat viele Verirrung angerichtet. Theologie ist auch der Name für einen 1–8 Vgl. Nachschrift Anonymus: „Nothwendige Wissenschaften sind die welche einzelne Gebiete des Wissens werden vermöge der Natur des Wissens in seiner Beziehung auf das Sein. Vermöge der Beziehung auf das Sein sind z. B. die eigentliche Naturwissenschaft und die Naturgeschichte eine Wissenschaft denn sie haben einen Gegenstand, in Beziehung aber auf die Natur des Wissens sind sie verschieden. Das erste geht darauf aus auf eine speculative Weise die Differenzen des Seins zu begreifen. Die Naturgeschichte hat es dagegen zu thun mit den gegebenen Formen als gegeben. Beide sind nothwendige Wissenschaften, weil das Wissen auf eine vollständige Darstellung des Seins geht, daher denn auch die Darstellung dieses Seins hergehört. Nun fragt sich was ist dagegen der Begriff der positiven Wissenschaft? Der Paragraph führt ihn auf eine praktische Aufgabe [zurück]. Wir müssen diese Erklärung rechtfertigen aus dem Gebrauch des Ausdrukes selbst. Wenn wir die Organisation unserer Wissenschaften auf den Universitäten betrachten so liegen die nothwendigen Wissenschaften in der Allgemeinsten, welche wir Philosophie nennen, zu welcher wir auch die Mathematik rechnen. Es kommen in ihr vor auch empirische Wissenschaften die aber nothwendig sind. Nun betrachte man unsere drei anderen Fakultäten, welche die Oberen genannt werden obgleich sie der Philosophischen untergeordnet sind und das untere Gebiet darstellen. Es muß dabei ein anderer Gesichtspunkt statt finden. Der Staat, ein praktisches Institut[,] gibt dem praktischen den obern Ort. | Wir müssen sehen ob sich die Erklärung auch auf die anderen Wissenschaften anwenden läßt. Die Medicin ist ein naturwissenschaftliches Ganzes. Betrachtet man aber die einzelnen Disciplinen, Anatomie oder Kenntniß der einzelnen Theile des Körpers, Physiologie (Kenntniß ihrer Verrichtung) Nosologie (Kenntniß der gestörten Verrichtung) materia Medica (Kenntniß der Mittel dies aufzuheben) Therapie (Lehre die νοσους wegzubringen), so ist nur der Zwek der Heilung das vereinende Princip dieser Disciplinen die darohne in andere Wissenschaften sich verlaufen würden. Die Juristische Fakultät hat die Aufgabe das Recht hervorzurufen. Dies kann nicht geschehen ohne Kenntniß der Gesetze, deren Entstehung und Ableitung aus dem römischen Gesetze (da die modernen Staaten aus dem zerfallenden Römischen entstanden) und so werden dann durch diesen Zweck ganz verschiedenartige Disciplinen zu einer Einheit gebracht. Eben so ist es mit der Staatswissenschaft, die nur besteht durch den Zweck den Staat blühend und gesund zu erhalten, seine Kräfte zu entwickeln und zu benutzen, und dadurch die Kenntniß des Akerbaus, Handwerks etc. in sich vereinigt.“ (S. 2f)

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Theil der philosophischen Wissenschaften, im vorigen Jahrhundert war sie ein Theil der Metaphysik. Daher unterschied man rationale und geoffenbarte Theologie, aber lezteres ist vollends gar ein unpassender Name. – Doch Namen lassen sich nicht willkührlich ändern, nur muß genau bestimmt werden, wie sie zu verstehen sind. Von dem Namen Theologie aus betrachtete man gewöhnlich dasjenige, was der Name zunächst bezeichnet, die Lehre von Gott, oder die Dogmatik als die Hauptsache der Theologie. Und dieß entweder deßwegen, weil die Lehre der Dogmatik von Gott geoffenbart, oder weil sie die höchste Wissenschaft von Gott (= rationale Theologie) sey. Sollen so alle andern theologischen Wissenschaften nur Hilfswissenschaften der Dogmatik seyn, so wird die Theologie als practische Wissenschaft aufgehoben, ihre Bestimmung wäre nur, unter den Theologen die Erkenntniß von Gott zu erhalten, und für die Kirche gienge sie verloren. – Wären Kirche und Staat eins, so wären alle andern positiven Wissenschaften Theologie. So im Judenthum: da giebt es keine andre Literatur, als theologische. Nur durch die Aufhebung jener Identität von Kirche und Staat sind die theologischen Wissenschaften bestimmt begrenzt. § . 2 . Nicht alle Religionen verhalten sich gleichmäßig zur Theologie. Das Verhältniß gestaltet sich verschieden, je nachdem sich die Religionen mehr durch symbolische Handlungen oder durch Vorstellungen darstellen. Das GottesBewußtseyn, der MittelPunkt unsres ganzen Gebietes, wird im Menschen wirklich einmal in der Richtung 23–2 Vgl. Nachschrift Anonymus: „Hier ist gesagt es wäre in der bestimmten Religion ein Gegensatz zwischen Vorstellungen und symbolischen Handlungen. Das hat den Anschein als ob | dies sehr auf das Gerathewohl neben einander gestellt sei. Dem ist nicht so. Denken wir uns das Gottesbewußtsein wie es in der Wirklichkeit ist so finden wir es 1) in der Richtung auf den Gedanken oder in der Vorstellung 2) in der Form eines Eindrucks den wir empfangen. Man kann sich das denken unter sehr verschiedener Form z. B. ganz roh als Furcht, so ist dies ein Eindruck. Nun wollen wir nicht streiten, was das erste sei. A priori kann man beide gleichstellen, es kann ja in der Seele anfangen die Vorstellung von einem höchsten Wesen, wie sie erregt worden ist gleich, aber dem wird auch ein Eindruck entstehen, und umgekehrt daß dieser Eindruck das erste ist und selbst erst die Vorstellung vorruft. Daraus entwickeln sich die beiden Elemente. Ja der Eindruck bringt an und für sich eine Reaktion hervor die der Ausdruck dessen ist und dies ist der erste Anfang der symbolischen Handlung. Denkt man sich der erste Eindruck sei die Furcht gewesen, so gibt es einen bestimmten Ausdruck dafür, einen organischen Ausdruck der ursprünglich unwillkührlich und als solcher nicht symbolisch ist, denn der unwillkührliche Ausdruck setzt nicht voraus, daß ich will daß ein anderer sich dabei etwas denkt. Er wird aber symbolisch dadurch daß der andere sich etwas denkt. Es gibt zwei Arten der Mittheilung unsres Gottesbewußtseins. Die eine durch die Rede und diese setzt voraus daß die Vorstellung sich ausgebildet hat und mit anderen Theilen des Denkens in Berührung getreten ist. Das zweite ist durch symbolische Handlungen. Man kann die Eindrücke zwar auch durch Vorstellungen und umge-

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auf die Vorstellung, und dann als Eindruk, dessen natürlicher Ausdruck eine symbolische Handlung ist. | § . 3 . Kirchenleitung ist in Beziehung auf die Kirche so viel als Regierung in Beziehung auf den Staat. – Die Kirche ist nichts andres als die Gesammtheit derjenigen, welche in ihrem Leben durch dieselbe Glaubensweise bestimmt werden, und in sofern sind sie einander gleich. Es fragt sich, warum wir sie als eine Gemeinschaft ansehen, und nicht als bloses Aggregat. Hier müssen wir auf die gesellige Natur des Menschen zurückgehen, vermöge welcher es natürlich ist, daß diejenigen, welche sich durch eine und dieselbe Glaubensweise verbunden finden, in einem ganz eigenthümlichen Verhältniß zu einander stehen, was wir vorläufig als das Verhältniß der Ähnlichkeit bestimmen können welches Bewußtseyn sie in sich erregen, und einander mittheilen werden. Befindet sich der Einzelne in dieser Beziehung in einem Zustand der Schwäche oder Unsicherheit, so wird er natürlicher Weise zu einem andern seine Zuflucht nehmen, und dieß ist ein Verhältniß das von der Ungleichheit ausgeht, indem er sich an einen Stärkeren wendet. Dieses beydes zusammen ist der Begriff einer Gemeinschaft = einer Gesammtheit von Einzelnen, welche in einem Bewußtseyn der Ähnlichkeit in einem bestimmten Punkt (hier Glauben) sich verbunden finden, und sich zugleich in einem Zustand der Mittheilung befinden. Ist nun nach allem diesem eine Kirchenleitung nöthig? Allerdings! Es kommt hiebey an auf die geschichtliche Bedeutung und Stätigkeit. Es muß Verhältnisse geben, in Beziehung auf welche die Klarheit und Sicherheit der Einsicht, und die Kraft der richtigen Behandlung nicht in Allen, sondern nur in einigen wenigen seyn kann. So wie nur wenige Menschen sich das menschliche Geschlecht in dem Zusammenhang seiner Geschichte denken können, so werden wir auch sagen müssen, es liegt in der Natur der Sache, daß das eigentliche geschichtliche Bewußtseyn in der christlichen Kirche nur ein Antheil von Wenigen seyn kann. So wie es also ankommt auf eine Gemeinsamkeit des Handelns, die von dem geschichtlichen Bewußtseyn | abhängig ist, so werden wir auch sagen müssen, daß dieß nur von wenigen ausgehen kann. Die Kirchenleitung ist also die Thätigkeit der Wenigen, welche im Besiz des geschichtlichen Bewußtseyns sind, um die Identität und die Mittheilung der Glaubensweise zu erhalten. Zur Verdeutlichung muß hier die Parallele zwischen Kirche und Staat vergegenwärtigt werden. Diese Frage gehört eigentlich in eine kehrt Gedanken durch symbolische Handlungen mittheilen, aber beides ist nur indirekt, im ersten Fall muß ich innerlich aus den Folgen der Rede den Eindruck den der andere beschreibt nachconstruiren, im zweiten das symbolische in die Rede übersetzen.“ (S. 5f)

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Bestimmte theologische Disciplin, daher kann sie hier nur lehnungsweise oder im Allgemeinen erörtert werden. Diese Frage ist nämlich die Hauptfrage in der praktischen Theologie, das Wort in seinem ganzen Umfange genommen. Wie verhält sich nun die Gemeinschaft die wir Staat nennen, zu jener der Kirche? Die Regierung beruht im Staat 1) auf dem Gegensaz zwischen Obrigkeit und Unterthanen, was ein Verhältniß der Ungleichheit ist. In der Kirche ist nach dem Vorigen die Gleichheit Hauptsache, die Ungleichheit untergeordnet. Beruht nun der Staat so sehr auf der Ungleichheit, daß ohne sie gar kein Staat ist: so ist umgekehrt die religiöse Gemeinschaft wesentlich eine zwischen Gleichen, die nur vorübergehend sich ungleich erscheinen, und eine KirchenLeitung ist nur bey einem großen geschichtlichen Umfang der Kirche nothwendig. Dieß gilt vom Staate nicht, ein Staat kann so klein seyn wie eine mäßige Stadt, – aber ein Staat ist es nicht ohne Gegensaz von Obrigkeit und Unterthan, welches Verhältniß der Ungleichheit bey der Kirche erst auf einer gewissen Entwicklungsstufe eintritt. 2) Die Obrigkeit hat eine Gewalt, welche der Unterthan erleidet. Bey der Kirche ist es aber eine Corruption, wenn die Kirchenleitung eine Gewalt ist, d. h. durch Wirkung auf die Sinnlichkeit vermittelt. Der Zweck der KirchenLeitung ist derselbe wie der Zweck | der Obrigkeit, indem beyde nur das Beste der Gesammtheit wollen, in Beziehung auf dasjenige, was die Basis der Vereinigung ist. Allein wie man auf die Art der Wirksamkeit sieht, verschwindet die Ähnlichkeit, und tritt eine vollkommene Differenz heraus. Ist die Kirchenleitung nur ein Accessorium in der Kirche, so werden wir freylich sagen müssen, wir können uns sehr verschiedene Arten und Weisen denken, wie diese Kirchenleitung geführt wird. Das aber ist von diesen Weisen ganz unabhängig, daß nur diejenigen, die an der Kirchenleitung Theil nehmen, auch Theologen seyn müssen. Läßt sich der Saz auch umkehren? Müssen alle, die an der Kirchenleitung Theil nehmen, auch Theologen seyn? Dieß leugnet die katholische Kirche, die Päbste waren gewöhnlich keine Theologen; aber dieß kommt von dem hierarchischen Wesen der katholischen Kirche her. Davon hat sich die protestantische Kirche losgesagt, und dieß ist ein HauptVerdienst der Reformation. Wenn einer die monarchische Spize der katholischen Kirche, im Pabst, betrachtet, so wird freylich sogleich einleuchtend, daß er ein guter Pabst seyn kann, ohne ein Theologe zu seyn. Weiter herab wird freylich die Nothwendigkeit der Theologie größer. Aber auch wir Protestanten scheinen zuzugeben, daß NichtTheologen zur Kirchenleitung gezogen werden können, wie dieß in allen presbyterialen Kirchen geschieht. In den Presbyterien, Synoden p sind NichtTheologen. Doch sind dieß immer Menschen

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von allgemeiner Bildung, die immer auch etwas von der Theologie in sich hat, um so mehr, da man nur solche wählen wird, die ein besonderes Interesse an der Theologie haben. In dem Ausdruck des Compendiums: die Theologie eignet nicht allen pp ist nicht enthalten, die übrigen dürfen nicht Theologen seyn; sie können es seyn zu ihrem Vergnügen, und dieß wäre gut. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß jeder der ein Theologe ist, an der Kirchenleitung irgendwie Theil nehmen wird, wenn auch nicht auf | offizielle Weise. So wird einen gewissen Antheil an der Kirchenleitung jeder Theologe haben, und auch umgekehrt, werden alle, welche an der KirchenLeitung Theil nehmen, – wenn auch nicht eigentliche Theologen seyn, – doch irgendwie an der Theologie Theil nehmen. § . 4 . sagt ein Verhältniß aus zwischen der christlichen Theologie und jeder andern, indem er sie in Beziehung auf den Begriff als das Maximum darstellt. Hier bietet sich eine Parallele dar zwischen christlicher und andern Theologien und zwischen Christenthum und andrer Religion. Die christliche Theologie muß sich zu allen andern verhalten, wie sich die christliche Religion zu allen andern verhält, könnte man hienach sagen. Dieß könnte vielen nicht gefallen, und sie könnten das Verhältniß so stellen, das Christenthum allein sey die wahre Religion, alle andern die falsche, und so müsse es auch mit der Theologie seyn. Gehen wir auf §. 1. zurück, und denken uns, daß zur Theologie nothwendig wissenschaftliche Elemente gehören, so werden wir sagen müssen, es könne nicht eine Theologie absolut falsch seyn, weil dieß wissenschaftliche Elemente nicht können. Denken wir freylich Theologie im engern Sinn als GottesErkenntniß, so wird, wenn eine Religion falsch ist, auch ihre Theologie falsch seyn; aber dieß wird nur gelten von demjenigen Gebiet, welches die Gotteserkenntniß enthält. Denken wir aber, daß eine Religion zu geschichtlicher Bedeutung gelangt ist, so können wir nicht denken, daß sie lauter Irrthum sey. – Der Irrthum ist immer nur an der Wahrheit, ein Irrthum ist Irrthum in Beziehung auf etwas, was Wahrheit ist. So mit den Religionen, wie z. B. mit dem Polytheismus, welcher eine Verirrung, aber des höchsten Strebens des menschlichen Geistes ist. Der absolute Irrthum wäre nur der absolute Skepticismus, | welcher alle Wahrheit leugnet, aber kein Princip der Gemeinschaft ist. Der Saz, daß die christliche Theologie die ausgebildetste ist, weil sie die größte geschichtliche Ausbreitung hat, kann zweyfelhaft erscheinen. Wenn einer fragt, Seit einigen Jahrhunderten hat sich im Orient der Buddhismus verbreitet, und giebt es nicht vielleicht mehr Buddhisten als Christen? so wäre dieß schwer zu entscheiden. Ebenso 16 Theologien] Theoll

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mit den Sprachgebieten; das Messen ist immer zweyfelhaft, und so scheint auch der ganze Saz es zu seyn. Er ist deßwegen aufgestellt, weil ein so specifischer Unterschied ist zwischen der christlichen Theologie und allem Analogen in andern Religionen. Die jüdische Religion mußte wegen ihres hierarchischen Charakters alle BildungsElemente in sich aufnehmen, – aber dennoch ist wegen des isolirten Princips dieser Religion die Theologie sehr wenig geworden. Im Orient ist die Differenz des speculativen Denkens und des Dichtens nicht so bestimmt herausgetreten, und daher konnte auch die Theologie nicht zu Stande kommen. Diese specifische Richtung hängt nicht von der Quantität, sondern von der Beschaffenheit der Bildungsgebiete ab, und daher kommt es, daß andre Religionen nur eine Mythologie, keine Theologie haben, und darum kann man in einem gewissen Sinn sagen, die christliche Kirche ist die einzige, die eine eigentliche Theologie hat. Man kann fragen, ob es wohl dasselbige würde gewesen seyn, wenn wir uns das Christenthum denken, so weit verbreitet als es ist, aber zugleich sollten wir denken, es sey kein Kanon vorhanden gewesen? Wenn wir die ganze Gestalt der christlichen Theologie betrachten, so nimmt das, was sich auf die heilige Schrift bezieht, allerdings einen sehr großen Theil davon ein und fiele PdiesS weg, so sähen wir kein zusammenhaltendes Princip des Ganzen. D. h., das Christenthum hätte dasselbe bleiben können, denn da liegt das zusammenhaltende Princip in dem Glauben an Christum, nicht in der Schrift. Da aber nun das Christenthum sich gleich zu gestalten anfieng unter Völkern, bey welchen es schriftliche Mittheilung gab, so würden diese eine theologische | Literatur haben auch ohne heilige Schrift – es würden Darstellungen des christlichen Glaubens entstanden seyn, und auch wissenschaftliche Forschungen desselben, denn dieß hängt, unabhängig von der heiligen Schrift von einer eigenthümlichen Richtung des Geistes ab. Aber wenn wir uns nun denken sollen, die ganze Beschäftigung mit den heiligen Schriften ex professo existirte nicht, die wesentliche Methode der Dogmatik, sich auf Bibelstellen zu berufen, existirte auch nicht: was würde dann aus der Theologie geworden seyn? Betrachten wir den Zustand des Christenthums im Allgemeinen, so ist in der protestantischen Kirche der Gebrauch der heiligen Schrift und ihre Werthschäzung eine ganz andre als anderwärts. Dieß hat einen innren Grund, auf den man selten fällt; er ist dieser, daß wenn wir uns die heilige Schrift wegdenken, alsdann die ganze Theologie von selbst den Zuschnitt bekommen hätte, den sie jezt in der römischen Kirche hat. Denken wir uns nun die wissenschaftliche Richtung, die in der christlichen Kirche vor Autorisirung des Kanon entstand, 20 PdiesS] oder PdieseS (vgl. Sachs 6)

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so würde diese eine wissenschaftliche Theologie hervorgebracht haben; die einzelnen vorhandenen NeuTestamentlichen Bücher aber wären nur der ungeschlossne Anfang der ganzen Reihe von Darstellungen. Denken wir uns eine große Gemeinschaft so müssen wir uns in jedem, in welchem das Bewußtseyn derselben lebendig ist, eine doppelte Richtung denken, 1) die Sucht nach Originalität, das ist eine antigeschichtliche Richtung, weil sie die Stätigkeit aufhebt. Aber ebenso natürlich ist 2) die geschichtliche Richtung, welche von der Richtigkeit eigner Produkte sich durch Anschließung an das Vorhandene überzeugt. Was sind die Produkte beyder Richtungen? Die erste produzirt das Bestreben, die eignen Behauptungen aus sich selbst zu begründen; aber indem sie doch verbreitet werden PsollS, so kann er sie nicht aus seinem Individuellen in ihm begründen, sondern durch das was ihm | mit Andern gemein ist, d. h. auf allgemein menschliche Weise, und auf diesem Wege würde immer die Richtung nach einer speculativen Begründung entstanden seyn. Aus dieser Zusammenstellung darf nicht geschlossen werden, daß überall diese Richtung aus Originalitätssucht entstehe, sondern dieser Ausdruck ist nur gewählt als der strikte Gegensaz gegen die andre Richtung. Über die andre Seite ist nicht viel zu hinzuzusezen, denn jene Neigung ist die natürliche, jeder wird durch das vorangegangene Geschlecht belehrt, und befindet sich ursprünglich im Zustand der Empfänglichkeit, muß daher um sich über eine Ansicht zu beruhigen, zeigen, daß er richtig empfangen hat. Dieß ist ganz richtig, nur ist jeder auch berufen, die menschlichen Dinge weiter fördern zu helfen. Hier beginnt nun der Unterschied sich zu Tage zu legen. Die speculative Begründung des Christlichen ist in einer gewissen Opposition gegen die Geltung der heiligen Schrift als solcher, und die Tendenz, das was sich Einzelne als Neues herstellten, durch die Analogie mit früherem zu begründen, diese wird, wenn wir die heilige Schrift wegdenken, keinen Unterschied gelten lassen zwischen dem Vorhandenen, sondern Jeder Frühere würde als Gewährsmann gelten so weit als der welcher sich auf ihn beruft ihn gelten läßt. Die protestantische Kirche macht hier bey dem protestantischen Kanon einen strengen Abschnitt, und sagt: was in diesem enthalten ist hat eine ganz besondere Geltung, und wer seine eignen Produkte in der Kirche will geltend machen, der muß auf dieses zurückgehen, weil alles Andre keine Auctorität hat. Dieser Abschnitt wäre nicht möglich ohne den Kanon. Nun die katholische Kirche macht ihn auch nicht, es ist ihr gleich, ob einer eine Behauptung bestätigt durch die Berufung auf den Kanon oder auf einen andern christlichen Lehrer. Eben dieses begünstigt in der Theo12 PsollS] oder PsollenS

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logie der römischen Kirche die speculative Richtung, die | in der neuren Zeit stark hervorgetreten ist. So wie man beweisen kann, daß das speculativ Begründete nicht im Widerspruch ist mit der kirchlichen Lehre, so ist dann an eine Bewährung aus einer solchen geschichtlichen Quelle, und aus dem Neuen Testament gar nicht nothwendig zu denken, wenn es nur nicht im Widerspruch ist. Der Unterschied also der in der Ausbildung der Theologie entstanden wäre, wenn das Christenthum keinen Kanon bekommen hätte, wäre der, daß die ganze theologische Methode nur die katholische hätte seyn können; die protestantische Theologie hätte sich nicht gestalten können. Es hätte eine Menge von Verunstaltungen des christlichen Lebens und der christlichen Lehre geben können, wie sie in der katholischen Kirche entstanden, auch eine Reaction hätte entstehen können, aber nicht in dem eigenthümlichen Charakter des Protestantismus, sondern entweder wären wir ebenso auf Auctoritäten zurückgegangen, wie jeder sie sich hätte wählen wollen, oder wir wären frei unsern Gang gegangen, aber die Haltung an die heilige Schrift hätte nicht entstehen [können], wenn nicht durch die Reformation selbst der Kanon wäre gebildet worden, und dieß hätte allerdings geschehen müssen, wenn das Princip stark genug gewesen wäre. – Dieß ist eingeschaltet, um gleich von vorn herein den richtigen Standpunkt zu geben, obgleich hier von einem Gegensaz zwischen Protestantismus und Katholicismus nicht die Rede seyn kann. Im § . 5 . wird aus allem Bisherigen die Definition der christlichen Theologie gegeben, die allem Folgenden zu Grunde liegt. In der Anmerkung zu §. 1 war von dem Ausdruck positive Wissenschaft eine Erklärung gegeben worden. – Hier tritt an die Stelle des einfachen Ausdrucks wissenschaftliche Elemente (§ 1.) die Duplicität: wissenschaftliche Kenntnisse und Kunstregeln, und beydes begreift jener Ausdruck: Elemente – unter sich. Beyde Ausdrücke bedürfen einer Erläuterung. Das Adjectiv wissenschaftlich soll sich blos auf Kenntnisse beziehen, – in Kunstregeln liegt dieß schon von selbst. | Erschöpft nun aber diese Duplicität jenen einfachen Ausdruck? Wissenschaftliche Grundbegriffe sind einmal nicht unter den Kenntnissen, denn sie dürfen nicht als Kenntniß besessen werden. Diese sind also hier ausgeschlossen. Dieß hat aber seinen guten Grund in der Art, wie die Theologie schon §. 1. bestimmt wurde. Bezieht sie sich doch auf eine bestimmte Gestalt des Gottesbewußtseyns, daher auf eine Voraussezung, und alle Grundbegriffe gelten nur unter dieser Voraussezung, während rein wissenschaftliche Grundbegriffe eine solche Voraussezung nicht gelten lassen. Wir haben es nun zwar in der Theologie 25–27 Vgl. KD² § 1 Erl. (KGA I/6, S. 326,1-5)

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zum Behuf ihrer wissenschaftlichen Gestaltung mit Begriffen zu thun, die aus wissenschaftlichen Grundbegriffen abgeleitet sind, aber nicht mit diesen selber. Betrachten wir die zwey Bestandtheile, Kenntnisse und Kunstregeln als wissenschaftliche Elemente, so involvirt der Ausdruck, daß die Theologie Inbegriff derselben sey, die Einheit der verschiednen Elemente. Nun aber werden diese Elemente im zweyten Theil des §. auf die Kirchenleitung bezogen, so daß, was nicht zur Kirchenleitung gehört, auch nicht in die Theologie gehören kann. Nun ist hier ein bestimmter Ausdruck gewählt, und an die Stelle des Ausdrucks KirchenLeitung ist der Ausdruck KirchenRegiment gekommen. Die Differenz hievon näher zu bestimmen, gehört in die practische Theologie. Hier soll der Ausdruck nur etwas in sich fassen, was in dem von Kirchenleitung noch nicht liegt, und dieß ist bezeichnet durch den Ausdruck: zusammenstimmende Leitung. Jeder Christ der einen Einfluß auf Andre zu üben sucht in Beziehung auf das Christenthum, ist in der Kirchenleitung begriffen. Aber das ist nicht der Begriff von welchem wir hier ausgehen können, denn da könnten wir uns ja ganz entgegengesezte Tendenzen denken, während der Zweck der Theologie ist, diese Entgegensezung aufzuheben, und eine zusammenstimmende Leitung hervorzubringen. Es wird nun gesagt, die Theologie wäre nicht nöthig für den christlichen Glauben an und für sich, sondern nur sofern der christliche Glaube in einer Gemeinschaft ist, welche eine zusammenstimmende Leitung nöthig hat. Isolirt in | einem Einzelnen können wir uns den christlichen Glauben nicht denken, wohl aber in einer Familie. Der FamilienVater theilt den Glauben den Seinigen mit, und es entsteht eine Gemeinschaft, welche keine besondre Leitung nöthig hat, da die hausväterliche Gewalt durch Alles hindurchgeht und in der Mittheilung schon auch die Leitung ist. An allen kleineren, aber über den FamilienKreis hinausgehenden religiösen Gesellschaften, wie wir solche in Großbritannien und den nordamericanischen Staaten finden – sehen wir, daß sie um der Geringfügigsten Gründe willen wieder auseinandergehen. Die ganze Art und Weise jener Religionsgesellschaften begünstigt dieß. Da muß man sagen, sobald eine Veranlassung ist zu einer zusammenstimmenden Leitung, d. h. eine beginnende Differenz, so geht das Ganze auseinander, und es besteht nur, sofern es keine zusammenstimmende Leitung giebt. In solchen Gesellschaften würde man zu keiner Theologie kommen, wenn man nicht eine schon vorfinden würde. Denn jede solche Trennung müßte eine Umbildung der Theologie mit sich führen, was nicht geschieht. Die Theologie erscheint als ein Ueberkommenes, Traditionelles, und die Gemeinschaft allein als das sich Bewegende. So kleine Gemeinschaften, deren geschichtliche Bedeutung fast null ist, können auch keine

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eigenthümliche Theologie haben. Eine ausgebildete Theologie hält die Kirche zusammen. So ist die protestantische Kirche realiter getrennt, aber das Leben in der Theologie ist Eines in ihr, und diese Einheit der Theologie vorzüglich erhält das Bewußtseyn der Einheit der Kirche, so wie das Uebergehen von Theologen von einer Landeskirche in die andre die Gewährleistung der Einheit der protestantischen Kirche ist. Aus was für Elementen darf also die Theologie bestehen? Die wissenschaftlichen Kenntnisse müssen historisch seyn, was schon in dem Ausdruck Kenntniß liegt. Das andre Element muß technisch seyn, zu dem Hervorbringen eines Werkes gehören, und wir sehen hieraus schon im Allgemeinen die Gestaltung des theologischen Studiums. Hier wird aber | nicht ausgeschlossen, daß nicht könnten in einzelnen theologischen Disciplinen wissenschaftliche Grundbegriffe lehnungsweise vorkommen, wie z. B. die Eintheilung der theologischen Wissenschaften solche erfordert. Allein dieß betrifft nur die Form. Denken wir uns die ersten Anfänge der christlichen Kirche und fragen uns: gab es damals eine Theologie? so ist dieß zu verneinen. Fragen wir weiter: war damals die christliche Kirche unvollkommener, weil es keine Theologie gab? so werden diejenigen, welche die erste christliche Kirche für so viel vollkommener halten, es ebenfalls verneinen. Hierauf wollen wir uns nicht berufen, werden aber dennoch sagen müssen, daß der Werth des christlichen Glaubens in der Lebendigkeit und Wirksamkeit des Gottesbewußtseyns besteht, was alles in gleicher Vollkommenheit vor sich gehen kann ohne eine Theologie. Nur dieß besorgt die Theologie, daß die Momente des christlichen SelbstBewußseyns sich richtig in Gedanken ausdrücken, was aber für den christlichen Glauben nicht wesentlich ist. Dem Gläubigen könnten unrichtige Ausdrücke für seinen Glauben entfallen, aber sie sind nur momentane Produkte, die in ihm nicht bleiben. § . 6 . Abgesehen von der Beziehung auf das KirchenRegiment fällt jedes theologische Element irgend einer andern Wissenschaft anheim. Es sind hier geschichtliche und ethische Disciplinen angeführt. Es ist die Seelenlehre mit angeführt, und man kann zweyfeln, ob diese mit unter die ethischen Disciplinen zu zählen ist. In Beziehung auf die Theologie erscheint sie allerdings in einer ethischen Beziehung, und wirklich ist sie entweder eine naturwissenschaftliche oder eine ethische Disciplin, jenachdem man die Seele als ein gegebenes oder als ein 27–29 Vgl. Nachschrift Anonymus: „Es kann einem begegnen daß er für seinen christlichen Glauben unrichtige Ausdrücke wählt, aber diese sind momentan und werden immer von selbst rectificirt. Bildet sich in ihm eine religiöse Redeweise so wird sie das was in allen Momenten seines Religiösen Lebens gleich bleibt ausdrücken.“ (S. 18)

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zu behandelndes betrachtet. Philosophie ist hier nicht angegeben als eine der Wissenschaften, in welche einzelne theologische Elemente zurückfallen könnten. Aber ausgeschlossen sind eigentlich nur NaturWissenschaft und Metaphysik. Es kann nämlich nothwendig seyn, auf metaphysische Säze zurückzugehen, um den wissenschaftlichen Ausdruck einzelner theologischer Säze zu verstehen, aber zur Theologie selbst können sie nicht gehören, weil Metaphysik etwas vor aller Thatsache ist, das Christenthum aber auf einer Thatsache beruht. | § . 7 . Die verschiedenen theologischen Kenntnisse verhalten sich zu dem Willen, zum Besten der Kirche thätig zu seyn, wie der Leib zur Seele. Auf ihrem Zusammenseyn beruht das Leben der Theologie. Weßwegen, wenn etwas Mangelhaftes oder Falsches in die Willensrichtung hineinkommt, alsbald auch eine Abnormität in der Gestaltung der Theologie entsteht. § . 8 . Umgekehrt kann nur vermitteltst jener manchfaltigen Kenntnisse jenes innre Motiv zweckmäßig wirksam seyn. Dieß ist in unsrer und auch andern Kirchengemeinschaften der Grund der allgemeinen Ordnung, daß ein Antheil an der KirchenLeitung nur denen gegeben wird, welche sich über den Besiz der theologischen Kenntnisse ausweisen können, weil sie sonst auch mit dem Besten Willen nicht könnten zweckmäßig thätig seyn. Es giebt christliche KirchenGemeinschaften, die auf eine geringre Anzahl beschränkt und so geordnet sind, daß sie, wenn auch ein größrer Umfang stattfände, doch keine so große geschichtliche Bedeutung hätten. Bey diesen tritt dann auch die Theologie und jene Ordnung zurück. In der protestantischen Kirche finden wir diese Ordnung überall, so wie die Theologie. Denkt man sich die bischöfliche englische Kirche, – diese ist ein großes Corpus von großer geschichtlicher Bedeutung. Aber die Handhabung dieser Ordnung ist durch den aristokratischen Charakter der höheren Geistlichkeit mangelhaft, und ein vornehmer Mann kann ohne gehörige Kenntnisse die ordines bekommen. Aber darum ist auch die Leitung der Kirche schlecht. Die Quäker dagegen haben eine solche Ordnung gar nicht, weil sie auch keinen öffentlichen Lehrstand haben, – aber es ist auch eine Gemeinschaft von kleinem Umfang und Bedeutung. Daher geht diese Gesellschaft auch ohne jene Ordnung ihren guten Gang. So die evangelische Brüdergemeinde. Sie ist der SeelenZahl nach gering, aber nicht ohne geschichtliche Bedeutung, – schon wegen ihres Missionswesens. Sie hat nicht ganz dieselbe Ordnung, sie macht keinen bestimmten Unterschied zwischen Theologen und NichtTheologen. Es sind einzelne Männer zu den höchsten Würden | gelangt, ohne sich über theologische Kenntnisse legitimirt zu haben. 5 metaphysische] mΦ

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Doch hat diese Gemeinschaft immer Sorge, daß Theologie vorhanden sey. In unsrer protestantischen Kirche haben immer auch Layen Antheil an der KirchenLeitung, doch mehr nur an der äussren, während der mit der religiösen Mittheilung zusammenhängende Theil immer genau mit der Theologie verbunden bleibt. Die Willensrichtung auf die Kirchenleitung geht zunächst von einer überwiegenden Frömmigkeit aus, wenn sie nicht anders ein falsches Motiv hat. Die wissenschaftliche Fähigkeit aber zur Herbeyschaffung der theologischen Kenntnisse ist damit nicht identisch, und daraus entwickelt sich die Möglichkeit einer bedeutenden Differenz. Wenn jedoch einer wegen seiner überwiegend frommen Richtung Theil an der KirchenLeitung wünschte, ohne theologische Kenntnisse zu haben, so würde er sich entweder diese zu erwerben suchen, oder wenn dieß nicht möglich wäre, auf die eigentliche KirchenLeitung verzichten. So zieht sich, bey richtigen Motiven, von selbst eine Grenze. Dennoch ist eine große Differenz möglich, welche die folgenden §§, von dem Gleichgewicht ausgehend, beschreiben. § . 9 . Religiöses Interesse und wissenschaftlicher Geist gleichmäßig vereinigt, und zugleich im möglichsten Gleichgewicht zu Theorie und Ausübung wird hier gedacht. Zur Erläuterung des lezteren hier einiges Weitre. Die Ausübung ist das, was unmittelbar aus dem religiösen Interesse entsteht. Das religiöse Interesse also richtet sich an und für sich auf die Ausübung, – der wissenschaftliche Geist unmittelbar auf die Theorie. Also sind beyde Differenzen dasselbe, nur giebt die erstere den innern Grund, die zweyte den Zielpunkt an, – dieß ist die Idee eines Kirchenfürsten. Dieß ist eine Uebertragung eines kirchlichen Ausdrucks princeps ecclesiae, d. h. ein solcher, welcher sein Zeitalter geistig dominire, ohne daß eine amtliche Stellung inbegriffen würde. Alle andern unterscheiden sich von einem solchen, entweder durch das aufgehobene | Gleichgewicht jener zwey Punkte, oder durch die Verringerung des Grades, ohne Aufhebung des Gleichgewichts. Lezteres interessirt uns nicht, sondern nur das erste. § . 1 0 . Derjenige, welcher von jener Idee einseitig abweicht durch das Uebergewicht des wissenschaftlichen Geistes, der ist, was wir den Theologen im engeren Sinne nennen; derjenige, in welchem sich das religiöse Interesse überwiegend entwickelt hat, den nennen wir jenem gegenüber den Kleriker. – Dieß ist nicht so gemeint, als ob der Kleriker es deßwegen werde, weil er weniger wissenschaftlichen Apparat hat als der Theologe im engeren Sinne, oder daß der Theologe im engeren 27–29 Vgl. die ergänzende Bemerkung Nachschrift Anonymus: „Diese Ableitung schlägt die Beschuldigung derer welche in diesem Paragraphen eine geheime papistische Tendenz erkennen.“ (S. 20)

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Sinn es deßwegen werde, weil das religiöse Interesse in ihm zu schwach wäre. Nicht wegen des minus auf der einen, sondern wegen des plus auf der andern Seite wird jeder was er wird. Das Uebergewicht der Ausübung, welches das religiöse Interesse fordert, ist mehr in der klerikalen Thätigkeit. Aber auch ein theologisches Leben ohne Einwirkung auf die KirchenLeitung läßt sich nicht denken. Nur hat der Theologe nicht die Richtung auf die unmittelbare und stetige Ausübung, wie sie im KirchenRegiment ist. – Hieße es statt Theologe im engeren Sinn – ein Theologischer Academiker, und statt Kleriker ein ausübender Geistlicher: so wäre das nicht ganz dasselbe gewesen. Nämlich Kleriker umfaßt mehr als ausübender Geistlicher. Es kann einer nicht unmittelbar ausübend seyn und doch ein Kleriker, wie die im höheren KirchenRegiment fungirenden. Ebenso kann einer ein Theologe seyn ohne academisches Lehramt. Betrachten wir diese Scheidung von dem Ausgangspunkt aus, und nehmen die Frage wieder auf: wie weit läßt sich diese Einseitigkeit ausdehnen, so läßt sich z. B. denken, es beschäftigt sich einer mit dem Alten Testament aus einem theoretischen Grund. Nun ist aber ein überwiegend wissenschaftlicher Drang in ihm, der treibt ihn zu den semitischen Dialekten. Wenn er dieß so thut, daß er die Ausbeute auf das Alten Testament | anwendet, so hat seine Beschäftigung einen theologischen Charakter. Aber es kann ihm dabey auch das theologische Interesse ausgegangen seyn, und dann haben die Kenntnisse die er sich verschafft, den theologischen Charakter verloren. Wie stellt sich nun die Sache auf der andern Seite? Kann einem, der nur vermöge des religiösen Interesses sich theologisch gebildet hat, die Wissenschaft ganz ausgehen? Die Möglichkeit ist nicht zu bestreiten. Die Erfahrung giebt es häufig, so daß man schon oft gefragt hat, ob es nicht nüzlicher wäre, diejenigen, welche eine überwiegende Richtung auf die Ausübung haben, nicht erst theologisch durchzubilden, weil ihnen doch die wissenschaftliche Thätigkeit und Geist späterhin verloren geht. Diese Frage ist aber immer verneinend beantwortet worden. Und diese Verneinung kann nur unter der Voraussezung richtig seyn, daß man annimmt, es bleibe von der theologischen Bildung immer etwas in der Ausübung zurück. Dazu gehört aber, weil ein Geistiges nur als Lebendiges zurückbleiben kann, – wenn die Voraussezung richtig ist, daß jeder der in die unmittelbare Ausübung übergeht, auch eine wissenschaftliche Thätigkeit behält. Würde nun dem Kleriker jemals durch andre Geschäfte die theologische Beschäftigung unmöglich gemacht, so wäre es unnöthig, ihn durch die ganze theologische Wissenschaft hindurchzuführen. § . 1 1 . Hier wird die Sache so gefaßt, daß jede, vermitteltst theologischer Kenntnisse oder Kunstregeln unternommene Thätigkeit in das Gebiet der Kirchenleitung gehöre, also klerikalisch sey, so wie jede

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Aufstellung von Gedanken über eine solche Thätigkeit sey das Gebiet der Theologie im engeren Sinn. Man könnte sagen, auch das Denken sey ein Handeln. Aber was hier Handeln genannt wird, ist das aus sich Herausgehen, das Hervorbringen eines Werkes, und das Denken ist nicht blos Denken einer That, sondern das zusammenstellende, um seiner selbst willen angestellte Denken. Z. B. die Thätigkeit des Predigers ist eine Handlung, die vermitteltst der theologischen Kenntnisse und Kunstregeln geübt wird. Wenn aber jemand über dieses Gebiet der Thätigkeit eine Theorie aufstellt, so ist diese Aufstellung aus dem Gebiet der Praxis ausgeschlossen und ein Theil der theologischen Wissenschaften. | Wie aber, wenn einer theologische Werke herausgiebt? Sie gehören ins Gebiet der Theologie. Aber sie sind ein Aussichherausgehen, ein Wirken, so könnten sie auch zur Ausübung gehören. Aber denken wir ein rein wissenschaftliches theologisches Werk, so wird Niemand zweyfeln, daß dieß zur Theologie gehöre. Denken wir aber eine Schrift mit Beziehung auf gegenwärtige Streitigkeiten, oder überhaupt auf Zustände in der Kirche, so kann dieß Werk ganz wissenschaftlich seyn – aber doch wird man fragen: war es recht, klug, dieß Werk jezt herauszugeben? und so ist es eine That, und gehört zur Ausübung. So giebt es allerdings streitige Fälle, aber dann sind es immer verschiedne Beziehungen, in welche ein Werk fallen kann. In der Anmerkung ist gesagt, daß auch die rein wissenschaftliche Wirksamkeit des Theologen doch in das Gebiet der KirchenLeitung gehört, also klerikalisch ist, – und jede Vorschrift auch über die unmittelbare Ausübung sey theologisch. Darinn fährt § . 1 2 . weiter fort. Alle wissenschaftlichen Theologen nehmen auch an der KirchenLeitung Theil. Denn wenn sie in Wort und Schrift ganz abstrahirten von dem dermaligen Zustande der Kirche: so wäre dieß gar keine theologische Art mehr, den Gegenstand zu behandeln. Ein solcher hätte sich auf den rein wissenschaftlichen Standpunkt gestellt. So werden wir sagen müssen, der Antheil an der KirchenLeitung muß überall seyn bey jeder theologischen Thätigkeit. In diesem gemeinschaftlichen Gebiet der Theologie hat nur der eine mehr unmittelbar seine Impulse vom kirchlichen Interesse zu empfangen, der andre auch vom kirchlichen Interesse, aber nur sofern die wissenschaftliche Thätigkeit ihm dienen solle. So müssen die beyden Elemente in jedem Theologen seyn. Im Zusaz ist dieß noch strenger aufgefaßt. Der unkirchliche Theologe würde nur theologische Elemente im Sinne der besonderen Wissenschaft behandeln, der untheologische Kleriker wäre nicht zur KirchenLeitung berufen, sondern müßte selbst geleitet werden. Vergleichen wir nun diese beyden Thätigkeiten, so werden wir sagen müssen: unmittelbar können wir nicht sagen, daß sie einander widerspre-

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chen, | und in einem Individuum nur die eine seyn könnte. In der Kirche besteht aber eine solche Geschäftsvertheilung, daß der Beruf zur Kirchenleitung eine organisirte Manchfaltigkeit ist, und der Einzelne sich einen speciellen Zweig wählen muß. Dazu kann einer bewegt werden durch die Betrachtung § . 1 3 . entweder seiner eignen Natur oder durch die Betrachtung des Zustandes der Kirche. Lezteres ist im § nicht herausgehoben. Wenn nämlich einer auf einen kleineren Kreis beschränkt wäre, dann allein könnte das leztere Motiv auch wirken, sonst nicht. Denkt man sich einen kleinen Landestheil der ein kleines Ganze für sich bildete und sich gegen Fremde abgeschlossen hätte: dann könnte ein Einzelner zu sich sagen: Ausübende haben wir genug, aber es fehlt an wissenschaftlichen Theologen, daher will ich mich auf diese Seite werfen. Allein eine solche Abschließung findet nicht statt bey uns, und so kann der Einzelne nicht übersehen, wiefern er auf der einen oder andern Seite nothwendig ist. So findet nur der eine subjective Grund statt für die Bestimmung des kirchlichen Berufs. Zu s a z . Hier ist darauf aufmerksam gemacht, daß ohne innren Beruf keiner ein Theologe oder Kleriker seyn kann. Wir haben der Beyspiele, daß einer dem Schein nach ohne Wahrheit Geistlicher ist, nicht viel; doch kommen sie vor. Es ist einer von aussen zu diesem Beruf bestimmt worden, und weil er zu spät selbstständig wird, so muß er ohne Neigung darinn bleiben. Weit häufiger ist diese Erscheinung, wo große äussre Vortheile mit dem geistlichen Stand verbunden sind, wie in der bischöflichen Kirche von England. – Im zweyten Theil des Zusazes ist eine Bemerkung hinzugefügt, die von großer Erheblichkeit ist. Bey uns ist die kirchliche Thätigkeit Basis eines besonderen Standes. In der katholischen Kirche so, daß der geistliche Stand alle bürgerlichen negirt, daß er von allen übrigen bürgerlichen Verrichtungen ausschließt. In dem größten Theil der protestantischen Kirche ist es anders, weil die weltliche Obrigkeit die KirchenLeitung in Händen hat, und also die Kirchendiener in Analogie kommen mit den | Staatsdienern. Dieses ist nun nur als ein zufälliger Zustand anzusehen, und weder die Organisation dieser zwey Hauptzweige der kirchlichen Thätigkeit noch sonst etwas hängt davon ab. Wir müssen uns den Fall denken, daß keiner seine ganze Lebensweise darauf bezöge, theologisch oder klerikalisch thätig zu seyn, sondern daß diese Wirksamkeit bestünde neben einer andern in der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn Kirche und Staat ganz getrennt sind, so hat doch der Staat an jeden Einzelnen gewisse Forderungen. Nimmt nun der Staat von der Kirche Notiz, so erkennt er an, daß wer an der KirchenLeitung Theil nimmt, der auch dem Staat seine Pflicht leiste. Wo aber der Staat die Kirche nicht anerkennt, da müßte es noch einen bürgerlichen Beruf neben

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dem kirchlichen geben. Dadurch würde in dem Gebiete der kirchlichen Thätigkeit gar nichts geändert. Wir müssen also das ganze theologische Gebiet so construiren, daß es auch paßte, wenn jenes Verhältniß nicht stattfände. § . 1 4 . Hier wird die Nothwendigkeit, daß einer im Gebiete der Kirchenleitung eine Wahl treffe, aus der Natur der Sache dargethan, indem gesagt wird, daß Niemand die theologischen Kenntnisse vollständig inne haben könne. Hieraus folgt, daß schon innerhalb des einen Zweiges eine Theilung nöthig sey, was auch Einfluß auf den andern Zweig hat. Jene Unmöglichkeit wird gegründet 1) auf die Unendlichkeit des Inhalts der Theologie, und 2) auf die Differenz der subjectiven Qualitäten. Was das erste betrifft, so leidet dieß keinen Zweyfel. Denke man nur an KirchenGeschichte und Exegese. Auch das zweyte ist klar. Nicht leicht wird einer ein gleiches Talent haben für die unmittelbare Ausübung und für die wissenschaftliche Thätigkeit, und in dieser letzteren sind selbst wieder Differenzen: das philologische Talent, die geschichtliche Forschung, sind eigenthümliche Talente u. s. f. Hier tritt nun wieder dieselbe Möglichkeit ein seine Bestimmung zu nehmen, entweder aus dem subjectiven oder aus dem objectiven Grunde. Doch wird am Besten beydes | vereinigt. Meine Neigung, sagt einer, treibt mich zur historischen Theologie. Ganz kann ich sie nicht umfassen, aber hier ist ein Gebiet was noch nicht genug bearbeitet ist, und dieß will ich wählen. So wird das objective Motiv das specielle, das Allgemeine kann es nicht seyn, siehe oben. Zu s a z . Hier ist das Obige auch auf die Kunstregeln ausgedehnt. Manche Geistliche haben ein Talent zu Casualreden, manche mehr zur eigentlichen Predigt. Nur lassen sich darnach die Functionen nicht theilen. Wohl aber darnach, ob einer mehr zum unmittelbaren Kirchendienst oder mehr zur Kirchenregierung Talent hat. Das Wohl der Kirche hängt sonach davon ab, daß in jedem Geschlecht das Gebiet der kirchlichen Thätigkeit völlig ausgefüllt wird. Fehlte in einer Reihe von Generationen das Talent für einen Theil des Gebiets, so könnte sich die Kirche nicht wohl befinden. § . 1 5 . Zerstört das Vorhergehende gewissermaßen, d. h. beschränkt es. Wollte sich nämlich einer von Vornherein ganz auf einen einzelnen Theil beschränken, so wäre das Ganze nirgends. Nicht einmal in allen Zusammen, denn das Ganze ist der Zusammenhang, und der wäre nicht vorhanden, sondern in jedem ein isolirter Theil. Zudem würde dann jeder Theil seinen theologischen Charakter verlieren. Jeder Einzelne würde sich um nichts andres als um sein eignes Gebiet bekümmern, es fände dann kein Zusammenwirken, keine Kirchenlei24 Vgl. oben zu § 13 (286,7–17)

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tung, und somit keine theologische Wissenschaft mehr statt. Daraus entsteht nun eine Folge, daß nämlich, wenn die Theologie bestehen soll, auf irgend eine Weise das Ganze in Jedem seyn muß. Alle diejenigen, die sich mit einem einzelnen Theile so beschäftigen, daß sie das Ganze nicht haben, – die sind immer auch schon auf dem Wege, dieses Einzelne auf nicht theologische Weise zu treiben. § . 1 6 giebt nun an, wie neben der Vertheilung der einzelnen theologischen Wissenschaften, doch ihre Einheit vorhanden seyn könne, nämlich dann, wenn jeder neben der besonderen Beschäftigung mit einem einzelnen Zweige noch | die Grundzüge aller übrigen inne hat. § . 1 7 wird von dem Antheile an den einzelnen Disciplinen gehandelt. Es wird einer gedacht, welcher eine einzelne Disciplin zur Vollkommenheit zu bringen sucht, (entweder in sich selbst, oder objective, d. h. weiter zu fördern als sie gediehen ist, doch läßt sich dieß schwer trennen); die Grundzüge aller theologischen Disciplinen muß er inne haben, – wie kommt er nun dazu, sich eine einzelne besonders auszuwählen? Da wird nun zuerst die Eigenthümlichkeit des Talents wieder aufgenommen, dann aber auch die Vorstellung von dem Bedürfniß der Kirche. Oben wurde gesagt, dieß leztre könne nur vorkommen in kleineren KirchenGemeinschaften, wo einer das Ganze übersehe, und einen Ausschlag geben könne. Aber dieß bezog sich nicht auf die Wahl der einzelnen Disciplinen, denn je weiter man ins Einzelne geht, desto leichter ist der Zusammenhang des Gebiets zu übersehen; da kann einer sagen: hier fehlt es noch, das Bisherige ist zu revidiren, oder über das Bisherige hinauszugehen und weiter fortzuschreiten. Eben diesen Punkt hebt der Zu s a z heraus, indem er hinzusezt, daß der gute Fortgang der Kirche davon abhänge, daß die entstehenden Talente mit dem Bedürfniß der Kirche im Verhältniß stehen. Heftete sich in einer Zeit die Liebhaberey ausschließlich auf ein schon vorangeschrittenes Gebiet der Theologie, so würde die Einseitigkeit immer größer. Indessen sollte dieß eigentlich ein Gegenstand seyn, in Beziehung auf welchen man sich ganz auf das Naturergebniß sollte verlassen können. Denn dieß finden wir überall, daß es eine solche Manchfaltigkeit der Talente giebt. Zwar nicht alle gleichzeitig, sondern die Ausgleichung erfolgt immer erst mit der Zeit, sonst würde ja die Geschichte etwas sich immer Gleichbleibendes, Langweiliges seyn. Aber in einem abgeschlossenen Gebiet kann jeder seinen Talenten mit Rücksicht auf das gemeine Bedürfniß noch eine besondre Beugung geben. | Doch wird hinzugesezt, daß derjenige am meisten wirken kann, und zwar in klerikaler Hinsicht, welcher die meisten Disciplinen gleichmäßig umfaßt. 19 Vgl. oben zu § 13 (286,7–17)

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Denken wir uns die eigentlich theologische Thätigkeit, so finden wir die oben angegebene Differenz, und fragen wir, welche sind am geschicktesten, die Theologie fortzupflanzen, so giebt es zwey Richtungen. Diejenigen welche eine einzelne Disciplin weiter fördern wollen, und auf neue Darstellungen ausgehen, diese pflegen wenig Neigung zu haben, in dem zu versiren, was schon wissenschaftliches GemeinGut ist. In diesen ist der Geist der wissenschaftlichen Forschung überwiegend, in denen aber, welche das GemeinGut umfassen, ist die Richtung auf die Ausübung überwiegend, – das Lehren aber ist auch eine Ausübung. Das Leben der Wissenschaft aber kann nie anders als fortschreiten, soll es also um die Theologie wohl stehen, so müssen beyde Richtungen beysammen seyn. – Von hier aus werden nun § § . 1 8 u n d 1 9 diese beyden Richtungen besonders verfolgt, und in 18 angegeben, was jedem Theologen, seine persönliche Richtung sey welche sie wolle, unerläßlich ist, im 19ten §. hierauf wird von der besonderen Virtuosität gehandelt. Nöthig ist jedem Theologen 1) die Anschauung von der Zusammengehörigkeit der theologischen Disciplinen, d. h. welche und warum gerade diese Disciplinen zur Theologie gehören. 2) Dasselbe von jeder einzelnen Disciplin, wie jede als ein eigener Organismus besteht und in sich gegliedert ist. Beydes ist nun in einem solchen Zusammenhang, daß das zweyte vom ersten abhängig ist, aber Beydes ist in sofern gleichartig, daß es dabey nicht auf materiale Kenntnisse ankommt, sondern nur auf die Form. 3) Die Bekanntschaft mit den Hilfsmitteln, um in jeder Disciplin das jedesmal Erforderliche herbey zu schaffen. Dieß ist auch etwas Gemeinsames, und von den materialen Kenntnissen gesondertes. Daß dieses | für jeden nothwendig ist, ist offenbar. Denken wir uns die klerikale Thätigkeit, so muß dieser allerdings vorausgehen ein gewisses Material von Kenntnissen, allein es kann auch jeder in den Fall kommen, sich eine Kenntniß verschaffen zu müssen, die er nicht hat, – und dann muß er wissen wo er sie findet. 4) Das lezte Stück ist das, was zum richtigen Gebrauch fremder Leistungen gehört. Es ist hier bezeichnet durch den Ausdruck: Anwendung von nothwendigen Vorsichtsmaßregeln. – In den theologischen Wissenschaften wie in andern giebt es eine Verschiedenheit der individuellen Ansicht. Wenn nun einer in dem Fall ist, Resultate fremder Untersuchungen zu brauchen, so wird er dieselbigen bey Vielen finden können, aber bey jedem wieder etwas anders. Nun muß er sich entscheiden, welcher von denen, die von einander abweichen, am geschicktesten gewesen ist, das Richtige zu finden? Denn wenn er sich

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hierüber keine Entscheidung bilden kann, so bleibt er entweder schwankend, oder muß die Untersuchung selbst anstellen. Im Zu s a z wird nun angegeben, wohin diese vier Elemente gehören. Die zwey ersten machen eben die theologische Encyclopädie aus. Der erste allein wäre zu wenig, daher die Encyclopädie gewöhnlich noch den zweyten hinzunimmt. Der dritte ist die theologische Literatur, die von vielen mit der theologischen Encyclopädie verbunden wird. Allein im eigentlichen Begriff liegt dieß nicht, es ist schon ein Weitergreifen, was aber sehr nüzlich seyn kann unter gewissen Umständen. Unter uns ist dieser Punkt in mehreren Handbüchern schon behandelt, auf welche verwiesen werden kann. – Vom vierten Punkt ist gesagt, daß er noch nicht als Disciplin ausgearbeitet sey, und über denselben auch wenig allgemeine Regeln sich geben lassen. Es muß jeder in jeden Schriftsteller sich selbst hineinleben, um zu finden, wie weit und worin man ihm trauen kann. | § . 1 9 . ist die Aufgabe dessen gefaßt, der in einen einzelnen Zweig hineingehen will. Seine Aufgabe ist Reinigung und Ergänzung. Dieß sind zwey ganz verschiedne Geschäfte. Es kann einer materialiter nichts hinzuthun, und sich doch durch Reinigung vieles Verdienst erwerben. Die Reinigung betrifft nicht blos das Materiale, Wegschaffung falscher Resultate und Behauptungen, – sondern auch die Form und Methode, und wer hierinn eine Reinigung macht, der kann schon sehr viel leisten. Die christliche GlaubensLehre z. B. geht von den einzelnen Lehren zurück auf die Schrift. Dieser Punkt, Beweißstellen aufzustellen, ist es, durch dessen Revision sich manche Theologen großes Verdienst erworben haben, durch Aufstellung der Art, wie Beweißstellen müssen aufgesucht und beygebracht werden. Dieses Geschäft kann betrieben werden entweder durch Sichtung der Materialien: zu dieser Lehre führt man diese Stellen an, aber diese und diese taugen nicht. Oder es kann auch von den Principien ausgegangen werden, und gesagt: was nach diesen Principien nicht beweißt, das darf gar nicht angeführt werden. Die Ergänzung hängt damit genau zusammen, und muß von jedem angestellt werden, der sich in einen einzelnen Theil hineinwirft. Zu s a z . Wer sich weder Reinigung noch Ergänzung zum Zweck macht bey der Beschäftigung mit einem einzelnen Theil der Theologie, der ist eigentlich nichts in derselben. § . 2 0 giebt nun an, wie weit diese encyclopädische Darstellung in dem gegenwärtigen Grundrisse geht, nemlich nur auf die Organisation, also auf den ersten und im Zusammenhang damit auch den zweyten Punkt von §. 18. 32 angeführt] angeführt zu

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D er Zusaz spricht sich über einige Differenzen aus. Manche Encyclopädien befassen sich auch mit dem Materialen. Z. B. eine Encyclopädie der Naturwissenschaft wird die Grundzüge der Mineralogie, Zoologie p angeben. Wenn nun zugleich gesagt würde: bey den Thieren sieht man diese Differenzen für die hauptsächlichsten an und theilt sie darnach – so wäre dieß immer noch bloß formell. Wenn aber gesagt würde: dieß sind die merkwürdigsten | Thiere dieser Abtheilung p, so wäre dieß schon das Materiale. Die formelle Encyclopädie enthält nur die Organisation der ganzen Wissenschaft und ihrer Zweige, sie enthält gleichsam blos die Ueberschriften. Man kann sich allerdings das Materiale und Formale verschiedentlich scheiden. Man kann sagen, man könne ja ein Minimum von Materie hineinbringen, allein dieß nützt nichts, und die Auswahl desselben ist willkührlich. Wenn man nun das dazunimmt, daß nicht alle einzelnen theologischen Disciplinen schon gleichmäßig bearbeitet sind, daß nun die encyclopädische Darstellung zum Behuf des UniversitätsStudiums gegeben wird, und man richtet sich nach dem lokalen und temporären Zustand: so kann es geschehen, daß die einzelnen Wissenschaften in der Encyclopädie ungleich behandelt werden, indem bey den einzelnen mehr, bey den andern weniger Material mitgegeben wird, – was oft passend seyn kann, immer aber unförmlich ist. Auch die Methodologie wird oft in die Encyclopädie aufgenommen, d. h. die Art, wie das theologische Studium zu betreiben ist. Wenn wir uns nun die Encyclopädie als dem eigentlichen theologischen Studium vorangehend denken, so ist natürlich, daß auch ein guter Rath gegeben wird, wie man zu dem Material gelangen soll. Dieß ist nicht dasselbe mit dem dritten HauptPunkt von § 18, der Bekanntschaft mit den Hilfsmitteln. Sie kann einen Theil der Methodologie ausmachen, aber sie ist es nicht ganz. Die Art und Weise aber, ein Studium zu betreiben, die hängt gar zu sehr von der Natur und Gewöhnung des Einzelnen ab, so wie von der Art, wie er seine Zeit theilen muß. Was objectiv gesagt werden kann, muß schon durch die Organisation der Disciplin selbst sich ergeben. § . 2 1 wird nun das eigentlich Wissenschaftliche charakterisirt im Gegensaz gegen die blos empirische Auffassung. Hier ist besonders Rücksicht genommen auf das Verhältniß des Christenthums zu andern Religionen, und der kirchlichen Gemeinschaft zu andern Gemeinschaften. Es wird also hier zurückgegangen auf die zwey Hauptpunkte, den Inhalt der Theologie als eines Inbegriffs wissenschaftlicher Elemente, und den Zweck | der Theologie, die Leitung der christlichen Gemeinschaft. Beydes soll als ein Wissen, nicht als ein blos empirisch Gegebenes vorhanden seyn. Zwar ist das Christenthum eine Thatsache und diese kann nur empirisch aufgefaßt werden. Aber

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etwas andres ist das Wesen des Christenthums in seinem Gegensaz gegen andre Glaubensweisen. Das Christenthum ist eine eigne Gestaltung des GottesBewußtseyns, und eine darauf sich gründende Gemeinschaft. Nun was das Besondre des Christenthums ausmacht, das ist nur auf thatsächlichem Wege zu haben, wie z. B. das Besondre eines Staates, Volkes. Aber wenn ich nun das Wesen dieses Staates im Gegensaz gegen Andre erforschen will, so gehe ich von dem Besonderen des Staates auf den allgemeinen Begriff des Staates zurück, und stelle die Differenz des Besondern in Beziehung zu diesem allgemeinen Begriff auf. Dieß ist eine rein wissenschaftliche Operation, die aber von jenem PempirischS ausgeht. Das Christenthum beruht ganz auf der geschichtlichen Erscheinung Christi, und auf der Art wie sie aufgefaßt PwirdS. Fragen wir aber: wie unterscheidet sich die von dieser Thatsache ausgegangene christliche Frömmigkeit von anderer? darüber ist ein Wissen nöthig, welches nicht mehr das Thatsächliche ist, weil auf den allgemeinen Begriff der Frömmigkeit zurückgegangen und sie in ihrer Modificabilität erkannt werden muß. Dieß ist ein auf das Empirische gegründetes, aber wissenschaftliches Erkennen. Der zweyte Punkt nimmt nun eine andre Beziehung, nicht die Unterscheidung des Gehaltes der christlichen Frömmigkeit von anderen, sondern die Construction der christlichen Gemeinschaft und den Gegensaz gegen die andern Gemeinschaften, die nun unter der christlichen auch bestehen, – um nun den Einfluß des religiösen Princips auf die Gesellschaft zu ermessen. Auch hievon giebt es eine empirische Auffassung. Wenn einer sagt: die christliche Kirche ist die Gemeinschaft, welche Christus gestiftet hat, und die sich nun so gestaltet hat, und in diese Differenzen auseinandergegangen ist: so ist dieß ein empirisches Auffassen, kein Wissen. Ein Wissen wäre, wenn gefragt würde: was ist das Wesen einer auf die Frömmigkeit sich beziehenden Gemeinschaft im Unterschied von einer bürgerlichen? und von da muß zum Geschichtlichen übergegangen werden, in wiefern dieses der Idee | entspricht. Dieß ist im Z u s az kürzer ausgedrückt in der Formel, daß das Wesen des Christenthums allerdings mit der Geschichte zusammenhänge und dadurch die Art des Erkennens desselben modificirt werde, was aber dem Obigen keinen Eintrag thut. Es wäre an keine wissenschaftliche Theologie zu denken ohne ein solches Wissen um das Christenthum. Auf was für wissenschaftliche Regionen muß man nun zurückkommen, wenn dieses Wissen um das Christenthum, woraus dann die Theologie sich entwickelt, soll dargestellt werden? 11 PempirischS] oder PempirischenS (vgl. Sachs 20) Sachs 20) 13 aber:] aber;

13 PwirdS] oder PwurdeS (vgl.

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§ . 22. Geht nun aus von dem Begriff der frommen Gemeinschaft, nicht von der Frömmigkeit in der einzelnen Seele, weil nur auf jene die Theologie sich bezieht. Nun ist hier ein Dilemma aufgestellt. Das was durch diesen Begriff bezeichnet wird, ist entweder eine Verirrung, oder ein nothwendiges Element in der menschlichen Existenz. Man könnte sich fragen, ob sich nicht auch ein Drittes denken ließe? Nun sagt ein jeder sich leicht selbst, daß ein starker Verdacht vorhanden seyn muß, daß es ein Drittes gebe zwischen einer Verirrung und etwas Nothwendigem. Einer Verirrung steht das Richtige gegenüber, aber nicht alles, was nicht falsch ist, scheint auch nothwendig zu seyn. Die Sache aber ist diese, daß sich dieß grade aus dem Begriff der Gemeinschaft ergiebt. Eine Gemeinschaft, und zwar eine so umfassende, wenn diese nicht eine nothwendige Basis hat, so ist sie eine Verirrung. Es ist z. B. oft in der Philosophie über den Staat gefragt worden, wenn noch kein Staat vorhanden wäre, ob es rathsam wäre einen Staat zu gründen? Diese Frage beruht eben auf einem solchen Unterschied zwischen Nothwendigem und richtigem. Denn wenn der Staat richtig und ebendamit nothwendig wäre, so wäre es nicht beliebig ihn zu stiften oder nicht. Wenn ich diese Frage für eine Zuläßige hielte, so könnte jenes Dilemma nicht stattfinden. Es läßt sich aber nachweisen, daß die Vereinigung zum Staat eine nothwendige ist, | weßwegen sich auch die Entstehung des Staates in die vorgeschichtliche Zeit verliert. Jede nicht nothwendige Verbindung ist eine Verirrung. Was nichts Nothwendiges ist im geistigen Leben, das ist ein Verschwindendes. Was aber eine Gemeinschaft bildet das wird als ein Bleibendes betrachtet. Die schönen Künste scheinen nicht eben nothwendig. Wenn wir aber denken, wie sie sich verzweigen und bleibend organisiren, so sehen wir, es muß etwas Nothwendiges was sich immer von selbst wieder reproducirt zu Grunde liegen. Man kann geradezu von allen Gemeinschaften, von welchen man sagen kann, daß sie auf keinem nothwendigen Element beruhen, behaupten, daß sie eine Verirrung sind. Im Zu s a z ist angeführt, daß jene Behauptung, daß fromme Gemeinschaften eine Verirrung seyen, die Basis einer anonymen Schrift über das Wesen des Protestantismus bildet. Früherhin wurde behauptet, sowohl die Frömmigkeit als die fromme Gemeinschaft sey eine Verirrung. Aber in diesem Buch wird die Frömmigkeit anerkannt, und nur die Gemeinschaft der Frommen als Verirrung betrachtet. Dieß leugnen wir nun. Der Bildung frommer Gemeinschaften liegt ein noth34–35 Anspielung auf die anonym erschienene Schrift „Betrachtungen über das Wesen des Protestantismus“ (Heidelberg 1826) des Juristen und Publizisten Karl Gustav Jochmann (1789–1830)

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wendiges Princip zu Grunde, und dieß ist die Frömmigkeit, das Bewußtseyn der Beziehung des menschlichen Wesens zum göttlichen. § . 2 3 wird dieß weiter ausgeführt was §. 21 aufgestellt war, nemlich der Begriff des Gegensazes zwischen einem Gleichartigen und einem Andern. Aus dem Begriff der frommen Gemeinschaft muß sich auch die Möglichkeit der Differenzen ergeben. D. h. es muß in diesem Begriff selbst ein Theilungsgrund vorhanden seyn. Die Entwicklung eines Begriffs muß auf eine Mehrheit von Merkmalen zurückgehen, die in diesem Begriff vereinigt sind. Denken wir nun, in dem Begriff an sich sehe man nichts zu theilen, so muß man doch zugeben, wenn wir nur zwey Merkmale des Begriffs haben, so können sich diese verschieden verhalten, und darinn liegt schon eine Differenz. A ist B und C. Da können nun B und C entweder gleichen Antheil haben an A oder ungleichen. Aber die Ungleichheit ist allgemein, die Gleichheit | findet sich nirgends. Die Ungleichheit aber ist eine doppelte Unterordnung. – Der zweyte Punkt ist aber, daß hier aufgestellt wurde, die Subsumtion der geschichtlich vorhandenen verschiedenen frommen Gemeinschaften unter diese aus der Natur des Begriffs hervorgegangenen Eintheilungen. Es entsteht nun die Frage, wo die Nachweisung der Nothwendigkeit frommer Gemeinschaften ihren Ort haben muß? Hier ist nichts andres zu nennen, als die Ethik, weil die fromme wie jede Gemeinschaft durch freie Thätigkeit entsteht und besteht. So ist diese Nachweisung ein ethisches Element. Die davon ausgehende zweyte Aufgabe im 23sten §. ist nun gesagt, gehöre in die Religionsphilosophie. Darüber erklärt sich der Z u s az , nemlich daß der Ausdruck Religionsphilosophie häufig auch in anderm Sinne gebraucht werde. Doch giebt es auch ganze Werke welche die Disciplin so fassen, wie sie hier genommen ist. Der Name, ist gesagt, bezeichne eine Disciplin, die sich in Beziehung auf die Idee der Kirche ebenso zur Ethik verhalte, wie sich die Politik in Beziehung auf die Idee des Staates zur Ethik verhalte, und wie etwa die Ästhetik sich in Beziehung auf die Idee der Schönheit zur Ethik verhält. Die Ethik kann also als nothwendig nachweisen den Rechtszustand, ebenso die Kunstbildung, und zu gleicher Zeit wird gezeigt werden können, daß aus diesen wesentlichen Elementen sich Gemeinschaften bilden, Staat, Kunstschule p. Zugleich soll nun nachgewiesen werden, was für wesentliche Differenzen es in der frommen Gemeinschaft giebt. Dieß ist dasselbe in den andern zwey Punkten. Wenn der Rechtszustand als nothwendig erwiesen ist und der Staat, so muß dann auch gefragt werden, was für wesentliche Differenzen in Beziehung auf den Staat möglich seyen? Dieß ist eine rein philosophische Frage; wenn aber dann gefragt wird, wie sich hiezu die wirklichen Staaten verhalten? so ist dieß eine Beziehung des

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empirisch Aufgefaßten auf jenes philosophisch Aufgefaßte. Betrachten wir nun den theologischen Gehalt, so kommt hier schon ein christlich theologischer Gehalt zum Vorschein, indem dem Christenthum sein Ort angewiesen wird, und also das geschichtliche Daseyn des Christenthums bezogen wird auf das allgemeine Daseyn frommer Ge-| meinschaften in verschiedenen Formen. Nun ist § . 2 4 hieraus ein Zweig der theologischen Wissenschaft deducirt als p h i l o s o p h i s c h e T h e o lo gi e . Dieß ist der erste bestimmte Theil der theologischen Wissenschaft, der sich ergeben hat. Hier ist nur im Allgemeinen zu handeln von seinem Inhalt und von seiner Benennung. Nun wird also das §§. 22. und 23. angegebene als eine Wissenschaftliche Grundlage betrachtet, und was dazugehört, aus dieser Grundlage das Wesen des Christenthums und die Form seiner Gemeinschaft darzustellen, das ist die philosophische Theologie. Keineswegs ist dieß so gemeynt, als ob der individuelle Charakter des Christenthums rein philosophisch sollte abgeleitet werden, denn das Christenthum ist eine geschichtliche Form der Frömmigkeit. Sondern die Subsumtion des Christenthums unter den allgemeinen Begriff der Frömmigkeit und ihrer Differenzen ist gemeynt. Nehmen wir an, es wäre das Wesen der Frömmigkeit gesezt in die Beziehung unsres Seyns auf das höchste Wesen. Nun sollen die wesentlichen Differenzen aufgesucht werden. Gesezt man könnte sagen, es giebt zweierley Art diese Beziehung aufzufassen, entweder so, daß gegenüber der endlichen Manchfaltigkeit das höchste Wesen als Einheit gesezt würde, oder so daß die Manchfaltigkeit in das höchste Wesen selbst gesezt würde: so würde man sagen können, das eine sey die monotheistische, das andre die polytheistische Form, und dieß wäre eine Nachweisung allgemeiner Differenz aus dem Begriff. Würde nun aber gesagt, das Christenthum gehört unter die monotheistischen Religionen, so wäre dieß Subsumtion des Geschichtlichen unter das Allgemeine. Dasselbe gilt auch von dem zweyten Punkt, der Form der Gemeinschaft. Alles dieses zusammen wird hier philosophische Theologie genannt. D e r Zu s az verbreitet sich über diese Benennung und legt zugleich den status causae vor. Wenn nemlich die Benennung erst gerechtfertigt werden muß, so geht daraus hervor, daß sie noch nicht allgemein angenommen ist. Der status causae ist, daß diese Wissenschaft als eine Einheit noch nicht existirt. Deßwegen aber existiren doch ihre zwey Theile, Apologetik und Polemik, nur hat man diese zwey Theile nie zusammengefaßt, und diese Zusammenfassung muß hier gerechtfertigt werden. – Was die Benennung betrifft, so ist schon gesagt, daß, was in dieser Disciplin vorkommt unmittelbar auf die Ethik und ReligionsPhilosophie | zurückgeht, und schon diese Beziehung würde die gemeinsame Bezeichnung rechtfertigen.

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§ . 2 5 . Wird nun ein andrer Theil der theologischen Wissenschaft deducirt. Was wir als philosophische Theologie deducirt haben, hat eine rückwärtsgehende Richtung, indem es das Gegenwärtige an philosophische Principien anknüpft. Der Theil aber, von welchem hier die Rede ist, hat die entgegengesezte Richtung, auf den Zweck, auf das Ende. Daß der Zweck der christlichen Theologie die Leitung der Kirche ist, wurde oben ausgeführt. Die Thätigkeit welche hierzu gehört, ist hier charakterisirt durch Zusammenhalten und Anbilden. Dieß bezieht sich auf die Gemeinschaft, welche älter ist als die Theologie, und sofern ist die Leitung ein Zusammenhalten. Der Ausdruck Anbilden bezieht sich darauf, daß wir nicht voraussezen, daß der Einzelne schon durch seine Geburt im Gebiete der christlichen Gemeinschaft sey, woraus die Aufgabe entsteht, wenn die Gemeinschaft fortdauern soll, während die Individuen vergehen, so müssen die entstehenden Individuen angebildet werden. Von beyden, Zusammenhaltung und Anbildung, wird gesagt sie müssen extensiv und intensiv seyn. Lezteres geht auf den Grad, in welchem in jeder beliebigen Ausdehnung das eigenthümliche Wesen vorhanden ist. Das extensive heißt, daß die Gesellschaft in ihrem Volumen erhalten wird, – das intensive heißt, daß die Christen so gute Christen bleiben, als sie gewesen sind. Hier ist die Fortschreitung nicht ausdrücklich mit einbegriffen, allein diese liegt schon im Begriff eines solchen geschichtlichen Ganzen. – Das Wissen nun um diese Thätigkeit bildet sich zu einer Technik, einer Kunstlehre, einer Anweisung wie etwas vollbracht werden müsse. Diese Technik ist die p r ak tische T heol og ie. Wenn das Wissen selbst Technik genannt würde, so hätte man auch technische Theologie sagen können, während der Ausdruck praktisch den Gegensaz zu theoretisch einschließt, welcher nicht existirt, da ja die praktische Theologie selbst eine theoretische ist. D e r Zu s az stellt den Status causae vor. Er ist der, daß die Bearbeitung dieser Disciplin noch sehr ungleich ist. Es werden | hier zwey Elemente unterschieden und damit eigentlich die Organisation dieser Disciplin anticipirt. Nemlich sehr reichlich ist bearbeitet Alles, was zur Geschäftsführung im einzelnen gehört, d. h. die gewöhnliche Ausübung des Geistlichen in einer einzelnen Gemeinde. Dieß schließt nun schon die Vermuthung von einzelnen Unterabtheilungen dieser Geschäftsführung in sich. Dagegen ist die praktische Theologie sehr sparsam bearbeitet in Allem, was die Anordnung der Kirche im Großen betrifft. Hier kommt uns gleich entgegen der Gegensaz zwischen Katholizismus und Protestantismus. Die katholische Kirche hat aus der Anordnung der Kirche im Großen eine Art von Geheimlehre gemacht, und daher konnte dieß nicht disciplinarisch behandelt werden, weil die Maximen nach welchen gehandelt wird, nicht zur Publicität kom-

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men. Was die protestantische Kirche betrifft, so hat der Umstand, daß die Leitung der Kirche im Großen nicht disciplinarisch behandelt ist, seinen Grund darinn, daß die höchste Kirchenleitung nicht bestimmt von der Staatsregierung geschieden ist, so daß es noch streitig ist, ob die Kirchendiener StaatsBeamte seyen oder nicht. Ohne eine solche Trennung aber läßt sich eine solche Disciplin nicht aufstellen, oder die Theorie muß der Praxis vorangehen, was immer sehr selten ist. – Daß nun diese zwey Theile, philosophische und praktische Theologie, so zusammengestellt sind, soll nichts für die Ordnung des Studiums bestimmen, sondern es war natürlich, die Endpunkte zusammenzustellen, auf welche beyde sich das Mittlere bezieht. § . 2 6 ist nun die Deduction eines dritten Theils gegeben. Offenbar kann keine wissenschaftliche Anweisung zur Kirchenleitung gegeben, oder wenigstens nicht angewandt werden, ohne die Kenntniß von dem jedesmaligen Zustande des zu leitenden Ganzen, und so tritt diese Kenntniß als ein besonderes Ganze auf, welches die Bedingung der Anwendung der praktischen Theologie ist, aber selbst nur vorhanden seyn kann mittelst der philosophischen Theologie. Wollte man den gegenwärtigen Zustand blos empirisch fassen, so würde dieß nichts helfen, er muß betrachtet werden in seiner Beziehung auf die Idee, ob er dieser angemessen ist oder nicht. Nun wird noch ein zweyter Punkt aufgestellt: der jedesmalige Zustand eines Ganzen kann nur erkannt werden vermöge der Kenntniß des geschichtlichen Verlaufs. Beydes gehört zusammen und bildet zusammen die historische T h e o lo g i e . | Faßt man nun diese Elemente zusammen, so lassen sich wohl keine weiteren Theile der christlichen Theologie als positiver Wissenschaft finden. Habe ich die Principien wonach ich den gegenwärtigen Zustand beurtheile, habe ich den gegenwärtigen Zustand selbst nebst seiner Genesis begriffen, und habe ich die Regeln für die Geschäftsführung: so bin ich mit Allem ausgerüstet, was zur Kirchenleitung gehört. Jede theologische Disciplin also muß in einen dieser drei Theile gehören, und daß dieß geschieht, dieß ist die Probe für unsre Eintheilung. D e r Zu s a z ist nur eine Beweißführung für das zweyte Element der historischen Theologie im Zusammenhang mit dem ersten. Die Gegenwart ist der Keim der Zukunft, und diese soll aus jenem Keime richtig entwickelt werden. Dieß ist nicht möglich, wenn man nicht weiß, wie das Gegenwärtige sich aus dem Vergangenen entwickelt hat. § . 2 7 wird nun das Verhältniß der historischen Theologie zu den zwey andern Zweigen der Theologie angegeben, sie sey nemlich die Bewährung der philosophischen und die Begründung der praktischen. Dieß wird aber an die Bedingung geknüpft, daß sie jeden Zeitpunkt

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in seinem Verhältniß zur Idee des Christenthums darstelle. Wie ist nun die historische Theologie die Bewährung der philosophischen? Im Zusaz wird gesagt, sie sey dieß (und das Andre) nur in dem Maße, als eine manchfaltige geschichtliche Entwicklung schon vorliege. Wenn das Wesen der philosophischen Theologie darinn besteht, das Wesentliche der christlichen Religion und Gemeinschaft im Gegensaz zu andern zur Darstellung zu bringen, – so kann die Geschichte diesen Aufstellungen zur Bewährung dienen, wenn die Betrachtung gewisser Zustände als Fortschritte oder Rückschritte gemäß der philosophischen Theologie zusammenstimmt mit dem allgemeinen christlichen Bewußtseyn. Wenn wir auf den gegenwärtigen gespaltenen Zustand des Christenthums sehen, und wir denken vorzüglich an den Gegensaz zwischen Protestantismus und Katholizismus, so hat man oft gesagt, beyde Kirchen müssen ihre eigne Dogmatik haben, sonst wären sie nicht zwey Kirchen, beyde müssen im Besondern eine eigenthümliche praktische Theologie haben, – aber zweierley müssen sie gemein haben, | nämlich Geschichte und Philologie. Was die Geschichte anlangt so müßte sie allerdings gemeinsam seyn, wenn die Geschichte etwas rein Objectives oder dessen mechanische Wiederholung wäre. Dieß wäre aber gar keine theologische Wissenschaft. Sobald sich aber die historische Theologie dazu versteht, das Verhältniß gegebener Zustände zur Idee des Christenthums zu bestimmen, so ist auch die historische Theologie verschieden, wie z. B. aus der verschiedenen Auffassung der Reformation erhellt. Die Schäzung der Begebenheiten bey einem protestantischen und katholischen Geschichtsschreiber ist von Anfang an verschieden. Man sagt der Geschichtsschreiber soll unparteyisch seyn; aber dieß kann er doch nicht soweit, daß er aus seiner eignen Haut herausgeht. Unparteylich kann er nur dann in diesem Sinne seyn, wenn er blos bey dem Äusserlichen stehen bleibt. Die historische Theologie soll auch die Begründung der praktischen seyn. Wenn wir die historischen Momente theils als Fortschritte, theils als Rückschritte betrachten, so müssen Maximen entstehen, um zu bezeichnen, wie das was früher geschehen ist, zu bewirken oder zu vermeiden sey. – In diesem Verhältniß der philosophischen, historischen und praktischen Theologie liegt zugleich das Methodologische, in welcher Ordnung sie zu studiren sind, – wovon §. 29 weiter. § . 2 8 . Die historische Theologie ist der eigentliche Körper des theologischen Studiums. Dieß läßt sich auf zweierley Weisen verstehen, einmal der Masse nach, daß die größten Massen theologischer Elemente in der historischen Theologie sind. Aber der Körper ist keine blose Masse sondern eine Organisation. Die historische Theologie ist am manchfaltigsten in sich organisirt, die andern beyden einfacher, was von selbst daraus hervorgeht, daß die eine nur die Grundbegriffe

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aufzustellen hat, die andre nur die Kunstregeln. – Zu diesem Körper des theologischen Studiums verhalten sich nun die zwey andern theologischen Disciplinen als Übergänge, die eine zur eigentlichen Wissenschaft, die andre zum thätigen Leben. D e r Zu s a z geht auf eine gewisse Universalität der historischen Theologie. Sie schließe sowohl die philosophische als die praktische auf | geschichtliche Weise in sich. Es gab eine Kirchenleitung ehe es eine Theologie gab, also auch ehe es die Geschichte der Kirche, eine historische Theologie gab. Wenn also die Theologie eintritt, so hat immer die Kirchenleitung schon eine Geschichte, und diese muß die historische Theologie in sich aufnehmen, sie muß zeigen, wie die Kirche zu verschiedenen Zeiten ist geleitet worden. Die Maximen dieser Leitung muß die historische Theologie zur Darstellung bringen. Dasselbe muß auch von der philosophischen Theologie gelten. Sobald sich Differenzen im Christenthum entwickelt haben, so muß auch Verschiedenheit gewesen seyn in der Vorstellung von dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums. Dieß war schon in den Anfängen des Christenthums, z. B. in dem Gegensaz von Judenchristen und Heidenchristen, – diese hatten eine ganz andre Ansicht vom Wesen des Christenthums als jene, also eine verschiedne philosophische Theologie. Dieß muß ebenfalls die historische Theologie darstellen. So schließt sie die zwey andern auf geschichtliche Weise in sich. Werden wir nun nicht ebenso sagen müssen, daß die praktische Theologie die zwey andern enthält auf technische Weise, und daß die philosophische Theologie beyde andern in sich schließt, aber nur implicite, weil sie die Principien enthält? Dieß ist nun eben das Wesen der Theologie als eines Ganzen, daß kein Theil derselben absolut ausser dem anderen ist. Darin liegt auch ein Grund der Zuversicht, daß in dieser Organisation alle theologischen Disciplinen enthalten seyn werden. § . 2 9 . Die im §. 27 enthaltene Ordnung des theologischen Studiums wird nun in diesem §. weiter ausgeführt und weiter im 30. §. Dem § 27 zufolge müßte das theologische Studium anfangen mit der philosophischen Theologie. Man kann sagen, daß es geschichtlich damit angefangen habe; Hier aber wird gesagt, daß das theologische Studium damit zwar beginnen sollte, daß aber dazu erforderlich wäre, daß die philosophische Theologie als Einheit ausgebildet wäre, was aber nicht der Fall ist. Was demnach zuerst und vor allem andern in der Wirksamkeit gewesen ist, (die philosophische Theologie) ist noch heute nicht wissenschaftlich ausgebildet. Für die encyclopädische Darstellung aber bleibt es bey der im § 27 | angegebenen Ordnung. Bleiben wir nun dabey stehen, daß die philosophische Theologie noch nicht als Einheit der Disciplin ausgebildet ist, aber ihre einzelnen Theile sind ausgebildet, so berechtigt dieß doch nicht, das Studium

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damit anzufangen, denn in dieser Vereinzelung hat man nicht das, was die philosophische Theologie für das Studium leisten soll. Hier muß anticipirt werden, daß in der philosophischen Theologie die zwey Disciplinen, Polemik und Apologetik, Eines bilden, in dieser Einheit aber ist dieser HauptTheil nicht ausgebildet, sondern nur jede dieser Disciplinen für sich. So aber können sie das nicht leisten, was durch die philosophische Theologie geleistet werden soll. Nun fragt sich also – das Verhältniß zwischen der historischen und praktischen Theologie bleibt, – aber es fehlt, indem das Studium der historischen Theologie anfängt, das Fundament dieser, das in der philosophischen Theologie liegt. Hierüber wird nun gesagt, es müssen eben die einzelnen Theile der philosophischen Theologie fragmentarisch mit dem Studium der historischen gewonnen werden. In dieser kommen nämlich auf eine geschichtliche Weise auch die Hauptsäze der philosophischen Theologie vor, und dadurch muß sich die philosophische Theologie im Studirenden gestalten. In der historischen Theologie müßte also vorkommen, was zu gewissen Zeiten als das Wesen des Christenthums gegolten hat, wie sich die Ansicht darüber verschieden modificirt hat: daraus nun muß sich jeder seine eigne Vorstellung von dem Wesen des Christenthums bilden, und dann hat er das Fundament für sich, worauf er zu bauen hat. Wenn nun hier gesagt wird, dieß seze das Studium der Ethik voraus, so ist davon schon oben die Rede gewesen. Indem nämlich aus der Ethik die ReligionsPhilosophie abgeleitet ist, so würde es ohne das Studium der Ethik nicht wohl möglich seyn sich eine philosophische Theologie zu bilden. Es kommt ja darauf an, in der Geschichte zu unterscheiden, was Fortschritt und Rückschritt ist, und dazu kann man die Principien in der Ethik finden, welche die Wissenschaft der Principien der Geschichte ist, daher des Maßstabs wornach die Erscheinung der Geschichte an die Idee gehalten wird. Der Zu s az stellt ein Dilemma auf das hart klingt, aber zu reiflicher Erwägung zu empfehlen ist. Es ist nämlich von der historischen Theologie gesagt, daß ohne Beziehung auf ethische Säze dieses Studium nothwendig in geistlose Ueberlieferung ausarten müsse. Was hier nur von | der historischen Theologie gesagt ist, gilt von der Geschichte überhaupt. Es ist zu unterscheiden das blose Auffassen einer räumlichen und zeitlichen Erscheinung und die eigentlich geschichtliche Auffassung, die immer auch ein Urtheil über die Erscheinung in sich schließt. Dieß wird recht klar wenn man sich vergegenwärtigt, daß nichts was eigentlich Geschichte ist, ohne Urtheil seyn kann, denn der Inhalt wird aufgenommen auf geistige Weise nur vermittelst eines Urtheils, indem ja der Inhalt auf Begriffe zurückgeführt werden muß. 22 Vgl. oben zu § 23 (294,20–24)

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Die Principien dieses Urtheils sind aber immer ethischer Natur. Dasselbe muß nun auch von der historischen Theologie gelten. Das fortwährende Studium der historischen Theologie muß also auch zur Entwicklung der philosophischen Theologie beytragen, weil immer auf die ethischen Säze zurückgegangen wird und zwar auf diejenigen welche sich auf das Religiöse beziehen. Aus diesem mangelhaften und mechanisch gewordenen Studium der historischen Theologie ist zu erklären der verworrene Zustand der Theologischen Disciplinen. Da die historische Theologie der eigentliche Körper des theologischen Studiums ist, so müssen wir sagen: wird die historische Theologie nur mechanisch betrieben, so muß dieß auf alle theologischen Disciplinen Einfluß haben. Wäre die philosophische Theologie als Einheit der Disciplin ausgebildet, dem ungeachtet aber würde die historische Theologie nur als Ueberlieferung betrieben, so wäre dieß eine Verwirrung in sich selbst, die philosophische Theologie müßte auch blos Mechanisch seyn, sonst müßte sie auf die historische Einfluß haben. Dann also hätte man die Principien, nur daß sie nicht in Anwendung kämen. So ist es aber nicht, sondern man gebraucht keine Principien, weil man keine hat. Hieraus wird nun gesagt, erklärt sich auch der Mangel an Sicherheit in der KirchenLeitung. § . 3 0 wird nun, wie in dem vorigen von der philosophischen Theologie ausgegangen war, von der praktischen ausgegangen. Diese ist nämlich, wie schon oben gesagt war, sehr ungleichförmig ausgebildet, es fehlt noch ganz die Technik in Beziehung auf die Kirchenleitung im Großen. Diese kann nur ausgebildet werden, wenn sich die historische Theologie immer mehr losmacht von dem blos Traditionellen, und sich immer | mehr einen ethischen Charakter giebt. Nun ist aber auch im zweyten Theil des §. von dem schon bearbeiteten Theil der praktischen Theologie, der Mittheilung der Regeln für die einzelne Geschäftsführung, gesagt, daß sie nur mechanisch wirken kann, wenn ihr nicht die historische Theologie vorangegangen ist. Wenn wir diesen Theil betrachten, so finden wir eine große Menge von Lehrbüchern in Beziehung auf etwas an sich ganz Zufälliges, nämlich die öffentliche Mittheilung in der Form der Predigt. Diese Zufälligkeit ist am allerreichlichsten behandelt. Hier kann man nicht gerade sagen, daß die Vorschriften mechanisch wären. Doch ist auf zweierley aufmerksam zu machen. Wenn das Zufällige nicht als solches erkannt wird, so können die Vorschriften darüber nicht aus der Natur der Sache genommen seyn, und so wird immer etwas Mechanisches dabey seyn. Das greift dann gar sehr auch in die Kirchenleitung 24 Vgl. oben zu § 25 (296,37–39)

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im Großen hinein. Was nun das große Detail in diesen Bearbeitungen betrifft, so geht dieß meistens auf Fremdes zurück, auf Rhetorisches, von welchem die Anwendung auf das Christenthum nur richtig seyn kann wenn das Wesen des Christenthums richtig aufgefaßt ist in der philosophischen und historischen Theologie. Der Zusaz warnt nun, die praktische Theologie einem grundsäzlichen Studium der historischen und philosophischen Theologie voranzuschicken. Daraus folgt nämlich eine Oberflächlichkeit in der Praxis, d. h. daß man sich der Gründe der Thätigkeit nicht bewußt ist, deren man sich nicht bewußt seyn kann ohne philosophische und historische Theologie. Wenn man das Geschichtliche nicht gegenwärtig hat, worinn auch die praktische Theologie geschichtlich mitenthalten ist, und man also nicht vergleichen kann den gegenwärtigen Zustand dieser Angelegenheit mit den frühren, so entsteht daraus die Gleichgültigkeit gegen die wissenschaftliche Fortbildung, denn wenn man ganz in der Praxis wie sie einmal ist, befriedigt ist, hat man auch keinen Reiz sich wissenschaftlich fortzubilden. § . 3 1 . Faßt das Bisherige zusammen und sagt, daß es nichts geben könne, was zum theologischen Studium gehöre, das nicht in einer von diesen drei Abtheilungen zu finden sey. Dabey wird die Richtigkeit des Verfahrens in dieser Encyclopädie vorausgesezt, daß nämlich aus der Beziehung der Theologie auf die Kirchenleitung ihre wesentlichen Elemente hergeleitet sind. Es giebt nun allerdings eine andre Verfahrungsweise, daß man nämlich von dem Gegebenen ausgeht. Man sagt: Zum theologischen | Studium gehört gegenwärtig dieses und dieses. Die theologische Literatur enthält diese verschiedenen Theile, – und nun wird gefragt: wie hängt dieses unter sich zusammen? Schlägt man nun hiebey nicht unsre Methode ein, so kann es nur eine willkührliche Zusammensezung geben. Es könnte ja a) einer sagen: dieß ist das theologische Studium jezt, aber vor Jahrhunderten gieng die theologische Literatur nicht in diesen Rubriken auf und gliederte sich das theologische Studium nicht so, und es fragt sich ob jenes nicht besser war? Dagegen ist nun kein andres Mittel, als die Theologie ihrem Zweck nach zu theilen. Daher haben wir aber eine Eintheilung erhalten, die mit dem Gegebenen nicht übereinstimmt, indem wenigstens viele Theile in dem gegenwärtigen Zustand einen ganz andern Plaz und Werth haben als sie haben sollten. – Allerdings scheint nun dagegen eine Einwendung gemacht werden zu können. Wir haben für die menschlichen Dinge kein bestimmtes Maß, und können nicht sagen, was für ein Ganzes der geschichtlichen Entwicklung lang oder kurz ist. Wenn wir aber vom Christenthum nicht leugnen können es hat schon mehrere Perioden durchgemacht, wo allemal nach einem gewissen Punkte etwas wieder von vorn angefangen hat, – so wäre es

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etwas Sonderbares, wenn irgendein wesentliches Element noch gar nicht sollte zum Vorschein gekommen seyn. Wenn also jemand aus dem Princip des Christenthums Elemente ableitete, die bisher nicht vorhanden waren, so würde wohl jeder dieß sehr verdächtig finden. Dieß ist nun hier nicht der Fall, mit Ausnahme der philosophischen Theologie, welche aber auch in ihren Theilen schon vorhanden ist; aber auch dieses ist nicht so dem Geschichtlichen entgegen, denn selbst der Zusammenhang beyder Disciplinen der philosophischen Theologie war wirklich vorhanden, wurde nur nicht wissenschaftlich aufgefaßt. Im Zu s a z ist gesagt, vorausgesezt die Eintheilung sey erschöpfend, so würde immer der Umstand eintreten, da man die Theile nur successive behandeln kann, daß man von jedem würde Manches voraussezen müssen, was erst in dem andern seinen Ort hat. Dieß würde dasselbige seyn, bey welchem Theile wir auch anfangen wollten. Damit hat es nun diese Bewandtniß. | Erstlich kann es nicht anders seyn, und zweytens kann es kein wesentlicher Nachtheil seyn. Wenn wir nämlich darauf sehen, wie die christliche Theologie von Anfang an entstanden ist, so war die christliche Kirche immer schon früher, und so ist auch jezt für jeden Einzelnen die christliche Kirche früher als die Theologie. Wenn nun der angeführte Umstand sich so verhielte, daß wir, wenn wir den einen Theil behandeln, wir aus dem andern etwas voraussezen müßten in seiner wissenschaftlichen Gestalt, dann wäre es übel, wir wären in einem Kreise befangen. So ist es aber nicht, es wird nur die Kenntniß von demjenigen was in der christlichen Kirche ist vorausgesezt, nicht als Element der Theologie, sondern so wie es sich im Bewußtseyn jedes gebildeten Christen findet. Also wird nur vorausgesezt, was nothwendig vorauszusezen ist, daß jeder das Bewußtseyn der christlichen Kirche in sich trage. Auf dieselbige Weise wie hier gezeigt ist, daß es unschädlich sey, würde sich nun auch die Unendlichkeit zeigen. Dieses hat seinen Grund darinn, daß wir die christliche Kirche als einen Organismus eines geistigen Lebens behandeln, da kann es nicht anders seyn, – der gegenseitige Zusammenhang aller einzelnen Glieder ist ein wesentliches Merkmal des Organischen, und es läßt sich keine genaue Betrachtung des Einzelnen aufstellen ohne das Ganze. Fände dieß statt, so wäre der Verdacht begründet, daß die Behandlung eine mechanische sey. |

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Nach §. 24 besteht die Aufgabe der philosophischen Theologie darinn, das Wesen des Christenthums als dasjenige wonach es eine eigenthümliche Gestaltung der Religion ist, zur Darstellung zu bringen, und die dadurch mitbestimmte Form der christlichen Gemeinschaft. Dabey war zurückgegangen auf die Ethik, welche nachzuweisen habe alle Formen freier geistiger Thätigkeit im menschlichen Leben. Ist nun die fromme Gemeinschaft etwas Wahrhaftes, so muß sie sich nachweisen lassen in dem Complexus freyer Thätigkeiten, die der Natur des Menschen entsprechen. In das Gebiet dieser Wissenschaft gehört auch noch, die Modificabilität dieser Thätigkeit nachzuweisen, das Maß möglicher Differenzen in dieser zu bestimmen. Daher bekommen wir eine weitre, aber schon angewandte philosophische Disciplin, die ReligionsPhilosophie, welche die Differenzen, die innerhalb des religiösen Elements möglich sind, auseinandersezt, und das Eigenthümliche der geschichtlich gegebenen Glaubensgemeinschaften darauf bezieht, und diese untereinander classificirt. Unter diese gehört wesentlich auch das Christenthum; die Religionsphilosophie also hat zu zeigen, wie das Christenthum sich zu den übrigen Glaubensgemeinschaften verhält in Bezug auf die Modificabilität der frommen Gemeinschaften überhaupt, wobey aber das Christenthum als historisch Gegebenes vorausgesezt wird. § . 3 2 . sagt nun, das Christenthum lasse sich weder rein construiren, noch blos empirisch auffassen. Es sey vielmehr eine kritische Operation, das Wesen des Christenthums nachzuweisen, woraus folgt, daß die philosophische Theologie eine kritische Disciplin ist. Der Ausdruck kritisch ist sehr weitschichtig, wir müssen uns näher verständigen, wie der Ausdruck zu verstehen ist. Dieß ist im §. selbst gegeben, wo gesagt wird, kritisch sey die philosophische Theologie weil sie aus dem Gegeneinanderhalten des im Christenthum historisch gegebenen und der Differenzen im Begriff frommer Gemein|schaften bestehe. In Bezug auf §. 23 ist nun zu bemerken, daß es so aussieht, als ob die philosophische Theologie somit dasselbe wäre, was dort Religionsphilosophie heißt. Aber die Religionsphilosophie hat dieß zu leisten in Bezug auf alle geschichtlich gegebenen Glaubensweisen, und

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sie hat die geschichtliche Entwicklung aller dieser Glaubensweisen in ihrer Beziehung zu dem Wesen der Religion zu erkennen. Da ist das Christenthum nur eine einzelne geschichtliche Erscheinung, wie alle andern. Die philosophische Theologie fängt nun allerdings mit diesen Resultaten der Religionsphilosophie an. Diese aber ist auch als wissenschaftliche Disciplin noch nicht ausgebildet; es giebt eine Menge einzelner Versuche, nicht über einzelne Religionen blos, sondern auch einer Zusammenstellung; aber man kann noch nicht sagen, daß die Religionsphilosophie in diesem Sinne in den Complexus der philosophischen Wissenschaften aufgenommen wäre. Daher steht es mit der philosophischen Theologie nicht so, daß sie nur auf die Resultate der Religionsphilosophie zurückgreifen könnte, sondern es muß die Operation selbst gemacht werden: Daher muß dieß in der philosophischen Theologie selbst geschehen, unerachtet, wenn die Religionsphilosophie ausgebildet wäre, wir nur auf ihre Resultate zurückgehen müßten. Nun wollen wir die Voraussezung betrachten, daß das Wesen des Christenthums sich weder construiren noch empirisch auffassen lasse. Dieß ist der allgemeine Begriff des Individuellen im Gebiete des Lebens. Wir können nämlich durch das Herabsteigen von allgemeinen Begriffen zu untergeordneten niemals zu dem wirklichen Einzelnen kommen. Das Einzelne ist immer irrational gegen das Allgemeine und Besondere. So in der Naturbeschreibung sind überall allgemeine Begriffe zu Grunde gelegt von dem behandelten Theil der Natur, und von diesem werden Classen abgeleitet, aber die einzelnen Erscheinungen lassen sich nicht so construiren. Wo nun das Wissenschaftliche aufhört, da fängt das Empirische an, aber doch läßt sich das eigenthümliche Wesen nicht blos empirisch auffassen. Nehmen wir ein einzelnes Wesen, das wir ganz genau aufgefaßt haben durch die Vorstellung, so haben wir darinn nur die Totalität der äussern Erscheinung. Aber die Subsumtion dieser mit andern unter ein Allgemeines, woraus allein ihr Verhältniß zu andern sich ergiebt, haben wir damit nicht, und so auch nicht das eigenthümliche Wesen. Z. B. im Politischen läßt sich der Begriff des Staates und der verschiedenen Arten des Staates Monarchien pp construiren; aber | daraus haben wir noch nicht das eigenthümliche Wesen eines einzelnen Staates. Jeder einzelne Staat ist entweder Monarchie p, aber er ist nicht dieses selbst, sondern nur eine Modification davon. Man kann freylich den Begriff von Demokratie p noch weiter eintheilen, aber auch damit werden wir nicht auf die einzelnen Staaten kommen, denn jeder von diesen wird etwas in Beziehung auf den Begriff Zufälliges enthalten, was aber doch zu seinem Wesen gehört. Daher muß die Auffassung des Individuellen aus beydem gemischt seyn, es kann als Einzelnes nicht construirt werden,

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aber als das Wesen in sich schließend auch nicht blos empirisch erkannt. Im Zusaz sind die einzelnen Glaubensgemeinschaften verglichen mit den einzelnen Menschen, und so wenig diese nach ihrem individuellen Charakter sich construiren lassen, ebensowenig auch die Eigenthümlichkeit der Gemeinschaften. Dieß beruht auf einer Analogie, die so klar ist, daß man im gemeinen Sprachgebrauch einzelne Gemeinschaften moralische Personen nennt. Wenn wir nun sagen, der einzelne Mensch verhält sich doch ganz anders zu seinen Volksgenossen als zu Fremden: so ergiebt sich, daß das Volk selbst ein Individuum ist, eine Persönlichkeit höherer Art weil sie eine Menge und Aufeinanderfolge von Persönlichkeiten producirt. Dieß wird nun auf den Staat übertragen, und weiter werden wir sagen können, daß jede Gemeinschaft Mehrerer, welche auf ein wesentliches Element des geistigen Lebens zurückgeht, sich als eine solche Persönlichkeit behandeln läßt. Wie ist nun näher der Ausdruck kritisch zu nehmen? Er ist erklärt durch das Gegeneinanderhalten des empirisch Gegebenen und der Gegensäze des Begriffs selbst. Wenn die Ethik unter mehreren Formen der menschlichen Thätigkeit auch die Frömmigkeit gefunden hat, so muß die ReligionsPhilosophie dieses Gebiet weiter theilen, und der Vergleich des historisch gegebenen damit ist hier kritisch genannt. In dem Ausdruck kritisch liegt das Vergleichen und Sondern, das durch die Vergleichung Bestimmen. Ist nun unter der Voraussezung der ReligionsPhilosophie diese Operation möglich? Diese Frage reducirt sich nun darauf, ob die Erscheinung festgehalten werden kann in ihrem Unterschiede von andern, um sie als | einen festen Gegenstand an das wissenschaftliche Element zu halten. Es hat ein geistreicher Schriftsteller auf die Frage, was das Christenthum sey, geantwortet, es sey das, was die Christen seit 18 Jahrhunderten machen. Darinn liegt das Wahre, daß sich das Christenthum festhalten läßt als geschichtliche Erscheinung, troz allem Wechsel. Der Anfangspunkt des Christenthums ist uns bestimmt gegeben, denn dieß ist das Auftreten Christi, und alles, was sich seitdem daran angeknüpft hat, was die Christen gemacht haben, läßt sich unterscheiden von Anderem. Freylich ist im12 übertragen] übergetragen 27–29 Vgl. Friedrich Schlegel: „A. Sie behaupten immer Sie wären ein Christ. Was verstehn Sie unter Christenthum? – B. Was die Christen als Christen seit achtzehn Jahrhunderten machen, oder machen wollen. Der Christianismus scheint mir ein Faktum zu seyn. Aber ein erst ange|fangnes Faktum, das also nicht in einem System historisch dargestellt, sondern nur durch divinatorische Kritik charakterisirt werden kann.“ (Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Band 1, Erstes Stück, Berlin 1798, S. 59f; Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 201)

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mer etwas Zweyfelhaftes dabey. Wenn einige von Christo glaubten, er sey die WiederErscheinung eines alten Profeten, so fragt sich: sind diese Christen gewesen? und gehören sie mit in die Erscheinung, die wir festhalten müssen? – so ist dieß zweyfelhaft, aber dieß sind immer nur die äussersten Grenzen, welche schwanken. Ebenso im weitren Verlauf mit den Ketzern. Es giebt aber dabey immer einen Kern in der Mitte, von dem jeder zugeben muß, daß er das Wesentliche in der Erscheinung des Christenthums sey, während man das Andre bey Seite läßt, bis man durch die von dem Festen aus unternommene kritische Operation auch allmählich ein Urtheil darüber bekommt. § . 3 3 bezeichnet den Ausgangspunkt der philosophischen Theologie. In der früheren Ausgabe stand blos, daß die philosophische Theologie sich über das Christenthum stellen müsse. Dieß sah ein Recensent so an, als ob es hieße, sich über Christum stellen. Daher ist jezt ein Zusaz gemacht worden, daß dieß nur im logischen Sinne zu nehmen sey, denn es ist ein allgemeiner Sprachgebrauch, daß man den allgemeinen Begriff (wie hier des Gottesbewußtseyns und der Glaubensgemeinschaft) den höheren nennt. Nur aus diesem allgemeineren Begriff können die möglichen Differenzen in Gegensäze gebracht werden, auf welche dann die einzelnen historischen frommen Gemeinschaften kritisch bezogen werden. Das Christenthum wird also nicht aus dem höheren Begriff abgeleitet, sondern es wird historisch vorausgesezt, und bekommt durch jene Ableitung nur seinen bestimmten Ort in dem Complexus aller frommen Gemeinschaften. De r Zu s a z macht eine Bemerkung über den Werth dieses Sazes, daß er nämlich nicht blos für die christliche, sondern auch für jede andre Theologie gelte. In dem ersten Theil des Zusazes ist noch eine Erklärung gegeben über die Art und Weise zu dem Verständniß einer bestimmten Glaubensweise zu gelangen, etwas anders als | dieß oben ausgedrückt war, nämlich durch Verständniß des Neben und Nacheinanderseyns mit andern Glaubensgemeinschaften. Diese andern müssen aber ebenso kritisch aufgefaßt worden seyn, und je mehr es hierüber Vorarbeiten giebt, desto besser kann unsre philosophische Theologie sich ausbilden. Dieser Punkt hat für die christliche Theologie nur in zweierley Beziehung einen bestimmten Werth, nämlich einmal muß allerdings etwas Festes aufgestellt werden über das Verhältniß des Christenthums zum Judenthum als einer vorherbestandenen Gemeinschaft, und über diesen Punkt findet noch ein großer Dissen1–2 Anspielung vielleicht auf Lk 9,19 12–13 Vgl. KD1 I Einl. § 4: „Der Standpunkt der philosophischen Theologie in Beziehung auf das Christenthum überhaupt ist nur über demselben zu nehmen.“ (KGA I/6, S. 256,16f) 13–14 Vgl. oben Anm. zu 48,2–3

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sus statt, welchen zu schlichten eine Aufgabe der philosophischen Theologie ist. Die zweyte Beziehung ist die des Christenthums auf andre ihm in gewissem Sinne verwandte Religionen, denn je fremder desto weniger hat der Vergleich Nutzen. Das am meisten Verwandte nun ist das Monotheistische, und da wäre ausser dem Judenthum das Verhältniß des Christenthums zum Islam auszumitteln. § . 3 4 hat es nun mit demjenigen Theil der Aufgabe zu thun, welcher die Beziehung der geschichtlichen Erscheinung zu der Idee des Christenthums ist. Da wird nun gesagt, daß dieses Verhältniß eines bestimmten Zustands zur Idee sich zeige 1) durch den Inhalt dieses Zustands, 2) durch die Art wie er geworden ist. – Das erste giebt nun wohl jeder zu, daß wenn man den Inhalt eines Momentes wirklich auffassen kann, sich bestimmen lassen müsse, was von diesem Momente aus in den künftigen bleiben muß oder was in den künftigen geändert werden muß, d. h. was der Idee angemessen ist oder nicht. Weniger deutlich kann das Zweyte scheinen, nämlich gleichsam absehend von dem Inhalte zu sagen, daß die Wahrheit eines geschichtlichen Moments bestimmt werden kann durch die Art wie es geworden ist. Wenn wir z. B. denken, es sey ein Dogma zu Stande gekommen in einer gewissen Bestimmtheit durch eine politische Intrike, so werden wir geneigt seyn zu sagen, – ganz abgesehen vom Inhalte, – dieß könne keinen Werth haben, weil es gar nicht zeigt, daß die Idee des Christenthums darauf Einfluß gehabt habe. Denn das ist es, worauf die ganze Position beruht, daß, was wir den Begriff oder das Wesen des Christenthums nennen, nicht blos eine abstracte Vorstellung ist, sondern eine der geschichtlichen Erscheinung innwohnende Kraft ist, und der Ausdruck geworden soll nur die Art anzeigen, wie etwas aus der innerlichen Kraft des Christenthums hervorgegangen ist oder nicht. | So werden wir sagen müssen, was nicht aus dem Wesen des Christenthums hervorgegangen ist, dieß muß verbannt werden, denn wäre es auch zufällig richtig, so müßte es doch wieder aufgehoben und auf richtigem Wege wieder erzeugt werden. Der Zu s az zu dem §. nimmt nun eine solche Möglichkeit gar nicht an, indem er behauptet, daß der Inhalt eines Zustands, welcher der Idee entspricht, auch aus der Idee hervorgegangen seyn muß, und umgekehrt, Was nicht aus der Kraft der Idee hervorgegangen ist, das kann auch nicht das Richtige seyn. Ebenso was unrichtig ist, das muß auch auf falschem Wege entstanden seyn. Wenn wir also zu Grund legen die Einheit einer Kraft die der Erscheinung zu Grund liegt, so muß jede Action dieser Kraft ein Spiegel dieser Kraft seyn, sie muß darinn zu erkennen seyn. Wenn in einer geschichtlichen Erscheinung etwas andres zu erkennen ist als diese Kraft, so muß sie auch aus diesem andern entsprungen seyn. Denken wir nun so auf der einen

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Seite diese innere Kraft, auf der andern Seite aber die Möglichkeit fremdartiger Einwirkungen – so denken wir immer auch die Möglichkeit, daß von demselben Punkt aus Verschiedenes geschehen könne. Ist auf einem gewissen Punkte die Kirche noch nicht in ihrer Vollendung, so werden Elemente von entgegengeseztem Werthe in dem Momente vorhanden seyn, und daher ist möglich, daß im folgenden Momente das Unangemessne weggeschafft wird, oder aber daß es überhandnimmt. Jenes ist Fortschritt, dieses Rückschritt. Diese verschiedenen Möglichkeiten sezen einen verschiedenen Prozeß voraus, eine verschiedene Art des Werdens. – Sind nun so beyde Momente bedingt durcheinander so muß es dasselbe Resultat geben, ob ich auf den Inhalt oder auf die Genesis sehe. Aber eines von beyden kann in mehreren Fällen zweyfelhaft seyn: der Inhalt kann mich zweyfeln lassen, ob er der Idee angemessen ist; nun sehe ich auf die Genesis, und finde ich nun, daß er nicht auf die rechte Weise entstanden ist, so bin ich schon entschieden, daß der Inhalt selbst falsch ist. Sehen wir nun nochmals auf die Möglichkeit, daß auch auf unrichtige Weise etwas Richtiges entstehen könne. Unsre gegenwärtige Trinitäts-Lehre ist ein Produkt der arianischen Streitigkeiten; und in diesen Verhandlungen ist sehr viel vorgekommen von verdächtiger Art, Intriken, Leidenschaften pp und was auf einem leidenschaftlichen Wege entsteht und doch soll ein Lehrsaz werden, | das kann unmöglich so das Richtige seyn. Daraus würde folgen, wenn die unrichtige Genesis nachgewiesen ist, so müßte es umgebildet werden. Die vorhin angenommene Möglichkeit aber würde noch unbenommen lassen, daß der Inhalt richtig wäre. Gleichzeitig mit dieser TrinitätsLehre entstand auch ihr Gegensaz, die arianische, als strenger Gegensaz muß die eine richtig, die andre falsch seyn, und doch sind beyde leidenschaftlich entstanden. Nun wird aber Niemand behaupten, daß dieß ein strenger Gegensaz sey, sondern Gegensäze zum athanasianischen giebt es noch andre als die arianische pp. Wie wäre es nun möglich bey einer solchen Lehre das Leidenschaftliche abzustreifen, den Inhalt aber zu lassen? Hier ist aber die Form der Lehre durch Leidenschaft entstanden, und diese Form ist das Wesentliche. Wir bekommen so zu unterscheiden einen wesentlichen und einen geschichtlichen Inhalt, und nur der leztre soll weggewischt werden. So werden wir sagen können: der Ausdruck Person oder Hypostase sey nur im Gegensaz entstanden, und zufällig, das Wesentliche sey davon unabhängig. Aber so wie wir jenen Ausdruck ändern, so wird auch das geschichtliche Factum aufgehoben, und nur von diesem ist die Rede. Insofern ist der Saz richtig, daß Ursprung und Inhalt durcheinander bedingt seyen. § . 3 5 . Hier erst kann erörtert werden, wiefern die Ethik die Wissenschaft der Geschichtsprincipien ist. Hier wird vorausgesezt, daß

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der menschliche Geist eine Lebenseinheit ist, die sich in Raum und Zeit entwickelt. Die Geschichte muß die Tendenz haben, die wesentlichen Momente dieses Geistes der Erscheinung immer mehr einzubilden, und insofern die Ethik jene Momente darstellt, so ist sie die Wissenschaft von den Principien der Geschichte. So wie man die SittenLehre gewöhnlich ansieht, so stellt sie nur Aufgaben, wie sie gefordert werden vom einzelnen Menschen, und dieß scheint in Bezug auf die Geschichte ausgeschlossen. Denken wir uns aber 1) diese Aufgaben am Anfang gestellt, so können sie nur in einem Zeitverlauf gelöst werden, und diese Form der zeitlichen Lösung ist mit aufzustellen. Fassen wir die ganze sittliche Aufgabe als Eines, und stellen sie so: | der Mensch soll sich der Vollkommenheit befleißigen, so liegt darinn schon, daß er dieß nur in der Zeit thun kann, und dieß ist das eine Element der Geschichte. Andrerseits ist die Aufgabe jedes Einzelnen zugleich die des andern, und sobald wir uns ein Anerkennen der Identität des Geistes in den Einzelnen denken, so entsteht eine Gemeinschaftlichkeit, und dieß ist das andre Element der Geschichte. Wenn z. B. das Erkennen aufgestellt wird als eine solche nothwendige Thätigkeit des menschlichen Geistes, so kann dieß im Einzelnen erst in allmähliger Entwicklung geschehen, aber ebenso folgt auch von selbst, daß jeder suchen muß, die Wahrheit mitzutheilen, und da haben wir also die Gemeinschaftlichkeit. Wenn wir nun sagen, es entwickelt sich hieraus in dem Maß als die Menschen miteinander in Verbindung stehen, ein gemeinsames Streben, das Wissen zu Stande zu bringen, – so ist dieß ein geschichtliches Resultat, und die Ethik stellt die Principien dazu auf, und nun weiß jeder daß es nicht ein zufälliges ist. In diesem Sinn ist die Ethik die Wissenschaft der Geschichtsprincipien. Die Abzweckung des § ist nun, zu sagen, daß die Aufgabe der philosophischen Theologie, zu finden was im Verlauf des Christenthums Ausdruck seiner Idee sey und was nicht – ihrer kritischen Natur nach aus der Ethik herausfalle. Diese Betrachtung gehört auch nicht mehr in die ReligionsPhilosophie, sondern in die positive Theologie, weil sie ihren unmittelbaren Bezug hat auf die Kirchenleitung. Hier ist nun einander gegenüber gestellt der positive Werth, daß nämlich ein geschichtlich gegebenes reiner Ausdruck seiner Idee sey, der negative Werth ist bezeichnet als KrankheitsZustand. Dem entspricht nun eigentlich der Ausdruck Gesundheitszustand, und wirklich nur sofern die Erscheinung reiner Ausdruck der Idee ist, ist sie gesund. Aufzustellen nun was so oder so anzusehen ist, oder Principien der Beurtheilung aufzustellen, ist Aufgabe der philosophischen Theologie. Hier sind wir nun schon in der unmittelbaren Beziehung auf die Kirchenlei8 Der „1)“ folgt keine „2)“.

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tung und da erscheint die Aufgabe der philosophischen Theologie hiedurch schon erfüllt. § . 3 6 wird aber doch noch eine neue Forschung aufgegeben. Es wird nämlich das Faktum vorausgesezt, daß das Christenthum sich in eine Mehrheit von KirchenGemeinschaften theile. Dieses Faktum wird hier vorausgesezt. Insofern nun die Organisation der Theologie auf dieses Faktum gebaut wird, so ist diese darauf gebaute Organisation entweder selbst eine bedingte, sie gilt nur solang das Faktum vorhanden ist; oder das Faktum | ist ein nothwendiges, bey dem es sein Bewenden hat. Was wollen wir nun zu diesem Factum sagen? daß es ganz bestimmt vorhanden ist, und unsre Theologie dadurch bestimmt ist, ist offenbar. Man muß aber in Bezug auf obiges Dilemma in einer Hinsicht das eine, in der andern das Andre behaupten. Vorübergehend ist die gegenwärtige Gestalt des Gegensazes, Niemand wird behaupten, daß der Gegensaz zwischen Katholizismus und Protestantismus in ihrer jezigen Gestalt immer fortdauern werde, da sie aufeinander wirken, so müssen wir auch eine Annäherung für möglich halten. Aber wir können behaupten, die Christenheit wird immer in eine Mehrheit von kirchlichen Gemeinschaften getheilt bleiben, weil nicht alle in gehöriger Verbindung stehen; aber diese Theilung kann zu verschiedenen Zeiten eine ganz verschiedene seyn. In dem Z u s az wird nun auf das Verhältniß Rücksicht genommen, in welchem diese getrennten Gemeinschaften zu einander stehen. Jede könnte alle andern als krankhaft gewordene Theile erklären, und selbst in dieser Voraussezung, wird gesagt, fallen doch die Ansprüche aller dem kritischen Verfahren anheim, weil es doch untersucht werden muß, ob es sich wirklich so verhält. Die protestantische Kirche hat diesen Anspruch niemals gemacht, alle andern für ihrem Wesen nach krankhaft zu erklären, wenn sie gleich behauptet hat, daß sie vom krankhaften Zustand der anderen sich freygemacht habe. Es giebt hier zwey Fälle; wenn die christliche Kirche nur geografisch getrennt wäre, so läge darinn kein Grund einer solchen Ansicht. Aber wenn die Trennung durch Streit entstanden ist, wie im Verhältniß der protestantischen und katholischen Kirche, so werden wir es hier natürlich finden, daß jede die andre für krankhaft erklärt, denn der Streit konnte gar nichts andres betreffen als dieses. Die Folgerung daraus ist die, auch unsre philosophische Theologie kann sich nicht weiter erstrecken, als daß sie protestantisch sey. Das bisher ausgeführte Allgemeine findet seine besondere Anwendung in der protestantischen Kirche. Hier sind zwey Krankheitszustände einer einzelnen Gemeinschaft möglich, entweder kann sich in die eine etwas eingeschlichen haben, was nur der andern angehört, oder kann als Opposition gegen

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die andre zu weit gegangen, und etwas aufgestellt seyn, was über das Christliche hinausgeht. § . 3 7 wird nun das Ganze zusammengefaßt, und gesagt, es wären nun zwey HauptAufgaben hier gestellt, die eine das eigenthümliche Wesen des Christenthums aufzustellen in seinem Verhältniß zu andern GlaubensWeisen; die zweyte | §. 35 die Methode um den Werth einzelner Momente in der Entwicklung des Christenthums zu schäzen. Die zwey Aufgaben erschöpfen den Zweck der philosophischen Theologie, sie sind die Begründung der historischen, weil nun der Maßstab gegeben ist, das Historische zu würdigen. Zugleich ist sie eben dadurch auch die Norm für die praktische Theologie, weil sie angiebt, was erstrebt, und was ausgemerzt werden soll. Nun wird noch der wissenschaftliche Charakter der Disciplin bestimmt, daß sie nämlich der historischen Kritik angehöre. Nämlich dieselbe Aufgabe findet auch auf andern geschichtlichen Gebieten statt, wo es eine wesentliche menschliche Gemeinschaft giebt und eine Leitung derselben. Hier ist immer aufgegeben eine Schäzung dieses Gebiets in Beziehung auf andre ähnliche, und eine Schätzung der einzelnen Momente des Verlaufs in Beziehung auf die Ideen und Aufgaben. § . 3 8 wird die Regel aufgestellt für die F orm der philosophischen Theologie. Bisher war von ihrem Gehalt die Rede, – nun wird gesagt, alle Bestandtheile der philosophischen Theologie, welche an sich der Kritik angehören, werden theologische Elemente nur durch die Beziehung auf die Kirchenleitung. Nun haben wir schon eine zweyfache Duplicität. Die eine bezieht sich auf die zwey Aufgaben, die andre bezieht sich auf das Christenthum als Allgemeines und auf die besondre protestantische Glaubensweise. § . 3 9 . wird die Frage von der Form der Disciplin und ihrer Organisation weiter besprochen. Hier kann nur zu Grunde gelegt werden die Beziehung auf die Kirchenleitung, und diese muß nun genau aufgefaßt werden. Hier ist nun zunächst Rücksicht genommen auf etwas, das § 25 von der christlichen Kirchenleitung gesagt war, sie sey ihrem Zwecke nach zusammenhaltend und anbildend. Hier ist jenes ausgedrückt durch das Erhaltende, was extensiv gemeynt ist, §. 40 ist dasselbige intensiv aufgefaßt. In Beziehung auf ihre Erhaltende Richtung wird gesagt, müsse die Kirchenleitung die Ueberzeugung von der Wahrheit der christlichen und protestantischen GlaubensWeise fortpflanzen. Ohne dieß könnte das Christenthum sich nicht erhalten. Dazu liegt nun die Grundlage in der Darstellung des eigenthümlichen Wesens des Christenthums, – nicht so, als ob man einem demonstriren müßte, er solle ein Christ werden, – sondern die Verwandtschaft des religiösen Elements im Menschen mit dem Christenthum die muß sich durch das Leben im Christenthum entwickeln, | aber daß ein Jeder

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nun die Eigenthümlichkeit des christlichen Glaubens als eine Gestaltung des religiösen Elements sich rechtfertigen könne, und sich seine eigne Verwandtschaft zu dieser Gestaltung PklarS mache, dieß giebt dann die Ueberzeugung vom Christenthum. Wenn der Mensch sich auch in das Christenthum hineingelebt hätte, und es würde ihm später gezeigt, das Christenthum sey eine krankhafte Erscheinung, so müßte er es ja wieder aufgeben. Dieser §. nennt den ersten Theil der philosophischen Theologie Ap o l o g e t i k , wie der 40ste § den zweyten Theil Polemik. Zu dem apologetischen Theil gehören nun Untersuchungen über das eigenthümliche Wesen des Christenthums und des Protestantismus. Es sollen sich aber nun die Untersuchungen über das Wesen des Protestantismus zu der besondern Gemeinschaft gerade so verhalten wie die über das Christenthum zur christlichen Gemeinschaft überhaupt, d. h. wie diese auf andre Religionen Rücksicht nehmen, so jene auf die andern Confessionen. Der Ausdruck Apologetik ist hergenommen von dem gerichtlichen Sprachgebrauch, als Vertheidigung. Dieses sezt einen Angriff voraus und dieß ist nun aus dem Bisherigen nicht klar, wie es damit zusammenhängt, und weßwegen diese Untersuchungen den Namen der Vertheidigung bekommen. Dieß hängt aber so zusammen. Es ist Thatsache, daß es immer einzelne Menschen gab, die das religiöse Element ganz vernachläßigt haben, und zwar mit einem gewissen Bewußtseyn. Diese müssen auch bestreiten, daß das religiöse Element der menschlichen Natur wesentlich sey. Nun aber beruht die religiöse Gemeinschaft darauf daß jenes Element ein wesentliches sey, und sobald diese Behauptung angegriffen wird, so muß sie vertheidigt werden. Nun diese Vertheidigung des religiösen Elements ist Gegenstand der christlichen Kirche nicht unmittelbar aber doch indirekt, und so könnte diese rein ethische Verhandlung schon den Namen Apologetik führen. Sobald wir aber in eine besondre Gemeinschaft hineinkommen, ist es doppelt nothwendig, daß sie sich gegen solche Angriffe vertheidige, und was dort ein rein wissenschaftliches Interesse hat, bekommt hier zugleich ein praktisches. Wenn also das Christenthum angegriffen wird, was von Anfang an geschehen ist, so muß es sich auch vertheidigen. Das Christenthum ausserhalb aller socialen Beziehung gedacht, so würden die Untersuchungen über sein Wesen eine andre Gestalt, | die einer blosen Einleitung in die Dogmatik bekommen, und wäre der Name Apologetik nicht an der Stelle gewesen. Nun aber ist das Christenthum von Anfang an verfolgt worden, nicht von solchen, die das religiöse Element überhaupt verwarfen, sondern von solchen, die in andern religiösen Gemeinschaften lebten. Da kam 3 PklarS] oder PklarerS (vgl. Sachs 42)

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es also darauf an, zu zeigen, daß das Christenthum ebenso begründet sey wie diese andern Religionsgemeinschaften begründet zu seyn glaubten, nämlich in dem religiösen Elemente der menschlichen Natur. Die gewöhnliche Erklärung von Apologetik ist, daß sie auseinanderzusezen habe die Beweißgründe für den göttlichen Ursprung des Christenthums. Dieß klingt anders, ist aber ganz dasselbe. Ueberall in allen religiösen Gemeinschaften ist auf ein ihren Gliedern gemeinsames GottesBewußtseyn zurückzugehen, daher ist es natürlich, daß man dieses von Gott herleitet auf irgend eine Weise. Zu sagen nun, man wolle beweißen, daß das Christenthum sich zum religiösen Princip so und so verhalte, dieß hat denselben Inhalt, als zu sagen, Beweißgründe von dem göttlichen Ursprung desselben. In dem Begriff Beweißgründe liegt, daß man die Menschen genügend überzeugen wolle von der Göttlichkeit des Christenthums, daher sie zu Christen zu machen suche. Dieß liegt aber nicht ursprünglich in der Apologetik, welche nur den Menschen beweisen will, daß sie das Christenthum müßten bestehen lassen. Daß nun aber die Apologetik nicht blos die Einleitung zur Dogmatik bildet sondern eine eigne Disciplin, dieß hat seinen Grund lediglich in dem historischen Umstand, daß das Christenthum von Anfang an ist angegriffen worden. Sonst wäre die Apologetik nur der Anknüpfungspunkt der Dogmatik an die ReligionsPhilosophie. Was nun die s p e c i e l l e Apologetik des Protestantismus betrifft, so hat sich dieser nie als göttliche Offenbarung behauptet, sondern nur, daß er die ursprüngliche göttliche Offenbarung erhalten, während sie in den übrigen Gesellschaften alterirt worden sey. Auch hier würden diese Untersuchungen nur in der Einleitung zur Dogmatik stehen, wenn der Protestantismus nicht wäre angegriffen worden. Aber die Reformation konnte sich nicht ohne Streit entwickeln, sie wurde nicht blos durch Gründe sondern auch mit Gewalt angegriffen; ganz wie das Christenthum in seinen Anfängen. Daher verhält sich seine besondre Apologetik ganz wie die allgemeine. Da das Christenthum nun eine welthistorische Geltung erlangt hat, und nicht mehr | so angegriffen wird: wäre es nicht jezt besser, den Untersuchungen über das Wesen des Christenthums ihren ursprünglichen Plaz einzuräumen? Es ist dieß allerdings neuerlich fast die überwiegende Methode geworden, und der Sache nach ist es ganz 5–6 Vgl. etwa die Bestimmung bei Gottlieb Jakob Planck: „Man hat [...] diesen Nahmen erst neuerlich, ja erst zu unserer Zeit für die Kenntniß und Wissenschaft derjenigen Beweise erfunden, durch welche die Göttlichkeit des Christenthums, oder das göttliche Ansehen und der göttliche Ursprung der christlichen Lehre gegen Einwürfe aller Art behauptet und gerettet werden kann“ (Einleitung in die Theologische Wissenschaften, Bd. 1–2, Leipzig 1794–1795, Bd. 1, S. 271)

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dasselbe. Doch ist es auch gut, die Apologetik besonders fortbestehen zu lassen. Denn es giebt noch speculative theoretische Gegner, die das religiöse Element überhaupt oder das Christenthum selbst in seiner Eigenthümlichkeit angreifen, solche welche nur einen menschlichen PUrsprungS der besonderen Religionen annehmen. So lang dieser theoretische Widerspruch noch dauert, der allerdings nicht gegen die äussre Existenz, sondern gegen die innern Fundamente geht, so lang ist die besondre Abhandlung von Nutzen. Der Zu s a z spricht von dem Bestreben, andre zum Christenthum oder Protestantismus herüberzuziehen. Dieß sagt der §. sey eine klerikalische Praxis, die z. B. geübt wird in dem MissionsWesen. Zu zeigen, daß das Christenthum größre Ansprüche auf die Existenz hat, als die übrigen GlaubensFormen, was beym MissionsWesen die Hauptsache ist, dazu müßte es allerdings Kunstregeln geben, die aber nicht mehr zur Apologetik gehören. § . 4 0 hat es mit dem zweyten Theil der philosophischen Theologie zu thun. P o l e m i s c h e Theologie ist ein alter kirchlicher Ausdruck. Hier ist der Sprachgebrauch vom Angriff her genommen, wie vorher von der Vertheidigung. Hier ist aber dieses rein zurückgeführt auf die § 35 angegebenen Untersuchungen, nämlich die Principien aufzustellen zur richtigen Würdigung der einzelnen Zustände des Christenthums, um herauszubringen, was Gesundheits- und was KrankheitsZustand ist. Hier also ist keine Beziehung nach aussen, sondern rein nach innen. Beziehen wir diese Function auf die Kirchenleitung, so ist es zum Behuf der innern Kirchenleitung nothwendig, zu erkennen, was weiter ausgebildet, und was ausgemerzt werden muß, und die Erkenntniß des Leztren ist Geschäft der Polemik. In der KirchenGeschichte werden wir eine Menge von polemischen Elementen finden, denn jede Abschätzung der Begebenheiten in der KirchenGeschichte muß eine Anwendung polemischer Säze seyn, ohne dieß wäre die Geschichte blose Chronik. Aber dieß wäre eine Anwendung für die blose Betrachtung; und es wird ebenso nothwendig seyn, diese Abschätzung zu machen in Beziehung auf das Gegenwärtige, und so wie Jemand falsche | Principien hat in Abschätzung der Gegenwart, so muß er auch in der Kirchenleitung fehlen. Auch hier findet sich eine allgemeine christliche Polemik, und eine specielle protestantische. Freylich werden sie sich nicht ganz so verhalten, wie allgemeine und specielle Apologetik, was in der Verschiedenheit ihrer Richtungen seinen Grund hat. Wenn das Christenthum in eine Manchfaltigkeit von KirchenGemeinschaften zerfällt ist, so sind diesen die Untersuchungen über das Wesen des Christenthums gemeinschaftlich, und jede hat die Gültigkeit des Christenthums zu vertheidigen. Also die allgemeine Apologetik kann für alle dieselbe seyn. In jeder dieser KirchenGemein-

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schaften nun giebt es theils festzuhaltende, theils auszumerzende Elemente – in einem Zustand der Spaltung des Christenthums nun giebt es in diesem Sinn keine allgemeine Polemik. Rein wissenschaftlich wohl aber in der Praxis nicht. Der Zu s az ist ganz parallel dem vorhergehenden. Es müsse sich auch ein Verfahren bilden, um die Ueberzeugung von der Unangemessenheit gewisser Momente zur Idee geltend zu machen, was aber der praktischen Theologie angehört. § . 4 1 stellt einen Gegensaz auf zwischen diesen zwey Theilen der philosophischen Theologie, und hierinn liegt die Differenz dieser Behandlung von andern. Die Apologetik nemlich nimmt ihre Richtung nach aussen, gegen die übrigen Glaubensgemeinschaften, die ausser dem Christenthum bestehen. Die Polemik aber bleibt ganz in das Gebiet einer einzelnen Religion oder KirchenGemeinschaft eingeschlossen. Die allgemeine Polemik muß, wie schon oben angegeben, eigentlich bey allen dieselbe seyn, wenn die verschiedenen christlichen Gemeinden sich gegenseitig als christliche anerkennen. Gewöhnlich aber ist dieß mehr oder weniger nicht der Fall, und insofern z. B. die katholische Kirche den Protestantismus als eine Häresie behandelt, so wird sie eine Polemik gegen uns führen nicht in ihrem besondern Namen, sondern sofern sie sich als das ganze Christenthum nimmt. Dieß wird in unsrer allgemeinen Polemik nicht vorkommen, weil wir auch die katholische Kirche für eine christliche halten. Von hier aus werden sich nun die §. vertheilen. Die Apologetik nimmt ihre Richtung nur nach aussen, die Polemik nur nach innen, so jedoch, daß das Äussre und Innre ein andres ist bey der speciellen als bey der allgemeinen. Gewöhnlich sagt man, die Polemik habe eigentlich ihre Richtung nach aussen. Wir wollen bey der allgemeinen Polemik stehen bleiben. Da hat es von jeher Einzelne gegeben, | die gegen alle positive Religion sich erklären, Deisten, Atheisten. Diese zu bekämpfen wäre eine Richtung nach aussen, weil solche Menschen nicht zur christlichen Kirche gehören wollen. Aber was soll diese Polemik für einen Zweck haben? Soll sie den Zweck haben, diese zu bekehren? oder die KirchenGlieder vor Ansteckung zu verwahren? Im leztern Falle wäre es aber die allgemeine Apologetik, das Bestreben, dem Christenthum sein gutes Recht zu sichern. Soll es aber ein Bekehrungsversuch seyn, so wäre es keine theologische Disciplin, sondern eine Praxis, mit der Tendenz, die Kirche zu erweitern, es ist also eine besondre Richtung des MissionsWesens, das noch Niemand als Pole13–15 Vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „Denken wir die Streitigkeiten in der katholischen Kirche zwischen der Kirche und den Jansenisten so geht dies die specielle Polemik der Protestanten nicht an, wohl aber die allgemein christliche Polemik.“ (S. 52)

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mik angesehen hat. Diese Meynung kommt daher, daß man häufig meinte, das Christenthum lasse sich andemonstriren, was sich aber demonstriren läßt in dieser Beziehung, das gehört in die Apologetik, und ist nichts weiter als der Beweiß, daß mich der Andre in meinem Besizstand lassen muß. Sobald ich aber den Andern bekehren will, so geht Pdie DemonstrationS aus, ich muß Bedürfnisse in ihm wecken p. Ebenso hat man gesagt, müsse es eine Polemik geben gegen die Katholiken. Diese kann’s aber gar nicht geben, und auch auf diesem Gebiete haben wir nur das Apologetische zu leisten. Die protestantische Kirche ist entstanden aus der Katholischen durch Opposition gegen die Mißbräuche. Aber wovon man dabey ausgegangen ist, das ist nur die richtige Anschauung der christlichen Kirche, und dieß ist eben das Apologetische. Fragt man: haben wir Ursache, den Streit jezt wieder anzufangen? so wird dieß verneint und gesagt werden müssen, wir haben uns nur zu vertheidigen, wenn wir angegriffen werden. Bey einer Bekämpfung der Katholiken könnte nur der Zweck seyn, sie zu Protestanten zu machen, dazu bedürfte es aber einer Technik, und die Sache gehörte zur praktischen Theologie. Ein solches herüberziehendes Verfahren könnte sich auch blos immer auf Einzelne beziehen. Daher kann dieß keine besondre Disciplin seyn, sondern es gehört in die praktische Theologie als ein hypothetischer Theil derselben, weil nur in einzelnen unbestimmten Fällen Gebrauch davon gemacht werden kann. Also die Apologetik nimmt ihre Richtung nach aussen, indem sie voraussezt, daß man angegriffen wird. Wenn das Christenthum gar nicht mehr angegriffen würde, | und ebenso der Protestantismus, dann würde diese Gestaltung verschwinden, wenn sie nicht zu tief schon in die Organisation der Theologie eingewurzelt wäre. Die Polemik aber hat immer ihre Richtung nach innen. Gegen Unchristen giebt es gar keine Polemik, z. B. gegen Judenthum, Islam Polytheismus, oder auch gegen einzelne Deisten p. Das Polemische ist dabey immer das Falsche, das Wahre nur das Apologetische. Alles was in gewisser Weise gegen die Deisten p. geschrieben worden ist, ist immer eigentlich apologetisch gewesen, man hat dem Christenthum sein Recht sichern wollen, und dieses rein defensive Verfahren ist nicht geeignet Polemik zu heißen. Die Richtung nach innen ist nun, in der Erscheinung des Christenthums und Protestantismus zu unterscheiden, was corrigirt und eliminirt werden soll. Hier kann nun freylich eine schiefe Stellung genommen werden, welche die allgemeine Richtung unsres Sazes aufzuheben scheint. Man kann sagen: wir sind in der protestantischen KirchenGemeinschaft, und sehen wir allein auf diese, so haben wir keine Polemik als gegen das, was in unsrer Kirche 6 Pdie DemonstrationS] oder Pdas DemonstrierenS

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Verderbtes ist. Aber wir sind doch mit unsrer Kirche in die allgemeine Kirche gestellt, und so haben wir doch eine Polemik zu führen auch gegen das, was dem Christenthum überhaupt zuwider ist. So haben wir also von unsrem allgemein christlichen Standpunkt eine Polemik gegen den Katholicismus zu führen. Hier werden aber die zwey GesichtsPunkte nicht bestimmt geschieden. Sobald nämlich die Christenheit in einzelne Gemeinschaften getheilt ist p. Das Absehen der Reformatoren war auf die ganze Christenheit gerichtet, was sie für wahr hielten, wollten sie auf die ganze Christenheit übertragen; sie waren noch in der ganzen Kirche, und was ihnen entgegen war, sahen sie nur als Sache von Einzelnen an. Da nahm also die Polemik ihre Richtung nach innen, weil die Reformatoren noch in derselben Kirche mit den Katholiken stunden. Sobald aber die protestantische Kirche sich organisirt hatte, hörte dieß Verhältniß auf, denn die Sonderung besteht ja eben darinn, daß beyde Gesellschaften getrennt bestehen, jede ihren Weg für sich geht, und sich um die andre nicht kümmert. Hier findet nun die specielle Apologetik ihre Stelle. Sobald man also unterscheidet zwischen dem Zustande der Einheit und der Mehrheit von KirchenGemeinschaften, so wird man einsehen, daß jezt jede Polemik gegen den Katholicismus eine äussre wäre, zu der wir gar nicht veranlaßt sind. Die protestantische Kirche kann jezt durch | ihre Existenz auf die katholische Kirche wirken, indem die Katholiken sich mit uns vergleichen können, und hieraus kann sich Privatinteresse bilden; aber die Kirche selbst hat nichts mehr gegen die Katholiken zu thun, ausser wenn sie angegriffen wird. § . 4 2 . Wir haben zweierley Aufgaben gefunden, und jede ist wieder in sich gedoppelt. Da können wir nun entweder die philosophische Theologie theilen in 1) die allgemeine und 2) in die specielle, und dann die allgemeine und specielle philosophische Theologie wieder a) in Apologetik und b) Polemik; oder wir können theilen wie geschehen ist. An und für sich könnten beyde Eintheilungen gleich gut seyn, aber der Thatbestand ist schon vorhanden, die zwey Disciplinen sind getrennt vorhanden, während der andre Unterschied nicht so hervortritt. Dieß muß uns bestimmen. Daß nun die Apologetik zuerst gestellt wird kommt daher, die Apologetik hat es zu thun mit der Darlegung des eigenthümlichen Wesens des Christenthums im Verhältniß zu andern Glaubensweisen. Die Polemik hat es zu thun mit der Abschätzung der einzelnen Momente in der Geschichte des Christenthums in Beziehung auf ihren negativen oder positiven Werth. Diese Beurtheilung kann ich aber nur anstellen auf die Erkenntniß von dem Wesen des Christenthums hin. 28 theilen] Theilen

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So ist also diese Voranstellung wesentlich. Hätten wir aber die andre Eintheilung vorgezogen, so hätten wir ebenso nothwendig das Allgemeine voranstellen müssen. Hieraus geht hervor, daß wir auch in unsrer Eintheilung zuerst von der allgemeinen Apologetik handeln müssen, dann erst von der speciellen. Dieß ist hier nicht durch Unterabtheilungen geschieden, doch ist der Scheidepunkt leicht zu finden. In den §§ die vom Allgemeinen handeln, wird nun als Aufgabe der Apologetik aufgestellt eine Reihe zusammenhängender Begriffe, § 43 die Wechselbegriffe des Natürlichen und Positiven, §. 45 die Begriffe Offenbarung, Wunder und Eingebung, § 46 Weissagung und Vorbild, §. 47 Kanon und Sacrament, § 48 die Begriffe Hierarchie und KirchenGewalt. Da wir hier schon bey dem sind, was in der philosophischen Theologie Princip der praktischen ist, so sind dieß die lezten hiehergehörigen Begriffe und §. 50 ist der Uebergang zur speciellen Apologetik. Ist nun hier nicht über das blos Formelle der Encyclopädie hinausgegangen? | Deßwegen nicht, indem blos die Aufgaben gegeben, aber nicht gelöst werden, es sind alles dieß nur die Ueberschriften, welche die Kapitel der Apologetik haben müssen. Das Ganze ist also nichts andres als nur die Organisation der Apologetik.

Erster Abschnitt. Grundsätze der Apologetik.

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§ . 4 3 . wird aus der Ethik vorausgesetzt, daß das religiöse Element sich nur verwirklichen kann in einer Manchfaltigkeit von Erscheinungen, die ein Ganzes zusammen bilden. Im Staat z. B. hätten wir zwar die Apologetik der Monarchie zu führen, hätten aber doch auszugehen von den manchfaltigen Staatsformen, die wir als einen Complexus auffassen müßten in welchem sich die Idee darstellte. Der Zweck der Apologetik kann nicht seyn, zum Christenthum herüberzuführen, ausser wenn einer das Christenthum allein als wahr, die übrigen Religionen als falsch sezte, dann könnte keine vollständige Anerkennung des Christenthums stattfinden, ohne die andern aufzugeben. Darin liegt aber nicht, daß wir Christen die andern Glaubensweisen müßten für wahr halten, sondern nur dieß, daß die eine Glaubensweise kann die andre neben sich bestehen lassen. Dieses Zusammenbestehen ist uns auch in der Geschichte gegeben, und wir müssen darum ausgehen von diesem Mittelding von Verfolgen und Annehmen, welches das Anerkennen und Bestehenlassen ist. Dabey kann einer wohl glauben, 18 Kapitel] Kapp

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das Christenthum sey falsch, nur ist er überzeugt, daß es mit allem andern zusammenbestehen kann. Es ist also hier nicht um Beweise zu thun die zur Annahme des Christenthums führen müssen. Vom göttlichen Ursprung muß freylich in jeder Apologetik die Rede seyn, weil jede Glaubensweise sich nur auf diese Weise ableiten kann. In diesem § ist nun aufgestellt, woraus die socialen Verhältnisse des Christenthums hervorgehen, daß nemlich die Religion sich in einer Mehrheit von Gesellschaften verwirklicht hat. Das eigentliche Ziel der Darstellung ist nun, daß dem Christenthum ein Ort in diesem Complexus gebühre, und dazu gehöre die Darlegung der Einheit und die Dar|legung der Differenz. Die Einheit nämlich mit allen Religionen im weitesten Sinn, also auch mit den niedersten Religionen, denn diese können doch nur begriffen werden als Äusserungen desselben Princips, aus welchem auch die übrigen Religionen hervorgehen. Die Differenz geht zurück auf die möglichen Gegensäze innerhalb dieser Einheit, diese bilden die verschiedenen Örter, in welche die einzelnen Gemeinschaften müssen eingeordnet werden. Es ergiebt sich z. B. aus dem Begriff der Gegensaz des Polytheismus und Monotheismus, so wären dieß zwey Örter, in welche die verschiednen Religionen eingeordnet werden könnten. Dieß geschehe, wird gesagt, mittelst der Wechselbegriffe des N a t ü r l i c h e n und P o si t i ve n . Hier ist ein bestimmter Sprachgebrauch angenommen, und dieß ist ein Zurückgehen auf ein Thatsächliches. Leider ist es ein Sprachgebrauch, über dessen Bedeutung man nicht einig ist. Die Grenzbestimmung dieser zwey Wechselbegriffe ist sehr schwankend und verschieden bestimmt. Diese Begriffe haben ein Verhältniß zu den zwey vorher aufgestellten Punkten der Einheit und Differenz der Religionen. Dieß Verhältniß ist dieses: Das Positive ist nicht etwa die Differenz selbst, sondern der Charakter der Differenz im Gegensaz zur Einheit. Das Natürliche ist auch nicht die Einheit selbst, sondern der Charakter der Einheit im Gegensaz der Differenz. Die Einheit selbst ist der Begriff der frommen Gemeinschaft. Wie drückt nun der Ausdruck: Natürliches den Charakter der Einheit p aus? Man redet eben so auf dem Gebiete des Staats von einem natürlichen und positiven Recht. Unter dem positiven Recht versteht man das wirklich irgendwo geltende, und da wird kein Recht in seiner Bestimmtheit aufgefaßt werden können, das nicht ein Positives wäre. Dieß klingt nun so, daß man auch sagen könnte das positive Recht ist das existirende, das natürliche das nichtexistirende. Dieß ist in gewissem Sinne wahr. Das Recht ist aber nur in Beziehung auf einen geselligen Zustand, und die Geselligkeit ist ein menschliches Thun, so ist dieß Recht ein natürliches. Ebenso werden wir sagen können, die frommen Gemeinschaften wären etwas Natürliches. Es ist aber das

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Verhältniß der Ehegatten nicht überall dasselbe, es hat verschiedne Formen, Polygamie und Monogamie, Scheidung erlaubt und verboten p. Dieß ist das Positive. Dasselbe werden wir nun sagen können von allen Elementen der frommen Gemeinschaft. | Sie sind überall auf bestimmte Weise vorhanden wenn sie auch aus der Natur des menschlichen Geistes zu begreifen sind. Dieses Verhältniß also vermöge dessen das Religionsgesellige aus der Natur des Geistes zu begreifen ist, ist das Natürliche daran, das aber, daß es überall ein Bestimmtes ist, ist das Positive. Damit ist aber der Begriff des Positiven nur formell bestimmt, der Inhalt dieses Positiven im Christenthum ist hier nicht gegeben. Im Zu s a z wird gesagt, daß die Aufstellung dieser Begriffe der Religionsphilosophie angehört, und daß sie in der Apologetik auch andrer Religionen ihre Stelle haben müßten. Daraus folgt, daß die Religionsphilosophie die Aufgabe hätte, nachdem die Ethik die Religion als GemeinschaftBildendes nachgewiesen hätte, so hätte dann die Religionsphilosophie die früher in der Ethik angegebenen Differenzen weiter zu entwickeln, und die historischen Religionen darunter zu subsumiren. Wenn die Religionsphilosophie ausgebildet wäre, so könnte die Apologetik diese Ausführung aus der Religionsphilosophie entlehnen. So lange dieß aber nicht der Fall ist, muß es in der Apologetik geschehen. Aber da geschieht es nun nicht in Beziehung auf alle andern Glaubensgemeinschaften, sondern nur so, daß der Ort des Christenthums gefunden werden kann. § . 4 4 . wird der Gebrauch beschrieben, der von der Aufstellung dieser Begriffe gemacht wird. Die Aufgabe ist, eine Formel aufzustellen für das eigenthümliche Wesen des Christenthums. Diese kann nur aufgestellt werden in Beziehung auf jenen Begriff des Positiven. Der Ausdruck Formel hat ursprünglich seinen Siz in der Mathematik. Der Ausdruck Definition war hier zu erwarten Aber das Individuelle kann nicht definirt werden, und es ist nur ein Schein, wenn man einen Saz, der das Individuelle darstellen soll, eine Definition nennt, er kann nur ein Allgemeines geben, kein Individuelles. Wenn man nun aber doch diese Erklärung überall mitdenken soll, wo vom Christenthum die Rede ist, so ist eben der Ausdruck Formel das Zweckmäßigste, weil er dasselbe besagt. Warum soll aber das eigenthümliche Wesen des Christenthums in Beziehung gestellt werden zu dem Wesen andrer frommer Gemeinschaften? Eben deßwegen, weil wir es mit Individuellem zu thun haben, welches sich nicht bestimmen läßt als mit Beziehung auf ein andres Individuelles. Allein dieß ist auch vollkommen abgethan mit der Angabe der verschiednen Classen der Religion. Der Zu s a z beschränkt nun die Möglichkeit, die Aufgabe zu lösen, indem | er sagt, diese Formel könne sich nur im Gebrauch recht

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bewähren. Wenn wir fragen, was meynt man mit dem Ausdruck MenschenKenntniß, so ist dieß eine Leichtigkeit, das Eigenthümliche des einzelnen Menschen aufzufassen, einerseits es unterscheiden von dem was er mit Andern gemein hat, andrerseits von dem, was in ihm selbst ein Wechselndes ist. Dazu gehört aber Uebung und Takt, erst indem er den Menschen mit dem Bilde von ihm im Leben verfolgt, bekommt er die Probe, daß sein Bild richtig ist. Dasselbe gilt nun von dem Individuellen überhaupt. Denken wir einen Staat, so muß sich auch in ihm so etwas auffinden lassen. Jeder Staat durchläuft aber viele Veränderungen, und da nun ein richtiges Bild von seiner constanten Eigenthümlichkeit aufzustellen, ist höchst schwierig. § . 4 5 . wird der Lösung der Aufgabe näher gegangen, und gesagt, wie das Christenthum seine Anerkennung bewerkstelligen muß. Nämlich einerseits dadurch, daß es sagt, es trägt die Einheit in sich, und auch die Differenz. So weit ist die Aufgabe schon in den vorherigen §§. gelöst. Hier wird nun ein Auch hinzugefügt, und gesagt, es könne seine Anerkennung auch bewirken durch Darstellung seiner Entstehung. Dieß hat seinen Grund in dem schon oben gesagten, daß eine bestimmte Glaubensweise allemal auch ein Gemeinschaftsprincip sey. Ein solches wird nun eine geschichtliche Erscheinung, wenn es eine Consistenz gewinnt, und Raum und Zeit erfüllt. Ein jedes solches Ganze, welches nur in freyen Handlungen der Menschen besteht, wird auf dieselbige Weise fortbestehen, auf die es entstanden ist und umgekehrt. Sobald man sich ein Fortbestehen denkt, in welchem die Formel der Entstehung nicht mehr ist, so hat man nicht mehr dasselbe sondern ein Andres vor sich. Dieß ist ein wichtiges Princip. In dem ganzen Verlauf eines solchen geschichtlichen Ganzen muß die Art seines Entstehens in jedem Moment aufzufinden seyn. Dann muß sich auch in der Art der Entstehung dasselbe offenbaren, wodurch es eine bestimmte geschichtliche Erscheinung ist; so daß sich beydes ergänzt, diejenige Anerkennung, die durch Nachweisung des Inhalts, und diejenige, die durch Darlegung des Ursprungs bewirkt wird. Alle Religionen die einen bedeutenden Kreis ausfüllen, behaupten geoffenbart zu seyn, d. h. sie behaupten eine göttliche Abkunft ihres eigenthümlichen | GottesBewußtseyns. Nun von dieser allgemeinen Voraussezung aus ergiebt sich gleich für die Apologetik die Aufgabe diesen Begriff richtig zu stellen, und das Christenthum unter denselben zu subsumiren. Die andern beyden Begriffe haben eine genaue Beziehung zu diesem ersten und zu dem HauptPunkt. Denn wenn ein ursprüngliches Factum angenommen wird, auf welches der Begriff einer göttlichen Abkunft bezogen werden soll, so kommt es darauf an, die Art zu bestim3 unterscheiden] unterscheidet

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men, wie das seyn kann, und den Gegensaz, der darinn liegt, gegen die gewöhnliche natürliche Entstehung, auseinanderzusezen. Und so sind die Begriffe Wu nd e r und E i nge b u ng schon verwandt mit dem der O f f e nb a r u n g . Fragen wir, ob diese Begriffe ebenso wie die § 43 ihren eigentlichen Siz in der Religionsphilosophie haben, so ist zu sagen, wenn die Religionsphilosophie sich nur weit genug entwickelt, so muß sie allerdings auch diese Begriffe behandeln. Aber die theologische Disciplin der Apologetik kann auf die Religionsphilosophie nicht warten, und wir geben diesen Begriffen ihre eigenthümliche Stellung in der Apologetik. Gewöhnlich werden sie behandelt in den Prolegomena zur christlichen GlaubensLehre. Aber auch hier wird man den apologetischen Charakter an ihnen erkennen, und sie sollten von da weggenommen, und in der Apologetik behandelt werden, damit sich die Dogmatik auf sie beziehen könne. Wenn aber einmal die socialen Verhältnisse des Christenthums vollkommen geordnet sind, und weder aus dem Gebiete der Philosophie oder andrer Religionen mehr ein Widerspruch gegen das Christenthum entsteht, dann hätten sie ihren rechten Ort in den Prolegomena, nur müßte ihnen dann auch die apologetische Form mehr genommen werden. – Wenn man diese Begriffe in ihrer apologetischen Geltung betrachtet, so kann es nicht darauf ankommen, zu beweisen, daß die christliche Offenbarung, Wunder und Eingebung die einzig wahren seyen, – dieß alles geht über den apologetischen Charakter hinaus: für den Christen versteht es sich von selbst; es wäre etwas Polemisches und könnte nur den Zweck haben, andre ReligionsVerwandte zu Christen zu machen – wovon hier nicht die Rede seyn kann. Aber auch wenn man diese Begriffe in der Einleitung zur Dogmatik behandelt, gehört dieses exclusive Verfahren nicht hinein, weil die Dogmatik nur für die Kirche wie sie ist, nicht für die Verbreitung derselben bestimmt ist. § . 4 6 . Wird die scheinbar entgegengesezte Seite herausgehoben, und dafür die Begriffe We i s s agu ng und Vorbi ld in Anspruch genommen. Wenn man von der allgemeinen Thatsache ausgeht, daß alle geschichtlichen Religionen geoffenbarte seyn wollen, so liegt darinn, daß sie ihre Genesis gewissermaßen aus dem allgemeinen Zusammenhang herausreißen, und an ein solches Factum, welches eine göttliche Abkunft ist, | anknüpfen. Dadurch sezt sich jede aus dem allgemeinen Zusammenhang heraus, und allem Gleichzeitigen entgegen. Die Begriffe des §. aber sind anknüpfende Begriffe, welche auf ein Früheres zurückgehen. Sie werden nämlich nicht in dem Sinn genommen, daß innerhalb des Christenthums Weissagung und Vorbilder seyen, sondern ausserhalb desselben. Das ist also der Gegensaz, daß in den Begriffen des vorigen §. eine isolirende, in diesem aber eine anknüpfende Tendenz liegt. Diese ist aber nothwendig, weil die gesammte histori-

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sche Entwicklung auch als Eine Reihe anzusehen ist. Die Richtung des vorigen §. hebt den Unterschied von früher und gleichzeitig auf: Jeder andern Religion, sey sie älter oder jünger p, müssen wir uns entgegensezen. In diesem §. ist das Umgekehrte hervorgehoben, nämlich die innre Differenz ist eigentlich aufgehoben, und nur der Unterschied des Früher und Später ist herausgehoben. Das Christenthum muß sich als in dieser geschichtlichen Stätigkeit nachweisen in Beziehung auf alle früheren Glaubensweisen ohne Unterschied. Im §. steht nur Judenthum und Heidenthum, aber das Leztre ist eben so umfassend, daß wir Alles darunter begreifen ausser dem Judenthum und Christenthum – denn von dem jüngren Islam kann hier nicht die Rede seyn. Die Sache so umfassend gedacht, wird die Aufgabe eine viel größre als man sie gewöhnlich faßt. Man bezieht sie nämlich sonst nur auf das Judenthum. Das kommt aber auch daher, weil man es gewöhnlich nur für nothwendig hält, die geschichtliche Stätigkeit des Christenthums mit dem Judenthum zu zeigen. Stellen wir uns aber auf den allgemeinen historischen Standpunkt. Das Christenthum hat seinen Anfang genommen im Judenthum, aber seine geschichtliche Consistenz gewann es nur dadurch, daß es sich aus dem Heidenthum erweiterte. So ist es also eine Einseitigkeit, nur auf das Judenthum Rücksicht zu nehmen. Es hat auch schon sehr frühe solche christlichen Lehrer gegeben, die dieß bestimmt geahndet und die Sache ganz so dargestellt haben. Sie sagen, was für die Juden das Gesez gewesen sey in Beziehung auf das künftige Christenthum, das sey für die Heiden die Philosophie gewesen. Und wie der Siz des Vorbildlichen im Judenthum der Opferdienst ist, so kann man dieß auch von dem heidnischen Opferdienst sagen. Die Wichtigkeit der Aufgabe, diese geschichtliche Stätigkeit nachzuweisen, liegt allerdings wesentlich darinn, daß deßwegen, weil das Christenthum nicht entstanden ist unter Menschen ohne | alle Religiosität, so muß das Recht derer, die ihre Religiosität mit dem Christenthum vertauscht haben, nachgewiesen werden. Es kann immer gesagt werden, jeder, der in einer Religionsgemeinschaft geboren und erzogen ist, gehört derselben an, – so die einen der jüdischen Gemeinschaft, die andern ihren mythologischen Culten. Ein solches Herausgehen aus einer Gemeinschaft, in welcher man bestanden hat, bedarf einer Rechtfertigung, und dieß kann nur so geschehen, daß gezeigt wird, die Glaubensweise in der ich stand, hat sich selbst als eine unvollkommne erkannt in Beziehung auf die zu welcher ich übertrat. Im Z u s a z ist gesagt, daß die richtige Behandlung dieser Begriffe als die höchste Aufgabe der Apologetik könnte angesehen werden, weil sie die Grundlage für das Verfahren ist, die christliche Kirche aus Nichtchristen zu erweitern. Und auch auf solche bezieht es sich, die

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in der christlichen Kirche geboren sind, welche wir auch in das geschichtliche Bewußtseyn stellen müssen. – Nun giebt es in Beziehung auf diese Begriffe ein ZuViel und ein Zuwenig. Das Zuviel hat sich lange geltend gemacht, indem man Weissagungen und Vorbilder zu häufen suchte. Aus diesem ZuViel ist hernach durch den Gegensaz das Zuwenig entstanden, und dieser Gegensaz muß nun immer mehr aufgehoben werden. § . 4 7 . hat es nun schon zu thun mit dem Geschichtlichen in dem Christenthum selbst, daß es nämlich als geschichtliche Erscheinung ein sich Veränderndes ist, und hier entsteht immer die Aufgabe die Einheit festzuhalten. Diese kann sich in einer geschichtlichen Erscheinung nur dadurch documentiren, daß es in jedem Augenblick etwas giebt, was die Einheit des Wesens repräsentirt. Dieß soll geleistet werden durch die Begriffe C an o n und Sac ra m en t. – Diese Begriffe scheinen dem Christenthum eigenthümlich. Man hat Analogien im Judenthum gesucht mit den christlichen Sacramenten, aber diese Analogien sind sehr schwach. Ebenso auch der geschichtliche Zusammenhang, durch welchen man glaubt, daß das eine an die Stelle des Andern getreten sey, da die Beschneidung lange Zeit neben der Taufe bestand, wie das OsterLamm neben dem AbendMahl. Ein Kanon ist im Alten Testament auch, aber der Begriff ist nicht derselbe. Der AltTestamentliche Kanon war die Gesammtliteratur die aus jener Zeit übergeblieben war, es gab, als der Kanon constituirt war, gar kein hebräisches Buch, das nicht im Kanon gestanden hätte. | Zwischen Kanon und Sacrament ist der Unterschied, daß das Sacrament die Identität der Gemeinschaft, der Kanon die der Auffassungsweise des Glaubens darthun soll. Der apologetische Charakter dieser Begriffe begründet sich eben darinn, daß das Christenthum von Anfang an weit weniger Stabilität gehabt hat als andre Religionsweisen, und deßwegen es andern erscheinen mußte als ein so Fließendes, daß sich nichts darinn festhalten ließ. Nun aber beruht der Anspruch auf ein geschichtliches Daseyn auf dieser Einheit im Wechsel. So sagen wir nun, wir sind dieses geschichtliche Ganze, weil wir diesen Kanon und diese Sacramente immer gehabt haben. Weil diese Begriffe streng genommen dem Christenthum eigenthümlich sind, so können sie nicht mehr in die Apologetik gehören, sondern wir befinden uns hier auf einem eigenthümlich christlich theologischen Gebiete. Der Z u s a z sagt, daß die Apologetik es mit den dogmatischen Theorien über diese Begriffe nicht zu thun habe. Nämlich diese Begriffe werden hier aufgefaßt als in die allgemeine Apologetik gehörig. Betrachten wir aber die christliche Kirche in ihrer Geschiedenheit, so finden wir auch diese verschiedenen Begriffe verschieden realisirt, nämlich der Kanon hat in der römischen Kirche größren Umfang und

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geringre Gültigkeit, und ebenso giebt es eine größre Menge von Sacramenten. Die dogmatische Theorie bezieht sich auf diesen Gegensaz, und unterscheidet sich bestimmt von der apologetischen Behandlung. § . 4 8 . ist das Verhältniß des Christenthums als Gemeinschaft zu andern menschlichen Gemeinschaften [behandelt], zu andern, nämlich nicht religiösen, sondern solchen, in welchen dieselben Menschen leben, die in der christlichen Kirche sind. Da ergiebt sich die Möglichkeit, daß beydes nicht zusammenbestehe. Und sobald einer sagt: in der christlichen Kirche Seyn, dieß besteht nicht zusammen mit den andern ethisch nothwendigen Gemeinschaften, so ist dieß ein Angriff auf die historische Geltung des Christenthums. Darauf beziehen sich die Begriffe von Hi e r ar c h i e und K i r c hen G ewa lt. Dieser apologetische Charakter sezt wieder einen Angriff oder wenigstens seine Möglichkeit voraus, zu gleicher Zeit aber haben diese Begriffe ihren Ort auch noch anderwärts. Nämlich die christliche Kirche als eine Gemeinschaft muß eine bestimmte Gestaltung haben, und bestimmte übertragene Functionen, was freylich in verschiedener Form kann gedacht werden; die apologetische Aufgabe ist nun zu zeigen, daß jede in der christlichen Kirche mögliche Form der Leitung zusammen-| bestehen kann mit andern Organisationen. Nun haben wir zunächst den Staat neben der Kirche als eine organisirte Gemeinschaft. Beyde haben auch das gleiche Element, nämlich die Familie, und da entsteht die primitive Aufgabe, daß die Familie muß bestehen können sowol als Glied der Kirche, wie des Staates. Man könnte sagen, damit wäre die ganze Aufgabe gelöst, denn wenn in den Elementen kein Widerspruch ist, so kann er auch im Ganzen nicht seyn. Das PAllgemeinereS ist aber, daß die Kirche dem Staat nicht im Wege steht. Da könnte man aber sagen, kein Staat ist das was er nach der ethischen Construction seyn sollte, und die Kirche darf nicht blos nicht im Widerspruch seyn mit dem Staat wie er seyn soll, sondern wie er ist. Die Sache historisch betrachtet finden wir einen durch mehrere Jahrhunderte hindurchgehenden Conflikt beyder. Wenn nun schon frühe die Kirche im Begriff scheint sich ein Uebergewicht über den Staat zu verschaffen, so manifestirt sich in der protestantischen Kirche die entgegengesezte Stellung, daß der Staat sucht, die Kirche in die politische Organisation hineinzuzwängen. Im Zu s a z ist auch noch der Wissenschaft gedacht. In diesem Gebiet giebt es freylich keine so constante Gesellschaft; doch überall, wo ein Volk zu geschichtlicher Bedeutung kam, wurde eine solche wissenschaftliche Organisation angestrebt, und diese findet sich oft im Conflict mit der politischen sowohl als der religiösen Organisation. Ein 26 PAllgemeinereS] oder PAllgemeineS

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Streit zwischen den philosophischen Schulen und dem Priesterthum findet sich schon im Alterthum, und ebenso später. Aber nicht minder giebt es ein solches Mißverhältniß zwischen Wissenschaft und Staat. In der christlichen Welt erscheint es bald als Bewährung des Staates, die Wissenschaft zu erwecken, bald erscheint die Kirche im Besiz des Wissens, bald kommen eigne wissenschaftliche Organisationen zu Stande wie die Universitäten des MittelAlters. Die ethische Construction kann nun weit eher diese Organisation für das Wissen als wesentlich darstellen, aber das nur später zur Entwicklung kommt als die zwey andern, und es ist wegen des häufigen Conflikts nöthig, das Verhältniß der christlichen Gemeinschaft zu derselben festzustellen. Verschieden sind gewiß diese Organisationen der Kirche und des Wissens, denn der Frömmste ist nicht der Wissendste, beydes hat also ein verschiedenes Maß, und beydes ist daher verschieden. Sobald aber die Wesentlichkeit des einen wie des andern ethisch nachgewiesen ist, so muß auch von jeder Form der religiösen Gemeinschaft, also auch von der christlichen nachgewiesen werden ihre Verträglichkeit mit wissenschaftlichen und Staatsgesellschaften. | Die Begriffe Hierarchie und KirchenGewalt beziehen sich auf die Kirchenleitung, und es muß gezeigt werden, daß sie geübt werden können, ohne Nachtheil der Wissenschaft und des Staates. Seitdem der römische Katholizismus sich gestaltet hat, hat er überall einen entschiedenen Einfluß geübt auf die Wissenschaften, wo die kirchliche Auctorität befehlen will, was wissenschaftlich richtig sey oder nicht. Das constante Resultat davon ist der codex librorum prohibitorum. Nur daß dann sehr oft auch der katholische Staat der Wissenschaft zur Hilfe kommt und diese Ausübung der kirchlichen Autorität nicht anerkennt. Wogegen, seitdem der Protestantismus diese Gewalt des Katholizismus gebrochen hat, die Wissenschaft oft angreifend zu Werke gegangen ist gegen die kirchliche Organisation. In beyden Beziehungen nun besteht das apologetische Verfahren in der richtigen Aufstellung dieser zwey Begriffe. Wie verhalten sich diese untereinander? KirchenGewalt ist die Organisation der Kirchenleitung ihrem Inhalte nach, und hier ist auseinanderzusezen, auf [was] sich die Gewalt der Kirche erstreckt, und es muß dann nachgewiesen werden daß sie den Einzelnen nicht hindert, in allem Bürgerlichen sich der Autorität des Staates zu fügen, und daß der Einzelne ebensowenig gehindert sey, auf dem wissenschaftlichen Gebiete jede Forschung anzustellen. Wenn dann einer auf wissenschaftlichem Weg zur Ueberzeugung von der Nichtigkeit des Christenthums käme: dann hat er seine Freyheit sich der Kirche zu entziehen; aber indem nun die christliche KirchenGewalt dieß zugiebt, so drückt sie damit die Ueberzeugung aus, daß dieß nur aus Irrthum geschehe, und zwischen der Organisation der Kirche und der Wissenschaft kein

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wahrhafter Streit seyn könne. Der Begriff Hierarchie hat es nun mit dem Verhältniß der verschiedenen Functionen der KirchenLeitung unter sich zu thun. PHierarchischS ist die Abstufung, in welcher die Einzelnen in Beziehung auf die Kirchenleitung stehen. Das Wort hat seine Geltung darinn, daß der Ausdruck ἀρχὴ die obrigkeitliche Auctorität aber als etwas vom Gesez übertragenes ausdrükt, und die andre Hälfte des Wortes bezeichnet die Anwendung auf den religiösen Kreis. Es kann leicht seyn, daß, wenn man auf den Inhalt sieht, die Kirchenleitung in keinem Widerspruch mit dem Staate sey, wenn man aber auf die Vertheilung der Functionen sieht, so stellt sich einer heraus, besonders wenn einer der | in der Kirche untergeordnet ist, im Staat dominirt oder umgekehrt. § . 4 9 . wird eine Folge aus dem Bisherigen dargestellt. Alle diese Begriffe müssen immer auf das eigenthümliche Wesen des Christenthums zurückgehen, diese Formel kommt also hier in mehrfache Anwendung. So wird die Folge gelten, daß je leichter sich dieß ineinanderfügt, desto mehr auch die Ueberzeugung befestigt werden muß, daß das Wesen des Christenthums richtig aufgefaßt ist. Vom § . 5 0 . an ist von der speciellen, für uns der protestantischen Apologetik die Rede, und diese muß denselben Weg einschlagen wie die allgemeine. Denn der Protestantismus verhält sich zur christlichen Kirche überhaupt, wie diese selbst zur allgemeinen Idee der Religion p. Es gestaltet sich also hier dieselbe Aufgabe. Ganz dasselbige wie die §. 43 aufgestellten Grundbegriffe von na tü rlich und pos it iv kann nicht vorkommen, aber doch etwas Analoges, nämlich die Stelle des natürlichen nimmt das christliche ein, und die Stelle des Positiven muß das Speciellprotestantische einnehmen. Es liegt in der christlichen Kirche selbst, eine Manchfaltigkeit von verschiedenen Erscheinungen hervorzubringen. Diese müssen in der christlichen Kirche begründet seyn, und da ist das Eigenthümliche das Positive und das Natürliche das, worinn dieß begründet ist. Wollen wir uns denken, daß Katholizismus und Protestantismus einen reinen Gegensaz bilden, und doch sey der Katholizismus keine Corruption: so müssen wir den Grund ihres Zusammenbestehens im Wesen des Christenthums finden. So muß also eine Formel für das eigenthümliche Wesen des Protestantismus aufgestellt werden. Ohne apologetische Veranlassung hätte diese in der Einleitung zur protestantisch christlichen Dogmatik ihren Ort. Eine solche Formel für das eigenthümliche Wesen des Protestantismus ist schwer, weil schwer zu bestimmen ist, was denn zum Protestantismus gehört. Es giebt eine Menge von kleinren Religionsgemeinschaften, die geschichtlich nicht mit demselben Punkte zusammenhängen, 3 PHierarchischS] oder PHierarchieS

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die wir aber doch auf die Seite des Protestantismus stellen müssen, so die Anabaptisten, die sich von der protestantischen Kirche gesondert haben, ja zum Theil ihre eigenthümlichen Ansichten aufgestellt haben, ehe sich die protestantische Kirche gebildet hatte. Dasselbe gilt von den Quäkern, obgleich sie in wesentlichen Punkten von uns abgehen, so sind sie doch ebenso wie wir dem Katholizismus entgegengesezt. Wegen dieses Schwankens der Grenzen ist die Aufgabe sehr schwer, das Wesen des Protestantismus zu bestimmen. | Was die Begriffe von §. 45 betrifft, O f f e n bar u ng p, so können diese hier nicht aufgestellt werden, weil die protestantische Kirche sich keinen unmittelbaren göttlichen Ursprung zuschreibt. Was aber die Begriffe von Wei ssa g u n g und Vo r b ild § 46 betrifft, so findet sich hier eine ausgedehnte Analogie, und dieser Gegenstand ist auch von Anfang an behandelt worden. Indem nämlich die Protestantische Kirche nichts Neues seyn wollte, sondern nur ein Zurückgehen auf das Ursprüngliche und Ächte, so mußte sie nachweisen, daß, was sie aufstellte, dem Wesen nach schon früher vorhanden gewesen sey. Jede Opposition gegen die katholische Kirche war in der Analogie der Weissagungen, und dieß ist der Begriff den man mit dem Ausdruck testes veritatis bezeichnete. Ebenso können auch viele praktische Versuche die aber zu keiner wirklichen Organisation gelangt sind, als Vorbilder angesehen werden. Nun was die § 47 aufgestellten Begriffe von Ka non und S a cra me n t betrifft, so hat der Protestantismus keinen eignen Kanon und keine eignen Sacramente; denn die Differenz des Kanon betrifft nur das Alte Testament. Nun aber treten hier die analogen Begriffe auf von C o n f e s s i o n und R i t u s . Die christliche Kirche im Allgemeinen ist ein sich beständig veränderndes, sie ist eine geschichtliche Einheit nur, wenn ein Stätiges im Wechsel nachgewiesen werden kann, dieß geschieht in Beziehung auf die christliche Kirche überhaupt durch Kanon und Sacramente, in Beziehung auf die protestantische Kirche durch Confession und Ritus. Confession und Ritus sind die allgemeinen Typen der Lehre und des Cultus, und sofern hier ein sich gleichbleibendes gesezt wird, so wird dasselbe dadurch erreicht wie oben, nämlich die Identität des Beharrlichen im Wechsel. Diese Aufgabe ist apologetisch für den Protestantismus höchst wichtig, weil die katholische Kirche uns immer vorwirft, die protestantische Kirche existire gar nicht, sie sey in beständigem Fluß, nirgends sey dasselbe an allen Orten und zu verschiedenen Zeiten. Daran schließt sich dann von 19 Vgl. etwa Matthias Flacius: Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamarunt Papae, Basel 1556, oder den dem Konkordienbuch (1580) angehängten „Catalogus testimoniorum“ (Concordia, Leipzig 1732, S. 831–882; Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 8. Aufl., Göttingen 1979, S. 1101–1135)

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selbst die Analogie mit dem was §. 48 aufgestellt ist, mit Hier a rchie und K i r c h e nG e w al t . Die katholische Kirche scheint uns ganz abzusprechen daß wir eine Hierarchie und Kirchengewalt haben. Wir müssen aber nachweisen, daß die protestantische Kirche aus dem nicht herausgehe, was für die Kirche nothwendig ist, wenn sie soll zusammenbestehen können mit den übrigen Organisationen. Dieser Conflikt hat sich | ganz entgegengesezt gestellt für Katholizismus und Protestantismus. Läge es in der Natur unsrer Kirche, sich dem Staat und der Wissenschaft zu unterwerfen, so thäte sie Verzicht auf ein selbständiges Daseyn, es muß also nachgewiesen werden, daß dieß gegen das Princip des Protestantismus geschieht, und daß dieser eine Organisation haben wolle, welche von ihm selbst ausgehe und von Staat und Wissenschaft unabhängig sey, und daß, wo es anders sey, dieß nur in temporärem Übergewicht des Staates p den Grund habe. In der protestantischen Kirche war das Erste, daß man die Untersuchungen auf den K an o n gründete. Damit aber die Untersuchung sich nicht in verschiedene Resultate ins UnEndliche spalten möge, wurden die HauptResultate der Untersuchung in der Confession niedergelegt. Dabey kommt es aber nicht darauf an, was in der Confession enthalten ist, als ob sie überall und immer dasselbe ist, sondern nur auf die Tendenz zur Einheit kommt es an. Ebenso mit dem Ritus. Die Anfänge der Reformation waren in vielen Stücken eine Änderung des Gebräuchlichen. Die katholische Kirche hatte aber damals nicht einen und denselben Ritus, denn jeder Bischof hatte das Recht, bey seinem Amtsantritt den Ritus zu bestimmen, doch war durch die Abhängigkeit von Rom die Einheit im Ganzen erhalten. Daran änderten nun die Reformatoren nach ihrem Dafürhalten, und hier war wieder die Gefahr des Zerfalls. Es mußte daher eine Tendenz in die Kirche kommen, die Gebräuche gemeinsam festzustellen, aber keineswegs als unabänderlich für alle Zeiten und Orte, sondern mit Vorbehalt der Freyheit nur so, daß sich überall die Tendenz zur Einheit ausspricht, und jeder KirchenGenosse sich zu Haus findet auch in einer anderen protestantischen Gemeinde. Insofern erfüllt dieser Begriff als ein in seiner Erscheinung Bewegliches und Lebendiges doch die Aufgabe, die Einheit in der protestantischen Kirche zu erhalten. In Beziehung auf die Begriffe H i er a rchie und Kirchen Reg im e n t wird §. 50 gesagt, komme es besonders an auf das Verhältniß der Kirche zum Staat. § 48 war auch auf die Wissenschaft Rücksicht genommen, von dieser braucht also nach § 50 in der speciellen protestantischen Apologetik gar nicht die Rede zu seyn, weil nämlich die Protestantische Kirche mit der Anerkennung der eignen UntersuchungsFreyheit angefangen hat, sie hat sich also auch gar nicht dagegen zu rechtfertigen, daß in ihrer Constitution ein solcher Eingriff

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begründet sey. Aber ebensowenig ist nöthig eine Sicherstellung gegen die Wissenschaft von Seiten der protestantischen Kirche. Wenn es geschehen könnte, daß die Wissenschaft an und für sich in ein Bündniß träte mit der römischen Kirche, so daß es eine äussre Polemik | gegen die protestantische Kirche gäbe, so wäre eine solche Sicherstellung gegen die Wissenschaft nöthig; allein dieß ist nicht zu denken, und die Tendenz zum Katholicismus in unserer Zeit ist nur Sache Einzelner, die katholische Kirche hat auch keine Rücksicht darauf genommen, sie will ihre Geltung nicht auf die Wissenschaft, sondern nur auf ihre eigne Auctorität gründen. § . 5 1 wird gesagt, daß ein solcher Zustand der Theilung der Kirche auch auf die allgemeine Apologetik Einfluß habe, und so auch die Apologetik des Christenthums eine andre sey in der protestantischen Kirche. Im Z u s az werden einige Beschränkungen angebracht. Die Differenz könne um so klarer seyn, je schärfer die Apologetik von der Dogmatik gesondert wird. Doch werden auch so die Differenzen niemals ganz = 0 werden, auch wenn die allgemeine Apologetik von der speciellen getrennt wird. Den protestantischen Charakter können wir nie verleugnen. Die zweyte Beschränkung ist die, daß diese Differenzen zu groß werden können, und so die PeigenthümlicheS Idee verfehlen durch die Vermischung der speciellen Apologetik mit der allgemeinen, wenn man nicht das Christenthum überhaupt, sondern nur den Protestantismus als Christenthum geltend machen will, und so die andern ausschloß. Die katholische Kirche wird nie eine andre Apologetik aufstellen können als eine solche, weil die Linie des Unterschieds von häretisch und unchristlich fast verschwindet. Bey uns ist dieß anders. Wenn eine Kirchengemeinschaft noch so viel unsrer Ueberzeugung Widerstrebendes enthält, aber sie will doch christlich seyn und basirt sich, wenn auch durch lauter falsche Schlüsse, auf das Christenthum, so sprechen wir ihr nicht ab, christlich zu seyn. § . 5 2 . ist nun die Rede von dem, was eine einzelne KirchenGemeinschaft in Beziehung auf ihren Gegensaz zu andern, um sich darinn geltend zu machen, zu leisten hat. In dem Christenthum ist die Einheit das Ursprüngliche gewesen, es ist von einem einzigen Punkte, von Christo ausgegangen, und namentlich sind die jezigen Gegensäze erweislich späteren Ursprungs. Wären sie nun aus der Einheit entstanden durch eine freywillige partielle Scheidung, so würde die im §. aufgestellte Aufgabe gar nicht gelten. Die KirchenGeschichte zeigt, daß niemals seit das Christenthum in die lateinische Welt übergegangen war, eine wirkliche Harmonie stattgefunden habe zwischen der lateinischen und griechischen Kirche. Wenn sie nun in dieser Bezie20 PeigenthümlicheS] oder PeigentlicheS

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hung sich freywillig geschieden hätten, und gesagt: wir wollen in unsrer und ihr in eurer | Sprache das Christenthum ausbilden, weil wir die HauptPunkte nicht gegenseitig in unsre Sprachen übertragen können, – dann wären sie mit gegenseitiger Anerkennung geschieden, und keine hätte sich jemals vertheidigen müssen. So war es aber nicht, sondern der jezige Gegensaz ist aus einem Streit entstanden. Nun steht aber auch so ein jeder Theil in historischem Zusammenhang mit dem andern, und da ficht jeder Theil den Zusammenhang des Andern mit dem Ursprünglichen polemisch an. Die einen sagen, der andre Theil sey nur durch Anarchie und Revolution entstanden, oder durch eine Corruption der ursprünglichen Auffassung, jenes mehr in gesellschaftlicher, dieses mehr in dogmatischer Beziehung. Das erste ist der Vorwurf, den die katholische Kirche dem Protestantismus macht. Die Vertheidigung dagegen liegt in den geschichtlichen Momenten, und kann nur geschichtlich geführt werden. Die Polemik des Protestantismus gegen den Katholizismus, die wir nicht anerkennen, ist aber die, daß es nothwendig gewesen sey, die vielen Corruptionen, welche in die Kirche gekommen seyen zu eliminiren, und darinn liegt eine solche Neigung, auch apologetisch anzuknüpfen an das Ursprüngliche der Lehre, und ihre Identität mit demselben nachzuweisen, wie die katholische Kirche den vorzüglichen Werth darauf legt, die Identität des KirchenRegiments nachzuweisen. Nun ist im Z u s a z gesagt, da das Christenthum ursprünglich Eines gewesen, aber der Geschichte zufolge Gegensäze entstanden, so ist auch möglich und wirklich, daß deren mehrere nacheinander entstehen, und aufeinander folgen. Nun kann nicht ein Gegensaz auf den Einen folgen, ohne daß der Andre verschwunden ist, sonst könnte er nur eine Unterabtheilung des ersten seyn. Daraus folgt, daß man, so wie ein Gegensaz gegeben ist, auch die Möglichkeit seines Verschwindens denken muß, und davon handelt, als von der lezten Aufgabe der speciellen Apologetik § . 5 3 . Die specielle Apologetik soll die Formeln für dieses Verschwinden divinatorisch in sich schließen. Man könnte hier fragen: wenn man auf dieselbe Weise auf die allgemeine Apologetik zurückgeht, so ist das religiöse Element überall dasselbe, und diese Einheit ist ein früheres als die verschiedenen religiösen Gestaltungen. Soll nun auch in der allgemeinen Apologetik gesagt werden, da der Gegensaz der verschiedenen Religionsgemeinschaften ein gewordener ist, so muß man auch sein Ende voraussezen, und das Christenthum muß sich bewußt seyn, daß es einmal in seiner besonderen Erscheinung ein Ende haben wird. Und es giebt eine Menge von Darstellungen des Christenthums in unsern Tagen, | deren Tendenz dieß ist, und dieß fängt immer schon an, wenn man eine Perfectibilität des Christen-

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thums in Beziehung auf Christum selbst annimmt. Nun läßt sich aber deutlich machen, daß diese Folgerung und Anwendung unsres Sazes falsch ist, denn eben weil man sagen muß, die Identität des religiösen Elements ist nur innerlich ein früheres, aber in der Erscheinung ist es uns nur gegeben als ein Manchfaltiges: so ist damit gegeben, daß diese Differenz und damit das Christenthum nur dann aufhören wird, wenn die Differenz zwischen Innerlichem und der Erscheinung aufhört, d. h. am Ende der Geschichte, aber niemals in dem Verlauf derselben. Was nun aber das Verschwinden der Gegensäze innerhalb der christlichen Kirche betrifft, so muß sich natürlich immer weniger Anlaß zum apologetischen Verfahren zeigen in solchen Punkten in welchen sich der Gegensaz abschleift als in Andern. Es müssen also in der speciellen Apologetik diejenigen Punkte hervorgehoben werden in welchen die Gegensäze sich am meisten abschleifen, gegenüber von denen, in welchen sie noch am schroffsten sind, womit dann angedeutet ist, wo der Gegensaz am ersten schwinden wird. Wenn wir das Verhältniß zwischen Katholizismus und Protestantismus betrachten, und an ein Verschwinden desselben denken: so läßt sich zweierley denken. Der Katholizismus ist der Siz der Mißbräuche, von welchen der Protestantismus sich losgemacht hat; daraus wird die Aufhebung der Mißbräuche postulirt, womit der Katholizismus in den Protestantismus sich auflösen würde. Die richtige Ansicht ist aber die andre, daß nämlich aus dem Katholizismus alles Mißbräuchliche entfernt werde, und er doch noch einen Gegensaz gegen den Protestantismus einschließen kann. |

Zweyter Abschnitt. Grundsätze der Polemik.

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§ . 5 4 . Der nach innen gerichteten Tendenz der Polemik gemäß könnte man sagen: stellen wir uns als Protestanten auf den allgemein christlichen Standpunkt, so hätten wir die Corruption des Christenthums im Katholizismus pp zu bekämpfen. Dieß ist oben geleugnet und gesagt, daß die allgemeine Polemik nur gegen Etwas im Katholizismus, nicht gegen den Katholizismus an sich gerichtet sey. Aber ebenso auch gegen Etwas und Mancherley im Protestantismus. Hier werden nun zweierley Krankheitsformen angegeben: Zurücktreten der Lebenskraft und beygemischtes Fremdartiges. Jenes ist ein quantitativer, dieses ein qualitativer Fehler. – Im Zusaz ist auf 31 Vgl. oben zu § 41 (316,21–23)

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die Analogie nicht blos im thierischen Organismus, sondern auch im politischen hingewiesen, wo auch oft die gemeinsame Lebenskraft zurücktritt und das Persönliche in demselben Maße vorherrschend wird, oft aber auch Elemente aus andern Staatsformen aufgenommen werden, – beydemale zum Ruin des Staates, wenn nicht durch eine kräftige äussre oder innre Opposition abgeholfen wird. § . 5 5 . Hier wird die eine Art der Krankheitszustände, die welche von zurücktretender Lebenskraft herrühren, selbst wieder getheilt, und so näher die Sitze der Krankheiten angegeben. Es ist nämlich eine Schwächung der christlichen Frömmigkeit denkbar neben einer starken Richtung auf die Gemeinschaft, wobey aber der christliche Charakter nicht in demselben Maße hervortritt. – Andrerseits giebt es aber auch ein hohes Interesse für das eigenthümlich Christliche neben Mangel an Trieb zur Gemeinschaft. Beydes aber ist [ein] KrankheitsZustand, sowol wenn bey der innigsten Gemeinschaft das Positive des Christenthums verdunkelt ist, als auch wenn bey klarster Einsicht in das Positive die Gemeinschaft abnimmt. Zu s a z . Der Normalzustand der Kirche ist eine Fiction wie der NormalgesundheitsZustand im Menschen, da man keinen in jeder Beziehung ganz gesunden Menschen finden wird. So ist der Normalzustand der Kirche im geschichtlichen Verlauf der Kirche nicht zu finden, sondern blos ein Princip der Beurtheilung für die geschichtlichen Bewegungen, je nachdem sie Annährung | oder Rückschritt sind; wenn leztrer nachgewiesen werden kann, so ist Material für Polemik vorhanden. § . 5 6 . I n di f f e r e n t i s m u s wird hier als Bezeichnung genannt für denjenigen quantitativen KrankheitsZustand, der in Zurücktreten des eigenthümlich Christlichen besteht. Indifferent ist gewöhnlich soviel als gleichgültig, der keinem von Mehreren einen Vorzug giebt. Denken wir Einen, abgesehen von seiner Angehörigkeit an eine gewisse Religionsform, der nun die Erscheinungen des religiösen Elements betrachtete, und sagte, alle religiösen Gemeinschaften seyen gleich: so wäre das noch kein Indifferentismus. Sagt er es aber als Glied einer KirchenGemeinschaft, so wäre das schon [ein] Saz der Praxis, nicht der Theorie, mithin Indifferentismus. Diese Erscheinung wiederholt sich häufig in der christlichen Kirche. Oft sagt man: das Positive des Christenthums ist Nebensache, die Hauptsache ist die Frömmigkeit überhaupt, oder das Handeln. Wenn wir uns denken, wie in vielen Gegenden die öffentlichen ReligionsVorträge wenig vom Christlichen gefärbt sind, wie aber die Sacramente immer am stärksten das Eigenthümlichchristliche aussprechen: so kann man sagen: alle Gleichgültigen können gute KirchGänger seyn, aber das Sacrament wird ihnen weniger anliegen.

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§ . 5 7 . Handelt von der Schwächung des Gemeinschaftstriebes oder vom S e p a r at i s mu s . Je mehrere dergleichen Abgesonderte in der Gemeinschaft sind, desto schwächer wird sie. Der eigenthümlich christliche Typus der Frömmigkeit kann dabey in allen seyn, obgleich nach einer Seite hin immer auch der Separatismus eine Schwächung des Eigenthümlichen der christlichen Frömmigkeit in sich schließt. Zu s a z . Es kann Richtungen geben auf partielle Aufhebung der Gemeinschaft, was noch kein Separatismus ist. Gewöhnlich scheidet man nicht genau genug zwischen eigentlichem Separatismus und dem Streben, kleine Gesellschaften zu gründen innerhalb der großen Gemeinschaft der Kirche. Der Separatismus streng genommen ist die Tendenz, den Einzelnen in Beziehung auf das religiöse Element zu isoliren. So weit solche Absonderungen sporadisch sind, so sind sie noch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung; hier wird der KrankheitsZustand immer als dem Ganzen zugehörig angesehen, so daß sich jeder Einzelne im Gegensaz zur Gemeinschaft findet. Die sich sondern Wollenden stellen sich dann natürlich zusammen, was aber streng genommen nur heißen kann, daß sie gemeinschaftlich gegen das Gemeinschaftliche polemisiren, ohne unter sich eine Gemeinschaft wieder aufzurichten.| § . 5 8 . Handelt von den qualitativen KrankheitsZuständen, worinn ein Fremdartiges sich zu organisiren sucht. Auch hier sind zwey Regionen zu unterscheiden, in welchen sich die Krankheit zeigen kann, nämlich entweder in der Lehre oder in der Verfassung. Wenn sich in jener etwas Fremdartiges organisirt, so ist es Häresis, wenn in dieser – Schisma. Die H är e s i s ist zu bestimmen als eine Durchdringung des eigenthümlichen Princips des Christenthums von fremdartigen Principien, welche nun jenem ihren Character aufdrücken. Damit sich die Häresis nicht verbreite, wurde sie von der Kirche ausgeschlossen. Schisma deutet etymologisch nur auf das Bestreben, eine kleinere Gemeinschaft im Gegensaz gegen die große hervorzubringen, ohne daß gerade Fremdartiges darinn enthalten seyn müßte. Aber dann ist es auch nicht Schisma zu nennen. Andrerseits hat die Kirche manches Fremdartige aufgenommen, ohne daß ein Schisma daraus entstanden wäre. Seit der Anerkennung der katholischen Kirche durchdrang manches jüdische und heidnische das Christenthum so, daß es gar nicht mehr als Spaltung erschien wegen der Allgemeinheit der Krankheit. Dagegen erschien als Spaltung das Bestreben derer, die das Fremdartige ausmerzen wollten. Zu s a z . Aus H är e s i s wird immer Schisma wenn die Kirche die Häretiker ausschließt, indem diese nicht anders ihren Gemeinschaftstrieb befriedigen können. Inwiefern hat die katholische Kirche ein Recht, die Protestanten als Schismatiker zu betrachten? In den Refor-

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matoren war kein Bestreben nach einer besonderen Gemeinschaft, sie wollten vielmehr das Ganze reformiren; nun sie aber von der Kirche ausgeschlossen wurden, und die Verwalter des kirchlichen Bandes sich zurückzogen, mußten sie eine neue Gemeinschaft stiften. So haben wir gegen die Katholiken in dieser Beziehung immer den Gegengrund, daß man uns gezwungen hat, auszuscheiden, zugleich aber sehen wir, wie von verschiedenen Gesichtspunkten aus einer als Schisma ansieht, was der Andre nicht. Dasselbe gilt von der Häresis, denn mit verschiedener Ansicht tritt auch verschiedene Beurtheilung ein, der eine behauptet, es sey ein fremdartiges Princip beygebracht, der Andre glaubt nur das früher Gemeinschaftliche einseitig angewandt zu haben. Ähnlich verhält es sich auch mit Indifferentismus und Separatismus. Die Separatisten werden nicht leicht geradezu behaupten, das Princip des Christenthums sey nicht gemeinschaftstiftend, sondern sie werden ihr Ausscheiden aus einer Corruption der KirchenGemeinschaft erklären, aus welcher sie scheiden. Und bey Lehrstreitigkeiten werden den Streitenden alle diejenigen als Indifferentisten erscheinen, welche an dem Streit keinen Theil nehmen. | Insofern sind diese Begriffe schon so aufzustellen, daß sie nicht verdreht werden können. § . 5 9 . Wie die ganze philosophische Theologie kritischer Natur ist, so können auch nicht nur die apologetischen, sondern ebenso die polemischen Grundbegriffe nur durch ein kritisches Verfahren festgestellt werden. Das rein Formale daran kann aus dem Begriff der Gemeinschaft abgeleitet werden; ist aber von ihrem Material die Rede, wie sie in einer bestimmten Gemeinschaft vorkommen, so lassen sie sich nur durch das kritische Verfahren feststellen, so daß nur eine Annäherung an die Richtigkeit möglich ist, und die Begriffe sich erst in der Anwendung in Wissenschaft und Kirchenleitung bewähren können. Im Zu s az wird nun gesagt, daß wegen der Weitschichtigkeit der Begriffe von Häresis und Schisma in diesen Begriffen selbst, in Verbindung mit dem Begriff von dem Wesen des Christenthums, eine Theilung gemacht werden müsse, um das historisch Gegebene desto leichter zu subsumiren. Die Richtigkeit dieser Theilung bewährt sich aber hinwiederum durch die leichte Anwendung auf die Manchfaltigkeit des Gegebenen. In Zuständen heftiger Streitigkeiten kann leicht etwas als Krankheit dargestellt werden, was es doch nicht ist, oder daß etwas Krankhaftes nicht als solches erkannt wird, – zum Schaden der Kirche. Die philosophische Theologie und näher die Polemik muß die Kirchenleitung in den Stand sezen, das Krankhafte sogleich zu erkennen und zu bestreiten. 11 einseitig] einnseitig

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§ . 6 0 . giebt nun das Verfahren an in Beziehung auf die Subsumtion einzelner Erscheinungen unter jene Begriffe. Hier, wie in der Apologetik, kommen nun wieder die beyden Elemente vor: das Verhältniß der Erscheinung zum Wesen und die Art der Entstehung; aus beyden muß der Beweiß geführt werden können. In der Wirklichkeit tritt das Fremdartige oft nicht so heraus, besonders wenn es sich in Einzelnen, und nicht in großen Gemeinschaften, zeigt; je bestimmter aber die Begriffe gefaßt sind, desto leichter wird man mit der Subsumtion des Einzelnen darunter ins Klare kommen, woraus die Wichtigkeit dieses Zweiges der Theologie erhellt; denn sind die Begriffe für die Beurtheilung der kirchlichen Erscheinungen schwankend, so ist dieß von größtem Schaden für die christliche Kirche. Durch falsche Begriffe und unrichtige | Anwendung derselben – z. B. Mysticismus, Pietismus p – ist schon viele Störung in die Kirche gebracht worden. § . 6 1 . Macht den Uebergang von der allgemeinen zur speciellen Polemik, die aber so wenig als die specielle Apologetik im einzelnen hier ausgeführt wird, da sie denselben Gang zu nehmen hat wie die allgemeine. In dem Wesen des Christenthums, das jede einzelne KirchenGemeinschaft aussprechen soll, und in dem Begriff der Gemeinschaft, dergleichen eine jede bilden will, hat die specielle Polemik ebenfalls die zwey Punkte, aus welchen theils durch Abschwächung der Lebenskraft, theils durch Einmischung von Fremdartigem, die Krankheitszustände entspringen. Auch in den partiellen KirchenGemeinschaften giebt es Indifferentismus, wie z. B. viele Protestanten indifferent sind gegen den Gegensaz zu dem Katholicismus. Betrachten wir andrerseits den Gegensaz zwischen Lutheranern und Reformirten, der früher jenen andern Gegensäzen ganz gleich geachtet wurde, und sehen nun wie jezt beyde theilweise Eins geworden sind, und fragen: wie hat dieß geschehen können? so werden wir sagen müssen: es hat ein Indifferentismus gegen diesen Gegensaz vorangehen müssen. Wäre der Gegensaz schroff geblieben, so wäre keine Vereinigung möglich gewesen, zu unsrer Zeit sowenig als früher. Die der Vereinigung Widerstrebenden sehen sie als einen krankhaften Indifferentismus an. Die Polemik hat nun dahin zu wirken, daß dieses Widerstreben aufgegeben werde. Im Zu s az wird nun gesagt, daß bey getheilter christlicher Kirche Indifferentismus und Separatismus ursprünglich nur in einer einzelnen KirchenGemeinschaft einheimisch seyen und sich auf diese beziehen können, als Indifferentismus in Beziehung auf das protestantische Christenthum, als separatistische Neigung, sich von der protestanti31–32 Anspielung auf die Union von Lutheranern und Reformierten, die in Preußen zum Reformationsfest 1817 mit gemeinsamen Abendmahlsfeiern eingeleitet wurde.

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schen Kirche zu trennen; allerdings aber können solche Uebel dann auch in der ganzen christlichen Kirche zugleich überhand nehmen, in welchem Fall ein allgemeiner Grund davon aufzusuchen wäre. Was die Begriffe von Häresis und Schisma betrifft, so sollte man nie häretisch nennen, was sich von der Lehrweise einer besondern christlichen Gemeinschaft unterscheidet, noch schismatisch, was sich von einer solchen ParticularKirche trennt. Häretisches kann jezt füglich nicht mehr entstehen, weil ein fremdes religiöses Element nicht in solcher Weise mächtig werden kann in der Kirche, daß es sich auf besondre Weise organisirte. Dieß war natürlich in der Zeit, | als sich das Christenthum aus Juden- und Heidenthum herausbildete. Könnten wir jezt große Bekehrungen unter den Heiden denken, welche schon eine bestimmte Religionsform gehabt, und nunmehr weiter auch selbst das Christenthum in einer neuen Lehrentwicklung ausbildeten: dann wären Häresien denkbar, aber die neue Lehrentwicklung müßte hinzukommen, was aber unwahrscheinlich ist, da sie die Lehre ausgebildet empfangen werden von denen, die sie bekehrten. – Wenn man sich aber ein wissenschaftliches Princip in der Bildung der christlichen Lehre mehr als formell wirksam dächte, so wäre dieß ein fremdartiges Princip, und wenn dieß constitutiv auf die Lehre einwirkte, so könnte ein Analogon von häretischer Lehre sich bilden. Was das Schisma betrifft, so hat es Zeiten gegeben, wo das Christenthum in allgemeinem Schisma war, durch die Organisation der Hierarchie, welcher die fremdartige Idee des jüdischen Priesterstandes zu Grunde lag. Lassen sich ferner KirchenVerfassungen nachweisen, die entstanden sind, indem bestimmte bürgerliche Elemente zur Basis der KirchenVerfassung genommen werden, so sind dieß allerdings Bedingungen eines Schisma – allein dieß gehörte in die allgemeine Polemik, weil es in allen christlichen KirchenGemeinschaften vorkommen kann. In der englischen Kirche besteht ein solches Schisma, denn da ist die königliche Gewalt eingetreten, und hat die KirchenAngelegenheiten organisirt, die Presbyterianer sind die Evangelischen, die Episcopalen die Schismatiker. Ändert man jedoch den Gesichtspunkt und 30–2 Vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „Wenn wir die ganze protestantische Kirche als eine betrachten so ist die englische Kirche ein Schisma, denn da ist die königliche Gewalt eingetreten und hat die Kirche so organisirt daß das königliche Oberhaupt das kirchliche ist. Denken wir uns das britische Reich in einer Reformation begriffen, so sind die Presbyterianer die Kirche und die bischöfliche Kirche das Schisma. Aber die Hohe Kirche behauptet gerade daß die non Conformisten Schismatiker seien. Da ist dann die Aufstellung des Begriffs eine sehr schwierige. | Empirisch läßt sich das nicht aufstellen. Denn in Schottland ist die presbyterianische im folgenden die bischöfliche Kirche die herrschende und da kommt es nun darauf an ob man beide als Einheit oder nicht betrachtet. Im ersten Falle muß eine ein Schisma sein, im zweiten dagegen nicht. Man muß also den Begriff kritisch bestimmen.“ (S. 72f)

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sieht beydes als reformatorische Tendenzen an, so ist nicht nöthig, eines von beyden als Schisma anzusehen. § . 6 2 . Die höchste Aufgabe ist, krankhafte Zustände schon im Entstehen zu unterscheiden, ob sie mehr als solche oder als Keime zur Entwicklung neuer Gegensäze anzusehen seyen. Ein solcher Keim war in der englischen Kirche das Auseinandertreten der Episcopalen und Presbyterianer, indem die einen sich mehr demokratisch, die andern mehr monarchisch constituirten analog der Landesverwaltung. Schismatisch wäre es zu nennen, wenn es von dem Streben der bürgerlichen Gewalt ausgegangen wäre, die Kirche in sich hineinzuziehen, – was nur von der EpiscopalKirche gesagt werden kann, da die Presbyterianer in keiner Verbindung mit dem Staate stehen. Fragen wir nach der Art, wie eine Manchfaltigkeit particularer | KirchenGemeinschaften aus der Einheit, und nach der Art wie σχίσματα entstehen, so wird dieß ziemlich dieselbe seyn, beydemale gehen Einzelne voran, die Genesis ist in soweit dieselbe. Doch werden in den dabey wirkenden Triebfedern, in der Art des Verfahrens schon behandelte Unterschiede bemerkbar seyn. D e r Zu s a z macht auf die Fehler aufmerksam, welche aus dem Verkennen dieses Unterschieds in der Kirchenleitung entstehen. Hemmt man nämlich in der Entwicklung was Keime einer neuen Modification des religiösen Elements enthält, so erzeugt man Indifferentismus oder Separatismus indem gehemmt wird, was frey seyn sollte. Umgekehrt durch falsche Toleranz läßt man aufwachsen, was zerstört werden sollte.

Schlußbetrachtungen über die philosophische Theologie.

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§ . 6 3 . Giebt das Verhältniß der beyden Disciplinen, der Apologetik und Polemik an, daß sie sich ausschließen, was bey jeder richtigen Theilung stattfinden soll, und daß sie sich gegenseitig bedingen, so daß die eine die andre voraussezt, – was gleichfalls nothwendig ist aber nur bey der Theilung eines organischen Ganzen. Entgegengesezt sind sie sich nach Inhalt und Tendenz; dem Inhalt nach sind sie entgegengesezte Größen, ihre Richtung nimmt die eine nach aussen, die andre nach innen. Aber sie bedingen sich auch, keine kann sich richtig entwickeln, wenn sich die andre nicht richtig entwickelt, da sie beyde von einem Punkte, der Bestimmung des Wesens des Christenthums ausgehen. Das Verfahren der Apologetik und Polemik ist ein kritisches, bestehend in Subsumtion und Ausschließung eines Gegebenen in Beziehung auf ein bestimmtes Allgemeine. Die christliche Kirche,

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wie sie ist, ist das Gegebene; die apologetische Aufgabe ist daher Darstellung ihres Wesens, ihre Ansprüche auf geschichtliche Existenz als vollkommen begründet darzustellen; in ihr als Gegebenem sind aber auch die krankhaften Zustände mitenthalten, welche ausgesondert werden müssen, um das Wesen rein herauszubekommen, welche Aussonderung eben Aufgabe der Polemik ist, welche demnach vorausgesezt wird in der Apologetik. Ebenso findet aber auch das Umgekehrte statt. Wenn wir in der protestantischen Kirche z. B. | richtig zeigen und eliminiren wollen, was dem protestantischen Princip nicht entspricht, so muß uns das Eigenthümliche des Protestantismus gegeben seyn. § . 6 4 . Der gemeinsame Centralpunkt beyder Wissenschaften ist die Aufstellung vom Wesen des Christenthums, und dieser Begriff wird in der Apologetik nach aussen, in der Polemik nach innen gewendet. Dieses Zusammenhangs wegen können sie nur miteinander durch gleiches Fortschreiten zum Ziel gelangen. Aber eben deßwegen nur durch unendliche Approximation, weil ein völlig gleichmäßiges Fortschreiten nie zu denken ist. Noch übler wird es natürlich, wenn man von vorn herein, vom Centralpunkt aus, oder gar schon in diesem, den rechten Weg verfehlt. § . 6 5 . Wie der vorige §. sich auf das Verhältniß der zwey Elemente der philosophischen Theologie bezog, so dieser auf das Verhältniß der ganzen philosophischen Theologie zu der historischen. Die philosophische Theologie soll die historische voraussezen, oder vielmehr ihren Stoff, aber nicht in wissenschaftlicher Bearbeitung, welche ja nur möglich ist, wenn die philosophische Theologie schon ganz fertiggestellt ist. Es ist ein großer Unterschied zwischen Voraussezung des geschichtlichen Stoffs und der wissenschaftlichen Form desselben. Würde auch diese vorausgesezt, so wäre dieß ein Cirkel, wie schon oben bey §. 31 – angemerkt worden ist. Wenn es seine Richtigkeit damit hat, daß diese Disciplin eine kritische ist, so sezt sie voraus die ethischen und religiösen Grundbegriffe einerseits, und andrerseits den geschichtlichen Stoff, – und daraus kann sich dann das Kritische entwickeln. | Das Studium der philosophischen Theologie sezt nach diesem § die Kenntniß des Stoffs der historischen schon voraus, nämlich nicht als wissenschaftliche Kenntniß, sondern nur so, wie sie bey jedem gebildeten Christen vorausgesezt werden darf, und besonders bey einem solchen, der sich dem theologischen Studium widmen will, in welchem das geschichtliche Bewußtseyn besonders lebendig seyn muß. Die philosophische Theologie begründet aber erst die historische Anschauung 30 Vgl. oben zu § 31 (303,21–27)

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des Christenthums, weil sie den Maßstab an die Hand giebt zu der Abschätzung der einzelnen Momente. Unter historischer Anschauung ist aber nicht blos der pragmatische Zusammenhang, d. h. die causale Verbindung zu verstehen, sondern das Wesentliche ist der Entwicklungswerth der einzelnen Momente, d. h. wie sie sich verhalten zu dem richtig erkannten Wesen des Christenthums. So ist also eine richtige philosophische Behandlung des Christenthums nur möglich unter Voraussezung einer vollkommenen philosophischen Theologie. Thun wir einen Blick auf den Stand der historischen Theologie, so sieht man deutlich den Einfluß des gegenwärtigen Zustandes der philosophischen Theologie. Die Trennung der zwey Disciplinen wäre das Wenigste, aber daß man über die einzelnen Begriffe noch nicht einig ist, dieß hat die Folge, daß man auch über die einzelnen Begebenheiten noch nicht einig ist. Fragen wir nun nach der Ursache dieser Uneinigkeit, so liegt sie nicht in dem Material, sondern in den ethischen und religionsphilosophischen Grundbegriffen und in dem Verhältniß der wissenschaftlichen und religiösen Interessen in dem Einzelnen. Die Ausgleichung davon muß sich zuerst manifestiren in einer allen genügenden Formel über das Wesen des Christenthums und Protestantismus. § . 6 6 handelt von dem Verhältniß der philosophischen Theologie zur praktischen, welches im Allgemeinen schon aufgestellt worden ist als ein Gegensaz; nämlich die philosophische Theologie ist der Anfang, der sich zunächst an die reine Wissenschaft, die praktische derjenige Theil der sich unmittelbar an die Ausübung anknüpft. Nun wird hier aber ein zweyfaches Verhältniß aufgestellt; auf der einen Seite stehen sie so einander gegenüber, auf der andern aber beyde der historischen. Als das Gemeinschaftliche beyder gegen die historische wird angegeben, daß diese rein contemplativ wäre, die philosophische und praktische aber unmittelbar auf die Ausübung gerichtet. Schon dieß kann paradox erscheinen, daß die historische Theologie rein contemplativ seyn soll. Aber verstehen wir darunter die reine Anschauung, so ist unleugbar, die Geschichte will nur Anschauung. Dieß geschieht freylich nur indem von Principien ausgegangen wird. Wenn die historische Theologie rein contemplativ genannt wird, so heißt dieß, sie will nichts andres als das Geschehen – freylich nicht blos mechanisch, sondern wissenschaftlich – auffassen, | und in dem Bewußtseyn wieder auflösen. Die praktische Theologie dagegen als Technik ist nicht ein Wissen um des Wissens willen, sondern um eines Gebrauchs willen. Dieß kann von der geschichtlichen Betrachtung nicht gesagt werden. Insofern aber alle theologischen Disciplinen sich auf die Kirchenleitung beziehen, so muß auch die historische Theologie eine solche Beziehung auf das Practische haben, – aber diese liegt eben in der

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praktischen Theologie. Am meisten kann Wunder nehmen, wenn von der philosophischen Theologie gesagt wird, sie sey auf die Ausübung gerichtet, da sie doch an die rein wissenschaftlichen Disciplinen sich knüpft. Es ist nicht so zu verstehen als ob die apologetischen und polemischen Leistungen der unmittelbare Zweck der philosophischen Theologie wären. Es ist allerdings noch ein großer Unterschied zwischen der Apologetik und Polemik und der Technik für die apologetischen und polemischen Leistungen. Denn diese sind immer geschichtlich bedingt und einzelne, es sind also für eine Technik ganz besondere Beziehungen nöthig, und diese Technik gehört in die praktische Theologie hinein. Wenn gefragt wird: wie sind in gewissen Fällen Angriffe auf das Christenthum abzuschlagen? p, so muß die Antwort aus den allgemeinen Principien der praktischen Theologie abgeleitet seyn. Wenn aber gesagt wird, daß beyde Disciplinen nur um dieser Leistungen willen aufgestellt werden, und erst in ihnen ihre Bestimmung vollenden, ist [dieß] schwierig mit dem Bisherigen zu vereinigen. Wir dürfen nur daran uns erinnern, warum diesen Disciplinen gerade diese Namen gegeben worden sind. Die Bezeichnungen Apologetik und Polemik sind erst aus der socialen Stellung des Christenthums hervorgegangen, und eben dadurch haben auch die Elemente dieser Wissenschaften ihre Gestaltung bekommen. Aber diese Elemente selbst waren auch schon in der historischen Theologie nothwendig, nur nicht in dieser Form. Und ihre theologische Abzweckung würde nicht recht erkannt werden, wenn wir sie nicht auch in ihrer Beziehung auf die Gegenwart und die praktische Theologie sezten. So kann also gesagt werden, sie vollenden erst in diesen Leistungen ihre Bestimmung, wodurch ihre Bestimmung für die historische Theologie nicht aufgehoben wird. Das Andre, daß sie nur um dieser Leistungen willen aufgestellt werden, gilt von ihrer Aufstellung in dieser bestimmten Gestalt als Apologetik und Polemik. – Der zweyte Theil des Zusazes zeigt, wie philosophische und praktische Theologie | einander entgegenstehen. Die philosophische Theologie fixirt den Gegenstand erneut, den die historische entwickelt, und die praktische behandelt. Dieß Fixiren ist die Aufstellung der richtigen Formel. – Daß die praktische den Gegenstand behandelt, dieß bezieht sich auf die Erscheinung im Verhältniß zur Idee wie die philosophische Theologie die Einheit des Wesens im Manchfaltigen erkennt, so behandelt die praktische Theologie die gegebene Manchfaltigkeit in Beziehung auf jene Einheit des Wesens. § . 6 7 . In der Einleitung wurde gesagt, wenn wir die ganze Masse des theologischen Studiums übersehen, so folge, daß keiner sich die40 Vgl. KD² §§ 14 und 15 (KGA I/6, S. 331,10-22)

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selbige auf gleiche Weise aneignen könne; wir haben ferner gesehen, daß nicht so getheilt werden dürfe, daß einer nur einen Theil sich aneigne, und dem andern ganz fremd bleibe. Daraus wurde gefolgert, daß in jeder Disciplin unterschieden werden müsse, das was zu dem Gemeinsamen gehöre, und was für die [sey], die sich dessen besondern Gebieten widmen. Dieser Unterschied wird für die philosophische Theologie für null erklärt, was aber blos von einem Minimum zu verstehen ist. Es wurde gesagt, jeder müsse sich seine philosophische Theologie selbst produziren, d. h. er dürfe sie nicht blos traditionell überkommen. Wenn ein Theolog sich einem einzelnen Theile widmet, so wird er manches aus andern Theilen traditionell entlehnen müssen, nur mit richtigem Urtheil. Dieß kann von der philosophischen Theologie nicht gelten, von ihr kann einer nichts blos traditionell bekommen – ; aber ebensowenig kann er auch blos einem Theil der philosophischen Theologie sich selbstthätig widmen. Wenn aber dieses Null nur ein Minimum seyn soll, so liegt dieß in der Beziehung auf apologetische und polemische Leistungen. Diese Anwendungen auf die Gegenwart, aus welcher die besondre Technik für apologetische und polemische Leistungen hergenommen werden muß, sind nicht mehr GemeinGut, aber diese liegen auch schon auf der Grenze; in der eigentlichen Wissenschaft ist eine solche Theilung ganz unzuläßig. Aus den Begriffen über das Wesen des Christenthums und Protestantismus müssen sich die Principien für Alles in der philosophischen Theologie entwickeln. – Wenn nun gesagt wird, diese philosophische Theologie könne nicht traditionell besessen werden, so ist damit nicht gemeint, daß sich jeder eine eigene philosophische Theologie machen solle, vielmehr wäre es ganz vortrefflich, wenn alle sich dieselbige bildeten, aber auch dann | bliebe es, daß jeder sie selbst producirt haben müßte. Wenn ich Principien von einem Andern aufnehme, so bin ich nicht der Thätige, sondern er. Freylich lassen sich solche Zustände der Kirche nachweisen, wo eine so große Einstimmung herrscht, daß es scheint, als ob es gleichgültig wäre ob jeder sich wirklich selbst diese Principien construirt, oder ob er sie nur nimmt wie er sie findet. Es kann eine solche Gewalt von gewissen Principien in der Kirche geben, daß nichts davon abweichendes bestehen kann, und dieß sind solche Zeiten, in denen man am wenigsten unterscheiden kann, ob einer sich seine Principien selbst producirt hat oder nicht. Doch thut dieß der Forderung keinen Eintrag; ja wenn wir fragen: sind diese Zeiten mit so einförmigem Gepräge der ersten Grundsäze die besten oder nicht? so werden sie schwerlich sehr hoch anzuschlagen seyn, unerachtet Alles dann recht objectiv zu seyn scheint; denn dieß sind solche Zeiten, wo ein gewisser Stillstand eingetreten ist in Beziehung auf die lebendige Selbstthätigkeit in der Theologie. Wenn dieß daher rührte, daß

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die Wahrheit vollständig gefunden wäre, und nun kein Zweyfel mehr Jemandem einfallen könnte, dann wäre es etwas Vortreffliches; im Gegentheil kämen dann wieder andre Zeiten, wo Alles von Grund aus aufgerührt wird, und die Verwirrung deßhalb um so größer werden muß, weil vorher mehr als man bemerken konnte jeder nur mit dem Strome schwamm, wenn man die Stagnation so nennen kann. Sowohl aus dem allgemein christlichen als aus dem protestantischen Standpunkt kann man sagen, daß ein solcher Zustand der Einförmigkeit in den Principien nur dann ein günstiger seyn kann, wenn sich nachweisen läßt, daß es dabey nicht an Selbständigkeit fehlt, sondern der Zustand das Resultat eigner Überzeugungen ist. Dann folgt, daß die Gegenstände sich auf allgemeine Weise so gestaltet haben, und dann liegt auch eine große Bürgschaft darinn daß die Resultate richtig seyen. Wenn sich aber dieß nicht nachweisen läßt so ist wahrscheinlich, daß auf solche Uebereinstimmung ein desto größrer Zwiespalt folgen werde. § . 6 8 hat es mit dem dermaligen Zustand beyder Disciplinen zu thun, und wiederholt als allgemeines Resultat, daß sie ihrer Ausbildung noch entgegensehen. 1) Nämlich hat bey der PcontinuirlichenS Verbreitung des Christenthums, sobald | die literarischen Männer im Christenthum nicht mehr ganz vereinzelt standen, – da hat es nothwendig, auch abgesehen von Verfolgungen, apologetische Leistungen geben müssen. So haben wir auch die Apologien des Justin, Athenagoras, und größtentheils gehört hieher Origenes’ περὶ ἀρχῶν. Dieß sezt aber keine disciplinarische Ausbildung der Apologetik voraus, obwol man sagen könnte, sie müssen alle apologetischen Grundbegriffe in sich schließen. Auch dieß ist nicht der Fall, weil die Apologien bedingt sind durch den Angriff, wobey es darauf ankommt, wie tief dieser eindringt. So kann es apologetische Leistungen geben, die vollkommen ihren Zweck erfüllen, ohne daß sich aus ihnen die Disciplin der Apologetik ausbilden ließ. So lange nun diese Disciplinen nicht ausgebildet sind und ihren hier angewiesenen Ort nicht haben, so müssen die apologetischen Begriffe in der Einleitung in die Dogmatik stehen. Ebenso kann es einen Ort geben für die polemischen Elemente in der 15 Zwiespalt] 2splt

19 PcontinuirlichenS] oder PcontinuirtenS (vgl. Sachs 73)

19 Der „1)“ folgt keine „2)“. 23–24 Justinus: Apologia prima, Apologia secunda, in: Justini philosophi et martyris opera quae exstant omnia. Nec non Tatiani adversus Graecos oratio, Athenagorae philosophi Atheniensis Legatio pro Christianis [...], Mauriner-Ausgabe, Paris 1742, S. 44–100 ; Athenagoras: Legatio pro Christianis, in: Justini philosophi [...], Athenagorae philosophi Atheniensis Legatio pro Christianis [...], S. 279–314 24 Origenes: De principiis, Opera omnia, ed. C. Delarue, Bd. 1, Paris 1733, S. 42–195

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Einleitung in die praktische Theologie, wenn nur diese selbst schon mehr als nur im einzelnen bearbeitet wäre. – Dieses bringt nun Verwirrungen hervor, die sich auch in allen dogmatischen Streitigkeiten nachweisen lassen. Es müssen nämlich so Elemente in die Einleitung zur Dogmatik kommen, die offenbar ganz der Art nach different sind von den Säzen der Dogmatik selbst. Dieß liegt eigentlich in der Natur der Sache, jede Einleitung zu einer Darstellung eines speciellen Gebiets muß ja seine Verhältnisse zu andern und den höheren angeben, daher muß man dieß immer sondern; aber es wird umso leichter verabsäumt, je größer die Differenz ist, weil man sie in dieser Größe nicht voraussezt. Daher sind viele Gegenstände, die hieher gehören, dogmatisch behandelt worden. Z. B. die Theorien der Begriffe Wunder und Weissagung und Eingebung werden oft rein dogmatisch behandelt und es wird nun bewiesen, daß z. B. die AltTestamentlichen Weissagungen einen Beweißcharakter haben pp. Wenn dieß dogmatisch bewiesen werden soll, so muß es bewiesen werden aus Schriftstellen, und dann entsteht ein Cirkel, wenn die Göttlichkeit des Christenthums bewiesen werden soll aus etwas das selbst erst auf diese Göttlichkeit sich gründet. Ebenso bey den Wundern. Nun neuerlich haben wir einige Anfänge der Apologetik bekommen, die als solche von vielen Seiten zu rühmen sind. Von der Polemik ist dieß nicht zu sagen. |

19–20 Gemeint ist wohl Karl Heinrich Sack: Christliche Apologetik. Versuch eines Handbuches, Hamburg 1829

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Dieß ist in Rücksicht auf den Umfang die bedeutendste, besonders in dieser Darstellung, die etwas in die historische Theologie zieht, was sonst davon getrennt wird. Aber überhaupt ist dieß der größte und ausgebildetste Theil des theologischen Studiums. Es ist hier der Anfang damit gemacht zurückzugehen auf das was über Theologie als positive Wissenschaft gesagt war, und also zu sehen, wohin abgesehen von dieser positiven Beziehung, das Material der historischen Theologie gehöre. Da sagt § . 6 9 . daß die historische Theologie ihrem Material nach ein Theil der neueren Geschichtskunde sey; und hier ist nicht blos von ihrem Material die Rede, sondern ihrer Organisation nach sey sie der neueren Geschichtskunde coordinirt. Der Ausdruck neuere Geschichtskunde ist hier in dem Sinn genommen, daß er die Zeit von der Entstehung des Christenthums an bedeutet. Der theologische Gesichtspunkt wird sich immer nur so aussprechen können, wir werden nicht wollen, für das Gebiet der positiven Theologie diese Trennung machen, daß wir sagten, ein Theil von dem geschichtlichen Verlauf des Christenthums gehört zur alten, ein andrer zur neueren Geschichte. Denn dann müßte man hienach auch die Darstellung scheiden, und sagen es herrschte ein andres Princip in derjenigen Periode, die der alten, und ein andres in der die der neueren Geschichte angehört. – Nun ist gesagt, die historische Theologie sey allen Gliedern der neueren Geschichtskunde coordinirt. Dieses kann nun nicht mehr gesagt werden blos in Beziehung auf die einzelnen Elemente, sondern nur in Beziehung auf die einzelnen PorganisirtenS Theile. Sobald wir uns Geschichtsforschung im Allgemeinen denken, und es ist dabey die Rede von längst vergangenen Zeiten, die aber in dem eigentlich geschichtlichen Gebiete liegen, und von welchen noch wirkliche Ueberbleibsel der Thatsachen vorhanden sind, so sind diese Thatsachen Monumente, solche Gegenstände, woran die Zeit noch kann angeschaut werden. Dazu gehören auch die Documente, und da giebt es 3 Einleitung.] ergänzt nach KD2 S. 34 (KGA I/6, S. 353,3) PorganischenS (vgl. Sachs 75)

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einen Zweig der Geschichtskunde der sich mit diesen Urkunden beschäftigt. Wenn wir fragen: hat die historische Theologie auch einen solchen Zweig? | so ist dieß offenbar. Hier haben wir also Elemente der historischen Theologie, und wir haben einen Ort dafür in der Wissenschaft der Geschichte. Die historische Theologie bedarf derselben ebenso wie die andre Geschichte. Dasselbe Element gehört in einen bestimmten Theil der historischen Theologie, welches zugleich den Ort hat in einem ebenso bestimmten Theil der Geschichtskunde überhaupt. Dieß ist im zweyten Saze des § gesagt. Der Zu s a z bestimmt noch genauer dieses Verhältniß zwischen der historischen Theologie und der Geschichtskunde im Allgemeinen. Die historische Theologie gehört nämlich in die innre Geschichtskunde, in die Bildungs und Sittengeschichte. Die äussre Seite der Geschichte hatte allerdings bedeutenden Einfluß auf die Art, wie sich das Christenthum fortpflanzte, wenn z. B. keine Völkerwanderung gewesen wäre, so würde das Christenthum nicht an diese Völker gekommen seyn pp; aber sowie man den theologischen Standpunkt festhält, so sind die Thatsachen, die hier in Betracht kommen, nur solche die dem innern Gebiet angehören, denn die ganze Geschichte des Christenthums ist eine Entwicklung von Gesinnungen und eine neue Art des geistigen Lebens, das Äussre ist mehr Nebensache. Dazu sind zwey Ausdrücke gewählt von denen der eine mehr moralisch, der andre mehr nach der Entwicklung des Wissens hin gewandt ist. Das Christenthum hat eine neue Entwicklung in dieser innren Geschichte angefangen, weil der Eintritt des Christenthums in die Völker eine ganz neue Entwicklung bey ihnen herbeygeführt hat. Aber diese Art, wie das Christenthum so seinen Ort fand in der Bildungsgeschichte ist immer eine andre als der Ort desselben in der Theologie, daher wir immer beydes sondern müssen: dieses geschichtliche Gebiet als der positiven Theologie angehörig und als der neueren Geschichtskunde angehörig. – Der Zusaz hat noch einen polemischen Theil der vielleicht jezt nicht an seinem Ort steht, aber in einer solchen Darstellung muß man von dem, was in der Gegenwart zufällig ist, abstrahiren. Es ist nur ein paar Generationen, wo noch gesagt wurde, das Christenthum habe nur einen nachtheiligen Einfluß auf die geistige Entwicklung des menschlichen Geschlechts ausgeübt. Von dieser Voraussezung aus, wird nicht nur dieses Material ganz anders abgeschäzt, sondern bekommt auch eine ganz andre Gestaltung; denn man verfolgt niemals dasjenige als ein constantes Princip, dessen Resultate man für blos negativ ansieht. Nämlich wer von dieser Voraussezung ausgeht, die bey den englischen und französischen Freydenkern häufig ist, der sagt, Alles was in | der geschichtlichen Entwicklung aus dem Christenthum hervorgegangen ist, ist eine negative Größe, die wieder

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aufgewogen werden muß. Es liegt nun in der menschlichen Natur, daß man nur das Gute auch als ein positives betrachtet, und ihm eine Continuität zuschreibt, dem Bösen aber thut man dieß nicht, und so zeigt sich, daß jene Männer dem Christenthum keine wahre Einheit zuschreiben, sondern es als ein beständig wechselndes betrachten, daher eignet es sich auch nicht, in dem geschichtlichen Gebiete als ein bestimmtes Element aufgeführt zu werden. § . 7 0 wird nun gesagt, daß als theologische Disciplin die historische Theologie betrachtet, sich das Verhältniß anders stelle, indem nun die übrigen Theile der Geschichte ihr untergeordnet werden. Man kann nämlich das Christenthum nicht geschichtlich betrachten, ohne auch von der übrigen Geschichte Notiz zu nehmen, aber sie wird untergeordnet. Zu theologischen Disciplinen gestalten sich aber diese wissenschaftlichen Elemente durch ihre Beziehung auf die Kirchenleitung. Im Zu s az wird etwas bevorwortet, was sich von selbst zu verstehen scheint, daß nämlich unerachtet sich das Verhältniß so ändert, doch die Principien der geschichtlichen Forschung keineswegs geändert werden können, sondern dieselben bleiben für die historische Theologie wie für jeden andern Theil der Geschichte. Hier wird also vorausgesezt, daß es allgemeine Principien gebe für die Behandlung eines geschichtlichen Gegensazes – diese Principien werden eine allgemeine historische Propädeutik bilden. – §§ 71–78 gehören nun ganz in eine solche allgemeine historische Propädeutik, und sie hätten weggelassen werden können, wenn eine solche Propädeutik anerkanntermaßen vorhanden wäre; denn alles dieß sind allgemeine Principien der historischen Behandlung ohne Rücksicht auf das Christenthum. Es sind darinn zwey Aufgaben behandelt, indem vorausgesezt wird, daß der geschichtliche Stoff gewissermaßen ein unendlicher ist, so muß um es darzustellen, eine Zusammenfassung stattfinden und für diese Zusammenfassung des Manchfachen, die immer auch eine Sonderung ist, muß es Regeln geben, die nun hier aufgestellt sind. § . 7 1 – 7 8 . Es wird vorausgesezt daß der historische Stoff eine Fläche sey mit Länge und Breite, die Länge ist der Zeitverlauf, die Breite das im Stoff liegende Manchfaltige, und dieß sind also die zwey Richtungen, in Beziehung auf welche Zusammenfassung und Sonderung betrachtet werden muß. § § 7 1 – 73 haben es nun besonders | mit der Längendimension zu thun, worauf § 74 das Andre dazugenommen wird. § . 7 1 wird der Begriff eines geschichtlichen Momentes angegeben, und dieser gleich in zwey relativ entgegengesezte Formen getheilt. Ein Moment ist eine qualitative Einheit von Zeiterfüllung, nämlich unter qualitativer Einheit wird verstanden, daß von der Manchfaltig-

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keit dessen, was die Breite construirt abstrahirt wird, also gleichviel ob sie ein einfaches oder ein vielfaches ist. Was die Länge betrifft, so ist es Einheit der Zeiterfüllung, dieß liegt in Moment schon; eine solche geschichtliche Einheit wird hier gesagt könne angesehen werden entweder als plözliches Entstehen, oder als allmähliche Entwicklung. Nämlich ein plözliches Entstehen ist derjenige Zeitinhalt, welcher nicht als Fortsezung eines früheren ins Bewußtseyn kommt, sondern als rein für sich betrachtet. Wird er in seinem AbhängigkeitsVerhältniß von dem Früheren betrachtet, so ist er eine Fortbildung des Früheren. Dieß sind die zwey Formen, unter welchen geschichtliche Momente existiren können. Der Zusaz stellt nun den Gegensaz auf zwischen dem einzelnen und allgemeinen Leben. Im Gebiete des einzelnen Lebens läßt sich dieser Gegensaz sehr streng fassen, sein Anfang wäre das plözliche Entstehen von da an aber ist alles Andre nur Fortbildung, bis das Ende nun auch wieder plözliches Verschwinden ist. Im gemeinsamen Leben ist dieser Gegensaz nicht so streng, und blos relativ. Dieser Gegensaz zwischen dem gemeinsamen und einzelnen Leben ist aber selbst nur ein relativer. Denken wir uns im einzelnen Leben das Factum von der Entstehung eines Gedankens nicht in dem Zusammenhang eines Denkverlaufs: so ist dieß an sich immer nur eine Entwicklung, es muß dieser Gedanke einen Zusammenhang mit dem früheren Leben haben, doch läßt es sich immer auch als ein plözliches Entstehen ansehen, wenn man blos auf die Denkthätigkeit sieht. Im gemeinsamen Leben ist das Uebergehen einer Anzahl Menschen in die Gemeinschaft und Geselligkeit der Anfang des Staates, und läßt sich als ein absoluter Anfangspunkt ansehen, aber die innren Bedingungen, daß diese Menschen einen Staat bilden konnten, diese waren schon vorher gegeben, und so war auch das Hervorbrechen des Staats auch durch das Vorherige bedingt. Der Gegensaz ist also auch hier ein relativer, nur daß die einen Momente sich überwiegend dazu eignen als plözliches Hervorbrechen, die andern als Fortbildung betrachtet zu werden. § . 7 2 . wird hieraus die Formel für die Längendimension aufgestellt, daß der Gesammtverlauf eines geschichtlichen Ganzen ein Wechsel ist von Momenten beyderley Art. | Dadurch wird also ausgeschlossen, daß ein GesammtVerlauf bestehen könne aus lauter Momenten der einen Art. Zum GesammtVerlauf gehört Anfang und Ende und also wird wenigstens immer auf das Ende hingesehen, und es ist kein besonderes Ganze für sich, wenn es nicht auch einen Anfang hat. Der Anfang kann verborgen seyn und das Ende noch nicht gegeben, aber im Begriff eines GesammtVerlaufs ist immer beydes eingeschlossen.

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Der Zu s az sagt, man könne nicht behaupten, daß es unmöglich sey daß irgend ein geschichtliches Ganzes von seinem Anfang an so verlaufen könnte daß zwischen Anfang und Ende alle Momente nur Fortentwicklung wären – wobey aber dem Anfang und Ende immer jener andre Charakter bliebe. So wie man aber, wird weiter gesagt, die Breitendimension als Manchfaltiges in Gedanken nimmt, so wird man schon zugeben, daß unter dieser Voraussezung das Vorige unmöglich sey; nämlich so wie man sich dieses denkt, die Kraft selbst die sich entwickelt, als ein Manchfaltiges, so wird jeder gestehen müssen, diese Manchfaltigkeit könne gar nicht zu Bewußtseyn kommen, wenn alle ihre Theile sich immer gleichmäßig entwickeln. Wenn wir im einzelnen Leben unterscheiden das Somatische und das Psychische, so ist diese Entwicklung nicht gleichmäßig, es entwickeln sich ganze Reihen von Thätigkeiten auf der Seite des leiblichen Lebens, ehe sich im Seelenleben etwas zu unterscheiden giebt. Entwickelte sich beydes völlig gleichmäßig, so würde in jedem Momente beydes als vollkommen Eins erscheinen. Sezen wir also diese Differenz, so müssen wir auch Differenzen in der Entwicklung sezen. Dann werden aber Zwischenpunkte eintreten, wo sich die verschiedenen Functionen mehr ausgleichen, und diese Momente unterbrechen also den Verlauf. Diese Unmöglichkeit aber bey Seite gelassen, müssen wir sagen: wenn ein GesammtVerlauf aus lauter gleichmäßigen Entwicklungen besteht, so ist jede Theilung des geschichtlichen Stoffes der Länge nach – rein willkührlich. Wenn aber ein solcher Wechsel stattfindet, so theilt sich das Ganze von selbst. § . 7 3 wird dieses weiter ausgeführt, aber so, daß nicht die Rede ist von einer Reihe von Fortbildungsmomenten, die durch einen einzigen Moment der entgegengesezten Art unterbrochen wird, sondern die lezteren sind auch als Reihe dargestellt. Nur hat diese Reihe einen andern Charakter, diese Momente bilden keinen solchen Zusammenhang unter sich, sondern wenn die andern eine Linie bilden, so bilden | diese nur eine Reihe von discreten Punkten. Denkt man an die französische Geschichte, so wird die französische Revolution eine solche Masse bilden, die einen Contrast ausmacht mit dem Früheren. Das Frühere war eine Reihe von allmählichen Fortbildungen, diese aber bildet eine Masse von plözlichen Momenten. Aber auch diese nehmen einen Zeitraum ein, und bilden also auch eine Reihe, aber es muß auch wieder eine Linie, ein stetiger Verlauf darauf folgen. Dieß könnte man gleich in die Napoleonische Zeit [sezen]; weil aber dieß so kurz gedauert hat, daß es nicht als Periode für sich betrachtet werden kann, so dehnen wir die Sache noch weiter aus, und sagen: die Revolution 3 daß] daß alle

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ist beschlossen durch die Restauration. Weil aber auch da keine ruhige Fortbildung angieng, so können wir nicht abschließen, bis eine solche längere Zeit ruhiger Fortbildung erfolgt. Eine solche geschichtliche Linie nun, die zwischen zwey Punkten entgegengesezter Art liegt, nennt man Periode, eine Masse dagegen von Momenten die nur als plözliches Entstehen angesehen sind, und welche zwischen zwey Perioden liegt, wird bezeichnet durch Epoche. Dieß bedeutet eigentlich Einhalt, weil nämlich die bisherige Fortentwicklung aufhört, und eine neue entsteht. Der Ausdruck Periode ist weniger geschickt weil er etymologisch keine fortlaufende Linie, sondern eine cyklische Bewegung bezeichnet, er ist aber einmal festgestellt. Wäre nun das Christenthum ein blos fortschreitendes, so wäre es blose Bequemlichkeit ihn nach der Länge zu theilen, und es muß daher ermittelt werden, wie es damit steht. Der Zusaz macht darauf aufmerksam, daß je länger ein solcher Zustand dauert, dessen Momente nicht zusammenhängend betrachtet werden können, desto weniger werde die Identität des Gegenstandes festgehalten werden können. Diese nämlich, die Zeiterfüllung, besteht aus dem Zusammenseyn von Bleibendem und Wechselndem. Von einem Staat, welcher sich in einem revolutionären Zustande befindet wo keine ruhige Fortbildung ist, von dem kann man nicht sagen, daß er derselbige ist mit dem vorherigen ruhigen Verlauf und mit den verschiednen Momenten der Umwälzung. So war Frankreich eine Monarchie, dann wurde es Republik, dann wieder Monarchie, dann eine andre Monarchie. In der Staatsform war also die Identität nicht mehr, sondern nur in der Identität des Volksstammes. Dieß läßt sich auch auf das Christenthum anwenden: es muß umso schwieriger halten, die Identität des Gegenstandes festzuhalten, | je länger solche revolutionären Zustände dauern, und nur wenn wieder eine ruhige Fortentwicklung folgt, tritt die Identität wieder sicher vor Augen. Soll es nun die Aufgabe der christlichen Theologie geben, nämlich eine Kirchenleitung, so muß auch die Formel, welche das Wesen des Christenthums darstellt, eine solche seyn daß sich auch alle etwaigen revolutionären Momente in diese Formel auflösen lassen, und uns den Zustand als denselben darstellen. Denn sonst würden wir hier in größre Verlegenheit gerathen als beym Staat, denn hier existirt die zusammenhängende Masse des Volkes vor dem Staat, wogegen beym Christenthum die Gemeinschaft erst durch es selber geworden ist. § . 7 4 wird nun die andre Dimension betrachtet, welche die Breite eines geschichtlichen Ganzen constituirt, nämlich die im ersten An12 ihn] wohl zu korrigieren in es Bd. 10, Sp. 284

27 schwieriger halten] vgl. Grimm: Wörterbuch

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fang schon gegebne Manchfaltigkeit der sich entwickelnden Kraft. Dabey wird aber vorausgesezt, daß es doch wieder als Einheit betrachtet werden kann, sonst hätte es gar keinen gemeinsamen Verlauf. Wenn wir z. B. die Geschichte des Staates denken, so werden wir gleich unterscheiden die äussre Geschichte, die Verhältnisse zu andern Staaten, und die innre Geschichte, die Entwicklung der Verfassung, der Cultur p. Damit tritt nun zugleich die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit hervor, daß jedes dieser Momente relativ wenigstens seinen eigenen Verlauf habe, daß Fortschritte in dem einen seyn können, während im andern Rückschritte p. Auf die Geschichtliche Behandlung hat dieß in dem Maße Einfluß, als der Zeitgehalt des einen Moments ein verschiedener ist. Nun ist hienach § . 7 5 . die Verschiedenheit der historischen Methode angezeigt. Das zweyfache Verfahren unterscheidet sich so, daß man entweder die Breite ganz läßt, und die Länge theilt, oder umgekehrt. Der Z u s az sagt, es lassen sich auch beyde Methoden verbinden – hier kam es nur darauf an die Differenz festzustellen. Man theilt nur die Länge, wenn man von den verschiedenen Theilen, in welche das Ganze zerfällt möglichst abstrahirt, und es als eines darzustellen sucht. So wie man den Stoff nicht zerfällt, so bleibt man bey dieser Methode, dann muß man aber um so mehr das Ganze der Länge nach theilen, d. h. die Punkte aufsuchen, welche eine Epoche bilden. Die zweyte Methode ist nun, den geschichtlichen Stoff nach seinen verschiednen Elementen zu theilen; ob man hernach jedes von diesen auch wieder in Perioden theilt, dieß ist etwas Zufälliges. | So beym Staat werden zuerst beschrieben seine Äussren Verhältnisse, dann die Geschichte seiner Verfassung, dann seine Culturgeschichte, – das wären drei ganz verschiedene Darstellungen, ob jede von diesen auch wieder getheilt wird, ist Nebensache. Der Zusaz sagt, daß die geschichtliche Behandlung um so unvollkommener sey, je willkührlicher die Eintheilungen sind. Wenn im Gegenstand keine solche Differenzen sind, wie oben beschrieben, so müßte man nur nach äussren Gründen theilen. Auf der andern Seite bey der Eintheilung des Gegenstandes nach seinen Elementen, kommt eine solche Willkührlichkeit schwerer vor als auf der ersten Seite, der Periodentheilung; denn wenn der Gegenstand sich nicht theilt, so ist hier gar keine Veranlassung zur Theilung und Aussereinanderreissung. § . 7 6 ist die Regel auseinandergesezt, nach welcher die eine Methode oder die andre bey verschiedenen Gegenständen vorzuziehen ist. Es ist offenbar, daß wenn sich die Elemente in einem geschichtlichen Stoff nicht bestimmt voneinander sondern, so ist die Eintheilung der Breite nach nicht postulirt. Ebenso wenn gar nichts Revolutionäres in dem Verlauf eintritt, da ist eine Eintheilung in Zeitabschnitte

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nicht indicirt. Jede von diesen Methoden ist also um so stärker indicirt, je mehr das eine und je weniger das andre vorhanden ist. Ist beydes gleichmäßig der Fall, so ist die Verbindung beyder Methoden indicirt. Es ist aber nur dann gleichmäßig indicirt, wenn die Epochen in den verschiedenen Elementen zusammentreffen, wenn z. B. in einem Staat eine Epoche in der äussern Geschichte, z. B. ein Sieg auch eine Epoche würde für die innre Geschichte. Wo dieß aber nicht ist, da kann für jedes der verschiedenen Elemente eine Eintheilung der Länge nach indicirt seyn, aber es ist nicht dieselbige, die Knotenpunkte treffen nicht zusammen, dann herrscht also die Eintheilung der Breite nach und die der Zeit nach ist untergeordnet. § . 7 7 ist nun noch ein andrer Punkt hervorgehoben. Sehen wir auf das Zerfällen des geschichtlichen Stoffs in seine verschiedenen Elemente, so werden wir sagen, daß diese Sonderung sich verschieden gestalten wird in Beziehung auf die Zeiträume, wo die ruhige Entwicklung, und wo das plözliche Entstehen dominirt. Denkt man sich die französische Revolution als eine solche Epoche, mit der Dauer von 1789–1830 so ist hier zu gleicher Zeit der Mangel an ruhiger Fortbildung, sowohl in den äussern Verhältnissen, bey Krieg und Frieden, als auch in den innern Verhältnissen, in der Verfassung, Religion p. Da ist es dann schwer die Elemente zu sondern, jedes Moment will da nach | allen Richtungen etwas für sich seyn. Wogegen in der früheren Geschichte, da finden sich wohl auch untergeordnete Momente dieser Art, doch aber wird sich der geschichtliche Stoff gesondert behandeln lassen. Wenden wir dieß auf unsern Gegenstand an, und denken, daß man lange Zeit die KirchenGeschichte nach Jahrhunderten behandelt hat – was ist dieß für ein Verfahren? offenbar eine reinwillkührliche Eintheilung, die nur richtig seyn könnte, wenn [es] in der Natur der Sache gar keinen EintheilungsGrund der Länge nach gäbe. Ebenso was die andre Eintheilung betrifft, hat man immer nur in jedem Jahrhundert unterschieden die res secundas et res adversas. Auch dieß ist eine willkührliche Eintheilung, die den Natürlichen Zusammenhang zerreißen muß. Denn so gehen die Sachen in der Welt gar nicht, daß die günstigen Begebenheiten einen innren Zusammenhang unter sich haben, und ebenso die ungünstigen, und beyde keinen untereinander. Diese Behandlung gehört einer Zeit an, wo der richtige Begriff der Geschichte untergegangen war, oder wenigstens auf diesen Gegenstand nicht angewandt wurde. § . 7 8 . wird nun die Einheit eines geschichtlichen Stoffes in entgegengesezter Richtung als bisher behandelt. Fragen wir: wie verhält sich ein solcher einzelner geschichtlicher Stoff, da die ganze menschliche Geschichte ein Ganzes ist? Man könnte dieß für die Zeit leugnen,

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wo die verschiedenen Theile des Geschlechts ganz getrennt waren. Aber man muß die Geschichte theilen in solche Theile, die sich geschichtlich bewegen, und die nicht. Jene stehen alle im Zusammenhang, und diese haben eigentlich keine Geschichte gehabt. Also werden wir die Idee festhalten können, wo es einen geschichtlichen Stoff giebt, da ist auch jede Sonderung eine nur untergeordnete. Bisher haben wir nur betrachtet einen gesonderten geschichtlichen Stoff, von dem wir nun sagten, daß er in sich selbst wieder einer Sonderung fähig sey. Gehen wir aber aufwärts, so sehen wir, daß dieser besondere Gegenstand einem großen Ganzen angehört. Nehmen wir das Christenthum, so ist es eine geschichtliche Erscheinung des religiösen Elements in dem menschlichen Geist, ein Theil von der Gesammterscheinung von diesem, und muß sich auch als solcher construiren lassen, und dann geht die Geschichte des Christenthums in die allgemeine Religionsgeschichte zurück, und ebenso diese selbst wieder in die gesammte Geschichte der menschlichen Intelligenz. Daraus entsteht die Frage, wie soll dann der einzelne Gegenstand betrachtet werden, wenn man ihn willkührlich herausnimmt. Je mehr man das Recht haben will ihn zu isoliren, desto mehr muß man ihn als ein an einem bestimmten Punkt | anfangendes darstellen können. Aber in der allgemeineren Sphäre könnte dieser Anfangspunkt als ein Punkt in der allmählichen Fortentwicklung erscheinen. Dieß findet seine Anwendung auf jeden geschichtlichen Stoff. Die Entstehung jedes Staates kann man auf diese zweyfache Weise ansehen. Es beginnt mit dem Staat ein neues, das bürgerliche Leben; sofern aber die Masse schon vorher als Natureinheit dagewesen ist, so ist dieß nur ein EntwicklungsPunkt in dem Daseyn der Masse. Dasselbe läßt sich aber auch anders ansehen. Denken wir uns diese Form der Existenz als eine allgemeine Aufgabe, so ist dieß ein besondrer geschichtlicher Gegenstand, die Entwicklung der Idee des Staates in der Menschheit zu verfolgen. Da werden die Anfänge sehr verschieden aufgefaßt werden können. Davon ist § . 7 9 die Anwendung auf das Christenthum gemacht. Das Christenthum kann betrachtet werden als einzelner Zweig der Entwicklung der Religion oder bestimmter des Monotheismus, oder aber als ein bestimmtes geschichtliches Ganzes. Wollte man die Geschichte des Christenthums behandeln nur als eine solche Periode, so würde sie nicht in der Form einer theologischen Disciplin behandelt. Diese Folgerung wird § 80 gezogen. Natürlich wird diejenige Behandlungsweise, die das Christenthum abgesondert behandelt, auch mehr in das Einzelne hineingehen können als die andre; denn in dem lezteren Falle sind die Theilungsgründe nur aus dem großen Ganzen genommen und es verschwindet hier dasjenige als zu klein, was bey der andern Form

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sich kann geltend machen. Also schon die Ausführlichkeit der Darstellung kann sich gehörig entwickeln nur bey abgesonderter Behandlung. Aber dieser Gesichtspunkt ist noch nicht der, bey dem wir stehen bleiben können, sondern wir müssen sagen, § . 8 0 . Jede Behandlung des Christenthums die dieß mit andern zusammenfaßt ist nicht theologisch, denn die Theologie, weil sie ihre Tendenz in Beziehung auf das Christenthum hat, geht sie auch [nicht] ausserhalb desselben hinaus. Es muß hier ganz fest das Princip aufgestellt werden, daß diese ganze geschichtliche Behandlung eine theologische Disciplin nur dann ist, wenn sie das Christenthum ganz isolirt. Der Zusaz sagt, worauf es dabey ankommt. Der Anfang des Christenthums muß als Ursprüngliches aufgefaßt werden. Dieß geht auf die Apologetik zurück, die ja das Christenthum als besonderes geschichtliches Ganzes darstellen will. Hier war von allen Glaubensweisen gesagt, daß sie ihre eigenthümliche Gestaltung des Gottesbewußtseyns als eine göttliche Mittheilung ansehen, und damit hängt zusammen, daß der Anfang des Christenthums als ein Ursprüngliches gesezt werden muß. Dieß ist die Grund|voraussezung des christlichen Glaubens wie jedes anderen positiven. § . 8 1 geht die eigentliche Construction der historischen Theologie an. Sie ist zu entwerfen von dem Gesichtspunkt der Kirchenleitung, und mit dieser, als der Hervorbildung einer Zukunft aus der Gegenwart, hängt die Kenntniß des gegenwärtigen Zustandes am nächsten zusammen. Daß diese Kenntniß zur historischen Theologie gerechnet wird, dieß rechtfertigt sich z. B. aus dem Ausdruck Naturhistorie, wo auch von keiner Geschichte, sondern nur von einer Beschreibung eines Gegebenen die Rede ist. Da könnte [man] also die Kenntniß des gegenwärtigen Augenblicks, auch abgesehen von der Art wie er geworden ist, eine Geschichte nennen. Nun haben wir aber auch den Gegensaz in unsrer Sprache zwischen historisch oder aposteriorisch, und dem speculativen oder apriorischen, und auch in dieser Hinsicht fällt dieser Theil der Theologie unter die historische. Diesen Sinn hat also das Beywort ge s c h i c h t l i c he Kenntniß des gegenwärtigen Moments, daß sie eine Beschreibung seyn soll, und keine wissenschaftliche Construction. Man könnte aber ferner sagen, es sey zur Kirchenleitung nicht nöthig, die Kenntniß des gegenwärtigen Zustandes besonders herauszuheben als eigne Wissenschaft, weil sie das Resultat des Werdens ist, also in der historischen Theologie vorkommen muß. Dagegen ist zu bemerken, es ist die Möglichkeit aufgestellt, daß der Stoff der Geschichte auch theilbar ist der Breite nach, und da würde auch der gegenwärtige Moment ein so getheilter seyn. Sehen wir nun auf die Kirchenleitung, so gehört dazu eine Kenntniß des Gegenwärtigen in seinem Zusammenhang, nicht wie es die Ge-

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schichte, getheilt in seine verschiedenen Zweige giebt. Daher ist diese Kenntniß eine andre als die, welche sich als Resultat der Erzählung von selbst ergiebt, und so muß jedenfalls diese geschichtliche Kenntniß des gegenwärtigen Moments einen besonderen Theil bilden. Für diese ist hier kein Name gegeben, weil sie noch einmal in zwey Theile zerfällt. § . 8 2 . wird nun gesagt, daß wenn die Gegenwart verstanden werden soll so muß sie als Resultat der Vergangenheit betrachtet, und diese ebenfalls zur Kenntniß gebracht werden. Dieß ist die Kenntniß des eigentlich geschichtlichen Verlaufs. Schon in dem Saz der Apologetik, daß jedes Gewordene sich auch rechtfertigen müsse aus der Art wie es geworden ist, war dieser Grundsaz enthalten. Aber auch abgesehen von dieser Aufgabe muß man | sagen, daß auch in seiner Bedeutung das Gegenwärtige nur verstanden werden kann aus der Vergangenheit. Unter Bedeutung ist zu verstehen der Zusammenhang mit Andern, denn dieser constituirt seinen Werth für das Ganze. Der Zu s az zu diesem §. will diesem zweyten Theil, der Kenntniß des gesammten geschichtlichen Verlaufs nur den gleichen Rang sichern mit dem ersten Theile, indem er dagegen protestirt, daß diese solle als Hilfswissenschaft für die Kenntniß der Gegenwart betrachtet werden. Sondern wegen der praktischen Einwirkung unmittelbar muß ich die Vergangenheit kennen, und ebenso den gegenwärtigen Moment, welcher nur ein Durchgangspunkt ist. § . 8 3 . wird die Einleitung gemacht, um einen dritten Theil der historischen Theologie aufzustellen, nämlich die Kenntniß des UrChristenthums. Das eigenthümliche Wesen einer geschichtlichen Erscheinung, wird gesagt, komme am reinsten zur Anschauung in den frühsten Erscheinungen. Dieses scheint im Widerspruch damit, daß die geschichtliche Entwicklung als eine Vervollkommnung gedacht wird, welchen Saz wir nicht aufgeben können, da die Vervollkommnung der christlichen Kirche der Zweck der KirchenLeitung ist und damit der ganzen Theologie. Wenn wir nun dieses feststellen, und rückwärts gehen, so werden wir so sagen müssen: wenn in einem frühern Momente eine dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums gemäße Wirksamkeit stattgefunden hat, so muß der spätre Moment dieses Wesen vollkommener ausdrücken als der frühre. So würde also herauskommen, daß der erste Zustand der unvollkommenste gewesen wäre. Dagegen wird aber hier gesagt, die ursprüngliche Lebensäusserung brächte das Wesen am reinsten zur Anschauung. Hier ist also ein sehr scheinbarer Widerspruch, den wir uns auflösen müssen. Wenn wir das Eine aufheben wollen, und sagen: es ist nicht nothwen11–12 Vgl. KD² § 34 (KGA I/6, S. 339,5-8)

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dig, daß der folgende Moment jedesmal eine Vervollkommnung des frühern sey, so geben wir die ganze Kirchenleitung und Theologie auf. Wenn wir das Andre aufgeben wollten, daß die frühste Lebensäusserung die reinste sey, so würden wir die normale Dignität der heiligen Schrift aufheben, welche der Ausdruck jener frühsten Lebensäusserung ist. Ja es würde auch geschlossen werden müssen, daß auch Christus selbst nur ein unvollkommenes Moment darstelle über welches wir hinausgehen müßten, – dieß würde das Wesen unsres christlichen Glaubens, und bestimmt unsre protestantische Theologie aufheben, in deren Charakter es liegt, auf die heilige Schrift zurückzugehen. Es soll nun ein Saz auf|gestellt werden, der beyde Widersprüche vereinigt. Schon im ersten Theil ist auseinandergesezt daß in jedem Moment einer geschichtlichen Erscheinung Elemente von entgegengesezter Art beysammen sind, solche, die aus der eigenthümlichen geistigen Kraft hervorgehen, und solche die als fremde Einflüsse einen krankhaften Zustand darstellen. Je weiter sich ein geschichtliches Ganze verbreitet, um desto mehr krankhafte Elemente können zum Vorschein kommen. Dieß kann nicht bezweyfelt werden, denn es liegt in dem Begriff der Verbreitung eines solchen lebendigen Ganzen, daß es nur Leben aufnehmen kann aber welches vorher von diesem eigenthümlichen Princip nicht durchdrungen war, also bringt jedes solches fremde Elemente mit herein, welches erst nach und nach zu assimiliren ist. Dieser Saz vereinigt die beyden vorigen auf diese Weise: die Verbreitung selbst ist Wachsthum, und die Erscheinung in ihrem größeren geschichtlichen Umfang ist ein Beweiß von einer größeren Kraft die wirksam gewesen ist, und in der kleineren Erscheinung nicht lag. Hierinn liegt also, daß der spätere Moment ein Zuwachs ist. Wenn wir aber sagen: mit diesem Wachsthum gehen auch Elemente mit hinein, die erst umgewandelt werden müssen, so sagen wir das scheinbare Gegentheil, nämlich daß in dem früheren Zustande weniger krankhafte Elemente waren, also können sich die beyden Säze nicht widersprechen. Mit dem Saze §. 83 ist also nicht gesagt, daß auch der früheste Moment der vollkommenste wäre, weil er nur eine quantitativ geringe Manifestation des Wesens ist, aber er ist der reinste, weil wir am wenigsten von ihm zu sondern haben. Dieß läßt sich leicht deutlich machen. Wenn wir den Gegensaz zwischen Heidenchristen und Judenchristen betrachten, so war dieser Gegensaz ein krankhafter Zustand, die Judenchristen wollten Fremdartiges ins Christenthum bringen, aber auch in den Heidenchristen war ein fremdes Element. Wenn wir nun Christum allein betrachten, so waren diese zwey Elemente ausser ihm. Seine Idee war durch das Unvollkommene im Judenthum nicht afficirt, wenngleich seine menschliche Natur unter den Bedingungen der Volksthümlichkeit stand. Da war also das noch ausserhalb der Erscheinung des Chri-

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stenthums was später in sie hineinkam. Hätte nun Christus seine Jünger sich ganz assimilirt, so hätten auch sie den Gegensaz noch ausser sich, aber da war auch die Erscheinung nur ein Minimum, und die Kraft auf der | niedrigsten Stuffe ihrer Manifestation, doch war diese Manifestation die reinste. Man könnte nun aber glauben, es sey der Widerspruch nur scheinbar gehoben, indem die blose quantitative Erweiterung keine Vervollkommnung wäre. Allein in einem jeden hinzukommenden Moment ist eine Assimilation des Fremdartigen vorhanden, welche eine gewisse Virtuosität des Wirksamen ist, also nicht blos eine quantitative Erhöhung. Im Zu s az ist dieß deutlich gemacht aus einer Analogie, von dem Glauben an ein vergangenes goldenes Zeitalter. Dieser Glaube ist im Widerspruch mit dem an die Fortschreitung der Geschichte. In diesem Widerspruch wären auch wir, wenn wir das UrChristenthum als ein goldenes Zeitalter der christlichen Kirche ansähen. Aber dieß liegt auch nicht im §. Die Aufgabe ist nur, überall im Verlauf das eigenthümliche Wesen nachweisen zu können, und da wird nun anerkannt, je mehr wir das ursprüngliche Princip als ein vollkommenes denken, desto mehr muß es sich im Verlauf als ein die Geschichte vervollkommnendes ergeben. Aber wenn wir nun fragen: von wo aus ist das Wesen am leichtesten zu erkennen? von dem Punkt aus, wo es mit allen möglichen andern Kräften im Kampf ist? oder von dem aus, wo es noch allein für sich ist? so ist die Antwort klar. Da werden wir nun sagen müssen die christliche Kirche ist in der Zeit nicht nur gewachsen, sondern ihr Princip hat auch in seiner Kräftigkeit sich vollkommener manifestirt. § . 8 4 wird nun bestimmt der Grund angegeben, warum die Kenntniß des UrChristenthums besonders herausgehoben wird, nämlich um in jedem späteren Augenblick das Wesen des Christenthums reiner darstellen zu können. Dieß ist dasselbe mit dem oben über den Kanon gesagten. § . 8 5 werden nun die drei Theile der historischen Theologie zusammengefaßt, und gesagt, daß in ihnen die historische Theologie beschlossen sey, so daß sich andre Theile derselben nicht denken lassen. Ein anderes sind die Hilfswissenschaften, § 86. Es kann nun freylich nicht die Rede von einem vierten seyn, denn ein geschichtlicher Verlauf ist abgeschlossen in Anfang, Ende und was zwischen beyden liegt. In diesem: Vollkommen beschlossen liegt nun aber nicht blos, daß sonst nichts in dieß Gebiet gehörte, sondern auch daß dieß nothwendig darinn enthalten sey? Hier könnte nun gesagt werden, warum andre ähnliche Gebiete eine Disciplin wie die des UrChristenthums nicht haben? Wenn wir einen Staat betrachten, so werden wir sagen müssen, zu seiner besonnenen Leitung | gehören 1) Kenntniß des ge-

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genwärtigen Zustands 2) vom bisherigen Verlauf, weil die Gegenwart nur als Resultat der Vergangenheit verstanden werden kann. Haben wir nun hier auch etwas der Kenntniß des UrChristenthums als besonderen Theils Gleichartiges? Nein. Es fragt sich also, was denn der Grund der Differenz sey, daß im Gebiete des Staates eine solche Disciplin nicht stattfindet, in der Theologie aber soll sie den zwey andern gleichgelten. Die Rechtfertigung davon liegt darinn, daß der Staat nicht ebenso Anspruch darauf machen kann, aus einem solchen reinen Anfangspunkt entstanden zu seyn, der sich als ein plözliches Entstehen manifestirt, denn dadurch wird das Princip von § 83 nicht anwendbar, daß das eigenthümliche Wesen am reinsten zur Anschauung komme in dem ersten Zustand desselben. Es war zwar im Zusaz dieß auch auf alle verwandten Erscheinungen ausgedehnt, und man hätte glauben können, darunter sey das Politische gemeynt. Nun giebt es ein großes geschichtliches Gebiet, wo das Religiöse und Politische sich nicht recht sondern; daher kann man sagen, was da in dem Zusaz angeführt werde, diese Fiction und Tradition von einem vergangenen goldenen Zeitalter also von einem ursprünglich vollkommenen Zustand, die beruht darauf, aber sie ist auch von der Art, daß der Staat in eine solche Beschreibung nie hineingehört, ein solcher Urzustand wird immer als ein nichtbürgerlicher beschrieben. Damit hängt zusammen, daß man glaubte der Staat sey nur durch Aberrationen von der ursprünglichen Humanität entstanden, was eine sehr untergeordnete Ansicht ist. Von unsrem Standpunkte aus ist zu bedenken, daß wo ein Staat naturgemäß entsteht, da immer eine zusammengehörige Masse von Menschen schon da war, da ist also die Entstehung des Staates keine so plözliche Erscheinung wie die des Christenthums in Christo. Daher läßt sich auf das politische Gebiet dieß nicht anwenden. Die Ordnung betreffend ist die Kenntniß des UrChristenthums vorangestellt, weil sie sich an die Aufgabe der philosophischen Theologie anschließt, zunächst an die allgemeine Apologetik und Polemik, deren Zweck war, das eigenthümliche Wesen des Christenthums als eigenthümliche religiöse Erscheinung zu rechtfertigen, und seinen Begriff so aufzustellen, daß er auch zur Beurtheilung gebraucht werden könne. Stellt sich nun in dem UrChristenthum das Wesen des Christenthums am reinsten dar, so schließt sich die Kenntniß desselben am nächsten an die philosophische Theologie an. Nun könnte man leicht glauben, diese Ordnung gelte nur unter der Voraussezung, daß die allgemeine Apologetik und Polemik als theologische Wissenschaften ausgebildet seyen. Nun sind sie aber | weder in rechter Abgrenzung noch in rechtem Zusammenhang aufgestellt. Aber wenn wir auch von dem gegenwärtigen Zustand ausgehen, und denken, daß die Elemente

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von Apologetik und Polemik erst müssen gewonnen werden, so ist schon gesagt, daß dieß nur geschehen könne in dem Studium der historischen Theologie, und zwar, ist hinzuzusezen, nur insofern als die Kenntniß des UrChristenthums vorangeschickt und dadurch ein Maß gegeben ist, nach dem die geschichtlichen Erscheinungen beurtheilt werden können. Daß nun in der Ordnung, wie die historische Theologie in das Bewußtseyn aufgenommen wird, das zweyte die Kenntniß des folgenden Verlaufs ist, bedarf keiner Erweiterung. § . 8 6 wird nun von den Hilfswissenschaften der historischen Theologie gehandelt. Diese Rubrik ist in der philosophischen Theologie nicht aufgestellt worden, welche es nur mit Principien zu thun hatte. Diese Hilfswissenschaften der historischen Theologie werden reducirt auf die Punkte 1) das Geografische 2) die geschichtlichen Nebenlinien, 3) das Verstehen der Monumente. In Beziehung auf das G e o gr af i s c he ist nicht nöthig weiter zu erörtern, daß man die geschichtlichen Entwicklungen nur versteht durch die Kenntniß des Räumlichen, worinn sie erfolgen. Dieß ist im größten wie im kleinsten Gebiet wahr. Im größten Gebiet ist es die Differenz der Zonen, dasselbige gilt auch im einzelnen, denn alles Geschichtliche hat seine Beziehung auf die Lokalität und ist nicht zu verstehen ohne diese Voraussezung. Daher die allgemeine Gewohnheit, das Geografische dem Historischen voranzuschicken. Das zweyte ist was zur Kenntniß der äussern Verhältnisse des Gegenstands beyträgt. Diese Verhältnisse eines bestimmten geschichtlichen Gebietes sind die zu andern analogen Gebieten, hier die Verhältnisse des Christenthums zu andern Glaubensgemeinschaften, ebenso das Verhältniß der christlichen Kirche zu den politischen Verhältnissen ihrer Mitglieder, also die politische Geschichte ist eine Hilfswissenschaft der historischen Theologie. Das dritte ist, was zum Verstehen der Monumente gehört. Dazu kommt am Ende des §. der Ausdruck Documente, was eine Species von Monumenten ist. Monument ist alles, was aus der Vergangenheit als solcher übrig ist, also nicht in die Gegenwart als solche gehört. Ein Altes Gebäude was aber noch im Gebrauch ist, gehört sofern es in dem Gebrauch ist, der Gegenwart an, aber wenn nun seine Existenz eine andre ist, als wie in der Gegenwart solche Organe entstehen, so ist es ein Monument. Wenn wir Protestanten wollten gothische Dome bauen (nicht solche artigen Miniaturen | wie die neue Werdersche Kirche) so wäre dieß 8 Erweiterung] wohl zu korrigieren in Erläuterung 38 Die Friedrichswerdersche Kirche am Werderschen Markt wurde zwischen 1824 und 1831 nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) erbaut und war die erste neugotische Kirche in Berlin.

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nicht zweckmäßig, wenn sie aber einmal vorhanden sind, so werden sie auch gebraucht, weil aber nicht mehr so gebaut wird, so sind sie Monumente. Documente sind schriftliche Monumente, Schrift im weitesten Sinn, auf Stein, Pergament pp. Es ist ein Factum aus der Vergangenheit, was in diesen Documenten erhalten ist, und insofern sind sie auch Monumente. Das Verständniß dieser ist Hilfswissenschaft der Geschichte, weil sie die Quelle sind für die Kenntniß der Vergangenheit. Was nämlich nicht der Vergangenheit selbst angehört, ist keine Quelle sondern etwas Abgeleitetes. Die Schriften einer historischen Person aus einer gewissen Zeit sind unmittelbare Quellen für die Kenntniß der Zeit. Die Erzählungen, die einer vorträgt aus einer früheren Zeit die er nicht erlebte, sind keine Quellen, und ihre Sicherheit beruht auf den vom Geschichtsschreiber benüzten Quellen. Wo wir nun gar keine Quellen haben, da müssen wir die Darstellungen zweyter Hand vergleichen, und hier verdient derjenige, der viele Monumente benüzen konnte, mehr Glauben. Die Monumente sind es immer, auf die man zurückkommen muß. Fassen wir dieß recht, daß alle Geschichtskunde nur aus Denkmalen geschöpft werden kann, und daß jede Geschichte nur ein rechtes Verständniß giebt wenn man den Schauplaz und den Zusammenhang der Verhältnisse kennt, so zeigt sich, daß hier alle Hilfswissenschaften der historischen Theologie zusammengestellt sind. Sind nun diese HilfsWissenschaften für alle Disciplinen der historischen Theologie dieselben? Unmittelbar geht diese Darstellung der Hilfswissenschaften nur auf den geschichtlichen Verlauf. Da sich aber das Erste und Lezte in das Mittlere auflösen lassen, so werden wir sagen müssen: wenn wir den geschichtlichen Zustand der Gegenwart nehmen, so müssen wir den Schauplaz und die äussern Verhältnisse kennen. Freylich für den gegenwärtigen Moment kann man nicht in demselben Sinn von Monumenten reden, ausgenommen inwiefern die Documente darunter begriffen sind. Wenn es darauf ankommt eine Thatsache des Moments richtig aufzufassen, so wird man sich in den Mittelpunkt derselben stellen müssen, welcher das Entstehen der Documente für diese Thatsache enthält. – Was die Kenntniß des UrChristenthums betrifft, so ist offenbar, daß die zwey ersten Hilfskenntnisse hier ebenso nothwendig sind, und die dritte um so mehr, je mehr | das UrChristenthum in der Zeit zurückliegt. Wir sind in Beziehung auf das UrChristenthum ganz an Documente gewiesen. Es gehen also diese Hilfswissenschaften durch alle Theile der historischen Theologie hindurch. Nun wird im Folgenden jeder der Theile der historischen Theologie in seiner Eigenthümlichkeit betrachtet, besonders um Virtuosität und Gemeinbesiz zu scheiden. Bey der philosophischen Theologie war

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dieser Unterschied = 0 gesezt, weil die Principien nur selbstständig angeeignet werden können. Je mehr nun aber in der historischen Theologie die Einzelheiten ins UnEndliche gehen, desto nothwendiger wird die Scheidung. Diese ist aber nicht dieselbige für alle drei Disciplinen der historischen Theologie, sondern muß bey jeder aus ihrem Wesen hervorgehen. § . 8 7 handelt von der Kenntniß des UrChristenthums im Verhältniß zu den beyden andern Disciplinen. Dieß ist besonders herauszuheben in der Beziehung, daß die ersten Lebensäusserungen des Christenthums auch das Wesen des Christenthums am reinsten zeigen. Nun fragt sich aber: Was sind diese ersten Äusserungen, und wo ist das UrChristenthum abzugrenzen? Dieß geschieht §. 87 so, daß zurückgegangen wird auf die zwey Punkte die das eigenthümliche Wesen der christlichen Kirche constituiren, daß es eine Gemeinschaft in Beziehung auf eine bestimmte Form des religiösen Elements ist, und eine solche, in welcher sich das eigenthümliche Wesen vorzüglich als Gedanke, in der Lehre ausspricht. G e me in scha ft und Lehre sind also die zwey relativ sich sondernden Momente. Im Anfangspunkt, als einfache Einheit, darf diese Sonderung noch nicht vollzogen seyn – und dieß allein ist die Art wie man die Abgrenzung des UrChristenthums machen kann. Der Zu s az macht darauf aufmerksam, wie wenig hier etwas ganz Genaues aufgestellt werden könne, indem jede Formel zulasse sowohl daß man rückwärts, als daß man vorwärts gehe. Die gewöhnliche Art der Abgrenzung ist, das apostolische Zeitalter festzusezen, aber dieß ist ebenso unbestimmt, und wenn man Alles, was während des apostolischen Zeitalters als Christenthum erschienen ist, wollte zum UrChristenthum ziehen, so würde man schon eine Menge von apokryfischem mit aufzunehmen haben. Daher ist der Ausdruck apostolisches Zeitalter nicht geeignet, und besser wäre zu sagen: apostolische Wirksamkeit, worunter man auch das, was die Apostel anerkannt haben, mit zu begreifen hätte. Die hier gewählte Formel ist es aus dem Gesichtspunkt der sich von selbst ergab, eine Grenze zu ziehen | zwischen Anfangspunkt und weiterem Verlauf. Die Periode des UrChristenthums sey die Zeit in welcher Lehre und Gemeinschaft in Beziehung aufeinander erst wurden. Im weiteren Verlaufe werden sie gesondert, und von hier aus, vom zweyten Theile aus ist jene Formel für den ersten gemacht. Aber sie ist dem Zweck gemäß. Der erste Anfang muß sich immer als ein Einfaches schlechthin von dem nachherigen geschichtlichen Verlauf der immer eine Breite ist, sondern. Nun ist hier der Uebergang von dieser Einfachheit zu jener Sonderung aufgefaßt. Das eigenthümliche Wesen des Christenthums kommt also am reinsten zur Anschauung in denjenigen Äusserungen, welche sich

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auf einen noch nicht in Lehre und Gemeinschaft gesonderten Zustand beziehen. Daß aber auch hiemit noch verschiedene Punkte gesezt werden können, darüber erklärt sich der Zusaz. – Fragt man, wie weit diese Periode gehe, so kommt ungefähr dasselbe heraus, wie bey der gewöhnlichen Bestimmung. § . 8 8 . hat es mit dem Inhalt dieser Disciplin zu thun, und hier ergiebt sich, daß derselbe ganz gleich ist mit dem was man gewöhnlich exegetische Theologie nennt. Nun ist 1) diese Gleichheit nachzuweisen 2) zu erklären, wie sich dieß Beydes verhält, daß Kenntniß des UrChristenthums eine treffendere Erklärung wäre als der Name exegetische Theologie. 1) Der §. erklärt sich darüber, daß die Kenntniß des UrChristenthums nur aus den vorhandenen Documenten gewonnen werden könne. Der Ausdruck exegetische Theologie wird dann bezogen einerseits innerhalb des christlichen Zeitraums auf das Neue Testament, andrerseits auch auf das Alte Testament. Von diesem ist hier gar nicht die Rede, worüber unten. Hier ist also der Ausdruck nur in dem Sinne genommen, wie er sich auf das Neue Testament bezieht. Ist nun dieß wahr, daß die Kenntniß des UrChristenthums ganz aus denjenigen Urkunden genommen werden muß, welche das Neue Testament bilden? Dem Bisherigen nach müßten wir sagen, sie sey zu nehmen aus allen Documenten, die uns aus jenem Zeitraum übrig sind, und welche geschichtlich auszumitteln wären. Eusebius in seiner KirchenGeschichte und auch in seinen andern Werken hat eine Menge von Auszügen aus älteren christlichen Schriften. Wenn er nun auch solche enthielte, die aus dem apostolischen Zeitraum und Gebiet wären: so stünden diese | nicht im Neuen Testament, wir würden sie aber doch hieher ziehen müssen, aber unter die exegetische Theologie könnten wir die Beschäftigung mit denselben nicht befassen. Doch wenn wir auch streng bey der Bedeutung des Ausdrucks exegetische Theologie stehen blieben, so würden doch die PsummarischenS Auszüge wesentliche Hilfsmittel der exegetischen Theologie seyn. Für die Wissenschaft, wie wir sie fassen wären sie mehr, nämlich wesentliche Elemente. Ferner fragt sich, wie stehen denn die Patres apostolici zu unsrer Disciplin? Hier zeigt sich also der Charakter dieser Wissenschaft in ihrer Schwierigkeit. Unter diese Bücher gehört der Pastor hermae, welcher in der ersten Kirche gleiches Ansehen mit dem Neuen Testament ge31 PsummarischenS] oder PsecundärenS (vgl. Sachs 92)

34 Patres] PP.

17 Vgl. KD² § 141 (KGA I/6, S. 377,17–27) 36 Sancti Hermae, viri apostolici, Pastor, in: Sanctorum patrum qui temporibus apostolicis floruerunt opera vera et suppositicia, edd. J. B. Cotelier / J. Clericus, 2. Aufl., Amsterdam 1724, Bd. 1, S. 67–126

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habt hat, öffentlich vorgelesen, und den Katecheten erklärt worden ist. Bleibt man nun bey dem Ausdruck exegetische Theologie stehen, so muß man sagen, wenn dieser Pastor ein NeuTestamentliches Buch geworden wäre, so würde er auch in die exegetische Theologie gehören, daß er nicht hineingehört, dieß ist Folge von dem Urtheil der Sammler des Neuen Testaments. Aus unsrem Gesichtspunkt dagegen müssen wir sagen: wenn das erwiesen ist, daß diese Schrift aus jener Zeit herrührte, und daß sie als eine solche anerkannt wurde, durch welche das Wesen des Christenthums mitgetheilt werden konnte, wie dieß offenbar bey ihr der Fall war, alsdann können wir aus ihr Elemente zur Kenntniß des UrChristenthums hernehmen, und unsre Vorstellung vom Wesen des Christenthums wäre unvollständig wenn wir diese Schrift nicht zuzögen, ebenso die Briefe des Barnabas pp. Was ist nun also, um das Wesen des Christenthums zu erkennen, das Sicherere, von unserem Gesichtspunkt auszugehen, oder von dem der gewöhnlichen exegetischen Theologie, welcher sich streng an das Neue Testament hält. Dieser hält sich an eine Auctorität. Dieß thut der unsre nicht, dadurch wird aber möglich, daß wir in unsre Vorstellungen andre Elemente hineinbringen, als wenn wir vom Neuen Testament als gegeben ausgehen. Wissenschaftlicher ist aber offenbar dieß Verfahren, welches keine Auctorität voraussezt, welche nur Auctorität von Theologen ist, was wir auch seyn wollen. Darinn liegt nun nicht die Anmaßung, das Neue Testament als Gegebenes zu ändern, sondern nur dieß, daß man richtiger thut, auf eine begriffsmäßige Bestimmung zurückzugehen. Wir müssen nun fragen: wie kommt dieß, daß man dieses Buch mit den Katecheten durchgegangen, aber es doch nicht in den Kanon | aufnahm. Das Buch enthielt Visionen die aber in eine Moral ausgiengen. Nun kann man sagen, man glaubte diese Form brauchen zu können, um den Katecheten die Moral einzuschärfen; hätte man die Schrift in den Kanon aufgenommen, so hätte man erklärt, daß die Visionen wirklich seyen und vom heiligen Geist herrühren. Also die moralischen Säze des Buches muß man ansehen als den Punkt, worin der Lebenswandel der Christen sollte in seinem Unterschied vom Heidnischen dargestellt werden. Aber jene Visionen wollte man nicht dargestellt wissen als zum eigenthümlichen Wesen 2 stehen,] stehen bleibt, 13 Vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „[...] und eben das würde von den Briefen des Barnabas und Polycarp gelten.“ (S. 92); vgl. Sancti Barnabae apostoli epistola catholica, in: Sanctorum patrum qui temporibus apostolicis floruerunt opera vera et suppositicia, edd. J. B. Cotelier / J. Clericus, 2. Aufl., Amsterdam 1724, Bd. 1, S. 15–66; Sancti Polycarpi episcopi Smyrnae et sacri martyris, ad Philippenses epistola, in: Sanctorum patrum edd. Cotelier/Clericus, Bd. 2, S. 186–192

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des Christenthums gehörig, dieß wäre also aus dem Wesen des Christenthums auszuschließen. In der Ableitung und Bezeichnung also, in welcher hier die Sache dargestellt ist, liegt die Veranlassung, kein Resultat blos traditionell aufzunehmen, sondern immer wieder auf das Ursprüngliche zurückzugehen. 2) Was nun die Differenz der zwey Benennungen betrifft, so stellt der Ausdruck exegetische Theologie das Ganze nur dar als Beschäftigung mit gewissen schriftlichen Documenten. Nun ist aber auch ein Theil der Erkenntniß des geschichtlichen Verlaufs auch nichts Andres als dieß, und wir haben kein Princip, das Frühere vom Späteren zu sondern. Soll dieß Princip ein Begriff seyn oder eine Auctorität? Das Leztere ist nicht wissenschaftlich, der Begriff aber wird durch den Ausdruck verdunkelt. Nun die Bezeichnung ist so allgemein, daß sie nicht abgeschafft werden kann, aber der Begriff der wissenschaftlichen Disciplin ist nicht aus derselben abzuleiten. § . 8 9 . Stellt den Unterschied zwischen allgemeiner Kenntniß und Virtuosität auf. Dieß wird dargestellt im Vergleich mit der philosophischen Theologie als der dieser noch am nächsten liegende Punkt. In der Kenntniß des UrChristenthums, sofern diese beständig zum Grunde liegen soll bey der Betrachtung des ganzen ferneren Verlaufs und dem Urtheil darüber, ist selbst nur das Princip enthalten, und da kann es also nichts geben, was eine besondre Virtuosität ausmacht. Anders verhält es sich mit dem was Hilfswissenschaft dieser Disciplin ist. Die Sprachkenntniß ist Hilfswissenschaft, aber jeder muß sie erwerben. Anders ist es in der katholischen Kirche, welche die Vulgata sanctionirt hat zu einer Zeit wo | das Lateinische die gewöhnliche Sprache der abendländischen Christenheit war. Da war also die SprachKenntniß gewisserweise ausgeschieden. Genauer betrachtet werden wir immer hier Manches finden, was nicht eigentlich zu dem Zweck der Wissenschaft gehört. Es kann einzelne Stellen genug geben, von denen wir sagen werden, es ist nicht dieselbe Nothwendigkeit, daß sich jeder über sie seine eigne Auslegung bilde, weil sie nichts enthalten, was zur Kenntniß des UrChristenthums gehört. Dann werden wir wieder sagen, daß die Linie schwer zu ziehen ist auf diesem Gebiete zwischen Elementen desselben und zwischen Hilfswissenschaften. An und für sich ist die Kritik, z. B. der Handschriften eine Hilfswissenschaft. Allein insofern hier Resultate vorkommen können in Beziehung auf Elemente, die wesentlich zur Kenntniß des UrChristenthums gehören, so hört hier das Hilfswissenschaftliche auf und da müßte sich jeder sein kritisches Urtheil selbst machen. Genaueres hierüber in der Folge. § . 9 0 geht zum zweyten Theil über, zum geschichtlichen Verlauf des Christenthums mit Ausschluß des UrChristenthums in seiner be-

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sonderen Bedeutung, und ebenso des gegenwärtigen Moments, aber auch nur sofern er besonders betrachtet wird, denn sonst gehört auch wieder AnfangsPunkt und Schluß in den Verlauf. Dieser könne nun entweder als Ganzes dargestellt werden oder getheilt in Geschichte der Lehre und der Gemeinschaft. Dieß sind die Wissenschaften, die man KirchenGeschichte und Dogmengeschichte nennt. Der Ausdruck ein Ganzes bezieht sich nur auf die Breite, keineswegs soll gesagt werden, daß man den Verlauf auch der Länge nach ungetheilt lassen könnte. Dieß ist § . 9 1 als gleich nothwendig hinzugefügt, ob die Trennung der Breite nach gemacht sey oder nicht. Die Länge wird also getheilt durch die schon früher erörterten Begriffe von Perioden und Epochen. Nun ist hier noch weiter gegangen, und ausser diesen Punkten sind noch andre Punkte unterschieden. Wenn man sich in einem geschichtlichen Verlauf eine Epoche denkt, so denkt man sich zugleich, daß der Verlauf nachher einem andern Gesez folge und andre Elemente habe als der vorher. Nun ist schon im Allgemeinen bemerkt, daß der Gegensaz zwischen Punkten, die in einer fortgehenden Entwicklung liegen, und solchen, die ein Neues anfangen, nur ein relativer sey, weil auch das Plözliche vorbereitet sey, und auch in der allmähligen Entwicklung Momentanes enthalten. Wenn sich demnach die Epoche vorher vorbereiten soll, so muß sie in gewissen Punkten vorher schon als Minimum enthalten seyn, aber je weiter | zurück desto weniger. Dieß giebt den Begriff vom CulminationsPunkt, wo die Entwicklung der Periode in ihrer Ungestörtheit noch ist, und noch keine Spur der nächsten Epoche zu sehen. Denkt man sich in der KirchenGeschichte die Zeit der päbstlichen Auctorität als eine Periode bildend, so ist die Reformation der Punkt wo sie gebrochen wurde. Nun gehen wir rückwärts und finden vorbereitende Protestationen, aber dann kommen wir auf einen Punkt, wo dergleichen noch nicht vorkommen, und wo dieses Princip ungestört und am höchsten entwickelt ist; dieß ist der Begriff des CulminationsPunktes. Hier ist die Sache als Gegensaz dargestellt. Wenn eine Epoche ein neues Princip bringt, so sind alle Punkte nach dieser Epoche mit denen der vorigen im Gegensaz. So lassen sich nie Zwischenpunkte finden. Wird aber durch diese Isolirung von Punkten nichts Ungeschichtliches hineingebracht? Deßwegen nicht, weil dabey auf den verschiedenen Charakter der Perioden, also auf ihre Continuität gesehen wird. An solchen HauptPunkten läßt sich der Entwicklungspunkt des Ganzen am Besten zur Anschauung bringen. Wenn wir freylich die Linie als Aggregat von Punkten betrachteten, wie die Chronik, so hätten alle Punkte gleiche Dignität. § . 9 2 hat es wieder mit der Sonderung des Universellen von der Virtuosität zu thun, und es wird gesagt, daß dieser Gegensaz in dieser

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Disciplin sein Maximum erreiche. Dieß ist leicht einzusehen. Denken wir uns ein geschichtliches Gebiet wirklich durch die Darstellung erschöpft, so müßte darinn jede Einzelheit ihren Ort finden. Von diesen werden viele für die historische Betrachtung minder wichtig seyn aber sie gehören doch zum ganzen Zusammenhang. Hier bekommen wir den Begriff einer Specialgeschichte, welche sich zuerst rein lokal bestimmt. Behandelt einer die Geschichte einer Diöcese, eines Klosters, so kann wenn der Gegenstand nicht ganz unbedeutend ist, sich der ganze geschichtliche Verlauf daran klarmachen lassen. Aber dabey wird eine Menge von Einzelheiten in Anwendung gebracht werden, Urkunden, Daten p welche in der Totalität der geschichtlichen Betrachtung verschwinden. Dieß ist das Gebiet der Virtuosität. Es kommt hier darauf an, auf eine gewisse Weise die Grenze zu ziehen. Das Minimum für jeden Theologen ist ein solches Nez von EntwicklungsPunkten, ohne diese giebt es keine klare Anschauung des Christenthums in seiner Geschichte. Aber nun giebt es einen großen Spielraum zwischen diesem Allgemeinsten und zwischen jener Virtuosität, welchen jeder nach seiner Individualität ausfüllt; da kann also nichts bestimmt werden als die äussersten Grenzpunkte. Es ist etwas | wovon es mehrere Beyspiele giebt, daß wir sehr specielle geschichtliche Stoffe, die nicht in das allgemeine Gebiet gehören, doch so geschichtlich behandelt sehen, daß auch der NichtVirtuose davon lernen kann, indem man dabey die Genesis des geschichtlichen Verfahrens sieht. Von § . 9 3 . geht nun die Betrachtung der lezten Disciplin der historischen Theologie in Beziehung auf ihre Organisation. Diese ist die Darstellung des gegenwärtigen Moments aber auf andere Weise als wie er als Schlußpunkt der KirchenGeschichte vorkommt. Hier wird er vorkommen nach den verschiedenen Abtheilungen des Stoffes, nicht in seinem Zusammenhang unter sich. Hier ist gemeynt, daß man die Gegenwart kennen muß, sowie man die Zukunft daraus entwickeln muß, also Alles Gegenwärtige in seinen Verhältnissen, in seinem Zusammenwirken und Widerstreit aufgefaßt. Wenn wir dieß ansehen als aus dem Begriff der christlichen Theologie hervorgegangen, so gilt auch die Aufgabe für einen jeden Moment. §. 93 bereitet nun die Betrachtung der Sache dadurch vor, daß er sagt, es eigne sich nicht jeder Moment gleich gut zu solcher Darstellung. Am meisten nämlich eigne sich dazu der CulminationsPunkt einer Periode, am wenigsten ein Punkt, der in der Epoche liegt, oder in deren Nähe. Man könnte nun aus einigem Früheren den Schluß machen, daß sich die Sache umgekehrt verhalte. Denken wir uns einen revolutionären Zustand, so ist dieß ein solcher wo sich alle die Gegenwart constituirenden Punkte unmittelbar nahe gebracht sind als Punkte der kräftigsten Reibung, wo alles von Allem absolut abhängt. Denkt man sich aber die

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ruhige Fortbildung, und dabey daß der Gegenstand eine gewisse Breite hat, so könnte man sagen, während dessen lasse sich die Gegenwart nicht gut als Ganzes darstellen, weil jeder Zweig seine ruhige Entwicklung für sich hat. Beydes ist aber nicht im Widerspruch. Während einer Epoche kann nicht irgendein Element des Ganzen in einer ruhigen Entwicklung für sich dargestellt werden, es muß immer mit Beziehung auf alles Andre dargestellt werden. Daraus folgt aber nicht, daß ein solcher Zeitpunkt auch gut als ein Zusammenhang dargestellt werden könne, denn es ist auch Alles in Gährung und in der Bewegung gegeneinander. Daher denken wir uns z. B. die Reformation als Epoche so ist, eine zusammenhängende Darstellung von irgend einem Moment zu geben, hier unmöglich; und ebenso wenn wir fragen wie hat sich von 1501 – pp die Lehre entwickelt, oder wie hat sich die KirchenVerfassung entwickelt? so läßt sich dieß nicht für sich sondern nur in Verbindung mit allem Andern beantworten. Als ein Zusammenwirken von entgegenstrebenden Momenten läßt sich | dieß darstellen, aber nicht als zusammenhängendes Ganze. Warum sich ein CulminationsPunkt am besten im Zusammenhang darstellen läßt, dieß liegt darinn, daß hier das Gesez der Periode am meisten ausgebildet und am ungestörtesten durch fremde Principien erscheint. D e r Zu s az drückt dieß auf eine andre Weise aus. Hier ist nur gesagt, daß alles Einzelne während einer revolutionären Epoche nur in der Form des Streites mit Anderm könne zur Erörterung kommen. Dieß nimmt rückwärts ab, und die Möglichkeit einer zusammenhängenden Darstellung zu, – das Maximum davon ist der CulminationsPunkt. Am Ende des Zusazes ist einerseits auf die ReformationsEpoche gewiesen, auf der andern auf die apostolische Zeit. In diesen Punkten konnte die zusammenhängende Darstellung noch nicht gelingen weil sie zu nahe an der Epoche lagen. Will jemand im apostolischen Zeitalter z. B. Lehre oder Gemeinschaft auf einem gewissen EntwicklungsPunkte darstellen, so sind hier immer noch die einzelnen Punkte noch im Streit und der Zusammenhang nur ein zufälliger. Nun wird also § . 9 4 der Sache näher gegangen, und da findet sich zusammengefaßt was sich vorher zu widersprechen schien, und gesagt wird, die Aufgabe lasse sich in einem CulminationsPunkt am besten lösen, aber sie zerfalle auch in die Darstellung der Lehre und des geselligen Zustandes. Allerdings kann Beydes niemals in gänzlicher Unabhängigkeit seyn. Wenn bedeutende Veränderungen in der Lehre auffallen, so werden auch solche im geselligen Zustande sich zeigen. Auch umgekehrt lassen sich zwar Veränderungen in dem geselligen Zustand denken ohne Veränderung des Lehrinnhalts, aber gewiß nicht ohne Veränderung ihrer Form und Entwicklung. Aber jedenfalls werden in solchen

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CulminationsMomenten beyde Elemente am meisten gesondert seyn. Die Kenntniß des gegenwärtigen Moments zerfällt also in zwey Disciplinen, in die Kenntniß von der Lehre wie sie jezt ist in ihrem Zusammenhange, und die Kenntniß des gesellschaftlichen Zustands in dem Ganzen. § . 9 5 . wird zuerst von der Darstellung des gesellschaftlichen Zustandes gehandelt, und diese bezeichnet als kirchliche Statistik. Dieß ist aus dem politischen Gebiet entlehnt wo man den Zustand des Staates in Beziehung auf Ausdehnung, Volksmenge, Verfassung pp wie er im Momente ist, darunter begreift. Es ist Herr Stäudlin der erste gewesen der dieses Ausdrucks sich bedient, und eine solche Darstellung gegeben hat. Die Disciplin als solche ist also allerdings noch jung, und sie kann nur durch eine beständige Aufmerksamkeit auf Alles | was sich in der Kirche ereignet, im Gang erhalten werden. Eine KirchenZeitung sollte sich dieß zum einzigen Ziel sezen, eine MaterialSammlung für eine kirchliche Statistik zu seyn. Aber kein einziges von den Instituten, die wir jezt unter diesem Namen haben, hat sich dieß Ziel rein gehalten, sondern sie haben sich durch das Polemische fortreissen [lassen], was auch die Thatsachen verdächtig macht und des rein historischen Charakters beraubt. Die Aufgabe zu einer solchen Disciplin war immer vorhanden, auch in Zeiten, die sich weniger zu einer solchen Darstellung eigneten. In solchen Zeiten kann man weniger sehen, wohin sich die Entwicklung neigt, nämlich in der Zeit unmittelbar nach einer Epoche; in der Zeit vor einer Epoche sind in das Princip der Periode schon fremde Elemente streitend eingedrungen, und eben in solcher Zeit muß man den Stand des Streites kennen. Auch der Kirchenhistoriker muß an Punkten, die sich besonders eignen, einen Ueberblick über den Gesammtzustand geben. § . 9 6 nimmt auf die Trennung der Kirche in mehrere Gemeinschaften Rücksicht. Dieß geschieht erst hier bey der Darstellung des gegenwärtigen Zustandes, weil bey der Exegese der Kanon für alle Gemeinschaften derselbe ist, und die KirchenGeschichte sich eben nur in allgemeine und SpecialGeschichte theilt. – Aber hier müssen wir fragen, in einem Zustand der Theilung ist da die Aufgabe dieselbe oder nicht? ist es nothwendig, den Zustand auch der LandesKirche zu kennen, welche dem einzelnen Theologen fremd ist? Der §. verneint hier jede Beschränkung und behauptet, der Gegenstand der Disciplin bleibe immer derselbe. Allerdings liegt uns der Zustand der eignen Kirche am nächsten, und jede andre um so näher, je mehr sie 10–12 Vgl. Karl Friedrich Stäudlin: Kirchliche Geographie und Statistik, Bd. 1–2, Tübingen 1804

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mit uns in Berührung stehen. Ja, wir auf dem Continent werden sagen, die deutsche katholische Kirche interessirt uns mehr als die bischöfliche Kirche in England. Die orientalische Kirche scheint uns gar nicht zu interessiren; aber wenn wir nur an das MissionsWesen denken, so sehen wir schon, daß wir nichts dürfen ausschließen. § . 9 7 . Nun kommen wir zu der andern Disciplin des dritten Punktes. Den eigentlichen Streitpunkt können wir auf später versparen. Es ist hier gesagt, daß die Darstellung der Lehre wie sie jezt ist, die Disciplin sey welche Dogmatik heißt. Dieß ist ein sehr angefochtener Saz, weil er der Dogmatik eine ganz andre Stellung giebt als man dieß gewöhnlich thut. Aber eben diese Stellung hat zu verderblichen Ansichten Anlaß gegeben, und darinn liegt die Veranlassung diesen andern Gesichtspunkt aufzustellen. Man sagt, so sey die Dogmatik etwas rein | Historisches, und der Dogmatiker sagt nur Thatsachen aus, die mit seiner Ueberzeugung nichts zu thun haben. Gehen wir aber auf die anfängliche Ansicht zurück, so fällt diese Einwendung weg, denn es wird ja keiner Theologe ausser vermöge seiner Ueberzeugung von dem Christenthum. Auch mit Exegese und KirchenGeschichte beschäftigt sich niemand so eigens, als Vermöge seiner Ueberzeugung vom Christenthum. Ebenso giebt Niemand eine Darstellung christlicher Lehre wie sie jezt ist, als nur vermöge seiner Ueberzeugung. Auch kann jeder nur so wie er davon überzeugt ist, den Zusammenhang darstellen. Wir können dieß aber versparen. Es haben viele Theologen von verschiedenen Schulen einen Unterschied gemacht zwischen kirchlicher Dogmatik und eigentlicher wissenschaftlicher Dogmatik oder rationaler Theologie. Hier soll nun von nichts andrem geredet werden als von der kirchlichen Dogmatik, und dieß werden dann alle gelten lassen. Eine Darstellung von der Lehre wie sie jezt ist, kann nur eine kirchliche Dogmatik seyn. Stellte einer nur Privatüberzeugungen dar, so könnte dieß ein schönes Buch seyn aber keine Dogmatik. In solcher sucht man nur eine Darstellung wie sie wirklich gilt. Nun ist aber in unsrer Kirche die Lehre nicht festgestellt sondern beweglich. Es können also zu derselben Zeit Darstellungen der Lehre erscheinen, die sehr von einander abweichen, die aber alle Dogmatik heißen können. Die eine wird mehr Vergangenes enthalten, was aber auch gegenwärtig kirchlich ist; die andre mehr Zukünftiges, was aber auch schon gegenwärtig ist. Ob es nun ausser solcher kirchlichen Dogmatik noch etwas giebt was man christliche Dogmatik nennen kann, ohne daß es kirchlich wäre, diese Frage wird verspart bis zur eigentlichen Ausführung der Disciplin. 1 stehen] constructio ad sensum

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Gewöhnlich nennt man die Dogmatik systematische Theologie, und sah sie auch als Theologie κατ’ ἐξοχὴν an, der alle andern theologischen Disziplinen als Hilfswissenschaften untergeordnet sind. Wenn man sagt: die exegetische Theologie ist nur eine Hilfswissenschaft für die Dogmatik, denn man will aus dem Kanon nur die christliche Lehre ermitteln, so ist dieß falsch; denn unmittelbar kann man daraus nur ermitteln den Zustand der Lehre im apostolischen Zeitalter. Nun erscheint zwar in dieser Zeit das christliche Bewußtseyn in seiner größten Reinheit; aber nicht in seiner größten Ausdehnung und Klarheit. Das christliche Bewußtseyn ist in einer beständigen Entwicklung, der Kanon bleibt immer Norm, aber nicht Hilfsmittel, denn das christliche Leben und die Lehre geht nicht aus dem Kanon, | sondern aus dem christlichen Princip hervor, das sich durch den Kanon PimmerS läutert. Sagt man ferner die KirchenGeschichte ist nur ein Hilfsmittel für die Dogmatik, weil man nur wissen will, durch welche Zustände die Lehre bis jezt hindurchgegangen ist, so ist dieß falsch, denn man kann von jedem früheren Punkte auch eine Dogmatik aufstellen, also war diese Wissenschaft immer für sich und unabhängig für sich. Dieß ist ein Irrthum, der dem scholastischen Zeitalter angehört; aber es ist auch nachzuweisen, daß dieß die größte Corruption des dogmatischen Strebens gewesen ist. Weil wenn nun die Reformation uns von dem Scholastischen losmachen will, so müssen wir uns auch hievon losmachen. – Das Gute an dem Ausdruck systematische Theologie ist, zu zeigen, daß sie kein Aggregat seyn soll, aber dieß liegt in unsrer Bezeichnung und Stellung ebenso. § . 9 8 . stellt einen Gegensaz auf gegen 96. Von der kirchlichen Statistik wird gesagt, sie bleibe dieselbe auch für den Zustand der getheilten Kirche. Von der Dogmatik wird aber gesagt, daß bey getheilter Kirche jede KirchenGemeinschaft nur ihre eigne Lehre dogmatisch behandeln könnte. Darinn liegt schon daß sie mit der eignen Überzeugung wesentlich zu thun hat. So wie nämlich die Kirche getheilt ist, so ist auch die Lehre nicht dieselbe, aber indem dieß [so ist], so steht jede partiell im Gegensaz mit der andern. Daher wenn die Lehre im Zusammenhang dargestellt wird, so kann dieß nur geschehen von der Voraussezung der KirchenGemeinschaft selbst. Wenn wir die katholische Lehre darstellen, so können wir wohl zeigen, wie die katholischen Theologen dieß im Zusammenhang denken, aber wir werden diesen Zusammenhang nicht anerkennen, denn es giebt Punkte in der katholischen Lehre worinn wir mit ihr einverstanden sind, und Punkte wo wir nicht mit ihr einig sind. Man kann also den gedachten Zusammenhang referiren, aber nicht ihn selbst constitu2 an] dar

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iren. Es wird hier Symbolik und comparative Dogmatik verglichen. Die Symbolik stellt getrennt voneinander die verschiedenen Lehren dar; die comparative Dogmatik z. B. vom protestantischen Standpunkt aus, construirt sich protestantisch, und bringt nur gelegentlich die Abweichungen bey. Da bildet dann eine Lehre das Centrum, um welches sich die andern gleichsam lagern. Sehen wir nun dadurch, daß in der evangelischen Kirche die Lehre nicht so festgestellt seyn kann wie in der katholischen, so folgt, daß es in der evangelischen Kirche zu derselben Zeit verschiedene Darstellungen der Lehre geben kann. Dieß müssen wir aber als ganz untergeordnet betrachten, und es wird | sich zeigen, daß diese abweichenden Darstellungen wenigstens in dem Gegensaz gegen den Katholizismus eins sind. Die Differenz in dem gleichzeitigen Bestand der Lehre kann in einer so lebendigen KirchenGemeinschaft wie die unsre, so groß seyn, daß sie auch noch auf die Darstellung der CardinalPunkte einwirkt, aber dennoch muß die christliche und protestantische Identität im Gegensaz gerade gegen die andern Kirchen, die einen festen Lehrbegriff haben, mit zum Vorschein kommen. § . 9 9 fängt der Unterschied an behandelt zu werden zwischen GemeinGut und Virtuosität. In Beziehung auf die christliche Statistik sind wir mehr zu wissen berufen von denen, mit welchen wir in beständiger Beziehung stehen als mit andern. Der Unterschied in dieser Beziehung ist nicht geringer auf diesem Gebiet als in der eigentlichen historischen Theologie. Wenn wir die Statistik und Dogmatik parallelisiren, so sind beyde unendlich. Wir dürfen nur die Differenzen in einem einzelnen Lehrpunkt nehmen, und ebenfalls die Differenzen in der evangelischen Kirche in Beziehung auf die Verfassung: so werden wir dieß zugeben müssen, und eben hieraus constituirt sich dieses Maximum des Unterschiedes. § . 1 0 0 . wird zuerst festgestellt der Hauptpunkt in dem Gebiete, welches sich jeder aneignen muß. Jeder muß sich seine geschichtliche Anschauung (auch des gegenwärtigen Moments) selbst bilden. Denn von dieser hängt seine ganze Wirksamkeit ab. Daraus folgt nun daß auch seinen Zusammenhang der Lehre sich jeder selbst bilden muß, und sich keiner denselben nur traditionell aneignen kann. Traditionell aufnehmen kann man nur das Factum, nicht die Lehre im Zusammenhang. Wer die Lehre so aufnehmen wollte, der würde auch in der Kirchenleitung nur eine Maschine seyn. § . 1 0 1 wird das zweyte angeführt, daß jeder auch müsse seine eigne Behandlungsweise der geschichtlichen Darstellung (auch für 3 Vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „Komparative Dogmatik ist eine Anwendung der Darstellung der Dogmatik auf die Darstellung der Lehre einer Kirche.“ (S. 97)

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Dogmatiken p) selbst machen; denn indem man die Kenntniß davon haben muß, so muß man auch auszuscheiden wissen, was Urtheil des Einzelnen, und was Factum ist. Anders kann man die Kirchlichkeit einer solchen Production gar nicht messen. Dazu wird dann § . 1 0 2 noch die historische Kritik als das allgemeine Organon angenommen, und dieß gilt in Beziehung nicht blos auf die Dogmatik, sondern auf die ganze geschichtliche Theologie. So kommen wir auf das zurück, was Anfangs gesagt wurde: die Theologie ist nichts andres als eine historisch kritische Wissenschaft. |

Erster Abschnitt. Exegetische Theologie. Der Anknüpfungspunkt ist §. 83 und 84 in den Säzen, daß das eigenthümliche Wesen des Christenthums am reinsten aus den frühsten Zuständen erkannt werde, und daß wir diese frühsten Zustände in den schriftlichen Documenten aus der urchristlichen Zeit dargestellt finden. Wenn wir uns im Voraus eine Uebersicht machen wollen von den einzelnen Disciplinen, die hier behandelt werden, so ist es zuerst die höhere theologische Kritik, dann die niedre, dann die Wissenschaftliche SprachKunde, dann die Hermeneutik, und endlich die Kenntniß dessen was sich zu diesen Allen als Apparat verhält, d. h. die ausserhalb der Disciplin liegenden Bedingungen derselben. Dieses mußte in seinem Zusammenhang deutlich gemacht, und daher mußte auf jene §§. zurückgegangen werden. § . 1 0 3 wird eine Beschränkung aufgestellt, daß nicht alles was aus jener Zeit vorhanden ist Gegenstand der exegetischen Theologie seyn könne, sondern nur diejenigen PDenkmaleS, welche dafür gehalten werden, zu der normalen Darstellung des Christenthums beytragen zu können. Die Behutsamkeit der Ausdrücke deutet hier auf Schwierigkeiten, die nicht übereinstimmend zu lösen sind. Nimmt man den negativen und positiven Saz des § 2, so ist das Resultat, daß nicht alles was in der Zeit des UrChristenthums ist aufgeschrieben worden, in gleichem Verhältniß steht zu der Idee des UrChristenthums obgleich nach § 83 in der Zeit entstanden in welcher jene ursprünglichen normalen Äusserungen entstanden waren. Wenn wir nun sagen, es ist hier eine Ungleichheit, und wir haben doch das UrChristenthum 26 PDenkmaleS] oder PDenkmälerS 30 § 2: gemeint ist offenbar der zweite der beiden als „Anknüpfungspunkt“ (oben Zeile 12) genannten Paragraphen, also § 84.

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aus dem gesammten Verlauf als einen Zeitabschnitt herausgenommen, so werden wir sagen müssen, es giebt keinen Zeitabschnitt in welchem Alles was sich als christlich giebt, diese Dignität an sich trüge. Dieß ist an den ersten Anfang des Christenthums anzuknüpfen. Nehmen wir die Zeit des Lebens Christi so wird jeder sagen müssen: wenn die Äusserungen Christi nicht die Idee des Christenthums rein enthielten, so wäre Christus gar nicht der, als welcher er angenommen wird. Da scheint man also sagen zu können: wenn sich auch kein Zeitabschnitt fixiren läßt, | in welchem Alles jene Dignität hatte, so müssen doch die Äusserungen Christi sie gehabt haben. Aber wir haben alle Äusserungen Christi nur aus der zweyten Hand und nun werden wir gleich sagen müssen: es kann richtige und minder richtige Auffassungen der Äusserungen Christi gegeben haben. Hätten wir die Aussagen Christi in ihrer ursprünglichen Unmittelbarkeit, so würden diese einen Complexus bilden, dem sich nichts andres gleichstellen könnte. So kann aber kein Zeitraum von dieser Ungleichheit ausgeschlossen werden. Anders wäre es, wenn Christus selbst geschrieben hätte, und uns dieß authentisch aufbewahrt wäre. Die Aufgabe ist aber, aus dem Gegebenen dieses Normale zu eruiren. Die Reden Christi selbst aber, die uns überliefert sind werden uns veranlassen, den Complexus des eigentlich Normalen nicht so eng zusammenzuziehen, da er den Jüngern seinen göttlichen Geist verspricht. Wenn wir also solche vom göttlichen Geist gewirkte Äusserungen der Jünger unvermischt hätten, so würden wir sie in denselben Complexus hineinziehen. Nun aber können wir nicht behaupten, daß Alles was wir von ihnen haben, auch nothwendig diesen Charakter haben müsse, denn es könnte ja seyn, daß das was der göttliche Geist in ihnen wirkte, zusammengeflossen wäre mit ihrem Eigenen, und es müßte das Erstere immer erst eruirt werden. Wenn man diesen Complexus wirklich eruirt hätte, so wäre dann der Begriff des NeuTestamentlichen Kanon verwirklicht wie er § . 1 0 4 aufgestellt ist. Die Idee des NeuTestamentlichen Kanon ist die, daß er eine möglichst vollständige Sammlung von solchen Schriften sey, welche die ursprünglichen Äusserungen des Christenthums in sich enthalten. Wenn wir nun sagen, der Kanon wie wir ihn haben, ist dieses, so heißt dieß soviel als wir glauben, daß die christliche Kirche diese Aufgabe, solche Schriften auszumitteln gelöst habe. Hier ist an das zu erinnern was über den Kanon in der philosophischen Theologie gesagt wurde. In den obigen Ausdrücken liegt die Differenz zwischen der protestantischen und katholischen Kirche. Wenn man nämlich der Kirche Unfehlbarkeit zuschreibt, so fällt jene Aufgabe und ihre Lösung in Eins zusammen, was bey uns Protestan37–38 Vgl. KD² § 47 (KGA I/6, S. 343,24–344,7) sowie oben 325,8–326,3

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ten anders ist. Ob der wirkliche Kanon der Idee entspricht, ist bey uns Gegenstand der Untersuchung. | So ist der Zusaz zu modificiren, welcher sagt, daß das Verständniß des Kanon die einzige Aufgabe der exegetischen Theologie ist, d. h. daß sich aus dieser Aufgabe alle Zweige der exegetischen Theologie entwickeln lassen müssen. Wenn dabey noch gesagt wird, diese Sammlung ist der einzige ursprüngliche Gegenstand der exegetischen Theologie, so ist die Sammlung als ein Actus zu verstehen, und dieser Actus ist der einzige ursprüngliche Gegenstand der exegetischen Theologie. Dieser actus braucht aber nicht in einer früheren Zeit als vollkommen abgeschlossen angesehen zu werden. Die Sammlung als geschlossenes Ganze anzusehen ist katholisch. § . 1 0 5 stellt die wesentlichen Elemente des Kanon rein aus der Idee, wie sie § 103 aufgestellt war, auf und sagt: wesentlich gehören in den NeuTestamentlichen Kanon nichts als dieses beydes: die Dokumente von der Wirksamkeit Christi an und mit seinen Jüngern, und die Dokumente von der gemeinsamen Wirksamkeit seiner Jünger. Eine Wirksamkeit Christi mit seinen Jüngern gab es nur für diejenigen, die wirklich mit ihm gelebt haben; eine Wirksamkeit an seinen Jüngern könnte freylich weiter gedacht werden, wenn man eine mittelbare dazunähme, aber an und mit sind zusammenzudenken, und Jünger also auf seine persönlichen Schüler zu beschränken. Darinn soll nicht liegen daß die Verfasser der kanonischen Schriften solche Jünger gewesen seyn müssen, sondern diese Jünger müssen nur die Gegenstände derselben seyn. – Wie unterscheiden sich diese zwey Elemente, und wie läßt sich behaupten, daß wenn wir dieses beydes haben, wir auch das Wesentliche haben? Haben wir zuerst Documente von der Wirksamkeit Christi selbst an seinen Jüngern, wodurch er Menschen zu seinen Jüngern ausbildete: so hat dieß nicht anders geschehen können als durch eine Darstellung der Idee des Christenthums wie sie ihm innewohnte, also auch seiner eigenthümlichen Worte. Dieß kann also nur gewesen seyn Rede und Gespräch Christi. Das zweyte Element, gemeinsame Wirksamkeit der Jünger, schließt Christum persönlich aus, und ist geschichtlich ein Späteres. Ist dieses nicht ein Ueberflüssiges, und wäre es nicht an dem ersten genug? Gehen wir an jenen Ausspruch Christi zurück, daß er sagt: der Geist der Wahrheit wird euch erinnern an Alles was ich euch gesagt habe, und er wird euch in alle Wahrheit leiten, so beantwortet er | die Frage verneinend. Ausser dem Erinnern an ihn soll ja nach diesen Worten noch ein weiteres Leiten in alle Wahrheit hinzukommen. Unsre beyden Elemente gehen also auf jenen Ausdruck Christi selbst zurück, 36–37 Joh 14,26

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und weil Christus nun nichts geschrieben hat, so haben wir seine Äusserungen nur aus der Erinnerung seiner Jünger welche aber weil die Jünger Organe des göttlichen Geistes sind, ganz entsprechend seyn muß seinen Worten, und in dem was von der gemeinsamen Wirksamkeit der Jünger gesagt ist, haben wir das was der Geist der Wahrheit in ihnen wirkte. Und zwar nicht nur in Lehre und Schrift, sondern auch in dem was von ihren Thaten erzählt wird. Wäre also der Unterricht Christi an seinen Jüngern vollständig gewesen, so würde Christus den zweyten Ausdruck nicht hinzugefügt haben; und doch könnten wir genöthigt seyn, das zweyte Element dazuzunehmen, weil wir den Unterricht Christi nirgends ganz besizen. Nun aber entsteht die Frage: sind wir hinlänglich autorisirt, mit diesen zwey Elementen abzuschließen? oder müssen wir nicht sagen: da wir auch das zweyte in seiner Vollständigkeit nicht haben, so müssen wir auch das dritte noch dazunehmen – die Tradition der römischen Kirche. Dieser Scheidepunkt der evangelischen und katholischen Kirche ist im § nur durch das Wort wesentlich ausgedrückt. Die Rechtfertigung unsrer Beschränkung gehört in die specielle protestantische Apologetik, wo unser Kanon zu rechtfertigen ist gegen den Vorwurf der Unvollständigkeit. Der Zusaz behandelt eine Frage die innerhalb der evangelischen Kirche öfters aufgestellt worden ist, ob die Documente von der Wirksamkeit der Jünger Christi auf dieselbige Weise die ursprünglichen reinsten Äusserungen des Christenthums enthalten, wie die Documente von Christo selbst, oder ob die Lehren der Apostel ebenso kanonisch sind wie die Lehren Christi selbst. In der neueren Zeit ist diese Frage häufig ventilirt worden, in sehr verschiedener Absicht. Bey einem ist der Zweyfel an dieser Gleichheit aufgestellt worden, weil Manches was sich in die kirchliche Lehre eingeschlichen hat als Menschensazung – mehr aus den Schriften der Apostel als Christi bewiesen werden kann. Aber das Hilfsmittel ist dann doch immer | ein übles, weil es die Einheit des Kanon zerstört, und dann läßt sich des ersteren Dignität auch nicht in seiner Geltung erhalten. Hat in die Äusserungen der Apostel sich Fremdartiges eingeschlichen, so wird man auch sagen müssen: in die Art wie die Apostel die Aussprüche Christi aufgefaßt haben, hat sich auch schon solches eingeschlichen, – und wir haben jene Äusserungen nur in ihrer Auffassung. Daher wird hier jeder Unterschied in der kanonischen Dignität beyder Elemente geleugnet, und zwar nicht blos so daß man der Wirksamkeit der Apostel die normale Dignität nicht abstreitet, sondern daß man sie auch nicht wie Fortbildung zu der Wirksamkeit Christi betrachtet, schon dieß hat die 28 weil] weil man

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entgegengesezte Tendenz. Wenn man sagt: in den Aussprüchen Christi finden wir keine bestimmte Anweisung zur Absonderung des Christenthums vom Judenthum; in der Kirche ist hernach von den Aposteln diese Praxis eingeleitet worden, – aber dieß ist nicht mehr die ursprüngliche Idee Christi, sondern eine weitere Entwicklung derselben. Nun weiß man nicht mehr, wie weit eine solche Fortbildung gehen kann, und man kommt auf eine Perfectibilität des Christenthums über Christum selbst hinaus. Dann würde die Idee des Kanon gänzlich wegfallen, während die Idee des Kanon bey der andern Ansicht bleibt, und nur die Bestandtheile fallen. Denn nun kommt es gar nicht mehr darauf an was Christus selbst gesagt, sondern es kommt nur auf die richtigere Fortbildung an. Daher liegt in dem Zusammenstellen dieser Elemente und in der Ausschließung jedes dritten aufs Bestimmteste die protestantische Idee von dem NeuTestamentlichen Kanon. § . 1 0 6 ist der Saz aufgestellt, daß die Grenzbestimmung des Kanon nicht vollkommen fest sey. Dieser Saz bildet schon den Uebergang zu der Auseinandersezung der Aufgaben der höheren Kritik im Folgenden. Denn wenn der Kanon auf vollkommen feste Weise zu bestimmen wäre, so würden diese Aufgaben nicht existiren. Die katholische Kirche kann sie also eigentlich auch nicht anerkennen. So wie wir aber das Ausgehen von dem aufgestellten Begriff festhalten, so muß zugegeben werden, daß diese Bestimmung immer schwankend bleiben muß, und die Untersuchung immer fortgeht. Diese Unsicherheit wird im Folgenden als eine zweyfache, eine räumliche und zeitliche vorgestellt. Der Z u s az scheint die Unsicherheit wieder zu bestärken, indem gesagt | wird, es ließe sich wohl eine feste Bestimmung aufstellen, aber ihre Anwendung werde schwankend bleiben. Im § steht, weder die Zeitgrenze noch die Grenze der Personen die dem UrChristenthum angehören, ließe sich genauer bestimmen. Wollte man sagen, die Apostel haben den eigenen Unterricht Christi vollständig genossen, und sich daraus das eigenthümliche Wesen des Christenthums angeeignet, – und wenn man sonach sagen wollte: Schriften der Apostel mußten nothwendig diese normale Dignität an sich tragen; so wäre dieß eine sichre Bestimmung, aber erstaunlich eng, und würde einen großen Theil unsres gängigen Kanon ausschließen. Wollten wir nun weiter gehen und sagen: es haben auch Andre, nicht Apostel, den Unterricht Christi genossen, und auch deren Schriften, wenn wir solche haben, wollen wir kanonische Auctorität zuschreiben. Dieß wäre nun zu weit, denn viele können den Unterricht Christi falsch aufgefaßt haben. Wenn wir nun beydes verbinden, und sagen wollten: solche unmittelbaren Schüler Christi, deren Produkte von den Aposteln gekannt gewesen sind, und von ihnen gelten gelassen wurden, seyen

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kanonisch – so wäre dieß eine solche Bestimmung, nur daß man sagen müßte wir müssen dasselbe ausdehnen auf die unmittelbaren Schüler der Apostel, wenn diese ihre Produkte gekannt und wenn auch stillschweigend autorisirt hatten. So hätten wir eine Bestimmung, welche Zeit und Personen gemeinsam umfaßte. Die Zeit wäre die, solange es unmittelbare Schüler der Apostel gab, und die Grenze der Personen wäre, daß die Verfasser Schüler Christi und der Apostel gewesen seyn müßten, und ihre Schriften von den Aposteln anerkannt. Nun könnte man sagen: diesem Kanon ist man auch in der Kirche gefolgt, indem die Evangelien des Marcus und Lucas von jeher durch die Auctorität des Paulus und Petrus gerechtfertigt worden sind. Wenn nun aber in unserem Kanon Schriften sind, deren Verfasser und Verhältniß zu den Aposteln ungewiß ist, wie die Verfasser der katholischen Briefe und eben jener Evangelien: so wird der Kanon wieder unsicher. Nun wird dieß in den zwey folgenden §§ als ein doppeltes Schwanken dargestellt 1) zwischen apostolischen Schriften und Schriften apostolischer | Väter, und 2) zwischen kanonischen und apokryphischen Schriften. § . 1 0 7 Z u s az wird die Zeit der apostolischen Väter bestimmt als liegend zwischen der Zeit des Werdens und des Gewordenseyns des Kanon. Nun werden wir also in vielen Fällen unsicher seyn, ob eine Schrift soll eine kanonische seyn, so als ob sie soll als einem der apostolischen Väter angehörige angesehen werden. Von diesen Schriften haben einige eine Zeit lang als kanonisch gegolten, wie die Briefe des Barnabas, Clemens von Rom und Polycarp, weil diese Männer Schüler der Apostel waren – sie konnten aber nur als kanonisch gelten unter der Voraussezung, daß die Apostel sie anerkannten. Daraus aber daß ein Apostel eines solchen Mannes erwähnt und ihn grüßt, folgt jene Anerkennung nicht. Nun aber haben auch mehrere von unsern jezigen kanonischen Schriften früher nicht im Kanon gestanden, wie die Briefe des Jacobus und Judas, und dieß sind solche über welche man wegen der Ungewißheit der Personen im Dunkeln ist. Von der Anerkennung dieser Schriften zur Zeit der Apostel kann gar nicht die Rede seyn, weil sie erst später erschienen. Da kann man also untersuchen: sind jene Schriften mit Recht aus dem Kanon geworfen, und sind diese mit Recht in den Kanon gekommen, und hätte man sie nicht zur Sammlung der apostolischen Väter stellen sollen. 23–24 Sancti Barnabae apostoli epistola catholica, in: Sanctorum patrum qui temporibus apostolicis floruerunt opera vera et suppositicia, edd. J. B. Cotelier / J. Clericus, 2. Aufl., Amsterdam 1724, Bd. 1, S. 15–66; Sancti Clementis, episcopi Romani, epistola ad Corinthios prima, Eiusdem epistola secunda, in: Sanctorum patrum edd. Cotelier/ Clericus, Bd. 1, S. 145–200; Sancti Polycarpi episcopi Smyrnae et sacri martyris, ad Philippenses epistola, in: Sanctorum patrum edd. Cotelier/Clericus, Bd. 2, S. 186–192 27 Gemeint ist wohl die Nennung der Namen „Barnabas“ (1 Kor 9,6; Gal 2,1.9 u. ö.), „Klemens“ (Phil 4,3) und „Hermas“ (Röm 16,14) in paulinischen Briefen.

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§ . 1 0 8 . Wie §. 107 die äussre, so stellt dieser §. die innre Grenze des Kanon als schwankend dar. Im Zusaz ist der Begriff der normalen Dignität noch genauer kritisirt. Es ist hier von dem normalen Charakter einzelner Säze die Rede. Bisher hatten wir diese Schriften nur im Ganzen vor Augen. Hier ist gesagt, wir müssen dieß anwenden auf einzelne Säze. Dieß erhellt aus dem Grund, warum wir diese ersten Äusserungen des Christenthums besonders PhervorhebenS. Wir thun dieß nur, um ein sichres Verfahren zu haben in der folgenden geschichtlichen Entwicklung, um unterscheiden zu können, was eine gesunde und was eine krankhafte Lebensäusserung in der Kirche sey. Dieß sind also Einzelheiten, und Einzelheiten können nur an Einzelheiten gemessen werden. Für den Gebrauch kommt es also auf einzelne Säze an, und da kann es Schriften geben, welche neben normalen auch nicht normale Säze enthalten. Solche Schriften | wären aus dem Kanon herauszuwerfen, denn sobald wir eine solche Vermischung wollten aufnehmen, so müßte man Alles aufnehmen, was nur etwas enthielte, das mit dem Kanonischen zusammenträfe. Kanonisch kann also nur eine Schrift seyn, deren einzelne Säze alle, aber nur in dem Maß als sie einen Lehrgehalt haben, auch den normalen Charakter haben. Hier ist aber zu dem normalen Charakter noch etwas Andres gestellt, nämlich die Fülle der aus solchen normalen Säzen zu ziehenden Folgerungen und Anwendungen. Hier ist also auf den Gebrauch des Kanonischen zurückgegangen. Ist dieß aber wirklich eine besondre Eigenschaft? Was sich aus einem Saz entwickeln läßt, das ist eigentlich keine Eigenschaft des Sazes, sondern derer die den Saz gebrauchen. Man macht aber überall auf wissenschaftlichem Gebiet einen Unterschied zwischen fruchtbaren und unfruchtbaren Säzen. Was hat es damit für eine Bewandtniß? Denken wir auch [ ] so muß diese Differenz als null angesehen werden, in jedem Einzelnen muß das Ganze gegeben seyn, wenn es nur mit rechten Augen angesehen wird. Wenn wir aber die Sache geschichtlich betrachten, so findet dieser Unterschied seine Anwendung. Sehen wir auf andre Wissenschaften, so ändert sich in verschiednen Zeiten die Methode bedeutend, und demnach ist von vielem in der alten Mathematik jezt bey veränderter Methode kein Gebrauch mehr zu machen. Ebenso in der Theologie können viele Säze in den patristischen Schriften vollkommen wahr seyn, aber sie sind für uns unfruchtbar, wir können keinen Gebrauch mehr davon machen, wegen der geänderten Methode. Sofern liegt der Grad der Anwendbarkeit p in dem Verhältnisse der Schrift mit der Zeit. Daraus könnte man schließen, daß der Kanon mit der Zeit sich 7 PhervorhebenS] oder PheraushebenS schrieben

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ändern müsse, indem immer mehr am Kanon unbrauchbar würde. Mehr praktisch betrachtet: wenn es mehrere Schriften gäbe von Personen, denen kanonische Auctorität inwohnte, die sich aber ganz mit Einzelheiten beschäftigten, so daß wir sie jezt nicht mehr anwenden könnten, so könnte diese nicht in den Kanon | gehören. Davon ist hier die Rede. – Die vollkommene Reinheit, wird nun gesagt, sey nur in Christo anzunehmen, weil in den Aposteln schon ihre eigne Auffassung dazukam. Die Anwendbarkeit, müssen wir sagen, wird umso größer gewesen seyn, je mehr ein Schriftsteller in der geschlossenen Anschauung der ganzen Entwicklung der christlichen Kirche sich befand. Je mehr ein Schriftsteller im Moment lebte, desto mehr gieng er in solche Einzelheiten ein. Daher können kanonische Schriften nur von solchen Verfassern herrühren, welche einen Einfluß auf die ganze Kirche hatten, also auch sie ganz in ihrer Vorstellung trugen. § . 1 0 9 . zieht daraus die Folgerung daß es ein Schwanken giebt zwischen Kanonischem und Apokryphischem. Der Ausdruck Apokryphisch ist schwierig, es kommt auf das Etymologische nicht an wir nehmen ihn nur sofern er diesen relativen Gegensaz bezeichnet. – Christliche Schriften aus der k an o ni s chen Zeit, welchen wir die kanonische Auctorität absprechen heißen die Apokryphen nur sofern sie darauf Anspruch machen, der kanonischen Zeit anzugehören, wenn sie auch aus einer späteren Zeit sind. Apokryphisch wird eine Schrift seyn, nicht nur wenn sie einzelnes Unreine enthält, worauf nachweislich ausserchristliche Elemente gewirkt haben, – sondern auch wenn sie einen in der Anwendbarkeit so beschränkten Inhalt hätte, daß sie nicht könnte nach Art der kanonischen Schriften gebraucht werden. – Mit dieser zweyten Schwankung hat es dieselbe Bewandtniß wie mit der ersten. Es könnte wohl seyn daß der Brief des Judas nach seinem Autor der kanonischen Zeit angehörte, auch daß man alle einzelnen Stellen darinn so erklären könnte, daß nichts mit der christlichen Lehre im Widerspruch stünde; aber wenn man fragt ist diese Schrift eine solche von welcher ein Gebrauch gemacht werden kann zur Prüfung andrer Aussprüche: – so ist wenig Gebrauch von dieser Schrift zu machen – und es entsteht die Frage: ob sie nicht besser wäre ausgeschlossen worden. Wogegen unter den Briefen der Apostolischen Väter manche sehr anwendbar auf dem Gebiete der christlichen SittenLehre sind, wobey sich also fragt ob sie nicht besser in den Kanon wären aufgenommen worden? | § . 1 1 0 . wird die Aufgabe der höheren Kritik gestellt wie sie in der protestantischen Kirche stattfinden muß. Die Kirche muß in der Bestimmung des Kanons immer begriffen seyn; denn was ein Unbe3 inwohnte] vgl. Grimm: Wörterbuch Bd. 10, Sp. 2125f

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stimmtes ist, wie hier der Begriff des Kanon und die Subsumtion unter denselben, das ist immer eine Aufgabe zur Bestimmung. Wenn wir nun sagen: dieß war keine definitive Bestimmung, wie der Kanon eingerichtet war in Kirchen die die katholischen Briefe nicht hatten p, so werden wir sagen müssen: auch die späteren Bestimmungen des Kanon sind keine definitiven, denn es war keine Autorität da, die dieß definitiv bestimmen konnte. Diese Bestimmung also fortzusezen und zu vervollkommnen, dieß ist die Aufgabe für die höhere Kritik. Es giebt allerdings unter den symbolischen Schriften der protestantischen Kirche, besonders der reformirten Seite, solche, die mit der Aufzählung des Kanon anfangen. Dadurch würde dieser §. aufgehoben, denn damit hätte die protestantische Kirche den Kanon für bestimmt genommen. Aber dieß war ein unbewußtes Katholisiren, und ebendeßwegen können wir diese Schriften nicht als verbindliche anerkennen. Dieses Recht konnten sich die Theologen nicht anmaßen, den Kanon zu fixiren, wie sie auch nur auf den gegebenen Kanon zurückgiengen. Also dieß müßten wir als eine Verirrung löschen, und die Untersuchung über den Kanon immer im Gange erhalten. Darinn daß die protestantische Kirche in der Bestimmung des Kanon immer begriffen seyn solle, darinn soll nicht liegen ein Jagdmachen auf Unächtes, sondern nur die Untersuchung über den kanonischen Werth der einzelnen Theile der Sammlung immer im Gang zu erhalten und also so wie diese kritischen Beschäftigungen etwas Neues ergeben dieses wieder in das Gebiet der gemeinsamen Untersuchung hineinzuziehen, – im Gegensaz gegen die katholische Kirche und auch einige symbolischen Bücher der unsrigen. Im Zu s a z ist diese Aufgabe verglichen mit der Aufgabe, die Verfasser der einzelnen Schriften richtig aufzufinden. Beydes wird oft verwechselt so verschieden es auch ist. Z. B. wenn man auch vollkommen gewiß ist, daß der Brief an die Hebräer nicht vom Apostel Paulus ist, so hört er nicht auf kanonisch zu seyn; ebenso mit [dem] 2. [Brief] Petri, wenn nicht einer | das, daß er dem Petrus zugeschrieben ist für einen Betrug erklärt, und sagt, eine betrügliche Schrift kann nicht kanonisch seyn. Die Aufgabe, über die Kanonicität einer Schrift zu 10–11 Vgl. etwa Confessio gallicana (1559) Art. 3, Corpus librorum symbolicorum, qui in ecclesia reformatorum auctoritatem publicam obtinuerunt, ed. J. C. W. Augusti, Elberfeld 1827, S. 111; Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, ed. E. F. K. Müller, Leipzig 1903, S. 222,6–24; Confessio belgica (1561) Art. 4, Corpus librorum symbolicorum ed. Augusti S. 171f; Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, ed. Müller S. 233,31–234,13 32 Der pseudepigraphische 2. Petrusbrief bringt seinen Anspruch auf eine Autorschaft des Petrus mehrfach zum Ausdruck, u. a. durch die Nennung seines Namens im Präskript (2 Petr 1,1) und den Verweis auf den 1. Petrusbrief (2 Petr 3,1).

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entscheiden ist aber in Beziehung auf die Kirchenleitung viel wichtiger als die über die Verfasserschaft, obwohl sie damit zusammenhängt. § . 1 1 1 kommen nun die zwey Aufgaben vor, von welchen schon gesagt wurde, daß sie nicht das Wesentliche seyen in der genauen Bestimmung des Kanon sondern nur zwey mögliche Formen welche vorkommen können, daß nämlich vielleicht Schriften, die im Kanon befindlich sind, genau genommen unkanonisch sind oder umgekehrt. Dieser Frage liegt der alte Unterschied von Protokanonisch und Deuterokanonisch zu Grunde, und es fragt sich, ob nicht das Deuterokanonische ganz unkanonisch sey. In der Anmerkung ist ein Beyspiel angeführt von einer Untersuchung über ausserkanonische Schriften, nämlich über einen Brief an die Korinther und einen Brief der Korinther an Paulus, welche neuerlich einen Vertheidiger gefunden haben. Das Andre, wie gesagt bezieht sich besonders auf das Deuterokanonische. § . 1 1 2 . wird die Sache noch weiter geführt, daß nämlich diese Aufgabe nicht nur von ganzen Büchern, sondern auch von einzelnen Abschnitten gilt. Dieß betrifft diejenigen Stellen NeuTestamentlicher Bücher, welche, weil sie in mehrerer Autorität fallen, in Beziehung auf ihre Ächtheit zweyfelhaft sind, denn findet man nun, daß sie nicht ursprüngliche Bestandtheile dieser Bücher sind, wie die Perikope von der Ehebrecherin in Johannes, das Ende des Evangelium Marci, die zwey ersten Kapitel des Matthäus – so werden wir sagen: sie gehören nicht in den Kanon, weil sie nur als Bestandtheile dieser Bücher aufgenommen wurden. In der Anmerkung wird nun umgekehrt gesagt, daß auch ein unkanonisches Buch kanonische Stellen enthalten kann, allerdings nur als Anführung aus kanonischen Büchern, und diese Stellen müßten, wenn es solche gäbe, als Fragmente der NeuTestamentlichen Sammlung angehängt werden – dieß ist nur angeführt, um die Aufgabe der NeuTestamentlichen höheren Kritik in ihrem ganzen Umfange zur Anschauung zu bringen. Es folgt nun § . 1 1 3 u n d 114 noch etwas über das Verfahren in der Behandlung der Aufgabe, | was aber doch nicht über den formellen Gehalt der Encyclopädie hinausgeht, denn es wird hier auch nur gleichsam die Ueberschrift der Methode gegeben. Hier ist von äussern und innern Merkmalen geredet, deren Congruenz der Maßstab für die Rich2 Verfasserschaft] Kanonicität

23 Kapitel] Kpp

13 Vgl. Wilhelm Friedrich Rinck: Das Sendschreiben der Korinther an den Apostel Paulus und das dritte Sendschreiben Pauli an die Korinther. In armenischer Übersetzung erhalten, nun verdeutscht und mit einer Einleitung über die Aechtheit begleitet, Heidelberg 1823 21–22 Vgl. Joh 7,53–8,11; Mk 16,9–20

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tigkeit einer Annahme sey. Dieß ist nun anzuwenden auf die zwey streitigen Grenzen, nämlich aus der Congruenz dieser Merkmale muß bestimmt werden, in wiefern etwas nicht dem kanonischen Gebiet der Zeit und dem Raume nach gehört, sondern dem Späteren einerseits und andrerseits dem apokryphischen. Dieß geht zunächst aufs Äussre; das Innre ist das Doktrinelle, wenn man nämlich wahrscheinlich machen kann daß eine Formel, ein Gedanke, sich im Zusammenhang denken läßt mit dem Kanonischen oder nicht. Wenn etwas, das seinem Inhalte nach den sicher kanonischen Schriften nicht entspricht, doch der Zeit nach aus dem kanonischen Zeitalter ist, so muß es dem Raume nach dem apokryphischen Gebiet angehören und umgekehrt. Diese Vergleichung muß also immer stattfinden, und dieß ist die allgemeine Formel für die Methode. Wenn in solchen blos epigrafischen Vorträgen irgendeine Bestimmtheit seyn soll, so muß man sich mathematischer Ausdrücke bedienen, wie MittelPunkt und Periferie, ohne eigentliche Beziehung auf den Raum. – Wenn wir uns nun denken diese Untersuchungen fortgehen, was ist denn nun das Resultat? so wird nun § . 1 1 4 der endliche Abschluß der Untersuchungen hypothetisch angenommen, daß nämlich sicher ausgemittelt werden könnte, was kanonisch oder nicht sey. Dieß müßte doch auf die äussre Gestaltung des NeuTestamentlichen Kanon nicht nothwendig einen Einfluß haben. Wenn wir z. B. gewiß wüßten, den Abschnitt mit der Ehebrecherin habe Johannes nicht geschrieben, so folgt nicht, daß er aus dem Text geworfen werden müsse. Freylich eine kritische Edition wird dieß thun können; aber in der kirchlichen Gestalt des Kanons würde dieß nicht dasselbige seyn, es würde nicht nothwendig seyn daß neue Abdrucke unsrer kirchlichen Uebersezung den Abschnitt wegließen, denn darinn geben wir ja nur Luthers Text, und nicht den des Johannes. Ebenso würde eine Menge von OriginalAbdrucken des griechischen Neuen Testaments, die aber nicht ganz | scharf kritisch seyn wollten, den Abschnitt nicht weglassen müssen. Dasselbe gilt von ganzen Schriften, die wir für unkanonisch halten. Da würde selbst eine kritische Ausgabe diese nicht auslassen müssen, denn diese hat mit dem Begriff des Kanonischen nichts zu thun, sondern blos mit den Texten der Sammlung. So wenn der Brief des Judas als unkanonisch erkannt würde, müßte ihn eine kritische Edition nicht auslassen, – umgekehrt, wenn man neue kanonische Schriften fände, so würde doch unsre kanonische Sammlung dieselbe bleiben, – man würde blos sagen: dieß gehörte auch in den Kanon, wenn man früher richtig darüber geurtheilt hätte. Denn die jezige Sammlung ist ein historisches 23–24 Vgl. Joh 7,53–8,11

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Factum, und dessen Wiederholung durch die Ausgaben kann nicht die Bestimmung haben, dieses Factum zu ändern, das Urtheil ist von dem Factum verschieden. § . 1 1 5 ist zulezt von den AltTestamentlichen Büchern die Rede. Der Begriff des Kanon nach unsrer Ableitung kann diese Bücher nicht enthalten. Nun aber ist dieß ebenfalls ein Factum, daß die AltTestamentlichen mit den NeuTestamentlichen Büchern zusammen unter dem Namen der Bibel ein Ganzes bilden. Davon konnte nicht eher die Rede seyn, als bis aufgestellt war, was § 114 gesagt ist, denn davon ist dieß nur eine weitre Anwendung. In dem Begriff des Kanon, wie er aufgestellt wurde, kann das Alte Testament nicht enthalten seyn; denn Niemand kann behaupten, daß das Alte Testament eine normale Darstellung des christlichen Geistes enthalte, ohne mehr oder weniger die Erscheinung Christi für überflüssig zu erklären – aber ein ganz andres ist es von dem Factum wie es in der Kirche entstanden ist. In den christlichen Versammlungen, wie sie nach den Synagogen eingerichtet wurden, wurde über AltTestamentliche Stellen geredet. Da mußte das am Meisten hervortreten, was Weissagungen auf Christum enthielt. So ist das Alte Testament früher als das Neue in der christlichen Kirche gewesen als Stoff zur Erklärung und Erbauung. Aber dieß ist nicht der Begriff des christlichen Kanon, und die Bibel ist aus einem ganz andern Gesichtspunkt als der PchristlicheS Kanon entstanden, und das Factum, daß man erst später das Neue Testament zu dem alten gefügt und beyde in Eins gebracht hat, – muß fortbestehen, und die Ueberzeugung, daß das Alte Testament in diesem Sinne nicht christlich kanonisch ist, kann ebenso wenig auf die Gestaltung der Bibel in diesem | Sinne einen Einfluß haben, als nach §. 114 in Beziehung auf das Neue Testament. Von § . 1 1 6 an wird von der Aufgabe der n iederen Krit ik gehandelt. Da werden zuerst die Säze aufgestellt, auf welchen es beruht, daß es eine solche theologische Disciplin giebt, und dieß ist Einleitung zu den Säzen über die Ausführungen selbst. Die Vervielfältigung der NeuTestamentlichen Bücher war dieselbe wie die aller andern. Dieß könnte überflüssig scheinen, wenn nicht doch zu gewissen Zeiten das Entgegengesezte wäre behauptet worden oder wenn man nicht die Lehre von einer besonderen göttlichen Direktion in Beziehung auf die NeuTestamentlichen Schriften hieher bezogen hätte. Diese Ansicht ist aber jezt durch Thatsachen widerlegt worden, und es wird nicht mehr behauptet werden können, die Vervielfältigung der NeuTestamentlichen Schriften sey unter einer besonderen göttlichen Direktion gestanden, so daß die Aufgabe für die niedere Kritik wegfalle. Nun ist das eine allgemeine Erfahrung, daß solche mechanischen Operationen wie das Abschreiben, nie ohne alle Abweichung vor sich

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gehen, und daß nur durch die größte Sorgfalt diese allmählig herausgebracht werden können. Jezt ist das Verhältniß etwas ganz andres, wo man mehrere 1000 Exemplare auf einmal macht, da kann eine größere Sorgfalt auf die Genauigkeit verwendet werden. Bey den alten Abschriften wurde wohl auch die Abschrift mit dem Original verglichen, aber die Operation des Auges ist nicht sicher, und kann nur durch vielfältige Wiederholung genau werden, welche damals nicht möglich war. § . 1 1 7 hat es mit einer ähnlichen Voraussezung zu thun. Man hat gefragt, wenn man doch einmal annehme, daß die NeuTestamentlichen Schriften ein besonderer Gegenstand der göttlichen Vorsehung seyen (was Niemand leugnen wird) ob man nicht von der göttlichen Vorsehung fordern könne daß sie wenigstens irgendwo das Rechte erhalten habe, so daß was in dem einen Exemplar unrichtig sey in dem andern richtig sich finde p. Nun scheint es allerdings als ob die große Anzahl von Exemplaren des Neuen Testaments eine große Sicherheit gewesen. Aber diese Sicherheit kann nur solange vorhanden seyn als aus dem αυτόγραφον geschöpft werden kann. Wenn einmal aus blosen Abschriften abgeschrieben wurde, so ist keine Sicherheit mehr da, und ein einmal gemachter Fehler könnte auf authentische Weise nur durch Vergleichung mit dem Autographen gut gemacht | werden welches wir nicht mehr haben. Ist also auch jezt noch irgendwo das Ursprüngliche vorhanden, so kann dieß nicht durch äussre Vergleichung, sondern nur durch das Urtheil der Kritik ausgemittelt werden, welche damit in ihr volles Recht eintritt. § . 1 1 8 u n d 119 wird gesagt, daß die Aufgabe sowohl als die Methode der niederen Kritik beym Neuen Testament dieselbe sey wie anderwärts. Die Aufgabe wird § 118 so gestellt, die ursprüngliche Schreibart auszumitteln. Dieses ist nun eine Aufgabe, die man auch in der philologischen Kritik für eine nothwendige aber unausführbare hält. Z. B. in Beziehung auf den homerischen Text kann man nach dem Eingeständniß der größten Philologen nur auf den Text der Grammatiker zurückgehen, weiterhin habe man keine Mittel zu kommen. Hier findet freylich das Eigene statt, daß diejenigen, welche den Text sammelten, ihn auch bis zu einem gewissen Punkt erst bildeten. Dieß findet zwar bey dem NeuTestamentlichen Text nicht statt, und doch kann auch sie nur bis zu einer gewissen Zeit zurückgehen, bis zu welcher uns Zeugnisse und Handschriften führen. Wenn man zugeben muß daß die ursprüngliche Handschrift an einzelnen Stellen kann verloren seyn, so muß man auch weiter zugeben daß man an vielen Stellen keinen Grund hat zwischen zwey verschiedenen Schreibungen zu entscheiden. So begrenzt sich also die NeuTestamentliche Kritik. Ist sie nun befugt in solchen Fällen, wo die ursprüngliche Hand nicht

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mehr vorhanden ist, durch Conjecturen zu helfen, so kommt es hiebey darauf an, wie der Kritiker seine Aufgabe ansieht. Der Kritiker, der nicht auch Exeget seyn will, hat keinen Grund zu Conjecturen, sein Officium ist nur den Text zu geben so richtig als er aus den Hilfsmitteln kann, das weitre gehört dem Exegeten an. Es ist nicht unwichtig wie der Kritiker diese Aufgabe faßt, denn man wird immer gewissermaßen bestochen durch das was man vor sich sieht. So bey der Interpunktion muß man sich immer wieder sagen, daß sie kein Factum, sondern nur ein Urtheil ist, das man wegschaffen muß. Dieß thun wir aber gewöhnlich erst wenn uns Schwierigkeiten aufstoßen. Ebenso ist es mit dem was im Text steht. Hat der Herausgeber seine Vermuthung in den | Text gesezt, so kann man die Conjectur mitlesen, und wenn man nicht anstößt, so nimmt man sie mit wie das Ursprüngliche. Wogegen wenn man an eine unverständliche Stelle des ursprünglichen Textes kommt, so wird man dann schon von selbst sich nach der Conjectur umsehen, die etwa der Kritiker an den Rand sezte. Nun geht aber unsre Kunde vom NeuTestamentlichen Text nur bis zur Zeit des Origenes zurück, und auch dahin blos in einzelnen Theilen. Je genauer also der Kritiker seine Aufgabe kennt, desto weniger wird er sich zu etwas anheischig machen, wozu er keine Mittel hat. Was nun die Methode anlangt, so ergiebt sie sich aus dem Bisherigen. Findet in Beziehung auf die Vervielfältigung und Erhaltung kein Unterschied zwischen diesen und anderen Schriften statt, so kann, um die Sache in Ordnung zu bringen, auch keine andre Methode angewandt werden. Der Saz, daß der Kritiker des Neuen Testaments auch dieselben Mittel gebrauchen dürfe bezieht sich auf die Conjectur. Wenn es gleich das richtigere Verfahren des Kritikers ist, Vermuthungen nicht in den Text zu sezen, so ist ebenfalls offenbar, daß einer, der gewohnt ist mit den Handschriften zu verkehren, vorzüglich im Stande ist Vermuthungen zu machen, daß es also zu seinem Beruf gehört, dem Exegeten damit an die Hand zu gehen. Es kann Stellen im Neuen Testament geben, welche mit allen vorhandenen Lesarten keinen Sinn geben: so steht da die Aufgabe fest, auszufinden, was er ungefähr geschrieben haben mag. Hiebey ist nun freylich die Aufgabe mehr auf den Sinn als auf den Buchstaben gerichtet, aber es giebt doch kein Mittel dazu, als das Verfahren mit dem Buchstaben, wenn man sich nicht damit begnügen will nur zu sagen: das und das muß der Verfasser gewollt haben, mögen nun die Worte gelautet haben, wie sie wollen. In andern Fällen kann der Sinn klar, aber gegen die Geseze der Sprache gefehlt seyn, so entsteht dieselbe Aufgabe, um das Bild des Verfassers festzuhalten, damit nicht die gewöhnliche Rede 12 gesezt] sezt

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entstehe: man muß es nicht so genau nehmen mit den NeuTestamentlichen Schriftstellern. Da ist gerade die Conjectur | des Kritikers eine Schranke für die Willkühr des Exegeten. § . 1 2 0 sezt den Zusammenhang auseinander zwischen dieser Aufgabe der Kritik und der Geschichte des Textes. Der Zusammenhang wird dargestellt als ein gegenseitiger, so daß Eins das Andre bedingt. Je vollkommener die Kritik ihre Aufgabe löst, umso mehr muß sich eine Geschichte des Textes gestalten, und umgekehrt. Eine Geschichte des Textes ist eine Uebersicht von den Veränderungen, welche in verschiedenen Zeiten und Gegenden mit den sichtbaren Schriftzeugen vorgegangen ist. Nur auf dieser Geschichte kann die Abschätzung der kritischen Quellen beruhen, und umgekehrt fixirt jedes solche Urtheil über den Werth der Quellen einen Moment in der Geschichte des Textes, giebt eine Charakteristik desselben. Nun könnte man dasselbige Factum aus Zeugnissen wissen, und dann würde der Kritiker sagen können: ich weiß aus Zeugnissen, daß diese, obgleich jüngeren Handschriften einen älteren Text haben pp. So können also diese beyden Resultate, die Kritik und die Geschichte des Textes, nur gleichzeitig zur Vollendung kommen. § . 1 2 1 . wird nun die kritische Aufgabe wie sie gestellt ist, in Beziehung auf den theologischen Gebrauch beschränkt, indem die möglichst genaue Lösung der kritischen Aufgabe nur für solche Punkte einen unmittelbaren Werth habe, wo durch eine falsche Beschaffenheit des Textes die eigenthümliche Dignität der NeuTestamentlichen Schriften gefährdet wird. Andre Schriftsteller sind immer solche aus welchen wir einerseits den Zustand der Sprache kennenlernen, und welche andrerseits auf die Sprache selbst eingewirkt haben. PDes PhilologenS größte Aufgabe ist nun die Kenntniß der Sprache; da kann also etwas für die Sprache wichtig seyn was für den Sinn nichts austrägt. Der Sinn kann aus dem Zusammenhang ganz klar seyn – nun aber kommt darinn eine eigenthümliche Structur vor, und die Handschriften sind nicht einig: da ist es eine wichtige Frage, ob der Schriftsteller damals so hat schreiben können oder nicht. – Einen solchen Werth nun haben die NeuTestamentlichen Schriften nicht, und auch wenn sie ihn hätten, so läge er ausserhalb des Gebiets ihrer theologischen Behandlung. Freylich, aus der Sprache des Neuen Testaments hat sich die Sprache der griechischen KirchenSchriftsteller gebildet, und da mag man sagen, daß mehrley Abweichungen ihren Siz haben im Neuen Testament. Dieß ist aber weniger der Fall in Beziehung auf das Grammatische, was bey der Geschichte der Sprache die Hauptsache ist, sondern mehr in Beziehung auf einzelne Ausdrücke. | Daraus folgt also, daß wenn wir die NeuTestamentliche Kritik als eine 28 PDes PhilologenS] oder PDer PhilologieS (vgl. Sachs 116)

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theologische Disciplin behandeln, wir die Aufgabe dahin zu beschränken haben, daß wir sagen, der NeuTestamentliche Kritiker ist nicht gehalten, die Aufgabe in demselben Umfang zu lösen; er kann das bey Seite lassen, was für die Exegese von keiner Wichtigkeit ist. Aber ebendeßwegen hat er auch nicht das Recht auf dieselben Mittel, ausser wo er glaubt dem Exegeten aus der Verlegenheit helfen zu müssen. Grammatische Kleinigkeiten durch Conjecturen zu berichtigen, wäre eine überflüssige Mühe, die man ihm nicht Dank wissen würde. Dieß ist aber nicht gesagt, den Kritiker von Profession zu geniren, wenn er nur nicht durch Hineinsezung seiner Conjecturen in den Text den Leser in seine Gewalt bringt, sondern es ist nur gesagt, um den Unterschied zu motiviren, der § . 1 2 2 . aufgestellt ist. Dieser geht zurück auf den Unterschied allgemeiner Kenntniß und besondrer Virtuosität. Für diese wollen wir die Aufgabe in ihrem ganzen Umfang stehen lassen, der Kritiker soll nicht darauf PRücksichtS nehmen, was dem Exegeten wichtig ist oder nicht. Aber die Kritik so in ihrem ganzen Umfang inne zu haben, ist Sache der Virtuosität. Aber die Aufgabe, wie sie §. 121 gestellt ist, so muß man sie Jedem zumuthen. Wo es sich um den Lehrgehalt handelt bey einer zweyfelhaften Stelle, da muß jeder den kritischen Zustand so weit verfolgen, daß er sich sein eignes kritisches Urtheil bilden kann. Der Zu s az macht auch hier noch einmal aufmerksam auf den Unterschied der protestantischen und katholischen Kirche. Dieß bezieht sich auf einen Machtspruch der katholischen Kirche, der aber doch die PSchwierigkeitenS nicht hat entzweyhauen können. Indem nämlich die Vulgata für dem Original gleichgeltend erklärt wird, so kommt es dem katholischen Theologen auf die Berichtigung des Grundtextes nicht mehr an. Wenn er auch einsähe, daß die Vulgata irrt, so darf er doch keinen andern Gebrauch davon machen als nach der Vulgata. Für den gelehrten Theologen und seine Curiosität stehen freylich immer alle diese Untersuchungen offen, aber es hat keinen kirchlichen Werth, weil er für den kirchlichen Gebrauch es nicht benützen kann. Dieser Machtspruch ist aber der katholischen | Kirche nicht gelungen, weil man nicht weiß was die Vulgata ist; denn von ihr giebt es verschiedene, von verschiedenen Päbsten gebilligte Editionen. § . 1 2 3 . bestimmt nun das gemeinsame Gebiet, wie dann das Folgende das Gebiet der Virtuosität. In jener Rücksicht wird alles bezogen auf die Auslegung, der Theologe, der von der Kritik nicht Profession macht, kommt nur da in den Fall, eine kritische Ueberzeugung haben zu müssen, wo die Auslegung betheiligt ist. Was gehört nun dazu, damit er in diesem Fall zu einer kritischen Ueberzeugung gelan9 gesagt,] gesagt, weder

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gen könne. Die NeuTestamentischen Kritiker sind nicht unter sich einig. Da ist also offenbar daß der Theologe, ungeachtet er von der Kritik keine Profession macht, sich doch zum Richter über die Kritiker machen muß. Dieß ist aber in allen ähnlichen Fällen unvermeidlich. Um aber dieß nur irgend wie zu können, muß er doch irgendwie die Principien und Regeln, auf welchen das Verfahren des Kritikers beruht, inne haben, so wie eine allgemeine Kenntniß des Materials in welchem die Kritiker arbeiten. Dieß muß man also von jedem Theologen verlangen. Wenn nun nicht jeder Theologe alle Prämissen hat, und soll sich doch ein kritisches Urtheil bilden, so kommt es darauf an, daß er die besten kritischen Arbeiten kennt, und sie beurtheilen kann, in Beziehung auf ihre Meisterschaft und in Beziehung auf ihre Zuverlässigkeit, wie weit ihre Ansicht vom Gegenstand auf ihre Kritik einen Einfluß gehabt hat. Dieß kann er nicht beurtheilen, ohne eigne Kenntniß von den kritischen Regeln, die dabey in Anwendung kommen. Dazu gehört dann auch das zweyte, nämlich eine allgemeine Kenntniß, (d. h. das Bedeutendere muß er kennen), von den Quellen aus welchen und in Beziehung auf welche das Urtheil sich bestimmen muß. D e r Z u s a z giebt die Art an wie man dazu am compendiösesten kommt. Die NeuTestamentische Kritik ist noch nicht als eigne Disciplin bearbeitet, wie überhaupt die Kritik es nicht ist, sondern die Regeln stecken noch mehr in Observationen zerstreut. Da wird also auf zweierley verwiesen, einmal auf das was die kritischen Herausgeber zu geben pflegen, denn in ihren Einleitungen geben diese gewöhnlich Rechenschaft von den Materialien und den Regeln wonach sie sie gebrauchen. So war das Wetsteinsche und Griesbachsche Neue Testament. Nun aber zweytens pflegt häufig in den Einleitungen ins Neue Testament die Kritik materialiter behandelt zu werden, daher man in den bedeutendsten Werken dieser Art theils direkt theils indirekt | die kritischen Grundsäze der Verfasser ausgesprochen findet, mehr jedoch die höhere als die niedere. § . 1 2 4 handelt nun von dem ganzen Umfang der Disciplin in Beziehung auf den Virtuosen. Dieß ist an sich eine rein philologische Aufgabe, es geht schon aus §§. 117 und 18 hervor. Es ist hier auf zweierley vorzüglich Rücksicht genommen, auf die Constitution des Textes und des Apparats, welcher leztre den Leser in den Stand sezen soll, das Verfahren des Kritikers zu beurtheilen. Im Z us a z ist gesagt: man könnte sagen, da dieß eine rein philologische Aufgabe ist, so könne man sie nicht als eigne theologische Di27–28 Novum Testamentum Graecum, ed. J. J. Wettstein, Bd. 1–2, Amsterdam 1751– 1752; Novum Testamentum Graece, ed. J. J. Griesbach, 2. Aufl., Bd. 1–2, Halle / London 1796-1806

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sciplin behandeln, es sey auch gleichgültig ob ein Herausgeber des Neuen Testaments ein Theologe sey, ja es könne in vieler Beziehung besser seyn wenn von einem classischen Kritiker das Neue Testament herausgegeben [werde], weil er bey den dogmatischen Streitigkeiten der Zeit nicht betheiligt sey also um so unbefangener seinen kritischen Weg gehen werde. Nun aber ist hier dagegen gesagt, daß wenn es jemals an eigentlich theologischen Kritikern des Neuen Testaments fehlen sollte, so werde auch keine Sicherheit mehr seyn über das, was für die Kirchenleitung in eigentlich theologischer Abzweckung in dieser Beziehung zu leisten ist. Protestantische Theologie kann ohne Philologie nicht bestehen, und jeder muß sich seine Auslegung selbst bilden; daher wäre es eine Schmach für die protestantische Theologie, wenn sie bey dieser Nothwendigkeit einer gründlichen philologischen Schule sich nicht auch sollte Kritiker ziehen, sondern man warten müßte, bis ein classischer Philologe sich zum Neuen Testament wendete. Die Geschichte spricht freylich deutlich aus, daß man nur sehr allmählich zu einer unbefangenen kritischen Behandlung des Neuen Testaments von Seiten der Theologen gekommen ist; so wie in der katholischen Kirche diese Thätigkeit ganz gelähmt ist, so ist in der protestantischen Kirche diese Richtung bald erwacht, aber die dogmatischen Streitigkeiten haben die Kritik einseitig gemacht. Dabey war noch eine andre Schwierigkeit zu überwinden, – nämlich in Beziehung auf die höhere Kritik die allgemeine Anerkennung des jezigen Kanon in der Kirche seit vielen unkritischen Jahrhunderten, und ebenso im Gebiete der niederen Kritik eine große Abneigung, von dem Ueblichen abzuweichen. So hat sich der sog. gemeine Text, die | recepta, eingeschlichen ohne alle Autorität. Sobald dieser Text allgemein verbreitet war, so hatte er sich eine Autorität erschlichen, und die Behandlungen des Textes haben sich immer auf diese recepta bezogen, die ein zufälliges Machwerk war. Nun kann man nicht sagen, daß nicht auch rein von der Theologie aus dieß würde überwunden worden [seyn], dennoch kann es zuträglich seyn, wenn ein starker kritischer Impuls von dem rein philologischen Gebiete ausgeht. Wenn es nun den theologischen Schulen nicht zum Ruhme gereichen kann, daß [sie] nicht auf denselben Punkt schon früher gekommen sind, so ist es doch natürlich, daß der Einzelne sich in einer solchen Gemeinschaft wie die evangelische Kirche dem Allgemeinen untergeordnet; dabey liegt das richtige Gefühl zu Grunde, daß in der Kirche nicht die wissenschaftliche Ausmittlung an sich sondern das Praktische Zweck ist, und wenn etwas noch so wahr ist, tritt aber zu unrechter Zeit ein, so kann es nur Verwirrung anrichten. Wenn es nun im Zusaz heißt, ohne theologische kritische Schule wäre keine Sicherheit daß die Kritik das leistete, was für den theologischen Zweck geschehen muß, so ist die Sache

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diese: In Beziehung auf diesen Zweck ist nur das von Wichtigkeit, was auf eine Auslegung Beziehung hat, und zwar solcher Stellen, die für die Lehre von Bedeutung sind, eine reinkritische Behandlung weiß nichts von diesem Unterschied. Dieß ist gut für das unmittelbare kritische Resultat. Aber nicht für den Gebrauch welchen Theologen die nicht Kritiker sind, von den kritischen Arbeiten machen müssen. Wenn also auch eine kritische Bearbeitung des Neuen Testaments rein philologisch anfangen muß, so hat sie doch den theologischen Charakter nicht, wenn sie nicht in bestimmte Beziehung nachher gesezt wird für den Gebrauch derjenigen Theologen die nicht Kritiker vom Fache sind. Wenn nun vorher schon gesagt wäre, es sey nicht wahrscheinlich, daß nichttheologische Philologen sich auf eine kritische Bearbeitung des Neuen Testaments einließen, so wäre die Lachmannsche Ausgabe eine Widerlegung davon. Deßwegen heißt es aber nur: ein Philologe ohne Interesse am Christenthum. Von §. 125 – 131 ist nun die Rede von der Neu Testa m entisc h e n S p r a c h k u n d e . § . 1 2 5 ist auf die protestantische Grundvoraussezung zurückgegangen, daß der Theologe sich seine eigne Auslegung bilden müsse. Auf dieser Voraussezung | ruht die Forderung, daß jeder Theologe eine hinreichende Bekanntschaft haben müsse mit Pder GrundspracheS des Kanon. § . 1 2 6 . handelt vom Verhältniß der Ursprache und Uebersezung. Dabey liegt zu Grunde der Begriff der Irrationalität der Sprache. D. h. daß kein Element einer Sprache ganz in dem Element einer andern aufgehe, man mag Element nehmen wie man will. Materielle Elemente sind einzelne Wörter, formelle die Verhältnisse der Flexionen an den Wörtern. Es hätte noch das organische Element dazugefügt werden können, d. h. solche Zusammenwachsung einzelner Wörter zu einer solennen Phrasis die eine Einheit für sich bildet. Von all diesem gilt der Saz daß keine Sprache in der andern aufgeht. Es giebt kein deutsches Wort, welches irgend ein griechisches in allen Verbindungen genau wiedergäbe. Dieß gilt auch von den formellen Elementen und auch von genau verwandten Sprachen. Freylich scheint es hier oft zu einem Minimum zu werden. Z. B. in den romanischen Sprachen, dem Spanischen und Italienischen. Dennoch giebt es auch unter diesen Sprachen gemeinsamer Wurzel keine, die nicht durch Vermischung 12 Philologen] Philoll Sachs 119)

21 Pder GrundspracheS] oder Pden GrundsprachenS (vgl.

13–14 Novum Testamentum Graece, ed. K. Lachmann, Berlin 1831 18–22 Vgl. Nachschrift Anonymus: „125. Die Katholische Kirche verbietet dem einzelnen Theologen seine eigene Meinung sich für den kirchlichen Gebrauch zu bilden.“ (S. 107)

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mit einem andern Element diese Irrationalität erhalten hätte. – Diese Irrationalität kann nun keine Uebersezung ganz aufheben, d. h. man kann nie aus einer Uebersezung den Gedanken des Verfassers in seiner ganzen Angemessenheit entnehmen. Bey einzelnen Säzen kann dieß unbedeutend seyn aber im Zusammenhang kann diese Verschiedenheit immer wachsen und bedeutender werden. – Also giebt es kein vollkommenes Verstehen eines Buchs als in seiner Ursprache. Dieß scheint consequent einen Skepticismus gegen alles Verstehen einer fremden Sprache in sich zu schließen. Denn immer übersezen wir eine fremde Sprache in die unsre. So lang ist aber auch das Verständniß nicht vollkommen, sondern dieß wird es erst wenn wir kein innres Uebersezen mehr nöthig haben. Daher ist das in der Sprache Denken erst derjenige Punkt, wo das vollkommene Verständniß einer fremden Sprache angeht. Der Theologe muß also eigentlich so weit mit dem Neuen Testament bekannt seyn, daß er in der NeuTestamentlichen Sprache theologisch denken kann, die Elemente dieser Sprache so innehat, wie die Autoren. Was hier von Uebersezungen gesagt ist, hat eine apologetische Richtung gegen die katholische Kirche, welche eine Uebersezung mit dem Original willkührlich gleichstellt. Die höchste Spize | dieses Gegensazes ist der Saz, daß auch eine Uebersezung nur vollkommen verstanden werden kann mit Kenntniß der Ursprache; denn nur so kann die Uebersezung nachconstruirt werden. Daraus folgt, daß auch bey einer vollkommnen Uebersezung die Kenntniß des Originals nicht überflüssig würde. Es ist diese Gleichstellung in der katholischen Kirche eine so sonderbare Thatsache, daß es der Mühe lohnt sie sich zu erklären. Das Latein hatte lange Zeit in den dem römischen Stuhl unterworfenen Ländern eine ziemlich allgemeine Verbreitung, sogar im gemeinen Leben. Es liegt also dieß darinn, daß [eine] Behandlung des Neuen Testaments in der den Zuhörern geläufigen Sprache ebenso gut sey als in der Ursprache. Stellt man aber ohne Beziehung auf diese Verbreitung nur die zwey Sprachen nebeneinander, so kann man sich die Sache gar nicht erklären. § . 1 2 7 . wird nun das Gebiet der NeuTestamentlichen Sprachkunde aufgestellt. Grundsprache ist das Griechische, aber mit aramäischen Bestandtheilen. Dieß ist eine historische Thatsache. Das Griechische kam nach Palästina wie nach andern Ländern durch die macedonische Eroberung, und die Verhältnisse nöthigten die Menschen diese Sprache zu erlernen. So wurde das Griechische eine NebenSprache neben dem Aramäischen. Dabey geht immer von der ursprünglichen Muttersprache etwas in die fremde ab, und entsteht eine

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Mischung. Dieß giebt einen eigenthümlichen Typus, der nur aus diesen zwey Elementen verstanden werden kann. Vieles im Neuen Testament ist nun als Uebersezung aus dem Aramäischen anzusehen, dieß ist etwas Specielles; das Allgemeine ist, daß das Aramäische auf das Griechische des Neuen Testaments einen allgemeinen Einfluß geübt hat. Mit den Sprachen hat es die Bewandtniß, daß wir annehmen müssen, Christus habe sich bey seinen Reden größtentheils der aramäischen Sprache bedient, welche also nur verstanden werden können, wenn man sie sich aus dem Griechischen worinn sie vorhanden sind, ins Aramäische übersezen kann. Daß aber Christus nur Aramäisch gesprochen, kann nicht behauptet werden, denn in Galiläa und Peräa sprach man viel Griechisch. Wenn aber Christus in Synagogen und im Tempel zu Jerusalem redete, so war es wohl gewiß aramäisch. Das zweyte Specielle ist die Eigenheit des palästinischen Dialekts, wie es schon ausgeführt worden ist. Der Ausdruck Dialekt ist uneigentlich, weil er etwas Ursprüngliches bezeichnet, wogegen diese NeuTestamentliche Sprache etwas Sekundäres ist. Es ist über diesen Gegenstand viel gestritten | worden, sie glaubten zur Inspiration gehöre auch reine Gräcität. Wir haben dieser Richtung viele lexicalische Vergleichungen zwischen NeuTestamentlichen Stellen und Stellen aus griechischen Classikern zu verdanken. Auch ist nicht zu leugnen, daß man auf der andern Seite vieles als Hebraismen dargestellt hat, was es gar nicht ist. Aber vertheidigen kann man diese Ansicht dennoch nicht. Im Z us a z ist einer Behauptung erwähnt, die schon wieder verklungen ist, als ob die meisten NeuTestamentischen Bücher ursprünglich aramäisch geschrieben waren. Gestritten wird wohl jezt nur noch über das Evangelium Matthäi. § . 1 2 8 . dehnt diese Beziehung auf das Aramäische und Hebräische noch weiter aus, indem er sagt, es könne kein vollkommenes Verständniß des Neuen Testaments geben ohne genaue Bekanntschaft mit dem Alten Testament. Es ist schon früher gesagt worden, daß unerachtet der Begriff des Kanon nur auf das Neue Testament geht, es doch mit der Gestaltung unsrer Bibel so bleiben muß wie es ist. Aber die Deduktion jedes Theils der exegetischen Theologie muß vom Kanon, also dem Neuen Testament ausgehen. Es wird daher hier die 18–19 Vgl. etwa die von Johann Andreas Quenstedt vertretene Ansicht, das neutestamentliche Griechisch sei frei von Fremdwörtern und syntaktischen Fehlern: „Stylus N. T. ab omni barbarismorum et soloecismorum labe immunis est“ (Theologia didactico-polemica, sive Systema theologicum in duas sectiones didacticam et polemicam divisum, Bd. 1–2, Leipzig 1715, Bd. 1, Sp. 119) 27–28 Zur Debatte um die Annahme einer ursprünglich aramäischen Abfassung des Matthäusevangeliums vgl. KGA I/6, 373, Anm. zu 11f. 32 Vgl. oben zu § 115 (384,20–28)

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Bekanntschaft mit dem Alten Testament nur postulirt wegen seines Zusammenhangs mit dem NeuTestamentischen. Es ist hier von direkten und indirekten Beziehungen auf AltTestamentisches zu sprechen. Die direkten sind die Anführungen aus dem Alten Testament. Die indirekte ist das Bestimmtseyn der ganzen Denkweise und also auch der religiösen Sprache durch das Alte Testament als das einzige allgemeine Bildungsmittel. Die Auslegungskunst war nur Sache der Gelehrten, aber die Bekanntschaft mit dem Alten Testament wurde in den Synagogen fortgepflanzt, es wurde hier das Alte Testament gelesen und erklärt, die Gebete die man sprach, waren größtentheils Zusammensezungen aus dem Alten Testament. – Nun wird also gesagt, die Bekanntschaft mit den AltTestamentischen Büchern, die dem Theologen nothwendig, müsse auch eine Bekanntschaft mit der Grundsprache seyn. Dieß ist freylich ein bestrittener und in der Praxis sehr verschieden behandelter Punkt. Leztres weil man den Maßstab der allgemein zu fordernden Kenntniß sehr verschieden gestellt hat. Es läßt sich allerdings vieles sagen, nämlich in sehr vielen NeuTestamentischen Büchern finden wir, daß fast alle Anführungen aus dem Alten Testament nicht aus der Grundsprache, sondern aus der LXX sind, – für diese direkten Beziehungen | scheint also die Kenntniß der LXX hinreichend, welche so viel Verwandtschaft mit dem Neuen Testament hat, daß eine genaue Kenntniß derselben ohnedieß jedem Theologen zu empfehlen ist. Allein ganz anders ist es mit jenem indirekten Einfluß, den man sich nicht richtig construiren kann ohne eigne Bekanntschaft mit der Sprache. Man kann nun sagen: wir bekommen in unsrer allgemeinen religiösen Bildung eine hinreichende Bekanntschaft mit der AltTestamentischen Denkungsart, und da wäre also um sich der religiösen Denkart zu versichern und sie in der Sprache wiederzufinden, nur diese allgemeine Bekanntschaft nöthig. Nun freylich wenn wir könnten einen solchen Unterschied machen zwischen Routiniers, die nur für die Praxis zugerichtet werden, und zwischen wissenschaftlichen Theologen, nun dann könnte man den ersten die Bekanntschaft mit der Grundsprache des Alten Testaments erlassen. Aber es wäre nicht zum Vortheil der protestantischen Kirche, und ist auch nirgends so weit gekommen. § . 1 2 9 geht noch weiter, und sagt, das vollkommene Verständniß des Kanon fordere auch eine hinreichende Kenntniß der semitischen Dialekte überhaupt. Im Zusaz wird besonders das Arabische und Rabbinische namhaft gemacht. Der Grund ist das geringe Material, was wir in der AltTestamentischen Sprache haben, weil wir eben nur das Alte Testament selbst haben. Eine Sprache oder ein Sprachzweig von einer so geringen Verbreitung nun kann nicht anders als im Zusammenhang mit den verwandten verständlich seyn. Dieß sieht man

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bey der hebräischen Sprache schon jedem Lexikon an, weil hier um die Wurzel eines Wortes aufzuzeigen, oder seine Bedeutung deutlich zu machen, auf das Arabische p zurückgegangen wird. Kann einer also kein ordentliches Lexikon schreiben ohne Arabisch, so kann auch keiner sein Lexikon selbständig gebrauchen ohne diese Kenntniß. – Das Rabbinische, eine spätere vermischte MundArt, hat seine Bedeutung ganz vorzüglich in den indirekten Beziehungen zwischen dem Neuen und Alten Testament. Nämlich die ganze jüdische Denkart in religiösen Dingen und die Behandlung des Alten Testaments wurde eine andre in der ZwischenZeit von der Rückkehr aus dem Exil an bis zur Zeit Christi. Da wurde der Gesichtskreis theils erweitert durch den Aufenthalt im Auslande, theils beschränkt durch die Autorität des Alten Testaments. In dieser Zeit entstanden die παραδόσεις, Auslegungen und Folgerungen aus dem Geseze die in den Schulen galten. Diese waren schon ein in das Leben übergegangenes Element zur Zeit des Lebens Christi, das wir nur in den rabbinischen Schriften, | dem Talmud p haben, wobey aber sehr zu unterscheiden ist, was einer früheren Zeit und was erst der Späteren gehört. Um aber dieß zu unterscheiden, muß das Ganze umfasst werden. Nun haben wir also den Umfang von SprachKunde für das Neue Testament in dem Griechischen im Zusammenhang mit der griechischen Sprache überhaupt und in seinem Afficirtseyn von der Muttersprache der NeuTestamentischen Autoren im Zusammenhang mit den verwandten Dialekten. Hier kommt es nun wieder darauf an, das allgemein zu Fordernde und das was der Virtuosität angehört zu sondern. Dieß §. 130 und 131. § . 1 3 0 . Hier wird anerkannt, daß dieser Umfang vieles der unmittelbaren Abzweckung des theologischen Studiums Fremdes in sich faßt. Ebenso klar ist, daß unmöglich Jeder dieses in seinem ganzen Umfange, und zugleich das was aus den andern Disciplinen für jeden nothwendig ist, zusammen besizen kann. Es wird also immer sehr Vieles geben, in Beziehung auf was sich der Theologe auf Andre verlassen muß, und da ist allerdings das Minimum nur dieses, was in einer unmittelbaren Verbindung steht mit der Abzweckung des theologischen Studiums, das muß von jedem Theologen gefordert werden. Es gab eine Zeit, wo, die eigentlichen Philologen ex professo ausgenommen, Niemand griechisch lernte als die Theologen. Da wurde das Neue Testament auf Schulen getrieben, und das NeuTestamentische Griechisch war es, was ein jeder zuerst auffaßte. Nun denken wir uns dieß ist eine glückliche Sache, da kam der Theologe frühe in sein eigentliches Gebiet hinein, und gar nicht in den Fall, daß vom Studium der classischen Schriftsteller wegen ihn das Neue Testament ganz fremd anmuthete, welcher fremde Eindruck nachtheilig ist. Es könnte

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also vortheilhaft scheinen, wenn man dieß wiederherstellte, die Theologen gleich Anfangs ins Neue Testament führte, und daneben etwa die griechischen KirchenVäter lesen ließe. Dieß ist auch neulich gesagt worden, um die Gemüther nicht in das heidnische Wesen hineinzuführen. Nur fragt sich: wenn uns das NeuTestamentische Griechisch nicht fremd vorkäme, käme uns dann dasselbe richtig vor? Nein; man würde dann gar nicht merken, daß es eine schillernde Sprache war, mit Aramäisch vermischt, und doch ist diese Anschauung die einzig richtige. So eng also wollen wir die Grenzen | nicht ziehen, sondern wir wollen damit zufrieden seyn, daß die griechische Ursprache schon feststeht in den Theologen, wenn sie zum NeuTestamentischen Griechisch kommen. Nun fragt sich: sollen wir da die Grenze ziehen, und sagen: hat einer die philologische Richtung verfolgt, und kommt zum NeuTestamentischen Griechisch, wird von da zur Bekanntschaft mit den griechischen Kirchenlehrern geleitet, und faßt es in der LXX an, so bekommt er dadurch auch die Kenntniß vom Alten Testament mit, und man könnte ihm dessen Grundsprache doch erlassen. Nun soll nicht gesagt werden, daß um der aus dem Alten Testament nicht aus der LXX angeführten Stellen willen die AltTestamentische Grundsprache erlernt werden; aber wie wir sagen müssen, das NeuTestamentliche Griechisch könnte einem nicht fremd vorkommen, wenn es nicht mit dem classischen Griechisch verglichen werden könnte: so ist das Fremdvorkommen nur das Negative, das Positive ist, daß es dem Theologen hebraisirend vorkomme, daß er wisse, wo dieses Fremdartige hingehöre. Sollte das Hebräische nur als Liebhaberey betrieben werden, so werden die es betreibenden dasselbe nur in seiner philologischen Vollständigkeit betreiben, und in ihrem Studium wäre das christliche Motiv nicht das herrschende; diese würden am Ende die einzigen Richter seyn über das, was vom Standpunkt der hebräischen SprachKunde aus geschlichtet werden muß. Dieß wäre eine sehr schlimme Stellung; denn wenn ein ursprünglicher Theologe die Richtung auf die semitischen Sprachen vorwiegend verfolgt, so entfärbt er sich theologisch, und das christliche Interesse zeigt sich nicht in seinen Untersuchungen. Allerdings muß es auch solche geben, aber auch Zwischenstufen von solchen, die vom christlichen Interesse ausgehen und doch, wenn auch nicht in dem ganzen Umfang in das Gebiet der orientalischen Sprachen sich einlassen; sonst gäbe es keine Vertheidigung gegen die reinen Orientalisten. Daher ist es von großem Interesse daß die Kenntniß der orientalischen Sprachen allgemeines theologisches Element bleibe. 37 gäbe] gebe

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§ . 1 3 1 ist nun das von jedem Theologen zu Fordernde angegeben: Aus dem Elemente der Gräcität wird verlangt eine gründliche Kenntniß der griechischen Sprache in ihrer verschiedenen Entwicklung. Es wird hinzugefügt die Beschränkung: vornämlich der prosaischen Sprache; denn in der griechischen Sprache ist der Unterschied zwischen der prosaischen und poëtischen Sprache besonders bedeutend. Auf der andern Seite ist es die Eigenheit des macedonischen Dialekt und auch des Neuen Testaments, | daß hier Elemente in der Prosa vorkommen, die sonst nur in der Poësie gewöhnlich waren. Dieses ist nun miteinzuschließen. Aus dem Elemente der orientalischen Sprachen ist aufgeführt die Kenntniß der beyden AltTestamentlichen Grundsprachen, des Hebräischen und Chaldäischen. Dieses Chaldäische ist zwar nicht dasselbe mit dem Aramäischen zur Zeit Jesu, aber der Unterschied ist mehr in Formen und Kleinigkeiten. Daher ist das Aramäische nicht besonders aufgeführt, sondern das Hebraisirende im Neuen Testament lernt man aus jenen beyden Grundsprachen genugsam verstehen. Ohne die Kenntniß der Muttersprache der NeuTestamentlichen Schriftsteller kann man sich keine richtige Vorstellung von dem Hergang beym Schreiben der NeuTestamentischen Schriften machen. Dabey muß man aber nicht blos an Hebraismen denken, an positive Elemente, die aus dem Hebräischen aufgenommen sind, sondern eben so an das Negative, daß bey der Armuth der hebräischen Sprache, z. B. an Partikeln, der Reichthum der griechischen nicht benuzt wird. Wir müssen uns nun da hineindenken und forschen, welche Partikel an dieser Stelle z. B. καὶ p vertritt. Wenn wir nicht wissen, wo diese Armuth herkommt, ergiebt sich eine ganz lose Art der Exegese. Zulezt werden nun noch angegeben die Hilfsmittel zur Benützung der Leistungen der Virtuosen. Zuerst die Literatur des Fachs, nämlich die Werke der classischen Schriftsteller in dieser Sache, wozu eine Kenntniß von dem Standpunkt, der Befangenheit p des Verfassers gehört. Es ist im §. angegeben, daß es hier immer verschiedene Einseitigkeiten gegeben hat, einmal das Bestreben, die NeuTestamentlichen Schriftsteller in Beziehung auf die Gräcität in die Nähe der classischen Autoritäten zu bringen; dieß Bestreben muß zu falschen Erklärungen führen. Andrerseits, weil ein sparsam bebautes Feld bey denjenigen die sich damit beschäftigen, einen besonderen Werth gewinnt, so wollen die Orientalisten die dieß auf die Theologie anwenden möglichst Alles auf unersättliche Weise aus dem Orientalischen erklären. Vom § . 1 3 2 . geht die Behandlung einer neuen Disciplin an, der Hermeneutik oder Auslegungskunst. Hier muß zuerst auf das Allgemeine 40 § . 1 3 2 .] daneben am Rand Hermeneutik.

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zurückgegangen werden, um daraus das Besondre abzuleiten. Hier ist die ganze Operation der Auslegung zurückgeführt auf den Begriff der | Kunst, und dadurch die Hermeneutik auf den Begriff der Theorie dieser Kunst. Hier ist aber der nicht ganz angemessene Ausdruck einer Theorie vermieden, und der alterthümliche, Technik = Kunstlehre gesezt. Eine Technik kann aber nur stattfinden, wo es eine Kunstleistung giebt, und eine solche muß also das Verständniß einer Schrift seyn, wenn es darüber eine Kunstlehre geben soll. Wir sind nun aber gewohnt, die Auslegung als etwas anzusehen, was sich von selbst versteht. Wenn man aber davon ausgeht, daß ich einen Redenden und Schreibenden verstehe, das ist etwas was sich von selbst ergiebt, – nur dann und wann giebt es Schwierigkeiten: – dann sagt man, es kann sich nicht lohnen allgemeine Regeln des Verstehens zu geben, sondern nur die besondern Schwierigkeiten müssen unter allgemeine Gesichtspunkte gebracht und dafür allgemeine Observationen und Rathschläge gegeben werden, wie man diese Schwierigkeiten vermeiden kann. Dieß ist aber nur eine fragmentarische Empirie und entspricht dem Begriff der Wissenschaft nicht. Dennoch ist ein Hauptbuch in dieser Hinsicht Ernestis Institutio interpretis nur eine Zusammenstellung gewisser Schwierigkeiten die häufig vorkommen, und Angabe von Verfahrungsarten sie zu lösen. – In der That sind die Schwierigkeiten weit häufiger als man glaubt, und sie gehen bis in die gemeine Rede hinein. Bedenkt man wie leicht aus einer Erzählung in dem zweyten und dritten Grad etwas ganz andres wird, ohne daß absichtliche Entstellung stattfindet, so kann man es nur aus Mißverständniß erklären. Diese Mißverständnisse kommen besonders daher, daß man eine Rede in weiterem oder engerem Sinn nimmt. Bedenkt man nun, daß es fast keinen Saz giebt, der nicht diese quantitative Verschiebbarkeit hätte, so muß man sagen: es muß von vorn herein auf verständige Weise aus der Natur des Sprechens selbst jene Kunstlehre abgeleitet werden, und ohne dieß sind alle einzelnen Observationen willkührlich. § . 1 3 3 . stellt die Bedingungen auf unter welchen es eine solche Technik geben kann, nämlich wenn die Observationen nicht vereinzelt sind, sondern ein System bilden, gegründet auf die Natur des Denkens und der Sprache. Es ist also dieser Sinn eines solchen Systems von Regeln, einer eigentlichen Disciplin, in welchem der Ausdruck | Hermeneutik hier genommen wird. 7 und] und als 19 Vgl. oben Anm. zu 159,35

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Auf das Neue Testament angewandt stoßen wir gleich auf eine ganz allgemeine Thatsache, nämlich daß es nicht leicht eine Sammlung von Reden und Schriften in solchem Umfange giebt, über welche die Verschiedenheit der Meynungen über die Art wie es zu verstehen ist, größer wäre als bey dem Neuen Testament. Sagt man nun, wenn sich die kirchliche Lehre nicht so in das Spizfindige hineinbegeben hätte, was man doch Alles aus der Heiligen Schrift belegen wollte, wenn man beym Einfachen stehen geblieben wäre, so würde das Verständniß der Heiligen Schrift nicht so verschieden sich gestaltet haben. Man kann dieß zugeben, aber doch sagen, so wie die Sache nun einmal ist, kann man sich nicht anders herausziehen als durch die genauste Aufstellung der Regeln des Verstehens in Beziehung auf das Neue Testament. § . 1 3 4 . Ist dieß in Beziehung gesezt auf den Begriff des Kanon. Unsre protestantische Theologie kann keine Vorstellung vom Kanon zulassen, welche die Anwendung einer solchen Kunstlehre ausschließen könnte. Dieß ist wieder ein antikatholischer Saz, der ebendeßwegen vorangestellt ist; denn in der katholischen Kirche ist alles dieß nicht so, weil hier eine authentische Auslegung des Neuen Testaments aufgestellt ist. Sobald man nun eine solche Theorie annimmt als auf die Natur des Denkens und der Sprache überhaupt, näher auf die Natur einer bestimmten Sprache und eines bestimmten GedankenGebiets gegründet, so kann man nur diejenige Auslegung, welche hierauf gegründet ist, für geltend halten, es wird jeder, der diese Kunstlehre besizt, zum Richter aller andern. Daher kann man sagen, die katholische Kirche macht sich aus dieser Kunstlehre eigentlich nichts. Eigentlich aber schiebt sie sie nur zurück vom Kanon auf die authentische Interpretation des Kanon, denn diese muß selbst wieder verstanden werden, und kann es auf verschiedene Weise. Also die allgemeine Hermeneutik bleibt auch in der katholischen Kirche, die specielle NeuTestamentliche Hermeneutik aber ist in ihr nur ein Luxus, weil sie keine kirchliche Anwendung finden darf. § . 1 3 5 . stellt eigentlich dieß auf, aber auf bestimmtere Weise, was vorher als Thatsache anticipirt wurde, daß nämlich die Auslegung des Neuen Testaments besonderen Schwierigkeiten unterliege. Hier ist die Schwierigkeit auf | ihre hauptsächlichsten Elemente zurückgeführt, und gesagt sie liege theils im innern Gehalt theils in den äussern Verhältnissen. Das Leztre ist schon angegeben, daß nämlich die NeuTestamentischen Schriftsteller schrieben in einer Sprache die nicht ihre eigne war, in die sie sich erst hineingearbeitet hatten, und deren Kenntniß in ihnen nur beschränkt und unsicher war. Leztres ist angedeutet im Zusaze, wo es heißt, daß sie großentheils aus niederem Stand waren. Das Maximum vom Leben der Sprache liegt im mittle-

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ren Gebiet des Volkes, darüber und darunter giebt es nur Einseitigkeiten und Beschränkungen. In Hinsicht des innern Gehalts aber hat es mit dem Neuen Testament eine ganz eigne Bewandtniß; die Schwierigkeit liegt gerade in dem, worinn die normale Dignität desselben liegt, daß es nämlich die ersten Äusserungen eines erst in der Entwicklung begriffenen neuen intellectuellen Princips enthält, was also erst in die Sprache eindringt, und zwar durch relativ so unvollkommene Organe die größtentheils des Griechischen nur fähig waren im gemeinen Leben, und nur zum Theil ihre Kenntniß des Griechischen aus der LXX erweitert hatten. Wenn ein neues Element des Denkens sich entwickelt, so muß die Sprache immer etwas Schwankendes haben, weil der Sprachgebrauch sich erst fixirt. Dieß Unbestimmte ist nun auf das Spätere als Norm anzuwenden, und deßwegen muß man es beym Neuen Testament mit diesen Schwierigkeiten in der Auslegung besonders genau nehmen, sich nicht blos an einzelne Observationen halten, sondern an eine begründete Theorie der Auslegung. § . 1 3 6 macht auf eine neue Schwierigkeit aufmerksam. Nämlich in Beziehung auf die kanonische Autorität ist das Neue Testament Eins. Dieß leidet nun allerdings eine Beschränkung durch den alten Unterschied zwischen protokanonischen und deuterokanonischen Schriften, doch wir können die deuterokanonischen Schriften weglassen, die Sache bleibt doch dieselbe. In Beziehung auf die normale Dignität ist der Kanon ein Ganzes. Aber das Neue Testament als Schrift betrachtet, so sind es doch Gedankenreihen von verschiednen Autoren, und nur sofern es von demselben Verfasser mehrere Schriften giebt, so bilden diese ein Ganzes; weil aber die Regeln immer auch auf den Verfasser zurückgehen müssen, so zerfällt in Beziehung auf den hermeneutischen Gesichtspunkt das Neue Testament, und es ist nicht einerley, | Schwierigkeiten im Neuen Testament lösen zu wollen aus einer andern Stelle des Neuen Testaments, und eine Stelle eines klassischen Autors aus einer andern Stelle dieses Autors. Denn [daß] Paulus aus Paulus erklärt werden darf, dieß ist natürlich, aber ob Paulus aus Petrus, das ist noch sehr problematisch, da die Leute gar nicht immer einig gewesen sind. Nun kann man entweder die Besonderheit der einzelnen Schriften der Einheit des Ganzen aufopfern, aber auch umgekehrt, und zwischen diesen Gegensäzen verwirrt sich die Praxis, es entsteht die Aufgabe, diese Gegensätze richtig auszugleichen. Aus der Theorie der Inspiration ist dieß hervorgegangen, daß man sagte, auf das Neue Testament ist dieß nicht anwendbar, jede einzelne Schrift für sich zu behandeln; denn der eigentliche Autor ist der heilige Geist, und auf diesen Einen ist Alles zurückzuführen. Geht man dagegen von der rein

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philologischen Grundvoraussezung aus und wendet sie auf den Kanon an, so ist die Aufgabe, aus den ersten Äusserungen des Christenthums seinen Begriff finden. Nun als solche Dokumente sind uns diese einzelnen Schriften überliefert worden. Was nun aber darinn Elemente zu dem reinen Begriff des Christenthums sind, dieß kann nur so ermittelt werden, daß man jede für sich behandelt. Widersprechen sie sich, so kann das Widersprechende nicht in das Christenthum gehören; wenn sie sich in Allem widersprächen, so könnte man gar nichts darinn festhalten. Aber ob das eine oder andre der Fall sey, oder ob sie ganz übereinstimmen, kann erst als Resultat der Auslegung erfahren werden. Da dominirt also die Auslegung der einzelnen Schriften, und die Einheit ist erst Resultat und problematisch, wie sie dort Voraussezung ist. Nun müssen also Widersprüche entstehen, und wie man sich nur bald so bald so zwischen diesen Gegensäzen durchschlägt, so entstehen Verwirrungen. – Wäre das ganze Neue Testament eine Schrift, so würde diese Schwierigkeit nicht existiren, auch nicht, wenn aus dem Ganzen nur eine Schrift übriggeblieben wäre. Nun muß also hier ein Maß getroffen werden, und Principien aufgestellt, wie sich dieses Beydes gegen einander verhält. Dieß ist Sache der eigenthümlichen NeuTestamentlichen Hermeneutik, und diese ist nun, als diejenige welche die Schwierigkeiten zu lösen hat, § . 1 3 7 aufgestellt. Dabey ist die allgemeine Philologie vorausgesezt, und gesagt, daß die besondere NeuTestamentliche [Hermeneutik] nur bestehen könne aus Modificationen der allgemeinen hermeneutischen Regeln, oder Anwendung derselben auf die eigenthümlichen Verhältnisse | der NeuTestamentischen Schriften. Die Natur der Sache bringt mit sich, daß die allgemeine Hermeneutik muß vorausgesezt werden; aber sehen wir auf den Thatbestand so ist sie als allgemeine Disciplin noch wenig behandelt, weil man voraussezte, das Verstehen verstehe sich von selbst, und besondere Regeln könne es nur geben in Beziehung auf besondere Schwierigkeiten. Daraus ergiebt sich, daß es zuerst besondere Observationen giebt, theils in Beziehung auf die Sprache und Grammatik, theils in Beziehung auf die Gedanken, also auf besondere Arten des Vortrags und der Gedankenverbindung. Daraus entsteht, daß wir für jede Sprache eine Menge von Specialhermeneutiken bekommen, z. B. eine juridische Special-Hermeneutik für die lateinische Sprache berechnet, welche dabey die HauptSprache ist. Ebenso in jedem andern wissenschaftlichen Gebiet, wo dergleichen Schwierigkeiten vorkommen können und wieder auch in jeder Sprache. So von unten auf käme man zulezt erst auf die allgemeine Hermeneutik, aber schwerlich auf die rechte Weise, sondern sie würde eine immer leerere Abstraction, und die einzelnen Observationen sind unbegründet. Soll nun die NeuTestamentliche Hermeneutik eine rechte

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Disciplin werden, so muß der umgekehrte Weg eingeschlagen werden, es muß eine allgemeine Hermeneutik geben, die nicht auf besondere Schwierigkeiten p sich bezieht sondern ganz allgemein das Verhältniß eines Redenden und Hörenden zu Grunde legt. An eine solche allgemeine Hermeneutik kann sich dann auch die NeuTestamentliche anschließen, aber freylich nur sofern die griechische Grammatik, und die NeuTestamentische Grammatik vorausgesezt werden. Wenn also von einer Constitution aller theologischen Disciplinen die Rede ist, so kann die Sache nur so gestellt werden, und der gegenwärtige Zustand muß als ein Uebergang von einzelnen Observationen zu einer eigentlichen Theorie angesehen werden. § . 1 3 8 . wird von dieser Voraussezung aus verfahren, und von einer zweyfachen Form geredet, in welcher die NeuTestamentische Hermeneutik erscheinen kann. Diese Duplicität ist im Zusaz weiter auseinandergesezt. Sie liegt in der Natur der Sache, weil überall wo man es mit zwey Verhältnissen zu thun hat, das eine dem andern subordinirt werden kann, oder das umgekehrte. So hier. Wenn das Specielle dem Allgemeinen subordinirt wird, so ist Pdas GerüstS der NeuTestamentischen eine allgemeine Hermeneutik, die in ihren Hauptsäzen erscheint, und das Specielle erscheint nur in Form von Zusäzen, die Anwendungen des Allgemeinen sind. Das umgekehrte ist, daß das Allgemeine vorausgesezt wird, aber die Organisation der Disciplin auf den Bezug zum Kanon sich gründet, so daß dieselbe Organisation nicht angewendet werden | könnte auf eine andre Specialhermeneutik. Die erste Anordnung wird die natürlichste seyn, wenn die allgemeine Hermeneutik vollkommen ausgearbeitet ist. Denken wir uns aber den geschichtlichen Gang der Sache wo man von einzelnen Observationen ausgegangen ist, so ist für diese Zeit die leztre Gestaltung die natürlichste. Doch sezt sie auch schon eine gewisse Geltung allgemeiner Principien voraus, auf welche man sich berufen kann, ohne daß doch die allgemeine Hermeneutik als vollständige Disciplin ausgebildet wäre. Der zweyte Theil des Zusazes betrachtet das Verhältniß dieser NeuTestamentischen Hermeneutik zu der NeuTestamentischen Grammatik und Kritik. Dieses Verhältniß ist ein vollkommen gegenseitiges, jede beruht auf der andern, und hat auch wieder einen Einfluß auf die Fortbildung der andern. Die Hermeneutik beruht auf der Sprachkunde, denn der Hörende muß mit der Sprache des Redenden bekannt seyn. Wie kommen wir aber zu der Bekanntschaft mit einer fremden Sprache? Offenbar nur durch die Redeformen, so daß die Grammatik auf der Hermeneutik beruht. Ebenso mit der Kritik. Die höhere Kritik 18 Pdas GerüstS] oder Pder GrundrissS

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muß erst den Kanon constituiren, und die NeuTestamentische Specialhermeneutik bekommt ihren Gegenstand, den Kanon, von der Kritik. Fragen wir aber: welches sind die Angaben, wodurch die Authentie einer Schrift constituirt wird, so ist dieß doch das richtige Verständniß dieser und andrer Schriften, – und so beruht die Kritik auf der Hermeneutik. § . 1 3 9 hat es nun mit der Frage zu thun, ob es auch hier einen Unterschied zwischen Virtuosität und allgemeiner Kenntniß giebt. Es liegt schon in dem Bisherigen, daß diese Differenz hier als ein Minimum angesehen werden muß, weil es dabey auf Principien ankommt, wie bey der philosophischen Theologie; wobey es einen solchen Unterschied nicht geben kann weil jeder, der auf einem Gebiet selbstständig seyn will, sich seine Principien selbst machen muß. Gilt nun dieß so ist die Differenz aufgehoben, und jeder muß es zu einer Virtuosität in der Hermeneutik bringen. Nämlich nicht in der Hermeneutik an und für sich, sondern nur mit ihrer Anwendung zugleich. Was wir in Beziehung auf diese Differenz bey der Grammatik und Kritik gesagt haben, das bleibt vollkommen stehen, aber die Virtuosität in der Hermeneutik muß dieß bedingen, daß wenn einem Theologen das nöthige Material von andern gegeben ist | aus Grammatik und Kritik, so muß er durch seine Auslegungskunst sich selbst eine genügende Auslegung bilden können. Die exegetischen Schwierigkeiten mögen seyn welche sie wollen; wenn mir aus dem Gebiete der SprachKunde und Kritik alles gegeben ist, so muß ich eine Auslegung mir bilden können. Dieß streng genommen hieße: es müssen alle Differenzen in der Auslegung entstehen. Giebt es in der Hermeneutik selbst noch verschiedene Ansichten, so hat sie noch nicht ihre Vollkommenheit erreicht. Ist nun dieß ein Ziel, welches wir uns in Beziehung auf das Neue Testament wirklich stecken können, daß wenn nur erst die Hermeneutik und verwandte Disciplinen vollkommen sind, es von jeder NeuTestamentischen Stelle eine vollkommen sichre Auslegung gebe? Diese Frage ist zu verneinen, aber nur deßwegen, daß für gewisse Stellen das Material nicht vollkommen zu geben ist. Denn um sicher zu wissen, was sich einer bey einer Rede gedacht hat, muß ich den ganzen Zusammenhang seiner Vorstellungen kennen, sonst kann meine Auslegung nicht richtig seyn. So fehlt es uns in Beziehung auf die Stelle des Petrus über die Höllenfarth ganz an Material, weil wir keine verwandte Stelle finden. Dieß thut aber der Bestimmung der Hermeneutik keinen Eintrag, sondern beruht nur auf der Unvollständigkeit des Materials. Der Z u s a z enthält die Warnung, daß man nicht glauben solle, die Meisterschaft der Auslegungskunst müsse sich in neuen Auslegun36–37 Vgl. 1 Petr 3,19

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gen zeigen. Vielmehr laborirt die Auslegung des Neuen Testaments daran, daß seine Ausleger zu sehr auf neue Auslegungen ausgehen. Dieser Trieb verleitet oft zu ganz unrichtigen Resultaten. Dieß hätte freylich nicht geschehen können, wenn die Disciplin schon in vollkommener Ausbildung wäre, wodurch jeder seine Einfälle als unrichtig erkennen würde. Allein bey dem unvollkommenen Zustand ist dieser pruritus sehr nachtheilig geworden, denn das unnütze Material häuft sich dadurch ausserordentlich. Lesen wir eine Schrift die schon vielfach ausgelegt ist, so kann der eine sagen: ich will zuerst auf die andern keine Rücksicht nehmen; komme ich allein zu Stande so sehe ich nach den andern, um zu sehen, wie sie geirrt haben. Komme ich irgendwo nicht zu Stande, so ziehe ich die Erklärer zu Rathe. Der andre kann sagen: ich will gleich von Anfang alle Ausleger vergleichen, dann bekomme ich schon ohne Schwierigkeiten kurz | ein Urtheil über die Commentatoren, und dieß kann mir bey schwierigen Stellen heraushelfen. Ein solcher Gegensaz muß sich aber durch eine richtige Theorie der Hermeneutik auflösen. § . 1 4 0 . Ausser biblischer Sprachkunde, Kritik und Hermeneutik ist noch etwas hieher Gehöriges übrig, was nicht ebenso wie jene, als besondere Disciplin gefaßt ist. Man kann diesen Theil den geschichtlichen Apparat zur Erklärung des Neuen Testaments nennen. Begründet ist die Nothwendigkeit dieser Disciplin so, daß gesagt wird, jede Schrift sey ein Theil eines größeren Umfangs von Vorstellungen p. Jeder Schriftsteller empfängt seine Bildung aus dem Kreise von Vorstellungen p seiner Zeit. Bey gleichzeitigen Schriftstellern steht der Leser auch vollkommen in dieser Totalität, und trägt die Bedingungen des Verständnisses schon in sich. Denken wir einen gleichzeitigen Leser, der einer andern Sprache, also auch einer anderen Bildungssphäre angehört, so muß er um die Schrift zu verstehen, die Literatur des Fachs aus der anderen Sprache kennen. Da muß sich schon einer fragen: kannst du auch die Schrift ganz verstehen? Nun, und dann liegt ihm ob, sich dieß herbeyzuschaffen. In viel größrem Maßstabe tritt dieß ein, bey einer größren Differenz der Zeit. Unter unsern deutschen Schriftstellern, selbst von lebenden, sind manche jezt nicht mehr so verständlich als früher. Tiecks Zerbino, ein satirisches Drama, voll von Anspielungen auf Schriften und Schriftsteller nebst ihren Verhält7 Der Ausdruck „pruritus“ (ursprüngliche Bedeutung „Juckreiz“) wird metaphorisch auch als philologischer terminus technicus für die Neigung zu unbegründeten Konjekturen oder Interpretationen gebraucht; vgl. etwa die Formulierung „interpretandi pruritus“ bei Johann Jacob Zimmermann: Opuscula theologici, historici et philosophici argumenti, Bd. 2,1, Zürich 1757, S. 509. 35 Ludwig Tieck: Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack, gewissermassen eine Fortsetzung des gestiefelten Katers. Ein Spiel in sechs Aufzügen, Leipzig 1799

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nissen in der Zeit wo das Buch erschien, wird jezt schon Vielen nicht mehr verständlich seyn ohne einen Commentar. Und weiter zurück wächst diese Nothwendigkeit eines solchen Commentars. Die Bestandtheile sind: die Totalität der Vorstellungen, und der Lebensbeziehungen, d. h. der Begebenheiten des Schriftstellers wie des Publicums. Der Herausgeber eines alten Schriftstellers hat zwey Wege, wenn er nicht bey den Lesern alle diese Kenntnisse schon voraussezt, entweder er stellt dieses Alles voran, giebt ein Bild von den damals herrschenden Vorstellungen über den Gegenstand der Schrift und von den geschichtlichen lokalen Verhältnissen. Der andre Weg ist, daß er an jeder einzelnen Stelle die nöthigen Erklärungen giebt. Der Zu s a z faßt die Sache in einer allgemeinen Formel zusammen durch eine Analogie, die vielleicht nicht gleich einleuchtet. Wenn es heißt, es sey dasselbe Verhältniß zwischen einer Schrift und den einzelnen Stellen derselben, zwischen einem ganzen Zeitalter und | einer jeden Schrift aus demselben, so ist die Sache die: ein einzelner Saz in einer Schrift ist oft gar nicht zu verstehen ohne vorherige Uebersicht des Ganzen, und daher ist es eine Maxime, daß man allemal mit einer solchen Übersicht des Ganzen durch cursorisches Lesen anfange. Dadurch vergegenwärtigt sich mir die Totalität der Gedanken des Schriftstellers, und ich kann hieraus das Einzelne erklären. Das Gesammtleben, zu welchem sich eine einzelne Schrift verhält, ist immer die gesammte literarische Produktivität eines bestimmten Kreises in Beziehung auf die Schriften und von den Begebenheiten und Verhältnissen desselben Kreises. Nun ohne dieses Ganze zu kennen, kann man eine Schrift so wenig verstehen als einen einzelnen Saz ohne die Übersicht des Ganzen. § . 1 4 1 sind diese Elemente in Beziehung auf das Neue Testament genauer aufgestellt, und gesagt es gehöre dazu die Kenntniß des älteren und neueren Judenthums. Diese Ausdrücke sind hier so genommen, daß das ältere Judenthum die ganze Zeit befaßt in welcher das Alte Testament versirt, nämlich bis zur Rückkehr aus dem Exil, wo ganz neue Verhältnisse und Gedankenelemente eintreten. Nun aber geht man immer auf das Alte Testament zurück, und es war, wenn auch streng genommen, nicht mehr einzige Quelle der religiösen Vorstellungen, doch dasjenige, womit alle anderen Elemente einstimmen mußten. Nun aber so populär wie das ganze öffentliche Leben Christi war, ist offenbar, daß ohne eine Kenntniß der bestehenden Verhältnisse des Judenthums man das Neue Testament nicht verstehen kann. – Zweytens ist namhaft gemacht die Kenntniß des intellektuellen und bürgerlichen Zustands in Palästina sowol als in den Gegenden, auf welche sich NeuTestamentische Schriften beziehen. Da sie sich nun alle auf Theile des römischen Reiches beziehen, so findet

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hier eine gewisse Abgrenzung statt. Dieß leztere bezieht sich auf die Verhältnisse derer, an die diese Schriften, besonders die praktischen gerichtet waren. Nun sind im Z u s a z die Hilfsmittel an die Hand gegeben, um zum Besiz dieses geschichtlichen Apparats zu gelangen. Da steht das Alte Testament voran, und wir werden sagen: wenn auch die AltTestamentischen Bücher nicht mit den NeuTestamentischen als Bibel eins wären, so müßten sie doch allen denen, die zu einem kunstmäßigen Verständniß des Neuen Testaments gelangen wollen, immer zur Hand seyn. Dieß hat eine doppelte Beziehung, einmal die direkte Beziehung auf Stellen in AltTestamentischen Schriften, oder auf Geschichten aus dem Alten Testament. Allein dieß ist nur einzelnes; die Hauptsache ist | das Bild, welches man sich nur aus dem Alten Testament machen kann von einer uns ganz fremden Denkweise, nämlich von der theokratischen. Dieses Ineinander des Religiösen und Politischen, wer dieß nicht lebendig gefaßt hat, der wird im Neuen Testament oft falsch greifen weil der Gedanke im Neuen Testament ganz anders würde ausgedrückt worden seyn, wenn nicht die Verfasser in dieser theokratischen Richtung einheimisch wären. – Als das zweyte sind angeführt die AltTestamentischen und NeuTestamentischen Apokryphen. Die AltTestamentischen sind von größerer Wichtigkeit als die NeuTestamentischen. Denn jene sind für uns die nächste Quelle zur Kenntniß des neueren Judenthums. Sie sind wohl alle aus der Zeit nach dem Exil, und geben uns die Richtung an, welche die religiösen und moralischen Vorstellungen seit dieser Zeit genommen hatten, sie enthalten diejenigen Vorstellungen, welche als Produkte der späteren Schicksale des Volkes in das allgemeine Leben übergegangen waren. Wenn auch die NeuTestamentischen Schriftsteller diese Schriften nicht alle kannten, so sind doch die herrschenden Vorstellungen, welche sie bey ihren Lesern voraussezen, in diesen Schriften niedergelegt, und sie tragen in sich eine gewisse Vorahnung des kanonischen sowohl als apokryphischen NeuTestamentischen. – Es sind noch hinzugefügt die späteren jüdischen Schriftsteller, die talmudische und rabbinische Literatur, und dann die Geschichtsschreiber und Geografen die es mit der NeuTestamentischen Zeit und Gegend zu thun haben. Alles Frühere hat am meisten eine allgemeine Beziehung, dieses eine speciellere. Was die späteren jüdischen Schriftsteller betrifft, so müssen sie gebraucht werden – allerdings als Spätere können sie nicht unmittelbar das Frühere erläutern; aber man muß unterscheiden das Spätere sofern es wirklich erst ein später gewordenes ist, und sofern es dem Wesen nach noch dasselbige Frühere ist. Es sind in diesen späteren Schriften frühere Lehrer angeführt, und überhaupt giebt es in der jüdischen Literatur ein unveränderliches Element, näm-

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lich die παραδόσεις τῶν πατέρων. Alles Antipharisäische in den Reden Christi kann nur verstanden werden aus diesen das Ältere in sich schließenden späteren Produkten. – Wenn man nun sagt wie im Zusaz noch steht, diese Schriftsteller müssen, auch in ihrer Grundsprache, kritisch und hermeneutisch verstanden werden, so ist dieß Gegenstand der Virtuosität. Der biblische Orientalist der soll diese Schriften so behandeln, aber im Allgemeinen kann man es nicht allgemein verlangen. Hier müssen sich also die Theologen überhaupt auf die Virtuosen verlassen. | Aber jeder hat Gelegenheit, sich im Allgemeinen mit den Auszügen aus jenen Schriften bekannt zu machen, und dieß ist allgemein zu fordern. § . 1 4 2 . macht aufmerksam auf den gegenwärtigen Zustand dieser Disciplin, indem gesagt wird, es sey weder die Vollständigkeit, noch die Richtigkeit vollkommen erreicht. Ein wenig bearbeitetes Feld wird leicht Sache einzelner Liebhaberey, und dadurch der Ueberschätzung. Man will sie als ErklärungsMittel auch da gebrauchen, wo sie nicht nöthig sind. Dieß betrifft nicht nur einzelne Stellen, sondern es kann auch leicht begegnen, daß aus diesem PLectusS späterer jüdischer Schriftsteller offenbar spätere Elemente, und aus christlichem Einfluß entstandene Vorstellungen dargestellt werden als frühere, und als hätte das Christenthum sie erst aus diesen jüdischen Schriften genommen. § . 1 4 3 . ist die Folgerung gezogen, daß dieses ein Gebiet ist, in welchem noch viel zu thun ist. Da ist also nothwendig, einerseits daß sich immer noch eine Zahl von Theologen hinwenden um die PVirtuositätS des Fachs zu vergrößern, Neues zu eruiren; aber dann ist auch nothwendig, daß jeder nun auch auf die rechte Weise das Gegebene benutzen könne. Nämlich in solchen Forschungen ist allemal, je vollständiger [sie] sind, um desto leichter Richtiges von Falschem zu scheiden. Sobald noch eine Unvollständigkeit da ist, ist dieß viel schwerer, und also ist auch für den, der nicht die PVirtuositätS vermehren will, eine besondere Aufmerksamkeit nothwendig auf den richtigen Gebrauch der schon vorhandenen Hilfsmittel. Der Z u s a z weißt diesem Gegenstande noch eine andre Stellung an, indem er sagt, diese Leistungen gehen auch in die Apologetik zurück. Dieß ist nicht zu verwundern, da alle Theile der Theologie durch einander bedingt sind, und so muß auch die Apologetik einen Theil 25–26.31 PVirtuositätS] oder PVirtuosenS (vgl. Sachs 135) 1 Vgl. etwa Gal 1,14 sowie Josephus: Antiquitates XIII, 10, 6, Opera omnia ed. Oberthür, Bd. 2, Leipzig 1783, S. 318; Opera ed. Niese Antiquitates 13, 297, Bd. 3, S. 206, Z. 14

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ihrer Materialien aus den Resultaten dieser Forschungen hernehmen, wie wohl diese nur hier in ihrer Vollständigkeit aufgeführt werden können. § . 1 4 4 handelt davon, wie dieser geschichtliche Apparat bey dem gegenwärtigen Zustand der theologischen Wissenschaft vertheilt ist, indem von dem was sich zum GemeinBesiz eignet gesagt wird, es sey in drei Titel vertheilt: jüdische Alterthümer, christliche Alterthümer, und Einleitung ins Neue Testament. Der leztre Name ist eigentlich dem andern: geschichtlicher Apparat, gleichgeltend, denn jeder versteht darunter das, was gegeben seyn muß, | um dem Studium des Neuen Testaments bey zu kommen. So ist aber der Name noch weitschichtiger, denn da würden auch Sprachkunde, Kritik und Hermeneutik darunter begriffen seyn. In dieser Allgemeinheit muß man sich den Namen zuerst erklären, um zu finden, wie gerade das davon übrig geblieben ist was der Name jezt bedeutet. Nämlich es giebt einiges Allgemeine, das so vorausgegeben seyn muß, daß man denkt, es kann von einem Studium des Neuen Testaments nicht die Rede seyn ohne dieses, dazu gehören SprachKunde und Hermeneutik (welche leztre noch einen andern Ort hat, indem die Principien der Hermeneutik jedem literarischen Studium vorangehen müssen). Wenn wir nun von der NeuTestamentischen Sprachkunde das kritische PGeschäftS sondern, so kann man freylich nicht erwarten, daß sich Jemand die eigenthümliche NeuTestamentische Sprache eher aneigne, als er den Entschluß faßt sich mit dem Neuen Testament zu beschäftigen. Mit der Kritik ist es ein ähnlicher Fall. Ausser der im Allgemeinen vorauszusezenden Hermeneutik scheinen also NeuTestamentische Grammatik und Kritik in die Einleitung ins Neue Testament [zu] gehören. Beantwortet man diese Frage aus der Natur der Sache, so muß man sagen nein, sie gehören nicht dazu, sondern müssen eigene Wissenschaften bilden. Betrachtet man aber den gegebenen Zustand, so gilt es von der Kritik, daß sie immer noch in der Einleitung pflegt behandelt zu werden, weil sie noch nicht als eigene Disciplin ausgebildet ist. Aber man muß sie suchen von der Einleitung in das Neue Testament zu lösen. Die SprachKunde sieht man eher als eigene Disciplin an, aber mehr nur sofern man die griechische und hebräische Grammatik voraussezt, so daß man sich die NeuTestamentische Grammatik aus beyden construiren könne. Aber es ist noch etwas ganz andres zwey Sprachen inne haben, und ihre idiotischen Vermischungen construiren zu können; die sich hier ergebenden Vermischungen folgen nicht geradezu aus dem Begriff der Zusammenwerfung zweyer Sprachen. Zur Einleitung ins Neue Testament gehört also Alles was dem Verständniß 23 Sprache] Sprache sich

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des Neuen Testaments vorausgesezt wird, und entweder noch nicht als eigene Disciplin behandelt ist, oder sich gar nicht zu einer solchen Behandlung eignet. Daß nun die jüdischen Alterthümer zu dem geschichtlichen Apparat gehören erhellt aus §. 141. Aber nicht ebenso erhellt: wie die christlichen Alterthümer hieher gehören, als ob das Frühere aus dem Späteren sollte erklärt werden. Christliche Alterthümer sind eine Zusammenstellung aller Notizen von den ersten Zuständen der christlichen Kirche und den | ersten Anfängen der christlichen Kirche in all ihren Beziehungen, wie sie jezt noch ist. Da ist freylich der Ausdruck von weitem Umfang. Betrachten wir ein Werk wie das von Augusti, so geht das bis in ziemlich späte Zeiten herunter. Z. B. bey der Geschichte der Feste kommen solche vor die erst im MittelAlter entstanden sind. Dieß ist eine weitere Bedeutung des Ausdrucks Christliche Alterthümer, hier ist [darunter] blos verstanden eine Sammlung von Notizen über die erste christliche Kirche. Dieser unbestimmte Ausdruck begrenzt sich durch den andern: Apostolisches Zeitalter. Man kann ihn aber auch weiter fassen, und auf die Zeit beziehen vor [der] öffentlichen Anerkennung des Christenthums. Wie sich nun diese Alterthümer zur Erklärung des Neuen Testaments verhalten, so sind alle anderweitigen Notizen über den Zustand der ersten Kirche Parallelstellen zu ähnlichen im Neuen Testament, wo sich besonders in den apostolischen Briefen vieles findet, was eine Kenntniß von dem Zustand der Gemeinde voraussezt. Nach dem Zusaz wird in der Einleitung ins Neue Testament Vieles vermißt, was noch hineingehört. Dieß ist schon §. 140 angedeutet durch den Ausdruck: man müsse im Zusammenhange seyn mit dem Kreis der Vorstellungen, woraus eine Schrift hervorgegangen. Dazu enthalten allerdings die jüdischen Alterthümer zum Teil die Materialien, denn die Vorstellungen des neuern Judenthums sind ja diejenigen, auf welche [sich] die NeuTestamentischen Schriften beziehen. Allein gewöhnlich pflegen die jüdischen Alterthümer diese ideale Seite weniger zu behandeln als die reale. Wo man es noch am meisten findet, das ist in gewissen Behandlungsweisen der Dogmatik, nämlich von dem Standpunkt der Einheit der Bibel aus, wo [man] auch die Lehre 33 es] es jenes 11 Vgl. etwa Johann Christian Wilhelm Augusti: Denkwürdigkeiten aus der christlichen Archäologie mit beständiger Rücksicht auf die gegenwärtigen Bedürfnisse der christlichen Kirche, Bd. 1–12, Leipzig 1817–1831; ders.: Die christlichen Alterthümer. Ein Lehrbuch für academische Vorlesungen, Leipzig 1819 12–14 Vgl. etwa die Erläuterungen zu im Mittelalter entstandenen Apostel- und Marienfesten bei Augusti: Lehrbuch S. 129–132

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in den zwey Testamenten als Eins ansieht. Da läßt sich nun aber doch unterscheiden eine AltTestamentische und NeuTestamentische Dogmatik, und in jener eine des älteren und des neueren Judenthums. Hier müssen sich also die betreffenden religiösen und moralischen Vorstellungen finden. Die S ch l u ß § § handeln dann noch einmal theils von dem, was noch zu thun ist, theils vergleichen sie das Gefundene noch einmal mit der Grundidee der theologischen Disciplinen. Von dem ersteren handeln § . 1 4 5 u n d 4 6 , indem der erste auf den noch mangelhaften Zustand der exegetischen Theologie aufmerksam macht. Schon daraus, daß wie wir gesehen haben, einige exegetische Disciplinen erst seit kurzem wissenschaftlich behandelt werden, läßt sich | erwarten, daß die Aufgabe noch nicht völlig gelöst sey. Wenn wir betrachten, wie groß die Verschiedenheiten in der Auslegung des Neuen Testaments sind, so folgt von selbst, daß der Zustand noch nicht ist wie er seyn soll; denn wären Hermeneutik, Grammatik und geschichtlicher Apparat vollkommen vorhanden, so wäre dieß nicht möglich. Freylich ist das Neue Testament hier in einem ganz eignen Fall; weil nämlich unter den Christen eine so große Verschiedenheit der Meynung ist und doch alle aus dem Neuen Testament sich begründen wollen, so erscheint die Auslegung des Neuen Testaments als ein beständiges Gefecht verschiedener Parteyen. Nun können nicht alle Recht haben, sondern entweder nur die einen Recht und die andern Unrecht oder alle Unrecht. Wenn aber hiebey entschieden werden soll, so kann es nur durch Ausbildung jener Disciplin [geschehen]. Je klarer die hermeneutischen Grundsäze ausgebildet sind, desto mehr muß sich alles Gezwungene von selbst kenntlich machen. Weil dieß noch gar nicht so ist, so muß es mit der Ausbildung jener Disciplin noch nicht richtig stehen. Ebenso werden oft, um eine Erklärung zu begründen, ganz falsche grammatische Voraussezungen gemacht, und da ist es schon ein unvollkommener [Zustand], wenn dieß nicht gleich so auffällt, daß es keiner wagen kann. Der Zu s az macht das Zugeständniß, daß eine gewisse Unvollkommenheit der Lösung immer bleiben wird, nämlich in kritischer Hinsicht daß es gewisse Stellen gebe, wo man nicht mit Sicherheit die ursprüngliche Lesart finden kann. Dieß sind alle diejenigen Stellen, wo keine der vorhandenen Lesarten zu ertragen, und nur durch Conjecturen zu helfen ist. Die zweyte unlösbare Schwierigkeit ist eine exegetische. Ihren Grund darf diese nicht an der NeuTestamentlichen Hermeneutik liegen [haben], denn diese muß sich vollkommen klar ausbilden lassen, sondern er liegt einmal an der Unvollkommenheit der NeuTestamentischen Grammatik das Lexikalische miteingeschlos-

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sen, daß es nämlich gewisse seltene Ausdrücke giebt die sich nicht vollkommen genau umschreiben lassen; ferner liegt es an der Unvollkommenheit des geschichtlichen Apparats. Z. B. 1 Cor 15. von dem Taufen ὑπὲρ τῶν νεκρῶν ist nicht sicher zu erklären weil wir das Datum nicht kennen, worauf sich die Stelle bezieht. § . 1 4 6 ist die Art und Weise der Fortschreitung der Disciplin der exegetischen Theologie bezeichnet. Unter Hilfskenntnissen ist hier Alles das zu verstehen, was dem Geschäft der Auslegung selbst zu Hilfe kommt, also Alles was in diesem Titel behandelt worden ist. Da ist nun eine zweyfache Aufgabe. | Alle diese Disciplinen können in Beziehung auf das Material noch vervollständigt werden. Z. B. für die NeuTestamentische Grammatik sind die LXX noch nicht gehörig benutzt. Beym geschichtlichen Apparat versteht sich dieß von selbst. Die zweyte Aufgabe ist das Verwandeln der Vorarbeiten in GemeinBesiz. Hier sind wir in demselben Maße noch zurück, als die eigentlichen Disciplinen noch nicht recht bearbeitet sind. Das ist nämlich die alte philologische Praxis, daß die meisten dieser Disciplinen in einzelne Observationen sind zerstreut gewesen; erst hieraus sind diese Bemerkungen allmählig in die Grammatik gekommen, welche, als für den ersten Unterricht berechnet nur die allgemeinsten Regeln enthielt, während die feineren Observationen nur in der Erklärung der Schriftstellen selbst gegeben wurden. Jezt nun hat die griechische Grammatik schon sehr Vieles davon in sich aufgenommen, und dieß ist GemeinBesiz, denn ein solches Corpus der SprachDoctrin kann sich jeder aneignen. Wenn aber jeder an die einzelnen Observationen und Conjecturen verwiesen ist, da ist der Zeitaufwand viel zu groß. Daher ist es ganz wichtig, daß die philologischen Disciplinen aus jenem Zerstreuten Zustande vollends herauskommen müssen. Dasselbe gilt von der Kritik, welche auch noch nicht gehörig als Disciplin behandelt ist. Etwas mehr sind hier die Sachen geordnet durch die Prolegomenen der verschiedenen Editionen. Aber die Principien, welche über die Ansichten dieser Kritiker entscheiden sollen, sind noch nicht gegeben. Mit der Hermeneutik hat es dieselbe Bewandtniß, denn da steckt noch fast Alles in Observationen und auch die meisten Lehrbücher haben überwiegend diesen Charakter. Die beyden lezten §§. handeln nun von dem zweyten, was angegeben wurde, sie vergleichen nämlich das ganze exegetische Geschäft mit den zwey Grundelementen der Theologie. Der eine sagt, was würde wohl der Fall seyn, wenn das eine Element fehlte, der andre, wenn das andre Element fehlte. 4 1 Kor 15,29

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§ . 1 4 7 . Wenn das religiös christliche Interesse fehlte, so könnte die Behandlung des Kanon nur eine antichristliche seyn. Dieß ist eine Warnung vor solchen Elementen, die einen solchen antichristlichen Charakter an sich tragen. Nämlich eine Beschäftigung mit dem Neuen Testament muß denjenigen der kein Interesse am Christenthum hat, langweilen, weil seinem wissenschaftlichen Werth nach Alles viel zu unbedeutend ist. Was aber langweilt dabey bleibt man nicht. Wenn nun einer dabeybleibt ohne Interesse für das Christenthum, so muß er ein entgegengeseztes Interesse haben. Damit ist nicht gesagt, daß man solche Schriften vermeiden solle. Wenn wir zurückgehen | zu den französischen und englischen Gegnern des Christenthums so haben sie die Schwäche der damaligen Behandlungsweise des Neuen Testaments gut aufgedeckt; sie können also nüzlich werden, wenn man einmal weiß was ihr eigentliches Interesse ist, und sich so gegen die falschen Resultate zu schützen weiß. Die beyden lezten §§. enthalten eine Beziehung auf unsre theologische Literatur. Es hat seit dem vorigen Jahrhundert sich in der deutschen Kirche eine naturalistische Richtung festgesetzt, wie sie in England und Frankreich ausser der Kirche war. Die ersten Producte sind die Bahrdtschen Sachen. Nun liegt auch hier dem Irrthum eine Wahrheit zu Grunde, selbst bey den atheistischen Schriften war die richtige Polemik gegen ganz falsche Vorstellungen von Gott, und bey den antichristlichen gegen eine ganz unhaltbare Behandlungsweise der christlichen Urgeschichte. Da gebührte es nun den Theologen, das wahre vom falschen auszuscheiden, und so hätte dieß für die Theologie nüzlich werden müssen. Daß aber diese naturalistische antichristliche Richtung in der Kirche Plaz nahm, als Theil der theologischen Literatur, dieß ist eine Erscheinung, vor der man warnen muß. Wenn nämlich Christus ganz auf dieselbe Ebene mit allen andern Menschen gestellt wird, so daß jeder Richter über ihn ist, dieß ist nicht mehr das Christliche. Nun giebt es freylich eine Menge von Uebergängen, man kann z. B. in einem gewissen Sinne wohl von der Paulusschen Behandlungsweise sagen, daß ihr ein ähnliches Princip zu Grunde liegt, aber es bleibt doch ein Anhalten an Christum stehen. Aber dazwischen liegt eine große Masse von theologisch seyn wollender Literatur, in welcher dieses antichristliche Princip mehr oder minder sich zeigt. Da läßt sich nun kein andrer Kanon aufstellen, als der, wenn bey einer 20 Vgl. etwa Karl Friedrich Bahrdt: Die kleine Bibel, ehrwürdig und lesbar für Christen und Nichtchristen, hg. v. K. F. Bahrdt, Bd. 1–2, Berlin 1780; ders.: Analytische Erklärung aller Briefe der Apostel Jesu, Bd. 1–3, Berlin 1787–1789 32–33 Vgl. etwa Heinrich Eberhard Gottlob Paulus: Philologisch-kritischer und historischer Commentar über das Neue Testament, Bd. 1–4, Lübeck 1800–1804; ders.: Das Leben Jesu, als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, Bd. 1–2, Heidelberg 1828

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Schrift über den Kanon sich kein Interesse f ür das Christenthum nachweisen läßt, so muß man sich vor den Resultaten hüten, weil sie nur aus einem entgegengesetzten hervorgegangen seyn können. Ein entgegengesezter Auswuchs ist § . 1 4 8 bezeichnet. Es ist natürlich in unsrer Zeit, wo die Scheidewand zwischen Gelehrsamkeit und allgemeiner Bildung gefallen ist, daß ein Theil von jeder Wissenschaft in das gemeinsame Gebiet ist hineingezogen worden. So auch in der Theologie. Es hat immer neben der theologischen Literatur eine ascetische gegeben. In den patristischen Zeiten waren beyde bis auf einen gewissen Grad eins; die eigentlich historische Forschung besonderte sich bald, aber die dogmatische und exegetische waren so, daß das Ascetische und Wissenschaftliche eins war, auf umgekehrte Weise. Im Dogmatischen hob sich | das Wissenschaftliche aus dem Ascetischen hervor, im Exegetischen waren diejenigen die die Schrift in den Versammlungen auszulegen hatten, Wissenschaftliche, aber weil keine Differenz der Sprache vorhanden war, PsofernS in der abendländischen Kirche nicht doch Rüksicht genommen wurde, so wurde das Wissenschaftliche ascetisch. Mitten in der homiletischen Behandlung trat das Kritische und wissenschaftlich Hermeneutische hervor. Aber sobald dieser Zustand aufhörte, hat sich Beydes auch getrennt. Eine Zeit lang war das Wissenschaftliche zurückgedrängt aus Unwissenheit, sobald aber dieses aufhörte gieng auch die Unterscheidung an, und diese finden wir gleich von der Reformation an. Nun aber ist wieder eine Vermischung eingetreten, und es will Vieles sich geltend machen auf dem theologischen Gebiet, was doch nur ein ascetisch gültiges Fundament hat, nämlich das Interesse für den christlichen Glauben mit allgemeiner Mittheilungsseligkeit verbunden. Aber für das theologische Interesse gehört philologische und kritische Bildung, und es ist eine Anmaßung, wenn aus guter Meynung das Ascetische sich will geltend machen auf dem wissenschaftlichen Gebiet, und kann nur Verwirrung anrichten. Diese beyden Auswucherungen sind reine Gegensäze, daher hier zusammengestellt. Sie sind gegenwärtig beyde reich ausgebildet, und es ist von Wichtigkeit sie kenntlich zu machen. Es giebt viele Männer, die durch einen löblichen Eifer für den christlichen Glauben angetrieben worden sind, theils der Form nach wissenschaftliche Unternehmungen auszuführen theils in die wissenschaftliche Laufbahn [sich] zu werfen ohne gehörige Vorbereitung, und dieß giebt sich immer durch Akrisie kund. Ebenso auf der andern Seite kann man leicht durch den wissenschaftlichen Charakter solcher Werke irregeführt werden, bey welchen man das eigentliche Motiv nur bemerken kann 39 Akrisie: Urteils- oder Kritiklosigkeit

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durch den Gegensaz zwischen der religiösen Auffassung und einer blos fremden Behandlung des Gegenstands. In den lezteren liegt immer ein Interesse gegen das Positive des Christenthums verborgen. Es ist noch über die Methodologie des exegetischen Studiums etwas zu sagen, wie sie jezt nothwendig ist. 1) Dafür ist gesorgt, daß es nicht leicht einem Theologen an philologischen Vorkenntnissen fehlt. Freylich ist beym Anfang des academischen Studirens noch nicht Alles vorauszusezen. Aber auch auf der Universität werden K r i t i k und H e r m eneut ik als allgemeine philologische Disciplinen nicht gelehrt. Hier ist also ein Mangel. | Auch mit der besonderen theologischen Kritik und Hermeneutik ist es so, daß diese Disciplinen selten als solche vorgetragen werden. Es muß daher ein Weg des Privatstudiums gezeigt werden. Die gewöhnliche Praxis auf unseren Universitäten ist, daß diejenigen Lehrer, die sich mit der Auslegung beschäftigen, einen Cursus über das ganze Neue Testament lesen, wo diese Bücher nacheinander exegetisch behandelt werden. Dieß ist nicht nur überflüssig, sondern verderblich, weil es zu sehr von aller eigenen Thätigkeit bey Auslegungen abzieht und kaum geschehen kann, ohne ein jurare in verba magistri zur Folge zu haben. Denkt man sich nun den zwar geringen Umfang des Neuen Testaments, aber auch den hermeneutischen Zustand desselben, und die Sache soll in vier Semestern vollendet werden, so kann keine Gründlichkeit stattfinden. Man bekommt freylich einen Auszug aus den Resultaten der Exegese, aber einmal nur aus dem Standpunkt des Lehrers, und dann ist dasselbe jezt auch in Schriften zu haben. Exegetische Vorträge also, wobey wirklich interpretirt wird, können nur dann nützen, wenn sie wirklich genetisch sind, d. h. daß man die Art, wie dem Exegeten seine Ansicht entstanden ist, sieht, damit der Prozeß zur Anschauung kommt. Dieß ist der einzige Ersaz für die mangelnde Disciplin der Hermeneutik. Denn bey Darstellung jenes Processes muß auf die Principien Rücksicht genommen werden, und so wird die Exegese eine praktische Darlegung der Principien der Hermeneutik. Dabey müssen dann nicht gerade alle wirklichen, aber alle möglichen Erklärungen zur Sprache kommen. Mit der G r am m at i k sind wir seit Winer um ein Gutes weiter. Der zweckmäßige Gebrauch derselben ist aber nicht, daß man sie bey schwierigen Stellen zu Rathe zieht, sondern auch wo keine Schwierigkeit ist. In jenem Fall sucht man nur, unter welchen Ort hat der Grammatiker diese Stelle gestellt? Dieß giebt aber keine grammatische Uebersicht. 6 Der „1)“ folgt keine „2)“. 19 Vgl. oben Anm. zu 103,26–27 35 Vgl. Johann Georg Benedikt Winer: Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms als einzig sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese, Leipzig 1822

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Was die Kr i ti k anbetrifft, so ist der Fall auch der, daß die Disciplin noch nicht als solche behandelt wird. Die höhere Kritik kommt größtentheils vor in der Einleitung ins Neue Testament. Die Wortkritik scheint jezt mehr als billig vernachlässigt zu werden. Es gehört freylich im Neuen Testament eine Kenntniß der Handschriften und ihres Werthes dazu, diese sind aber immer in den Prolegomenen der kritischen Ausgaben zu finden von Wetstein, Griesbach, | und in der Abhandlung von Lachmann in den Theologischen Studien. Daraus muß sich jeder seine kritischen Ansichten bilden. Wenn nur bey einzelnen exegetischen Stellen von Wortkritik die Rede ist, so kann keiner sich ein Urtheil bilden.

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Der Zusammenhang ist dieser: auch das Kanonische in seinem historischen Zusammenhang fällt ganz der KirchenGeschichte anheim, und die exegetische Theologie hat es mit demselben nur in einer andern Beziehung zu thun. An die KirchenGeschichte schließt sich dann die Darstellung des gegenwärtigen Augenblicks an, welche dieselben Elemente enthalten muß. Also umfaßt die Kirchengeschichte zu gleicher Zeit, aber nur in andrer Form, den Stoff der exegetischen Theologie und des dritten Abschnitts, der KirchenGeschichte gehört beydes an sofern es in seiner historischen Gestalt betrachtet wird in seinem Entstandenseyn aus dem Früheren. Darauf bezieht sich auch die Erklärung § . 1 4 9 , daß die KirchenGeschichte das Wissen sey um die ganze Entwicklung des Christenthums seit es sich als geschichtliche Erscheinung festgestellt hat. Wann ist dieß? Man kann sagen, sie fängt an mit der Geburt Christi, man kann aber auch sagen: mit dem Pfingstfest. Das Christenthum als Gemeinschaft war beym Leben Christi noch nicht, das Zusammenseyn Christi mit seinen Jüngern war noch nicht das der christlichen Kirche, es hörte auch mit seinem Tode auf. § . 1 5 0 giebt die Elemente der eigentlich geschichtlichen Betrachtung an. Das eine mehr in Beziehung auf das im ersten Abschnitt behandelte, das zweyte mehr in Beziehung auf das, was wir Abschnitt drei behandeln werden. Wenn nämlich gesagt wird, jede geschichtli7 Vgl. Novum Testamentum Graecum, ed. Wettstein, Bd. 1, S. 1–222; Novum Testamentum Graece, ed. Griesbach, Bd. 1, S. I–CXXXII 8 Karl Lachmann: Rechenschaft über seine Ausgabe des Neuen Testaments, in: Theologische Studien und Kritiken 3 (1830), S. 817–845

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che Masse lasse sich betrachten als ein untrennbares Werden, so erscheint alles aus jenen ursprünglichen Äusserungen hervorgegangen; wenn wir aber sagen, jede geschichtliche Masse läßt sich betrachten als ein aus unendlich vielen Einzelheiten bestehendes, so ist dieß das Isoliren. Man kann den geschichtlichen Verlauf in jedem Moment hemmen, und dann bekommen wir den Moment in der ganzen Breite seines Gegenstandes, und dieß ist dann diejenige Behandlung wie sie im dritten Abschnitt vorkommt, eine solche kann man von jedem Moment machen. Wenn nun gesagt wird, die ächtgeschichtliche Behandlung sey das Ineinander von Beydem, so ist klar wie die eigentlich geschichtliche Betrachtung nur in einer Approximation | erreicht werden kann, denn sie besteht aus entgegengesezten Operationen, welche mit einander zu combiniren sind, was nur in einer unendlichen Reihe geschehen kann. Der Z u s a z führt dieses selbige auf eine andre Weise weiter, indem er sagt, wenn man das erste Element isolirt, so bekommt man gar keine bestimmten Thatsachen, sondern nur das Princip des Ganzen, denn das ist das Eine Seyn und Thun in seiner Beweglichkeit angeschaut; die bestimmten Thatsachen entstehen nur durch das Fixiren des Moments. Da wird nun aber im zweyten Saze des Zusazes gesagt, aus dem zweyten entstünde nur die Aufzählung der Zustände in ihrer Verschiedenheit, worinn nicht auch die Identität des bewegenden Princips liegt. Nun aber ist ein Seyn oder Thun nur dann geschichtlich dargestellt, wenn dieses Beydes dargestellt ist; denn ich habe die Thatsachen nur wenn ich den Impuls habe, und ich habe auch das Ganze nicht klar ausser wenn die Differenz der Zustände in Betracht kommt. Also ist beydes ein historisches Element, die historische Darstellung aber eine Zusammenfassung von beyden. Dieß giebt den dritten Saz des Zusazes ab in einer doppelten Form, weil sich ein absolutes Gleichgewicht zweyer Elemente nicht denken läßt, sondern nur eine verschiedene Unterordnung. Hier werden diese beyden Formen aufgestellt 1) das Zusammenfassen eines ganzen Complexes von Thatsachen in ein Bild, welches den Geist des Ganzen in seiner Beweglichkeit enthält. 2) das Auseinandertreten der Thatsachen, da dominirt das Entgegengesezte aber so, daß dadurch eben dargestellt wird das Innere. Wenn wir nun diese zwey Formen vergleichen mit dem was in der Einleitung über die verschiedene Dignität der historischen Momente gesagt ist, so ergiebt sich, daß diese verschiedene Behandlung eine Beziehung hat auf diese verschiedene Dignität. Nun ist § . 1 5 1 aufgestellt, (worauf es hier besonders ankommt als auf das eigentlich historische Element) der Begriff einer historischen Einzelheit (als Negation jener Untrennbarkeit). Eine geschichtliche Thatsache sey wird gesagt, so eine historische Einzelheit, in welcher jenes

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Äussre und Innre gleichgesezt sey. Jenes wird bezeichnet als Veränderung in dem Zugleichseyenden, d. h. der Breite des Gegenstandes, welche eine geschichtliche Einzelheit immer gewissermaßen ganz afficiren muß. Z. B. was in einer Behandlung der Dogmengeschichte eine geschichtliche Einzelheit seyn kann, ist noch keine in einer weiten Behandlung der ganzen KirchenGeschichte. In jener wird eine einzelne Lehrveränderung den | ganzen Complex der Dogmen, die ganze Breite des Gegenstandes afficiren, – aber nicht ebenso in der KirchenGeschichte. – Der innre Charakter einer solchen geschichtlichen Einzelheit muß eine Function der sich bewegenden Kraft seyn, dieß ist dasselbe was vorher der eigenthümliche Geist des Ganzen in seiner Beweglichkeit hieß. Eine Function dieser Kraft heißt ein Produkt aus ihr in etwas Anderem was PdenS Moment bestimmt, denn nur durch das reale Verhältniß der Kraft zu einem Gegebenen entwickeln sich die Thatsachen. Wenn im Z us a z wieder zurückgegangen wird auf den Begriff des Lebens, so hängt dieß zusammen mit der wissenschaftlichen Ansicht Alles Geschichtlichen, mit der Ansicht von einer moralischen Person. Die christliche Kirche ist eine solche, d. h. eine Lebenseinheit, die sich nur durch gewisse Arten zu handeln einer Menge von Individuen manifestirt. So wie nun das einzelne Leben diese Duplicität von Seele und Leib in sich trägt, so auch ein solches größeres. Da ist also die ganze Art zu Seyn der Menschen in welche dieses Princip eindringt, die leibliche Seite, und das geistige Princip selbst die Seele. § . 1 5 2 . hat es noch mit demselben zu thun, aber indem er unterscheidet die Art wie das Bewußtseyn einer Thatsache als geschichtlicher Einzelheit in der Identität des Äussern und Innern zu Stande kommt, von dem blosen Auffassen des Äussern. Hier ist nur noch etwas zu beseitigen. Wenn die geschichtliche Darstellung die Identität des Äussern und Innern ist, so könnte man sagen, diese müsse wie von dem blosen Auffassen des Äussern, so auch von dem des Innern unterschieden werden. Daß hier nicht auch von dem lezteren die Rede ist, hat darinn seinen Grund, weil das blos Innre gar kein geschichtliches Bewußtseyn giebt, und daher nicht mit der Geschichte verwechselt wird, wogegen das Äussre leicht damit verwechselt wird. Dieses blose Aneinanderreihen äusserlicher Relationen über räumliche Veränderungen ist Chronik im Gegensaz von Geschichte. – Nun wird also gesagt, dieses isolirte Auffassen des Äussern in den Thatsachen sey eine nur mechanische Verrichtung. Hier kann der Ausdruck vielleicht noch einer Erklärung zu bedürfen scheinen. Doch wissen wir recht gut, daß wir mechanisch das nennen, was unter solchen Regeln 13 PdenS] oder PderS (vgl. Sachs 145)

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steht, wo die Anwendung mit der Regel schon gegeben und identisch ist. Wo aber eine freye Thätigkeit zu Grunde liegt, da ist die Anwendung nicht mit der Regel gegeben, und dieß ist das Künstlerische in der Verrichtung im Gegensaz gegen das Mechanische. Wohlbedächtlich ist aber gesagt, es wäre eine f as t mechanische Verrichtung, denn es bleibt immer noch ein Andres darinn. Wir nehmen eine Veränderung sinnlich wahr, und dieß sinnliche Bild fixirt sich im Gedächtniß, dieses Bild können wir | reproduciren und mittheilen, entweder ganz sinnlich durch die Copie des Gegenstandes; aber es wird Niemand sagen, daß er eine Veränderung sinnlich wahrnehme, ohne diese Wahrnehmung in den Gedanken zu verwandeln, und in der Sprache festzuhalten, und so läßt sich die Sache auch in der Sprache wiedergeben. Nun läßt sich eine Reihe von geschichtlichen Einzelheiten wiedergeben durch eine Reihe von sinnlichen Bildern die nur einzelne Momente darstellen; oder in der Rede, ebenso, in der die Veränderungen einzeln unzusammenhängend nacheinander dargestellt werden, und so läßt sich Beydes auch zusammenfassen, daß man der sprachlichen Darstellung die bildliche hinzufügt, dann ist der Moment in seiner ursprünglichen Duplicität wiedergegeben. Doch ist diese Verrichtung nur fast eine mechanische, weil wenn Mehrere dasselbe wahrnehmen, weder das Bild noch die Gedanken in welche sie es fixiren, dasselbe wäre; und zwar nicht blos daß der eine Irrthümer hätte die die andern nicht, dieß wäre blos eine Ungleichheit in der Unvollkommenheit, sondern es wird auch in der Sache selbst eine geben, weil immer das Urtheil mit in die Darstellung tritt, und eine Combination darinn ist, die nicht jeder auf dieselbe Weise macht. Nur wenn alle Combination fehlte, wäre es rein mechanisch, aber dieß ist nicht möglich weil keine Darstellung denkbar ist ohne Verbindung von Mehreren. Darinn offenbart sich aber immer etwas von der Eigenthümlichkeit der Person. Dagegen ist nun aufgestellt der Begriff einer historischen Construction, wobey jeder Moment in der Auffassung wird von dem in allen Momenten Identischen, nämlich dem Innern, und dem wodurch jeder Moment ein andres wird, nämlich dem Äussern, und nur in dieser Verknüpfung ist die geschichtliche Darstellung, wobey ich also immer denke dasselbige Innre hat früher ein andres Äussre hervorgebracht und wird später ein andres hervorbringen, aber immer dasselbe seyn. In dem Maße als auch das Innre ein andres geworden wäre, müßten die Momente voneinander getrennt werden. Nun wird also gesagt, diese Construction sey im Vergleich mit jener fast nur mechanischen Auffassung eine freye geistige Thätigkeit. Was nun im Zusaz von der Thatsache gesagt ist, ist oben schon vom Auf32 wird] wird wird

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fassen der blos räumlichen Veränderung gesagt, um das Fast zu erklären. Aber jenes ist oben ein als Minimum verschwindendes und erst hier tritt diese Verschiedenheit als das Charakteristische hervor. | Hier eine Anwendung die ein großer Sprung ist. Die christliche Kirche ist jezt getrennt in eine Menge von Gemeinschaften. Jede hat ihre eigne Dogmatik das ist natürlich, ebenso, daß in jeder auch eine andre Praxis von Schriftauslegung muß herrschend seyn; wenn aber gefragt wird: muß nicht die geschichtliche Anschauung ganz dieselbe seyn, ob einer Protestant oder Katholik ist, weil es ja hier nur auf die Thatsache ankommt, welche nur auf Eine Weise gewesen ist, so kann allerdings diese Forderung ausgesprochen werden; aber in der Wirklichkeit wird Niemand zweyfeln, daß eine katholische und protestantische Kirchengeschichtsdarstellung wird sich immer auf den ersten Blick unterscheiden lassen. Aber allerdings diese Differenz sollte nicht festgehalten werden wollen, weil dann die Thatsachen nie in ihrer Wahrheit herauskommen können. § . 1 5 3 . Hier wird gesagt, was von den geschichtlichen Elementen blos der Chronik angehöre, nämlich wenn blos wiedergegeben wird, was an einem gewissen Ort, zu einer gewissen Zeit geschehen ist. Eine solche Behandlung, wird gesagt, könnte kein theologisches Element seyn, denn in der blosen Aneinanderreihung von Thatsachen ist keine Beziehung auf die Kirchenleitung, die Begebenheiten können gar nicht in Beziehung auf die Kirche charakterisirt werden. § . 1 5 4 wird aber doch dergleichen Elementen eine Stelle angewiesen, der Stätigkeit wegen, nämlich daß keine Zeit als eine blose Lücke erscheine. Im Zusaze ist ein einzelner Punkt der Sache festgehalten, der aber hier der vorherrschende ist, z. B. der Wechsel der Personen. Wenn z. B. die Reihe der Päbste aufgeführt wird, so ist dieß Gegenstand der Chronik. Von mehreren einzelnen dieser Männer wird in einer allgemeinen Darstellung nichts zu sagen seyn, aber doch muß irgendwo die Reihenfolge ihren Plaz haben, um die Continuität nicht aufzuheben. Das kann in einer allgemeinen Darstellung parenthetisch geschehen, und dann tritt das Chronikalische wenig hervor. Es kann geschehen, daß man dergleichen von dem Andern sonderte, und in eine tabellarische Form bringt, ohne daß es den Zusammenhang der Untersuchung stört. Aber allerdings bringt die Vollständigkeit der Geschichte diese Continuität mit sich. § . 1 5 5 Hier ist die geschichtliche Auffassung als Talent betrachtet. Dieser § hat schon den Grund in dem Unterschied zwischen allgemeiner Kenntniß und Virtuosität. Je mehr ein specielles Talent bey irgend einem wissenschaftlichen Stoffe nothwendig ist, um desto we10 kann] kann man

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niger kann er von Jedem gefordert werden. Nun allerdings so wie fest steht: etwas gehört wesentlich in den Cyclus der theologischen Disciplinen, erfordert aber ein besonderes Talent, so darf keiner ohne dieses Talent Theologie studiren. – Nun wird also hier gefragt, wiefern ist geschichtliche Auffassung (nicht Darstellung) Sache des besonderen Talents? Ohne diese Gabe kann Niemand eine geschichtliche Darstellung recht gebrauchen. | Nun wird hier von dieser geschichtlichen Auffassung gesagt, sie sey allerdings ein Talent, aber das sich in jedem entwickle, nur in verschiedenen Graden. Das Maximum dieser Entwicklung ist derjenige Grad von Auffassungsgabe, wodurch einer in Stand gesezt wird, auch eine historische Darstellung zu geben; das Minimum ist das, wodurch einer in Stand gesezt wird, das Objective aus einer geschichtlichen Darstellung herauszufinden. – Es wird nun zweytens gesagt die mechanische Fertigkeit der äusserlichen Auffassung des Geschichtlichen sey doch für dieses Talent unentbehrlich. Nämlich dahin gehört die Auffassung des äusserlichen historischen Stoffes, und die mechanische Fertigkeit ist das Gedächtniß besonders für Namen und Zahlen. Allerdings kann man sich denken eine geschichtliche Auffassung von einer großen Klarheit ohne eine Spur von Zahlengedächtniß, auch ohne Namengedächtniß, wenn nur das Bild, welches dann die Stelle des Namens vertritt, ein recht klar hervortretendes, und das Zeitbild statt der Zahl ein gehörig bestimmtes ist. D. h. es kann für den theologischen Zweck der KirchenGeschichte PvielleichtS entbehrlich seyn, von den einzelnen Begebenheiten die JahresZahl zu wissen, wenn ich nur ihre Ordnung richtig bestimmen kann, und sagen: Dieß ist geschehen vor jenem und nach diesem, und zwar so, daß dieses und jenes noch dazwischengetreten ist. Ebenso wenn ich mir deutlich bewußt bin dessen, was eine Person in einem bestimmten Wirkungskreis gethan hat, und aus welchen Verhältnissen dieses hervorgegangen ist, so ist der Name etwas Gleichgültiges. Insofern erscheint also allerdings die blos mechanische Fertigkeit als eine entbehrliche. Aber dabey müssen doch die räumlichen Veränderungen klar im Gedächtniß festgehalten werden, und nur jene äusserlichste Seite ist entbehrlich, denn ohne Festhalten des äusseren Zusammenhangs sind auch die innern Verhältnisse nicht zu erkennen. Indessen ist immer ein gänzlicher Mangel jenes Mechanischen ein großer Mangel, weil alle geschichtliche Mittheilung und Gebrauch der Hilfsmittel darauf beruht. – Was nun aber zuerst über die geschichtliche Auffassung gesagt [wurde,] war daß sie ein Talent sey, welches sich in Jedem durch sein eigenes geschichtliches Leben entwickle. Das geschichtliche 7 gebrauchen.] gebrauchen,

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Talent ist in einem weiteren Umfang das, was wir Menschenkenntniß nennen, nämlich das Talent, Motive pp festzuhalten. In weiterem Sinn ist das Wort hier zu nehmen, weil wir es in der Geschichte nicht blos mit einzelnen Personen zu thun haben. In Jedem entwickelt sich dieses Talent, in seinem eigenen Geschichtlichen Leben. Es giebt aber Menschen, die kein eigenes geschichtliches Leben haben, weil sie um den innren Zusammenhang dessen wozu sie äusserlich mitwirken, nicht wissen. Aber alle, welche nicht ein blos mechanisches Leben haben, sondern eine wirkliche Praxis, haben ein geschichtliches Leben.| Was den Grad betrifft, so ist im Zu s a z auf die Hemmung dieses Talents hingewiesen, besonders auf das selbstische Interesse als persönliches und Parteywesen. Dieses hindert immer sich recht in die Stelle der Andern zu versezen, und dann kann man auch nicht in den Zusammenhang ihres Handelns sich versezen, und ohne dieß ist keine geschichtliche Auffassung möglich. Man hat neuerdings oft den Saz aufgestellt, und er leidet auch seine Beziehung [sowohl] auf das wissenschaftliche als das politische Gebiet, – es gebe Zeiten, wo es nicht erlaubt sey unparteyisch zu seyn. Bey diesem Saze liegt ein ungeheures Mißverständniß zu Grunde. Allerdings giebt es Zeiten, wo es keinem erlaubt ist gleichgültig zu seyn in Beziehung auf das Gegeneinandertreten der Parteyen, aber dieß ist etwas andres als Partey zu nehmen. Wer zu vermitteln sucht nimmt nicht Partey, ist aber auch nicht gleichgültig, sondern verrichtet in einem solchen Zustand wesentliche Functionen, ohne welche Alles auseinandergehen würde. Muß jeder Parteynehmen, so kommt eben dieses Zerreißen heraus. Ganz ohne Gegensäze ist ein GemeinWesen nie. Da kommt es darauf an, diese Gegensäze richtig zu taxiren, und zur rechten Zeit gegen die Zerreißung zu wirken. Sind alle in das Parteywesen verflochten, so wird Niemand da seyn, der auf diese Beschränkung der Gegensäze arbeitet. Also jenem Saze darf man keinen Raum geben, sondern in der christlichen Kirche ist das Parteywesen immer ein Krankhaftes, denn man gebraucht den Ausdruck nur, wenn die Gegensäze bis zu einem drohenden Grad sich entwickelt haben. – Nun ist aber dieß nicht das Einzige, worauf die verschiedenen Entwicklungsgrade des Talents beruhen. Sondern es giebt Menschen, die mehr in sich, andre die mehr ausser sich gekehrt sind, in jenen ist das Talent der geschichtlichen Auffassung weniger entwickelt. Wenn nun aber alle theologischen Disciplinen ihre Abzweckung in der Kirchenleitung haben, so kann sich keiner mit dem Insichgekehrtseyn entschuldigen, denn um an der Kirchenleitung Theil zu nehmen, muß er sich schon ausser sich wenden. 5 aber] Aber

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Also keinem Theologen können wir jenes Talent im minimum erlassen, aber keineswegs haben wir das maximum zu fordern. § . 1 5 6 . Ist die Rede von der Erwerbung des geschichtlichen Stoffes. Da werden unmittelbare und mittelbare Erwerbung unterschieden. Die erste ist die Erwerbung dessen, was ich selbst erlebe, aber so, daß ich zu einer geschichtlichen Auffassung geschickt bin. Daher gehört schon eine gewisse Position dazu, um was geschieht geschichtlich aufzufassen, daher haben wir uns also überwiegend an die mittelbare Erwerbung zu halten, weil jene Position wenige haben. Der § handelt also nur von dieser und gebraucht den Ausdruck unmittelbar in einem anderen Sinn, nämlich vom Schöpfen | aus den Quellen. Dieses hat am meisten Ähnlichkeit mit dem Erwerben aus den Quellen, aber ist eben deßwegen nur Wenigen zugänglich. Auch kann es leicht von dem eigentlich Geschichtlichen zum blos Gedächtnißmäßigen hinausgehen. Hier wird nun aber gleich gesagt es sey nicht möglich, das Mittelbare, nämlich geschichtliche Darstellungen ganz zu entbehren. Jeder sollte also eigentlich auf die Quellen ausgehen, aber man reicht damit, wird gesagt, nicht aus. Dieses hängt ab von der Bedeutung des Ausdrucks Quellen. § . 1 5 7 . Geschichtliche Quellen sind nur PDenkmaleS und Urkunden, welche ein Theil der Thatsache selbst sind. Z. B. der Löwe auf dem Wahlplaze der Schlacht von Belle alliance ist ein Denkmal, ein Zeugniß für die Thatsache und ein Theil derselben. Sofern nun dieser noch etwas Näheres von der Thatsache darstellte, so wäre er eine Urkunde. Sind nun schriftliche Dokumente über die Thatsache damit verbunden, so ist es eine Quelle im vollständigen Sinn. Im Zusaz wird gesagt, daß geschichtliche Darstellungen von Augenzeugen nur Quellen im weiteren Sinne seyen. Man pflegt einen solchen Schriftsteller allerdings eine Quelle zu nennen, aber in seiner geschichtlichen Darstellung liegt schon auch seine Auffassung, diese gehört aber nicht zur Thatsache. Ein bloser Chronikschreiber, wenn er nur Selbsterlebtes berichtet, ist mehr im engeren Sinn Quelle. Der Geschichtsschreiber 4 unmittelbare und mittelbare] mittelbare und unmittelbare 12–13 den Quellen] Kj (auch Sachs 150) dem Selbsterlebten 20 PDenkmaleS] oder PDenkmälerS (vgl. Sachs 150) 21–22 Im Jahre 1826 ließ Wilhelm I. von Oranien (1772–1843) bei Waterloo auf einem 40 m hohen aufgeschütteten Hügel eine 28 Tonnen schwere Löwenstatue errichten, die der Legende nach aus den von den Franzosen auf dem Schlachtfeld zurückgelassenen Waffen gegossen sein soll. Zum Ausdruck „Wahlplatz“ vgl. Adelung: „der Ort, wo ein Treffen oder Gefecht vorgefallen ist, die Wahlstatt, und von einer Schlacht, das Schlachtfeld. Wahl ist in dieser Zusammensetzung das alte Wort Wal, welches sowohl Gefecht, als auch einen todten Körper, eine Leiche, bedeutete.“ (Wörterbuch Bd. 4, Sp. 1340)

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ist eine reichere Quelle, aber eine nicht mehr ganz reine. Abstrahiren wir also von dem was schon geschichtliche Darstellung ist, so bleibt nur das im § angegebene als Quelle im engeren Sinn. Wären wir nun auf Quellen in diesem Sinn beschränkt, so würden wir wenig eigentliche Geschichte haben, sondern da sind die Berichte derer, die die Thatsachen miterlebt haben nothwendig dazuzunehmen. – Hier giebt es aber manchfache Uebergänge. Z. B. Briefe von mithandelnden Personen sind Theile der Begebenheiten, also Quellen. Sie können aber zugleich auch geschichtliche Darstellung enthalten, und insofern ist die Ansicht des Briefstellers von den Thatsachen schon mit darinn, weil der Brief immer eine Darstellung der Persönlichkeit ist. Denken wir z. B. briefliche Darstellungen eines Streites so sind diese als Thatsachen allerdings Quellen, aber sofern sie Beschreibungen enthalten, sind sie nur mit Vorsicht zu gebrauchen. Daraus ist zu erklären, was im Z us a z steht, daß geschichtliche Darstellungen von Augenzeugen um so mehr Quellen seyen je mehr sie sich der Chronik nähern. Nun ist das Chronikalische vorher sehr unterschieden worden von der historischen Construction. Aber eben was ich als Quelle benütze ist vor meiner historischen Construction vorausgegeben, und die beste Quelle ist das, woraus die historische Construction am sichersten hervorgeht. | Wenn einer in einem Briefe Thatsachen erzählt, bey denen er kein besonderes Interesse hat, so theilt er sie mehr chronikalisch mit, und ich kann sie besser gebrauchen, als wenn er sie aus einem bestimmten Gesichtspunkt erzählt. Wenn also die christliche Kirche im Streit liegt, und alle Schriftsteller daran theilnehmen, so werden sie alle nicht geradezu zu gebrauchen seyn. Derjenige aber welcher ausser den Parteyen stand, wird gewiß am Meisten nach Art der Chronik erzählen. § . 1 5 8 . wird nun gesagt, auf welche Weise aus geschichtlichen Darstellungen zu einer geschichtlichen Auffassung zu gelangen sey: nämlich nur durch Ausscheidung dessen, was von dem Schriftsteller hineingetragen ist. Hier wird dieß als etwas, was sich von selbst versteht, angesehen. Es giebt nämlich keine Erzählung, in welcher nicht Elemente eines Urtheils sind. Das Hineingetragene braucht nicht etwas Falsches zu seyn; aber indem ich mir den geschichtlichen Stoff aneignen will, so muß mein Urtheil mein Eigenes seyn und nicht das eines Andern. Wenn ich also das Urtheil des Schriftstellers ausgeschieden habe und nun selbst urtheile, so kann ich wohl auch zu demselben Urtheil kommen. – Wenn also diese Ausscheidung eine nothwendige Operation ist, wodurch ist sie bedingt? Das Leichteste ist, wenn man mehrere Darstellungen von abweichenden Gesichtspunkten verglei9 Darstellung] so Nachschrift Anonymus S. 127; Nachschrift Strauß Thatsachen

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chen kann, denn da stellt sich das Gemeinsame als das Objective heraus, und nun kann man sehr leicht ermessen, wie der eine dazu kam, das Gesehene so zu deuten, und der Andre anders, wodurch zugleich die Einsicht in das Eigenthümliche der verschiedenen Darsteller erleichtert wird, so daß wenn man später mit einem Autor nicht denselben Vergleich anstellen kann, dennoch seine Eigenthümlichkeit kennt, und die reine Thatsache leichter ausscheiden kann. – Es giebt also keine geschichtliche Aneignung ohne Kritik, diese aber ist am leichtesten zu üben wenn man verschiedene Relationen vergleichen kann. Nun kann es freylich Fälle geben, wo die geschichtliche Darstellung viel Hineingetragenes enthält, wo man aber keine Darstellung vom entgegengesezten Standpunkt hat. Dieß ist in der christlichen Kirche natürlich besonders der Fall. Wenn gewisse Äusserungen für häretisch erklärt wurden, so kamen auch die Darstellungen aus diesem Gesichtspunkt aus dem kirchlichen PUmlaufS heraus und beschränkten sich auf die PHäresienS. Mit diesen aber ist auch ihre Literatur untergegangen. In solchen Fällen gilt es also ganz vorzüglich, daß wer eine reine Geschichte bekommen will, sich selbst auf den entgegengesezten Standpunkt stellt und fragt: wie wird dieser das Factum beurtheilt haben? Dann erst ist eine solche Vergleichung möglich.| § . 1 5 9 behandelt in Ansehung der geschichtlichen Auffassung die andre Seite, indem er auf §. 150 zurückgeht, wo von zweierley geschichtlicher Auffassung die Rede war, a) als Zusammengeseztes aus einzelnen Momenten, damit hatten wir es bisher zu thun, und b) als innre Einheit. Nun ist also die Rede davon, wodurch man dazu gelange, eine Reihe äussrer Zustände als Bild des Innern zu erkennen. Dieß wird im Zusaz das Höchste der historischen Auffassung genannt. Es ist also leichter, eine Reihe äussrer Thatsachen kritisch aufzufassen, als in ihr das Innre zu erblicken. Wofern und wo ist nun dieses nothwendig? Gehen wir auf die Einleitung zurück, wo gesagt ist, wie die Einheit selbst ein in sich selbst zu theilendes ist, und die Thatsachen selten das Ganze, sondern nur bestimmte Seiten desselben betreffen (z. B. Begebenheiten betreffen das christliche Leben der Gesellschaft, andre die Lehre) so ist doch beydes in Beziehung auf einander zu betrachten, wie nämlich die Lehre sich so entwickeln mußte, weil die Gesellschaft sich so entwickelte und umgekehrt. Nur so bekommen wir ein Bild des Innern in seiner Einheit und Totalität. Alles Andre ist nur eine Abstraction von diesem, ein Theil, wobey man das andre bey Seite läßt. Nun aber kann nichts vollkommen verstanden 16 PHäresienS] oder PHäretikerS 30–34 Vgl. KD² § 90 (KGA I/6, S. 360,29–361,5)

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werden, was nur ein Theil ist, ohne die andern Theile, und so muß man also von jedem Punkt aus auf diese Zusammenfassung zurückgehen. In der geschichtlichen Darstellung kommen solche Zusammenfassungen verschiedentlich vor. Einmal in der Form besondrer geschichtlicher Aufgaben, wenn einer einen besonders merkwürdigen Zeitpunkt in der Beziehung aller seiner Momente darstellt. Dieß ist dann allerdings eine der schwierigsten Leistungen der geschichtlichen Darstellung. Ebenso müssen aber dergleichen vorkommen in jedem GeschichtsWerk wenigstens am Ende der einzelnen Perioden, denn da will man von dem Getheilten zur Einheit zurückkehren. Nun aber für die geschichtliche Auffassung muß jeder beständig dadurch die Probe machen für die Richtigkeit der getheilten Wahrnehmung, daß man sich fragt: hast du nun eine richtige Vorstellung von dem ganzen Zeitraum? Nur so wird die geschichtliche Auffassung lebendig und abgeschlossen. – Damit ist die elementarische Betrachtung vollendet, und vom folgenden §. geht die Construction der KirchenGeschichte im weiteren Sinne an bis zum §. 183. Es ist zu erinnern, daß durch diesen Ausdruck der Gegenstand dieses zweyten Abschnitts umfasst wird, der geschichtliche Verlauf als solcher, abgesehen von der Zusammenfassung des gegenwärtigen Zustands, und von der Betrachtung des UrChristenthums in kanonischer Beziehung, aber doch so, daß beyde Epochen | nur in andrer Beziehung auch in die KirchenGeschichte fallen. § . 1 6 0 ist die Kirchengeschichte noch einmal in ihrer theologischen Stellung gegeben, um von da ihre Construction zu finden. Die Kirchengeschichtliche Betrachtung hat eine Beziehung auf die Kirchenleitung dadurch, daß indem ich die Vergangenheit betrachte, ich finden muß, was wirklich ein Produkt des christlichen Princips ist, und das Krankhafte, also das Beizubehaltende und das Auszuscheidende. Hierauf ist Bezug genommen, aber es ist dem aus der eigenthümlichen Kraft des Christenthums Hervorgegangenen ausser dem aus Unchristlichem Herkommenden auch das entgegengesezt was in der Beschaffenheit der Organe liegt. Wenn wir das christliche Princip in seiner reinen Innerlichkeit auffassen, wie es in Christo ursprünglich war, und wie es in dem geschichtlichen Verlauf das Wirken des göttlichen Geistes ist, so ist es ein sich selbst gleichbleibendes, das allerdings seine verschiedenen Functionen hat, aber in seiner Wirksamkeit keinem Wechsel unterworfen ist. Wenn wir nun sagen wollten: daher hat nun alles Wechselnde seinen Grund in fremden Principien: so wäre dieß ein bedeutender Irrthum. Sondern nun müssen wir das hinzunehmen: das Seyn, worinn sich die Wirksamkeit des Princips manifestirt, 11 Probe] Probe zu

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und da bekommen wir die geistige Natur des Menschen, wie sie ein manchfaltiges in sich ist. Daher ist hier die Manchfaltigkeit durch die Beschaffenheit des Seyns der menschlichen Natur bedingt, und dieß ist der beständige aber manchfaltige Coefficient zur Einheit des göttlichen Princips, und dieser bringt eine Manchfaltigkeit in die Erscheinung, welche man nicht als Krankheit ansehen kann. Der hauptsächlichste Unterschied ist angedeutet dadurch, daß der Ausdruk Organ gebraucht ist, während bey Fremdartigem der Ausdruck Princip gebraucht ist. Zu der geistigen Natur z. B. gehört das Streben nach dem bürgerlichen Zustand. Denken wir uns also[:] das Christenthum findet die Menschen in einem bestimmten bürgerlichen Zustand, so wird sich die christliche Gesellschaft nach der Verschiedenheit des bürgerlichen Zustandes verschieden gestalten. So war in der Reformationsgeschichte einerseits der Einfluß einer republikanischen Form, auf der andern [Seite] der Einfluß einer monarchischen, und brachte verschiedene Gestaltungen der Kirche hervor. Hier ist jenes Element als ein Organ wirksam geworden, und sofern das Organ nur durch das christliche Princip bestimmt wurde, so sind sie beyde untadelhaft. Aber wenn sich nun umgekehrt das bürgerliche Princip der Kirche als eines Organs bedient: so ist das dann die Einwirkung eines fremden Princips, denn da ist jenes politische Element nicht mehr Organ, sondern will sich zum Princip machen – und dieß ist ein Krankhaftes. Nun ist es sehr wichtig, daß man die Differenzen, die in dem geistigen Organ gegründet sind, wohl | unterscheide von solchen, die von einem fremden Princip herrühren. Diese Unterscheidung nun ist die unmittelbare Abzweckung der KirchenGeschichte auf die KirchenLeitung. Der Zu s az hat es mit einer verkehrten Art zu thun, wie sich in der Behandlung der KirchenGeschichte diese unmittelbare Abzwekkung kund gegeben hat, indem man in der unmittelbaren Darstellung voneinander sonderte in günstige und ungünstige Ereignisse, res secundae und adversae. So in vielen Darstellungen bis gegen das Ende des vorigen Seculum. Die res secundae sind die beyzubehaltenden Elemente p. Aber der wissenschaftliche Geist ist dabey noch auf einer sehr untergeordneten Stuffe, es wird dadurch aller geschichtliche Zusammenhang zerstört, denn günstige und ungünstige Ereignisse sind immer durch einander bedingt. Nun kommt es darauf an, eine richtige Art zu finden, wie dieses Ganze getheilt werden kann, weil es sonst ein Unendliches Unübersehbares wäre. Da ist 25 Princip] Princips

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§ . 1 6 1 . zuerst die Rede von der Eintheilung der Breite, indem man die verschiedenen Functionen des christlichen Princips von einander sondert, und jede für sich in ihrem Verlauf betrachtet. Dieß ist die Art wie sich die Sachen tabellarisch darstellen. Dieß ist ein allgemeines Princip, und so ist es in dem Z us a z dargestellt. § . 1 6 2 . Macht nun aufmerksam darauf, daß diese Theilung für sich allein etwas Unvollständiges ist, weil man gänzlich sondert, was nur relativ gesondert werden kann. Es muß also etwas andres geschehen um diesen Mangel als Complement aufzuheben. § . 1 6 3 Dieß ist die Combination von fortlaufender Erzählung einzelner Fäden mit zusammenfassenden Durchschnitten. Dieß gilt von jeder geschichtlichen Darstellung. Denkt man sich eine vereinzelte Geschichte der allmähligen Verbreitung des Christenthums, neben dieser eine Geschichte der kirchlichen Verfassung, neben dieser eine Geschichte des öffentlichen kirchlichen Lebens, neben dieser eine Geschichte der kirchlichen Lehre, so hat man die gesonderte Darstellung der einzelnen Functionen desselben Princips. Offenbar aber kann keine für sich verstanden werden ohne Bezugnahme auf die andern; alle zusammen aber so vereinzelt geben doch kein vollständiges Bild, weil nur im Einzelnen eine Beziehung gemacht wird, aber nicht Alles zusammengefaßt. Nun kann aber nicht von all diesen Gegenständen immer zusammen die Rede seyn, sondern die Erzählung wird bald an diesem bald an jenem fortschreiten, und von dem einen zu dem andern übergehen. Aber auch durch dieses Uebergehen wird kein klareres Bild des Ganzen gewonnen, sondern nur wenn zu diesen wechselnden Darstellungen das Besondere hinzutritt, das Aufstellen eines zusammenfassenden Bildes, wenn auch nur in einzelnen Momenten. | Und zwar müssen diese zweierley Behandlungsarten, Besonderung und Zusammenfassung, vielfach combinirt werden. Hier ist eigentlich nicht von geschichtlicher Darstellung, sondern nur von geschichtlicher Auffassung die Rede, eine geschichtliche Darstellung kann diese Combinationen nicht allseitig geben. Was hier gemeynt ist, ist dieses, daß aus dem Studium eines einzelnen Geschichtswerkes, welches die Combination nur einseitig leistet, die Übersicht nicht gewonnen werden kann, sondern nur durch Vereinigung verschiedener solcher Darstellungen. Schon daran ist genug um zu sehen: Dieß kann nicht jeder in demselben Maße, und wer die Kirchengeschichte nicht ex professo studirt, kann dieß nur mit einer gewissen Beschränkung leisten. § . 1 6 4 . Wird gesagt unter welchen Bedingungen und wie diese zwey VerfahrungsArten verknüpft werden können. Man muß sich hier das Schema einer Tabelle als Grundlage denken, nach welcher der Gegenstand hier behandelt wird, so daß die verschiedenen Functionen des christlichen Princips die verschiedenen Rubriken bilden. Je

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mehr nun die verschiedenen Functionen zerspalten werden, d. h. je mehr nebeneinanderstehende Rubriken man bekommt z. B. die Lehre getheilt in christliche Glaubens- und Sittenlehre, um desto kürzer ist der Zeitraum, in welchem man die Gegenstände so gesondert verfolgen kann, und man muß schneller wieder einen zusammenfassenden Durchschnitt geben. Umgekehrt je weniger man Rubriken macht, desto länger kann der Zeitraum seyn. Leztres ist mehr ein großartiges Verfahren, das erste mehr ein mikrologisches, wo man aber eben deßwegen sich die Gegenstände in ihrem Zusammenhang vorstellen muß, sonst geräth man ganz in eine äusserliche Behandlung der Einzelheiten. Daraus folgt für die Methode, daß derjenige, welcher eine Virtuosität beabsichtigt, mehr in dieß Zerspalten hineinkommt; wer dieß nicht will, der bleibt beym Massenwesen und hütet sich vor dem Eingehen ins Einzelne, weil er sich sonst nur die Gleichmäßigkeit des geschichtlichen Bildes verwirrt. Daraus folgt ferner, daß das historische Studium anfangen muß mit dem Auffassen großer Massen, um eine Uebersicht zu gewinnen. Der Z u s az bringt nur den §. auf eine kürzere Formel, denn unter Perioden versteht man eben den Verlauf der einzelnen Functionen. Die Perioden müssen also desto kleiner seyn, je mehr die Functionen getheilt sind und umgekehrt. § . 1 6 5 bezieht sich auf das schon in der Einleitung über Periode und Epoche gesagte. Denn solche Punkte wo die Erzählung innehält weil sie solche sind, wo die Sonderung sich nicht mehr halten läßt, was besonders bey revolutionären Punkten stattfindet, sind Epochen. Diese können aber auch ohne diesen äussere, | blos eine Sache der Noth seyn. Aber der geschichtliche Darsteller soll sich nicht in den Fall sezen solche willkührliche Punkte nöthig zu haben, sondern den Gegenstand so theilen, daß er nur natürliche Epochen bekommt. Daraus geht schon hervor, daß die EpochenPunkte nicht von gleicher Wichtigkeit sind. Wenn die Geschichte einer Periode besonders behandelt wird, so kann man mehr ins Einzelne gehen, es müssen also in der Periode selbst wieder Epochen gesezt werden, die für das Ganze nicht von derselben Wichtigkeit sind. Dieß sind untergeordnete Epochen. Welches sind nun die wichtigsten Epochen? Die Antwort geht über das Gebiet der KirchenGeschichte hinaus. Dieß ist aber auch ganz natürlich. Denn wenn wir die Geschichte der Menschheit im Ganzen betrachten, so ist die Geschichte des Christenthums ein einzel7 der] die 26 diesen] zu ergänzen dem Sinn nach: „revolutionären Punkt, also nur“ (vgl. Birkner bei Sachs 156) 22–23 Vgl. KD² §§ 71–73 (KGA I/6, S. 354,3–355,12)

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ner Zweig, sie steht also in demselben Verhältniß wie die Behandlung einer einzelnen Periode steht zu der Behandlung des ganzen Verlaufs, und wie die Behandlung einer einzelnen Function zu der Behandlung der ganzen Kraft. Als Theil der allgemeinen WeltGeschichte müssen also auch die Epochen der WeltGeschichte in ihr vorkommen, und diese, weil sie aus dem Ganzen hervorgehen[,] müssen auch der KirchenGeschichte die wichtigsten seyn. Die Punkte z. B., wo die welthistorischen Völker wechseln, sind für die ganze WeltGeschichte von Bedeutung, z. B. das ZuEndegehen des römischen Reiches, wozu dann die Entwicklung des europäischen Staatensystems gehört. Diese zwey Punkte liegen aber weit auseinander, und dazwischen liegt eine Zeit des Durcheinanderrennens der Völker aber dieß ist auch keine eigentliche Geschichte, diese geht erst mit dem Werden der europäischen Staaten an. Demnach ist in der WeltGeschichte dieß nur als EpochenPunkt zusammenzufassen, während es in der specielleren KirchenGeschichte als Periode behandelt werden muß. Diejenigen EpochenPunkte, die in der allgemeinen WeltGeschichte bedeutend sind, müssen ebenfalls in einer speciellen Geschichte bedeutend seyn, wogegen diejenigen unbedeutend sind, welche nur in der speciellen Geschichte Epochen sind. So ist die Reformation zusammenhängend mit [der] Entdeckung Amerikas, Erfindung der Buchdruckerkunst eine solche allgemeine Epoche. § . 1 6 6 . Nun wird die Aufgabe, das Ganze dieses Verlaufs in seine wesentlichen Functionen zu theilen, wirklich gelöst. Am wesentlichsten trennt sich die Bildung der Lehre in der christlichen Kirche von der Gestaltung des gemeinsamen Lebens in derselben. Der Zusammenhang liegt in dem schon von vorn herein gesagten über die Natur des christlichen Princips, daß sich nämlich die christliche Frömmigkeit überwiegend in Gedanken ausspricht, aber zugleich wesentlich ein Gemeinschaft bildendes ist. Durch diese individuelle Natur des christlichen Princips ist die Eintheilung gegeben, | wie sie seit ausführlicherer Bearbeitung der Kirchengeschichte allgemein gilt. Für den christlichen Lehrstand mußte von Anfang an die Bildung der Lehre eine besondere Disciplin werden. Denken wir uns dagegen die Regierung der Kirche, wenn auch in denselben Personen vereinigt welche zugleich Lehrer sind, so ist für diese Function die Geschichte der christlichen Gesellschaft eine nothwendige Kenntniß. An dieser doppelten Geschäftsverwaltung in der christlichen Kirche theilt sich auch die geschichtliche Betrachtung, woran man die Beziehung auf die Kirchenleitung sieht. Der Zu s a z thut die Richtigkeit dieser Theilung von einem andern Gesichtspunkt aus dar. Fragt man, wie soll ich einen Gegenstand theilen der Breite nach so ist acht zu geben, was einen besonderen ge-

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schichtlichen Lauf für sich hat, d. h. was sich bewegt, wenn ein andres stillsteht, oder was sich schnell bewegt während das Andre langsam. Hieraus müsse für jeden geschichtlichen Stoff der TheilungsGrund genommen werden, und so auch für den unsern. Denn hier sind große Lehrentwicklungen unabhängig von großen Gesellschaftsentwicklungen, ausgenommen solche EpochenPunkte wie die Reformation. § . 1 6 7 . betrachtet in Beziehung auf diese zwey Functionen dasjenige, was § 160 als das erste Glied des zweyten Sazes aufgestellt ist, nämlich die Beschaffenheit der in Bewegung gesezten Organe, durch welche die aus der eigenthümlichen Kraft des Christenthums hervorgehenden Veränderungen motivirt werden. Die Lehrveränderung wird vorzüglich mitbedingt durch den wissenschaftlichen Zustand, dieß ist das Organ, denn das christliche Princip in Beziehung auf die Lehre wirkt auf das Denkvermögen. Vorzüglich wird hervorgehoben die Beziehung auf die herrschenden Philosopheme. Die christliche SittenLehre muß afficirt werden durch den Zustand des wissenschaftlichen Denkens über das menschliche Leben überhaupt, und ebenso ist der Zusammenhang der GlaubensLehre mit der Metaphysik oder speculativen Philosophie unleugbar, und so sind die Veränderungen auf kirchlichem Gebiet bedingt durch die Zustände, diese sind der individuelle Coefficient. Ebenso wird gesagt, daß die Veränderung auf Seiten des kirchlichen Lebens vorzüglich mitbestimmt wird durch den übrigen Zustand der menschlichen Gesellschaft, besonders das politische [Leben]. Auf dieser Seite verhält es sich ganz wie auf der vorigen. Wenn wir uns nun im Voraus denken, daß die angehenden Theologen mit ihrer geschichtlichen Auffassung an geschichtliche Darstellungen gewiesen sind, und nicht alles aus Quellen schöpfen können, so liegt hierin ein Maßstab für den Werth der geschichtlichen Darstellung. Wenn man nicht in der KirchenGeschichte die Bekanntschaft des Verfassers sieht mit dem ganzen geselligen Zustand einer Zeit, und in der Dogmengeschichte die Bekanntschaft mit dem wissenschaftlichen Zustand einer Zeit, so kann man keine richtige Anschauung | von der Entwicklung des kirchlichen Lebens aus ihm schöpfen. Um so mehr sich eine geschichtliche Darstellung dem Chronikartigen nähert, desto weniger wird sie dieser Forderung entsprechen. Der Zusa z bringt im ersten Saze in Erinnerung, daß dieses Mitbestimmtwerden der geschichtlichen Ereignisse durch gegebene Zustände nicht an und für sich schon etwas Krankhaftes ist, denn es könnte gar keine Wirksamkeit des christlichen Princips geben, das nicht ein Produkt wäre in dem GesamtZustand – sonst müßte sich das christliche Princip ganz isoliren. Es ist schon eine Formel angegeben zur Unterscheidung des 39 das] wohl zu korrigieren in die (vgl. Sachs 158)

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Natürlichen und Krankhaften auf diesem Gebiet, s. zu §. 160. – Der zweyte Saz verfolgt dieses weiter in Beziehung auf die Theilung der Geschichte der Länge nach und sagt, daß was in dem gesammten wissenschaftlichen Zustand eine Epoche machte, das muß auch eine Epoche machen in der Geschichte der christlichen Lehre, und ebenso das Gesellige. Wenn wir z. B. denken an den Verfall der scholastischen Philosophie, so ist dieß etwas blos Negatives, welches keinen bestimmten Punkt hervortreten läßt. So wie wir uns aber denken eine andre Methode an die Stelle tretend, so muß dieß auch einen Einfluß haben auf die Behandlung der christlichen Lehre, welche bis dahin scholastisch behandelt wurde. In all solchen Ereignissen giebt es aber immer Reaktionen, und so werden wir sagen, dieses Antischolastische war das Hauptsächliche des Einflusses der Reformation auf die Behandlung der Lehre, – aber es ist bald wieder eine scholastische Reaktion eingetreten. § . 1 6 8 . Handelt wieder von einer der zwey HauptMassen in Beziehung auf ihre weitere Theilung, indem er in der Geschichte der christlichen Gesellschaft unterscheidet [die] Geschichte des Cultus und die Geschichte der Sitte. Diese zwey Begriffe sind hier aufgestellt, der erste als ein besonderer, der zweyte als ein allgemeiner. Der Cultus nämlich ist die Art, das religiöse Bewußtseyn in Circulation zu sezen. Darinn giebt es aufeinander folgende Differenzen, und darum handelt es sich hier. – Sitte ist eine in einer Gesellschaft geltende Art und Weise, etwas zu verrichten, es sey was es sey. Nun mußte das Christenthum eine eigenthümliche Art und Weise in das Leben bringen, wozu auch Ausschließung und neue Hervorbringung mehrerer Elemente gehört. – Daß sich nun dieses Beydes von einander trennen läßt, so daß die Veränderungen in beyder Beziehung nicht gleichmäßig sind, dieß ist klar, weil der Cultus etwas Specielles ist, die Sitte aber das ganze Leben umfaßt, und also nur durch allgemeinere Veränderungen sich verwandelt. In dem Z u s az wird das Specielle, wovon der Cultus abhängt, als das Gebiet der Kunst bezeichnet. Rede, Musik und Gesang und symbolische | Handlungen sind die Elemente des Cultus, und alles dieses sind Elemente von Künsten. Nun was von den Elementen gilt, muß, nur in einem andern Sinn, auch vom Ganzen gelten; denn werden die Elemente kunstsinnig gefaßt, so muß von Anfang auch in der Zusammenstellung eine künstlerische Richtung zu Grund gelegen haben. – Von der Sitte wird gesagt daß ihre Veränderungen zusammenhängen mit dem geselligen Leben überhaupt. Da ist schon klar, daß große Veränderungen in dem Gesammtzustand des geselligen Lebens vorgehen können, ehe sie einen Einfluß auf das Kunstgebiet

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üben; ebenso können neue Kunstmethoden aufkommen, ohne Einfluß auf das gesellige Leben. Indem wir nun hier die HauptTheilung gemacht haben in Geschichte der Gesellschaft und Geschichte der Lehre, auch die erstere wieder getheilt haben, so kann schon anticipirt werden die Theilung der Geschichte der Lehre in die Geschichte der Dogmen und der SittenLehre. Nun soll dadurch nicht vorgeschrieben seyn, daß in geschichtlichen Darstellungen zum Behuf der Auffassung diese Massen beständig müßten gesondert bleiben. Die Differenzen sind hier lediglich gestellt für die geschichtliche Auffassung; der geschichtlichen Darstellung haben wir hier keine Geseze zu geben. Die geschichtlichen Darstellungen sind größtentheils von der Art, daß sie das zu Sondernde nicht auf gleichmäßige Weise vortragen, – sondern bald sondern sie, bald combiniren sie, sie fahren eine Zeit lang an einem einzelnen Faden fort, dann fassen sie wieder zusammen. Wir haben freylich besondere Behandlungen der Geschichte der Lehre; aber da verhält es sich ebenso mit der weiteren Theilung, und so auch auf dem Gebiete der KirchenGeschichte im engern Sinn, auch diese wechseln und müssen wechseln. Aber wer sich eine Auffassung bilden will, der muß diese Differenzen immer im Sinn behalten, und denken jezt erfährst du darüber etwas, und darüber nichts, du mußt also dieß anderswo ermitteln. § . 1 6 9 . wird wieder des mitbestimmenden äusserlichen Coefficienten gedacht. Der jedesmalige Kunstzustand einer Gesammtheit bestimmt die Entwicklung des Cultus. In einem unmusicalischen Volke wird das musikalische Element im Cultus zurücktreten, bis sich dieser Kunstzustand ändert. Denkt man sich nun, daß in einer Gesellschaft, wenn das öffentliche Leben darinn ganz aufhört, die kunstmäßige Behandlung der Rede kann mehr oder weniger verloren gehen, dann wird auch die Rede im Cultus zurücktreten. Hier ist aber nicht nur die Beschaffenheit der in einer Gesellschaft vorhandenen DarstellungsMittel angegeben, sondern auch ihre Vertheilung. Da kann es nämlich Classen in der Gesellschaft geben, in welchen | noch viel Sinn ist für gewisse Kunstdarstellungen, während er andern Classen ganz fehlt. In solchen Zeiten ist es schwierig den Cultus einzurichten, weil es nicht zweierley Cultus geben kann. Dann kommt es noch vorzüglich darauf an, aus welchen Theilen der Gesellschaft diejenigen hervorgehen, welche den Cultus versehen. – Ganz analog ist die Entwicklung der christlichen Sitte abhängig sowohl von der Beschaffenheit als von dem VertheilungsZustand der geistigen Kräfte in einer Gesellschaft. Unter Sitte begreifen wir oft Vieles, was rein als Äusserliches 14 fahren] fährt

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erscheint, und da scheint von geistigen Kräften nichts dabey zu seyn. Allein auch das Äusserliche entsteht immer aus einem Innerlichen, und kann nur aus diesem verstanden werden. Also werden wir hier immer auf die geistige Entwicklung zurückgehen müssen. Bedenken wir, daß Vieles von diesem Äusserlichen auf dem EntwicklungsZustand des Schönheitssinns beruht, so werden wir nicht leugnen können, daß hiebey ein geistiges Motiv ist. Im zweyten Saz des Zusazes heißt es, in dem Zustand der geistigen Kräfte liegen alle Motive deren sich die religiöse Gesinnung bemächtigen kann, – als ManifestationsMittel und als Mittel der Wirksamkeit auf andre. In etwas worinn gar nichts Geistiges wäre, könnte sich auch die religiöse Gesinnung gar nicht manifestiren, aber auf alles Geistige äussert sie ihren Einfluß, und ebenso in Beziehung auf die eigentlich praktische Wirksamkeit. § . 1 7 0 . betrachtet diese zwey Massen, Cultus und Sitte, in Beziehung auf die Differenzen der Bewegung. Die Sache ist hier aus dem Gesichtspunkt aufgefaßt: gebe es keine Differenzen der Bewegung beyder, so könnte man sie auch nicht trennen. Aber es muß doch auch wieder diese Bewegungsdifferenz ihre Grenze haben, sonst könnten beyde auch nicht zusammengehen. Wenn die Differenz zu groß ist, so ist eine Corruption in einem von beyden vorgegangen, und durch eine solche zu große Differenz gewinnt der Cultus das Ansehen leerer Gebräuche; oder die Sitte gewinnt das Ansehen, ein Ergebniß fremder Motive geworden zu seyn. D. h. In Beziehung auf den Cultus ist dieß ein Bekanntes, daß geklagt worden ist, z. B. in der Reformation, daß er ausgeartet sey in eine Sammlung von Äusseren Verrichtungen, die nichts Innres mehr anregten. Dieß kommt daher, daß dasjenige, worauf die Elemente des Cultus beruhen, als DarstellungsMittel aus dem GemeindeGebiet verschwunden war. Dieses kam daher, daß der Cultus stillstand, während in der Entwicklung der geistigen Kräfte große Veränderungen vorgegangen waren. Sobald diese Veränderung so groß ist, | daß der Cultus seine Bedeutung verliert, ohne daß doch ein Impuls entsteht, ihn zu ändern, – so ist dieß ein Zustand von Corruption. Ist die Ruhe des einen Elements in dem christlichen Princip gegründet, so ist die Bewegung des andern von einem fremdartigen Princip veranlaßt, und ebenso, ist die Bewegung des einen durch das christliche Princip bedingt, so ist die Ruhe des andern eine Abgestorbenheit. Dieses nun läßt sich nur so erklären, wie im Zusaz geschehen, daß eine Ungleichmäßigkeit in den Gliedern der Gemeinschaft seyn muß, daß es an der Einheit in der Gemeinde fehlt. Die Richtigkeit der Beurtheilung liegt darinn, zu erkennen, ob die Ruhe des einen oder die Bewegung des andern im christlichen Princip begründet sey; bey

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einer so großen Differenz in der Gemeinde aber wird auch dieses Urtheil sehr verschieden seyn. § . 1 7 1 . stellt den Gegensaz auf zwischen plözlicher und allmähliger Veränderung, indem er sagt, die plözliche wäre immer wieder Reactionen ausgesezt, wogegen die langsamere Veränderung als gleichmäßiger fortschreitend erscheine, und mehr aus dem innren Grund hervorgehe. Dieß als ein allgemeines Urtheil ausgesprochen, daß langsame Veränderungen gründlicher sind, so scheint dieß sehr gegen die Reformation zu sprechen weil diese als plözliche Veränderung dann auch eine oberflächliche seyn müßte. Andrerseits kann man sagen, es seyen schon vorher so viele Ansäze zur Reformation gemacht worden, die aber allemal Reactionen erfahren hätten, die Reformation sey also als ein Glied einer Reihe keine plözliche Veränderung, sondern ein Resultat, wodurch sich sowohl die Bewegung als die Reaction fixirt habe. Hätte sie die Reaction ganz aufheben wollen, und den Katholizismus ganz in sich aufnehmen, so hätte sie noch mehr als Resultat sich darstellen müssen, und wäre dann noch gründlicher gewesen. Der Z u s a z stellt als Corollarium auf, daß immer solche plözlichen Veränderungen die Epochenpunkte bilden; je mehr aber eine solche Reactionen erfährt, desto weniger hat sie ein Recht, so angesehen zu werden. Wenn die Reaction gegen die Reformation überall so kräftig ausgefallen wäre, wie an einzelnen Orten, so würden die Reactionen die Veränderung auf Null gebracht haben, und dann könnte die Reformation nicht mehr als Epoche gesezt werden, um so weniger je schneller die Reaction überwogen hätte. § . 1 7 2 enthält eine Cautel in Beziehung auf die geschichtlichen Darstellungen. In solchen kann die langsamere Veränderung nicht Schritt um Schritt verfolgt werden, sondern nur an gewissen Punkten zusammengefaßt. Da muß also die geschichtliche Auffassung das Resultat zurückführen auf die frühere Periode. Ist nun die geschichtliche Darstellung gut, so wird sie, wie der Zus a z sagt, nur an solchen Punkten, wo der Erfolg | eine geschichtliche Wirkung hat, die bis dahin geschehene Veränderung bemerklich machen, und solche Punkte haben dann eine untergeordnete Ähnlichkeit mit den Epochen. § . 1 7 3 werden zusammengefaßt die Erfordernisse der geschichtlichen Auffassung. Nach Anleitung von § 160 sind hier zweierley Verhältnisse zu beobachten, 1) das Verhältniß des christlichen Impulses zu denjenigen gesellschaftlichen Zuständen, durch welche die Beschaffenheit der Organe bedingt ist, dieß wird hier die sittliche und künstlerische Constitution der Gesellschaft genannt. Das künstlerische bezieht sich auf den Cultus, das sittliche auf die Sitte. 2) das zweyte Verhältniß ist der Gegensaz zwischen dem was als ein Gesundes auf einen christlichen Impuls zurückgeführt werden kann, und demjeni-

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gen was als ein Krankhaftes, als Gegenwirkung fremder Principien anzusehen ist. Wenn wir die Beziehung der KirchenGeschichte auf die Kirchenleitung hier wieder uns vor Augen stellen, so ist es das lezte Verhältniß was unmittelbar darüber belehrt, was in dem gegenwärtigen Zustand beybehalten oder ausgemerzt werden muß. Das erste Verhältniß giebt die richtige Anschauung davon was und wie etwas in einem gewissen Zustand der Gesellschaft erreicht werden kann oder nicht, denn dieß hängt von der Beschaffenheit der Organe ab. Von § . 1 7 4 tritt ein Element als ein besonderes auf, welches bisher latitirte. Wir theilten die KirchenGeschichte in Geschichte der Gesellschaft und der Lehre, und jene in Geschichte des Cultus und der Sitte. Nun tritt hier die kirchliche Verfassung auf aber nicht als neues Theilungsglied, sondern subsumirt unter die Sitte. Dieß ist ein rein protestantischer Saz. Vermittelt ist er durch den Saz, daß es in unsrer Kirche der Verfassung an aller äussrer Sanction fehle. Diese ist es, die einer Verfassung den gesezlichen Charakter giebt; so wie sie diesen nicht hat, so ist sie ein eben so Freywilliges wie alles was in die Sitte fällt, und ebendenselben Veränderungen unterworfen. Unter äussrer Sanction wird verstanden wenn mit Handlungen bestimmte Folgen verbunden werden können, die den Charakter eines Zwangs haben. Dergleichen kennen wir in der evangelischen Kirche gar nicht. Es hat wohl Zeiten und Gegenden gegeben, wo ein KirchenBann in der evangelischen Kirche exercirt wurde, und dieser scheint eine Analogie mit äussrer Sanction zu haben; wenn einem nämlich gesagt wird: wenn du dieß thust oder nicht thust so sehen wir dich nicht mehr als Glied unsrer kirchlichen Gesellschaft an, so scheint hierinn ein Zwang zu liegen. Allein einestheils wurde dieß nie als allgemeines Princip der evangelischen Kirche ausgesprochen, es könnte sich nur auf einzelne Regionen erstrecken, da es in der protestantischen Kirche | keine allgemeine Behörde giebt. Jeder Ausgeschlossene an einem Ort kann sich an einen andern Ort wenden. Aber in der katholischen Kirche hat auch schon dieser Bann den Charakter der äusserlichen Sanction, weil es hier eine allgemeine Einheit giebt, denn wenn der Pabst einen ausgeschlossen hat, so ist der Christ in der ganzen Kirche ausgeschlossen. Dieß ist aber nicht das einzige in der katholischen Kirche, sondern sie hat auch einen Einfluß auf die bürgerliche Auctorität, eben vermöge jenes Bannrechts. Und so giebt es Fälle in der Geschichte, daß die Päbste den Obrigkeiten befahlen was sie thun sollten, und gesagt haben, wenn ihr dieß nicht thut, so schließen wir euch aus der Gemeinschaft der Christen aus, und diese werden euch dann nicht mehr folgen. Die Vollkommenheit der evangelischen Kirche besteht nun in dieser gänzlichen Trennung des geistlichen und weltlichen Armes, so daß sich weder die geistliche Gewalt einer weltlichen anmaßen, noch

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auch die weltliche Gewalt eine Befugniß in geistlichen Dingen haben sollte. Damit hat die evangelische Kirche den Anspruch auf äussre Sanction ihrer Verfassung aufgegeben, und so ist die kirchliche Verfassung nur ein Theil der kirchlichen Observanz, d. h. wir halten das so auf eine übereinstimmende Weise aus gemeinschaftlicher Ueberzeugung. Hat einer eine andre Ueberzeugung, so hält er es anders, verbreitet er seine Ueberzeugung, so ändert sich die Observanz. – Dieses einzelne Element der Verfassung ist aber überall von vorzüglichem Einfluß gewesen auf die Gestaltung der geschichtlichen Darstellung, und dieß wird in den zwey folgenden §§. erklärt. Der Hauptsaz des § . 1 7 5 bezieht sich auf ein Früheres daß nämlich die bedeutendsten Epochen der Kirchengeschichte diejenigen sind, welche zugleich Epoche machen in der übrigen Geschichte. Solche Veränderungen nun die mit der übrigen Geschichte zusammenhängen, werden sich besonders in der kirchlichen Verfassung offenbaren. Dieß erklärt sich leicht, wenn man sich die kirchliche Verfassung als Sitte denkt. Denn nehmen wir die bürgerliche Verfassung, welche nicht als Sitte gedacht werden kann, und fragen: ist es wohl leicht zu denken, daß in einem monarchischen Staate sollten republikanische Sitten in Beziehung auf die Kirche einheimisch seyn? so wird dieß verneint werden müssen. Denn da die kirchliche Verfassung in ihrer Manchfaltigkeit etwas nicht Wesentliches ist, so muß sie sich dem analog gestalten, was in anderer Beziehung einen festen Halt hat, und wenn ein Gegensaz damit stattfindet, so giebt es immer besondre Erklärungsgründe. Gehen wir nun davon aus und sagen: in der allgemeinen Geschichte sind dieß die wichtigsten Epochen die dem ganzen bürgerlichen Leben eine andre Gestalt geben, so werden diese einen besonderen Einfluß äussern auf die Verfassung der Kirche. | Ein besonderer Grund ist im Z u s az aufgestellt. Schon in Beziehung auf die kirchliche Sitte [hat] man gesagt, daß die politischen Verhältnisse meistentheils Organ derselben wären, so wie der ganze gesellige Zustand, und nun braucht man nur zu sagen: die Verfassung ist gerade derjenige Theil der christlichen Sitte, der am meisten mit dem bürgerlichen Leben zusammenhängt. Darinn ist nun das gegründet was § . 1 7 6 gesagt wird, daß die kirchliche Verfassung in der geschichtlichen Darstellung die Hauptlinie bildet, auf welcher die Epochenpunkte eingetragen werden. Eine welthistorische Begebenheit ist z. B. die Zerstörung des römischen Reiches verbunden mit der Völkerwanderung. Nun ist offenbar, daß durch diese Veränderungen eine ganz andre kirchliche Existenz entstehen mußte. Von dieser Zeit an 16 denkt] denken

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entsteht ein Conflict zwischen der nationalen Manchfaltigkeit der Kirchen und der Einheit, die in der alten kirchlichen Auktorität lag. Das war also ein Punkt in der Geschichte der kirchlichen Verfassung. Dieser nun eine solche Geltung in der Geschichte zu geben, kann nur gerechtfertigt werden durch ihr Verhältniß zu den andern wesentlichen Momenten der KirchenGeschichte, und dieß ist im Zusa z geschehen. Hier ist dargestellt der Einfluß der kirchlichen Verfassung auf den Cultus einerseits und auf die Sitte andrerseits. Daß sie einen bedeutenden Einfluß auf den Cultus haben muß, dieß ist klar. Denn denken wir uns die Kirche sehr zerspalten, so wird die Veränderlichkeit des Cultus viel größer seyn als wenn wir uns denken die Kirche in einer verfassungsmäßigen Einheit, weil doch der Cultus vorzugsweise von der KirchenLeitung ausgeht. Daher in der abendländischen Kirche die Tendenz zu der Einheit der KirchenVerfassung immer zunächst die Richtung nahm auf die Einheit des Cultus. Nun was die Sitte betrifft, so ist offenbar in materieller Hinsicht, daß diese durch die Verfassung in höherem Grade modificirt wird. In einer Demokratie müssen ganz andre Sitten seyn als in einem aristokratischen oder monarchischen Staat. Aber die Sitte des ganzen gesellschaftlichen Lebens hat auch einen Einfluß auf die kirchliche Sitte, und umgekehrt. Hat die Verfassung der Kirche keine äusseren Sanctionen, so hat sie ihren Halt blos in der Sitte, und wenn diese durch bürgerliche Revolutionen sich ändert, wird sich auch die Verfassung ändern. Nun ist noch ein dritter Punkt PhervorgehobenS. Bey der großen Analogie und Verbindung der kirchlichen Gemeinschaft mit der bürgerlichen ist ein wichtiger Theil der geschichtlichen Auffassung in Beziehung auf die KirchenGeschichte im weitesten Sinne das Verhältniß, welches zwischen der religiösen und bürgerlichen Gemeinschaft stattfindet, und dieses ist am anschaulichsten an der kirchlichen Verfassung, diese ist die Scala, woran | sich jenes Verhältniß messen läßt. So ist es sehr mit Recht geschehen, daß überall die kirchliche Verfassung der HauptPunkt geworden ist, an welchen sich alle andern anschließen, und auf welchen in Bestimmung der Epochen und Perioden ganz vorzüglich Rücksicht genommen worden ist. Vo n § . 1 7 7 – 1 8 3 wird von der Dogmengeschichte gehandelt. Hier ist zunächst der äusserliche Coëfficient aufgestellt, nämlich das Bestreben, den Ausdruck für das christliche GlaubensBewußtseyn übereinstimmend festzustellen. Dieß ist mehr das wissenschaftliche Interesse. Das andre ist das christlich religiöse. Denken wir an die apostolische Verkündigung, so finden wir hier freylich Alles concentrirt 22–23 Revolutionen] Revoll Sachs 165)

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auf den HauptPunkt des Christenthums, aber wo einmal Gemeinden gestiftet waren finden wir schon in den ApostelBriefen ein Eingehen auf verschiedene einzelne Fragen. Hier gieng also schon die eine Lehre von der Sendung Christi in PverschiedeneS Punkten auseinander. Nun ist offenbar daß für denselben Gedanken oder dieselbe Gemüthsstimmung eine Manchfaltigkeit des Ausdrucks möglich [ist], und hier ist also eine Quelle von Differenzen. Ebenso ist klar, daß wenn wir das apostolische Gebiet verlassen, schon zu ihrer Zeit verschiedene Meynungen über verschiedene Gegenstände unter den Christen herrschen. So finden wir eine Differenz zwischen Juden[-] und HeidenChristen gegeben, da kommt es also darauf an, das eine festzustellen, das Andre auszumerzen, und dieß ist in diesem Fall durch eine Entscheidung der christlichen Muttergemeinde geschehen. Nun dieß ist der eine Factor in der Entwicklung des Lehrbegriffs, daß über Einzelnes können verschiedne Meynungen bestehen, wenn sie aufeinandertreffen, muß die Differenz ausgeglichen werden, entweder durch Feststellung der einen und Widerlegung der Andern, oder durch Freystellung verschiedener Meynungen als verträglich mit dem Wesen des Christenthums. – Das andre Element aber in der Entwicklung ist nun dieses hier auseinandergesezte, nämlich unter Voraussezung der Identität der Lehre auch den Ausdruck so zu bestimmen, daß er nicht mehr Quelle von Differenzen werden kann; dann aber auch in Beziehung auf verschiedene Lehren die Zusammenstimmung zu zeigen, so daß dieß aus dem Ausdruck sogleich erhellen muß. Das erste nun was in dem §. gesagt ist, dieß ist das christliche Princip selbst in seiner Beweglichkeit gedacht; denn daß dieses immer mehr auf die verschiedenen Punkte [sich] richten müsse, und so die Lehre sich vermanchfaltige, das geht rein von innen aus. Nun ist im Zusa z gesagt, daß beyde Richtungen sich aufheben, indem die eine, die lezte nach aussen gehe, die andre, die erste nach innen. Das erste nämlich ist die VerVollständigung des Bewußtseyns selbst, das andre seine Mittheilung. | Die Fortschritte in beyden Richtungen fallen der Zeit nach auseinander, wenn die eine Richtung dominirt, so tritt die Andre zurück. Daraus ist die Folgerung gezogen, daß verschiedene Zeiten sich durch das Uebergewicht der einen und andern Richtung unterscheiden. Überall muß die Richtung nach Innen die erste seyn, aber man kann sie doch nicht ohne die andre denken. Das patristische Zeitalter ist das der Entwicklung christlichen Bewußtseyns, in welchem allmählig alle einzelnen Lehren zur Erscheinung kamen, und das christliche Princip sich seines ganzen Stoffes bewußt wurde. Aber deßwegen war doch auch hier schon das Bestreben, den Ausdruck didaktisch zu schärfen und 4 PverschiedeneS] oder PverschiedenenS (vgl. Sachs 165)

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die Congruenz zu Bewußtseyn zu bringen. Das scholastische Zeitalter, in dem ist die leztere Richtung dominirend, der Lehrbegriff wurde als gegeben schon vorausgesezt, und die Scholastiker wollten nur theils comparativ prüfen, ob die einzelnen Positionen auch zusammenstimmten, um den Widerspruch zu beseitigen, theils jedes einzelne Dogma prüfen, ob es nicht noch Differenzen in sich trage, d. h. ob der Ausdruck nicht noch ungenau sey. Da dominirt also offenbar die Richtung nach aussen. Nun war auch dieses gerade das Zeitalter, wo die logische Richtung auf die christliche Lehre gleichsam ex professo angewandt wurde. Aber offenbar wenn nun Disharmonien einzelner Säze aufgestellt wurden, so mußten sie doch gelöst werden, und ebenso wenn Ungenauigkeit gefunden wurde. Dieß war nun immer auch zugleich mit der Richtung nach Innen verbunden, aber diese war nicht Princip, sondern nur Resultat. – Dasselbe gilt auch in allen Zeiten von der Differenz der einzelnen Personen, daß einige überwiegend in der Richtung nach innen versirt haben, andre mehr nach aussen. In dieser Differenz ist also zugleich aufgestellt der verschiedene Charakter verschiedener Perioden, und dieß wird § . 1 7 8 weiter auseinandergesezt, wo die Aufgabe gestellt wird, die Ordnung in der Entwicklung der Lehre und in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Lehrbegriffs aus dem eigenthümlichen Wesen des Christenthums zu erklären. Warum dieß eine Aufgabe ist, sagt der Z u s a z . Nämlich, wenn diese Ordnung schlechthin zufällig und gleichgültig wäre, nur durch äussre Umstände bedingt, so könnte jene Aufgabe nicht gestellt werden. Aber jenes ist eben nach dem Zusaz nicht der Fall, sondern es giebt eine natürliche Ordnung. Sezen wir das christliche Princip als Eines, so werden wir sagen müssen: was als Einzelheit im Lehrbegriff ein minimum ist, | steht in entfernterem Verhältniß zu jener Einheit als was als Einzelheit als eine bedeutende Größe erscheint, es wäre also widernatürlich, wenn sich die entfernter liegenden Punkte zuerst entwickelt hätten. Bedenken wir, daß das Christenthum monotheistisch ist, und doch in Christo eine göttliche Dignität anerkennt, so mußte dieß zuerst entwickelt werden. Dieß gehört aber nicht mehr in das apostolische κήρυγμα, sondern erst in die Zeit als christliche Gemeinden schon bestanden. Ferner indem das Christenthum eine sittliche Religion ist im Gegensaz gegen eine NaturReligion, so mußte ein ebenso bedeutender Punkt seyn das Verhältniß der Wirksamkeit Christi zur menschlichen, freien Wirksamkeit, und dieß war dann auch der Punkt, der zunächst auf jenen in der Entwicklung folgte. Also in Beziehung auf diese großen HauptPunkte läßt sich allerdings die Entwicklung der Sache begreifen, und dieses 38 Christi] Christi, und

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Begreifen der geschichtlichen Entwicklung in ihren innren Gründen ist das Wesen der geschichtlichen Auffassung. § . 1 7 9 ist eine Vertheidigung des Vorigen gegen eine sehr gewöhnliche Meynung. Nämlich es ist ein Räsonnement was man häufig in Kirchen und Dogmengeschichten findet, daß man weit mehr die Art wie die Resultate hervorgetreten sind, aus einzelnen Persönlichkeiten begreifen will. Z. B. sagt man: wenn Arius und Athanasius nicht wären in einem Verhältniß der Eifersucht gewesen, so wäre der ganze Streit über das Verhältniß des Höheren in Christo zu seiner menschlichen Natur nicht entstanden, und wenn sich nachher nicht einflußreiche Personen in die Sache gemischt hätten, so würde sie wohl auch ganz anders entschieden worden seyn als so. Nun die erste Erklärung ist eine vollkommen falsche, denn dieser Gegenstand mußte durchaus zur Sprache kommen, es konnte auf die Länge keine genaue Erklärung über dieses wesentliche Stück geben, ohne eine solche Bestimmung. Auch daß dieser Streit gerade von Alexandria ausgegangen, lag darinn, daß in Alexandria die dialektische Richtung ausgebildet war. Daß es aber gerade diese Personen waren, dieß liegt freylich an diesen Personen. – Wenn man aber weiter sagt: wenn sich nicht diese Kaiser p eingemischt hätten, so wäre etwas Andres herausgekommen, dieß ist nicht mehr in demselben Grade unwahr, aber bezeichnet auch einen krankhaften Zustand. Bedenkt man, wie abwechselnd die arianische und athanasianische Lehre die Oberhand hatten, so deutet auch dieser Wechsel auf einen krankhaften Zustand, und hier sind wir auf einem Gebiet, wo Fremdartiger Einfluß sich einmischte. Aber daß doch | die Athanasianische die Oberhand behalten mußte, ist wieder aus der Natur der Sache zu erklären, weil sich mit der arianischen Lehre das wahrhafte Menschseyn in Christo nicht verträgt, was dem GemeinGefühl der Christen widerspricht. So wie dieß zu Bewußtseyn gekommen wäre, so wäre diese Lehre auch gewiß ebenso ausgeschlossen worden, wie es in der That früher auf andre Weise geschah. Dieser § sagt also aus, daß ein bedeutender Einfluß von ausserkirchlichen und persönlichen Momenten allemal auf einen krankhaften Zustand deutet. Dieß sind also die zwey entgegengesezten Punkte: was sich aus dem christlichen Princip begreifen läßt, ist das Gesunde, was aber nur aus einem Einfluß fremdartiger Principien, das ist das Krankhafte. § . 1 8 0 betrachtet denselben Gegenstand, die geschichtliche Auffassung nämlich, in Beziehung auf den Gegensaz zwischen dem Kanonischen und dem Späteren. Auch dieses Zurückgehen auf das Kanonische ist natürlich, sobald Differenzen entstanden. Dieß erhellt recht aus der Geschichte des Kanon. Da ist immer die Frage: was sind die Bücher, aus welchen die bewährtesten Lehrer Zeugnisse entlehnt ha-

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ben? Da wird also auch vorausgesezt, daß die Äusserungen des christlichen Princips in jener ersten Zeit die reinsten waren. Bey jeder Differenz also mußte sich das Bestreben entwickeln, zurückzugehen auf die Zeiten, wo diese Differenz noch nicht war, – auf das UrChristenthum. Das zweyte ist ein ebensolches in Beziehung auf den wissenschaftlichen Coëffizienten, nämlich zu zeigen in Beziehung auf den bedenklichen Ausdruck, daß er zusammenstimme mit den Säzen, die die Richtigkeit des Denkens aussagen, entweder blos formal oder logisch, oder in Beziehung auf das Seyn, also metaphysisch. Dieß ist etwas andres [als] christliche Lehren philosophisch deduciren zu wollen. Hier ist nur von dem Ausdrucke die Rede, der offenbar einer Zurückführung auf das Wissenschaftliche bedarf. Etwas ganz andres wäre, das christliche Bewußtseyn selbst aus philosophischen Säzen abzuleiten. Die Beziehung auf den Kanon geht mehr auf den Inhalt, die Beziehung auf philosophische Säze mehr auf den Ausdruck. Dieß wird im § dargestellt als auf dem Streit und Differenzen beruhend, aber der Zusaz sagt, daß es sich auch ohne Streit ergeben würde, denn soviel die christliche Kirche eine Einheit ist, so muß sie sich auch der Identität der jezigen und der ursprünglichen Lehre bewußt werden, ebenso mit | dem philosophischen Ausdruck. Der Streit beschleunigte und vermehrte nur solche Ausführungen. § . 1 8 1 . wird nun auseinandergesezt, was auf diesem Gebiete das zu weite Auseinandertreten der im vorigen §. aufgestellten Punkte ist. Eine Richtung wird so bezeichnet, daß man nicht wolle die Lehre bestimmen über die urchristlichen Äusserungen hinaus. Dieß ist also ein Nichtwollen dessen was in der Kirche entwickelt worden ist. Dieß ist eine Tendenz, hervorgerufen namentlich in der protestantischen Kirche durch die scholastische Reaktion die den Lehrbegriff mit einer großen Menge von praktisch unnützen und die Lehre verwickelnden Unterscheidungen überfüllt hat, wie wir dieß in einem Quenstedt Calow p finden. Dagegen entstand eine Richtung auf die Simplification der Lehre, und ein Zurückgehen auf ein biblisches Denken, wo man keine Lehre weiter entwickeln will, als sie in den NeuTestamentischen Büchern entwickelt ist. Diese Tendenz wird auch als krankhaft bezeichnet. Denn wenn man dieß seinem innern Gehalt nach untersucht, und auch an die SittenLehre denkt, so muß man sagen, daß diese zwey Theile auf gleiche Weise behandelt werden müssen. So kommt man 9 metaphysisch] mΦsch

32 auf ein] auf eine

30–31 Vgl. Johann Andreas Quenstedt: Theologia didactico-polemica, sive Systema theologicum in duas sectiones didacticam et polemicam divisum, Bd. 1–2, Leipzig 1715; Abraham Calov: Systema locorum theologicorum, Bd. 1–12, Wittenberg 1655– 1677

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überall darauf, theils Säze aufzustellen, die jezt von keiner Anwendung mehr sind, statt die Principien auf das jezt Gegebene anzuwenden, alle diese Anwendung praktischer Regeln des Neuen Testaments auf das Gegebene ist dem ascetischen Leben anheimgegeben, wobey viele Unbestimmtheit stattfinden muß. Es ist also dieß eine krankhafte Reizung durch den scholastischen Zustand. Ebenso mißlich ist dieß aber auch bey der GlaubensLehre selbst. Denn da sind viele Ausdrücke des Neuen Testaments für uns vieldeutig, und bleibt die GlaubensLehre dabey stehen, so fehlt es an einem festen Regulativ. Wenn man aber sagt, diese ganze Einseitigkeit hat ihren lezten Grund in einer antichristlichen Richtung, und man will eigentlich nur die natürliche Religion in Uebung erhalten, und als christlichen Lehrbegriff feststellen, so hat dieß zwar im Einzelnen stattgefunden, aber es muß dann dazukommen eine sehr große Licenz in dem Erklären der urchristlichen Auffassungen, – wenn sich dieses Beydes verbindet, so hat man auf jenen Grund zu schließen. Die andre Einseitigkeit ist, solche Säze, welche nur in Folge speculativer Principien gelten, in die christliche Lehre einzuführen, und zwar unabhängig von einer Beziehung auf den Kanon. Hier liegt nun die Sache so. Wenn man sich Beydes so gegeneinander gestellt hat, daß man sagt, das religiöse Bewußtseyn wie es ursprünglich von Christo mitgetheilt war, dieß ist nur eine unvollkommene Form der speculativen Wahrheit: so ist offenbar, daß alle religiösen Säze, wenn | sie speculativ entstehen, nicht mehr brauchen anderweitig begründet zu werden. Wenn man nun sagen wollte, hiebey liege die Tendenz zu Grund, das Christliche zu beseitigen, so ist dieß nur dann wahr, wenn eine verkehrte Behandlung oder Vernachlässigung des Kanons dazukommt. Diese Richtung ist falsch, indem ein eigenthümlicher Unterschied stattfindet zwischen der Form des religiösen Bewußtseyns und des speculativen. Aber wenn [man] von dieser Voraussezung ausgeht, so ist dieser Preis natürlich. Aber was folgt für die Kirchenleitung? Den speculativen Lehren kann man keinen Eingang verschaffen in die Masse, es bedarf also einer andern Brücke, und wenn diese durch die Gestaltung der Lehre nicht gegeben ist, so fehlt es hier ebenso an einer Norm wie auf der andern Seite. – Hier nun ist die Sache nur aufgestellt in Beziehung auf die geschichtliche Auffassung, daß man nämlich diese Richtungen immer im Auge behalten muß, und daß ihr Gegeneinandertreten ein gewisses Maß nicht überschreiten darf, wenn der Zustand soll als gesund angesehen werden. – Nun wird also die geschichtliche Auffassung § . 1 8 2 noch genauer unter diesen Typus subsumirt, indem gesagt wird, es sey wesentlich, daß man die geschichtlichen Veränderungen in dem Verhältniß dieser zwey Richtungen erkenne. So wie man ihre

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gemeinschaftliche Berechtigung im Auge hat, und auf der andern Seite dieß, daß eine Einseitigkeit der einen gegen die andre einen krankhaften Zustand voraussezt, so sieht man, daß der EntwicklungsGang auf nichts anderem beruht als auf dem Verhältniß dieser Richtungen. Die eine ist eine überwiegend dialektische, welche überschlägt in ein das Princip der christlichen Lehre verfälschendes, indem der Unterschied zwischen dem religiösen und philosophischen Princip aufgehoben wird; die andre ist die antischolastische Richtung in der Beziehung, daß sie die Anwendbarkeit des Lehrbegriffs auf die ascetische Anwendung festhält, sie wird aber krankhaft, wenn sie den Unterschied der populären und wissenschaftlichen Behandlung aufheben will. Im Z u s a z ist gesagt in Rücksicht auf den Unterschied zwischen Geschichte und Chronik, daß wenn in der geschichtlichen Auffassung der Entwicklung der Lehre dieses Verhältniß vernachlässigt werde, so verliere man den geschichtlichen Charakter und behalte nur das chronikalische Skelett. Man weiß dann nur: damals ist so gelehrt worden, und damals so, ohne Zusammenhang. § . 1 8 3 . Geht auf die Theilung der Geschichte des Lehrbegriffs in Geschichte der Dogmen und die Geschichte der christlichen SittenLehre. Vorausgesezt es werde keine Sonderung gemacht | in dieser Beziehung, wird doch gesagt, daß man sehr achten müsse auf das Verhältniß der Bewegungen zwischen beyden Zweigen, und daß für die Zweckmäßigkeit der geschichtlichen Darstellung wenigstens unter gewissen Bedingungen eine Theilung zweckmäßig ist. Offenbar ist es ein verschiedener Charakter des kirchlichen Zustandes wenn auf dem Gebiete der theoretischen Lehre eine sehr lebendige Bewegung stattfindet, und dagegen auf dem Gebiete der praktischen gar nicht. Dieß kann allerdings seinen Grund in dem Coefficienten haben; wenn sich nämlich der wissenschaftliche Zustand bedeutend und häufig ändert, so muß dieß einen Einfluß haben auf den Zustand der Dogmen. Wenn nun ganz entgegengesezte philosophische Systeme schnell aufeinander folgen, so hat man nicht vorauszusezen, daß ein vor einigen Jahren geltendes System schon ganz unbekannt geworden wäre, sondern man kann Analogien aus demselben beybehalten, bis es ganz verschollen ist. Ebenso wenn gleichzeitig entgegengesezte philosophische Systeme nebeneinander bestehen, so muß ein Conflikt auch aus dem Gebiet der Dogmatik entstehen. Nun können während einer solchen Zeit die geselligen Verhältnisse und moralischen Meynungen unverändert bleiben, – dann wird auch auf dem Gebiet der christlichen SittenLehre keine Veränderung stattfinden. Diese Unterschiedenheit hat dann lediglich ihren Grund in dem Coëfficienten und ist noch nicht nothwen4 auf] aus

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34 Analogien] Analogien.

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dig krankhaft. Es kann aber auch ein innerer Grund vorhanden seyn, und dann ist es viel wichtiger. Wenn wir denken, wie es einmal galt, es komme Alles auf die Reinheit der theoretischen Lehre an, und mit der praktischen dürfe man es nicht so genau nehmen: so war dieß etwas Krankhaftes. Ebenso aber das Extrem der pietistischen Partey. – Nun wird im zweyten Saz des §. gesagt, wenn diese Bewegungen sehr different sind, so werde es natürlich, die Geschichte der theoretischen und praktischen Lehren zu trennen. Natürlich giebt es eine große Ungleichheit in der geschichtlichen Darstellung wenn auf der einen Seite viel Detail ist, auf der andern aber nicht, da tritt der eine Theil in Schatten. Trennt man aber Beydes, so muß man, wenn man mit dem einen beschäftigt ist, [bedenken,] daß man von dem andern abstrahirt. Je mehr man aber ferner in das Einzelne gehen will, desto enger muß man schon deßwegen das Gebiet begrenzen, und so ist schon durch eine sehr detaillirte Darstellung oder Auffassung die Trennung geboten. Im Z us a z wird nun zugestanden, daß die geschichtlichen Bewegungen auf dem theoretischen Gebiete einen weit stärkeren Exponenten haben als auf dem praktischen. Dieß ist aber nur von den Bewegungen gesagt, durch welche die Lehre genauer bestimmt worden ist. Denn Streit über das, was in der christlichen Kirche als Sitte gelten soll, ist immer vorhanden gewesen, und viele dogmatische Streitigkeiten haben ebenso ihre | moralische Seite. Von § . 1 8 4 an wird nun die Aufgabe in Betracht gezogen, das neue Material, welches in dem Begriff der KirchenGeschichte liegt, zu sondern in das Gebiet des Gemeinguts und der Virtuosität. Im § wird nun nur gesagt, daß hier der Unterschied ein Maximum sey weil das Material ein unendliches. In Beziehung auf den Lehrbegriff sind große Werke vorhanden, die nur die Geschichte einer Lehre behandeln. In der KirchenGeschichte im engern Sinn giebt es Werke, die nur kleine SpecialGeschichten ausführlich behandeln. Dieß alles gehört nothwendig in das Material. Da sieht man die Unendlichkeit, denn es würde folgen, jeder müsse diese Specialgeschichten alle in sich aufgefaßt haben. Dieß kann nur durch die Vereinigung aller Virtuosen gegeben werden. Ausserdem ist am Anfang des §. erinnert an die Hilfskenntnisse, und diese sind im Zusaz auseinandergesezt, nämlich daß da vieles nur verstanden werden kann, indem man auch in Beziehung auf die allgemeine Geschichte ins Einzelne geht, so daß die ganze Geschichtskunde [als] eine Hilfswissenschaft für die KirchenGeschichte angesehen werden muß. Nun zweytens wenn doch immer aus den Quellen geschöpft werden muß, so daß, wenn das Ganze vollendet seyn soll, man auch im Besiz aller Quellen seyn muß, was die ge-

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sammte SprachKunde und Verständniß der Urkunden und Denkmäler voraussezt. § . 1 8 5 . wird eine Formel aufgestellt, um dasjenige, was einem jeden Theologen nothwendig ist, zu bezeichnen und es von dem Gebiete der Virtuosität zu trennen. Diese Formel mußte sehr unbestimmt ausfallen, doch so, daß das Materielle daraus gefunden werden kann. Wenn nun gesagt ist, jeder muß das inne haben, was mit seinem selbständigen Antheil an der Kirchenleitung zusammenhängt, so scheint dieß einestheils sehr schwankend, andrerseits auch einseitig, indem dann für das eine Gebiet weit mehr erfordert werde, als in Beziehung auf das andre. Den allgemeinen Begriff der Kirchenleitung haben wir aufgestellt als umfassend den ganzen theologischen Beruf. Nun ist aber hierinn eine große Differenz, folglich der verschiedene Antheil der Theologen daran ein sehr verschiedener. Das gewöhnliche Maß ist das Amt an einer bestimmten Gemeinde. Bleiben wir hiebey stehen und fragen: was ist einem solchen nothwendig aus dem kirchengeschichtlichen Stoff? so könnte man leicht sagen: gar nichts. Denn er hat es nur zu thun mit der Erbauung seiner Gemeinde, in ihrem äusseren Zustand muß er sie lassen, der Complex von höherer Kirchenleitung ist ihm gegeben, und nicht nothwendig, daß er diesen als Resultat der Vergangenheit begreift. Ob er wisse, seine Gemeinde hat früher zu jenem Gebiete p gehört, dieß hat keinen Einfluß auf ihn, denn er kann doch | aus dem Gegebenen nicht herausgehen. Was er nun vorzutragen hat als sein Eigenes, da muß er freylich kennen zu lernen suchen den geistigen Zustand seiner Gemeinde. Aber das muß ihm erst das Leben mit der Gemeinde allmählig geben, was er vorher mitbringt ist nur eine allgemeine Vorstellung von dem Gesammtzustand, den er früher gewonnen haben muß. Aber sein Absehen ist vorzüglich darauf gerichtet, wie er daraus sich allmählig eine neue Gemeinde erziehe durch seinen Unterricht der Jugend. Von den Wirkungen, die er auf die ältere Gemeinde machen kann muß er sich keine große Hoffnung machen. Was er nun vorzutragen hat, kann er nur nehmen aus der Masse der umlaufenden religiösen Vorstellungen, die er sich also angeeignet haben muß. Da hat es aber keinen Einfluß, daß er die Geschichte dieser Lehren kennt da diese vorzüglich nur den streng didaktischen Ausdruck betrifft, welcher bey einer Gemeinde keinen Plaz finden kann. Wenn man die ganze Amtsführung eines trefflichen Geistlichen sich könnte zusammenstellen, und wollte untersuchen wie viel darinn so sey vermöge seiner dogmengeschichtlichen Kenntnisse, so würde dieß sich auf Null beziehen. Also für dieses Gebiet könnte man die ganze kirchengeschichtliche Kenntniß ausschließen. Dieß ist 28 den] wohl zu korrigieren in die (vgl. Sachs 173)

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aber die schlechte Auslegung, daß es eine solche Unterscheidung gebe in dem Gebiete der Theologie wie vor einiger Zeit in der Medicin in Gang gebracht wurde, nämlich daß es eine Classe von Ärzten geben soll, welche man Routiniers nannte, welche ihre Kenntnisse nur aus der allgemeinen Masse der Erfahrungen hatten, das andre waren wissenschaftliche Ärzte; jene hatten die Kunst nur auszuüben, die lezteren hatten die Wissenschaft zu vervollkommnen. Diese Voraussezung ist aber nicht die von welcher irgend eine Kirchenleitung in der protestantischen Kirche ausgeht, denn sie würde nur zu etwas Unprotestantischem führen. Die katholische Kirche kann sich dahin neigen. Bey ihr ist die theologische Wissenschaft in Beziehung auf die Kirchenleitung ein bloser Luxus, der Unterschied zwischen niederer und hoher Geistlichkeit ist aufgestellt, und steht fest, die höhere Geistlichkeit wird nicht aus der niederen recrutirt, sondern hat ihre eigenen Seminarien, Domkapitel und, in Deutschland wenigstens, die Universitäten. Also hier ist [es] das wissenschaftliche und eristische Element, aus welchem die höhere Geistlichkeit hervorgeht; die niedere könnte aus Routiniers bestehen, zumal in der katholischen Kirche die lebendige Rede zurücktritt. Wir vollständigen Protestanten wollen eben deßwegen die englische Kirche nicht für eine protestantische gelten lassen, weil sie einen ähnlichen Unterschied festsezt, so daß ein angelsächsischer evangelischer Schriftsteller den Rath giebt, daß die Geistlichen nicht alle selbst Predigten machen sollen, dieß passe sich gar nicht, sondern wenn sie ausgezogene Predigten vorlesen, dieß sey wol besser. – Dagegen ist unser | Ziel dieses, daß man aus einem Theologen müsse alles in der Kirche machen können. Also so für den blosen ascetischen Gebrauch sollen die theologischen Kenntnisse von Keinem abgemessen seyn. Der Ausdruck, jeder soll das inne haben, was mit seinem Antheil an der Kirchenleitung zusammenhängt, muß im Geiste unsrer Kirche ausgelegt werden, so daß sich keiner auf ein minimum von Antheil an der Kirchenleitung beschränkt. Allerdings wäre auch das Gegentheil sehr verkehrt, wenn man sagen wollte, jeder Theologe muß auch einen academischen Lehrer oder ein Mitglied der KirchenRegierung geben können, denn dieß hieße aus diesen höchsten Spizen alles besondere Talent ausschließen. Es fragt sich also: was soll dann für eine allgemeine Formel hier gelten? Man kann eine solche Ansicht wie die vorhin aufgestellte nur fassen wegen des traurigen Zustands der Isoli2–6 Anspielung vielleicht auf die von Johann Christian Reil (1759–1813), seit 1811 Dekan der Medizinischen Fakultät der neugegründeten Berliner Universität, vorgeschlagene Zweiteilung der Ärzteschaft in wissenschaftlich ausgebildete Ärzte und medizinkundige Praktiker, vgl. Johann Christian Reil: Pepinieren zum Unterricht ärztlicher Routiniers als Bedürfnisse des Staats nach seiner Lage wie sie ist, Halle 1804

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rung unsrer Geistlichen. Denn denkt man sich den Geistlichen nur seiner Gemeinde gegenüber, so könnte es Fälle geben wo jene Voraussezung angemessen wäre. Aber der natürliche Zustand ist doch, daß alle die Antheil an der Kirchenleitung haben, Geistliche und gebildete Gemeindeglieder eine Gemeinschaft halten, und jeder der nach einem solchen Amte strebt, muß ein würdiges Glied dieses Kreises seyn wollen, und wenn sich der Geistliche denkt in einer solchen Gemeinschaft mit einem lebendigen PUmlaufS von Gedanken über die Kirchenleitung: da ist nun dieß gerade derjenige Kreis, in welchem das geschichtliche Leben seine PWeltS seyn muß, und dieß ist der Unterschied eines solchen Kreises von den Gemeinden. Denken wir also den Theologen als Mitglied einer solchen Genossenschaft, so müssen wir einen ganz andern Maßstab aufstellen; dazu werden die einzelnen Punkte in den folgenden Paragraphen auseinandergesezt 186 – 90. § . 1 8 6 ist als erstes Element hingestellt eine richtige Anschauung von der lezten Epoche, und zwar wie sie durch den früheren GesammtVerlauf bestimmt worden ist. Die Nothwendigkeit davon geht aus dem oben Gesagten hervor. Jezt mehr als jemals, nachdem überall in den abendländischen christlichen Ländern Christen von der protestantischen und römischen Kirche miteinander vermischt sind, gehört es zu dem Bewußtseyn des Gesammtzustandes, daß wir uns immer dieses Gegensazes bewußt sind, welcher durch die Reformation entstanden ist, und wir müssen es als problematisch ansehen, ob ihm noch eine weitere Entwicklung bevorsteht oder nicht. Aber es wird sich auch keiner in seinem Beruf ganz ausgeschlossen | finden davon, der zurückführenden Thätigkeit der römischen Kirche zu widerstehen, und durch Unkenntniß des Wesens der katholischen Kirche giebt der Geistliche seine Gemeinde jenen Bestrebungen Preiß. In England waren die Katholiken bis vor wenigen Jahren so zurückgedrängt in ihren bürgerlichen Rechten, so daß an eine Neigung, zur römischen Kirche zurückzutreten, nicht zu denken war. Seit der Emancipation aber hat die katholische Kirche in England solche Fortschritte gemacht, daß in Vorschlag gebracht ist, man solle verständige Leute auf den Continent schicken, um zu sehen, worinn das Reizende der katholischen Kirche bestehe. Die bischöfliche Kirche brauchte aber nur daran zu denken, daß sie selbst nie aufgehört hat katholisch zu seyn, daß unter Heinrich VIII nur der König englischer Pabst wurde; hernach unter Elisabet und Eduard kamen zwar protestantische Elemente hinein, aber 37–4 Vgl. Nachschrift Anonymus: „Unter Elisabeth kamen PvieleS Elemente des Protestantismus dazu, sie wurden aber erstickt durch das Papstthum Carls I. Die 39 Artikel verhinderten die Entwicklung eines protestantischen Geistes und so ist natürlich daß nach der Emancipation der consequente römische Papismus dem inconsequenten englischen vorgezogen wurde.“ (S. 144)

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theils wurden sie erdrückt durch das katholisirende Papstthum Carls I theils sonst – und da ist es nun leicht zu erklären, daß das Consequentere in dem römischen Pabstthum und das Inconsequente in der anglikanischen Mischung sich geltend machen muß. – So viel also ist gemeynt, daß die ganze Genossenschaft der Kirchenleitung muß der Siz seyn eines geschichtlichen Bewußtseyns über diesen Punkt. Nehmen wir nun hinzu, daß der StandOrt des Gegensazes in jeziger Zeit problematisch ist, ja daß mehrere Spuren eine neue Spannung verrathen, so müssen wir uns genau prüfen, was bey uns von der Opposition gegen die katholische Kirche noch nicht gehörig entwickelt ist. Dazu ist besonders dienlich, daß man die Gegenwart in ihrem Gewordenseyn betrachtet, und dabey wird man entdecken, daß noch viele katholische Elemente unbewußt in der Masse der Kirche stecken. Der §. enthält aber auch noch, daß man diese lezte Begebenheit nur recht verstehen kann im Zusammenhange mit dem früheren Geschichtlichen Verlauf. Dieß ergiebt schon der unmittelbare Anfang eines jeden Streits zwischen beyden Kirchen, denn immer sieht uns die römische Kirche an als abgefallene Neuerer, wir aber sehen uns an als die, welche auf das Frühere zurückgegangen sind, und nur speculative Irrthümer weggewiesen haben. Dieß kann nicht beurtheilt werden ohne geschichtliche Kenntniß des früheren Verlaufs. Wenn wir hier an die unmittelbare Wirkung im Leben denken, so ist zu fragen: wirkt man wohl leichter auf den gemeinen Mann durch eine Analogie mit dem speculativen Verfahren, oder mit dem geschichtlichen? Da ist das lezte das einzig richtige. Hier ist also ein unmittelbarer Einfluß des geschichtlichen Bewußtseyns auf die unmittelbare Wirksamkeit. | § . 1 8 7 . Den zweyten Theil des vorigen §. könnte man so ansehen, es sey genug nur einzelne Züge aus der früheren Geschichte zu kennen. Dieser §. sagt nun, dieß wäre nur eine Reihe von einzelnen Bildern ohne Zusammenhang, die also nur durch ihre Ähnlichkeit und sofern sie eine einfache Skala zu der lezten Epoche hin sind, zusammenhängen. Dieß ist nun etwas Dürftiges, und ohne eine gewisse Continuität kann sich das geschichtliche Bewußtseyn nicht halten. Daher müssen diese Bilder ausgefüllt werden durch das Nez, d. h. die Verbindung der HauptPunkte aus jedem Zweige jeder Periode. Im Zusaz ist noch eine größre Forderung aufgestellt, daß dieses müsse erworben seyn als eigner Besiz aus Darstellungen von verschiedenen Gesichtspunkten. Der Gegensaz zwischen der evangelischen und katholischen Kirche ist noch jezt eine Parteysache, und wir müssen immer uns im Verdacht haben, ob wir nicht im Gegensaz zu weit gehen. Will einer darüber ein Bewußtseyn haben, so müssen wir uns auch mit katholischen Darstellungen bekannt machen.

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§ . 1 8 8 . Stellt die allgemeine Aufgabe wieder in Beziehung mit der Kirchenleitung dar, indem er sagt, zu einem kräftigen Impuls könne die geschichtliche Anschauung nur dann gedeihen, wenn die Begebenheiten alle auf das christliche Princip bezogen werden. Eine Darstellung, welcher dieß fehlt, ist keine theologische. Es ist sehr natürlich, nachdem das Christenthum so bedeutend geworden ist, daß es Auffassungen seines geschichtlichen Einflusses giebt, die dieß erklären wollen aus solchen Motiven wie sie auch andern Entwicklungen zu Grunde liegen. Solche Darstellungen können im Einzelnen richtig, auch geistreich seyn, (Gibbon, Tzschirner), aber indem sie die Einheit und Eigenthümlichkeit des Princips nicht mit auffassen, und die Begebenheiten nicht darauf beziehen, so sezen sie sich ausserhalb des theologischen Zusammenhangs. § . 1 8 9 fasst die Beziehung der Geschichte auf die Kirchenleitung ebenso wie der § 188 innerlich, so in ihrer äusserlichen PGestaltS, nämlich ein jeder selbstthätige Antheil an der Kirchenleitung ist allemal eine lokale Einwirkung die Localität sey nun kleiner oder größer. Die größte ist die evangelische Kirche überhaupt; denn ein Einfluß auf die römische Kirche wäre nur ein mittelbarer. Was nun diese Einwirkung als lokale fordere in Beziehung auf die geschichtliche Kenntniß, wird hier gesagt. Dieß ist ein größres Maß der Genauigkeit und Vollständigkeit in Beziehung auf dieses Locale. Dieß ist aber nicht als blose äusserliche Abstufung zu verstehen, daß man sagte: der Geistliche darf sich nur genau bekümmern um die Geschichte seiner Gemeinde, seiner Diöcese, weniger schon darf er sich bekümmern um die Geschichte seiner Provinz. So darf | man die Sache nicht denken, weil die Gemeinschaft in der evangelischen Kirche besonders jezt so bedeutend ist, daß man das Ganze als ein nothwendig Zusammengehöriges fassen muß, und nur in der äusseren Beziehung läßt sich die Kenntniß des Localen auf solche Weise abstufen. Im § ist allerdings eine Sonderung gemacht, aber sie darf nicht absolut genommen werden. Das lokale Gebiet jedes evangelischen Geistlichen ist eigentlich doch jezt nur die ganze evangelische Kirche. § . 1 9 0 . enthält in Beziehung auf diese Feststellung desjenigen aus dem Umfang der KirchenGeschichte was man von jedem Theologen verlangen kann noch den Zusaz, daß sich jeder müsse eine Uebung verschaffen in dem eignen Gebrauch der Quellen. Diese Forderung 15 PGestaltS] oder PGeltungS 10 Vgl. Edward Gibbon: The History of the Decline und Fall of the Roman Empire, Bd. 1–6, London 1776–1788; Heinrich Gottlieb Tzschirner: Der Fall des Heidenthums, Leipzig 1829

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erstreckt sich ganz vorzüglich auf die Zeit des Studiums, weil später nicht jeder mehr die Quellen benützen kann. Die Nothwendigkeit ist diese. Es ist schon zugestanden, daß der Gesammtumfang der KirchenGeschichte nicht kann aus den Quellen erworben werden, sondern im Ganzen genommen aus geschichtlichen Darstellungen. Diese sind nun zwar selbst aus den Quellen geschöpft daß aber dabey eine Kritik nothwendig ist, ist schon bey einer andern Gelegenheit gesagt. Sie läßt sich auf verschiedene Weise üben. § 187 ist der Rath gegeben worden, verschiedenartige Darstellungen zu vergleichen. Aber es ist nothwendig für einen jeden, der eine Zuversicht haben will in Beziehung auf seine Kritik der Darsteller, daß er auch ihr Verfahren mit den Quellen kennenlerne. Dieß kann er aber gar nicht, ohne sich selbst an den Quellen versucht zu haben; denn nur dadurch bekommt man eine Erfahrung davon, wie sehr mitgebrachte Vorstellungen einen hindern, das in den Quellen Gegebene rein aufzufassen. Dieß gilt von jedem kirchengeschichtlichen Gebiete, überall sind es Vorstellungen der Zeit und der eigenen Neigung, die man zu den Quellen bringt, und wovon man erst durch genaue Beschäftigung mit den Quellen entdeckt, wie leicht man dadurch sich die Geschichte verfälscht. – Im Zusa z ist der Nachdruck darauf gelegt, daß es nicht leicht möglich seyn möchte, die rechte Kritik der Darstellungen zu üben, wenn man nicht selbst eine solche Construction aus den Quellen versucht hat. Das ist also eben, daß man für sich, wenn auch nicht auf dem Papier, sich eine Begebenheit zur Anschauung bringt. Ohne dieß wird einer entweder blindlings die Darstellung annehmen, oder er wird den Geschichtsschreibern nicht die gehörige Nachsicht angedeihen lassen. Von § . 1 9 1 an wird von demjenigen Studium der KirchenGeschichte gehandelt, welches in das Gebiet der Virtuosität fällt. §. 191 stellt den Zweck eines jeden | solchen Studiums auf, daß es sich nämlich zum gemeinen Nuzen äussern muß, nicht ein Privatbesiz sey den einer für sich allein haben will. Es ist allerdings jezt weniger nothwendig vor dieser Art von Abweichung zu warnen, weil das jezige Zeitalter eine zu große Neigung hat zur Mittheilung. Aber jede Tendenz nach Virtuosität ruht auf einer besonderen Verwandtschaft zwischen der inneren Richtung des Individuums und dem Gegenstande. Nun bey einer solchen ist diese Abweichung sehr leicht: es findet einer sich selbst befriedigt in seinem Gegenstand, und sucht diese Befriedigung immer zu vergrößern, daraus entsteht aber nur eine Ansammlung von geschichtlichem Wissen nur zu eigenem Behuf. Eine solche Beschäftigung mit der KirchenGeschichte kann von Anfang an keinen rechten 6–7 Vgl. KD² §§ 156–158 (KGA I/6, S. 382,6–24) (KGA I/6, S. 391,19f)

8–9 Vgl. KD² § 187 Erl.

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theologischen Charakter haben, denn da geht es noch weniger als sonst, daß es einer nur auf sich selbst absehen darf. Dann wird aber auch das Verfahren selbst nicht theologisch seyn. Ein zweytes ist noch dieses. Es ist oft mit der Richtung auf die Virtuosität verbunden, Alles in sich selbst erst zur Vollendung zu bringen, ehe die Richtung zur Mittheilung angeht. Dieß liegt allerdings gewissermaßen in dem Begriffe der Virtuosität. Nun aber hat doch das menschliche Leben schon sein Maaß und in dieser Hinsicht ist der § auch aufgestellt, und hat den Sinn, daß jeder sich so stellen muß, daß er auch zu der Leistung wirklich noch kommt, und sie nicht ins Unbestimmte hinaussezt. Der Sinn eines jeden Studiums dieser Art ist dann, die Resultate einer genauen Forschung in der Darstellung niederzulegen, welche nun alle späteren Bearbeiter benützen können. § . 1 9 2 – wird diese Richtung auf Virtuosität in ihrer Manchfaltigkeit dargestellt. Die eine Richtung ist die auf das Materiale. Dieß ist nicht Chronik, denn es kann die Nachweisung übersehener Momente und ihres Einflusses seyn so ist dieß VerVollständigung des Materials. Darunter ist die Berichtigung eigentlich schon mitbegriffen. In der Behandlung selbst unterscheidet sich Beydes, denn wenn ich dasselbe thue als Vervollständigung, so theile ich nur meine Forschungen mit, ohne auf die bisherigen Leistungen Rücksicht nehmen zu müssen; umgekehrt wenn ich berichtigen will. Diese Richtung ist es, welche die meisten geschichtlichen Leistungen haben. – Was die Richtung auf die Darstellung betrifft, so ist Wahrheit und Lebendigkeit der Darstellung unterschieden. | Die größre Wahrheit gehört noch der historischen Auffassung an, während sich die Lebendigkeit ganz der Darstellung zuwendet. – So ist also dieses Gebiet ein sehr Manchfaches. Alle kritischen Arbeiten gehören zur Vervollständigung und Berichtigung des Materials. Häufig wird hiebey der Fehler begangen, daß um jeder einzelnen Vervollkommnung eines wissenschaftlichen Gebiets willen es gleich auf eine totale Darstellung angelegt wird. Diese Richtung verfehlt immer ihren Zweck. Was als Einzelheit geschäzt worden wäre, wird übersehen, wenn es aus diesem Verhältniß herausgerückt und zum umfassenden Werk gemacht ist. Es ist auf diesem Gebiete eine Ueberladung von zusammenfassenden Arbeiten, wogegen das Specielle immer noch zu sehr zurücktritt. Es liegt nun in der Natur der Sache, daß alte Darstellungen sich antiquiren, aber dieß geschieht nicht so schnell, wie wir in Deutschland neue KirchenGeschichten erhalten. – Ein Andres ist es um solche Werke, die aus der Virtuosität in der Darstellung hervorgehen. Da ist die Vollkommenheit eben die Lebendigkeit der Zusammenschauung, die den Glauben an ihre Wahr38 KirchenGeschichten] KGG

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heit dem Leser unmittelbar mittheilt. Allein hier sind wir ganz auf dem Gebiete eines speciellen Talents. Alles Andre aber auf diesem Gebiete ist von der Art, daß das Talent dazu jeder Theologe haben muß, z. B. Kritik p. An historischen Kunstwerken fehlt es noch in der KirchenGeschichte. § . 1 9 3 geht auf die Verbindung der zwey theologischen Motive in Beziehung auf diese Disciplin, indem er aufstellt es sey ein Widerspruch zwischen beyden, zwischen wissenschaftlichem Geiste und kirchlichem Interesse nicht möglich. Dieß ist ein rein protestantischer Saz: wir haben keine Unfehlbarkeit zu vertheidigen, wir können also jedes Factum rein in die Darstellung aufnehmen, es bekommt nur eine andre Bedeutung für die Kirchenleitung, je nachdem es angesehen wird. Anders in der katholischen Kirche, denn wenn einmal eine Auctorität da ist, so müssen auch die Facta welche ihre Elemente sind, so dargestellt werden, daß zwischen dem Factum und dem Postulat der Kirche kein Widerspruch ist. Wenn wir in Beziehung auf die evangelische Kirche selbst die Spaltung, die in ihr von Anfang an eingetreten ist, zwischen lutherischer und reformirter Kirche, betrachten, so hat aus der Art des Verfahrens ein Verdacht hervorgeleuchtet, als sey hier ein Widerspruch zwischen wissenschaftlichem Interesse und kirchlichem Glauben zu besorgen. Nämlich es hat schon lange gemeinsame Institute beyder Kirchen gegeben, auch Lehrinstitute; man hat leztlich eingesehen, daß in Beziehung auf die Exegese diese Differenz von keiner Bedeutung sey; da war also keine Einwendung dagegen, daß künftige Lehrer | der lutherischen Gemeinschaft sollten bey reformirten Exegeten ihre Kenntnisse suchen. Aber in Beziehung auf die KirchenGeschichte trug man immer Sorge daß auf gemeinsamen Instituten, wie z. B. Halle, ein besondrer Lehrer der Kirchengeschichte da sey, indem der eine Theil voraussezte aus kirchlichem Interesse eine Veruntreuung gegen die Forderung des rein wissenschaftlichen Geistes. Nun diese Voraussezung war nicht ungegründet, solange es eine heftige Polemik zwischen beyden Theilen gab, weil bey solchen Verhältnissen selten einer, auch bey dem besten Willen, im Stande ist, die Sache recht zu sehen. Daher kann man dann freylich sagen, es wäre dieß heilsam gewesen, solange ein solches polemisches Verhältniß bestand, aber die Duplicität mußte zu Gunsten des einen wie des andern gewesen seyn, nämlich es mußte der reformirten Kirche auch daran liegen, daß es lutherische Lehrer der KirchenGeschichte gebe und umgekehrt. 28 Anspielung wohl auf das dem Presbyterium der Reformierten Gemeinde in Halle eingeräumte Recht, zum Rektor des eigens für die Refomierten gegründeten „gymnasium illustre et regium“ einen Professor der reformierten Theologie sowie (seit 1712) einen zusätzlichen Professor der Kirchengeschichte zu berufen, vgl. Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. 1, Berlin 1894, S. 238f

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Dieß führt zurück auf das oben gesagte, daß man müsse die KirchenGeschichte aus verschiedenen Darstellungen zusammenschauen. Dieser Rath wird sich auch jezt nach der Union noch rechtfertigen lassen, denn es wird nicht leicht einem kirchengeschichtlichen Schriftsteller nicht anzumerken seyn, zu welcher Gemeinschaft er in dieser Hinsicht gehöre. Nun ist aber der Saz noch mehr auszudehnen: da die Polemik gegen die katholische Kirche noch besteht, so kann man sich gegen eine Beeinträchtigung des wissenschaftlichen Interesses durch das kirchliche nur dadurch sichern, daß man Darstellungen verschiedener Parteyen vergleicht. Wo man so darauf ausgeht, alles Parteyische aufzuheben, da kann es wenigstens dahin kommen, daß ein solcher Widerspruch nicht eintritt, und eine geschichtliche Auffassung entsteht, in welcher sich Alles als Produkt des rein wissenschaftlichen Geistes erkennen läßt. § . 1 9 4 geht nun noch zurück auf das Zustandekommen der KirchenGeschichte aus einzelnen neuen Leistungen. Nämlich die Sache liegt so, daß es einen Anbau der KirchenGeschichte im Einzelnen giebt nicht blos in Beziehung auf die neuste Zeit, sondern auch durch Zurückgehen auf Früheres, welcher sehr ins Einzelne geht. Da kann man nun wieder sagen: dieß ist eine gemeinschaftliche Aufgabe für alle diejenigen, die entweder eine besondere Neigung für das Detail der KirchenGeschichte haben, und zugleich in einer dazu günstigen Lage sind, – oder für diejenigen, welche in der günstigen Lage sich befinden, aber auch nicht ohne alle Neigung sind. Leztres gilt besonders von solchen die an Orten sind wo es unbenüzte Quellen giebt. |

Dritter Abschnitt Von der Kenntniß des gegenwärtigen Zustands der christlichen Kirche. 30

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Auch in Beziehung auf frühere Perioden der KirchenGeschichte giebt es einzelne Momente, welche sich besonders eignen zu einer Zusammenstellung eines geschichtlichen Bildes in geschichtlicher Einheit. Dieses gilt von der Geschichte der Lehre wie der Gesellschaft. Nun aber ist hier dieser dritte Theil als al l g e mein e Aufgabe gestellt, es wird behauptet, daß von dem jedesmal gegebenen Moment eine sol2 zusammenschauen] zusammenzuschauen 1 Vgl. KD² § 187 Erl. (KGA I/6, S. 391,19f)

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che Zusammenstellung müsse gegeben werden, da doch im Allgemeinen gesagt wurde daß nicht jeder Moment sich auf die gleiche Weise dazu eigne. Dieß scheint ein Widerspruch. Aber wenn nicht jeder Moment sich gleich gut eignet, so hindert dieß doch nicht, daß nicht das geschehen kann, – freylich nicht so gut, – was nothwendig ist. Von dem gegenwärtigen Zeitpunkt muß jeder Theologe um seines Antheils an der Kirchenleitung willen sich ein zusammenhängendes Bild machen, ob auch vielleicht nach Ablauf dieser Periode es Niemand mehr einfallen werde, gerade an diesem Ort einen Durchschnittspunkt zu machen. Der Grund warum sich ein Moment weniger eignet, kann theils in der Vereinzelung liegen, theils in der Verworrenheit. § . 1 9 5 führt die §§ aus der allgemeinen Einleitung an, in welchen die Organisation dieses Theils begründet ist. Da ist im § 94 gesagt, daß sich diese Darstellung sondere in Darstellung der Lehre und des geselligen Zustands. Der §. 95 hat dann den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft, die Statistik, ihrem Wesen nach erklärt, und im folgenden §. war gesagt sie sey für alle KirchenGemeinschaften dieselbe. §. 97 hatte die Darstellung der gegenwärtig geltenden Lehre erklärt, aber gleich im folgenden war hinzugefügt worden, daß jeder nur von seiner eignen KirchenGemeinschaft eine solche Darstellung geben könne. Wenn §. 94 gesagt wurde, daß in solchen Zeiten, die sich zu einem zusammenfassenden Bilde eignen, doch jene Sonderung sich entwickle, so hat dieß seinen Grund darinn, weil diese beyden Punkte verschiedene Bewegungsexponenten haben. Es hat seinen Grund nun auch darinn, daß sonst das Ganze nicht leicht zu übersehen seyn würde. Nun läßt sich aber leicht folgern, daß wenn | diese Sonderung sich von selbst erzeugt, daß oft ein Zeitpunkt recht gut geeignet seyn kann zu einem zusammenfassenden Bilde des Zustands der Gesellschaft, aber sehr wenig zu einem solchen Bilde der Lehre und umgekehrt. Es kann in dem gesellschaftlichen Zustande ein sehr lebendiges Aufeinanderwirken der Elemente seyn, in der Lehre aber können alle Momente gesondert sich entwickeln, und umgekehrt kann in einem die Verwirrung groß seyn während sie es im andern nicht ist. Hieraus läßt sich ferner folgern, daß die Differenz in dieser Beziehung nicht stets so groß ist auf der Seite der Gesellschaft als des Lehrbegriffs. Wenn wir uns die zwey entgegengesezten Endpunkte des gesellschaftlichen Zustands denken, nämlich daß verschiedene Regionen in der Kirche – ohne bedeutende Influenz zusammenbestehen, und auf der andern Seite einen Zustand wo alle in lebendiger Wechselwirkung sind, so erfordert dieß nur eine verschiedene Darstellung, aber verän18 97] 95

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dert die Schwierigkeit nicht. Ebenso wenn die Einwirkung verschiedener Theile aufeinander verworren ist, so vermehrt dieß freylich die Schwierigkeit, aber es ist kein größrer Unterschied als zwischen der Darstellung eines jeden Epochenpunktes und der eines ruhigen Verlaufs. Anders beym Lehrbegriff. Da können die Schwierigkeiten sehr groß werden, denn wenn nun soviele entgegengesezte Auffassungen der Lehre in der Kirche sind, so kann [es] sehr schwer seyn zu entscheiden, was denn das Geltende ist; dieß kann jeder nur nach seiner Ueberzeugung entscheiden; aber da werden immer viele sagen, dieß Buch löst die Aufgaben gar nicht, denn es enthält nur Elemente die wir nicht als geltend anerkennen. Der §. stellt also die zwey hieher gehörigen Disciplinen zusammen. Dogmatik wird beschränkt auf eine einzige KirchenGemeinschaft, ferner begreift die dogmatische Theologie auch die SittenLehre in sich. Der andre Theil ist die Statistik, welche es mit allen Theilen der christlichen Kirche zu thun hat. Der Z us a z stellt die Differenz von der gewöhnlichen Erklärung und Stellung der Dogmatik ins Licht. In der gewöhnlichen Anordnung der Theologie sind die HauptPunkte: die exegetische Theologie, die historische Theologie, die systematische Theologie und die praktische. Von diesen sind hier nur zwey Elemente anerkannt, historische und praktische, und der historischen untergeordnet sowohl die exegetische als die dogmatische. Hier erscheint also die Dogmatik als Theil der historischen Theologie, während sie gewöhnlich der historischen Theologie coordinirt scheint. Dasselbe gilt von der exegetischen Theologie, aber da sind weit weniger Einwendungen vorhanden gewesen. | Nun wird gesagt, daß an diese Stelle nicht gehöre, den Streit zu entscheiden, denn dieser betrifft die ganze Organisation; sondern nur nachzuweisen, daß nichts andres als dasselbe was sonst systematische Theologie genannt wird auch hier gemeynt ist pp. Dieß ist dadurch erreicht, daß gesagt ist, wenn man einmal ausgeht von der HauptAufgabe, Kenntniß des gegenwärtigen Zustands, so ist die Lehre ein Theil auch des geselligen Zustands, denn der gesellschaftliche Zustand ist 1) ein andrer wenn die Mitglieder einig sind als [wenn] nicht, und 2) werden die Vorstellungen einer Gemeinschaft einen Einfluß haben auf Sitte und Cultus. Nun wird also gesagt, wir thun hier nichts, als daß wir die Lehre aus diesem Gesammtzustand herausnehmen weil sie einer besonderen Behandlung fähig wird, sonst könnte alles auch als Eines dargestellt werden, ohne daß etwas fehlen würde. Nun erscheint dieses als eine einseitige Willkühr, wenn gleich der in der Sache selbst liegende Grund angeführt ist; an und für sich müßten ebenso andre Theile des geselligen Zustands gesondert werden können. Dieß ge-

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schieht auch. Es ist schon früher gesagt worden, daß für die Geschichte der christlichen Gesellschaft am besten die Verfassung den Grundfaden bilde. Aber ebendeswegen kann auch diese für sich behandelt werden, auch in Beziehung auf den gegenwärtigen Moment. Dieß geschieht zum Theil im KirchenRecht, insofern man es als theologische Disciplin ansehen kann. (Wenn von der Darstellung der kirchlichen Verfassung die Rede ist, auch in Beziehung auf den Staat, so wird die Theologie davon Rechenschaft geben müssen; ein andres wäre wenn von einer Begründung die Rede wäre, aber auch diese, da sie nur eine geschichtliche ist, müßte ein Theologe ebenso gut geben als ein Jurist, ja besser, weil er in dem Material besser zu Hause ist.) Andre Disciplinen haben sich nun noch nicht so besonders hervorgearbeitet, und also wäre dieß willkührlich, wenn man sie besonders behandeln wollte. – Schließlich wird gesagt, wenn die Lehre ein Theil des gesellschaftlichen Zustands ist, die Kenntniß von diesem aber über alle kirchlichen Gemeinschaften sich erstreckt so stellt sich dadurch schon der Unterschied fest zwischen einer solchen Behandlung der Lehre und dem eigentlich Dogmatischen. Wenn die kirchliche Statistik ordentlich behandelt wird, so kann in ihr auch die Symbolik behandelt werden, indem angegeben werden muß, wodurch sich verschiedene KirchenGemeinschaften unterscheiden. Aber dieß ist nur eine historische Notiz, wie sie in der KirchenGeschichte über frühere Zeiten vorkommen kann. Nun hat man gesagt: eine Darstellung von der Lehre, die in einem bestimmten Theile der Kirche jezt geltend ist, kann jeder geben: da kann ein Katholik ebensogut die evangelische Kirchenlehre darstellen, was aber keine evangelische Dogmatik wäre | aber eine Darstellung zur unmittelbaren Anwendung für die Kirchenleitung kann jeder nur als seine eigne geben. Die dogmatische Darstellung unterscheidet sich von der rein geschichtlichen dadurch, daß sie die Darstellung von der Lehre ist, die der Darstellende selbst anerkennt, und dieß liegt eben darinn, daß sie jeder nur von seiner KirchenGemeinschaft geben kann. Ein Beyspiel wird die Sache deutlich machen. Nämlich nach dieser Erklärung könnte z. B. die Wegscheidersche Dogmatik gar keine Dogmatik genannt werden. Es wird vorgetragen die kirchliche Lehre bisweilen ausdrücklich als expositio historica, denn seine eigne Ueber8 wird] muß 1–3 Vgl. KD² § 176 (KGA I/6, S. 388,12–17) 34 Julius August Ludwig Wegscheider: Institutiones theologiae christianae dogmaticae, Halle 1815; 6. Aufl. Halle 1829 36 Vgl. etwa die Überschrift bei Wegscheider: „§. 47. Doctrinae de miraculis ecclesiasticae expositio historica.“ (Institutiones, 6. Aufl, Halle 1829, S. 182) Zu anderen Lehrstücken findet sich häufig die Bezeichnung „Historia dogmatis“, vgl. etwa Wegscheider: Institutiones, §§ 88–91, S. 287–300 (zur Trinitätslehre), §§ 138f, S. 445–451 (zur Christologie), § 192, S. 615–618 (zur Eschatologie)

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zeugung ist es nicht. Nun hinter jeder solchen Exposition kommt eine Epicrisis, diese enthält seine Ueberzeugung, aber nicht im Zusammenhang; denn wenn er seine eigne Meynung nur immer vorträgt in Beziehung auf eine andre und an einzelnen Punkten, so gehen die Principien nicht im Zusammenhang hervor, und so ist dieß keine Dogmatik, weil es keine zusammenhängende Darstellung ist, sondern nur eine fragmentarische in Form von Widerlegung der orthodoxen Vorstellungen. Nun dieß ist schon gesagt von der I. Dogmatischen Theologie.

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§. 1 9 6 . Der zweyte Theil des § sagt aus, daß alle dogmatischen Darstellungen dieser Wissenschaft nicht nothwendig unter sich zusammenstimmen müssen. Dieß scheint zu widersprechen dem, was von der Dogmatik gesagt war daß sie sey die Darstellung der zu einer gewissen Zeit geltenden Lehre. Nun könnte man denken, wenn die Kirche zu einer gewissen Zeit eine ist, so muß auch die Lehre eins seyn, und auch die Darstellung. Dieß ist wohl die eine Ansicht der Sache, sie führt aber auf das katholische Princip, denn dann giebt es eine von dem EntstehungsPunkte an constante Überlieferung, und jede Abweichung wäre ein Widerspruch gegen die Kirche. Nun war es neuerlich merkwürdigerweise zu erleben, wie schwer es ist, in dieser Beziehung Consequenz zu halten. Denn da giebt es achtbare Theologen, die von einer Auctorität unsrer symbolischen Schriften nichts wissen wollen; wenn man ihnen aber sagt: nun muß es auch ebendeßwegen keine Autorität symbolischer Schriften in Beziehung auf die Construction des Lehrbegriffs geben, so meynen sie, das wäre recht schön jezt, aber es müsse einmal eine Zeit kommen, wo die Kirche ein Bekenntniß stellen könnte, worinn alle übereinstimmten. Sie stel2 Vgl. etwa Wegscheider: Institutiones, § 49, S. 188–195 (zum Wunderglauben), § 92f, S. 301–306 (zur Trinitätslehre), § 140, S. 451- 454 (zur Christologie), §§ 194f, S. 621– 627 (zur Eschatologie) 21–23 Anspielung auf die Schrift „Über theologische Lehrfreiheit auf den evangelischen Universitäten und deren Beschränkung durch symbolische Bücher“ der beiden Breslauer Theologen Daniel von Cölln und David Schulz (Breslau 1830), vgl. etwa S. 31 (KGA I/10, S. 499,28–31): „Wir können uns demnach überhaupt keinen Fall als möglich denken, in welchem die Verpflichtung auf die früheren Bekenntnißschriften der evangelischen Kirche zuträglich und heilsam werden könnte.“ 26–2 Vgl. von Cölln/Schulz: „[...] so dürfen wir auch wohl der Zuversicht leben, daß die Zeit nicht mehr fern seyn werde, wo die evangelischen Fürsten und Völker Deutschlands ihrer Uebereinstimmung in allen wesentlichen Puncten des Glaubens so gewiß geworden sind, daß sie das Bekenntniß derselben ebenso getrost vor Jedermann auszusprechen wagen dürfen, wie es von den Helden des Augsburgischen Reichstages vor drei Jahrhunderten geschah.“ (Über theologische Lehrfreiheit, S. 38; KGA I/10, S. 503,16–22)

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len sich also nur, als ob sie keine symbolische Autorität wollten, aber in der That wollen sie sie nur selbst machen. Nun liegt aber die Sache in der Geschichte klar | vor Augen. Es ist falsch, wenn man glaubt, daß die evangelische Kirche von einem Punkt ausgegangen ist. Theils hat es viele einzelne Properationen gegeben, theils ist die Reformation für sich gegangen in Deutschland, für sich in der Schweiz pp, und die Uebereinstimmung ist immer nur eine bemerkte, keine ursprüngliche, der eigentliche Zusammenhang aber ist gar nicht in irgend einer positiven Lehre sondern nur in der Methode, d. h. in dem jedesmaligen Produciren der christlichen Lehre aus ihrem eigentlichen geschichtlichen Ursprung. Nun wenn eine evangelische Kirche wirklich existirt, so muß auch eine Uebereinstimmung existiren, aber sie hat nicht nöthig, eine durchgängige zu seyn. Wie groß sie seyn müsse, das läßt sich nicht ausmitteln, sondern sie ist ihrer Natur nach eine schwankende, bald größer, bald geringer, ja es ist nicht der beste Zustand, wenn die Einstimmung am größten ist, noch der schlimmste wenn sie am geringsten ist, sondern die Uebereinstimmung kann aus Mangel an eigner Thätigkeit hervorgehen. Ebenso kann man aber auch nicht sagen, es ist der beste Zustand der Kirche, wenn die Übereinstimmung am geringsten ist, denn dieß kann auch daher kommen, daß eine Generation von der Tarantel gestochen und alle schwindlig sind. Daher ist es nicht die Tendenz der evangelischen Kirche die größte Uebereinstimmung herzustellen, sondern [es genügt,] wenn nur jeder in dem andern das evangelische Princip, und die christliche Frömmigkeit anerkennt. Das Einzelne der Vorstellung ist Gegenstand beständiger lebendiger Discussion. Im l e z t e n T he i l d e s Z us az e s ist dieß bestimmter reducirt auf die Formel der geltenden Lehre. Die Dogmatik kann Darstellung der geltenden Lehre seyn, und doch müssen nicht alle dogmatischen Darstellungen zu derselben Zeit miteinander übereinstimmen. Daraus folgt, daß verschiedene Ansichten zu gleicher Zeit gelten können. Und solche Differenz ließ man von Anfang an in der evangelischen Kirche gelten, wenn man nur über das Princip einig war. Hier ist eine Erklärung des Geltenden gegeben, die die Vermischung mit dem Römischkatholischen verhüten soll. Nämlich geltend ist, was amtlich kann vorgetragen und aufgefaßt werden, ohne einen amtlichen Widerspruch zu erregen. Wenn wir fragen: wie steht es um den Gegensaz zwischen den Rationalisten und Supranaturalisten? gilt das eine oder das andre oder beydes oder keines? Da muß man sagen, wenn die Hallesche Sache das Ende genommen hätte, daß die rationalistischen 40 Anspielung auf die Auseinandersetzung um die von Ludwig von Gerlach vorgebrachte Anklage gegen die Hallenser Professoren Wilhelm Gesenius und Julius August Wegscheider, die als „Hallischer Theologenstreit“ bekannt wurde, vgl. dazu ausführlicher die Darstellung von Martin Ohst, KGA I/10, LXXXIX–XCIII.

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Lehrer wären abgesezt worden, und dieß nicht wäre gegründet worden auf specielle Dogmen, sondern es wäre auf ein Princip zurückgeführt worden, dann wäre es ein amtlicher Einspruch gewesen gegen die rationalistische Lehre. | Nun hätte entweder die preußische LandesKirche von den übrigen evangelischen Kirchen [sich] getrennt, wenn die übrigen solches noch hätten gelten lassen, oder es hätte sich eine Discussion eröffnet zwischen der preußischen Kirche und den evangelischen Kirchen, ob ein solcher Einspruch kann eingelegt werden, und wenn nun die ganze evangelische Kirche diesen Widerspruch eingelegt hätte, dann hätte man sagen können, daß jezt rationalistisches in der evangelischen Kirche nicht mehr gelte. Nun dieß nicht geschehen ist, so muß man gestehen, in der evangelischen Kirche ist dermalen der Rationalismus und Supranaturalismus nebeneinander geltend, denn die Sache kam amtlich zur Sprache, ohne amtlichen Widerspruch zu leiden. Ein andres Beyspiel ist dieses. Es war die Rede davon, einen Grundriß zum Religionsunterricht zu verbieten, der sich einer großen Uebereinstimmung mit der Schleiermacherschen Dogmatik verdächtig gemacht hätte. Es ist zwar nichts daraus geworden, aber man hat gesagt, die Kirche hätte die Schleiermachersche Dogmatik noch nicht anerkannt. Da wäre zu fragen, wie die Kirche das mache, eine Dogmatik anzuerkennen? ausser daß sie sie existiren und mündlich mittheilen läßt, – und in diesem Sinn hat die Kirche die Schleiermachersche Dogmatik anerkannt, ein andres Anerkennen hat sie gar nicht, als dieß, es ruhig gewähren zu lassen, wie viel oder wenig sie sich Geltung verschaffen kann. Darum ist zurückzugehen auf das Verhältniß einer dogmatischen Darstellung zur eigenen Ueberzeugung. Nach dem bisherigen läßt sich nicht denken, wie einer eine dogmatische Darstellung geben sollte, ohne eigene Ueberzeugung. Es ist immer ein Mangel, wenn die eigene Ueberzeugung nur auf unzusammenhängende Weise im Gegensaz hervortritt, wie in der Wegscheiderschen Dogmatik; da kann eigentlich der Zweck einer dogmatischen Darstellung gar nicht erreicht werden, denn eine solche Darstellung hilft gar nicht dazu, daß der Leser das Band der einzelnen Vorstellungen finde. Allerdings haben die Gegensäze die der Verfasser aufstellt eine gemeinsame Farbe, und so gewinnt man wohl ein zusammenhängendes Bild, aber dieß ist nicht durch den Darsteller gegeben, sondern ein Werk des Lesers, dem es auch nur 10 daß] dieß

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37 dem] denen

16 Anspielung auf Karl August Rütenik: Die christliche Lehre für Konfirmanden, 2. Theil Sittenlehre mit Zuziehung Schleiermacherscher Predigten aus dem Begriff des Reiches Gottes entwikkelt, Berlin 1832 31 Vgl. oben Anm. zu 456,34

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in verschiedenen Graden gelingen wird. Denen es nicht gelingt, die bekommen nur haltungslose Einzelheiten in sich hinein. § . 1 9 7 . enthält eine zweyfache apagogische Rechtfertigung des vorigen §. Es wird gesagt, einmal, wenn man um den Mangel an allgemeiner Übereinstimmung zu wenden, in eine solche Darstellung nur Gemeinsames aufnehmen wollte, | so würde dieß keine Dogmatik seyn, weil sie den Umfang derselben nicht erfüllte. Ebenso wenn eine Darstellung zwar den Umfang der Lehre erfüllt, aber nur die eigene Ueberzeugung gäbe, so wäre sie keine Dogmatik. Aus diesen zwey Negationen folgen die zwey Positionen: eine Dogmatik muß den ganzen Umfang der Lehre erfüllen, und die kirchlich geltende Lehre enthalten. Man kann nun freylich sagen, es läßt sich nicht behaupten daß eine dogmatische Darstellung den Umfang der Lehre ganz erfüllen müsse, denn hier ist ein UnEndliches, und dieß kann daher nur relativ genommen werden. Am deutlichsten ist dieß zu sehen, wenn man sich in die scholastische Darstellung der Dogmatik zurückversezt, wo ein jeder Saz vorgenommen wurde und gefragt: wie vielerley verschiedene Bestimmungen lassen sich davon noch machen, und was liegen noch für mögliche Widersprüche in diesem Saz. In der Moral nennt man dieß das Casuistische. Nun auf alle solche möglichen Gegensäze die in einem Saze enthalten sind, muß eine Bestimmung gegeben werden, wenn der Umfang im strengen Sinn genommen werden soll. Das geht aber ins UnEndliche, und jede casuistische Entscheidung ist selbst wieder ein Casus, der verschiedene Auslegungen zuläßt. Diese Schwierigkeit verschwindet aber, wenn wir auf den theologischen Charakter der Dogmatik zurückgehen. Hier haben diese unendlichen Contrapositionen nicht mehr diese Bedeutung, weil sie nicht mehr in die lebendige religiöse Mittheilung übergehen können, und nur in Beziehung auf den religiösen Gehalt sollen die einzelnen Säze behandelt werden, nicht in Beziehung auf ihren dialektischen Gehalt, welches Dialektische nur die Form seyn muß. Z. B. wenn wir bedenken, welche casuistischen Spizfindigkeiten in der katholischen Kirche ventilirt worden sind über die Brodverwandlungslehre, so ist doch, was dieser Lehre zu Grunde liegt, nur das Bewußtseyn von einer absoluten Realität der Vereinigung Christi mit den Gläubigen in dieser Handlung. Was darauf keine Beziehung mehr hat, gehört ins Dialektische, und dahin gehören die casuistischen Spizfindigkeiten. Also das ist die Grenze des nothwendigen Umfangs einer dogmatischen Darstellung, nämlich die mögliche Beziehung auf die religiöse Mittheilung in der christlichen Gemeinde. § . 1 9 8 giebt die Beziehung der dogmatischen Theologie auf die KirchenLeitung an. Was zulezt gestellt ist, ist für die unmittelbare An-

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wendung das wichtigste. Die gemachte Ordnung bezieht sich auf den Unterschied zwischen KirchenRegiment und Kirchendienst. Was sich auf die Entwicklung der Lehre bezieht, geht mehr auf das KirchenRegiment, – nicht als ob diese die Lehre bestimmen dürfte in der evangelischen Kirche, sondern nur so, daß derjenige, der einen Einfluß auf die Entwicklung der Lehre ausüben will, | nothwendig diese Uebersicht haben muß, die nur durch ein genaues dogmatisches Studium erlangt werden kann. Es ist nun zweytens gesagt, die Dogmatik müsse zeigen, bis wie weit, und zweytens wie manchfaltig sich das Princip der laufenden Periode entwickelt habe. Was das erste anlangt, so muß man allerdings immer auf diesen Unterschied merken, und es muß sich in jeder dogmatischen Darstellung kundgeben, ob ein Lehrstück eine eigne Gestaltung gewonnen hat durch die Reformation, oder ob es noch die scholastische Gestalt an sich hat. Freylich hat es von Anfang an Bemühungen in der Evangelischen Kirche gegeben, die dogmatische Theologie von der scholastischen Methode unabhängig zu machen – so Melanchthons Loci und Calvins Institutio. Aber später sind Reactionen eingetreten, und es hat Zeiten gegeben, wo jedes große dogmatische System ganz den scholastischen Zuschnitt hatte. Nun später hat sich das Scholastische mehr abgestreift, aber es kommen immer wieder Reactionen, daß es sich wieder einschleichen will. Nun wenn man auf die Kirchenleitung sieht, so muß man zugeben, daß die Reformation in ihrem Princip antischolastisch sey, und daß man also nur sagen könne, daß alle Lehrstücke ihr evangelisches Gepräge durch das Losreissen von der dogmatischen Form bekommen müssen. Die Kirchenleitung muß also dahin streben, die Dogmatik mehr und mehr von dem scholastischen Charakter zu befreien, weil durch denselben der Einfluß der Lehre auf das Unmittelbare sich aufhebt, weil dabey das Absehen ganz auf das dialektische gerichtet ist. – Das zweyte, nämlich die Manchfaltigkeit in der Gestaltung der einzelnen Lehrstücke ist nun in der evangelischen Kirche ganz unvermeidlich aber Niemand wird sagen können, daß ein dogmatisches Studium seinen Zweck für das KirchenRegiment erreichen könne, wenn sich nur an eine Darstellung gehalten wird. Denn erstens fehlt es dann an der wissenschaftlichen Ueberzeugung, welche Darstellung gründlicher ist oder biblischer oder praktischer oder mehr der Schule angehörig, darüber läßt sich ohne Vergleichung keine Ueberzeugung haben. Nun 4 diese] wohl zu korrigieren in dieses (vgl. Sachs 188)

11 es] er

17 Philipp Melanchthon: Loci communes rerum theologicarum seu hypotyposes theologicae, Wittenberg 1521 17 Johannes Calvin: Christianae religionis institutio, totam fere pietatis summa et quicquid est in doctrina salutis cognitu necessarium complectens, Basel 1536

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giebt es in allen diesen Richtungen Extreme, und diese muß die KirchenLeitung, – nicht die amtliche, sondern die von den Einzelnen ausgehende, also die der Theologen, zu vermindern suchen. Dieses kann nun nicht von jeder einzelnen dogmatischen Darstellung gelten, daß sie alle in sich vereinigen muß, sondern sie stellt sich bestimmt auf eine Seite sonst würde das Ganze gar nicht zusammenzuhalten seyn. Dieß eröffnet uns einen Blick in den Umfang des dogmatischen Studiums, wovon später. Das zulezt aufgeführte, daß die wissenschaftliche Gestaltung der christlichen Lehre dem Volksmäßigen Ausdruck die Norm geben müsse, dieß, sagt | der Zusaz, sey das Princip gewesen, aus welchem sich die Dogmatik entwickelt hat. Wenn wir auf die ersten Mittheilungen christlicher Lehre zurückgehen, so finden wir einen bedeutenden Unterschied im Neuen Testament zwischen den Äusserungen Christi, und der Art, wie die Apostel sich an christliche Gemeinden wenden. Denn hier finden wir schon eine Neigung zur größeren Bestimmtheit. Die Schärfe und Bestimmtheit, wobey immer das Denken an etwas Ähnliches aber Differentes zu Grund liegt, wäre bey den ursprünglichen Äusserungen Christi nicht an der Stelle gewesen; solche Differenzen entwickelten sich erst in den christlichen Gemeinden, und aus diesen Differenzen im volksmäßigen Ausdruck ist die wissenschaftliche Bestimmtheit der dogmatischen Säze entstanden. § . 1 9 9 wird eine genetische Differenz in den einzelnen dogmatischen Elementen aufgestellt. Dieß giebt sich im §. nicht gleich bestimmt für beyde Seiten zu erkennen. Es giebt Elemente die von Einzelnen ausgehen; dazu ist der Gegensaz Elemente die von einem allgemeinen Geiste ausgehen. Dieß ist hier anders gesagt. Nämlich in jeder Periode dominirt ein bestimmter Charakter, welcher sich aus dem EpochenPunkt entwickelt hat. Dieß ist jezt das Princip der Reformation, dieß ist jezt der gemeinsame Geist, was aus dieser Epoche herrührt, dieß trägt nicht individuellen Charakter, sondern findet gemeinsame Anerkennung. Daher wird gesagt, was dieses Ursprungs ist, ist auch das am Meisten kirchlich Bestimmte. Dagegen was von Einzelnen ausgeht, kann erst ein solches werden, wenn es allmählig in den GemeinGeist übergeht, und dieß kann es vollkommen nur durch eine neue Epoche. Z. B. wir wollen annehmen, das Princip, was die rationalistischen Dogmatiken bezeichnet, sey ein wesentlich von dem Geiste der Reformation verschiedenes Princip, so folgte daraus, daß es seinen Ursprung nur auf zerstreute Weise in Einzelnen hat, – ferner, daß es ein allgemein geltendes nur dann werden könnte, wenn eine andre Epoche käme, die den Geist der Reformation verdrängte. Nun wenn das dogmatische Studium den Einfluß auf die Kirchenleitung 8 Vgl. KD2 § 201 (KGA I/6, S. 397,21–398,8)

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haben soll den der vorige § angiebt, so muß man diese zwey Elemente überall zu unterscheiden suchen. Der ganze Wechsel zwischen Perioden und Epochen läßt sich nur aus diesen zwey Elementen begreifen. Im Zu s a z wird nun aufmerksam gemacht auf ein Element, was im §. nicht namhaft gemacht ist, nämlich was aus früheren Perioden herübergenommen ist. Davon konnte [bey] der Abzweckung des § noch nicht die Rede seyn, es wird nun das Verhältniß dieses Elements zu dem was im § das Kirchlichbestimmte heißt angegeben. Da kann man zweierley Ansichten geltend machen. Solche Gestaltungen der Lehre, | die aus der vorigen Periode hervorgehen, denen steht bevor, kann man sagen, durch das Princip dieser Epoche bestimmt zu werden, also was in unsrer Dogmatik noch scholastisch ist, dieß muß noch umgestaltet werden. Die andre Ansicht ist die: Was sich aus der früheren Periode her in seiner damaligen Gestalt erhält in einer neuen Epoche, das beweist eben dadurch, daß es den Zusammenhang zu erhalten bestimmt ist zwischen der späteren Entwicklung und der früheren. Also müßte es so wie es ist behalten werden, damit nicht die geschichtliche Continuität gestört werde. Diese zwey Ansichten sind sich ganz entgegengesezt, und verschiedene Theologen sind von jener oder von dieser ausgegangen. Entscheiden läßt es sich nur, wenn man sich klar macht, wie sich das Princip der Reformation zu den ursprünglichen Darstellungen des christlichen Princips verhält. Da giebt es wieder Extreme, nach deren einem die Symbolischen Bücher schon das Maximum des Gegensazes gegen den Katholizismus sind, das andre Extrem ist das, welches alles Positive darstellt als ein aus der früheren Periode Herübergenommenes und zu Entfernendes. § . 2 0 0 wird die Differenz aufgestellt, wie sich diese zwey Elemente verhalten in Beziehung auf den Zusammenhang. Da ist gesagt, alle diejenigen Punkte, welche die Entwicklung der Periode gewonnen habe, müssen auch zusammenstimmen: alle andern können nur als fragmentarische Einzelheiten erscheinen. Das Verhältniß dieser zwey Elemente zeigt, auf welchem EntwicklungsPunkt die Periode steht. Betrachtet man den Fortschritt des rationalistischen Princips in der Dogmatik, und es giebt Darstellungen dieses Charakters, welche ein zusammenstimmendes LehrGebäude bilden, so zeigte dieß entweder, daß es die höchste Zeit sey, daß eine Reaction dagegen eintreten müsse, oder es würde anzeigen, daß wirklich, wenn eine solche Reaction nicht mehr stattfinden könnte, entweder eine Spaltung entsteht oder aber jenes Princip das dominirende wird und eine neue Epoche herbeyführen werde. So lange aber das Rationalistische nur in Form von Opposition auftritt gegen andre Gestaltungen, so kann es Opposition seyn gegen das Scholastische aber auch gegen die bestimmte Gestaltung, die das Christenthum in der Reformation gewonnen hat. So

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lange also solche Elemente nur als Opposition auftreten, so sind sie nur fragmentarische Einzelheiten. Aber wenn ein vollkommener Zusammenhang aufgestellt wird, dann muß die Sache anders beurtheilt werden, und dann kann auch erst sicher geschlossen werden, von welcher Art das Princip ist, das sich darinn entwickelt. Nun kann auch das Princip der Reformation selbst verschieden aufgefaßt werden, aber diese Verschiedenheiten sind dann nichts dem Princip Widerstreitendes, sondern nur eine | Modifikation dieses Princips. Unter dem Rationalistischen nun giebt es Elemente, die nur eine Modification des Princips sind, und andre welche dem Princip der Reformation widersprechen; diese beyden sollte man nicht mit demselben Namen benennen. § . 2 0 1 giebt an den Totalumfang dessen, was zur Kenntniß des gegenwärtigen Zustands der Lehre gehört, nicht blos zur historischen Kenntniß, sondern zur dogmatischen, d. h. des inneren Zusammenhanges. Da wird nun unterschieden dasjenige, was in den Gang der Entwicklung hineingehört, und was verschwindet. Auch unter lezterem ist Vieles, was zur Kenntniß des dogmatischen Zustands gehört. Man erkennt den Charakter, den die Entwicklung der Lehre in einer bestimmten Zeit trägt, nicht richtig, wenn man ihn nicht auch in seiner Modificabilität kennt. Dagegen wird viel gefehlt. Wenn man eine reinere Darstellung der christlichen Lehre sieht, so hält man diese für die einzig richtige. Daraus geht aber ein Erstarren in bestimmten Buchstaben hervor. Wenn wir nun sagen, um sich davon zu befreyen, muß man Alles, was Modification dieses Princips ist, aufsuchen, und da wird Vieles seyn was auf den weiteren Verlauf von keinem Einfluß ist, aber deßwegen war es nicht völlig indifferent in Beziehung auf das Princip selber, es kann auch von einer Reaction verdrungen worden seyn und also auch später wieder aufkommen. § . 2 0 2 ist von einer Eigenschaft der dogmatischen Darstellung die Rede, die vielleicht sehr sonderbar erscheint, daß sie nämlich müsse auch eine gewisse sichre Voraussicht haben, von dem, was sich zunächst in diesem Gebiet ereignen könne. Die Forderung aber geht aus §. 201 hervor. Hier war ein Unterschied aufgestellt worden zwischen dem, was in die weitere Fortbildung wesentlich verflochten ist, und dem, was wieder verschwinden kann. Was aber jezt als Lehre vorgetragen wird, davon kann man nicht an sich selbst wissen, ob es bestehen werde oder nicht; denn es kann etwas ursprünglich aus dem Princip der Reformation hervorgegangen, und eben deßwegen in die Fortbildung wesentlich verflochten [seyn], aber dieser Zusammenhang mit dem Princip ist ein Quantitatives, es kann Bearbeitungen 1 auftreten] auftritt

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von gleichem Inhalt geben, die mehr zwischen Protestantismus und Katholicismus schwanken, aber es können auch solche später zum Vorschein kommen, die das protestantische Princip noch entschiedener an sich tragen, und dann verschwinden jene. Daher ist eine solche Eigenthümlichkeit der Dogmatik nothwendig, sie wird sonst übersehen, was bald eine große Bedeutung gewinnen, oder solches hervorheben, was bald antiquirt seyn wird. | Ueber die Art, dieses divinatorische Talent zu erwerben, läßt sich nicht viel sagen. Es gehört dazu eine sehr starke eigne Affinität zu dem Princip der Periode, aber auch eine starke Unbefangenheit in Beziehung auf die einzelnen Differenzen, denn wenn man stark in einer befangen ist, so sieht man die andern alle für verschwindende an. Wenn wir die Geschichte des protestantischen Lehrbegriffs betrachten, so finden wir eine Menge von Streitigkeiten, die leztlich als beendigt erscheinen, wo einzelne Dogmen von Einzelnen anders gefaßt worden sind, und in diesem Streite werden Einzelne zwar nicht mehr verketzert, aber doch als Heterodoxe verworfen, so daß ihre Lehren nicht in den geltenden Lehrbegriff kommen; aber mehrere von diesen Ansichten zeigen sich jezt wieder, und da läßt sich erwarten daß spätere Entwicklungen werden klarer seyn und man muß sagen: wäre früher das divinatorische Talent stärker gewesen, so würden diese Elemente nicht auf diese Weise behandelt worden, nicht auf eine Zeit lang ganz verschwunden seyn. § . 2 0 3 . treten nun zwey Termini auf die für die Darstellung der christlichen Lehre im Zusammenhange einen starken Gegensaz bilden, nämlich die Begriffe des Orthodoxen und Heterodoxen. Diese Termini sind schon alt, aber nicht consequent gebildet. Zu dem Orthodoxen, etymologisch betrachtet bildet das Heterodoxe keinen Gegensaz, sondern dem Geraden ist das Krumme Verschlungene entgegengesezt, und dem Verschiedenen, was in Heterodox liegt, steht das Einförmige entgegen. Wenn also die termini einander nicht ursprünglich entgegengesezt sind, so kann man gleich den Gegensaz verschieden fassen, je nachdem man diesen oder jenen terminus zu Grund legt. Lege ich den Begriff Orthodox zu Grunde, so muß alles andre verkehrt und verdreht seyn. Lege ich den Begriff Heterodox zu Grund, so ist das Gegentheil die feste Einheit, aber dieß liegt nicht in Orthodox. Darum war es nicht möglich, bey der Etymologischen Erklärung zu bleiben, sondern es mußte eine andre historische substituirt werden. Der Gegensaz ist hier zurückgeführt auf die entgegengesezten Elemente, wenn man auf den Verlauf der zeitlichen Entwicklung sieht. Wenn man also annimmt, das Christenthum ist in seiner ganzen geschichtlichen Entwicklung Eins, aber die geschichtlichen Erscheinun34 seyn] seyn muß

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gen desselben sind in verschiedenen Zeiten verschieden. Jeder einzelne Zeitpunkt hat einen vor sich und einen nach sich, jener ist unmittelbar der Anfang der laufenden Periode, dieser der Anfang der nächsten Periode. Es giebt nun Elemente in der dogmatischen Darstellung, durch welche das Princip der Periode mit dem was natürlich darauf folgt, festgehalten wird gegen alle | möglichen Angriffe, und diese Elemente sind im Orthodoxen. Nun aber so wie man annimmt, es könne auch noch spätere Entwicklungen der christlichen Lehre geben, welche aber die Einheit des christlichen Princips auch ausdrücken, nur mit einem andern Coëfficienten, und daß man also die Keime dieser Entwicklung mit entfalten helfen soll – so ist dieß die Richtung auf eine neue Entwicklung, und dieß ist der Begriff des Heterodoxen. Im Z u s az wird dieß noch dargestellt in verschiedenen Beziehungen. Nämlich gewöhnlich denkt man dabey an eine bestehende feste Norm, der das Orthodoxe entspricht, das Heterodoxe nicht. Dieses ist allerdings dem ursprünglichen Sprachgebrauche sehr gemäß, denn sobald auf dem Gebiete des Lehrbegriffs Streitigkeiten angiengen, so gieng man von der Voraussezung aus, es müsse ein solches allgemein feststehendes geben, wiewohl es nirgends vorhanden war. Wo nun von den Concilien Bestimmungen hervorgiengen, da war ein solches Maß gegeben. Nun aber ist hierauf in dieser Erklärung gar keine Rücksicht genommen, und es wird gesagt, nach dieser Erklärung müsse man sich umgekehrt denken, daß die symbolischen Bestimmungen erst aus der orthodoxen Richtung hervorgiengen, nicht ihr zu Grunde lagen. Und hier kommt man auf denjenigen Sinn des Ausdrucks, der sich als der Gegensaz zu heterodox manifestirt, nämlich eine Richtung auf die Übereinstimmung, diese hat allen solchen Normen zu Grund gelegen. Dabey aber mußte man von bestimmten Punkten ausgehen, man hielt sich an ein schon Gegebenes, und bestimmte das Streitiggewordene darnach, ohne sich immer dieses festen Punktes recht bewußt zu seyn. Wenn man nun sagt, es muß [sich] auch die Richtung auf freye Entwicklung geltend machen, so ist dieß die Bedeutung des Heterodoxen im eigentlichen Sinn. Es scheint also als ob die Erklärung diejenige Fassung des Gegensazes zu Grund lege, welche vom Begriff des Heterodoxen ausgeht. Allein die Erklärung rechtfertigt sich auch, wenn wir vom Begriff des Orthodoxen ausgehen, nur daß man sich verständigen muß, was dann dieses Gerade ὀρθὸν sey? Da müssen wir unsre allgemeine Anschauung von der geschichtlichen Entwicklung, und der wesentlichen Einheit des Christenthums zu Grund legen. Das Christenthum ist wesentlich Eins, gestaltet sich aber verschieden in verschiedenen Zeiten; – worinn zeigt sich nun die Identität des Wesens? Offenbar in der Continuität des Wechsels, so daß die Charaktere verschiedener Zeiträume ein Ganzes bilden, und daß man die innre Ein-

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heit da hindurchverfolgen kann. Dieß in einem Bilde vorgestellt, so kommen wir auf eine Art von Symmetrie zurück, | und überall erscheint die Gerade Linie als Typus des Symmetrischen. Wenn wir nun umgekehrt sagen, in diesem Ganzen bilden sich auch Erscheinungen, die nicht in der gemeinsamen Wurzel, sondern an einzelnen Punkten ihren Grund haben, so ist dieß etwas, das sich für sich organisiren will, und da liegt das Krumme, Runde, die Bewegung um ein Centrum, und dieß ist das Gegentheil von dem Ορθόν. – Zulezt wird gesagt, diese Erklärung gehe nicht, wie die gewöhnliche auf den Inhalt der Säze. Aber offenbar kann man gar kein Kennzeichen des Inhalts angeben, denn das Heterodoxe macht ebenso gut Anspruch darauf, sich an die ursprünglichen Äusserungen des Christenthums anschließen zu können als das Orthodoxe, und da sieht man, daß sich der Inhalt nicht läßt zu einem solchen Kriterium machen, denn da kommt nichts heraus als daß der eine sagt du sagst dieß sey christlich, ich dieß, wir exegesiren und folgern aber verschieden. So bleibt also der Gegensaz leer, nur wie er hier gefaßt ist, hat er seine geschichtliche Bedeutung. § . 2 0 4 wird gesagt daß diese beyden Elemente im Ganzen und auch für jeden einzelnen Moment in der geschichtlichen Entwicklung gleich wichtig seyen. Dieß läßt sich nur rechtfertigen, wenn man die Sache recht im Großen ansieht. Wir dürfen nun auf den Anfang einer Periode zurückgehen. Fragt man: waren die Reformatoren orthodox oder heterodox? so müssen wir sagen: sie waren heterodox; aber aus ihrer Auffassung der Lehre entstand das, was jezt orthodox ist. Wenn man also sagt: das Heterodoxe ist deßwegen von gleicher Wichtigkeit mit dem Orthodoxen, weil sich aus ihm nur immer konnten die Principien neuer Perioden entwickeln, so ist dieß klar. Auf der andern Seite giebt es aber solche die die Wichtigkeit des Orthodoxen bestreiten und behaupten, wenn etwas erst orthodox geworden ist, so ist es auch Zeit daß es antiquirt werde. Dieß werden wir nun ebenfalls nicht zugeben können, denn dann gäbe es gar keinen Zusammenhang weder in jeder Periode selbst zwischen ihren Differenzen, noch zwischen verschiedenen Perioden, und es könnte die Einheit des Christenthums nicht zum Vorschein kommen. Wir werden also sagen müssen, das Orthodoxe ist wichtig nach dem Maße als sein Zusammenhang mit der wesentlichen Einheit des Christenthums noch anschaulich ist, und nichts, dessen Zusammenhang mit dem Wesen des Christenthums anschaulich bleibt, darf antiquirt werden. Wiederum alles Heterodoxe ist in dem Maße wichtig, als es die Elemente zu künftiger Entwicklung in sich tragen kann. So kann die Wichtigkeit des Heterodoxen nur durch das Divinatorische, die des Orthodoxen nur | durch den assertorischen Charakter der Dogmatik erkannt werden.

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Daraus geht das zweyfache Resultat der zwey folgenden §§ hervor, wo die Grenzen gezogen werden zwischen richtiger und falscher Orthodoxie und Heterodoxie. § . 2 0 5 . In der öffentlichen kirchlichen Mittheilung muß immer eine gewisse Unmittelbarkeit des christlichen Princips vorherrschen, und aus diesem muß sich das Einzelne möglichst unmittelbar entwikkeln. Was also in der kirchlichen Mittheilung noch lebendig ist, davon ist auch nach § 203 der Zusammenhang mit dem christlichen Princip noch anschaulich, also darf es nicht antiquirt werden. Wenn aber dieser Zusammenhang verloren ist, dann kann er auch nicht mehr in der kirchlichen Mittheilung vorkommen, und da geht die falsche Orthodoxie an, und eine solche Dogmatik hat keine lebendige Beziehung auf die Kirchenleitung mehr. So giebt es eine Menge von falsch orthodoxen Darstellungen. Allerdings giebt es Zeiten in der Kirche, wo die dogmatische Behandlung auf die populäre Mittheilung einen fast gewaltsamen Einfluß übt in Zeiten gewaltiger Streitigkeiten, denn da nimmt die Menge Theil daran, und ist fähig, in den Zusammenhang eingeführt zu werden, aber die Gewaltsamkeit ist da, wenn nun die Geistlichen ihre Kathedereindrücke hier unmittelbar realisiren wollen, wie in der Zeit der scholastischen Reaction nach der Reformation, wo alle dogmatischen Spizfindigkeiten auf der Kanzel vorkamen, und alle Predigten polemische Dissertationen [waren]. Aber da war auch in der öffentlichen kirchlichen Mittheilung kein rechtes Leben mehr. – Der zweyte Ausdruck, welcher mehr die wissenschaftliche Tendenz im Auge hat, ist nun, es sey falsche Orthodoxie, das noch festhalten zu wollen, was durch seinen wissenschaftlichen Ausdruck keinen bestimmten Einfluß auf andre Lehrstücke ausübe. In den großen dogmatischen früheren Systemen eines Quenstedt pp, finden wir Bestimmungen, welche jezt keinen Einfluß mehr auf andre Punkte haben, so wie diese jezt gefaßt werden. Im Z u s a z ist die Folgerung aufgestellt, was mit solchen Elementen geschehen müsse? Man könnte sich nach dem umsehen, was am meisten in der öffentlichen Mittheilung ist, und mit den übrigen Lehrstücken zusammenhängt. Dagegen ist hier gesagt, man müsse die Sache auf den Punkt zurückführen, wo sie vorher stand. Wäre z. B. die Lehre von der Stellvertretenden Genugthuung antiquirt, so müßte man die Untersuchung auf den Standpunkt vor Tertullian zurückfüh4 205] 105 28 Vgl. oben Anm. zu 441,30–31 37 Bei Tertullian (ca. 160 – nach 220) findet sich mit den Begriffen „satisfactio“ und „meritum“ zum ersten Mal die Terminologie, mit der später, auf das Heilswerk Christi bezogen, die Satisfationslehre formuliert wurde.

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ren. Aber dann würde dieser Standpunkt auch gewiß in die öffentliche Mittheilung kommen, so daß unsre beyden Antworten nicht sehr verschieden sind. | § . 2 0 6 . ist von der falschen Heterodoxie die Rede, welche in gewaltsamem Umsturtz besteht. Wer nun falsch orthodox ist, der wird auch das richtig Heterodoxe als falsch heterodox bezeichnen, so wie, wer auf dem Extrem der Heterodoxie steht, auch das ächt Orthodoxe als falsche Orthodoxie ausgeben wird. Es kommt also darauf an sich feste Punkte aufzustellen. Hier ist zuerst aufgestellt: wenn man sich will vor der falschen Heterodoxie hüten, so muß man nichts anfeinden, was in der kirchlichen Überlieferung seinen Stüzpunkt hat, und zweytens, nichts was nicht auf eine nachtheilige Weise in den Zusammenhang der Lehre eingreift. Eigentlich ist jeder Theologe verpflichtet, alle diejenigen Ausdrücke zu vertheidigen, welche in der kirchlichen Mittheilung sind. Diese müssen nicht gerade seine eigne Ueberzeugung seyn, sondern er vertheidigt nur die Freyheit der evangelischen Kirche. Es sind zwey ganz verschiedene Freyheiten, seine eigne Überzeugung zu geben, und den Kreis von Manchfaltigkeit zu bewahren, der in der evangelischen Kirche nothwendig ist. Nun giebt es entgegengesezte Zeiten und Regionen in der Kirche, eine, welche Profession macht von der falschen Orthodoxie und die Theologie zurückschrauben will in den scholastischen Zustand, die andre, welche von der falschen Heterodoxie ausgeht, und am Ende alles Eigenthümliche und Positive des Christenthums will wankend machen. So lange nun dieser Kampf beständig fortdauert ohne sich abzustumpfen, so lange fehlt es noch an einer der Wissenschaft würdigen und auf das Wesentliche gerichteten Behandlung. Die evangelische Kirche kann nicht auf eine absolute Einheit in der Darstellung der Lehre dringen; dieß muß sie der katholischen Kirche überlassen, und sie verkennt sich selbst, wenn sie nach dieser eingebildeten Vollkommenheit strebt, wie ja auch in der katholischen Kirche diese Einheit mehr äusserlich als innerlich vorhanden ist. Wogegen diese innre Beweglichkeit des religiösen und wissenschaftlichen Lebens in der protestantischen Kirche auch äusserlich zur Erscheinung kommt, was ein viel gesunderer Zustand ist als jener. Hiedurch, sagt der Z u s az werde nicht gerechtfertigt ein andres Element, nämlich eine gewisse Toleranz, welche immer nur ausgeht von einem Mangel an eigner Überzeugung auf dem wissenschaftlichen Gebiet, was gar kein schwaches Element im jezigen Zustand ist. Es geht von denen aus, welche wenig Interesse haben an der wissenschaftlichen Bestimmtheit des Ausdrucks, sondern nur am Prakti4 206] 106

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schen, und nun die Maxime haben, es kommt in der praktischen Darstellung der ReligionsLehre nicht | viel darauf an, ob etwas ein wissenschaftlich richtiger Ausdruck ist für ein Element der Frömmigkeit oder nicht, sondern nur darauf, ob es in der religiösen Mittheilung wirklich das Element der Frömmigkeit erregt, welches es erregen soll. Dieß ist eine knechtische Bequemlichkeit, denn die Freyheit ist nur in der Wissenschaft, und wer an dieser kein Interesse hat, der ist nicht in der Freyheit. Es ist eine Bequemlichkeit, weil es einen aus allem Streit heraushält und keinen Impuls etwas zu thun in sich schließt. Aber das Factum selbst ist unrichtig. Ein falscher Ausdruck muß immer eine Verwirrung hervorbringen, die oft nur nicht gleich zur Anschauung kommt. Also diese Maxime, Alles ruhig fortgehen zu lassen, woran sich viele Menschen erbauen, ist eine für das theologische Gebiet, rein in Beziehung auf die Kirchenleitung, ganz verderbliche Richtung. Nun wird also der dogmatischen Darstellung § . 2 0 7 ihr Ort in Beziehung auf die vorher gegebenen Punkte angewiesen oder es wird ein Kriterium angegeben, an welche dogmatischen Darstellungen sich der Theologe zu halten hat, um sich eine eigne dogmatische Ansicht zu bilden. Eine dogmatische Darstellung muß also in allen HauptPunkten orthodox seyn, aber sie muß auch ebenso wesentlich einzelnes Heterodoxe nicht nur enthalten, sondern auch in Gang bringen, dabey aber die Abweichungen falscher Orthodoxie und Heterodoxie vermeiden. Man könnte hier glauben, einen Widerspruch zu finden gegen die allgemeine Darstellung geschichtlicher Entwicklung, die hier zu Grunde liegt. Wenn wir nämlich sagen: jeder Moment gehört einer Periode an, jede solche hat einen eigenthümlichen Charakter, der entwickelt sich vom Anfangspunkt und steigt zum CulminationsPunkt. Indessen treten Elemente ein, die eine künftige Periode vorbereiten, diese verstärken sich allmählig und führen einen EpochenPunkt herbey, welcher das gegenwärtig dominirende Princip verdrängt. Nun orthodox ist dasjenige, was festhalten will an dem was sich aus dem Princip der lezten Epoche entwickelt. Nun dieß kann die richtige Darstellung seyn in jedem Punkte, der zwischen dem Anfangspunkt der Periode und ihrem CulminationsPunkt liegt, so daß jede richtige Darstellung in allen HauptMomenten orthodox seyn muß. Wenn man aber auf die Zeit gegen das Ende einer Periode sieht, da sind ja schon neue Elemente eingedrungen, die nicht im Zusammenhang mit dem Princip der Periode stehen, also auch nicht orthodox sind – also je näher am Ende einer Periode, desto weniger kann eine dogmatische Darstellung in allen HauptPunkten noch orthodox seyn. Dieß läßt sich gegen die Formel des § einwenden. Aber wenn der Zustand der Dinge auf diesen Punkt wirklich gekommen ist, dann ist auch | nicht mehr eine zusammenhängende Darstel-

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lung möglich, weil es keinen Centralpunkt mehr giebt. Fingiren wir, daß nach der christlichen Periode noch eine andre eintreten werde, eine andre Weltreligion: so lange nun das Christenthum noch in seiner lebendigen Entwicklung ist, so ist auch der Centralpunkt des Christenthums das constitutive Princip des ganzen Zusammenhangs der religiösen Ueberzeugungen. Nun können zwar Elemente vorkommen, aus denen etwas andres entstehen kann, aber sie gehen nicht in den Zusammenhang ein, und dieser läßt sich ohne sie darstellen, sie liegen ausserhalb der Kirche. Nun aber wenn solche Elemente in den Zusammenhang eindringen, so wird das erste seyn, daß gestritten wird, ob dieß christlich sey oder nicht, und solche Elemente müßten alles mögliche thun um für christlich gehalten zu werden. Kommt aber einer dahinter, der die so modificirte religiöse Denkungsart will als Eins darstellen, dem kann der Widerspruch nicht verborgen bleiben, und es giebt also keine zusammenhängende Darstellung mehr. – So gilt das hier gesagte von jedem Punkt einer Periode, solange noch in der Religiösen Denkungsart Einheit ist, also eine zusammenhängende Darstellung möglich. – Wenn nun im zweyten Saz gesagt ist, als eine Art von Pflicht einer dogmatischen Darstellung, daß sie einzelnes Heterodoxe in Gang bringen müsse, so beruht dieß auf dem divinatorischen. Es giebt zu jeder Zeit Punkte, welche nahe daran sind, antiquirt zu werden – im Religiösen und Politischen. Nun aber muß etwas Positives auftreten, um hier das Lezte zu thun, und dieß wirklich ausser Curs zu bringen, und dieß wird immer als Heterodoxes erscheinen. Daher findet sich in der Geschichte unsrer Kirche ein so merkwürdiger Wechsel, so daß ein angesehener Theologe sagte: ich bin so lange heterodox gewesen, nun bin ich auf einmal orthodox geworden. Alles was nothwendig geschehen mußte, um die protestantische Theologie von dem Scholastischen loszumachen, mußte Anfangs als Heterodoxie erscheinen, und von Einzelnen ausgehen. Am Anfang der ReformationsPeriode hat man nur das Princip vor Augen, und übersieht die Einzelnen, aber was damals noch nicht geschah, das muß später von Einzelnen ausgehen. Wenn nun eine dogmatische Darstellung die rechte Einsicht hat, so muß sie das zu Antiquirende als solches bezeichnen, und auch das aufstellen, wodurch jenes ausser Curs gebracht werden kann. Freylich kann man einer dogmatischen Darstellung nicht zur Pflicht machen, solche heterodoxen Elemente zu enthalten, welche erst einer folgenden Periode angehören, denn das Princip der gegenwärtigen Periode muß sich ohne diese zusammenhängend darstellen lassen. | § . 2 0 8 wird nun gesagt, worauf schon oben aufmerksam gemacht war, daß jeder einseitig orthodoxe Dogmatiker auch die rechte Heterodoxie für falsch erklären wird pp. Alle solche einseitig arbei-

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tenden Theologen sind so unvollkommene Organe der Kirche, weil sie den Stand der Dinge nicht aus seinem eigentlichen Princip darstellen können. Der Zu s a z sagt nun, daß dieses, daß immer viele auf diesen Extremen stehen, die Ursache sey von der turbulenten Bewegung in der evangelischen Kirche. Sonst würde man auf ruhigere Weise die verschiedenen ConstructionsArten miteinander vergleichen. Der Grund davon liegt in dem Entspringen der protestantischen Kirche aus dem gewaltsam zurückgedrängten Streben nach Verbesserung. § . 2 0 9 ist die Rede von der Art, wie in der Darstellung des Einzelnen der innre Zusammenhang des Ganzen zum Vorschein kommt, was man die dogmatische Argumentation nennen kann, aber nur mit Beziehung auf den Ausdruck, nicht auf den Inhalt. Da ist angeführt 1) die Zurückführung auf den Kanon, und 2) die Congruenz mit andern Säzen. Die Zurückführung auf den Kanon ist eine mittelbare und eine unmittelbare. – Wenn in dem Wechsel des Verlaufs die Identität des Ganzen soll dargelegt werden, so kann dieß nur geschehen in dem Zurückführen auf das Frühere. Der Kanon nun ist das Frühere κατ’ ἐξοχήν, das Ursprüngliche im Verhältniß zu allem Späteren. Wenn also gesagt wird, diese Darstellung eines christlichen Gemüthszustandes ist dieselbe wie jene Kanonische, führt auf denselben innern Gehalt zurück, wie jene kanonische, so ist diese Identität nachgewiesen. Dieß ist nicht möglich ohne die eigene Ueberzeugung. Wenn wir einen Lehrsaz unsrer Kirche, mit dem wir selbst übereinstimmen, aus dem Kanon bewähren, so ist dieß zugleich der Ausdruck der eigenen Ueberzeugung, wogegen ich auch den Zusammenhang nachweisen kann, den eine andre KirchenPartey annimmt zwischen ihren LehrSäzen und dem Kanon, aber nur historisch, sonst müßte ich auch den LehrSaz für richtig halten. – Nun mittelbar wird ein Saz auf den Kanon zurückgeführt entweder dadurch, daß er auf einen andern gleichzeitigen Saz zurückbezogen wird, der selbst unmittelbar auf einen kanonischen zurückgeht, oder auf einen früher aufgestellten kanonisch bewährten Saz. Dieß leztere kann auch abgekürzt werden, s. unten. – Die Zusammenstimmung eines einzelnen Sazes mit andern Säzen ist nun die Darstellung des innern Zusammenhangs in den verschiedenen Theilen des Lehrbegriffs einer gewissen Zeit. Je positiver diese Zusammenstimmung nachgewiesen werden kann: Wer dieß so ausdrückt, der muß dieß so ausdrücken, desto fester hängt das System zusammen. | 27 kann,] kann, den Zusammenhang 33 Vgl. KD2 § 211 (KGA I/6, S. 401,7–15)

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Der Z u s a z nimmt am Ende Rücksicht auf eine antiquirte Unterscheidung zwischen FundamentalArtikeln und Anderen. Dabey liegt eine Classification zu Grunde, welche eine Differenz in der Wichtigkeit aufstellen wollte. Die ganze Geschichte derselben läuft darauf hinaus, daß man sich ebensowenig darüber hat vereinigen können, welches FundamentalArtikel seyen, als man sich im Ganzen über die Glaubenslehre hat einigen können. Es kommt am Ende immer darauf hinaus, daß man das eigentlich dogmatische Gebiet verläßt durch diese Unterscheidung. Die ursprüngliche Erklärung der FundamentalArtikel war, es seyen solche die nicht ignorirt oder bezweyfelt werden können ohne Verlust der Seligkeit. Dieß kann von keinem dogmatischen Saz in seiner dogmatischen Form gelten, welche für die Masse immer unzugänglich ist. Diese Menschen müssen einen solchen ignoriren, sie können ihn wohl im Gedächtniß behalten, aber sie verstehen ihn nicht. So mit der TrinitätsLehre. Kein Mensch, der nicht die Geschichte der Streitigkeiten verfolgen kann, der kann auch den kirchlichen Ausdruck nicht verstehen. Also eine solche Definition hat sich selbst nicht recht verstanden, sondern gehörte solchen Zeiten an, wo der Buchstabe eine zu große Gewalt hatte. Entweder es giebt nur einen FundamentalArtikel, der aber gar nicht die Gestalt eines Dogmas hat, oder eine solche Erklärung ist gar nicht zulässig. Denn der Glaube an Christum ist der FundamentalArtikel, aber so unbestimmt ist er kein dogmatischer Saz, als FundamentalArtikel muß er aber in dieser Unbestimmtheit gelassen werden. Betrachtet man nun ein großes dogmatisches System und sagt, hier sey doch nicht alles von gleicher Wichtigkeit, so ist dieß richtig, nur darf dabey von der Seligkeit nicht die Rede seyn. Da wird sich aber nicht sagen lassen: wir wollen einiges zum Voraus aufstellen, was als gleichwichtig und central gelten soll, sondern das natürliche Verfahren wäre, daß man erst das minder wichtige ausschiede. Zu diesem Ausscheiden nun haben wir die Formel schon lange vorher aufgestellt, nämlich was noch von Gebrauch ist in der religiösen Mittheilung, dieses hat eine andre Bedeutung als dasjenige was nur noch geschichtliche Geltung hat. So kommt die Sache auf einen andern Punkt: das ist das unmittelbar Wichtige, was seine Bedeutung sowohl in der wissenschaftlichen Richtung als in der religiösen Mittheilung hat; was nur für die wissenschaftliche Richtung Bedeutung hat, ist von untergeordneter Wichtigkeit. Im ersten Theile des Z us az e s ist nun die Frage aufgeworfen nach einer Unterordnung in dem Verhältnisse der einzelnen Säze. Da ist das 9–11 Vgl. etwa die Definition bei Johann Andreas Quenstedt: „Articuli fundamentales, sive qui ignorari vel saltem negari salva fide et salute nequeunt, sunt, qui fundamentum fidei concernunt.“ (Theologia didactico-polemica, sive Systema theologicum in duas sectiones didacticam et polemicam divisum, Bd. 1–2, Leipzig 1715, Bd. 1, Sp. 350)

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Aufgestellte dieses: Je mehr ein Saz einer solchen Operation bedarf daß er, ehe er seine Bestimmtheit | und Gewißheit bekommt, entweder durch Zurückführung auf den Kanon, – so daß er das Kanonische nicht in sich selbst trägt, – oder nur durch sein Verhältniß zu andern, desto mehr hängt er von andern ab, im ersten Fall von den Gliedern die den dogmatischen Ausdruck mit dem Kanonischen vermitteln, im zweyten Fall von andern – so muß man sagen, diejenigen Säze welche diese Abhängigkeit nicht haben, sind primäre. Die primären Säze werden nun diese seyn, in Beziehung auf welche die Differenz zwischen dem kanonischen, dem wissenschaftlichen, und ascetischen Ausdruck am geringsten ist denn diese gehen am unmittelbarsten auf ein ursprüngliches Element christlicher Frömmigkeit zurück, und bedürfen keiner Vermittlung. Wo also der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem christlich frommen Element und dem Ausdruck vorhanden ist, da ist jene Operation nicht nöthig, weil gleich jeder den dogmatischen Ausdruck zugiebt. § . 2 1 0 . zeigt die Abhängigkeit der Dogmatik von der Hermeneutik. Hiebey darf man nur unsre symbolischen Bücher zur Hand nehmen, so können wir recht gut jeden Artikel in unseren dogmatischen Sprachgebrauch übertragen, und uns von der Identität des Gedankens überzeugen, aber von den Schriftstellen, die dabey angeführt sind, werden wir oft nicht mehr gelten lassen können, daß der Saz darinn enthalten ist. Wenn Schrifterklärungen auf Vorstellungen beruhen, deren Ungültigkeit man erkannt hat, so kann diese Erklärung nicht mehr gebraucht werden in den dogmatischen Argumentationen. Ein dogmatischer Saz aber hängt niemals ab von der Bewährung durch den Kanon, sondern sobald ich weiß, daß der Inhalt eines Sazes mit dem Wesen des kanonischen Glaubens zusammenstimmt, so braucht es der Bewährung aus einzelnen Schriftstellen nicht. Die dogmatische Entwicklung hat einen andern Exponenten als die hermeneutische Entwicklung, beyde können nicht immer auf dieselbe Weise sich aufeinander beziehen. Entweder ein Saz verliert ganz seine unmittelbare Bewährung aus dem Kanon, aber wenn er dann nur seine mittelbare Bewährung behält, so kann der Inhalt des Sazes derselbe bleiben; es kann aber auch geschehen, daß durch die exegetische Entwicklung eine andre Beweißstelle gefunden wird, und dann bekommt der Saz eine andre unmittelbare Bewährung. Im Z u s a z ist gefolgert einmal, man dürfe den Saz nicht umkehren, und eine Abhängigkeit der Hermeneutik von der Dogmatik zugeben, denn dann würde der Kanon dienen, wo er eigentlich beherrschen soll. Wenn man durch dogmatisches Vorurtheil sich verleiten 13 also] also das

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läßt zu unrichtigem hermeneutischem Verfahren, so widerspricht dieß dem protestantischen Grundsaz. Nun aber giebt es kein sicheres Palladium für diesen Primat der hermeneutischen Entwicklung als eben dieses, daß | man sich klar macht, es afficirt die dogmatische Geltung eines Sazes nicht, wenn auch die bisherige kanonische Bewährung wegfällt. – So lange aber die kanonische Bewährung eines Sazes bleibt, so ist sie, wird gesagt, auch ein Schuz gegen jede heterodoxe Tendenz. Die hermeneutische Methode in ihrer Identität muß die Tendenz in dem dogmatischen Verfahren zu antiquiren und zu neuern, hemmen, denn Alles wovon der Zusammenhang mit dem Kanon erhellt, das hat seinen Plaz noch in der Kirche. Aber ebenso, so lange ein Saz noch Verwandtschaft hat im dogmatischen Complex, so ist er nicht zu antiquiren, gesezt auch, er könne nicht denselben unmittelbaren Zusammenhang mit dem Kanon nachweisen, und hätte nicht mehr denselben Einfluß auf die kirchliche Mittheilung, nur geht er dann von der ersten Klasse über in die zweyte Klasse dogmatischer Säze. § . 2 1 1 . ist die Rede von der Abkürzung dessen was §. 209 als mittelbare Zurückführung auf den Kanon aufgestellt war. In gewissen Fällen nämlich könnte die Zurückführung auf symbolische Schriften die Stelle des Beweißes aus dem Kanon vertreten. Aber nur unter der Bedingung, daß wir uns die Auslegung der symbolischen Schriften noch als geltend aneignen können. Und nur bey solchen Säzen, die in einem engeren Sinne dem Typus der jezigen Periode angehören. Säze in unseren symbolischen Schriften, die aus früheren Symbolen herübergenommen sind, von denen ist problematisch, ob diese Säze nicht noch eine Veränderung durch das Princip der Periode erleiden werden. So wie dieses problematisch gelassen wird, so kann man nicht diesen Saz an die Stelle der kanonischen Bewährung treten lassen, sondern eben die Vergleichung mit dem Kanon kann leicht darauf führen, ob er für unsre Periode seine Gestalt behalten darf oder nicht. Daraus kann also der Impuls zu einer neuen Bearbeitung entstehen. Nun wird im Z u s a z e gesagt, dieß sey nicht nur erlaubt, sondern auch rathsam, für diese Fälle bey der Übereinstimmung mit den symbolischen Säzen stehen zu bleiben, weil dann der Charakter der Periode entschiedener erhellt. § . 2 1 2 . ist nun eine natürliche Folgerung. Ein Lehrsaz, wird gesagt, von dieser Klasse welcher auf die Äusserungen unsrer symbolischen Bücher zurückgeführt wird, sey nur vollständig protestantisch behandelt, wenn er den Gegensaz gegen die römische Fassung in sich enthält. Man kann sagen: wir dürfen doch nicht vergessen, daß das Christenthum Eines ist, und daß wir ja in der Reformation niemals eigentlich das ganze Verfahren der römischen Kirche für etwas das Christenthum selbst Aufhebendes wiewohl in vielen Stücken für eine

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Corruption erklärt haben. Es giebt also ein Gemeinsames für beyde, und da muß es also auch Ausdrücke geben, welche diese Uebereinstimmung darstellen. | Dieß ist richtig, aber alle Säze von solchem Inhalt sind eben nicht solche welche den eigenthümlichen Charakter der Periode ausdrücken, von welchen hier die Rede ist. Was ausserhalb des Gebiets liegt, in welchem sich dieser Gegensaz entwickeln kann, da wird auch die dogmatische Behandlung den Gegensaz nicht in sich schließen können, aber dieß sind auch nicht die Fälle von welchen hier die Rede [ist]. Von § . 2 1 3 . wird von dem dialektischen Element in der dogmatischen Darstellung gehandelt. Der Ausdruck streng didaktisch bezeichnet nämlich dieses im Gegensaz zu dem unbestimmteren Populären. Es wird nun gesagt der dogmatische Ausdruck sey abhängig von dem jedesmaligen Zustande der philosophischen Disciplinen. Diese Abhängigkeit wird im Zusaz eine formelle genannt, weil sie das Verhältniß mehrerer Ausdrücke betrifft, aber auch eine materielle, weil überall müsse auf psychologische und ethische Elemente zurückgegangen werden. Z. B. was lezteres betrifft, in der Lehre von Gnade und freyem Willen. So wie solche Gegenstände auf dem philosophischen Gebiet theils streitig sind, so muß das eine oder andre gewählt werden, theils wenn sie auf diesem Gebiete bestimmt bezeichnet sind, so muß dieser strengere Ausdruck in die Dogmatik übergehen, und alles Rhetorische p daran seine Rectification finden. Damit wird aber nicht behauptet, daß die Dogmatik ihrem Fundament nach auf etwas Philosophisches zurückgeht. Wo eine regelmäßige philosophische Entwicklung ist, da kann hier der Ausdruck genauer seyn, andrerseits enthält aber auch das theologische Interesse selbst den Reiz zu einer bestimmten Fassung dieser Gegenstände. Von diesem religiösen und dogmatischen Impuls aus bildete sich die christliche Philosophie bis sie sich später allmählig sonderte. – Dieß nun ebenfalls das Formelle, die richtige Stellung der Begriffe zu einander dieses rein Logische muß nothwendiger Weise auch in dem dogmatischen Ausdruck immer mehr hervortreten, und ihn von dem was in andern Gebieten erlaubt ist, unterscheiden. So wie wir auf den Zustand der Philosophie verwiesen werden, so werden wir auch auf eine große Manchfaltigkeit von Systemen verwiesen, da ist also die Frage aufzuwerfen: wie verhält sich zu der dogmatischen Aufgabe diese Manchfaltigkeit der philosophischen Systeme? Die Frage wird hier auf eine blos begrenzende Weise 17 psychologische] ψγchol 34–38 Dem Sinn nach beginnt hier die Erörterung von § 214, der nicht explizit genannt ist.

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beantwortet. Man kann sagen entweder: es giebt für das Christenthum nur eine Philosophie, und jede andre muß es ignoriren, und dann wird es nothwendig, diesen Zusammenhang zu demonstriren. Dieser Weg ist hier nicht eingeschlagen, sondern zurückgegangen auf das Christenthum als eine Function der religiösen Thätigkeit im Menschen. An und für sich geht hieraus nur hervor, was hier aufgestellt ist. Gäbe es philosophische Systeme, welche jene religiöse Function für nichts erklären, oder für etwas Aufzuhebendes, so würde der dogmatische Ausdruck | aus solchen Systemen nichts entlehnen können. Gesezt, es gäbe Systeme, welche den Monotheismus aufhöben, und polytheistisch oder pantheistisch wären, so müßten wir sagen: das Christenthum ist monotheistisch, eine solche Philosophie könnten wir also nicht gebrauchen in der christlichen Dogmatik. – Was ist nun aber auf diesem Wege Allgemeines geleistet? PZweierleyS: wenn es gar keine antireligiöse und antimonotheistische Philosophie giebt, so ist kein Grund warum man ein solches philosophisches System nicht gebrauchen sollte. Wenn einer sich in ein philosophisches System eingelebt hat, so wird auch die Form der Behandlung der Dogmatik bey ihm die Farbe dieses Systems haben. Hat sich ein philosophisches System in einer Zeit in der christlichen Kirche geltend gemacht, so wird es auch einen Einfluß auf den dogmatischen Ausdruck gewonnen haben und behalten, bis ein andres kommt. Bey gleichzeitigen Systemen wird der eine Theil sich an dieses, der andre an ein andres System halten. Der Zu s a z bezeichnet nun philosophische Systeme, welche einen solchen Charakter, der sie ausschließt von dem Einfluß auf die dogmatische Darstellung, an sich tragen. Nun kann man wohl diese Philosophien antiphilosophisch nennen und sagen: es kann keine Philosophie geben, die sich auf atomistisch materialistische Principien gründet, ebenso keine, die alles auf sinnliche Lust oder Unlust reducirt, auch keine, die atheistisch ist. Dieß sezt schon einen bestimmteren Sinn von Philosophie voraus. Es hat aber systematische Ausbildungen aller dieser Sinnesarten gegeben, die sich Philosophien genannt haben, und genannt wurden, und in dem weiteren Sinn des Wortes Philosophie können auch diese begriffen werden. Nun diese scheiden von selbst aus. Mit einer materialistischen und sensualistischen SinnesArt verträgt sich das innere Princip des Christenthums nicht, mit einer atheistischen verträgt sich die Religion überhaupt nicht. Engere Grenzen, wird nun gesagt, wären nicht leicht im Allgemeinen zu ziehen. Man kann sogar positiv sagen, es lassen sich gar keine andern Grenzen ziehen, denn es giebt keinen andern Wider25 Gemeint ist § 214 Erl. (KGA I/6, S. 402,6–10)

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spruch gegen das Christenthum als diesen, alles andre kann nur mehr oder minder brauchbar für die Dogmatik seyn. Versuchen wir aber auch die entgegengesezte Ansicht. Wenn jemand sagen wollte: es giebt nur ein philosophisches System, welches sich mit der didaktisch vollkommenen Darstellung des Christenthums verträgt. Eine solche Behauptung würde Vieles voraussezen, was sich nicht durchführen läßt. Alle philosophischen Systeme ausser jenen ausgeschlossenen, haben zu ihrer Zeit auch einen Einfluß ausgeübt auf die dogmatische Darstellung. Das fängt an mit der neuplatonischen und gnostischen Philosophie, und geht durch alle Formen der modernen Philosophie durch. Wenn man nun sagt, diese Bildungen des dogmatischen Ausdrucks seyen alle unvollkommen, so ist dieß richtig, und wenn jemand sagt, die | vollkommenste dogmatische Ausbildung kann nur eintreten mit dem vollkommensten philosophischen System, so ist dieß ebenfalls unleugbar. Aber die Behauptung, ob dieses System da sey oder nicht, diese gehört nicht hieher, wir müssen nur sagen: kommt einmal das philosophische System schlechthin, dann wird sich kein andres mehr mit seinem Einfluß auf die Dogmatik halten können. Nun haben wir es aber gegenwärtig nur zu thun mit dem Nebeneinanderbestehen von verschiedenen philosophischen Schulen, und mit einer dogmatischen Entwicklung in der christlichen Kirche in solchen Gegenden wo ein großer Werth auf Philosophie gelegt wird, und in solchen wo sie fast nichts gilt. Mit der dogmatischen Darstellung sind wir aber eben an die Gegenwart gewiesen. Nun wird dargestellt was aus diesem Zustand folge. § . 2 1 5 u n d 216 stellen das Entgegengesezte zusammen. Aus dem Einfluß verschiedener gleichzeitiger Systeme kann hervorgehen, 1) daß dogmatische Elemente desselben religiösen Gehalts doch in dem didaktischen Ausdruck sich ganz verschieden gestalten, daß man also nicht bey dieser Differenz stehen bleiben darf sondern immer auch auf den Gehalt sehen [muß]. Die zweyte Folgerung ist, daß dogmatische Säze einander ähnlich sehen, die auf einen ganz verschiedenen religiösen Gehalt zurückgehen. Es kann nämlich eine Ähnlichkeit in den terminis liegen, welche in verschiedenen Systemen einen verschiedenen Sinn haben. Bisweilen wird dieß dargestellt als Unredlichkeit, man wirft einem Theologen vor, er wolle ganz andre religiöse Elemente nur durch dieselben Ausdrücke bezeichnen. Dieser Schein muß aber bald sich erkennen lassen, ob einer durch diese Ausdrücke etwas andres sagen will p. Dieser Zustand kann das dogmatische Studium nur sehr erschweren. Die Differenzen §. 215 von denen ist in 40–4 Vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „Aus der ersten Differenz kann ein Streit nur aus Mißverstand entstehen der sich bald löset. Man sagt[:] Du hast dich so ausgedrükt, ich mich dagegen so, nun laß uns sehen was wir beide darunter verstehen und so muß es sich lösen. Das geht auf 209. daß der Ausdruk der Beste ist, der sich leicht auf

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dem Z u s a z gesagt, daraus könne nur durch Mißverständniß ein Streit entstehen; nämlich bey einem dogmatischen Streit, der eine theologische Tendenz hat, muß man doch von dem Religiösen ausgehen, – ist dieses identisch so muß sich der Streit wohl bald geben. In Beziehung auf die Differenz § . 2 1 6 wird gesagt, daß sie am weitesten sich verbreiten und am gefährlichsten seyn könne. Hier könne es sogar kommen, daß protestantische und katholische Säze könnten verwechselt werden: Da ist also eine große Vorsicht nöthig, die aber auch, wenn man nur auf den religiösen Gehalt zurückgeht, sich auf immer lösen muß. Nehmen wir dieß alles zusammen und bedenken die Masse von Streitigkeiten in der christlichen Kirche welche nur aus dem Bestreben nach bestimmtem didaktischen Ausdruck hervorgegangen sind, so kann man fragen: wäre es nicht viel besser gewesen, man hätte nie daran gedacht eine solche Sprache über der der gewöhnlichen religiösen Mittheilung zu bilden? | würde sich nicht jeder Mißverstand zwischen Gemeinde und Lehrer p von selbst aufgehoben haben? Dieß läßt sich allerdings sagen, und wenn man sich denken müßte: man ist auf eine solche höhere Entwicklung des Ausdrucks ausgegangen, um dieß zu erreichen, daß eine solche Norm für den populären Ausdruck stattfände, so wäre dieß allerdings widersprechend gewesen, indem mehr Streit dadurch entstanden als geschlichtet worden wäre. Aber dieß ist auch nicht der Hergang der Sache, daß einige zusammengetreten wären, und gesagt hätten: wir wollen uns ein wissenschaftliches System schaffen, sondern es hat sich von selbst gemacht, auch ist die Sonderung nicht sogleich eingetreten. Der Grund davon liegt in dem natürlichen Verhältniß der Geistlichen welche nothwendig auf einer solchen Stufe stehen müssen, es ist unvermeidlich, daß sich ein System von Ausdrücken bildet, welches nur für diesen Kreis ist. Steht dieß fest, dann kommt es nur darauf an, daß jene zwey Gebiete in richtigem Verhältniß bleiben. Denkt man sich den dogmatischen Ausdruck nur so als Mittel, so wird die Sache sehr alterirt. Eben dieß ist § 198 auch nur als das zweyte dargestellt worden (nämlich die Norm für den volksmäßigen Ausdruck zu geben); das erste und hauptsächliche ist die Erkenntniß des gegenwärtigen Entwicklungspunkts. § . 2 1 7 . Kann nicht so gemeynt seyn daß in jedem dogmatischen Werke jedes Lehrstück auf den Gegensaz bezogen werden müsse, denn dieß läßt sich nicht füglich thun, sondern daß in der dogmatischen den volksmäßigen reduciren läßt (dies kann man leicht für eine Unvollkommenheit des wissenschaftlichen Ausdruks halten, aber ohne Grund, denn hier im religiösen ist der unmittelbare Ausdruk der nächste und beste.) Wenn jener Streit entsteht so geht man auf diese Centralsätze zu|rück, wie Gnade, Erlösung, wo man einig ist, indem man hier den unmittelbaren populairen Ausdruk im Dogmatischen hat.“ (S. 171f)

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Auffassung immer darauf Rücksicht genommen werden muß. Die Kenntniß der katholischen Doktrin ist unter unsern Theologen sehr schwach und doch klagen wir über die Proselytenmacherey der katholischen Kirche; dieß müßte eine Gegenwirkung erzeugen, und diese ist auf protestantische Weise nicht möglich als durch Kenntniß des katholischen Lehrbegriffs. Die Katholiken haben keine so genaue Kenntniß unsres Lehrbegriffs nöthig, denn sie knüpfen an das unmittelbare Bedürfniß der Einzelnen an, indem sie den Skepticismus rege zu machen suchen, und dann die katholische Kirche als das, worinn die vollkommene Sicherheit wäre feststellen. Aber wir können nur durch gehörige Kenntniß der katholischen Lehre so auf unsre Gemeinden wirken, daß solche Versuche bey ihnen nichts wirken. – Nun aber ist noch ferner offenbar, daß in Beziehung auf das divinatorische Element in der Dogmatik es durchaus nothwendig ist, den Stand der Entwicklung der Lehre in beyden Kirchen zu vergleichen, weil man nur daraus sieht, auf welchen Punkten der Gegensaz steht. So giebt es Annäherungen, die sich leicht verbergen. Z. B. wenn in guter Absicht in unsrer theologischen Literatur auf eine exegetische Überlieferung Gewicht gelegt wird, so ist dieß eine Annäherung | an die katholische Tradition, aber keine wahre, sondern [eine,] die uns später um so mehr in Verlegenheit bringen kann weil sie nur von Einzelnem, nicht vom Gesammtzustand ausgeht. Im Z u s a z ist alles auf das Bedürfniß der Kirchenleitung bezogen, den Stand des Gegensazes zu erkennen. – Wenn die Union dadurch vertheidigt worden ist, daß innerhalb einer jeden Kirche selbst viel größre Differenzen stattfinden als die Differenz der zwey KirchenGemeinschaften selbst: so ist dieß allerdings richtig; aber nun findet sich, daß die Differenz der religiösen Auffassungsweise auch durch die evangelische und katholische Kirche in gewisser Beziehung dieselbe ist. Daher hört man solche Äusserungen: ein Katholik, der dieselbe religiöse Gemüthsrichtung hat, ist mir lieber als ein Protestant, der dieß nicht hat – so kann dieß richtig seyn, wenn dadurch nur das Verhältniß des Verkehrs mit Einzelnen ausgedrückt werden soll, aber es liegt eine Ignoranz der allgemeinen Differenz zu Grunde. Dieß wird auf der Seite der Pietisten gesagt, aber ebenso auch von Seiten der Rationalisten: es giebt unter den Katholiken so gute rationalistische Theologen die mir lieber sind als viele protestantische Theologen. Dieß sind Annäherungen, die auf einer Unkenntniß des Verhältnisses beruhen, und wenn man dieses betrachtet, was nämlich jeder rechte Katholik noch anerkennen muß, so verschwindet die Möglichkeit eines leichten Verkehrs. Von § . 2 1 8 wird der Unterschied des Gemeinbesizes und der Virtuosität angegeben. Offenbar ist diese Disciplin als eine histori-

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sche, auch eine unendliche. Wenn man die Disciplin auch nur auf den gegenwärtigen Moment bezieht, gilt dieß. Wenn die dogmatische Theologie den Gesammtzustand des Lehrbegriffs in einer bestimmten KirchenGemeinschaft im Verhältniß zu andern, aber zugleich mit allen innren Varietäten darstellen soll, so ist nicht möglich, daß jeder Theologe die dogmatische Theologie in diesem Umfange inne haben solle. – Wie sind daher die Grenzen zu bestimmen? Das ist §. 219 so geschehen, daß dasjenige Gebiet, welches als GemeinBesiz PangesehenS ist, von den wichtigsten Punkten aus construirt ist. Es wird davon ausgegangen, daß die dogmatische Theologie die Darstellung der gegenwärtigen Kirchenlehre ist aber zugleich als eigener Ueberzeugung. Es zerfällt also die Sache in zwey Seiten, die Darstellung des Zusammentreffens der eignen Überzeugung mit der Kirchenlehre, und die Darstellung ihrer Differenz. Der Theologe soll im Bilden einer eignen Ueberzeugung begriffen seyn. Darinn liegt 1) daß er nicht blos Notiz haben darf. Das Wirken in der Kirchenleitung geht von der eignen Überzeugung aus. Das zweyte ist dieses, daß einer auch nicht mit der Ueberzeugung fertig sey. Dieß will nicht soviel heißen, es sey nothwendig, oder wünschenswerth, wenn einer Zeitlebens im | Fluctuiren bleibe, sondern die Sache ist die: es kommen immer neue Elemente dazu, und jedes solches macht wieder eine neue Revision der Ueberzeugung nothwendig, und insofern kann man sagen, daß jeder in der Bildung seiner Ueberzeugung begriffen sey. Deßwegen kann sein dogmatischer Typus vollkommen feststehen, und seine Ueberzeugung fest seyn in allen wesentlichen Punkten, aber wie es ins Einzelne geht, so kommen immer wieder neue Gegenstände zur Sprache. Diese Forderung ist bezogen auf alle wesentlichen Momente des Lehrbegriffs sowohl Orthodoxes als Heterodoxes. Leztres ist getheilt in solches, was als Persönliches vorübergeht, und solches was neue Keime in sich schließt. Hiezu ist also nothwendig, daß jeder Theologe die Bewegungen des Lehrbegriffs begleite, – nicht im Ganzen Umfang, sondern in Beziehung auf das was er in der Kirchenleitung zu thun hat. Da entstehen Differenzen. Z. B. denken wir uns einen Theologen in Schweden, wo die Katholiken ein Minimum sind, da ist weit weniger nothwendig, daß jeder eine feste Überzeugung und Anschauung von dem Stande des Gegensazes zwischen Protestantismus und Katholizismus habe. Je mehr aber in einer Gegend Katholiken und Protestanten gemischt sind, desto nothwendiger ist es, daß die Bildung der eigenen Ueberzeugung auf den Gegensaz sich richtet. 8 PangesehenS] oder PanzusehenS (vgl. Sachs 208) mus S. 174; Nachschrift Strauß Kirche

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§ . 2 2 0 . wird der erste Anfang des dogmatischen Studiums beschrieben, und dieß ist die methodologische Anwendung. Es muß angefangen werden mit der Kenntniß des kirchlich Festgestellten in Bezug auf den Charakter der Periode. Es ist aber gesagt, diese Lehre der Kirche müsse auch geprüft werden, nämlich weil sonst die Lehre eine blose Notiz bleibt. Weiter ist gesagt, es müsse angefangen werden mit der Auffassung einer oder mehrerer solcher Darstellungen, und zwar [solcher,] welche in Beziehung auf den Zusammenhang eine gewisse Virtuosität haben, und diese müssen bezogen werden auf die symbolischen Bücher. Gewöhnlich wird es mit dem dogmatischen Studium ganz anders gehalten. Man geht davon aus, daß das Symbolische größtentheils antiquirt sey, daß also dogmatische Darstellungen, welche sich überwiegend an das Symbolische halten, nicht mehr den Charakter der jezigen Zeit ausdrücken. Daher hält man sich an die neoterischen Darstellungen. Was ist dann die Folge? Diese hängen meistens in Beziehung auf ihre eignen Ueberzeugungen nicht zusammen, sondern das Zusammenhängende ist nur das kirchlich Festgestellte, was dann eliminirt wird. Sie finden es also selbst für nothwendig, das Kirchliche voranzustellen. Denken wir uns umgekehrt eine neoterische Darstellung von bestimmten Principien ausgehend und zusammenhängend: so steht diese ausserhalb alles geschichtlichen Zusammenhangs. | Gesezt nun auch, es wäre schon eine vorläufige Ueberzeugung gebildet, welche aber vor dem dogmatischen Studium nur eine eingesogene Meynung seyn kann, so würde daraus sich allerdings auch entwickeln können eine Art und Weise, in der Kirche wirksam zu seyn, aber diese würde nur polemisch seyn können, weil in der Kirche etwas andres gilt. Und nun fragt sich: ist es auch nur möglich, eine polemische Wirksamkeit auszuüben ohne Kenntniß dessen gegen welches man polemisiren will. Aber wenn wir nun fragen, muß man denn jenen Zusammenhang gerade aus jenen orthodoxen Darstellungen schöpfen? so ist klar, daß man den Zusammenhang nur kennen lernen kann aus Darstellungen, die ihre eigne Ueberzeugung geben, in den neoterischen Darstellungen findet sich dieser Zusammenhang nie vollkommen. Daher kann es keinen gesunden Anfang des dogmatischen Studiums geben als von den orthodoxen Darstellungen. Was nun in Beziehung auf die Symbole gesagt ist, so hat dieß seinen Grund darinn, daß bey Elementen, die unsrer Periode eigenthümlich sind, die Bewährung aus dem Symbol die Stelle der Bewährung aus der Schrift vertreten kann. Nur so kann man auch zu der Anschauung der eigentlichen protestantischen Gesinnung kommen. Nun ist freylich wahr, die Reformatoren waren erst Anfänger der protestantischen Gesinnung, diese konnte in ihnen noch nicht in allen Beziehungen entwickelt seyn, und wir haben nicht in denselben Gren-

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zen stehen zu bleiben, in welchen sie stehengeblieben sind. Aber die protestantische Gesinnung der Reformatoren hatte ihre Wurzel in dem Eigenthümlichen des Christenthums, und also die weitre Entwicklung der protestantischen Gesinnung kann nur von derselben Wurzel ausgehen. Jede dogmatische Behandlung, welche das Eigenthümlich Christliche, wie es sich in den Reformatoren zeigte, ausser Acht läßt, kann nicht als etwas Rechtes gelten. Man kann allerdings sagen die Symbole sind noch nicht weit genug auf das Urchristliche zurückgegangen, sondern oft noch bey Corruptionen stehen geblieben, und insofern müssen wir noch weiter zurückgehen, aber doch in derselben Richtung. Z. B. unsre Symbole haben die athanasianische TrinitätsLehre aufgenommen. Wenn man nun sagt: diese Lehre ist nur im Streit festgestellt worden, und ist keine von innen herausgewachsene Darstellung; bey einem Streit besonders bey einem so leidenschaftlichen, kommen immer Mißverständnisse vor, und die Ausdrücke dieser Formeln haben für uns nicht mehr denselben Werth – so liegt darinn die Aufgabe, weiter zurückzugehen und zu fragen, sind nicht frühere Darstellungen in der Kirche gewesen, an welche sich eine Darstellung anknüpfen läßt welche für unsre Zeit passt. Aber beym Zurückgehen darauf muß man doch durch die kirchlich festgestellte Lehre hindurchgehen, sonst kommt man ganz ins Willkührliche. | Es ist hier daran zu erinnern, wie nothwendig es ist, verschiedene Darstellungen zu vergleichen, nicht blos solche die von entgegengesezten Principien ausgehen, sondern auch solche welche gemeinsam am Kirchlichen festhalten; auch hierin giebts bedeutende Differenzen. Wie nun schon gesagt war, daß eine dogmatische Darstellung auch heterodoxe Elemente enthalten müsse, so ist davon § . 2 2 1 die Rede. Hier giebt es viele Einzelheiten die nicht in das Gebiet der allgemeinen Kenntniß gehören, es muß also eine Grenze bestimmt werden, und dieß thut der §. Ob eine einzelne heterodoxe Ansicht bald wieder verschwinden werde oder nicht, dieß läßt sich in der Gegenwart nicht entscheiden. Es kommt also darauf an zu vergleichen, was blos ein vorübergehendes Phänomen ist, und was sich verstärken wird. Dieß gehört ganz in das Gebiet des Divinatorischen, aber es ist doch wesentlich dieses auf einen allgemeinen Charakter zurückzuführen. Da ist nun gesagt, wenn mehrere heterodoxe Elemente einen gemeinsamen Charakter haben, so haben diese ein größeres Gewicht, als wenn sie isolirt sind. Dieser gemeinsame Charakter ist zweyfach bestimmt, einmal als gemeinsamer Ursprung und dann in gemeinsamer Abzweckung. Man sieht da eine Richtung, die sich gemeinsam in Mehreren wiederholt. Beydes braucht nicht nothwendig verbunden zu seyn, aber wenn es verbunden ist, so ist es umso stärker. Im gegenwärtigen Zustand finden wir eine Menge von Elementen schon in das kirchliche Leben übergegangen, welche früher nur als

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Einzelheiten da waren; aber wenn man zurücksieht, bemerkt man theils gemeinsamen Ursprung theils gemeinsame Abzweckung, und wenn nun diese Elemente eine Abzweckung haben, die mit dem Princip der Reformation übereinstimmt, so bewähren sie, daß sie auch einen gemeinsamen Ursprung haben aus dem Interesse für die Reformation. Was den Artikel von der heiligen Schrift betrifft so finden wir in mehreren, besonders reformirten Schriften, die Aufzählung des AltTestamentlichen und NeuTestamentlichen Kanon mit aufgenommen als symbolische Artikel. Dadurch waren alle weiteren Untersuchungen über den Kanon abgeschnitten worden. Wenn wir nun dieses voraussezen, so müssen wir sagen, daß alle Operationen der höheren Kritik in Vergleich mit jenen symbolischen Artikeln als durchaus heterodox erscheinen müssen; demungeachtet ist es jezt schon in die gemeinsame Denkungsart übergegangen, daß die heilige Schrift nur könne auf kritische Weise untersucht, und gegen diese die Überlieferung nicht könne in Schuz genommen werden. Da haben wir also den Casus, daß, was anfangs als Heterodoxie und vereinzelt vorkam, nun schon in die allgemeine Denkungsart übergegangen ist. So geht es in andern Gebieten ebenfalls. | § . 2 2 2 . geht auf die andre Seite, und drückt aus, was alles in das Gebiet der dogmatischen Virtuosität gehöre. – Sehen wir auf den gegenwärtigen Zustand der theologischen Literatur, so finden wir ein bedeutendes Element der Form nach ganz im Verschwinden begriffen, dagegen ein andres, früher geringes, wichtig geworden. Das erste ist das Gebiet der academischen Dissertationen, das andre das Gebiet der theologischen Zeitschriften. Was als Einzelheit auftritt, pflegte früher in Dissertationen aufzutreten, jezt in theologischen Zeitschriften. Die ersteren erschienen vereinzelt, daher wurden sie nicht leicht bekannt. Anders mit den theologischen Zeitschriften; das sind PAggregateS von Einzelheiten, aber als solche haben sie einen größeren Reichthum, und man läßt sich weit eher verleiten, sich in die Journale zu vertiefen, als sich die Dissertationen einzeln anzuschaffen. Alle diese Einzelheiten von ungewissem Werth, welche sich also ebensogut nicht können zur allgemeinen Kenntniß eignen, finden jezt ihren Ort in den theologischen Zeitschriften, nur daß diese sich selten an eine bestimmte Disciplin halten, sondern gewöhnlich vermischt sind. Es ist schon aus der Stellung klar die Ansicht, daß es besser sey für den Anfang des Studiums, dieses bey Seite zu lassen. Wenn nämlich in der Zeit, die ein junger Theologe für Bildung einer zusammenhängenden dogmati29 PAggregateS] oder PAggregationenS (vgl. Sachs 211) 7–9 Vgl. oben Anm. zu 381,10–11

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schen Ansicht benutzen sollte, er sich in Einzelheiten zersplittert, so ist er auf einem üblen Wege, wenn er es nicht etwa darauf anlegt, sich ex professo mit der Dogmatik zu beschäftigen. Sonst ist es ein unverhältnißmäßiger ZeitAufwand den man an das Neue verwendet. Eine Ausnahme macht, wenn solche Einzelheiten einen berühmten Namen an der Spize haben. Im Übrigen ist die JournalLectüre auf spätere Zeit zu versparen. Hier sind nun die einzelnen Elemente zusammengestellt 1) unter der Rubrik der genauen Kenntniß, 2) des festen Urtheils. Die Gegenstände sind unter drei Beziehungen gebracht 1) differente Behandlungsweisen, 2) schwebende Streitfragen, 3) gewagte Meynungen. – Das erste bezieht sich auf zusammenhängende Darstellungen der Dogmatik, aber auch auf Behandlungen einzelner dogmatischer Gegenstände. In beyden Beziehungen giebt es einen großen Reichthum von Differenzen. Diese sind in der Einleitung zur Dogmatik zurückgeführt auf überwiegend philosophische, biblische und symbolische. Die ersten suchen ihre Virtuosität vorzüglich in dialektischen Bestimmtheiten; die andern zwey in der Bewährung der einzelnen Säze in den kanonischen oder symbolischen Schriften. Hiebey ist auf den Gegensaz zwischen supranaturalistischer und rationalistischer Richtung nicht gesehen. Jene HauptTypen haben alle eine Einzelheit, man muß also gleich von vorne herein miteinander verbinden. Nun giebt es aber so viele Differenzen, theils in der Anwendung, theils in der Behandlung – und die Kenntniß aller dieser kann nur der | dogmatischen Virtuosität angehören. – Die schwebenden Streitfragen betreffen die Kenntniß aller der Punkte über welche entgegengesezte dogmatische Formeln im Gebrauch sind. Hieraus scheint die Meynung hervorzugehen, daß die Kenntniß von diesen nicht in das gemeinsame Gebiet gehört. Aber nur die genaue Kenntniß ist zu verlangen. Daraus wird jeder von selbst erwerben, was die Hauptpunkte sind über welche man streitet. Unter gewagten Meynungen versteht man solche Ansichten welche ohne Zusammenhang erscheinen mit der herrschenden DarstellungsWeise, und von welchen sich noch nicht sagen läßt, welchen Einfluß sie bekommen werden. Ist der Grund solcher Ansichten ein solcher, der sich auch anderwärts finden muß, so wird was hier verschwindet, an einem andern Ort zum Vorschein kommen; aber allerdings fehlt es in einer lebendigen Kirche nie an solchen Meynungen Einzelner, welche paradox erscheinen; diese haben, wenn sie auch 15–16 Vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „In der Einleitung zu meiner Dogmatik habe ich die Behandlungsart so getheilt daß ich philosophische, biblische und symbolische Dogmatiken schied.“ (S. 176) Vgl. Schleiermacher: Der christliche Glaube, 2. Aufl. 1830/31, § 27.4, KGA I/13.1, S. 180,23–182,3

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ganz wieder verschwinden, doch für denjenigen der sich ex professo mit Dogmatik beschäftigt, einen großen Werth, weil sich daraus bildet eine ganz andre Vorstellung von der möglichen Manchfaltigkeit in der Kirche, daher ist die gänzliche Freyheit in der Kirche in dieser Beziehung etwas für die evangelische Kirche und das theologische Studium sehr Wesentliches, und es kann nur in dem Maß eine tiefere Entwicklung der Dogmatik entstehen, wenn alles, was nur von sich vorgiebt, protestantisch zu seyn, öffentlich werden darf. Ist es nicht protestantisch, so kann es als solches am besten erkannt werden durch öffentliche Verhandlung. Diese Elemente wären aber blos statistisch, nicht dogmatisch, wenn nicht auch das eigene Urtheil dazukäme. Der erste Saz im Zus a z hat es besonders hiemit zu thun, und bevorwortet, daß das feste Urtheil doch noch die Empfänglichkeit für Neueres übrig lassen muß. Dem Meister besonders ist dieß nothwendig, denn die Meisterschaft hört auf wenn man demjenigen, was sich im gemeinsamen Leben ergiebt sein Recht nicht mehr anthun kann durch Versetzung in die Stelle dessen, aus welchem solche Erscheinungen hervorgehen. Man muß die eigne Richtung festhalten können, und doch die Empfänglichkeit behalten, welche nachconstruirt, was ein Andrer in sich construirt. – Der zweyte Saz hat es mit dem Paradoxen zu thun, und sagt, daß darunter nicht blos das Unbedeutende sondern auch das Krankhafte zu verstehen seyen. Ein solches krankhaftes Element kann unevangelisch seyn ohne zugleich antichristlich zu seyn, aber es kann auch beydes seyn. Jedes Element dieser Art muß gleich ein Gegenstand der Polemik werden, denn solche Reaction ist Zeichen der Gesundheit. Das | ist nun aber gerade der Einfluß den diejenigen welche sich ex professo mit der Dogmatik beschäftigen, auf die Kirchenleitung haben müssen, daß sie die Polemik in Gang bringen gegen Alles Antichristliche und Antievangelische. Freylich giebt es hier die Einseitigkeit, daß wer auf dem einen Extreme steht, denjenigen, der in der Mitte versirt, für dem entgegengesezten Extrem angehörig ansieht. Vom 2 2 3 . § . geht nun noch etwas an, was gleich hätte können in die Construction der dogmatischen Theologie von Anfang an aufgenommen werden, nämlich die Theilung des dogmatischen Gebiets in G la u b en s und Si t t e n l e h r e . Es ist aber absichtlich verspart worden. Gegenwärtig nämlich werden in der Regel beyde Disciplinen getrennt, obgleich Nitzsch neulich beyde Disciplinen verbunden hat. Es 5 Studium] Studium etwas 38 Vgl. Karl Immanuel Nitzsch: System der christlichen Lehre für academische Vorlesungen, Bonn 1829. § 58 dieses Werkes trägt die Überschrift: „Genetische Vereinigung der Glaubens- und der Sittenlehre“ (Nitzsch: System, 93)

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muß aber jedenfalls immer im Bewußtseyn erhalten werden, daß diese Theilung nichts Wesentliches ist. Dieß geht aus unsrer Anordnung hervor, aus welcher erhellt, daß Alles Bisherige ebenso von der christlichen SittenLehre gilt, daß es also auch für diese eine Bewährung aus dem Kanon, dem Symbol und dem Zusammenhang geben muß, und daß auch sie einen Anspruch auf Virtuosität hat. Dagegen ist die christliche SittenLehre oft so vermischt worden mit der rationellen, daß sie den theologischen Charakter verloren hat. Daraus entsteht auch eine andre Behandlung für den populären Gebrauch, oder ein ganz andres Verhältniß zwischen dieser und der Ethik als auf Seiten der Dogmatik. Aber beydes kann nur e i n e r Regel unterworfen seyn. Es wird weiter gesagt, daß die Trennung der christlichen SittenLehre von der GlaubensLehre nichts ursprüngliches gewesen sey in der christlichen und protestantischen Kirche. Als das erste Beyspiel einer solchen Trennung führt man an die Schrift von Abälard nosce te ipsum. Dieß war aber keine wissenschaftliche Behandlung, griff auch nicht Plaz, denn es war der katholischen Kirche angemessen, die ganze SittenLehre unter dem Artikel von den guten Werken zu behandeln. Da stand dann das äusserlichste neben dem innerlichsten und die vier aristotelischen Tugenden neben den drei paulinischen. In der evangelischen Kirche war man auch zuerst nicht auf die Trennung, sondern nur auf die Reinigung der SittenLehre bedacht. Es entsteht also natürlich die Frage nach den Vortheilen und Nachtheilen dieser späteren Operation. § . 2 2 4 ist der Vortheil nachgewiesen, der daraus zunächst entstanden ist in Beziehung auf die Construction. Wenn man sich nämlich die Differenz nicht verbergen kann zwischen einem theoretischen LehrSaz und einem praktischen und jener ein Fürwahrhalten, dieser ein FürGuthalten ausdrückt, so kann dieß leichter hervortreten, wenn beydes getrennt wird. Von dem zweyten Vortheil der größeren Ausführlichkeit sagt der Z u s az , daß sie nicht wesentlich eine Folge der Trennung war. Die frühere Vereinigung war so, daß die SittenLehre nur in die GlaubensLehre eingeschoben wurde. Aber es ließe sich auch das Umgekehrte denken, so daß die christliche SittenLehre das | corpus ausgemacht hätte, und die theoretische GlaubensLehre eingeschaltet worden wäre, z. B. in den Artikel von der christlichen Gemeinschaft p so wie auch unter andre mehr vereinzelte Punkte. Wäre also ein solches umgekehrtes Verhältniß jemals wirklich geworden 28 praktischen] praktischen nicht verbergen kann 15–16 Vgl. oben Anm. zu 217,35

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durch Überwiegen des praktischen Gesichtspunkts, so wäre die SittenLehre weitläuftig genug behandelt worden. § . 2 2 6 führt einen weiteren Vortheil auf. Jeder dogmatische Saz, auch der ethische, muß sich bewähren aus dem Kanon und dem Zusammenhang mit andern kirchlich anerkannten Hauptsäzen. Nun ist dieß nicht zu übersehen, daß Alles was mehr in die unmittelbare Anwendung übergeht, und ein Einzelnes ist wie die SittenLehre, sich auf andere Weise auf den Kanon beziehen muß. Daß nun hier die Ableitung [ ] weil nämlich hier auch die Opposition nur die allgemeinsten Prinzipien betraf. Denn wenn man auf das Verhältniß sieht des wissenschaftlichen Ausdrucks in Glaubens und SittenLehre zu der philosophischen Entwicklung, so muß auch zugegeben werden, daß sich in der philosophischen Entwicklung beydes von einander gesondert hat. Da hat es die Dogmatik weit mehr zu thun mit der Metaphysik, und die christliche SittenLehre weit mehr mit den praktischen philosophischen Disciplinen. Dieß wird auch klarer, wenn die beyden Arten von Säzen gesondert werden. § § . 2 2 5 u n d 2 2 7 haben nun Nachtheile, die aus der Trennung entstehen können, aufgestellt. § . 2 2 5 wird gesagt, bey einer völligen Sonderung können leicht auch die Glaubensartikel der Behandlung verloren gehen, und eine Inconsequenz eintreten, die nicht eintreten könne, wenn beyde Disciplinen als eine behandelt werden. Diese Inconsequenz ist so ausgedrückt, daß bey verschiedener Auffassung der GlaubensLehre doch die SittenLehre auf dieselbe Weise könne behandelt werden. Z. B. es ist eine ganz verschiedene Auffassung der GlaubensLehre die supranaturalistische und rationalistische. Haben nun etwa beyde in der Dogmatik sich so trennende Parteyen auch in demselben Maß eine verschiedne SittenLehre, so wird man dieß nicht behaupten können. Es giebt freylich solche Differenzen, daß die supranaturalistischen Theologen in gewissen Punkten eine strengere SittenLehre haben werden – aber dieß betrifft nur etwas Einzelnes, und das wissenschaftliche System ist meist ganz dasselbe. Dieß ist offenbar eine Inconsequenz, welche sehr befördert wird durch die Trennung. § . 2 2 7 stellt einen analogen Nachtheil dar, nämlich ein verkehrtes eklektisches Verfahren. Dieß bezieht sich auf §. 226 und wegen dieser genauen Beziehung sind die §§. in dem Compendium so gestellt. Nämlich die Metaphysik und die Ethik sind allerdings ver8–9 Ableitung] der Rest dieser und das erste Drittel der folgenden Zeile sind unbeschrieben; vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „Nun ist nicht zu übersehen daß alles was mehr in die unmittelbare Anwendung übergeht mehr auf die gegeben Gestaltung des Lebens [sich] bezieht, diese hat sich PoftS sehr geändert und es müssen daher Ableitungen von ganz anderer Art statt finden um Vorschriften für die damalige Zeit auf das heute anzuwenden. Bei dem Dogmatischen ist das nicht so der Fall.“ (S. 179)

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schiedne Disciplinen, aber es giebt doch eine Identität des Princips. Offenbar muß eine sensualistische SittenLehre auch zusammenhängen mit einer atomistischen oder materialistischen Metaphysik. Wenn nun auf dem christlichen Gebiet | GlaubensLehre und SittenLehre eins sind, so läßt sich nicht denken, daß den theoretischen Säzen sollte eine sensualistische Metaphysik und den praktischen Säzen eine rationalistische Ethik zu Grunde liegen oder umgekehrt, sondern dann wird man in beyden nur auf Eins zurückgehen können. Aber bey der Trennung schleicht sich dieß leicht ein, besonders seit man anfieng, die sensualistische SittenLehre zu veredlen, kam es, daß sogar Theologen, die also in der Dogmatik spiritualistisch waren, in der SittenLehre alles auf die Glückseligkeit bezogen, also im Grunde sensualistisch verfuhren. Im Z u s a z zu § 226 war gesagt, daß die Terminologie der christlichen SittenLehre aus der Ethik stamme, die der Dogmatik mehr aus der Metaphysik. Dieß scheint dem zu widersprechen, daß die ganze Theologie auf die Ethik zurückgeführt wurde. Aber so wie die exegetische Theologie ihre Terminologie aus der Philologie nimmt, so auch die Dogmatik aus der Metaphysik, wenngleich das Gemeinschaftliche auf [das] alle zurückgehen, nur die Ethik seyn kann. Es ist hier näher gesagt, die christliche SittenLehre schöpfe ihre Terminologie besonders aus dem Theile der philosophischen Ethik, welche die PflichtenLehre heiße. Der Grund warum die christliche SittenLehre nur kann unter der Form der PflichtenLehre behandelt werden, ist hier nicht angegeben, die Sache ist aber die, daß die ersten christlichen Äusserungen im Neuen Testament durchaus diese Form an sich tragen, keineswegs als ob es fehlte an Elementen für die Tugendlehre im Neuen Testament, denn es giebt eine Menge von sittlichen Eigenschaften die aufgeführt werden. Aber diese TugendNamen sind ganz aus dem populären Gebiete und unbestimmt, wogegen nun ethische Sentenzen, die Vorschriften enthalten, immer schon eine größre Bestimmtheit von selbst haben, und namentlich das Gnomische in den LebensKreisen der Apostel auf eine vorzügliche Weise behandelt war. Auch die ganze Gesezesform im jüdischen Leben woran sich die christliche SittenLehre anschloß, waren solche ἐντολαί. Damit soll aber nicht behauptet werden, daß dieß die einzige Art wäre die christliche SittenLehre zu behandeln, doch wird sie sich immer bewähren beym Zurückgehen auf den Kanon, da die NeuTestamentischen Stellen die Form der PflichtenLehre haben, also durch Anwendung der philosophischen SittenLehre wissenschaftlich gefaßt werden müssen. 37 sie] es

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§ . 2 2 8 wird das Resultat gezogen. Dieß kann kein allgemeines seyn, so daß gesagt werden könnte es ist besser zu verbinden als zu trennen, weil Vortheile und Nachtheile auf beyden Seiten stehen. Daher kann nur gesagt werden, unter welchen Bedingungen das eine besser wäre oder das andre. Nun wird hier gesagt, die Vortheile der abgesonderten Behandlung werden bedingt durch die Ungleichförmigkeit der Entwicklung und die Ungleichmäßigkeit der wissenschaftlichen Behandlung. Das erste beruht darauf daß der ganze geschichtliche Verlauf nicht nur in Zeiträumen, sondern auch in parallelen Reihen getheilt werden kann, | das leztere aber nur in dem Maße als einzelne Theile eine verschiedene Bewegung haben. Dieß allgemeine Princip ist also auch hier anzuwenden. Die Lehre und ihre Geschichte läßt sich theilen in Glaubens und SittenLehre, wo es sich so verhält, daß in Beziehung auf die Regeln des christlichen Lebens große Veränderungen vor sich gehen, während die GlaubensLehren dieselben bleiben, dann kann man den geschichtlichen Verlauf trennen. Nun dieß bevorwortet eigentlich nur die Trennung der Dogmengeschichte und SittenGeschichte. Daß sich aber dasselbe auch auf die Darstellung des gegenwärtigen Zeitpunkts anwenden läßt, folgt daraus. Der gegenwärtige Augenblick ist das Resultat der ganzen Vergangenheit, aber zunächst der lezten Epoche. Wenn wir nun annehmen, in Beziehung auf die GlaubensLehre sind viele Veränderungen vorgenommen worden in der evangelischen Kirche, umgekehrt aber stünde auf dem Gebiete der christlichen LebensRegeln noch Alles so ziemlich beym Alten, so würde also die Darstellung des gegenwärtigen Zustands auf dem ersten Gebiet eine andre seyn als auf dem andern, und dieß wäre eine Weisung zur Trennung. – Es ist aber noch ein andrer Punkt herausgehoben. Die Ungleichförmigkeit des Verfahrens ist nämlich nicht blos auf die Entwicklung des Princips bezogen, sondern auch auf die Spannung des Gegensazes. Wäre also in der GlaubensLehre das Verhältniß der evangelischen Kirche zur katholischen dasselbe geblieben als in der Reformation, in der SittenLehre aber wäre man weitergegangen in der Sonderung des Innren vom Äussern, so würde sich die Trennung ebenfalls ergeben. Wenn §. 228 Bedingungen angegeben sind, unter welchen die abgesonderte Behandlung sachgemäß sey, so werden §. 230 die Bedingungen angegeben, unter welchen sie unverfänglich sey. Nämlich Nachtheile bleiben immer dabey, und nun wird §. 228 der Fall angegeben, in welchem das Minimum dieser Nachtheile vorhanden sey, §. 230 aber die Art, wie diese Nachtheile können unschädlich gemacht werden. – Zum §. 228 ist noch etwas zu erläutern. Es kann die Lebendigkeit der Bewegung in beyden Gebieten die40 werden] haben

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selbe gewesen seyn, aber die wissenschaftliche Betrachtung ist dem geschichtlichen Verlauf nicht auf dieselbe Weise gefolgt, dann wäre die wissenschaftliche Betrachtung in dem einen Gebiete schon gegeben, im andern müßte sie nachgeholt werden, und daher wäre eine Trennung an der Stelle. § . 2 2 9 sezt einen Nachtheil der abgesonderten Behandlung auseinander, nämlich daß der theologische Typus in vielen christlichen SittenLehren verloren gegangen sey. Freylich ist dieß nicht erst seit der Trennung eingetreten, sondern in dem scholastischen Zeitalter, wo die christliche SittenLehre nur in der Dogmatik behandelt wurde, finden wir dasselbe, daß darinn auf den Aristoteles zurückgegangen ist. Aber da ist freylich das ZurückGehen der SittenLehre auf ihn ein andres als in der GlaubensLehre, es | betraf nämlich in der SittenLehre mehr das Princip, während in der Dogmatik mehr die Terminologie. Weit mehr ist aber dieß nach der Trennung eingetreten, die eine SittenLehre gieng von dem Princip der Vervollkommnung aus wie die Wolffsche, die andre vom Kategorischen Imperativ, und dabey geht der theologische Charakter verloren, denn wenn auch diese Philosophen christliche waren, so waren sie doch aus einer Zeit, wo sich die Philosophie aus dem Gebiet der Religion zurückgezogen hatte. Da geht alle Analogie der SittenLehre mit der Dogmatik verloren, ausser wenn die Dogmatik ebenso den theologischen Charakter aufgiebt. § . 2 3 0 . wird noch einmal das in Erinnerung gebracht, daß wenn nun die christliche SittenLehre abgesondert behandelt werden soll, alles das, was bisher von der dogmatischen Theologie gesagt worden war, auch auf die SittenLehre angewandt werden muß. Nun ist aber noch eine zweyte Bedingung aufgestellt, nämlich daß der Zusammenhang zwischen beyden Disciplinen müsse wiederhergestellt werden auf irgendeine Weise. Fragen wir, was können wir wohl für eine kurze 16 Vgl. etwa Wolff: „Das Gesetze der Natur ist das Mittel, dadurch der Mensch seine Glückseeligkeit erlanget, deren er durch seine natürliche Kräfte in diesem Leben fähig ist [...]. Da nun das Gesetze der Natur unsere und unseres Zustandes Vollkommenheit erfordert [...]: diese Vollkommenheit aber die letzte Absicht aller freyen Handlungen ist [...]; so muß der Mensch, welcher seine Glückseeligkeit erlangen will, [...] zur letzten Absicht aller seiner freyen Handlungen die Vollkommenheit seines innerlichen und äusserlichen Zustandes machen [...].“ (Vernünftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Halle 1747, S. 78) 17 Vgl. etwa Kant: „Denke ich mir aber einen k a t e g o r i s c h en Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte. Dann da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Nothwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll [...].“ (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 51; Gesammelte Schriften Bd. 4, 420,26–421,3)

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Formel aufstellen, um die Differenz zwischen christlicher Glaubens und SittenLehre so zu stellen wie es von der Tendenz einer theologischen Disciplin ausgehen kann? Gehen wir von der allgemeinen Erklärung aus, daß die christliche GlaubensLehre inclusive der SittenLehre nichts sey als die zusammenhängende Darstellung von der in einer gewissen Zeit in der Kirche geltenden Lehre, so fragt sich: wie theilen sich nun Glaubens und SittenLehre? Die einfache Formel ist: die christliche GlaubensLehre stellt zusammen, was in der christlichen Kirche oder einer protestantischen Gemeinschaft für wahr gehalten wird, und die christliche SittenLehre das, was in denselben für gut gehalten wird. Lehre bleibt das leztre auch, aber man sieht die Richtung auf der einen Seite geht überwiegend auf die Vorstellung, d. h. auf die Verwandlung des ursprünglichen christlichen Bewußtseyns in den Gedanken, die andre ebenfalls auf die Verwandlung des christlichen Bewußtseyns in den Gedanken, aber als in die That übergehendes christliches Bewußtseyn. Sollen sie nun getrennt werden, so darf man doch nie ihre ursprüngliche Einheit in Hintergrund stellen. Dieß kann geschehen, indem man in beyden auf dasselbe christliche Bewußtseyn zurückgeht, aber es kann auch so geschehen, daß sich in der einen auf die andre Disciplin bezogen wird. Ersteres versteht sich von selbst als nothwendig, dieß leztre ist deswegen nothwendig, um denselben Character (christlichen, evangelischen) in beyden Disciplinen zum Bewußtseyn zu bringen. Man kann nämlich nicht behaupten, daß der Gegensaz zwischen Evangelisch und Katholisch in allen Punkten gleich heraustrete, daher muß dargestellt werden, wie die Art und Weise das christlich Gute zu umschreiben in dem Sinn der evangelischen Kirche zusammenhängt mit der Art, wie das Wahre darinn umschrieben wird, so daß man nicht kann protestantisch [seyn] in der Glaubenslehre und katholisch in der SittenLehre und umgekehrt, dieß kann nur durch solche Vergleiche erkannt werden, nicht durch bloses Zurückgehen auf das beyden Gemeinsame. | Es sind nun verschiedene Meynungen in der protestantischen Kirche über den Standpunkt des Gegensazes zur katholischen Kirche. Man kann einerseits glauben, der Gegensaz sey schon im Abnehmen, andrerseits aber auch, er sey noch nicht recht entwickelt. Es giebt nun dogmatische Methoden, die noch unbewußt Katholisches enthalten, ebenso aber umgekehrt Vorstellungen von dem was gut ist, die noch katholisch sind, aber beyde hängen nicht an denselben Punkten. Soll nun dieß dargestellt werden, wie es zusammenhängt, so kann dieß nur geschehen durch Bezugnahme. Den Schluß macht daher § . 2 3 1 damit, es sey wünschenswerth, daß die ungetheilte Behandlung neben der getheilten fortbestehe. Gehen wir zurück auf den Unterschied zwischen GemeinBesiz und Virtuosität und denken uns

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GlaubensLehre und SittenLehre als eins, so wird Niemand sagen können, man könne die Sache so ansehen, daß die GlaubensLehre von jedem Theologen gefordert werden könne, die christliche SittenLehre aber das Gebiet der Virtuosität bilde und umgekehrt; doch aber müssen wir gestehen, daß es Ansichten in der Kirche gegeben hat und giebt, die nichts andres besagen. Wenn lange Zeit alle religiöse Mittheilung in der protestantischen [Kirche] dogmatisch war, so lag offenbar die Maxime zu Grunde: wenn nur die Christen richtig glauben, so wird es sich mit dem richtigen Leben von selbst ergeben. Dieß auf die Theologie angewendet so ergiebt sich, daß die Dogmatik von allen gefordert werden muß, aber da es sich mit dem christlichen Leben von selbst ergiebt, wenn der richtige Glaube da ist, so ist den Theologen die wissenschaftliche Norm für das christliche Leben nicht nöthig, da sie in den öffentlichen Vorträgen nicht unmittelbar darauf hinzuwirken brauchen. Später nun hat man die Sache umgekehrt und gesagt: was sollen denn die dogmatischen Subtilitäten in der Mittheilung an das Volk? Die Christen sollen nur die rechte Vorstellung und Ermunterung haben von ihren Pflichten. Daraus entstand die Entfernung des Dogmatischen aus der religiösen Mittheilung. Daraus folgte nun für die theologische Behandlung, daß die SittenLehre von allen Theologen gefordert werden muß, aber das Dogmatische gehört nur zur Virtuosität, weil in dem Gebiete der Kirchenleitung kein Gebrauch [davon] zu machen ist. Dabey sollte diese SittenLehre nichts andres seyn als eine popularisirte philosophische SittenLehre. Zwischen diesen Gegensäzen bewegt sich nun das öffentliche Leben in der evangelischen Kirche immer noch herum, und bald stöst man auf das eine, bald auf das andre Extrem. Das abgesonderte Behandeln der Dogmatik und Ethik nun ist immer die Veranlassung zu solchen Extremen, deßwegen ist das Danebenbestehen der ungetheilten Behandlung wünschenswerth. | Die abgesonderte Behandlung, wenn dabey von der Masse ausgegangen wird, die sich dann mehr entfalten kann, dient dem wissenschaftlichen Interesse, aber in der kirchlichen Mittheilung müssen dogmatische und ethische Elemente immer in Einem seyn. Daher hat die isolirte Behandlung nicht die unmittelbare Richtung auf die Kirchenleitung, sondern sie dient überwiegend dem wissenschaftlichen Interesse. Es muß dann als Supplement zum Behuf der kirchlichen Mittheilung die ungetheilte Behandlung hinzukommen. Methodologisch angesehen, so ist es nicht eben heilsam oder ausschließend gut, mit einer ungetheilten Behandlung anzufangen, und hernach erst zur getheilten Behandlung zu gehen. Es wäre weit mehr zu empfehlen in einer theologisch ruhigeren Zeit als die unsre. In unsrer Zeit ist es nothwendig, mit dem abgesonderten Standpunkt den

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Anfang zu machen, weil man so eher zur Übersicht der bestehenden Differenzen gelangt. Aber eben weil in der unmittelbaren Ausübung die Trennung aufgehoben werden muß, so ist es gut, das Studium mit einer ungetheilten Behandlung zu schließen. II. Kirchliche Statistik.

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Die Dogmatik ist die Darstellung von dem Zusa m m enha ng der zu einer gewissen Zeit geltenden Lehre. Eine rein geschichtliche Darstellung der zu einer gewissen Zeit geltenden Lehre könnte auch in der Statistik vorkommen. Der Unterschied zwischen den beyden Disciplinen ist also weniger das Object als die Methode; denn die Elemente des GesellschaftsZustands können auch in der dogmatischen Disciplin vorkommen, aber in der Statistik kommt alles nur auf die Notiz, auf das Gegebene an. In der Statistik fehlt es noch sehr an einer Zusammenstellung der Materialien in einer eigenthümlichen Form, das Ganze fand sich PfrüherS nur zusammen in den lezten Enden der KirchenGeschichte, aber die Zusammenstellung ist erst vor Kurzem nach der Analogie der politischen Statistik gegeben worden von Stäudlin. Hier ist ein guter Anfang gemacht, aber auch nur ein Anfang. Besonders sollten KirchenZeitungen sich hiermit beschäftigen, aber die eigentlichen Notizen, die der Zeitung die Hauptsache seyn sollten, stehen hinten als Nebensachen. Hier ist nun die Statistik aufgezeichnet, wie sie sich erst ausbilden soll. § . 2 3 2 . wird zuerst unterschieden das Innre und Äussre. Dieß ist bey jeder Gesellschaft in der Sache selbst gegeben. Nämlich das Äussre sind die Verhältnisse der Gesellschaft zu andern, das Innre ist ihre Organisation und Zustand | in Beziehung auf den ganzen Verlauf. Dieselben Seiten hatte auch die politische Statistik. – Nun ist hier gleich noch ein zweyter Gegensaz aufgestellt, nämlich des Materiellen und Formellen. Dieser ist überwiegend auf das erste Glied bezogen, auf das Innre der Gesellschaft. Aber er kann sich auch auf das Äussre beziehen: ob das Verhältniß zu andern Gemeinschaften ein freundliches oder feindliches ist, wäre das materielle, die Art aber wie dieses Verhältniß sich äussert und construirt ist, wäre die Form desselben. Nun läßt sich schon im Voraus sagen, daß sich diese Hauptzüge weiter theilen lassen, und man kann, wie im Zusaze gesagt ist, auf Dinge stoßen, die man ebensogut zu dem einen als andern rechnen könnte. § . 2 3 3 . ist nun auf einen HauptPunkt aufmerksam gemacht, nämlich ob die christliche Kirche Eins ist äusserlich, oder ob sie zer18 Vgl. oben Anm. zu 369,10–12

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fällt. Wie verhält sich im leztern Fall die Disciplin zu den einzelnen Theilen der christlichen Kirche? Hier tritt der Gegensaz zwischen der kirchlichen Statistik und dogmatischen Theologie hervor. Nämlich bey der Dogmatik war gesagt worden, daß im Zustande der Trennung jede einzelne Kirche ihre eigne Dogmatik haben müsse, weil die Darstellung des Zusammenhangs der Lehre von der Überzeugung ausgeht. Hier aber, wo es nur auf den rein geschichtlichen Zusammenhang abgesehen ist, tritt das Entgegengesezte ein, und wir werden sagen müssen, daß die kirchliche Statistik in solchen Zeiten alle einzelnen Theile der Kirche umfassen muß. Zunächst ist freylich nothwendig, daß jeder seine KirchenGemeinschaft kennt. Aber nun steht jede solche vereinzelte KirchenGemeinschaft in Relation mit andern, also ist die Kenntniß von diesen ebenfalls nothwendig. Allerdings wird sich das Verhältniß verschieden gestalten. In einer kirchlichen Statistik von einem Protestanten wird die protestantische Kirche am ausführlichsten behandelt werden pp. Aber weiter darf sich der Einfluß der eignen Interessen nicht erstrecken, und der Einfluß der Vorliebe für die eigne KirchenGemeinschaft muß möglichst beschränkt werden. Der Zusaz sagt dann wie eine solche allgemeine Statistik construirt werden müßte. Der innre Zustand einer jeden bildete die Hauptmasse; ihre Verhältnisse zueinander könnten dann entweder in einem zweyten Theil dargestellt werden, oder auch würde in jeder einzelnen KirchenGemeinschaft erst ihr Innres und dann ihre Relationen dargestellt werden. In beyden Formen werden Anticipationen vorkommen, man muß nur diejenige wählen, die am meisten Klarheit zuläßt. – Im zweyten Saz wird der Fall aufgestellt, daß sich einzelne KirchenGemeinschaften denken ließen, die nicht bestimmt geschieden wären. Von der protestantischen Kirche z. B. läßt sich sagen: sie | ist Eine, aber auch: sie ist eine getheilte. Aber ihre einzelnen Theile sind nicht bestimmt geschieden, man denke nur an die lutherische und reformirte Kirche. Im zweyten Saze des Zusazes wird also gesagt, daß auch bey nicht bestimmt geschiedenen Theilen doch eine Theilung gemacht werden müßte in der Darstellung. § . 2 3 4 geht auf das erste HauptGlied, die innre Beschaffenheit, – betrachtet aber diese gleich in Beziehung auf das eine Glied des andern Gegensazes, nämlich auf das Materielle. Später wird dasselbe Glied der Form nach betrachtet, und von § 238 an ist von den äussern Verhältnissen die Rede. – Was haben wir also unter der innren materiellen Beschaffenheit einer KirchenGemeinschaft zu verstehen? Die Hauptsache ist zurückgeführt auf den eigenthümlichen GemeinGeist. Bey einer nicht bestimmt geschiedenen Gemeinschaft wird auch der 4–5 Vgl. KD2 § 98 (KGA I/6, S. 363,22f)

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Gemeingeist kein bestimmt eigenthümlicher seyn, wohl aber bey bestimmt geschiedenen. So haben die evangelische und katholische Kirche jede einen eigenthümlichen GemeinGeist, nicht aber die lutherische und reformirte. Sie hatten ihn wohl, aber jezt nicht mehr. – Es muß hier auf die KirchenGeschichte zurückgegangen werden. Der eigenthümliche GemeinGeist einer KirchenGemeinschaft manifestirt sich in Lehre und Sitte, und die Stärke, mit welcher dieser GemeinGeist wirkt, ist der Punkt auf welchen die Sache durch den bisherigen geschichtlichen Verlauf gekommen ist. Im Zusaz ist zugleich Rücksicht genommen auf das, was in der philosophischen Theologie als die KrankheitsZustände der christlichen Kirche aufgestellt worden waren, nämlich Indifferentismus und Separatismus, und es wird gesagt, es müsse nun der GesundheitsZustand einer Gesellschaft in Beziehung auf diese Extreme angegeben [werden]. Je mehr eine Gesellschaft dem Indifferentismus [verfällt], desto schwächer ist die Wirksamkeit des GemeinGeistes darinn, entweder des allgemein christlichen oder nur desjenigen der bestimmten KirchenGemeinschaft. Je mehr Neigung zum Separatismus, desto mehr ist das Band zwischen den einzelnen Gliedern aufgelöst, da ist also das Übergewicht des Eigenthümlichen über das Gemeinsame. Weiter wird angegeben, wie sich dieser Zustand erkennen lasse. Da ist herausgehoben zuerst der LehrBegriff und dann der Einfluß des GemeinGeistes auf die übrigen Lebensgebiete – dieß ist die Sitte. Je mehr Einstimmung in einer KirchenGemeinschaft ist in Lehre und Sitte, um desto weniger Separatismus kann darinn seyn und wieder je lebendiger das eigenthümliche Princip in den Menschen wirkt, desto weniger Indifferentismus kann da seyn. Beydes läßt sich also hier erkennen. Es ist nun hier noch ein Drittes angeführt, nämlich wie sich der GemeinGeist im Cultus äussert. Die Lebendigkeit in der Entwicklung des Lehrbegriffs, je mehr sie sich auch im Cultus äussert, um desto größer muß das Interesse seyn, welches die ganze Gemeinde an dem Lehrbegriff nimmt, und umgekehrt, je weniger sich der Lehrbegriff im Cultus | darstellt, desto mehr ist Indifferentismus vorhanden, oder entsteht der Separatismus. Wenn die Gemeinde kein Interesse am Lehrbegriff nimmt, die Lehrenden aber wollen ihn im Cultus darstellen, so wird der Cultus verlassen. Dieß wäre also die materielle Seite in der innren Beschaffenheit der Gemeinde und das Bisherige sind die HauptRubriken für dieses Compendium der kirchlichen Statistik. § . 2 3 5 geht nun weiter, und stellt die kurze Angabe die im vorigen §. verlangt war, von dem GesundheitsZustand der Gemeinde im Allgemeinen als unzureichend dar, je mehr in einer Gemeinschaft die Differenzen groß sind. Z. B. die protestantische Kirche soll als Einheit

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dargestellt werden. Nun giebt es viele Gegenden, wo die Bewegungen im Lehrbegriff nicht gleichen Schritt halten mit denen in Deutschland. Will man doch Alles mit einer Angabe umfassen, so kommt etwas Ungenügendes heraus: man kann den Zustand der deutschen protestantischen Kirche nicht als den allgemeinen darstellen, auch den der englischen nicht, und eine für beyde gemeinsame Formel passte für keinen Theil. Also wenn die Differenzen bedeutend sind, so müssen sie mit angegeben werden, und daraus entsteht eine Theilung, um so nothwendiger, je mehr der Differenzen sind. In Beziehung auf die Kirchenleitung sagt der Zusaz, daß die Notizen für diese ganz verloren giengen ohne Angabe der einzelnen Differenzen. Bleiben wir also nur bey diesem ersten HauptPunkt stehen, so haben wir schon eine sehr bedeutende Aufgabe: man muß wissen, wie das Interesse sich in den verschiedenen Gegenden derselben KirchenGemeinschaft stellt, wie die verschiedenen Punkte aus welchen die Entwicklung des kirchlichen Lebens sich differenzirt, hier und dort als Potenzen sich verhalten, wo das eine oder andre überwiegt, und wie sie sich hier und dort zu einander stellen. Die protestantische Theologie im höheren Sinn hat ihre Wurzel nur in dieser Kenntniß. Alle Beschlüsse welche gefaßt werden, müssen von einer solchen Kenntniß der Gegenwart ausgehen. § . 2 3 6 wird nun von dem zweyten Gegensaz des §. 232 das zweyte Glied die F o r m der innren Beschaffenheit der Gemeinschaft berücksichtigt. Die Form, unter welcher eine KirchenGemeinschaft in sich selbst besteht, beruht auf der Art, wie der Gegensaz in der Gemeinschaft organisirt ist. Allerdings kann in einer kirchlichen Gesellschaft nicht ein Gegensaz wie von Obrigkeit und Unterthan bestehen, aber doch ein Gegensaz von mehr Selbstthätigen und mehr Empfänglichen, und jene sind die Kirchenleitung. Die Verfassung besteht also in dem Verhältniß von Klerus und | Laien. Diese Ausdrücke sind freylich in Beziehung auf die evangelische Kirche behutsam zu brauchen. Nämlich es ist bey uns ein ganz andres Verhältniß als in der katholischen Kirche, wo diese Ausdrücke viel strenger gefaßt sind. Aber an und für sich sind die Ausdrücke auch schon älter als die falschen Begriffe von priesterlicher Würde; so wie man also nur an den älteren Sinn denkt, so kann man die Ausdrücke wohl gebrauchen. Unter Klerus sind alle zu verstehen, die an der Kirchenleitung theilnehmen, keineswegs blos der Lehrstand, sondern auch die die äussren Angelegenheiten der Kirche leiten. Diese zusammengenommen bilden die überwiegend Selbstthätigen, die andern bilden die Masse, das Volk oder die Laien. Diese Organisation der Kirchenleitung in sich und in ihrem Verhältniß zur Gesammtheit ist das Wesen der Form, und dieß giebt die Darstellung der KirchenVerfassung. – Hier ist nun im Zusaz gesagt, daß die große Manchfaltigkeit es nothwendig mache, die ver-

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schiedenen Verfassungen zu gruppiren. Dabey ist nicht zu viel Gewicht zu legen auf die Analogie mit den politischen Formen. Dieß ist seit geraumer Zeit gewöhnlich daß man die KirchenVerfassungen unterscheidet als mehr monarchische, demokratische und aristokratische, also durch Vergleich mit den antiken Verfassungen, oder auch mit Rücksicht auf die neueren Formen als absolute oder repräsentative Verfassungen. Dabey wird leicht das Eigenthümliche des Kirchlichen verwischt. Ferner wird gesagt, daß man über dem allgemeinen Typus die specifischen Differenzen nicht vergessen soll. Denken wir an die ersten Anfänge der christlichen Kirche, da war der Gegensaz ursprünglich so, daß alle Selbstthätigkeit in Christo war, aber alle Empfänglichkeit überall zerstreut, und überall sollte sie erweckt werden. Wie nun von einer Organisation der Gemeinschaft die Rede war, so konnte diese nicht von denen ausgehen, welche sich im Zustand eben erweckter Empfänglichkeit befanden, sondern von Christo waren die Apostel zur Kirchenleitung eingesezt, und so gieng die Organisation von einem Punkte aus und nicht von der Masse. Will man hier eine Analogie mit dem Politischen aufstellen, so war diese Organisation monarchisch, oder nach der neueren Differenzirung absolut. Wenn wir nun einen einzigen Schritt weiter gehen, und nehmen die Nachricht in der ApostelGeschichte, wie der zwölfte Apostel ernannt wurde, so gieng hier das ganze Verfahren von den Aposteln aus, Petrus machte den Vorschlag und bestimmte die Qualification des neuen Apostels. Dieß war das Monarchische. Nun aber ließ er die Gesammtheit einige auswählen, da war also ein selbstthätiger Antheil der Masse begründet, da sehen wir also die Zusammensezung aus monarchischen und republikanischen Formen. Sehen wir nun auf | den späteren römischen Katholizismus, so finden wir PdasS Monarchische wieder hergestellt, aber auf andre Weise und so, daß dieß aus reiner Willkühr hervorgegangen scheint, und das Element das Petrus in die Verfassung gebracht, scheint verschwunden, so bald dem Volk aller Antheil an der Wahl genommen war. Denn in der ersten Kirche blieb dieß so, wiewohl, wenn neue Gemeinden entstanden, diesen die Lehrer durch die Apostel gesezt wurden. Aber so wie einmal eine Organisation bestand, so nahm auch die Sache den Gang welchen Petrus eingeleitet hatte. Aber nachdem es nun so geworden war, daß der Klerus ganz und gar sich selbst ergänzte, wie durch die katholische PriesterWeihe, so war dieß ganz aufgehoben, und nun giebt es zwischen dieser Form und der wo die Thätigkeit der Masse am größten 28 PdasS] oder PdiesesS (vgl. Sachs 225) 21–25 Vgl. Apg 1,15–26

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ist, eine große Menge von ZwischenStuffen. Denken wir wie sich in Jerusalem die Organisation der Kirchenleitung nachher theilte, indem die Leitung der äussern Angelegenheiten in andre Hände kam als das Lehrgeschäft: so haben wir hier eine Duplicität, aber die Kirchenleitung war doch eine. Nun besteht also an einigen Orten die Duplicität, an andern nicht; der Lehrstand wo der zugleich die äussern Aufgaben verwaltet, da besteht sie nicht. Nun kann man sich aber diese Duplicität verschieden organisirt denken: so daß der Lehrstand rein sich selbst ergänzt, aber daß die Gemeinden sich die Verwalter der äussern Angelegenheiten wählen, oder umgekehrt, daß der Lehrstand diese aus der Gemeinde ernennt – alle diese Manchfaltigkeiten sind vorhanden und da ist nothwendig, diese Verschiedenheiten unter gewisse Hauptgesichtspunkte zu bringen. Aber bey dem großen Einfluß der Namen kommt es sehr darauf an, daß diese Rubriken recht bezeichnet werden, sonst entsteht nur mehr Verwirrung. Es ist also diese Kenntniß mitzutheilen nur in Verbindung mit den verschiedenen möglichen Formen der KirchenVerfassung, weil man nur dann die einzelnen Differenzen gruppiren kann. Daher fängt nun immer mehr an sich eine Theorie zu bilden über die verschiedenen KirchenVerfassungen, ihre Vorzüge und Nachtheile. Dieses lezteren wegen gehört dieß in die praktische Theologie, sofern sie aber die Principien giebt um das Gegebene zu ordnen, gehört sie hieher. § . 2 3 7 . Faßt die Kenntniß der innren Beschaffenheit und der Form zusammen und sagt, die Vollkommenheit der Auffassung muß sich zeigen durch die Beziehung des einen Zweigs auf den andern. Denken wir uns sehr große Veränderungen in dem | innren Zustand einer Gemeinschaft, so wird auch die Form nicht können dieselbe bleiben, und umgekehrt. Je mehr nun diese Beziehung zwischen beyden zur Darstellung gebracht wird, desto fruchtbarer ist diese Kenntniß. Denkt man sich einen gesellschaftlichen Zustand, wo die Masse völlig passiv ist, nun aber in der Masse eine größre Lebendigkeit der Intelligenz schnell sich entwickelnd, so wird sie die bisherige Form nicht mehr ertragen. Läßt sich nun die Form durch dieß Innre nicht überwinden, so entstehen Indifferentismus und Separatismus. Ebenso denkt man sich die Form der Gesellschaft plözlich verändert, den Antheil der Masse an der Kirchenleitung gelähmt, so wird auch ein nachtheiliger Einfluß auf den innren Zustand der Masse entstehen. Je mehr man also aus der Darstellung diesen Zusammenhang sieht, desto wahrer ist sie. § . 2 3 8 . Werden die äussren Verhältnisse auseinandergesezt. Eine Gemeinschaft kann nur Verhältnisse haben zu Gemeinschaften, nicht 3–4 Vgl. Apg 6,3f

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zu Einzelnen, denn die Verhältnisse der Gemeinschaft zu ihr angehörigen Einzelnen gehören zu den innren Verhältnissen; zu Einzelnen ausser der Gemeinschaft aber kann sie kein Verhältniß haben, ohne daß diese andern Gemeinschaften angehören. – Hier werden nun unterschieden Verhältnisse zu andern KirchenGemeinschaften und zu nicht kirchlichen Gemeinschaften. Fragt man: kann denn eine KirchenGemeinschaft mit andern KirchenGemeinschaften ein Verhältniß haben, so kann man dieß allerdings verneinen, und sagen, wir stehen in keinem Verhältniß zu der katholischen Kirche, beeinträchtigt sie uns so schreitet der Staat ein, also ist unser Verhältniß zu ihr nur durch den Staat vermittelt. Bestimmte officielle, aus der Verfassung hervorgehende Beziehungen beyder Kirchen giebt es nicht. Dennoch giebt es einen wesentlichen Einfluß der einen auf die andre, dieser ist gegenseitig und gestaltet sich in verschiedenen Zeiten verschieden – in diesem Sinn giebt es allerdings Verhältnisse. – Was nun die Verhältnisse der christlichen KirchenGemeinschaft zu ausserchristlichen betrifft, da ist es noch mehr das politische, worauf recurrirt werden muß. Zu dem Islam als KirchenGemeinschaft haben die Christen im türkischen Reich kein Verhältniß, sondern nur zu dem bürgerlichen Regiment. Aber wenn wir auf der andern Seite sagen müssen, einestheils, es werden immer Versuche gemacht – vom religiösen Standpunkt aus – die Christen zum Islam zu bewegen, wogegen die Christen solche Versuche nicht machen dürfen, so ist das erstere doch ein Einfluß einer Religionsgemeinschaft auf die andre, da entsteht also ein äussres Verhältniß der christlichen Gemeinschaft zur andern, welches eine Anzeige des Innren ist, denn je vollkommener der innere Zustand der christlichen Kirche in jenen Gegenden ist, desto weniger Erfolg werden solche Versuche haben. Was zweytens die Verhältnisse zu ungleichartigen Gemeinschaften betrifft, so werden hier Staat und Wissenschaft genannt. Es fragt sich: kann man die Wissenschaft als Gemeinschaft | ansehen? Der Z u s az bemerkt, daß es keine Wissenschaft giebt ohne Mittheilung und diese fordert und erzeugt eine Gemeinschaft, daß aber ferner diese Mittheilung bedingt ist durch die Sprache. Wie also die Sprache nur in der Gemeinschaft besteht, so ist auch die Wissenschaft ein gemeinsames. Zweytens werden wir hinzufügen dürfen, daß das Christenthum gar nicht ohne Mittheilung besteht, und seine wesentliche Mittheilung hat es in der Sprache. Die religiöse Gemeinschaft hat also mit der wissenschaftlichen die Sprache gemein, und damit ist ein Verhältniß eingeleitet, welches nicht abgeleitet werden kann. Nun ist das Christenthum dasselbe in mehreren SprachGebieten, und seine innre Eintheilung und Differenzirung ist nicht an die Sprache gebunden, sondern es finden sich z. B. Katholiken und Protestanten in demselben Sprachgebiete. Da kann also die

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eine KirchenGemeinschaft zu dem Wissen in einem SprachGebiet ein ganz andres Verhältniß haben als eine andre KirchenGemeinschaft zu dem Wissen in demselben SprachGebiet, – dieß ist also ein reicher Stoff. § . 2 3 9 wird nun zuerst das Verhältniß jeder KirchenGemeinschaft zu andern KirchenGemeinschaften entwickelt, und es wird bezeichnet als in zwey Polen bestehend Mittheilung und Gegenwirkung. Zwey christliche Gemeinschaften sind beyde christlich, und dieß schließt eine Identität, also eine Anziehung in sich. Da sie aber in sich geschieden sind, so kann die Gemeinschaft nur durch Mittheilung geschehen. Nun finden wir hier einen bedeutenden Unterschied, der auf den innren Zustand zurückgeht. Man kann daher die christlichen KirchenGemeinschaften eintheilen in überwiegend aktive in Beziehung auf solche Mittheilung und überwiegend passive. Dieß leztre kann man sagen von den orientalischen Kirchen, welche sich um die occidentalen nicht bekümmern, und ein Verhältniß zu ihnen entsteht nur durch die Activität der occidentalen. Ebenso kann man dieß im Abendlande sagen von vielen kleineren Gemeinschaften, welche weniger auf die wissenschaftliche Entwicklung angewiesen, auch weniger ein Bedürfniß haben eines allgemeinen religiösen Bewußtseyns, welches auch andre KirchenGemeinschaften umfaßt. Wenn man noch so sehr die einzelne KirchenGemeinschaft darstellt, aber diese Verhältnisse darzustellen versäumt, so kann dieß keine Anschauung von dem gegenwärtigen Zustand des Christenthums entstehen [lassen]. Was die Gegenwirkung betrifft, so ist sie ebenso in dem Gegensaz der individuellen Bildung gegründet wie die Mittheilung in dem gemeinsamen Christlichen. Von dem Verhältniß der protestantischen und katholischen Kirche bestehen auch in unsrer Kirche zwey verschiedene Ansichten. Die erste ist, daß die katholische Kirche, insofern sie in die Principien der Reformation nicht eingehe, nichts andres sey als eine Consolidation von Corruptem. Die andre ist, es könnte seyn, die katholische Kirche schaffte allmählig alles ab, was sich als Corruption | bezeichnen lasse, sie assimilirte sich auch in den Dogmen der protestantischen Kirche, so bliebe doch in dem Katholizismus ein von dem unsern differenter Typus, und sie werden beyde nicht zusammengehen. In der katholischen Kirche findet eine für uns gleichgültige Differenz statt, nämlich die eine Ansicht ist, daß wir Häretiker sind, die andre, daß wir Schismatiker sind. Daher ist auch in der protestantischen Kirche die Gegenwirkung ein andres als in der katholischen. Nämlich in der protestantischen geht es zum Theil aus von der strengeren, zum Theil von der milderen Ansicht, in der katholischen aber immer von der strengeren, uns entweder von der Kezerey oder von der Spaltung zurückzubringen. Wenn man also in der protestantischen

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Kirche eine solche Differenz in der Gegenwirkung bemerkte, so würde es unrecht seyn zu sagen, wo die Gegenwirkung schwächer ist, da ist Indifferentismus, dieß hat vielmehr nur in jener andern Ansicht seinen Grund. Im Z u s a z wird das Verhältniß der Gegenwirkung auf einen andern Punkt zurückgeführt. Beyde Parteyen haben eine gemeinsame Methode in Beziehung auf ihren Lehrbegriff, aus welcher jede ein der andern entgegengeseztes Resultat hervorbringt, da muß also jede ihre besondre Anwendung der Methode für richtig, die der andern für falsch erklären. Diese Methode ist eben die Bewährung des Dogmas am Kanon. Wenn nun entgegengesezte Dogmen auf den Kanon zurückgeführt werden, so muß ein Streit in Beziehung auf die Auslegung entstehen. Wenn die protestantische Kirche es dahin bringt, daß die katholische Kirche für die uns entgegengesezten Dogmen sich nicht mehr auf die Schrift, sondern auf die Überlieferung allein bezieht, dann hätte die protestantische Kirche für sich gesiegt, weil sie die Tradition nicht anerkennt, aber auch die katholische Kirche behielte Recht, weil sie die Tradition anerkennt. Das zweyte, worauf der Gegensaz zurückgeführt wird, ist die extensive Richtung und da ist es gleichgültig, ob sie gegen solche ausgeübt wird welche eine nichtchristliche Frömmigkeit haben, oder eine christliche aber nicht die protestantische. Diese extensive Richtung kann sich stärker nach der einen als nach der andern Seite hinwenden, aber fehlen kann sie nirgends, und wenn z. B. die protestantische Kirche ganz nur von der katholischen Kirche umgeben wäre, so würde sie das Bestreben doch behalten, aus dieser sich immer mehr anzubilden. Keineswegs also steht die protestantische Kirche hier blos defensiv, denn der Angriff, durch den sie geworden ist, kann nicht aufhören, so lange ihr ursprüngliches Princip in ihr ist. Wenn man sagt: die protestantische Kirche hat keine Neigung, Proselyten zu machen, so ist dieß falsch. Freylich was man gewöhnlich darunter versteht, das Bestreben der Kirche, sich blos zum Schein, und äusserlich zu vergrößern, – hat die protestantische Kirche nicht. In der protestantischen muß das Streben seyn, andern ebenfalls zu dem Genuß der religiösen Freyheit zu verhelfen, und wenn dieß ganz aufhörte, so wäre es ein Zeichen von Indifferentismus. | Die Differenz der Beziehung in Rücksicht auf diese zwey Pole ist nun im §. unter eine Formel gebracht: minimum des Einen und maximum des Andern als Grenzpunkte und dazwischen mancherley Abstufungen. Man kann sich denken Mittheilung als maximum und Gegenwirkung als minimum. Dieß ist ein Zeichen, daß sie im Begriff sind zusammenzufließen. So gieng es zwischen den beyden 19 wird] wird gegen solche Nachschrift Strauß Mitwirkung

38 Mittheilung] so Nachschrift Anonymus S. 194;

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Theilen der protestantischen Kirche. Die Union ist so ein geschichtliches Naturereigniß. – Das andre Extrem ist das maximum von Gegenwirkung mit einem minimum von Mittheilung. Dieses Verhältniß hat sein natürliches Ende in einem völligen Abschließen gegeneinander. Dieß können wir an der orientalischen Kirche erläutern. Von dieser geht keine Mittheilung aus, wollen wir dieß auf ein absolutes minimum führen, so muß es Gegenwirkung werden. Nämlich wenn sie verböte, daß irgendetwas aus einer andern KirchenGemeinschaft dürfe in ihr Bewußtseyn aufgenommen werden, so wäre die Abschließung vollkommen. Man ist in der griechischen Kirche noch dabey, denn es wird als strafbar angesehen, wenn ein Christ andrer Confession einen griechischen Christen zu seiner KirchenGemeinschaft ziehen sollte. Nun aber giebt es kein religiöses Gespräch, welches nicht so angesehen werden kann. Wenn nun vollends auch die Bücher aus andern KirchenGemeinschaften verboten würden, so wäre die Abschließung vollendet. Daraus entwickelt sich ein maximum von Gegenwirkung wo Gelegenheit dazu ist, die freylich bey solcher Abschließung verschwindet, so daß dann das Verhältniß ganz aufgehoben ist. § . 2 4 0 wird übergegangen zu dem Verhältniß der christlichen KirchenGemeinschaft zu ungleichartigen Gemeinschaften. Zuerst wird die Wissenschaft genannt, ein eigenthümliches Ganze des Wissens ist die Wissenschaft wie sie in ihrem ganzen Umfange sich ausbildet in einem eigenthümlichen Sprachgebiet. Man sollte gar nicht glauben, daß hier ein besonderes Verhältniß, hier so und dort anders vorhanden wäre. Indem das Christenthum durch mehrere SprachGebiete durchgeht, so muß es sich entweder auch in diesen Sprachen äussern, oder die Darstellung in der Sprache entbehren. Wenn das Christenthum sich mehr in symbolischen Handlungen mittheilt, so wird die Sprache in den Hintergrund geschoben, und wenn die Rede, welche die symbolischen Handlungen begleitet, sich nicht in die verschiedenen Sprachen kleidet, so ist dieß eine starke Zurückstellung der Sprache, aber ganz entbehrt kann die Sprache nicht werden. Will sich nun das Christenthum in verschiedenen Sprachen äussern, so muß es diejenigen Elemente in der Sprache aufsuchen, in welchen sich das christliche Bewußtseyn am genausten wiedergeben läßt. Wenn man das ganze Gebiet der Erkenntniß in seinem Inhalte betrachtet, so sieht man gar nicht, wie ein Streit zwischen der KirchenGemeinschaft und diesem Gesammtgebiete entstehen kann. Allerdings kann man hier | Beyspiele anführen. Wenn einige das Nichtseyn Gottes als Erkenntniß vortragen, so wird die christliche KirchenGemeinschaft da27 entweder] entweder sich

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von keinen Gebrauch machen können, aber ein weiteres Verhältniß entsteht gar nicht. Die Christen müssen freylich das Seyn Gottes als Wahrheit denken, aber wenn ein Streit entsteht, so ist dieß ein Streit der Einzelnen mit Einzelnen, aber die Kirche als Totalität hat damit nichts zu thun. Denken wir nun dieß auf das specifisch christliche PGebietS sich hinüberspielend und es thäte sich eine Masse hervor, welche die Ansicht aufstellte es gebe keinen Unterschied zwischen Gutem und Bösem: so könnte freylich die christliche KirchenGemeinschaft davon keinen Gebrauch machen; aber es kann ihr auch keine Gefahr bringen, denn sie hat ein Recht vorauszusezen, daß dieß rein an ihren Mitgliedern vorübergehen wird, ohne sie zu berühren. Jede Polemik ist nur ein Verhältniß von Einzelnen gegen Einzelne. So gestaltet sich die Ansicht, wenn man die Sache für sich betrachtet. – In der Geschichte freylich finden wir dieß anders, da finden wir die im § aufgestellte Einseitigkeit, daß die Kirche gegen das Wissen opponirt, bald mit mehr, bald mit weniger Rücksicht auf einen bestimmten Gehalt. Dazu ist nun ein andres Extrem aufgestellt. Es ist nämlich vorher gegenübergestellt die kirchliche Gemeinschaft und ein eigenthümliches Ganzes des Wissens; im zweyten Saze ist nun nur gegenübergestellt das Elementarische, nämlich das objective Bewußtseyn und das SelbstBewußtseyn, dieß muß mit den früheren Ausdrücken vermittelt werden. Der Ausdruck objectives Bewußtseyn bezeichnet alle die Elemente in einem eigenthümlichen ganzen des Wissens, und der Ausdruck SelbstBewußtseyn ausschließlich das Element desjenigen Bewußtseyns, wodurch die kirchliche Gemeinschaft besteht. Da ist der Ausdruck SelbstBewußtseyn freylich zu allgemein, denn wenn auch alles religiöse Bewußtseyn überwiegend SelbstBewußtseyn ist, so ist doch nicht alles SelbstBewußtseyn religiös. Wenn wir nun das erstere betrachten, den Ausdruck objectives Bewußtseyn, als im Allgemeinen alle verschiedenen Elemente des Wissens bezeichnend, so scheint dieß auch wieder zu wenig; denn auch Darstellungen, die das SelbstBewußtseyn bezeichnen, sind in die Sprache, und diese ist das eigenthümliche Ganze des Wissens, aufgenommen; aber dieß ist die Reflexion über das SelbstBewußtseyn, wodurch es eben wieder ein objectives wird. Dieses objective Bewußtseyn wird also hier angesehen als das gemeinsame Interesse in jenem einen Ganzen, und das SelbstBewußtseyn, speciell das religiöse, als das Interesse des andern Ganzen. Wenn nun die Einseitigkeit bezeichnet wird, so daß das objective Bewußtseyn also das Ganze des Wissens die Wahrheit des SelbstBewußtseyns in Anspruch nehmen will, so ist dieß so gemeynt, daß das objective Bewußtseyn die Wahrheit des SelbstBewußtseyns vor seinen 6 PGebietS] oder PGebotS (vgl. Sachs 230)

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Richterstuhl zieht und vor demselben in Zweyfel stellt d. h. also, daß die religiöse Ueberzeugung soll nach Gesezen des objectiven Erkennens beurtheilt werden. Im Zu s az zum §. wird gesagt, daß auf diesen beyden Punkten beyde Gemeinschaften einander ausschlössen, und so wären dieses die Grenzen eines Verhältnisses zwischen beyden. | In wiefern ist nun dieses richtig? Wir wollen bey dem ersten anfangen, wie die Sache factisch vor uns liegt. Denken wir an die Thatsache, daß die Kirche verboten hat, das Kopernikanische System zu lehren, weil es im Widerspruch stände mit der heiligen Schrift, so ist dieß eine der stärksten Thatsachen, welche aus einem WissensGebiet ist, welches am wenigsten kann in Zweyfel gestellt werden. Aber es scheint noch lange nicht das zu seyn, was im § gesagt ist, daß die Kirche kein andres Wissen gelten lassen wolle, als welches sie sich zu ihrem Zweck aneignen könne, d. h. zur Verbreitung des christlichen Bewußtseyns. Dafür scheint das, daß die Sonne sich um die Erde dreht, gleichgültig. Sagt man aber, in der Schrift steht, daß die Sonne still steht, so folgt nun daraus eigentlich noch weiteres, denn man kann nun nicht das Resultat nicht wollen, wenn man den Prozeß will; wenn also die Kirche zugiebt, es solle durch Beobachtung die Erkenntniß des WeltSystems gefördert werden, so kann sie hernach nicht das Resultat verwerfen, so wie sie nicht nachweisen kann, daß es im Prozeß des Forschens ein Widerspruch ist. Also liegt in jedem solchen Schritt dieses, daß sie das Wissen will gelten lassen als etwas das seinen Gang für sich geht. Wenn wir nur den Gang des Christenthums betrachten, und denken einmal, wie das Christenthum eingetreten ist in die hellenische Cultur, wie diese dann untergieng, und sich nach einer Zeit der Barbarey das Wissen von der Kirche aus organisirt hat, so muß man sagen: sieht man auf das Leztre so kann man sich denken, daß dieß ursprünglich nur für die Kirche geschehen ist; aber allmählich hat sich das Wissen emancipirt. Nun entsteht die Frage: Ist diese Emancipation etwas, was die Kirche wollen kann oder nicht? Hier ist nun eben die Einseitigkeit dieses Nichtwollen, d. h. wenn die Zwecke der Kirche sollen das Maß und die Norm der Kirche seyn, dieß ist auch die Voraussezung, woraus alle solche Maßregeln der Kirche kommen. Wenn nun also gesagt wird, in ihrer Einseitigkeit schließen beyde Gemeinschaften [sich] aus, so wird dabey vorausgesezt, daß es eine Gemeinschaft des Wissens geben soll, und es war nur ein Zufall, daß das Wissen sich in der Kirche selbst wieder erzeugt hat, es hat seinen Grund darinn, daß in ihr die einzigen Reste der Bildung übrig geblieben waren. Wäre dieß nicht so gewesen, dann hätte sich das Wissen in der bürgerlichen Gesellschaft reorganisirt. Wenn nun eine solche unabhängige Gemeinschaft des Wissens ent-

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steht, so entsteht sie nach jener Voraussezung gegen die Kirche, diese muß sie also ausschließen. | Nun die zweyte Einseitigkeit. Stellen wir uns auf den Punkt, von welchem wir in der allgemeinen Einleitung ausgegangen, es mußte in einem rein wissenschaftlichen Gebiet nämlich in der Ethik, das religiöse Bewußtseyn als ein dem menschlichen Geist wesentliches Faktum, als Princip der Gemeinschaft aufgestellt werden, so liegt darinn schon, daß das objective Bewußtseyn die Realität des religiösen SelbstBewußtseyns feststellt. Dann muß ihm aber auch das Recht der Organisation beygelegt werden. Das Wissen kann wohl sagen, eine KirchenGemeinschaft ist vollkommener wenn sie sich so organisirt p, aber es kann nicht das Interesse des Wissens seyn die kirchliche Gemeinschaft zu hemmen. Könnte aber irgendwo wissenschaftlich aufgestellt werden, daß das, worauf sich das religiöse SelbstBewußtseyn stüzt null wäre, wenn also z. B. das Nichtseyn Gottes aufgestellt würde, so würde auch aufgestellt werden, daß alle kirchliche Gemeinschaft verderblich seyn müsse, und jenes Wissen würde also sagen: wir können dieses nicht in unsern Zusammenhang aufnehmen, d. h. es würde ausschließen. Wiederum können wir uns dasselbe in speciellerer Beziehung auf das Christenthum denken, und sagen: die Wissenschaft stellt die Voraussezungen der eigenthümlich christlichen Frömmigkeit als ein Falsches dar, so würde sie auch sagen: wir können gar keinen Zusammenhang haben mit alle dem, was von solchen Voraussezungen aus entsteht. Die Wissenschaft hat freylich nie eine äussre Sanction, keine Gewalt, aber sie müßte festsezen: alle die das Christenthum annehmen, sind jedes wissenschaftlichen Zusammenhangs unfähig, und dieses positive Ignoriren wäre wieder Ausschließen. Nun wenn wir von dem Ausdruck des §. ausgehen, es ist nur da ein Verhältniß zwischen beyden, wo diese Extreme vermieden sind, so wird man zugeben müssen, daß zwischen diesen Grenzen ein Schwanken stattfindet, und das Verhältniß kann ein sehr differentes seyn. Da hat also die kirchliche Statistik die verschiedenen Punkte an welchen sich ein solches Verhältniß fixiren kann aufzustellen. Dieses Verhältniß tritt um so bestimmter hervor, je mehr in dem Gebiet einer Sprache das Wissen sich organisirt, und zu einer positiven Gemeinschaft sich herausgebildet hat. Eine solche Organisation giebt es bey allen gebildeten Völkern; alles was auf den JugendUnterricht [geht,] ist eine solche Organisation, das Wissen, wie es in der Sprache gegeben ist, auf das künftige Geschlecht zu überliefern, ebenso gehören alle wissenschaftlichen Corporationen hieher, und alle Bemühungen Einzelner, sofern sie auf einander Rücksicht nehmen, zur Ausbildung der 3–7 Vgl. KD2 § 22 (KGA I/6, S. 334,10–13)

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Sprache, sind ebenfalls solche Gemeinschaften. Da ist also auseinanderzusezen, wie sich zu diesen die Kirche verhält. Da bestehen nun | allerdings große Differenzen. An vielen Orten hat die Kirche das Patronat jener Organisationen des Wissens, da hat also die Kirche ein Übergewicht. So ist dieß bis jezt der Fall gewesen in England, denn hier sind alle öffentlichen Bildungsinstitutionen von der Kirche ausgegangen und stehen unter dem Schutz der Kirche, und erst neuerlich hat man den Anfang gemacht, eine höchste BildungsAnstalt zu errichten unabhängig von der Kirche. So wie nun die Geschichte der neuern Zeit den Gang hat, daß sich die Entwicklung des modernen Wissens zuerst in der Kirche entwickelt hat, zuerst in der lateinischen Sprache, dann erst in den Volkssprachen – so können wir diese Verhältnisse auffassen als Fortschritte in dem Prozeß der Emancipation des Wissens. Nun ist auch klar, daß, je weniger die Kirche von der Entwicklung des Wissens Gebrauch macht, um so eher kommt sie auch dahin, von der Organisation des Wissens positiv ignorirt zu werden, weil dann in ihr viele Elemente vorkommen, die sich mit dem Wissen zeigen. PD. h.S, je mehr sich die Kirche zu dem einen Extrem neigt, desto mehr das Wissen auf die andre [Seite]. § . 2 4 1 handelt vom Verhältniß der Kirche zum Staat. Hier können dieselben Einseitigkeiten statt finden. Es kann hier stattfinden ein gegenseitiges thätiges Anerkennen, oder Ausschließen. Die erste Formel des vorigen § wäre dann so zu übertragen: die Kirche will kein bürgerliches Element gelten lassen als für welches sie selbst die Norm ist. Die zweyte so: die bürgerliche Gemeinschaft will die kirchliche nicht als Gemeinschaft anerkennen, sie will ihre Fähigkeit, eine Gemeinschaft zu bilden, in Anspruch nehmen. Dann löst entweder die Kirche sich auf und besteht nur noch formal, oder sie kommt als Gemeinschaft ganz unter das Patronat des bürgerlichen Regiments. Hier ist etwas aufgestellt im §, was über den vorigen hinausgeht. Nämlich, wenn wir uns ein gegenseitiges reales Verhältniß denken, so wird gesagt, es ließe sich nicht leicht ein solches denken ohne Übergewicht entweder der Kirche oder des Staats. Es läßt sich aber dieß auch auf das vorige Gebiet, auf das Verhältniß zur Wissenschaft anwenden. Nun haben wir, was das Verhältniß zwischen Kirche und Staat betrifft, weil die bürgerliche Verfassung bestimmter organisirt 17 Wissen] zu ergänzen vielleicht „unverträglich“ (vgl. Sachs 234). Die Notwendigkeit dieser Ergänzung kann entbehrlich werden, wenn man nach „die sich“ dem Sinn nach „erst“ ergänzt. 18 PD. h.S] oder PDaherS (vgl. Sachs 234) 7–9 Nach den mittelalterlichen Universitätsgründungen Oxford und Cambridge wurde die Universität Durham im Jahre 1831 als erste neuzeitliche Universität Englands durch ein vom Parlament erlassenes Gesetz gegründet, das im Jahre 1832 in Kraft trat.

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ist als die Gemeinschaft des Wissens, hier schlagendere Beyspiele vor uns, und daher ist auch die Aufgabe der kirchlichen Statistik in dieser Beziehung bestimmter als in jener. – Es wird zulezt im §. angedeutet, daß in der evangelischen Kirche immer der Staat überwiegen werde, woraus für die katholische Kirche die Andeutung des | Gegentheils folgt. Es sind in dieser Beziehung die Verhältnisse der evangelischen Kirche sehr manchfaltig, aber ganz allgemein ist dieses, daß die evangelische Kirche als solche gar keine äussre Einheit hat, keinen förmlichen constitutiven Zusammenhang unter sich, und daraus läßt sich jenes Verhältniß zum Staat schon erklären, wie umgekehrt aus der äussern Einheit der katholischen Kirche das Gegentheil folgt. Der Staat muß entweder diese Einheit gar nicht anerkennen, wie Heinrich VIII in England, und dann hebt er den Zusammenhang auf, oder er muß das, was von jenem EinheitsPunkte ausgeht, auch für sein Gebiet anerkennen. Jezt steht freylich ein medius terminus fest, daß alle Anordnungen des Pabstes müssen die Billigung des Landesherrn erhalten. Dieses ist aber wieder in verschiedenen Orten so manchfach bestimmt, daß im Allgemeinen das Übergewicht der Kirche über die Staaten, in welchen sie anerkannt ist, nicht leidet. Sollen wir uns andrerseits einen solchen Zusammenhang der evangelischen Kirche denken, der äusserlich festgestellt wäre, so würde dieß nicht geschehen können ohne Zustimmung des Staates, aber wenn auch ohne diese, so würde das Verhältniß doch nicht geändert, weil die evangelische Kirche keine solche Gewalt über die Gewissen anerkennt wie die katholische. Daher muß man das gegenwärtige Verhältniß natürlich finden. Der Zusaz unterscheidet von dem, was in die Statistik davon hineingehört, die Theorie des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, die in die praktische Theologie gehörte. Es ist damit nicht gesagt, daß es eine Theorie geben solle in dem Sinn, daß ein NormalVerhältniß im Allgemeinen aufgestellt werden solle. Dieß ist falsch im politischen wie in diesem Gebiete. Aber dieß muß das Resultat der kirchlichen Statistik seyn daß man zu klarerem Bewußtseyn davon komme, welches die Folgen einer jeden solchen Gestaltung seyen, welche in dieser Beziehung vorzuziehen ist? Und die Theorie kann nichts aussprechen als diesen pragmatischen Zusammenhang des Verhältnisses und seiner Folgen. Aber eine solche Theorie muß freylich die verschiedenen Gestaltungen in ein Fachwerk gruppiren. – Der zweyte Theil des Zusazes bemerkt, daß von dem hier im Allgemeinen angedeuteten Verhältniß im KirchenRecht gehandelt werde, aber hier überwiegend auf dem politischen Standpunkt. Bey dem Ausdruck Kir39 gehandelt] behandelt

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chenRecht denkt man sich zwey verschiedene Dinge, man redet von einem natürlichen und positiven KirchenRecht. Jenes soll aus Principien die Rechte einer religiösen Gesellschaft innerhalb einer bürgerlichen auseinandersezen. Es ist aber mit diesem natürlichen KirchenRecht wie mit dem NaturRecht überhaupt, daß mehr oder weniger eine bestimmte Fiction dabey ist. Steht die bürgerliche Gesellschaft fest, und es organisirt sich darinn eine religiöse, so ist nicht zu sehen, wie sich für diese ein besonderes Recht feststellen sollte, es ist ja dieß nur ein einzelner Fall von dem allgemeinen, daß sich im Staat besondre Gesellschaften bilden. | Aber auch dieß selber läßt sich nicht abstrakt beantworten, sondern nur in Beziehung auf die verschiedenen Fälle. Freylich läßt sich dann das KirchenRecht noch auf zweyfache Art behandelt denken, 1) daß in Form einer blosen Aussage gegeben wird, wie die Kirche in diesem oder jenem Staate sich stellt, 2) dann läßt sich aber auch denken, [daß] auf allgemeinere Weise davon gehandelt [wird], nämlich was für Rechte ein Staat von einer gewissen Art der religiösen Gesellschaft gewähren kann. Dieß geht schon mehr in die Theorie. Allerdings läßt sich also Alles was in diesen § gehört auf den Begriff des KirchenRechts zurückführen, nur daß wir dann sagen müssen: behandelt das KirchenRecht den Gegenstand überwiegend politisch, so muß dem eine andre Behandlung gegenüberstehen, wo die Sache mehr kirchlich behandelt wird, nämlich so daß gefragt wird: was muß die religiöse Gemeinschaft von jedem Staate verlangen, so daß, PwennS ihr dieß nicht gewährt wird, sie emigriren muß. Denkt man sich dieses beydes ausgeführt, so wird sich am besten ergeben, welches die Grenzen sind, innerhalb deren gewisse kirchliche und bürgerliche Wesen zusammen bestehen können, daß gewisse Individuen zugleich Bürger des Staats und der Kirche sind. – Bey dieser ganzen 24 PwennS] oder PwoS (vgl. Sachs 236) 1–4 Vgl. etwa Wilhelm Traugott Krug: „Wie es aber in allen Beziehungen ein zwiefaches Recht giebt, ein natürliches und ein willkürliches oder positives, so auch in Bezug auf die Kirche. Jenes geht hervor aus der ursprünglichen Gesetzgebung der Vernunft, unabhängig von jeder äußern Autorität. Es ist ein einiges, ewiges, unveränderliches, göttliches Recht; denn Gott ist eben die gesetzgebende Urvernunft selbst, von welcher die menschliche Vernunft, ein Funke Gottes, abstammt. Es ist die absolute Norm für jedes anderweite oder positive Recht. Dieses geht nämlich aus von irgend einer äußern gesetzgebenden Behörde, ist örtlich und zeitlich mannichfaltig und veränderlich, bloß menschlich, weil es einzele Menschen oder Menschenvereine gegeben oder angenommen. Es soll sich aber ebendarum nach jener Norm richten, damit es dem göttlichen Vernunftgesetze nicht widerstreite und nicht als reine Willkür erscheine, wenn es gleich in einzelen Bestimmungen als ein willkürliches Recht sich darstellen mag.“ (Das Kirchenrecht nach Grundsätzen der Vernunft und im Lichte des Christenthums dargestellt, Leipzig 1826, S. 7f)

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Ausführung ist vorausgesezt, daß die Kirche nur zu den zwey Gemeinschaften in einer Beziehung stehen kann, zum Staat und der Wissenschaft. Diese Voraussezung muß sich in der Ethik rechtfertigen, und geht daher auf diese zurück, wie dieß im Anfang von allen theologischen Disciplinen gesagt war. § . 2 4 2 . geht nun das an, daß die Disciplin in ihrem ganzen Umfang betrachtet und der Unterschied zwischen Virtuosität und GemeinBesiz festgestellt wird. Im §. wird gesagt, daß die kirchliche Statistik ein UnEndliches sey, d. h. alles was darinn aufgestellt ist, ist ein Theilbares, und mit dieser Theilung kann [es] ins UnEndliche gehen. Bleiben wir nur bey dem lezten Punkte, da würde die allgemeine Statistik alle christlichen Gemeinschaften umfassen. Die der evangelischen Kirche wäre nur eine Specialstatistik. Aber diese ist wieder in sich selbst getheilt, je nach den verschiedenen Verhältnissen der protestantischen Kirche zum Staat. Daneben würde aber auch ebenso zerfallen das, was in §. 240 hineinfällt, und ebenso auch wird in Beziehung auf die innre Beschaffenheit der Evangelischen Kirche nicht überall von derselben Beschaffenheit, nach §. 236 und 37, [die Rede seyn,] und so durch alle Punkte. Bedenken wir, es giebt aber Staaten, die erst nach der Reformation Ein Staat geworden sind, wo also schon | ProvinzialVorschriften waren, so ergiebt sich eine provinzielle Statistik. Hieraus geht schon hervor, dieß Alles vollständig zu haben, ist nicht Sache eines Jeden. Nun kommt es darauf an, was von jedem wenigstens gefordert werden muß, und dann [auf] das, was auf jeden Fall nur in das Gebiet der Virtuosität gehört. Das erste wird § . 2 4 3 behandelt, aber so, daß gesagt wird, es gebe hier etwas was zu wenig sey. Nicht zuläßig sey, daß jeder nur besize eine Kenntniß von dem Zustand desjenigen Theils der evangelischen Kirche welchem er angehört. Dieß ist leicht nachzuweisen, weil 1) die Abschließung einer bestimmten LandesKirche nicht in allen Beziehungen vorhanden ist, und 2) weil die einzelnen Kirchen nur verstanden werden können aus ihrem Zusammenhang mit Andern: Wer an der Kirchenleitung Theil nimmt, muß wissen, was im gegenwärtigen Zustand von der Art ist, daß es erhalten, und was so, daß es eleminirt werden muß. Gäbe es eine allgemeine Theorie, so brauchte der Theologe nur diese, und die Kenntniß seines KirchenTheils. Aber eine solche allge13–19 Vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „Eine kirchliche Statistik würde alle christlichen Kirchen umfassen, die Statistik der Evangelischen Kirche ist dagegen nur ein Theil und dennoch zerfällt sie in drei Theile, Darstellung der Gegenden wo sie herrschend ist, derer in denen sie in gleichem Recht mit anderen steht und wo sie nur geduldet ist, in eben so viele Theile zerfiele sie nach dem Verhältniß der Kirche zur Wissenschaft etc und nach Innern Verhältnißen. Die erste Differenz kann noch weiter geführt werden, es gibt Statistik einer Kirche in einem Staate und das geht durch alle Punkte durch.“ (S. 198)

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meine Theorie giebt es nicht, sondern sie modificirt sich nach den verschiedenen Verhältnissen. Daher ist im Z usa z gesagt, eine solche NichtKenntniß befördert die Versteinerung. Oder kann man genauer sagen, sie erzeugt entweder gedankenlose Neurungssucht oder gedankenloses Haften am Alten. § . 2 4 4 ist nun das zulässige Minimum angegeben, nämlich eine allgemeine Kenntniß von der Gesammtheit des christlichen Zustands in der Gegenwart. Diese Kenntniß muß dem Grade nach modificirt seyn nach dem Grade des Zusammenhangs mit unsrer Kirche. Die orientalische Kirche liegt uns ferner als die römische p. Da haben wir also den Zusammenhang mit der eigenen KirchenGemeinschaft als den einen Punkt, und das allgemeine Bild als den andern, und aus diesen beyden muß sich die Sache construiren. – Der Zusaz scheint den § zum Theil wieder aufzuheben, indem er die Abstufung der Kenntniß fremder KirchenGemeinschaften nach dem Grad des Zusammenhangs nur etwas Untergeordnetes nennt. Die Sache ist die: jede einzelne KirchenGemeinschaft ist anzusehen als ein organischer Theil des Ganzen; insofern muß das Bewußtseyn von dem Zustande des Ganzen dem Theologen beständig einwohnen, sonst kann er seine einzelne KirchenGemeinschaft nicht als organischen Theil des Ganzen behandeln. Dieser Saz führt uns auf die Totalität der Verhältnisse, wie in der philosophischen Theologie bemerkt war, daß alle bestehenden Gegensäze müssen als vorübergehende gefaßt werden. Daraus folgt, daß der Gegensaz müsste immer in Schranken gehalten werden, und dieß kann nur geschehen, wenn man die eine Seite so gut kennt wie die andre. Je weniger wir | die katholische Kirche kennen, um so weniger kann unsre kirchliche Thätigkeit auf diesen Gegensaz Rücksicht nehmen, und dieß giebt dann eine Bewußtlosigkeit in dieser Hinsicht, welche viel Übles erzeugt, und der katholischen Kirche ihre Proselytenmachereyen und Erschleichung von Rechten erleichtert. Der Geistliche kann dann in seinem Jugendunterricht keine Beziehung darauf nehmen, und daher wissen sich die evangelischen Christen nicht zu helfen, wenn sie von Katholiken verlokt werden. Ebenso leicht folgt aber aus jener Nichtkenntniß nur eine blinde, allgemeine Opposition. So ist also eine Kenntniß der katholischen Kirche etwas viel Wichtigeres als die genaue Kenntniß der evangelischen Kirche in fernen Ländern. Die folgenden §§. enthalten noch einige Bemerkungen über die Virtuosität in diesem Fach, und am Ende folgt eine Zurückführung dieser Disciplin auf die zwey Principien der theologischen Wissenschaft. 22–23 Vgl. KD2 § 53 (KGA I/6, S. 345,28–346,3)

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§ . 2 4 5 Hier wird gesagt, daß die Wissenschaft [der Statistik] noch nicht recht ausgebildet sey, und daß daher durch die besondre Beschäftigung damit noch Vieles zu leisten wäre. Das Material als solches ist überall vorhanden in den öffentlichen Verhandlungen, aber nicht zusammengestellt. Dieß findet besonders statt in den protestantischen Kirchen ausserhalb Deutschlands. Über Schweden haben wir vor einigen Jahren ein Buch bekommen, das aber nur ein rohes Aggregat von Stoff ist. Über Dänemark haben wir nicht einmal so etwas. Über die schottische Kirche ist kürzlich eine Schrift erschienen, aber nicht unbefangen geschichtlich abgefaßt. Aber was die kleineren Religionsparteyen betrifft, da wäre noch sehr viel nachzutragen, und Vieles auch ganz neu zu leisten. Über die nordamericanischen ReligionsGesellschaften giebt es ein dort erschienenes ziemlich vollständiges Werk. – Also man mag auf Stoff, oder Form sehen, so fehlt noch sehr viel. Vieles könnte noch geschehen durch zweckmäßige Umarbeitung des ersten und daher classischen Werkes von Stäudlin, es müßte dem Stoff nach bereichert, und in der Form geändert werden. § . 2 4 6 . warnt vor einer blos äusserlichen Beschreibung der verschiedenen Zustände, die blos als Material gebraucht werden könnte. Doch ist dieß ein Übergang den wir noch machen müssen, weil es uns noch am Material fehlt. Würde dieß auch nur äusserlich zusammengestellt, so wäre dieß schon ein bedeutender Gewinn. Bezieht man diese Disciplin auf die KirchenGeschichte, so sind die Enden der KirchenGeschichte das erste Material zu einer solchen Statistik. Nimmt man da z. B. die Schroeckhsche KirchenGeschichte, so ist es dann etwas Leichtes, für den Punkt wo diese endigt, eine solche Zusammen-| fassung zu geben, weil man nur die Fäden zu verbinden braucht. Indeß würde sich auch das Mangelhafte eines jeden solchen kirchengeschichtlichen Werkes zu erkennen geben, und man müßte auf die Quellen immerhin zurückkehren. – Das Extrem des Leeren und Äusserlichen ist am Ende des Zusazes angegeben. Die zwey folgenden §§ behandeln nun die Frage, was aus dieser Disciplin wird, wenn eines der zwey Motive des theologischen Studiums fehlt. § . 2 4 7 wird gesagt, eine Behandlung des Gegenstandes, wobey das kirchliche Interesse fehlte, könne, wenn das wissenschaftliche Interesse dabey sey, nur skeptisch oder polemisch seyn, – wenn auch das wissenschaftliche fehlte, so wäre sie nur das Produkt eines unkritischen Sammelgeistes. Es giebt eine solche Neigung, nur Notizen zu sammeln, ein historisches Cabinet anzulegen, nur um die Varietäten 16 Vgl. oben Anm. zu 369,10–12 25 Johann Matthias Schroeckh: Christliche Kirchengeschichte, Bd. 1–35, Leipzig 1772–1803

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beysammen zu haben. Dieß ist so ohne allen Werth, und es ist bloser Zufall, auf welche Gegenstände ein solcher Sammelgeist sich wirft. Als Materialsammlung kann eine solche Arbeit vielleicht dienen. Was nun das Andre betrifft, so ist dieß dem parallel, was von der KirchenGeschichte gesagt ist, die auch oft ist bearbeitet worden ohne kirchliches Interesse, da ist dann der Gegenstand nicht mehr gleichgültig, und da tritt die Alternative ein, wenn kein Interesse für die Kirche da ist, so muß ein entgegengeseztes stattfinden, entweder ein polemisches gegen die Kirche oder eine bestimmte Formation derselben, oder ein skeptisches gegen das religiöse Princip überhaupt. Gegenwärtig ist diese Bemerkung von wenigem Gebrauch, weil die Disciplin noch wenig bearbeitet ist, doch zeigen sich Spuren dieser polemischen Richtung in der Art, wie man sich in Zeitschriften und Tagesblättern über die neuren Gestaltungen auf diesem Gebiete äussert. Da muß man sich schon in dem Sammeln dieser PeinzelnenS Darstellungen hüten, weil das Urtheil sich in die Erzählung steckt. § . 2 4 8 stellt das Andre dar, nämlich das Resultat einer Behandlung wo das religiöse Interesse vom wissenschaftlichen Geiste entblöst ist. Hiebey könne nur ein parteyisches Resultat herauskommen. Dieß scheint theils nicht ganz deutlich, und dem hilft der Zusaz ab, theils aber kann dieß nicht das Einzige zu seyn scheinen. Man kann sich die Sache so denken: wenn das religiöse Interesse ein kleinlichtes ist, d. h. sich beschränkt auf eine vorübergehende oder zufällige Form, – das wird gewiß in diese einseitige Parteylichkeit hineingerathen. Denken wir uns aber das religiöse Interesse in einem größren Stil, so würde daraus nicht nothwendig eine Parteylichkeit entstehen; denn wenn man sich einen größren Kreis sezt als seinen eignen, so erkennt man | auch die Manchfaltigkeit an. Daher könnte man denken einen Mann von ächt protestantischem aber nicht grade wissenschaftlichem Geist, der über dem Parteywesen sich hielte. Aber ein andrer Mangel würde sich kund geben, in der Richtigkeit und Klarheit der Form, welche nur vom wissenschaftlichen Interesse ausgehen kann. Jede Einzelheit also kann unparteyisch seyn, aber man wird, wenn es auf das Ganze ankommt, kein Centrum finden, um sich zu orientiren, sondern dieß wird der Leser selbst hineinbringen müssen. Da muß man nun sagen, daß den meisten Produktionen dieses Gebiets dasjenige fehlte, was der wissenschaftliche Geist sollte hineingetragen haben, was in gewissem Grade auch von der Stäudlinschen Statistik gilt. Die Aufforderung zu solchen Leistungen ist jezt besonders groß. Sehen wir nur auf die abendländische Kirche, da ist eine große Zerfal9–10 ein skeptisches] eine skeptische 239) 36 den] die

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lenheit sowohl in der katholischen als protestantischen Kirche. An dieser Zerfallenheit hat das Einwirken eines antichristlichen Princips Antheil. Aber andrerseits giebt es eine Menge von Punkten, wo ein Zusammenwirken ist der verschiedenen religiösen Gemeinschaften, wie vorher nie. Man denke nur an die vielen Vereine zur Verbreitung der heilligen Schrift wo auch schon Mitglieder der katholischen Kirche mit Protestanten aller Parteyen in lebendigem Zusammenwirken sind. Keineswegs ist die Einheit darinn nicht so groß wie sie scheint, denn immer werden zugleich parteyische Zwecke mit verfolgt, doch untergeordnet dem allgemeinen Impuls. Ein solches Zusammenwirken enthält ja eine Anschauung von der Einheit der christlichen Kirche, wo alle Verschiedenheit als in der Einheit nothwendige Manchfaltigkeit geschaut wird. Der andre Punkt sind die MissionsVereine. Hier ist auch ein solches Zusammenwirken, und dieß ist noch schwerer zu fassen als jenes. Denn wenn allerdings auch über die Schrift die Katholiken eine ganz andre Ansicht haben, und auch das KirchenRegiment diese Bibelverbreitung hemmen will, so ist doch der Impuls so mächtig, daß sich viele nicht um die Schritte der KirchenRegirung bekümmern, und auch diese nicht entschlossen scheint durchzugreifen. Beym Missionswesen aber ist noch keine Form gefunden einen Menschen zum Christen überhaupt zu machen, sondern nur entweder zum Katholischen oder Protestantischen. In dem Zusammenwirken zum Missionswesen liegt also eine Richtung zur Aufhebung der Differenzen, und darinn bekundet sich eine starke Richtung des gemeinsam christlichen Prinzips auf Unkosten der besondern Differenz. Es manifestirt sich also ein Schwanken in den innern Verhältnissen der christlichen Kirche, wodurch ein großes Interesse entstehen muß, die gegenwärtigen Zustände nach ihrer innren Beschaffenheit zu erforschen.| Die zwey folgenden §§. haben es eigentlich nicht mehr mit der kirchlichen Statistik zu thun, sondern mit parallelen anderen Disciplinen, die es jedoch nur auf untergeordnete Weise sind, – um ihr Verhältniß zur kirchlichen Statistik darzustellen. § . 2 4 9 wird gesagt, daß die Symbolik hiehergehöre, wiewohl sie immer mehr als zur Dogmatik gehörig behandelt wird. Unter Symbolik versteht man eine Zusammenstellung desjenigen, wodurch sich die verschiedenen bestehenden christlichen KirchenGemeinschaften in Hinsicht auf ihren Lehrbegriff unterscheiden. Der Name aber erinnert an die officiellen BekenntnißSchriften. Nun sind die jezt bestehenden kirchlichen Gemeinschaften alle sofern sie abendländisch sind, alle an das Zeitalter der Reformation geknüpft; denn der Katholicismus ist eigenthümlich fixirt worden erst durch den Gegensaz zum Protestan30 mit] von einer

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tismus, und wenn man den katholischen Lehrbegriff in seinem Gegensaz zum protestantischen entwickeln will, so muß man auf das Tridentinum zurückgehen. Dasselbe gilt von den meisten kleinen Religionsgesellschaften. Sie sind allerdings nicht alle von der deutschen Reformation ausgegangen, sondern wir müssen das Englische dazunehmen, und da ist der erste Impuls gegeben durch die Losreissung der englischen Kirche von der päbstlichen Herrschaft. Aber nun die officiellen Schriften sind zum Theil von diesem gemeinsamen Ursprunge schon entfernt, und nur sofern diese in ganz verschiedenen Zeiten entstandenen Schriften den noch geltenden Lehrbegriff enthalten, kann man die Symbolik zur Statistik rechnen als Darstellung des gegenwärtigen Zustands des Lehrbegriffs. Dadurch entsteht ein Gegensaz der Statistik gegen die Dogmatik. Nämlich in der Dogmatik muß die ganze Darstellung aus eigner Ueberzeugung kommen, was in der kirchlichen Statistik nicht der Fall ist. Sollte nun die Symbolik an der eignen Ueberzeugung hängen, so müßte sie Polemik seyn, aber man hat diese zwey Disciplinen immer gesondert. Soll die Symbolik unparteyisch seyn, so kann sie nur die Natur der Statistik haben. Sie ist eine compendiöse Art, den gegenwärtigen Zustand aller Kirchen in Beziehung auf den Lehrbegriff zu geben, nur daß, wenn der Aufgabe der Statistik genügt werden soll, auch gezeigt werden muß, wie weit dieser Lehrbegriff in den einzelnen Kirchen noch gilt, und was für Differenzen hiebey obwalten. Die Symbolik hat somit mehr Analogie mit der Statistik als mit der Dogmatik, weil in einer solchen Darstellung ein unparteyischer Standpunkt genommen werden muß. Dabey bleibt aber immer sehr wünschenswerth, daß die Symbolik besonders behandelt werde, und dieß giebt schon eine andre Art, als wie sie in der Statistik behandelt werden kann. Es tritt das Comparative als Hauptsache hervor, was in der Verbindung mit der Statistik nicht ist. Es ist nur zu wünschen, daß, wenn die Symbolik für sich behandelt wird, | dieß auch wirklich hervorgehoben werde. Dagegen kann bey dieser abgesonderten Behandlung, nicht wie bey der statistischen, angegeben werden, wie weit die Symbole jezt noch in den verschiedenen Gemeinschaften gelten. § . 2 5 0 geht auf die biblische Dogmatik zurück, d. h. auf die Darstellung des biblischen Lehrbegriffs wie er in dem Zeitalter des werdenden Kanon gewesen ist. Dieses hat die Analogie mit der Dogmatik, daß es die Darstellung der Lehre in ihrem Zusammenhang ist, wie sie zu einer gewissen Zeit gegolten hat. Nun wenn einer z. B. jezt eine Dogmatik der Scholastik schreiben sollte, so könnte er seine eigne Ueberzeugung nicht zu dieser frühren Zeit mitbringen. Nun erscheint es paradox, dieses auch auf die biblische Dogmatik anzuwenden. Jeder Lehrsaz muß ja bewährt werden aus dem NeuTestamentischen

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Kanon, und dieß ist geknüpft an jenen Charakter der Dogmatik, daß sie nur eigne Ueberzeugung geben darf. Nun kann die biblische Dogmatik nur aus dem Kanon hergenommen werden, und daraus scheint nun zu folgen, daß gerade der Lehrbegriff wie er im Neuen Testament enthalten ist, müßte die Ueberzeugung eines jeden ausdrücken, nur daß der Protestant eine andre biblische Dogmatik haben würde als der Katholik. Aber daraus geht hervor, daß in einer solchen biblischen Dogmatik, welche die eigne Überzeugung in sich schließen soll, auch das eigne Urtheil über den Kanon mitenthalten ist, und keineswegs eine rein geschichtliche Darstellung. Wenn wir aber die Sache rein historisch nehmen, und davon ausgehen, daß unvermeidlich sich in geschichtliche Darstellungen das eigne Urtheil einmischt, so ist doch das Ziel dieß, daß die biblische Dogmatik endlich nur Eine werde. Aber zu diesem Behuf muß die Bewährung der eignen Überzeugung durch den Kanon aus dem Spiel bleiben, und daher ist hier gesagt, daß die Behandlung der biblischen Dogmatik sich mehr der Statistik nähere. Der Z u s a z faßt nun die Sache noch anders. Es ist ein großer Unterschied ob wir sagen, wir müssen jeden Saz aus dem Kanon bewähren, oder ob wir sagen: die Art wie jeder Saz im Kanon ausgedrückt ist, ist der reine Ausdruck unsrer Ueberzeugung. Dieß ist gar nicht möglich, weil unsre Überzeugung Resultat der ganzen Entwicklung ist, die zwischen uns und dem Kanon liegt. Wenn sich ein Theologe auf natürliche Weise gehen läßt, so wird er nicht leicht seine Ueberzeugung auf dem dogmatischen Gebiet in biblischen Ausdrücken darstellen, sondern in ganz andern. Je wissenschaftlicher er seyn will, desto weniger werden ihm die unbehandelten Ausdrücke des Kanon genügen; wir haben eine Geschichte der Begriffsentwicklung vor uns, ohne Beziehung auf welche wir | unsre Ueberzeugung nicht adäquat aussprechen können. Die NeuTestamentischen Schriftsteller umgekehrt hatten eine Geschichte vor sich, ohne Beziehung auf welche sie ihre Ueberzeugung nicht ausdrücken konnten, und diese Geschichte haben wir gar nicht vor uns. Wenn man behaupten will, auch wir müssen jene jüdische Entwicklung der kanonischen Schriftsteller vor uns haben, wenn wir unsern Glauben ausdrücken wollen, so ist dieß eine antihistorische Forderung. Dieß giebt die Folgerung, daß eine biblische Dogmatik, wenn sie der Idee entsprechen soll, den Charakter haben muß, wie ein fremder Lehrbegriff dargestellt wird in der Statistik. Das Fremde bezieht sich eben auf die historischen Bedingungen, unter welchen die Sprache nothwendiger Weise steht. Der Ausdruck wäre falsch, wenn man auf das Princip zurücksehen wollte, denn das ist freylich dasselbige. Die wissenschaftliche GlaubensLehre

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soll ja aber nicht das Princip selbst darstellen, sondern wie sich dieses zu verschiedenen Zeiten verschieden geäussert hat. Ob nun gleich die Dogmatik die eigne Überzeugung fordert, so könnte sie doch nicht aus dem Zusammenhang mit der historischen Theologie herausgenommen, und als systematische Theologie dargestellt werden, denn diesem Ausdruck wohnt eine Zweydeutigkeit bey nämlich daß die Dogmatik ist unter die Diction der Philosophie gestellt worden, auf eine andre Weise als wie hier aufgestellt worden ist, daß die Organisation, die Zusammenstellung, die Terminologie muß dialektisch gerechtfertigt seyn. Dieß ist der Anspruch den man der Philosophie nicht nehmen kann in der Dogmatik; aber dieser kann und muß sich auch auf die übrigen Gebiete der historischen Theologie erstrecken. So wie z. B. die KirchenGeschichte wissenschaftlich behandelt werden soll, so ist ja unvermeidlich, daß man eine Theilung macht. Da muß es ein Theilungsprincip geben; dieses muß gerechtfertigt werden können aus dem Begriff der Kirche und aus dem eigenthümlichen Begriff des Christenthums wie es auch gerechtfertigt wird, auf philosophische Weise, aber nicht philosophisch deducirt werden kann. Also der richtige Einfluß der Philosophie in der Behandlung der theologischen Disciplinen geht durch alle durch; wenn eine Behandlung der KirchenGeschichte diesen vernachlässigt, so wird sie sicher Schaden leiden in Beziehung auf ihren wissenschaftlichen Werth. Je weniger sie eine Begriffsmäßige Organisation zu Grund legt, desto weniger wird der ganze Verlauf können wissenschaftlich dargestellt werden, und es wird entweder der ascetische Charakter hervortreten, indem das Einzelne immer unmittelbar auf das ursprüngliche Princip zurückgeführt wird, – oder [es] bekommt die Geschichte den Anschein des Zufälligen, indem die Begebenheiten statt auf das Christenthum auf fremde Coëfficienten zurückgeführt werden. Ebenso giebt es aber pseudophilosophische Darstellungen der KirchenGeschichte, welche statt des objectiven Verlaufs nur die subjective Schätzung desselben geben. – Also dieses Verhältniß der Dogmatik zur Philosophie ist gar | kein so specielles, daß deßwegen die Dogmatik müßte einen eignen Raum innehaben in der Theologie, und nicht könnte in das Gebiet der historischen Theologie fallen. Es müßte dann auch die KirchenGeschichte einer ebenso philosophischen Behandlung unterworfen werden, und dann hört sie eigentlich auf, Geschichte zu seyn. Das wäre also ein durch die ganze Theologie sich erstreckendes Verfahren das die ganze historische Theologie aufheben würde. Bleibt diese in ihrem Recht, dann muß auch die Dogmatik zu ihr gestellt werden. 29 aber] aber eine

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Ebenso bey der Exegese. Da darf man nur an die moralische Interpretation denken, so sieht man hier den falschen Einfluß der Philosophie. Da kommt es nicht auf den Gedanken des Schriftstellers an, sondern darauf wie eine Idee die man Zu Grunde legt, in dieser Stelle liegt. Dieß ist ebenso der Tod der Exegese wie der Tod der Geschichte. Aber demungeachtet ist der richtige Einfluß der Philosophie umso bestimmter festzuhalten. Alle Vorwürfe gegen die Schleiermachersche Dogmatik beruhen auf dem NichtUnterscheiden dieser zwey Gebrauchsweisen der Philosophie. Vom philosophischen Inhalt ist nichts in der Dogmatik, sondern was von Philosophie darinn ist, das ist nur die dialektische Rechtfertigung der Zusammenstellung des Ganzen in seiner Organisation und weiter der einzelnen Formeln. – Wenn aber von Zeit zu Zeit die Philosophie das Christenthum in Besiz nehmen will, so ist nichts besser dagegen als eine Organisation der Theologie, welche dieß für immer ausschließt, aber den wahren Einfluß der Philosophie auf die Theologie desto fester stellt.

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Schlußbetrachtungen über die historische Theologie.

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§ . 2 5 1 . hat zu seinem Gegenstand das Verhältniß des Biog ra fis c h e n zur historischen Theologie. Der Vordersaz enthält einen scheinbaren Vorwurf, der hernach beseitigt wird. Die Sache ist diese. Das ganze Christenthum ist ausgegangen von der Person Christi, und eigentlich muß also alles Verständniß des Christenthums seyn das Verständniß dieses Zusammenhangs der späteren Entwicklung mit der Persönlichkeit Christi, und man kann nicht einig seyn über das Christenthum ohne einig zu seyn über die Person Christi. Darinn liegt eine absolute Dignität der Persönlichkeit, die aber ausschließend Christo zukommt. Das Christenthum fängt mit einer absoluten Persönlichkeit an. Ferner wird dann auch den Aposteln noch eine solche ausgezeichnete persönliche Geltung beygelegt, aber nur abgeleitet aus der Persönlichkeit Christi. Je weiter man heruntergeht, desto mehr verliert sich das, und das Zeitalter der Kirchenväter schließt es ganz ab. In dem Ausdruck KirchenVater liegt die ausgezeichnete Autorität der Persönlichkeit, | und wenn man nun von einer gewissen Zeit an den Ausdruck nicht mehr gebraucht, so ist dieß die indirekte Andeutung, 1–5 Vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „Bei der Exegese ist eben so ein Einfluß der Philosophie möglich. So hat Kant viel Nachtheil angerichtet. Seine Schule lehrt: Es kommt auf den Gedanken des Schriftstellers nicht an, sondern es frägt sich ob eine Idee die man zu Grunde legt, in diesem Ausspruch enthalten ist, dieses Verhältniß ist der Exegetische Werth der Stelle und nicht sein Verhältniß zu dem ganzen Buche.“ (S. 204)

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als ob es von da an keine solche Persönlichkeit mehr gebe. Gehen wir aber zurück auf die Natur des geschichtlichen Verlaufs, besonders auf den Gegensaz zwischen Epochen und Perioden: so müssen wir nun sagen, eine jede solche Beschaffenheit der Zeit, daß sich etwas Neues entwickelt, hat eine Ähnlichkeit mit dem ersten Anfang. – In der Reformation z. B. fällt es zwar keinem ein, einem Einzelnen eine Dignität beyzulegen wie den Aposteln, es liegt auch nicht mehr in dem Charakter der Zeit einem Einzelnen hier die Dignität eines KirchenVaters beyzulegen, – dieß ist die Folge davon, daß im Allgemeinen der persönliche Einfluß abnimmt. Aber doch comparativ mit andern Zeiten tritt in solchen Punkten die Persönlichkeit bedeutend hervor. Die Kirchenleitung ist Seelenleitung, wo der Einzelne als das eigentlich wirksame Element auftritt. Darauf beruht das hier aufgestellte, daß es, zumal für solche Epochen, auf eminente Weise der KirchenGeschichte angemessen ist, die Darstellung an die Wirksamkeit Einzelner anzuknüpfen und also der Biografie eine größre Bedeutung einzuräumen. Dieß ist neuerdings sehr anerkannt worden, und wir haben in den lezten 25 Jahren eine größre Menge von solchen Biografien bekommen als lange vorher, welches allerdings für ein gesundes Fortschreiten in der Behandlung der KirchenGeschichte spricht. Daß nun dieses mehr der Fall ist im Gebiete der KirchenGeschichte als auf andern Gebieten, dieß hat seinen Grund darinn, daß hier Alles auf die unmittelbarste Weise auf die Seelenleitung zurückgeht. Nun kann man sagen, dieß sey auch der Fall auf dem politischen und wissenschaftlichen Gebiete. Aber im WissensGebiete gilt der Gedanke Alles, und dieser läßt sich von der Persönlichkeit vollkommen lösen, so daß derjenige hier am meisten wirkt, welcher seinen ganzen GedankenComplex am meisten von seiner Persönlichkeit zu lösen weiß, denn umso stärker erscheint die Verknüpfung der Gedanken in sich selbst und stellt sich rein objectiv hin. Im religiösen Gebiete aber ist der Gedanke nur Mittel um die innre Lebensregung hervorzubringen, und diese ist immer wesentlich im Einzelnen, so muß der Einzelne den Gedanken nothwendig im Zusammenhang mit seiner innren Lebensbewegung fassen, um religiös zu wirken. Das politische Gebiet scheint in dieser Hinsicht 17–19 Vgl. oben Anm. zu 198,12–13 sowie die nach 1817 erschienenen Titel, die Schleiermacher ebenfalls in seiner Bibliothek besessen hat: Samuel Christian Gottfried Küster: Doctor Martin Luther, der Mann Gottes. Eine lebensgeschichtliche Darstellung im einfachen Volkston, Berlin 1817; Johann Michael Heinrich Döring: J. G. von Herders Leben nebst gedrängter Uebersicht seiner Werke, Leipzig 1823; Peter Wilhelm Heinrich Hossbach: Johann Valentin Andreae und sein Zeitalter, Berlin 1819; ders.: Philipp Jakob Spener und seine Zeit. Eine kirchenhistorische Darstellung, Bd. 1–2, Berlin 1828; August Neander: Der heilige Johannes Chrysostomos und die Kirche, besonders des Orients, zu dessen Zeitalter, Bd. 1–2, Berlin 1821–1822

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weniger mit sich selbst einig zu seyn. In der Monarchie ist ja der Einzelne der Ursprung aller Bewegung und diese pflanzt sich auch durch Einzelne fort. Umgekehrt in der Demokratie scheint Alles abzuhängen nur von dem Verhältniß des Einzelnen zur Masse. Aber genauer betrachtet ist es doch mehr nur ein Schein, daß in der Monarchie alle Lebensbewegungen von dem Monarchen | ausgehen, er steht unter dem beständigen Einfluß dessen was in der Masse ist, und wenn er sich nicht an das anschließt, kann er nichts wirken. Umgekehrt in der Demokratie sind es eigentlich Einzelne, die entscheiden. Indem nun also beyderseits dieselbe Duplicität ist nur mit umgekehrtem Zeichen, so hebt sich der Unterschied relativ auf und man muß sagen: es ist doch hier mehr die Masse das Leitende, und der Einzelne erscheint mehr als ein Produkt, als daß die ganze Bewegung von dem Einzelnen ausgehen könnte. Also ist dieß ein eigenthümlicher Charakter des religiösen Gebiets, aber auch nur des christlichen. § . 2 5 2 . ist die Rede von dem Verhältniß der historischen Theologie zur philosophischen, was in den beyden folgenden weiter fortgesezt wird. Es war in der Einleitung schon gesagt worden, daß beyde gegenseitig einander voraussezen. Dieß läßt sich jezt erst genauer auseinandersezen. Indem die philosophische Theologie keine rein apriorische ist, so mußte sie kritisch seyn und das Gegebene voraussezen. Dieß erscheint also als ein Cirkel, wenn man sagt: um die Säze der philosophischen Theologie aufstellen zu können, muß man im Besize der historischen Theologie seyn; und dann umgekehrt: nur wenn man im Besize der philosophischen Säze ist, kann man zum Besize der historischen Theologie gelangen. Dieser Cirkel wird hier aufgelöst, indem gesagt wird, was die philosophische Theologie vorausseze sey nur die untergeordnete chronikartige Kenntniß des geschichtlichen Verlaufs, und die philosophische Theologie ist nur die Bedingung, ohne welche jene untergeordnete Kenntniß nicht in die geschichtliche Anschauung im wahrhaften Sinne verwandelt werden könne. Man könnte nun dieß, daß man vor der philosophischen Theologie den Verlauf nur chronikalisch kennen müsse, sehr mißverstehen, wenn nicht immer vorausgesezt würde, daß das theologische Studium nur ausgehen kann von religiösem Interesse. Dieses religiöse Interesse wird also die Kenntniß der historischen Einzelheiten begleiten und beleben. D e r Z us az dehnt dieß auch auf exegetische und dogmatische Theologie aus, wozu auch die kirchliche Statistik gehört. Bey der exegetischen Theologie muß eine gewisse Kenntniß des Kanon vorausgehen, aber die reine Vorstellung des Kanon in seiner eigenthümlichen 18–19 Vgl. etwa KD2 § 27 (KGA I/6, S. 336,7–10) und § 31 Erl. (KGA I/6, 337,22– 24)

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Dignität wird erst durch die philosophische Theologie begründet. Das Wesentliche daran ist in dem Zusaz ausgesprochen, daß alle leitenden Begriffe der historischen Theologie in der philosophischen gebildet werden. § . 2 5 3 wird daraus eine Folgerung gezogen, nämlich ein Versuch, die Frage zu beantworten, wie der gegenwärtige Zustand der Theologie habe entstehen können, einmal als Maximum von Differenz, und dann als ein Maximum von Rathlosigkeit in Beziehung auf | die Aufhebung dieser Differenz. Was die Verschiedenheit der Behandlung betrifft, so erscheint die Differenz viel größer in Exegese und Dogmatik als in der KirchenGeschichte im engern Sinn. Aber dieß ist doch mehr ein Schein als eine Wahrheit. Nämlich in Kirchen- und DogmenGeschichte ist die Masse des Thatsächlichen, die nun so als ein Äusserliches dasselbe ist, d. h. was in der Geschichte Chronik ist, das muß in allen Behandlungen dasselbe seyn. Aber dieß ist nicht die Behandlung; die Behandlung trägt alle Differenzen in sich die sich in Exegese und Dogmatik zeigen. Wenn man sich den gegenwärtigen Zustand vor Augen stellt, und soll angeben den bestimmten Charakter des evangelischen Christenthums, so findet man sich in größter Verlegenheit, weil es fast nichts übereinstimmendes giebt. Damit hängt das zweyte zusammen, ein gänzlicher Mangel an Verständigung über den Siz dieser Differenz, einige behaupten, daß das Maximum von Differenz geradezu den eigenthümlichen Charakter der evangelischen Kirche bilde, und andre behaupten, daß jede Differenz Corruption der evangelischen Kirche sey. – Dieser Zustand wird nun hier erklärt aus dem Verhältniß von historischer Theologie und philosophischer Theologie wie es §. 252 aufgestellt war, so wie aus dem Zustand der philosophischen Theologie selbst. Wenn es nämlich nicht anders möglich ist, um zu den leitenden Begriffen der Theologie zu gelangen, muß man von der Auffassung des Christenthums als einer Thatsache ausgehen, und indem man nun dieses religiöse Element mit andern vergleicht und Übereinstimmung und Differenz aufsucht, also durch die philosophische Theologie kann man erst zu der rechten historischen Theologie kommen. Da sezt man also eine zweyfache historische Auffassung voraus. Wenn sich diese so rein sondern ließe, daß man bey der ersten historischen Auffassung alles abhalten könnte, was nicht blos Thatsache wäre, und auf dieses dann die philosophische Theologie bauen könnte, dann würde keine solche Verschiedenheit entstehen. Aber jenes würde nur möglich seyn, wenn es eine solche Sonderung zwischen der Wissenschaftlichen Kaste und dem gemeinen Leben gäbe, wie sie nicht möglich ist in einem solchen allgemeinen IdeenVer5 253] 252

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kehr. Also gegenwärtig kann keiner mehr ursprünglich zu einer solchen geschichtlichen Auffassung gelangen, welche frey wäre von den Einflüssen einer bestimmt gestalteten philosophischen Theologie. Dadurch wird die Entwicklung der philosophischen Theologie selbst gelähmt, oder sie bleibt in einem Zuge von Einseitigkeit, und indem nun einmal die entgegengesezten Einseitigkeiten neben einander bestehen, so muß sich dieß immer steigern. Nun ist es aber gar nicht möglich, daß jene Trennung jemals eingeführt werde, daß die Jugend nicht vorher schon préoccupirt werde. Also läßt sich auch gar nicht absehen, wie dieses Element der Verwirrung jemals sollte aufgehoben werden können. Alles beruht daher nur darauf, daß man sich über die leitenden Begriffe verständige, welche die philosophische Theologie bilden. Nun sind wir davon aber noch | sehr weit entfernt, indem wir noch nicht einmal zur Anerkennung der Einheit der philosophischen Theologie gelangt sind, und sie noch ganz vernachlässigt wird. So lange also nicht eine stärkere Richtung auf die philosophische Theologie hervortritt, kann die jezige Verwirrung nicht aufhören. Die jezigen Gegensäze in der evangelischen Kirche sind eine Spannung welche als veränderliche Größe gesehen [werden] muß, – entweder wird die Spannung zum wirklichen Zerreissen, oder sie muß sich mildern, so daß sie eine beständige Größe bleiben kann. Der Grund warum es nicht so bleiben kann, ist eben die Unwissenheit, wie es eigentlich mit dem Gegensaz steht. Es liegt nicht einmal ein gemeinsamer Begriff zu Grunde von dem Wesen des Christenthums; wäre dieser anerkannt vorhanden, so müßte auch die Verständigung möglich seyn. Da kommen wir also zurück auf den dermaligen Zustand der philosophischen Theologie, und das ist der, daß sie noch gar nicht als eine Disciplin anerkannt ist. So lange dieß nicht ist, so sind diejenigen Verhandlungen, welche in die Feststellung der philosophischen Theologie ausgehen sollten, immer in die historische Theologie verflochten, und das Thatsächliche tritt nicht rein heraus, aber ebensowenig kommt der Begriff zu seiner Bestimmung weil er immer nur in Anwendung auf das Thatsächliche erscheint. Daher ist diese Anordnung getroffen worden. Es muß erst der Rationalismus und der Supranaturalismus, jeder seine eigne philosophische Theologie aber rein für sich im Zusammenhang entwickeln, damit einmal die leitenden Begriffe sichtbar werden, dann erst wird die Möglichkeit einer Verständigung eintreten, dann wird sich aber auch gleich das Ungenügende jener Bezeichnungen zu Tage legen, weil sie nämlich nicht den Punkt zeigen, von welchem beyde ausgehen. Übernatürliches und Vernunft sind aber keine solche sich ausschließenden Gegensäze: der Begriff der Vernunft subsumirt ja das Übernatürliche unter sich, weil die Vernunft bestimmt,

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was übernatürlich sey; und der Begriff der Vernunft ist ja für alle Religionen, nicht blos für die christliche. Es ist auch schon stillschweigend anerkannt, daß diese Bezeichnungen nicht das Wesen der Differenz ausdrücken. § . 2 5 4 giebt nun eine Beschreibung von dem nächstbevorstehenden Hergang, wenn man sich einer Verständigung nähern soll: Dieß ist nämlich das Auseinandertreten der philosophischen und historischen Theologie. Ihr Nichtauseinandergetreten seyn ist der gegenwärtige unvollständige Zustand. Fragen wir: was spielt denn jezt die historische Theologie für eine Rolle? Die historische Theologie im engern Sinn finden wir fast nirgends rein behandelt, sondern immer mit Beziehung auf den gegenwärtigen Zustand, die Darstellungen sind immer mit Vorwürfen gegen die andre Partey verbunden, oder wo | sich dieß nicht findet ist mehr das Chronikalische vorherrschend. Dieß hat seinen Grund darinn: so lange nicht das Bestreben, die philosophische Theologie auszubilden, in seiner Besonderheit heraustritt, so hat ein jeder Theologe das Bewußtseyn in sich von der Nothwendigkeit, diese Begriffe festzustellen, aber wenn sich Niemand findet, der dieß ex professo thut, so ist kein andres Mittel, als daß jeder seinen Theil dazu beyträgt, indem er in der historischen Theologie begriffen ist. Die zwey folgenden §§ gehen wieder auf die gegenwärtige Lage der historischen Theologie zurück, und stellen das Mißliche derselben noch von einer andern Seite dar. § . 2 5 5 stellt dar wie die historischen Theologen jezt fast überall den Vorwurf erfahren, daß sie nach willkührlichen Hypothesen verfahren. Wenn einer in einer andern philosophischen Theologie liegt, aber die philosophische Theologie ist noch nicht besonders herausgetreten, so betrachtet er die philosophischen Elemente die der Darstellung des andern ZuGrund liegen, als willkührliche Hypothesen, was ein unbilliger Vorwurf ist, weil, wenn er in einer historischen Darstellung begriffen wäre, er sie auch nach seinen philosophischtheologischen Begriffen behandeln würde. Gegründet ist der Vorwurf, wenn die der historischen Darstellung zu Grund liegenden philosophischen Elemente nicht auf dem kritischen, sondern auf rein àpriorischem Wege entstanden sind. Ebenso ist es mit dem andern Vorwurf § . 2 5 6 , des Verwandelns der historischen Theologie in geistlose Empirie, Pd. h.S in blose Chronik. Wenn es an leitenden Begriffen ganz 17 sich] sich,

37 Pd. h.S] oder PdaherS (vgl. Sachs 249)

1–2 Vgl. dazu Nachschrift Anonymus: „Vernunft dagegen kann nicht der Ausgangspunkt der anderen Parthei sein, denn das ist der Ausgangspunkt für alle Religion, für das Christenthum als Positive Religion muß noch ein anderer Ausgangspunkt dasein.“ (S. 209)

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fehlt, so ist nur eine solche Darstellung übrig. Nun aber wenn in einer historischen Theologie solche Begriffe zu Grunde liegen, die der andre nicht anerkennt, so vermißt er den historischen Typus, den er hineinlegen würde; gelingt es ihm nun nicht, diese Begriffe herauszufinden, so hält er dieß für eine blose Empirie, ohnerachtet es dieß nicht ist. Nun ganz kann man sich in der historischen Theologie nicht behelfen ohne Bezeichnungen, die der philosophischen Theologie angehören. Wenn nun aber diese nicht sich in der historischen Darstellung bewähren als noch erst werdende Begriffe, – dann kann die nothwendige Bezeichnung nur als etwas Gegebenes vorkommen, was sich von selbst versteht, und dann wäre es etwas blos Empirisches. Der lezte Vorwurf geht jezt am meisten von denen aus, welche auf dem Abwege sind, die philosophische Theologie aus àpriorischer Construction entstehen zu lassen, und das Christenthum selbst àpriorisch zu construiren. Unter denen die sich davon freyhalten, finden wir freylich verschiedene Ansichten, ist aber einer nur nicht ganz traditionell, sondern wirklich in einem historischen Prozeß begriffen: so wird doch der von einer andern Ansicht Ausgehende das Analoge in jenem anerkennen, und ihn nicht der geistlosen Empirie beschuldigen. Der Vorwurf eigener Hypothesen bezieht sich auf das Schwanken im philosophischen Gebiete.

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257. Wie alle theologischen Disciplinen als solche das Christenthum voraussetzen so auch jedesmal einen gegebenen Zustand desselben. Alles was in der historischen Theologie auseinandergesetzt war ging darauf aus dies gegebene in seine Elemente zu scheiden. Ist in dem Zustande der Kirche verschieden nebeneinander Gutes und Böses so ist das eine ein Wohlgefallen erregendes, das andere ein Mißfallen erregendes. Und daß dieses zur Anschauung komme ist die Sache der philosophischen Theologie und daran wird geknüpft die Entwicklung der Aufgabe der praktischen Theologie. Jedes Wohlgefallen oder Mißfallen geht in Thätigkeit über, das erste will man festhalten das zweite wegbringen. Dem besonnenen ist entgegenzusetzen das Instinktartige, bewußtlose, dieses ist in jedem anders, gehört der Kirchenleitung nicht an, sondern ist ein Gegenstand der Kirchenleitung. Die Praktische Theologie soll die Regeln enthalten wie in der Kirche das was ein Gegenstand des Wohlwollens ist festgehalten, das was ein Mißfallen erregt aufgehoben werden soll. | 258. knüpft sich besonders an den Ausdruck besonnene Thätigkeit an. Wo nicht kirchliches Interesse und wissenschaftlicher Geist beisammen sind gibt es keine besonnene Thätigkeit. Von diesem kommt die Besonnenheit von jenem die Thätigkeit her. Man kann sagen es gäbe schon viel Besonnenheit unter nicht wissenschaftlich gebildeten Leuten. Wir müssen unseren Ausdruck nur im gehörigen Umfang nehmen. Wenn wir von dem einen Extrem dem Instinktartigen Verfahren ausgehen, so ist dies nur ein pathematisches Verfahren, und dies ist ein Nichtwissen, welches man will und also keine Praxis es muß also zwischen den Adfecten und Handlungen das Denken eintreten. Was ist nun der wissenschaftliche Geist? Das Denken in absoluter Würde. Denkt man die Kirchenleitung im weitesten Umfange, als auf die ganze Kirche gehend, ihre Gegenwart, Vergan2 Dritter Theil.] für die „Praktische Theologie“ fungiert die Nachschrift Anonymus als Leittext; vgl. dazu die Erläuterungen im Editorischen Bericht, oben Einleitung der Bandherausgeber II. 2. 31 Geist?] Geist.

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genheit und zu erwartende Zukunft aufführend, so ist dies ein Feld für den wissenschaftlichen Geist im vollsten Sinne. Gehen wir auf das Minimum und denken die Kindererziehung in einem christlichen Hauswesen, so ist dies hier auch Kirchenleitung. Hier ist der wissenschaftliche Geist nicht nothwendig, aber die Erziehung kann nur richtig sein, wenn das Handeln besonnen ist und das Denken immer dazwischen eintritt. Man kann den 258. Paragraphen auch so ausdrüken, daß praktische Theologie nur für den ist, in dem sich Zweckbegriffe für die christliche Kirche entwikeln.

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Der Begriff von dem Wesen des Christenthums und der speciellen Kirche muß dem Handeln vorausgehen, jedem inhaeriren. Wir wollen einmal fingiren, es nähme einer sehr Theil an der Kirchenleitung ohne Gewöhnung an das Denken und es sei so eine Instinktartige Einwirkung, so kann man in einem gewissen Sinne nicht sagen daß | der Begriff von dem Wesen des Christenthums in ihm wirksam sei; wenn wir aber Begriff = Idee im gewöhnlichen Sinn brauchen so kann man sagen die Idee des Christenthums ist in ihm denn sie bestimmt seine Zustände und Empfindungen, aber sie ist nur real daselbst nicht ideell, denn sie wird nicht bestimmter Gedanke. So gilt dies nicht bloß für die besonnene Thätigkeit sondern auch für die Instinktartige. Aber weil das Regulativ der Besonnenheit fehlt so werden die Handlungen oft sich widersprechen, wenn sie gleich von einem Princip ausgehen. Ist aber Vollendung des Denkens da, so sind die Irrthümer ausgeschlossen.

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260. Hier wird der eigentliche Inhalt der Praktischen Theologie aufgestellt. 5/3 32. 6/3 32 PfehltS Es muß ausgegangen werden von dem Begriff der Kirchenleitung und diese als thätig gedacht werden. 261. Wo liegt die Veranlassung zu diesem negativen Satz. Es ist [im] Paragraphen selbst etwas darüber gesagt, was auf etwas sehr allgemeines 22 Regulativ] regulativ

28 5/3 … PfehltS] am Rand

28 Vgl. Tageskalender März 1832: „6. D i e n st [a g ]. Ausgesezt des Geb[urts]tags wegen“. Der 6. März 1832 war der 44. Geburtstag von Schleiermachers Ehefrau Henriette geb. von Mühlenfels.

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zurükgeht wovon erst nachher die Rede sein kann, nämlich auf den Gegensaz in der Kirchenleitung im Einzelnen und im Großen. Man denkt sich die Mittel immer als Außerhalb des Zwekes und dadurch liegt die Möglichkeit daß das Mittel dem Zwek widerspricht[:] sowie das Mittel ganz frei vom Zweck ist ist diese Möglichkeit da und sowie ein Mittel nach einem einzelnen Zweck gemacht wird so kann es dem ganzen Zweke widersprechen. So rufen z. B. die Aerzte eine Krankheit absichtlich hervor um einen gefährlichen Zustand zu heben und müssen nachher jene wieder aufheben. Wir haben in dem Staat auch ein Beispiel, er kann nicht gut geleitet werden wenn die Mittel zu dem ihm gemäßen Handeln nicht in ihm selber liegen. Wenn man eine heilsame Absicht durch Schmeicheley etc. durchsetzt so stirbt das den Staat bewegende Princip ab. Ebenso wenn in der Kanzelberedtsamkeit der Redner | die Gemeine an sich und nicht an die Sache fesselt, wenn er s c h ö n reden will, er untergräbt dadurch das geistige Princip indem er ein sinnliches kräftig macht. 262.

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Jeder bestimmt seine Zwecke durch seine Gesinnung, diese ist ja das immer sich gleich bleibende Princip des Menschen, aus dem seine Zweke hervorgehen. Das Mittel hat mit der Gesinnung eigentlich gar nicht zu thun, da aber ihre Anwendung freie Handlung ist so hängt sie mit der Gesinnung zusammen, denn sie ist ja das Princip aller freien Handlungen und so folgt daß keine andere Gesinnung die Mittel als die Zwecke wählt. Wenn man also die Regeln auch unter die Potenz als Mittel bringen wollte so folgt daraus daß keine anderen Mittel angewendet werden als die aus den beiden Nuancen der theologischen Gesinnung hervorgehen. 263.

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Der Begriff von Mittel und Zwek ist hier und in dem ganzen Gebiet der ψυχαγωγία nicht statthaft. Darin liegt daß in dieser Allgemeinheit der Satz ein Ethischer ist und ebenso gut auf andere Gebiete annwendbar. Die Aufstellung dieses Begriffs hebt von selbst den Gegensatz auf, weil man durchaus hier in einem Kreise gefesselt ist, aus dem man nicht heraus kann. Es gibt keine Mittel eine Wirkung im Gemüth hervorzubringen, als wieder Einwirkung aufs Gemüth. Wenn Menschen gefoltert werden, damit Menschen ihren Glauben aendern, so ist dies ein körperliches Mittel dem Schein nach, aber in der That ein geistiges, denn dieses gibt dem Schmerze nach, es ist eine Seelenleitung

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die nur an dem Zusammenhang des Psychischen und körperlichen anknüpft. Der Zwek kann nur durch Seelenleitung erreicht werden, ja man kann gar keine anderen Mittel anwenden. Es gibt freilich eine falsche Seelenleitung, die sich als solche ergibt wenn man die KirchenLeitung speciell festhällt. | Hier wird der Inhalt der Praktischen Theologie oder das Verfahren zur Lösung der Aufgaben als Methoden dargestellt. Dieser Ausdruk wird angewandt wo das Verhältniß von Mittel und Zweck nicht stattfindet und wo die Methoden im Zwek liegen. So im Mathematischen. Da bekommt man einen Calcul als Resultat von Calculis. In der Physik erhällt man durch Mischen und Entmischen ein Resultat das auch nur ein Mischungs oder Entmischungs-Verhältniß ist. Pra kt i s c h e T h e o lo gi e i s t al s o d i e M e t hodolog ie der KirchenL e i t u n g . 7/3 32 264. Die Klassification schließt die Angabe der Methoden in sich, denn wonach läßt sich das Einzelne in ein Mannigfaltiges entfalten, als a) nach der Betrachtung der christlichen Kirche an sich b) im Verhältniß zu anderen Gemeinschaften, c) nach ihren verschiedenen Arten zu wirken.

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Die Methoden sind Kunstregeln im engen Sinne des Wortes. Dies bezieht sich auf den Unterschied zwischen Kunst im höhern Sinne und mechanischer Kunst. Bei dieser ist in den Regeln auch die Anwendung gegeben, bei jener läßt sich die Anwendung auf einzelne Fälle nicht wieder unter Regeln bringen. Beim Rechnen ist wenn man die Regeln innehat kein Fehler möglich als durch Nachlässigkeit, nie wird man dagegen in [den] Fall kommen zu zweifeln. Nun denke man an die Musik, da gibt es Regeln für die Composition aber die Regeln machen den Componisten nicht es muß in ihm eine Produktivität sein und wenn diese arbeitet so zeigen die Regeln nur wie es nicht sein soll. Denkt man an die redenden Künste (alle Seelenleitung ist nur Mittheilung durch die Rede) so ist zu sagen die Kunst der Rede hat ihre Regeln aber durch diese wird keiner ein Redner, er muß Herr über Sprache und Gegenstände sein und der eigentliche Gehalt der Regeln | ist das Negative. Alles ist Sache eines besonderen Talents. In einem gewissen Sinn kann man sagen daß es kein besonderes Talent gibt, i. e. eine Verrichtung zu der nur einige die Fähigkeit hätten, denn in allen liegt zu allem die Fähigkeit. Wenn man aber davon ausgeht und 15 7/3 32] am Rand

18 a)] 1)

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sagt es ist ein großer Unterschied in der Entwicklung der Talente so ist dies richtig. Viel Virtuosität kann nur da sein unter zwei Bedingungen 1) daß einer eine stärkere Anlage hat und 2) durch mehr Kraft und Zeit sie besser ausgebildet. Wenn man sagt der hat kein Talent so heißt dies nicht, es [sei] ihm absolut fremd sondern nur daß er mit derselben Kraft und Zeit nicht soweit kommt als ein anderer. Was für Talente hiezu gehören ist in dem folgenden gezeigt. 266.

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Zur Praktischen Theologie gehört 1) theologische Gesinnung 2) Wille in die Kirchenleitung einzugreifen 3) Vorbereitung. Es wird also vorausgesetzt daß theologische Gesinnung sein kann ohne Willen in die Kirchenleitung einzugreifen. Es gibt viele wissenschaftlich gebildete die auch religiöses Interesse haben, sie können aber nicht alle an der Kirchenleitung theilnehmen sie haben eine andere Wirksamkeit ergriffen. Es wäre sehr schlimm, wenn alle an der Kirchenleitung nicht Theilnehmende wissenschaftlich gebildete das religiöse Interesse entbehrten, es muß daher dasein ohne Willen an der Kirchenleitung Theil zu nehmen. In dem weiter hier angeführten liegt der Grund warum die Kirchenleitung ein Beruf ist, und zwar früh gewählt werden muß, weil die Vorbereitung nur möglich ist in der Zeit wo die Kräfte sich entwickeln. Wäre nicht diese Vorbereitung nöthig um die Regeln in Anwendung zu bringen so wäre jeder zu jeder Zeit im Stande, der die Innere Beschaffenheit besitzt, falls der Wille eintritt an der KirchenLeitung theilzunehmen. 267.

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Je mehr die geistigen Kräfte ausgebildet werden um desto mehr entwickelt sich Ungleichheit. | So lange eine niedere Bildung da ist sind alle mehr gleich. Diese Ungleichheit wird gegeben mit der Erscheinung des Christenthums und wenn das Christenthum in neue Gegenden kommt so ist die Ungleichheit da, denn die es bringen sind dann auch ungleich. Diese Ungleichheit wächst[,] über je mehr Menschen, Völker [und] Sprachen sich dieses verbreitet und desto mehr entwikelt sich die Theologie. Die eigentliche Kirchenleitung beruht auf dem Gegensatz zwischen der Masse und den Hervorragenden und zwar so daß dieser Gegensatz eine bestimmte Form hat, denn sonst ist die Kirche noch nicht organisirt. Denken wir uns den Zustand in Korinth als den 29 Christenthums] Xth 36–3 Anspielung vielleicht auf 1 Kor 14,26–33

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ursprünglichen, die Christen kommen zusammen, bald redet einer, bald keiner, bald 20, einer redet gut und die anderen können ihm folgen, die anderen dagegen unverständlich, so ist hier keine Einwirkung recht möglich, weil der Gegensatz nicht organisirt ist. 8/3 32. 268.

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Ohne diese Organisation ist keine praktische Theologie möglich und wiederum ist jene ein Resultat dieser. Wie hängt dies zusammen? Jene ist da aber nicht als für immer bestehend und als vollkommen betrachtet, und durch die Praktische Theologie wird sie bestimmter vollkommener und mehr von allem Fremden befreit. Eben so verhielt es sich ja mit der philosophischen und historischen Theologie. Eine Chronik muß gegeben sein zur Eruierung der Principien, aber erst durch diese entsteht eine wirkliche Geschichte. So ist es auch hier, die Kirche Muß sich in dieser Hinsicht irgendwie bestimmt haben aber ist sie das so geht die Praktische Theologie an diese Organisation selbst heran und formt sie. Diese bestimmte Gestaltung ist die, daß ein Umlauf stattfindet zwischen den Leitern und geleiteten. Jene geben diesen[,] diese empfangen, geben aber jenen den Impuls zur Mittheilung und so ist geben und empfangen auf beiden Seiten, es ist | ein fortlaufender Umlauf. Dadurch daß die Leiter mittheilen gleichen sie den Unterschied aus, diese Ausgleichung ist möglich wenn gleich unendlich entfernt. Wenn sie aber erreicht ist so würde die bis dahin statt findende Förderung aufhören, alle ständen auf einem Punkte und dies müßte so sein wenn das in den Leitenden wirksame Princip ein Endliches Quantum wäre. Das ist es aber nicht, denn das Princip ist Göttlich und es werden sich immer neue Stufen bilden, nur Christus ist das Ende und so ist die Ausgleichung unendlich entfernt und die Förderung unendlich. So muß der Zwek der Kirchenleitung sein, 1) die Ausgleichung zwischen Leitern und Geleiteten und 2) die Hervorrufung neuer Unterschiede durch Höherhebung der Leitenden.

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269. Hier wird die Kirchenleitung getheilt in die 1) leitende Thätigkeit im Cultus 2) leitende Thätigkeit in der Anordnung der Sitte. Diese beiden Punkte haben wir in der historischen Theologie hervorgehoben, es scheint aber ein Element zu fehlen, in dem Cultus 1 Christen] Xten 34 leitende Thätigkeit] im Ms. Verweis auf die gleichlautenden Worte in der darüberliegenden Zeile

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scheint die Lehre zu fehlen, aber die leitende Thätigkeit im Cultus ist gerade vermittels der Lehre. Bei uns tritt die Lehre hervor, die Handlungen treten zurück. Der Zusatz zeigt, daß in dieser Duplicität wieder ein Glied auf das andere sich zurückführen läßt. Wenn wir die kirchliche Gemeinschaft vergleichen mit dem bürgerlichen Zustand, so stände dort für leitende Thätigkeit in der Sitte, Gesetzgebung, denn Sitte ist gemeinschaftliche Handlungsweise und diese schreibt das Gesetz vor, die leitende Thätigkeit der Sitte in der Kirche unterscheidet sich von dem Gesetz nur durch das Fehlen der Sanction oder einer Verordnung die der Anordnung zwischen den Willen der Menschen PKraftS gibt, dies ist im Gesetz Belohnung und Strafe. Unter Wille verstehe ich nur den auf das Gesetz gerichteten Willen nicht den | Willen überhaupt. Dieser ist da. Die Leute die gegen ihren Willen dem Gesetz folgen haben doch Willen nämlich den Belohnung zu erhalten oder Strafe zu meiden. Der Werth des religiösen Lebens besteht nur darin daß alle Handlungen von der Religion ausgehen, äußere Sanktion würde ihr ganzes Wesen aufheben. Wenn christliche Sittenanordnungen kräftig werden so geschieht es nur durch die Kraft der Vorstellungen die in der Sache liegen. Nur indem die Christen einsehen die Anordnung folge aus dem christlichen Princip wird der Wille auf ihre Verfolgung geweckt. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin daß das erste nichts will als die christliche Gesinnung im allgemeinen stärken das zweite dagegen sie zu einem bestimmten Handeln bewegen will. 270.

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Hier entsteht eine andere Eintheilung die sich bezieht auf die beiden Elemente der theologischen Gesinnung, das religiöse Interesse und den wissenschaftlichen Geist. Diese werden bezogen auf die Differenz zwischen den Hervorragenden und der Masse. Jene ragen nur hervor durch einen größeren Antheil an diesen beiden Elementen. Diese werden fast nie in einem und demselben in gleichem Maaße stattfinden. Wo das religiöse Interesse überwiegt in der Thätigkeit, entsteht die klerikalische Thätigkeit, wo in der Wirksamkeit der wissenschaftliche Geist, natürlich vom religiösen Interesse den Impuls empfangend vorherrscht, ist die theologische Thätigkeit da. Klerus ist ein alter Aus25 einem] /-

29 Interesse] Interresse

33 einem] /-

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druk, schon bei den Juden gebräuchlich 1) für den Antheil den jeder selbstständige Jude am Lande hatte 2) für den Antheil des Priesters am Dienst, den sie durch Loos theilten. Dies wurde übergetragen auf die christliche Kirche. Alle Geistlichen hießen κληρος weil sie | den Gemeinedienst unter sich theilten. Später als der Verband zwischen den einzelnen Gemeinden entstand, erhielt die ganze Gemeinschaft der Geistlichen den Namen Clerus. T h eolog e ist auch ein alter Ausdruk, schon der Verfasser der Apocalypse führt ihn. Die Bedeutung kann man nur aus dem Worte selbst nehmen und dies bezeichnet einen der im Nachdenken über Gott und PgöttlichenS Denken begriffen ist, und daraus und der klaren Darstellung davon sein Geschäft macht. 9/3 32. Theologische Wirksamkeit ist die in den theologischen Disciplinen aber um der Gemeinschaft willen. 271. Hier wird ein Neues Theilungsprincip angegeben. Wenn wir auf den allerersten Anfang gehen so ist die erste Differenz die hiezu den Grund legt, wenn das Christenthum unter Menschen von sehr verschiedenen Bildungsstufen sich verbreitet, da wird eine Ausgleichung gefordert und diese verlangt logische Operationen und Kirchenleitung und erzeugt Theologie. Die Theologie fing an als litterarisch gebildete Menschen Christen wurden, dies Geschah erst nachdem viele Gemeinen da waren. Der erste wäre Paulus gewesen, da aber die Geschichte überwiegend hellenisch wurde und nicht jüdisch so kann man den Anfang erst von daher rechnen. Die Verbreitung über viele Gemeinen theilt das Geschäft, indem der eine sich beschäftigt mit der leitenden Thätigkeit einer Gemeine und 2) eine die auf die äußere Verbindung Rücksicht nimmt. Bei uns wird die leitende Thätigkeit in der Verbindung für ein hinzugekommenes für ein Geschäft der zweiten Ordnung [gehalten] 10 PgöttlichenS] oder PgöttlichesS

16 Wenn] daneben am Rand 271

1–4 Möglicherweise orientiert sich Schleiermacher hier an den Angaben des Lexikons von Johann Friedrich Schleusner (Novus thesaurus philologico-criticus, sive Lexicon in LXX et reliquos interpretes Graecos ac scriptores apocryphos Veteris Testamenti, Bd. 1–5, Leipzig 1820–1821), das er in seiner Bibliothek besessen hat. Hier (Bd. 3, S. 329) findet sich u. a. der Hinweis auf Num 32,19 und Dtn 10,9 als Belegstellen für Schleiermachers Angaben. Für den frühchristlichen Sprachgebrauch vgl. etwa 1 Petr 5,3. 8 Gemeint ist wohl die in einigen Handschriften der Offenbarung des Johannes belegte Ergänzung der Überschrift durch den Ausdruck „το θεολγου“, vgl. den Nachweis im Apparat bei Novum Testamentum Graece, ed. Griesbach, 2. Aufl., Bd. 2, S. 579; edd. Nestle/Aland S. 632.

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denn wir erklären die Evangelische Kirche für eine, wegen der Identität des Geistes obgleich wir jede Landeskirche für sich bestehen lassen. Bei der katholischen Kirche ist es dagegen anders. [Der] Zusa t z wird bestätigt durch das Beispiel der römischen Kirche. Rom ist nur eine Stadt, aber ihre Leitung und die des Gesammtverbandes läuft untereinander. 272.

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Es wird vorausgesetzt der Zustand der KirchenTrennung, der Sonderung der christlichen Kirche in mehre in Beziehung auf ihre Leitung getrennter Kirchen. | Da wird gesagt daß nur die Gemeinen eines solchen Verbandes unter sich organisch verbunden sind indem sie zu allen anderen im Gegensatz stehen. Ich will hier eine Betrachtung einschalten. Es ist schon früher gesagt daß keine Trennung als absolut und ewig kann angesehen werden, inde sequitur es muß eine Zeit der Einheit geben. Da kommen wir in ein Dilemma. Entweder diese Einheit geschieht auf eine bewußtlose Weise und dann erscheint es als unrichtig oder es ist gewollt und geht von einer leitenden Thätigkeit aus und so muß es eine Thätigkeit geben die über diese Gränzen hinausgeht. Hiemit ist es ganz richtig. Wenn eine solche Einheit unbewußt geschieht ohne daß man einen Autor und Zweck nachweiset so ist sie verworren. Soll sie das nicht sein so muß vorher eine leitende Thätigkeit dasein die weiter als über die einzelnen Bekenntnisse geht. Es muß dies ausgehen von der theologischen Wirksamkeit. Sie müssen wissen ob und in wiefern der Gegensatz verschwinde und sie müssen dann die Einheit auf eine wissenschaftliche Weise herbeizuführen suchen. Z u sa t z . Es gibt auch andere Einwirkungen von einer Kirche auf die andere als die theologischen. Diese sind durch den litterarischen Verkehr beständig. Es gibt Einflüße von der klerikalischen Thätigkeit aus so z. B. Beförderung der brüderlichen Liebe. Aber diese Einwirkungen haben nicht den Charakter einer leitenden Thätigkeit. 2) Die römische Kirche hat etwas in sich was sie zu dem Ziele einer kirchlichen Universalmonarchie treibt. Aber wir sehen daß es nicht möglich ist. Wenn wir die Unirten Griechen, Armenier etc. betrachten 1–2 denn … Geistes] daneben am Rand PNBS in getrennte

10 getrennter] wohl zu korrigieren

13–14 Vgl. oben zu § 36 (311, 13–17) 33 Vgl. dazu Schleiermachers Ausführungen in der Kirchlichen Geographie und Statistik: „Dort gibt es auch unirte Griechen, die aber als zur russischen Landeskirche gehörig nicht angesehen werden, ebenso wenig zählt man sie zur katholischen Kirche. Wenn man nun dies erwägt und überlegt sich, worin eigentlich diese Union besteht, so ist schwer zu bestimmen, wozu man sie eigentlich rechnen soll. Die Lage der Sache ist eigentlich die: es sind ein Paar Dogmen die in das eigentliche Leben wenig eingreifen, wodurch sie sich der katholischen Kirche nä-

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so kann man nicht sagen daß die Direction von Rom ausgeht. Es ist nur das Aufgehobensein der Trennung. Sie haben ihre KirchenLeitung in sich selber. Eine einzige allgemeine Leitung | könnte nur scheinbar sein oder an einem Mangel an Lebenskraft laboriren. 273. Die getrennten Kirchen unterscheiden sich durch eine andere Fassung des Gegensatzes. Man denkt wenn von einer Differenz die Rede ist gewöhnlich an die dogmatische Differenz. Was ich denke ist dieses. Man könnte sich denken daß zwischen katholischer und Evangelischer Kirche alle theoretischen Lehrsätze gleich seien, es wäre doch eine Einheit nicht möglich, so lange der Begriff der priesterlichen Würde im Verhältniß zu den Laien so in beiden Kirchen bestünde wie er besteht, dies wäre selbst der Fall wenn der Papst nicht wäre, dieser eine Punkt würde sie trennen der Gegensatz in der Organisation ist durchaus ein anderer, dogmatische Differenzen allein reichen nicht hin eine Trennung der Gemeinschaft zu bilden wenn nicht eine Differenz in der Gestaltung des Gegensatzes hinzu kommt. So in der Lutherischen und Reformierten Kirche. In dieser ging man aus von der gänzlichen Gleichheit aller Glieder des Lehrstandes. Sowie eine Menge von Gemeinen ist muß eine Leitung der Verbindung da sein und da trat eine temporäre Funktion eines Ausschußes ein. Wenn wir auf den ersten bestimmten Trennungspunkt achten (Marburger Colloquium) so kam zu Bewußtsein die Differenz in der Auffassung des reformatorischen Princips und es erfolgte ein Gegenseitiges Abstoßen. Mit der Zeit hat sich das Princip in der Gestaltung des Gegensatzes geändert, auf der einen Seite hat man sich der Gleichheit genähert, auf der anderen zugegeben wenn nur das Princip der Gleichheit da wäre so bräuchte sie nicht immer äußerlich hervorzutreten, wenn man nur eine höhere und niedere Geistlichkeit schiede. Wenn dieses Princip in der Gestaltung des Gegensatzes so schroff geblieben wäre wie es im | 14 der] der der

15–17 dogmatische … kommt] daneben am Rand PNBS

hern. Der Gottesdienst, die Gottesdienstliche Sprache die Verhältnisse der Geistlichen bleiben dieselben; die Anerkennung des Römischen Primats ist noch wesentlich; aber auch ohne bedeutenden Einfluß. Was bezwekt die katholische Kirche eigentlich mit dem Allen? Die Anerkennung des Römischen Primats ist am Ende doch auch nur ein leeres Wort.“ (KGA II/16, S. 242,33–243,12) 21–24 Anspielung auf die Ausbildung des konfessionellen Gegensatzes zwischen Lutheranern und Reformierten in der Folge des Marburger Religionsgespräches im Jahre 1529, das im Streit um die Deutung des Abendmahls zu keiner Einigung geführt hatte; vgl. dazu auch Schleiermachers Darstellung in seiner Kirchengeschichtsvorlesung KGA II/6, S. 636,25–637,4.

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Anfang war so hätte die dogmatische Einigung doch nicht zur Einheit geführt. Jede Trennung setzt also außer dogmatischen Differenzen eine differente Gestaltung des Gegensatzes voraus und wo diese statt finden, ist eine andere KirchenLeitung. 12/3 32. Durch diese Beschränkung auf eine Kirche bekommt die Praktische Theologie einen Charakter der sie von der PuebrigenS Theologie ganz scheidet. Von der Philosophischen Theologie war gesagt worden, daß sie in Verbindung stünde mit der Art zu philosophiren aber daraus folgt durchaus nicht, daß es so viele Philosophische Theologien geben müsse als es Philosopheme gibt. Sobald in den Gränzen geblieben wird daß die Philosophie nicht das Christenthum oder [die] Religion ausschließt, und in dieser Gränze muß man bleiben, wird die philosophische Theologie dieselbe sein. Noch mehr ist das bei der historischen [der Fall]. Wir haben dabei freilich öfter aufgestellt, dies ist nur ein E van g e l i s c h e r Satz und in den anderen Kirchen ist es anders, aber es wurde außer bei der Dogmatik nicht von der Disciplin behauptet, nur von der Dogmatik haben wir gesagt daß jede KirchenParthei eine andere Dogmatik haben müsse. Aber hier gehen wir noch weiter, nicht einmal für die ganze Evangelische Kirche können wir diese praktische Theologie aufstellen, sondern nur für die deutsche Evangelische Kirche, und auch hier sind so viele Differenzen daß in der Theorie für sie Raum gelassen werden muß. Es fragt sich warum man wenn man die Praktische Theologie Allgemein hällt, nicht dieselbe auf die ganze Evangelische Kirche ausdehnt. Weil sie zu allgemein werden und sich zu sehr von der Praxis und Ausübung entfernen, die Sicherheit in der Ausübung der Regel vermindern würde. Die Praktische Theologie kann nur solche Differenzen in sich fassen deren allgemeine Zusammenfassung die Sicherheit der Ausübung nicht zu sehr schwächt. | Wenn wir an das Evangelische Christenthum in Amerika denken gleichviel ob wir die Englische Hohe Kirche zur Evangelischen rechnen oder nicht, so steht dort die Kirche in gar keinem Verhältniß zum Staat, er hat zu ihr kein Verhältniß als zu jeder anderen moralischen Person, einer Aktien oder Handlungsgesellschaft. In der deutschen Evangelischen Kirche besteht ein Verhältniß zum Staat wenn gleich verschieden, wir haben hier einen Ort der jenen fehlt, und außerdem ist dieser Ort nicht zu isoliren sondern wirkt auf das Ganze ein. In England hat der Staat nur ein Reales Verhältniß zur hohen Kirche, und alle Anderen sind ihm Privatgesellschaften. In Daenemark und Schweden besteht ein Verhältniß des Staates und der Kirche, aber die Gemeinschaft zwischen ihnen und uns ist zu sehr abgerißen und unbedeutend als daß wir in der Praktischen Theologie auf sie Rücksicht nehmen könnten.

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Es wird von den früher aufgestellten Theilungsprincipien ausgegangen um die Praktische Theologie zu organisiren. Man könnte sagen daß beide Benennungen unangemessen wären. In dem Ausdruck Kirchendienst werde das Verhältniß zwischen Leitern und Geleiteten verwischt. Dienen bezeichnet ein untergeordnetes Verhältniß und dies paßt nicht zu Leitern in Beziehung auf Geleitete. Kirchen Reg im ent kann man sagen stellt den Unterschied zu streng und scharf dar, erinnnere zu sehr an den Gegensatz zwischen Obrigkeit und Unterthan und während der erste | Ausdruk den Gegensatz zwischen Laien und Klerus verwische so spanne der zweite ihn überraschend stark an. Was den ersten Ausdruk betrifft so haben wir den Ausdruk der Schrift für uns, denn Christus selbst sagt wer der größte sein will diene den übrigen. Man kann dagegen nicht sagen daß dieser Ausdruk auch auf den anderen Theil angewendet werden müsse. Er kann angewendet werden aber wo ein Verband von mehrern Gemeinen statt findet ist die eine Gemeine nicht mehr unabhängig, sie kann ihre Organisation nur so einrichten daß sie ihre Stelle in dem PorganischenS Verbande erhält, und nur um diese Unterordnung des Lokalen unter das Centrale zu bezeichnen habe ich dieses KirchenRegiment genannt. Dieses ist auch Kirchendienst aber um das lenkende und leitende zu bestimmen habe ich diesen Namen gewählt. Er bezeichnet nur das Verhältniß beider Theile gegen einander. An m e r ku n g. In England haben die Independenten keinen Zusammenhang zwischen den einzelnen Gemeinen. Jede Gemeine besteht abgesehen von einander und regiert sich selbst. Sie beschicken sich freilich durch Abgeordnete, aber diese dürfen durchaus nichts bestimmen sondern sie tauschen nur Gedanken und Einsichten aus. Hier gibt es gar kein KirchenRegiment. Daß diese Eintheilung eine umfassende ist zeigt der

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275. Paragraph. Die uebrigen Theilungsgründe müssten diese Theilung schneiden, entweder so daß sie durch beide Theile hindurchgehen oder nur durch einen. Man könnte an dem Ausschließenden der Gemeinschaft zweifeln, es fragt sich ob die Relation zu Staat und Wissenschaft hinein gehört. 6 dies] dies nicht

18 PorganischenS] oder PorganisirtenS

13–14 Vgl. Mt 23,11

20 Centrale] Centralen

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Aber es wird | vorausgesetzt daß die Anordnung dieser Verhältniße soweit sie von der Kirche ausgeht in das KirchenRegiment fällt. Bei den Independenten kann sie nur in den Kirchendienst fallen wenn dort einst ein Verhältniß zum Staat entstehen sollte, weil dort die einzelne Gemeine souverän ist. Daran daß hier die anderen Theilungsgründe nicht behandelt werden liegt die Voraussetzung daß sie nicht beiden Haupttheilen gemein sind. Denn wären sie gemeinschaftlich so müßten sie hier behandelt werden, da wenn man erst bei den einzelnen Theilen ist, auf das Gemeinschaftliche nicht mehr gesehen werden kann, z. B. 270, die theologische Wirksamkeit fällt in das KirchenRegiment, daher fällt dieser Theilungsgrund nur in den einen Haupttheil.

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Man mag anfangen wo man will, so muß man auf einander Beziehung nehmen und daher ist es gleichgültig mit welchem Theile man anfängt. 13/3 32.

Erster Abschnitt Die Grundsätze des Kirchendienstes 277.

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Gemeine ist ein Inbegriff christlicher Familien die in einem Raume leben und zu gemeinsamer Frömmigkeit verbunden sind. Hausgemeine kann man nicht sagen denn das leitende Element ist hier ebenso gut bürgerlich als kirchlich. Der Hausvater tritt auf eine bestimmte Weise als Organ der Kirche auf. In der Familie läßt sich das religiöse, das eigentlich Moralische, das was sich auf die Entwicklung der Intelligenten Kräfte bezieht | nicht scheiden, dies ist aber auch der Charakter des rein Elementarischen; sowie dies auseinander tritt verliert die Familie ihren eigentlichen Charakter. R au m etc. i. e. sie müssen im Raume zusammensein können, und die Ausübung der Frömmigkeit wollen. Hier ist ein Maaß gegeben aber dies ist sehr verschieden, es 21 die] in

24 tritt] tritt unter

29 KD² § 277 (KGA I/6, S. 424,11–13)

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ist ein anderes Maaß des Raumes in dem sich mehre unterhalten können, und ein anderes, in dem einer sich vielen verständlich machen kann. 278.

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Diesen Gegensatz zwischen Produktivität und Receptivität finden wir schon in der Hausgemeine, da ist er der zwischen Erwachsenen und Unerwachsenen. Er ist auch in der Gemeine, aber nicht mehr dieser, denn die Unmündigen sind nur ein Anfang, die eigentliche Gemeine besteht aus Erwachsenen. Hier ist also der Gegensatz rein religiös. Die PgrößteS Produktivität ist in denen die eine große Kraft haben, die Receptivität in denen die den Willen haben ihre Kraft zu stärken. Es muß nun aber bestimmt sein wer lehren und mittheilen soll. Denken wir uns das Verschwundensein der Ungleichheit so daß man sagen könnte es gibt in einem solchen Complexus von Familien in den Erwachsenen keinen bestimmten Gegensatz zwischen Produktivität und Receptivität sondern nur einen vorübergehenden wechselnden in den Einzelnen selbst, es ist der gleiche durchaus heute aufgeregter als sonst etc. Hört der Kirchendienst auf? Nein! denn auch der Gegensatz im Menschen soll aufgehoben werden, und es werden die welche gerade in der Aufregung sind auf die anderen wirken. Da bleibt nichts anderes übrig als daß | der Gegensatz jedesmal fixirt wird so daß bei dem jedesmaligen Zusammentreten der Gemeine es sich entscheidet wer in dem Zustande der überwiegenden Wirksamkeit sei. Da ist der Gegensatz der Personen ganz verschwunden und auf das Minimum des Momentes rückgeführt. Die gemeinsame Frömmigkeit kann nur gefaßt werden als gemeinsames[,] ein Leben daß PreinS die Wirksamkeit auf alle ausgeht. Dazu bedarf es eines Uebereinkommens, und dafür werden Momente auserlesen. Dies ist der Standpunkt der Evangelischen Kirche, bei den Katholiken gibt es solche Momente nicht, sondern das ganze Leben enthält den Gegensatz, der Priester hat einen persönlichen character indelebilis und ist im ganzen Leben im Gegensatz mit den Laien. Bei der Evangelischen Kirche ist dies nicht so, das Lehramt wird von der Gemeine übertragen, und das Fixiren des Gegensatzes bezieht sich auf das gemeinsame Leben. Bei der Absoluten Gleichheit wäre das Fixiren des Gegensatzes nur willkührlich. Aber der Gegensatz darf nicht so weit gehen daß einer für ganz unempfänglich gehalten wird sonst kann er nicht Christ sein auf dieser Seite des Gegensatzes findet jeder seinen Platz. 3 kann] können 38 Christ] X

10 PgrößteS] oder PgroßeS

32 indelebilis] indelebile

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Der Ausdruk d e r N at u r de r Sac h e na ch etc. ist von dem Bewußtsein der Evangelischen Kirche Paus gesagtS. Diese ist in Deutschland ein organisches Ganzes. Wenn hier jede Gemeinschaft ihre eigene und unabhängige Bestimmung des Gegensatzes hätte so könnte es kommen daß jede andere Principien aufstellte über das was von einem Theologen zu fordern wäre und so könnte ein Organischer Verband nicht be|stehen. Es muß hier eine Gleichförmigkeit sein, und diese kann nur von der Centralleitung bestimmt, besonnen und bewußt sein.

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269 war die Thätigkeit getheilt worden in die Thätigkeit im Cultus und in der Sitte. Das zweite wird hier wieder getheilt. Das Theologische war dort ausgelassen weil die Theilung zwischen Kirchendienst und KirchenRegiment noch nicht feststand und dieses auf beide passen sollte. Die Thätigkeit im Kirchendienst zerfällt in die auferbauende und Regierende, welche wieder zerfällt a) in den Einfluß auf das Ganze oder die Sitte b) auf das Leben des Einzelnen. Es fragt sich ob der Einfluß auf das Leben des Einzelnen wirklich eine Aufgabe des Kirchendienstes sei. In der Evangelischen Kirche hat man dies in der Neuern Zeit oft verneint als dem Geiste der Evangelischen Kirche zuwider wenn man dem Kirchendienst Einfluß auf das Leben der einzelnen statuirt. Wenn man sich ein gemeinsames Leben als Organismus denkt, so ist der Hauptpunkt die Organisation und die einzelnen. Die Aufgabe für das religiöse Leben ist die daß das religiöse Princip in allen zur gehörigen Kraft komme so ist ja der Einzelne Gegenstand der Ausübung, soll dann nun der Einzelne so verschwinden daß es keinen Einfluß auf ihn gibt? Wir wollen uns den Cultus vollkommen und ganz einzeln erregt denken so können alle gefördert werden in ihrem religiösen Leben durch diese Circulation. Ist die Empfänglichkeit gering und alle gleich in der Produktivität so ist das nicht der Fall, und der Cultus wird nicht statt finden, sind alle gleich in der Empfänglichkeit und keine Produktivität da so ist auch keiner möglich. Der Cultus findet also nur statt unter der Bedingung der Ungleichheit. Diese ist unter uns da | und keiner kann behaupten daß eine specielle Einwirkung auf die einzelnen unnöthig ist. 2 Paus gesagtS] oder PausgesagtS 7 be|stehen] zusätzlich stehen als Kustos am Fuß von S. 228 23 denkt] denken 27 gibt?] gibt. 30 und … Produktivität] am Rand 1 KD² § 278 Erl. (KGA I/6, S. 424,28)

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Die Eintheilung beruht auf dem Gegensatz zwischen der Gemeine an sich (christliches Leben) und der Gemeine zur gemeinsamen Thätigkeit versammelt (Cultus). In einem anderen Zustand kann die Gemeine nicht sein. r e gi e r e n d e i. e. eine solche welche das Gesammtleben der Gemeine zu einem immer höhern Ausdruk des religiösen Princips erheben will. Dies geschieht indem man auf die ganze Gemeine wirkt, i. e. auf die Sitte (gemeinsame Art zu handeln und 2) gemeinsamer Charakter der Billigung und Mißbilligung). Wenn diese gemeinsame Handlungsweise sich bestimmen läßt durch die ausgezeichneten so wird das Leben immer christlicher. 2) kann unter der Voraussetzung einer bedeutenden Ungleichheit auf die Einzelnen als solche gewirkt werden. 14/3 32.

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Diese Ausdrüke gehen ganz darauf zurück was nach meiner Theorie das ursprüngliche der christlichen Frömmigkeit ist. Wenn hier gesagt wird, das fromme Selbstbewußtsein müßte Gedanke g ew orden sein so liegt darin daß der Gedanke erst das zweite ist. Das ursprüngliche Selbstbewußtsein ist nicht Gedanke. Was ursprünglich Gedanke ist ist Bewußtsein von Etwas, von einem andern. Das fromme Selbstbewußtsein ist das Bewußtsein von Uns als begriffen in einer Relation zu Gott. Dies wird aber Gedanke so wie das sinnliche SelbstBewußtsein Gedanke wird wenn man den Moment fixirt. So wie wir sinnlich adficirt werden, so ist dies Empfindung und nicht Gedanke. Dieser wird es wenn die Empfindung fixirt wird. Es liegt in diesem allen nicht daß ich das primitive Selbstbewußtsein und den | Gedanken trennen will, sondern ich will nur das primitive von dem secundären unterscheiden. Ue b e r w i e ge n d dies setzt voraus daß es noch ein anderes gibt worauf die Erbauende Wirksamkeit beruht, so wie es dies gibt so gibt es verschiedene Verhältnisse beider Elemente. Von dem Christenthum überhaupt gilt der Satz vermöge seiner besonderen Natur als GlaubensWeise und von der Evangelischen im Gegensatz gegen Katholiken und Griechen, denn in diesen beiden ist dieses Element das zurücktretende und das symbolische das erste. Wenn die Quäker zusammenkommen und es redet keiner so haben sie doch sich erbaut, wenn dies nicht eine Einbildung ist worin liegt dies? in dem Bewußtsein des Zusammenseins und Zusammengehörens. Nun werden wir sagen 22 Gedanke] gedanke

36 dies?] dies,

4 KD² § 279 (KGA I/6, S. 425,3f)

28 KD2 § 280 (KGA I/6, S. 425,11.14)

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müssen daß wir dies ebenfalls denken müssen bei uns. Wenn ein Geistlicher zu dem einzelnen Christen ginge so wäre die Wirkung nicht dieselbe. Das Zusammensein ist ein wirkendes Element und regt gegenseitig auf, dies ist ein Erfahrungssatz, und es ist dies nicht bloß eine Absurdität der Quäker, nur thun sie Unrecht, wenn sie es isoliren. Auch die Symbolischen Handlungen haben ein erbauendes Element, sonst wären sie leer und nicht entstanden. Aber sie treten bei uns zurück. 2) Was ist der eigentliche Sinn des Wortes Kunst? Wenn wir ganz auf das allgemeine zurückgehen, so denken wir ein bewußtes Zustandebringen mit einer Sicherheit, begleitet von dem Bewußtsein dieser Sicherheit. Es gibt viel Zustandebringen ohne zu wissen wie, aber dies ist keine Kunst. Gehen ist keine Kunst, nicht deshalb weil es sich von selbst versteht, sondern weil | wir nicht wissen wie wir es machen. Auf dem Seile gehen ist eine Kunst (im niedern Sinn) denn der gehende muß in jedem Augenblick ein sicheres Bewußtsein haben von der Art wie sein Schwerpunkt steht. Das fromme Selbstbewußtsein ist keine Kunst, wir wissen nicht wie es kommt. Denken ist nicht ohne Reden, dies ist auch keine Kunst, aber es wird sehr bald Kunst und dies gilt schon bei jeder zusammenhängenden Folge von Gedanken. Wenn Gedanken in mir selbst unwillkührlich entstehen so ist dies keine Kunst, aber sobald ich einen Gegenstand fixire, so muß eine Ordnung in den Gedanken kommen, ich muß den Gegenstand von verschiedenen Seiten betrachten – und ebenso bei der Mittheilung. Dies ist noch sehr allgemein, es kann einer auf diesem Uebergange von dem Bewußtlosen zum Bewußtsein stehen ohne sich einer Methode bewußt zu sein. Werden die Aufgaben schwieriger und achtet man auf die verschiedenen Arten des Gelingens so entsteht die Methode und dies ist der letzte Fortschritt des Bewußtseins. Zu s a t z . D i e T h e o r i e m u ß etc. 1) Das Maaß von Kunst hängt ab von dem was erreicht werden soll, wenn es sehr complicirt ist so wird ein größeres Maaß erfordert werden. G efordert zug el a ss en. Diese Duplicität beruht auf der Voraussetzung daß es möglich und wirklich ist, daß man einen größeren Grad von Kunst anwendet als nothwendig ist. Uns Geistlichen widerfährt die Ehre daß die Schauspieler uns als Kameraden ansehen, weil sie dieselbe Kunst haben. Dies ist in einem gewissen Grade richtig, beide wirken durch Rede 1 ebenfalls] ebenfalls dies 3–4 Das … Erfahrungssatz] daneben am Rand PNBS 9 K u n s t?] Ku n s t 13 ist] ist eine 30 KD2 § 280 Erl. (KGA I/6, S. 425,18–20) S. 425,19)

32 KD2 § 280 Erl. (KGA I/6,

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und Mimik. Aber das Maaß ist ein verschiedenes und | weil wir uns bewußt sind daß dies Maaß wesentlich mit unserem Zweck zusammenhängt so depreciren wir gegen die Ehre. Aber es kommt vor daß Geistliche das mimische bedeutend hervorheben und so sehr stören indem ihre Deklamation alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Obgleich man sagen kann dies wird bei keinem der Fall sein der den richtigen Sinn für sein Amt hat, so ist dies wahr, aber die Theorie muß doch darauf Rücksicht nehmen.

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281.

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betrachtet das Materiale des Cultus in Beziehung auf das hervorgehobene Element, des Gedankens. Da wird gesagt daß nur solche Gedanken vorkommen können die zugleich einen Ort in der kirchlichen Lehre haben. Der Z u sat z bezieht sich hierauf und beschränkt es, indem er sagt es liege darin nicht daß andere Vorstellungen gar nicht vorkommen könnten sondern daß sie nur vorkommen können als Erläuterung des eigentlichen Materials, aber nicht als Material selbst. So kann man Erläuterungen aus einem anderen Gebiet nehmen, wie jeder bildliche Ausdruck aus einem anderen Gebiet ist, von dem es daher gelten würde, daß die Vorstellung keinen Ort in der kirchlichen Lehre hat, aber sie ist auch nicht eigentliches Material. Diese Erweiterung muß man frei lassen. Ort haben in der kirchlichen Lehre? Durch den Satz im allgemeinen werden viele Mißbräuche beseitigt z. B. medicinische und oekonomische Predigt. Aber nun entsteht eine andere Frage: Sind alle religiösen Vorstellungen oder christlich religiöse Vorstellungen solche die einen Ort haben in der kirchlichen Lehre? Es gibt viele religiöse Vorstellungen die nicht in die kirchliche Lehre kommen | weil sie zu individuell sind, und die eben deshalb aus dem Cultus bleiben weil sie nicht von allen verstanden werden. In diesen gehört nur was im allgemeinen Bewußtsein ist. 2) wird verlangt richtige Auswahl des Materials und der Form. a) feinere dogmatische Vorstellungen und Unterscheidungen und alle solche, welche auf Behandlungsweisen des Gegenstandes sich beziehen und nicht unmittelbarer Ausdruk sind, müssen entfernt bleiben b) in Beziehung auf die Form und Sprache muß entschieden werden (in Beziehung auf die Art darzustellen, und 2) auf die sprachlichen Elementen der Darstellungen) ob man wissenschaftlich entwickeln 13 haben] hat

26 Lehre?] Lehre.

22 KD2 § 281 (KGA I/6, S. 425,22f)

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müsse oder so sich herablassen daß das Volk folgen könne und 2) ob man die rednerische oder die Umgangssprache nehmen müsse. 282.

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Wir gehen hievon aus daß unser Cultus aus Poetischen und prosaischen Elementen besteht. Nur die Quäker etc. schließen den KirchenGesang aus, in der deutschen Evangelischen Kirche findet er sich immer, da kann man sagen von KirchenGesang kann hier nicht die Rede sein, denn die Poesie wird nicht erst gemacht sondern vom KirchenRegiment den einzelnen Gemeinden gegeben. Dies ist richtig, aber für das Auswählen muß es auch eine Theorie geben. So wird von der Theorie verlangt Entscheidung 1) über den Styl a) des religiös Prosaischen b) der religiösen poetischen Diktion 2) über das Verhältniß der Prosa und Poesie. St yl ist in den redenden Künsten die Behandlung der Sprache und in den bildenden Künsten die Behandlung dessen was dort die Sprache vertritt, die Licht und Farbenverhältnisse etc. 15/3. 32. 283.

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Wenn der öffentliche Gottesdienst ein gemeinschaftlicher PLebensaktS ist, so ist | es natürlich daß sich, wie immer in solchen Fällen so auch hier, feste Formeln bilden. Es kommt aber sehr oft daß die Verhältnisse sich aendern die Formeln aber bleiben. Es fragt sich daher wie in solchen Fällen zu entscheiden ist. Wo ein KirchenRegiment ist da pflegt es überall einen Einfluß hierauf zu haben. Daher gehört die Frage für unsere Umstände eigentlich nicht hieher. Aber da der Einfluß des KirchenRegiments in den verschiedenen Gegenden nicht immer derselbe ist so ist es besser die Sache hier zu betrachten. Obgleich hier nur die Ueberschriften zu betrachten sind so ist doch in dem Paragraphen dies angegeben daß jede Veränderung oder Beibehaltung des Bestehenden rein nur aus dem Interesse des Cultus zu entscheiden sei. 284.

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Daß die jetzt bestehende Form der religiösen Rede eine zufällige sei ist polemisch gesagt gegen die gewöhnliche Art der homiletischen Lehrbücher von der Predigt als einer gegebenen Form auszugehen. Unter der Predigt verstehen wir die Form, daß eine Schriftstelle zu Grunde gelegt, daraus ein Thema abgeleitet und dieses in seinen verschiedenen Theilen durchgeführt wird. Diese Form ist sehr jung. Die

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frühere Homilie lag einem exegetischen Commentar viel näher. Was Rede war hatte wohl ein Thema aber ohne sich auf eine Schriftstelle zu gründen und bestimmte Theile zu scheiden. Da man unsere Form nicht aus der Idee ableiten kann so ist sie ein zufälliges. Viele Gemeinen gibt es die die Fertigkeit nicht haben unsere Predigt aufzufassen. Für diese ist zwekmäßiger die Form fallen zu lassen. Darum ist es falsch | die Homiletik zu beschränken auf die Theorie der Predigt, denn daraus folgt daß jeder der der Kunst gemäß wirken will, nur diese Form festhalten dürfe. Es muß vielmehr untersucht werden, welche verschiedene Formen sich mit der Idee vertragen, und [wie] dann dieses für verschiedene Fälle begräntzt wird.

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286. Hier ist die Lehre von dem L i t u r gi s c hen. Der Ausdruk Liturgie ist theokratischen Ursprungs, aus der Einheit des Politischen und Kirchlichen. Er bezeichnet jeden öffentlichen Dienst den der Einzelne dem Staat durch Thun leistete. Ausrüstung eines Schiffs, Chorführung ist Liturgie. So ist der Dienst, welchen einer durch Thun der religiösen Gemeinschaft leistet eine Liturgie. Das Opfer war eine Liturgie. Der das Opfer brachte war aber nicht der λιτουργος sondern der opfernde Priester. Das ging in die christliche Kirche über. So hieß in der Griechischen Kirche besonders das Abendmahl Liturgie. Eigentlich ist auch die Homilie eine Liturgie, doch hat man den letztern Namen beschränkt. Diese liturgischen Elemente können gut und schlecht sein, es muß daher eine Theorie darüber geben. Wenn aber die allgemeine Verhältnisse der Kirche betreffenden Umstände PEintretenS so gehört die Sache in das KirchenRegiment, in Beziehung auf die Ausübung aber hieher. 16/3 32.

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288. 289.

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Hier ist die Rede von dem Äußerlichen und zwar 288 von dem Äußeren der Rede, 289 von dem Äußern des Ortes. Daß es in dem Mimischen ein zu viel gibt und etwas das der geistlichen Rede nicht angemessen ist, vielmehr die Zuhörer stört | ist klar. 289. Hier ist die Rede von der Lokalität der Versammlungen und dies ist die Theorie über die Beschaffenheit des Raumes und der Gebäude. Es ist hier zweifelhaft ob dies in das KirchenRegiment gehört oder hieher. Das Gebäude ist rein Lokal und wirkt nur auf die 12 Eine eigene Erörterung von § 285 fehlt. fehlt.

28 Eine eigene Erörterung von § 287

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einzelne Gemeine, daher gehört diese Theorie hieher. In der christlichen Kirche ist hier eine große Differenz und auch in der Evangelischen Kirche ist die Praxis und Theorie eine verschiedene. Die Einen haben alles was an und für sich als Kunstwerk gelten will, verbannt, andere dagegen es zugelassen. Dieses zusammengenommen sind die Aufgaben für die Theorie des Cultus. In der gewöhnlichen Behandlung der Praktischen Theologie finden wir hier beide Disciplinen, unter die alles gebracht werden mußte, i. e. Homiletik und Liturgik. Es ist aber klar, daß diese beiden nicht die ganzen Aufgaben umfassen. Was daher hier gesagt ist geht gegen jene Behandlung. Was gewöhnlich unter Homiletik verstanden wird ist die Theorie der religiösen Rede. Die Behandlung kann sehr verschieden sein. Die Liturgik im gewöhnlichen Sinne hat es zu thun mit allem, was in dem Cultus vorgeschriebene Formel ist. Hier kommen die Formulare für Taufe, Abendmahl, Ehe, Ordination, Begräbniß, und eine Theorie für alle diese aufzustellen ist die Sache der Liturgik. Wenn man beide Theile betrachtet so ist manches gemeinschaftlich. Doch liegt außerdem noch in der ganzen Aufgabe vieles, das weder in der Einen noch in der anderen vorkommt. Da scheint es das beste zu sein diese Gegenstände auf eine andere Weise zu behandeln. Alles was hier aufgestellt ist, die Theorie über das Materiale | des Cultusdienstes, die religiöse Vorstellung und über die Sprache ist in Homiletik und Liturgik eins. Es gibt zwar noch besonderes aber dies ist nur Anwendung des Allgemeinen auf das Einzelne, und wenn man mit dieser Anwendung gleich anfängt so bleibt das allgemeine nicht erklärt. Wenn man ferner fragt, gibt es für das Gebet des Liturgen eine andere Theorie als für das Gebet des Homileten, so muß man ehe man über das Einzelne Redet, von dem Gebet im Allgemeinen sprechen, hiefür ist aber bei der Trennung beider Disciplinen kein Platz, daher muß ein anderer Weg eingeschlagen werden: Erst die ganze Theorie des Cultus im Allgemeinen und dann seinen einzelnen Theile nach. Es muß erst eine allgemeine Kunstlehre gegeben werden und dann die Gegenstände so zerfällt werden wie ich es gethan habe. 288 und 89 enthällt auch etwas der Homiletik und Liturgik gemeinschaftliches, wo auch wiederum ein verschiedenes da ist, denn die Mimik in der Predigt kann weiter gehen als in der Liturgik. 290. Hier kommen wir zurück auf Paragraph 279. und aus der Erbauenden Thätigkeit im Cultus in die regierende Thätigkeit als Anordnung 33 habe] haben

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der Sitte und Einfluß auf das Leben des einzelnen. Unter welchen Bedingungen gibt es eine leitende Thätigkeit auf einzelne? Die Erbauende Thätigkeit wirkt auch auf einzelne. Aber bei einer solchen auf mehrere gerichteten Thätigkeit werden sie als gleich gesetzt und es ist hier gerade die Aufgabe zu finden den Punkt in dem sie gleich sind. Ein anderer | Einfluß beruht auf dem Unterschied. Für diese Thätigkeit brauchen wir den Ausdruk Seelsorge, aber im weitern Sinne genommen als sonst, doch ist er dem ganzen Fache angemessen.

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291. Hier wird die K at e c h e t i k mit unter das Gebiet der Seelsorge gezogen und zwar einer Seelsorge in Beziehung auf die Unmündigen. Man könnte sagen die Unmündigen gehören noch gar nicht zur Gemeine und die Beschäftigung mit ihnen gehört nicht zum Kirchendienst. Wollen die Eltern sie in die Gemeine aufnehmen so müssen sie sie selbst unterrichten. Aber sie sind durch die Taufe in die Kirche aufgenommen worden und es gibt dann auch für die Kirche eine Verpflichtung der häuslichen Erziehung zu Hülfe zu kommen und so ist es eine der Evangelischen Kirche wesentlich einwohnende Funktion, der Familie zu Hülfe zu kommen in Beziehung auf die religiöse Ausbildung behufs der Anbildung der Kinder für die Gemeine. Katechese ist ein sehr alter Ausdruk und es liegt darin der Begriff eines gemeinsamen Unterrichts der der Jugend gegeben ist. Wir verbinden damit schon den Begriff der dialogischen Form aber dies liegt nicht im Begriff und ist daher eine zufällige Form. Es ist nun noch zu reden von der Ungleichheit die auf eine andere Weise entsteht als durch die natürliche Weise des Alters. 19/3.32

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Es ist offenbar daß das was der Paragraph verlangt das allererste ist sonst kann der Erfolg der Aufgabe nicht entsprechen. Nun fragt sich was kann diese Einigung hervorbringen. Wenn | der Geistliche den gehörigen Einfluß auf die Gemeine hat so kann er die Eltern bewegen zur rechten Zeit die Jugend ihm anzuvertrauen, und sie nicht eher wegzunehmen als bis er das Geschäft für beendigt erklärt. Wenn aber der Geistliche und die Gemeine sich über Ende und Anfang des Geschäfts nicht einigen können so fällt dies unter das KirchenRegiment, indessen ist dies immer nicht der richtige Zustand. Die einzelnen Aufgaben können sich nur ergeben durch die richtige Vorstellung über 21 es] ist

26 19/3.32] am Rand

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das Ende. Die ganze Behandlung ist von zwei Punkten ausgegangen. Das Vorausgesetzte ist die Ungleichheit der Mündigen und Unmündigen und 2) außer dieser Ungleichheit gibt es noch eine andere; das ist die Beschaffenheit der Mündigen selbst im Vergleich mit der Idee des Christen. Wenn man sagt es ist die Aufgabe die Beschaffenheit des Christen zu der Idee des Christen zu erheben, so ist dies nicht möglich wenn jede Generation immer wieder auf demselben Punkt eintritt, auf dem die vorige stand. Soll eine solche Annäherung bewirkt werden, so ist es nöthig daß jede folgende Generation auf einem höhern Punkt stehe als die vorige. 293.

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Hier ist von dem ersten Theile der Aufgabe die Rede, die Unmündigen dahin zu bringen daß sie mit den Mündigen am Gottesdienst mit Nutzen theilnehmen können. Sie müssen empfänglich werden dafür daß ihr religiöses Bewußtsein durch die Mittheilung in der Rede kann er-| griffen werden, hieher gehört der theoretische Unterricht, dann aber müssen sie auch gewiß gemacht werden ein christliches Leben zu führen.

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Hier ist von der anderen Seite die Rede. Hier scheint ein Sprung zu sein indem die nächste Aufgabe nicht aufgestellt ist sondern nur eine die weiter hin liegt. Das schwierige bei dieser Aufgabe ist das Verhältniß das eintritt zwischen der Jugend und der Gemeine. Es kommt hier zum Conflikt. Selbst wenn die Gemeine die Jugend aufgenommen hat, so bleibt doch diese der ältern Generation untergeordnet, und dies muß so bleiben, wenn sie aber weiter gebildet ist als die Aeltere Generation so entsteht ein Conflikt des Intelligenten Verhältniß mit dem Natürlichen. Dieser Conflikt muß durch ein richtiges Verfahren vermieden werden. Diese Aufgabe ist schwierig aber allgemein in der ganzen Paedagogik. Alle Jugenderziehung hat den Zwek die jedesmalige Generation weiter zu führen als die frühere. Es fragt sich soll man dies lassen, damit nicht durch das gesteigerte Selbstbewußtsein der jüngern Generation das natürliche Verhältniß aufgehoben wird, oder soll man dies riskiren. Das Katechetische Verfahren ist nur ein Theil der leitenden Thätigkeit im Allgemeinen und so kann das hier riskirte durch die leitende Thätigkeit geregelt werden. Bei der Kindererziehung im Allgemeinen kommt die Leitung nach der | Auferziehung in die Hände des Staates und hier ist das Verhältniß weit schwieriger. Ist

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diese Schwierigkeit in der Paedagogik gelöst so kann die Anwendung auf die Katechetik keine Schwierigkeit machen. 295.

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Es war früher immer die Rede von dem rel ig iösen , da aber die Regel aufgestellt war daß die praktische Disciplin nur für die Evangelische christliche Kirche aufgestellt werden könne so war das re lig iöse so zu beschränken. Nun hat sich PuebrigensS die Evangelische Kirche sehr verschieden und individuell gebildet. Es kann sein daß die Individuelle Richtung der Gemeine und des Geistlichen eine verschiedene ist und da gibt es große Schwierigkeiten. Eine Gleichheit zwischen Geistlichen und Gemeine ist nicht vorauszusetzen und das ist sehr gut. Denken wir eine Gemeine stehend im Extrem einer Richtung und ihre Geistlichen von derselben Art, so würde die Einseitigkeit immer mehr steigen und ein Bruch in der Kirche würde nicht zu vermeiden sein. In der Gemeine selbst sind immer verschiedene Stufen, der größere Theil der Gemeine steht nicht auf dem Punkte auf dem der Geistliche und der kleinere Theil steht. Dadurch wird die Einseitigkeit gehemmt, aber auch Conflikt erregt. Es entsteht nun die Aufgabe das richtige Verhältniß des Allgemeinen und der Individuellen Entwicklung zu bestimmen, um in den Differenzen das gemeinsame zu erhalten und den Conflikt nicht durch einseitige Hervorhebung des Individuellen zu | befördern, sondern der Richtung auf den Bruch und aller Einseitigkeit entgegen zu arbeiten. Anhang zur Katechetik. 296–298. Hier ist die Rede von der Wirkung auf Nichtchristen die nicht in der Gemeine geboren sind. Dies setzt voraus die Vermischung der christlichen und nicht christlichen Gemeinschaften, der Evangelischen Kirche und anderen christlichen Gemeinen. Diese Vermischung ist verschieden. Wir haben es von Nichtevangelischen Christen nur mit Katholiken und von Nichtchristen mit Juden zu thun. In anderen Gegenden ist dies anders. In dem letzten § ist die Rede von den Missionen. Da kann man denken dies gehöre hier nicht her. Aber es ist eine ganz verkehrte Meinung wenn man glaubt daß das Christenthum rein durch Einzelne kann verbreitet werden, es geschieht nur durch Anpflanzung von Gemeinen, diese mag auch noch so klein sein, damit zu dem Wort noch die Anschauung hinzu komme. 20/3 32. 4 Rede] rede

7 PuebrigensS] oder PueberhauptS

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In Beziehung auf die in der Gemeine geborene Jugend ist ein Verhältniß schon angeknüpft, in Beziehung auf solche die einer anderen Religionsgemeinschaft angehören [noch nicht,] und da muß die Anknüpfung auf die richtige Weise geschehen. Man könnte zweifeln ob dieser Punkt hieher gehört. Die welche aus einer anderen Kirche in die Evangelische Kirche übertreten werden in die ganze Kirche aufgenommen und nicht bloß in eine Gemeine. Das gilt aber auch von der Gemeinejugend. | Leicht können Wünsche der Art entstehen aus nicht zu begünstigenden Motiven und da ist es nöthig, die richtigen Motive zu bewirken oder wenn solche da sind sie zu erkennen. 298.

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In der Praktischen Theologie findet sich keine Theorie hierüber. Das Missionswesen hat Neuerlich einen besonderen Aufschwung erhalten, die Behandlungen der praktischen Theologie sind früher und so ist dies übersehen worden. Jetzt bestehen Institute Missionare vorzubereiten, diese Institute müssen doch Principien haben und da ist eine Theorie nöthig und sehr wünschenswerth daß sie der Praxis bald folge. [299.] Vom 299. Paragraphen an ist die Rede von der Thätigkeit welche den Einfluß auf das Leben einzelner in sich schließt, welche aber nicht beruht auf der natürlichen Differenz zwischen mündigen und Unmündigen, sondern auf der Differenz der Mündigen unter sich, entstanden aus individuellen Verhältnissen. Der Zusatz beschäftigt sich damit zu fixiren wie die Ungleichheit zu denken [sei], da eine beständige Differenz ist. Wenn wir von dem bisherigen abstrahiren und eine Gemeine denken die ein Aggregat von einzelnen ist die auf gleiche Weise Mitglieder sind, (dann werden wir sagen, daß nicht immer schon eine Ungleichheit gesetzt ist wenn man eine Gemeine als Organisches Ganze denkt, denn da ist ein Wesentlicher Umlauf zwischen Empfänglichkeit und Mittheilung) aber auch wenn ein Aggregat da ist so ist immer Un15 früher] wohl dem Sinn nach zu ergänzen „anders gewesen“ 16–17 Im Jahre 1800 eröffnete der Berliner Prediger Johannes Jänicke (1748–1827) die erste Missionsschule in Deutschland; 1816 wurde die Missionsschule der Basler Missionsgesellschaft gegründet.

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gleichheit da, da ist nun gesagt, e s s e i nicht die Rede von denen die die letzten sind i. e. es soll | abstrahirt werden von der Ungleichheit innerhalb einer bestimmten Seele. Es gibt in einer jeden POrganischenS Verbindung einen Gemeinsinn, dieser ist nichts anderes als das Bewußtsein von dem Gesamtzustand, gerade dasselbe was das Gemeingefühl im Körper ist. Dies kann eins sein, trotz einer großen Differenz unter den einzelnen, aber es kann auch durch einen einzelnen auf eine besondere Weise afficirt werden, nämlich als ein gehemmter Zustand des Ganzen und das ist die Bedingung des hier gemeinten Ungleichseins. Es ist also nicht die Rede von der Differenz des einen einzelnen von einem anderen einzelnen sondern des einzelnen von dem Gemeingefühl, und dies verlangt dann die Behandlung des einzelnen. Wenn wir denken daß so das Gemeingefühl afficirt wird, daß der einzelne als krankhafte Stelle erkannt wird so muß eine Reaction eintreten und dies ist der Begriff der Seelsorge. Die folgenden Paragraphen behandeln den Gegenstand in seinen wesentlichen Aufgaben. 300. 301. 302. Die erste ist die. Es wird die Frage aufgestellt, kann ein solches Verhältniß entstehen, auf zwei Weisen oder nur auf eine Weise. Wenn wir uns denken den Einzelnen und die Gemeine so kann das Afficirtsein auch in dem Einzelnen selbst sein und wenn wir uns in ihm das Gewissen denken so ist dies der Ausspruch des Gemeingefühls. Er ist eine persona duplex. Er muß am klarsten dann sein Verhältniß zum Gemeingefühl erkennen und er ist der Ort von dem aus die Aufforderung zur Reaktion ausgeht. Dies ist der eine Fall. Es ist aber möglich daß in ihm das Gewissen schweigt, und | er die Reaktion nicht verlangt. Daß im ersten Fall eine Thätigkeit des Leiters eintreten muß ist klar. Aber darf diese stattfinden für einen Einzelnen der nicht selbst sie in Anspruch nimmt? Diese Frage ist darum wichtig, weil man die Sache so dargestellt hat, als ob dies zu den specifischen Differenzen der Evangelischen und Katholischen Kirche gehöre. Man sagt, die Katholischen Geistlichen sind zunächst Seelsorger, sie müssen sich um die einzelnen Glieder bekümmern um sie zum Gehorsam gegen die Kirche aufzufordern. Unsere Geistlichen sind wesentlich Prediger. Es liegt ihnen ob, das göttliche Wort so zu handhaben daß dadurch die Selbsterkenntniß der Gemeinglieder befördert werde; und wenn sich der Einzelne an den Geistlichen wendet, so ist ein Verhältniß anzuknüpfen. Geschehe diese Meldung nicht so habe sich der Geistliche um die Einzelnen nicht zu bekümmern sondern zu sagen, daß in dem 4 POrganischenS] oder POrganisirtenS 17 Paragraphen] pp. 30 nimmt?] nimmt. 39 Geistliche] Geistliche sich

22 selbst] selbst,

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Einzelnen kein Zweifel da ist oder daß er ihn selbst lösen zu können meint. Bei dieser Auftheilung ist unsere Untersuchung sehr wichtig, da durch deren verschiedene Beantwortung das Geschäft und seine Methoden beschränkt und erweitert werden. Die beiden folgenden Paragraphen betrachten die Aufgabe nach der im 299 aufgestellten Differenz, nämlich daß die Ungleichheit entstehen kann aus Innern oder Äußern Ursachen. Wenn wir uns denken Eine Ungleichheit wie ich sie oben dargestellt so kann diese nur aus Innern Ursachen entstehen. Auf äußere Weise kann sie nur | entstehen wenn der Einzelne auf eine äußerlich zufällige Weise verhindert ist an der Circulation des religiösen theilzunehmen. Dadurch braucht gar nicht eine innere Verschiedenheit zu entstehen.

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Eine Ungleichheit aus Innern Ursachen zeigt sich in der Opposition gegen das worin sich das Gemeinbewußtsein darstellt, und namentlich in der Opposition gegen die Äußerungen der leitenden Thätigkeit. Fehlt diese so ist keine solche Ungleichheit daß Seelsorge nöthig wäre, sondern es ist nur eine Ungleichheit des Einzelnen von den Einzelnen. Wie bei der Katechetik Anfang und Ende bestimmt sein mußte so auch hier. Wenn die Gemeine meint es sei eine rectificirende Thätigkeit nöthig gegen solche Leute so ist doch nöthig daß der Betheiligte den Anfang zugibt, denn wenn er sagt, Ich bin ein Evangelischer Christ, habe das göttliche Wort so hört das Ganze auf, und das Geschäft ist aus. Eben so müssen beide über das Ende einverstanden sein und dies läßt sich eigenlich nur denken als der glücklichste Erfolg der Sache, nämlich wenn die Sache aus ist daß beide das gleiche Bewußtsein darüber haben. Aber es läßt sich denken daß beide Theile vor dem Ende wieder auseinandergehen. Es kann eine Methode für diese Thätigkeit nur geben, in sofern eine Ungleichheit da ist, aber in gewissen Schranken sich haltend. Wenn sie darüber hinausgeht so wird das ganze Geschäft unsicher und geht zurück in das Gebiet von solchen Geschäften die von Momenten und Zufall abhängen. 21/3 32 Wenn gefragt wird ob und Wie? dies Verfahren die Ungleichheit des Einzelnen und der Gemeine [zu verringern] zusammengesetzt werden kann | aus beiden Elementen dem Erbauenden und Regierenden so ist dies die Frage über die 6 Paragraphen] pp.

28 vor] v’

33 Zufall] zufall

20 Vgl. KD² § 292 (KGA I/6, S. 429,1–5)

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Kirchenzucht. Hierüber ist noch immer Streit in der Evangelischen Kirche indem sie bald in praxi besteht bald nicht. In dem letzten Punkt wird gefragt ob wenn das Verfahren ein Ende nicht erreicht, ein anderes eintrete, ob der Einzelne ausgestoßen werden kann so ist dies die Frage über Excommunication. Die Frage über den KirchenBann, natürlich nur für die Lokalgemeine. Diese Frage verläuft sich in die Erste, es würde darauf ankommen, die Gränze zwischen Kirchenzucht und Bann zu bestimmen. Es kann nicht die Rede davon sein eine Ausschließung für immer auszusprechen, denn wenn der ausgeschlossene selbst als Nichtchrist betrachtet werden sollte so kann er als solcher bekehrt werden. Da also dies nur vorübergehend ist so ist es schwierig die Gränzen [zwischen] der Kirchenzucht und Bann zu bestimmen.

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Hier ist die Rede von der Seelsorge für die durch äußere Ursachen von dem Gesamtleben der Gemeine abgehaltenen. Krankenpflege, Gefangenenpflege. Es fragt sich auch hier ob die Anknüpfung nur von einem oder von beiden Theilen ausgehen kann. Da hier bei dem ersten nicht eine Opposition da ist so ist über die Ausübung selbst keine Theorie nöthig, und es kommt in der Theorie nur die Frage zum Vorschein, wie das Verhältniß anzuknüpfen ist. Bei der Gefangenenpflege ist es dagegen anders, denn dort ist immer auch eine innere Ursache der | Trennung vorauszusetzen.

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303. Hier ist die Rede von der leitenden Thätigkeit insofern sie das Gesamtleben, die Sitte constituirt. Der Leitende ist hier beschränkt durch das KirchenRegiment und auf der anderen Seite durch das Verhältniß in dem die Einzelnen als einzelne zu der Gemeine stehen. Hier ist Streit. Man muß bedenken daß die Sache erst immer im Werden ist. Denken wir uns den kirchlichen Gegensatz von dem alles ausgeht, der Selbstthätigen und Empfänglichen, so denken wir in den Hervorragenden eine richtigere Einsicht von allem was sich auf das religiöse Leben bezieht also auch von den Folgen nachtheiliger Handlungen. Da muß ihr Streben danach gehen dies auszuschließen. Z. B. Gesetzt dies wären für gewöhnlich Vergnügungen so muß der Geistliche sie 26 303.] 303. –

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zu entfernen suchen. Der Gegensatz zwischen beiden Theilen ist aber von den anderen nicht so anerkannt daß sie sich allem fügen würden was jene wollen sondern sie wollen selbst sich bestimmen und sagen, dies ist eine Sache der eigenen Erfahrung, es kann vielen etwas schaden was anderen nicht schädlich ist, und nach meiner Erfahrung schadet es mir nicht. Da müssen also beide Theile einig sein über den Gegensatz. Als man in Baiern gemeinälteste einsetzen wollte so opponirten viele indem sie sagten, jene werden uns tyrannisiren in der Bestimmung der Sitte, und dies können wir uns nicht gefallen lassen. Hier war der Streit schon de lege ferenda sehr oft ist er [de] lege lata | indem die Leitenden der Gemeine bald zu viel bald zu wenig thun. 304.

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Hier wird die Aufgabe im Gegensatz gegen die Katholische Kirche aufgestellt. In dieser ist das Verhältniß ein ganz bestimmtes. Darin liegt eine Complication die in der Evangelischen Kirche auch noch streitig ist, dies ist die zwischen der Erbauenden und regierenden Thätigkeit: In der Katholischen Kirche ist darüber kein Streit. Die Geistlichkeit bestimmt Lehre und Sitte i. e. gibt praktische Vorschriften, der Einfluß der Laien als KirchenAelteste beschränkt sich auf das äußere, Kasse, Gebäude etc. Nun wäre also die erste Frage die entschieden werden müßte diese. Wie steht der Geistliche zur Gemeine? Diese ist 21 Gemeine?] Gemeine. 7–9 Gemeint ist wohl der Protest einiger Kirchengemeinden in Bayern gegen die Einführung von Kirchenvorständen, vgl. dazu den Bericht in den „Theologischen Nachrichten“: „Was die 12 Gemeinden im Rezatkreise, Ansbach, Nürnberg, Feuchtwangen, Rothenburg, Erlangen, Uffenheim, Lauf, Hersbruch, Fürth, Nördlingen, Schwabach und Gunzenhausen anbelangt, wozu noch die Gemeinde Lindau zuletzt hinzugekommen ist, in deren Namen schriftliche Protestationen gegen die Einführung der Kirchenvorstände eingereicht worden, so sind zwar diese Protestationen sämmtlich formlos und verordnungswidrig und sollten eigentlich gar nicht anerkannt und angenommen werden [...] Allein um auch den entferntesten Schein zu vermeiden, als ob auch nur der Zwang der Ueberredung in dieser Sache angeordnet werden wolle, wird hierdurch bestimmt, daß in den genannten 12 Städten vorerst von der Wahl der Kirchen-Vorstände Umgang genommen werden soll, in der gegründeten Hoffnung, daß der größere Theil der Protestirenden durch die Königliche Entschließung auf die unlautere Quelle des aufgeregten Mißtrauens aufmerksam gemacht, und beschämt, im kurzem von selbst zu einer ruhigern Besinnung zurückkommen werden“ (Theologische Nachrichten, hg. von Friedrich Heinrich Christian Schwarz, Frankfurt am Main 1823, S. 333–336) sowie Schleiermachers Notiz dazu in der Kirchlichen Geographie und Statistik (Ms. 1827): „Bairische Verhandlungen über die Errichtung der Kirchenvorstände. In 12 protestirenden Stadtgemeinden wurde davon abgestanden vom 5ten August 1822.“ (Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik, hg. v. Simon Gerber, KGA II/16, S. 132,3–5)

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entschieden und somit auch die zweite, daß es nicht nothwendig sei, daß beide Wirksamkeiten in dem Geistlichen vereinigt werden. Aber ein anderes ist, ob es nicht sein darf. Im ersten Falle würde die Gemeine in beiden Fällen der Geistliche von der Constituirung der Sitte ausgeschlossen werden und diese anderen übertragen. Indeß die Constituirung der Sitte geht auf die Moral zurück wie die Erbauende auf die Dogmatik. Daher hat der Geistliche die Kenntniß und will die Gemeine ihm dies Geschäft übertragen, so kann er es verwalten. Darüber stimmt man auch überein. Eine andere Frage ist es ob jemals eine bestimmte Form hierin entstehen müsse? Dies ist klar daß der Zustand in welchem die Gemeine ausgeschlossen ist, nicht als dauernd angenommen werden kann, denn dadurch würde man einem specifischen unübersteiglichen Unterschied zwischen Laien und Geistlichen | folgen. Aber zu einer bestimmten Zeit in einer gewissen Zerrissenheit ist es gut. Auf jeden Fall kann die Evangelische Kirche keine bestimmte Form für immer wollen, sie muß die Möglichkeit der Veränderung zugeben. Wie es aber in der Lehre zwei Meinungen gibt, 1) es wird einmal eine Einheit stattfinden 2) es ist das nicht möglich, so sind auch hier zwei Meinungen 1) die Evangelische Kirche wird einmal zu einer festen unwandelbaren Verfassung kommen 2) der Gegensatz auf dem die Verfassung beruht ist wandelbar und daher muß die Verfassung selbst als wandelbar gedacht werden. Wenn man die Sache aus dem Gesichtspunkt des Zusatzes betrachtet so muß man von allgemeinen Principien für alle christlichen Kirchen ausgehen, dann den Gegensatz gegen [die] Katholische feststellen und gegen beide ist dann das freie Feld für die Gestaltung der Sache in der Evangelischen Kirche.

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305. Dieser Paragraph führt uns aus dem Innern auf die Relationen zurück, indem es ja überall auf die innere Organisation der Kirche selbst und auf das Verhältniß zu anderen Organisationen ankommt. Es ist der Grundsatz aufgestellt, das Leben der Einzelnen müsse in der christlichen Gemeine auch durch gesellige und bürgerliche Verhältnisse neben den Kirchlichen Principien bestimmt werden. Doch darauf kann Widerspruch stattfinden, sonst wäre er auch in den Einzelnen und es entstünden beständige Collisionen. Wo er also ist, muß man streben, ihn aufzuheben. 22/3 32. 3 darf.] darf, 37 22/3] 23/3

13 unübersteiglichen] vgl. Grimm: Wörterbuch Bd. 24, Sp. 1982

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Hier ist die Rede von gemeinsamen Werken im Bereich der Gemeine. Nur zu diesen kann eine Aufforderung von der Leitung ausgehen. Alles was auf den Umkreis der Gemeine beschränkt ist, gehört in ihren Begriff, | so z. B. die Armenpflege. Wo die Gemeine ein vollkommen organisirtes und abgeschlossenes Ganze ist und sich das Institut nur über die Gemeine erstrekt, muß die Aufforderung von der Leitenden Organisation ausgehen. Es fragt sich wie weit sich die Thätigkeit derselben erstreke. Einen PZwangS kann die Gemeine aus ausüben. Bei uns tritt hier eine besondere Schwierigkeit ein, nämlich die Gränzen zu bestimmen zwischen dem der der kirchlichen und bürgerlichen Gemeine angehört. Auf dem Lande ist dies nicht der Fall, dort ist kein Unterschied zwischen bürgerlichen und kirchlichen Gemeinen. Diese Frage inwiefern es heilsam wäre, mehr von dem was jetzt in die bürgerliche Gemeine gehört in die kirchliche zu ziehen, gehört in das KirchenRegiment. Diakonat im ursprünglichen Sinne war alles was nichts mit der Lehre und der Beschäftigung mit dem einzelnen der Lehre und dem Leben noch zu thun hatte. Bei uns ist in diesem Geschäft eine Unsicherheit und Corrumpirung weil noch nicht die Gränze zwischen kirchlich und bürgerlich gezogen ist und das was die Kirche thut nur als Anfang erscheint.

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Der Zusatz ist wieder Antikatholisch, denn hier heißen nur die Priester Klerus. Bei uns gibt man zu wenig auf sich Acht in dieser Beziehung. Wenn man vom Klerus spricht so versteht man die Geistlichen darunter. Wenn es aber eine Organisation in allen Gemeinen gäbe so müßten diese der Klerus | der Gemeine heißen, denn dieses ist der ursprüngliche Begriff. 308.

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Der Paragraph geht über auf das Verhältniß zwischen Klerus und Laien in anderen als kirchlichen Verhältnissen. Es wird gefragt ob in diesem Verhältniß der Klerus eine besondere Lebensweise haben müsse. Hier kommen Vorstellungen mit ins Spiel die in der Evangelischen Kirche schwankend sind. Die beiden Extreme will ich nennen; wir werden sie schärfer bezeichnen wenn wir unter Klerus besonders den 9 PZwangS] PZwankS

9 aus] wohl zu korrigieren in nicht

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Geistlichen Stand denken. Da ist das eine Extrem, der Geistliche muß sich in allen Verhältnissen so von allen anderen unterscheiden daß sie beständig den Gegensatz im Bewußtsein haben. 2) außer der eigentlichen Amtsführung des Geistlichen soll man gar nicht im Stande sein ihn als solchen zu erkennen. Eine Entscheidung kann ich hier nicht geben, dies wäre materiell, eine Theorie muß es geben. Mit dem Soldatenstande ist es ebenso. In vielen Staaten herrscht die Theorie, der Soldat steht immer den Bürgern gegenüber und muß sich stets von ihnen unterscheiden. 2) der Soldat ist nur für den Krieg und besteht im Frieden nur zu Behuf des Krieges außer den kriegerischen Uebungen, i. e. außer dem Dienst darf man ihm den Soldaten nicht ansehen. Wo das erste herrscht nennt man dies einen Kriegerischen Staat, ebenso | könnte man das erste Extrem eine Hierarchische Verfassung nennen. Da haben wir hingegen eine Warnung. Gegen dies beides ist indeß diese Warnung daß bei dieser Voraussetzung entweder das Leben nichts mit dem Amte zu thun hat, und dann würde das Amt nur Maschinerie, indem man nur bei einer Mechanischen Arbeit aus jedem Zustande dazu kommen kann, oder wir müßten alle ein vollkommenes Leben führen. Da aber das letzte nicht der Fall, das erste unwürdig und der Evangelischen Kirche nicht möglich ist so sind wir auch gegen jenes Extrem gesichert. Diese Frage wie der Geistliche sich in den oeffentlichen Lebensverhältnissen zu benehmen habe um der Wirksamkeit seines Amtes nicht zu schaden wurde in der Pastorallehre behandelt, zugleich mit der Frage wie die Geistlichen die Seelsorge zu führen haben. Beide Fragen gehören durchaus nicht zusammen, denn dieses ist rein Innerlich jenes äußerlich. Man kann sagen es sei nicht richtig daß der Paragraph so sehr hervorhebe das Zusammensein von Clerus und Laien, sondern man hätte sagen können, jeder Leitende in der Kirche ist ein Mitglied der geselligen und wissenschaftlichen Gesellschaft, und da fragt sich wie verhällt sich der Beruf zu diesen beiden. Dies wäre auch gegangen. Ich habe aber die Bezeichnung gewählt um den Gesichtspunkt anzugeben, aus dem heraus man die Sache betrachtet: der Geistliche als solcher hat eine Autorität, in den oeffentlichen Verhältnissen ist er den anderen gleich. Dies ist der Gesichtspunkt, aus dem man die | Sache betrachtet. Wenn man diesen Ausdruk wählt so sieht man sogleich daß diese denen er gleich ist, dieselben sind denen er als Geistlicher mit Autorität gegenübersteht, und daß hierin eigentlich das schwierige der Frage liegt. Zuletzt ist die ganze Sache rückgeführt auf die Frage ob und welch spezifischer Unterschied zwischen dem Klerus und der Gemeine stattfindet. Die Extreme sind immer zu vermeiden. Das Uebertragen der Autorität als Geistlicher in andere Verhältnisse nennt man geistlichen Stolz, das andere Extrem wird als Ge-

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ringschätzung des Amtes ausgelegt. Es kommt also hier nicht bloß darauf an ein Maaß für das Gewissen des Geistlichen zu geben, sondern auch für die öffentliche Meinung, obgleich diese Differenz desto mehr verschwinden muß, je länger der Geistliche und die Gemeine zusammen sind, da der Geistliche die öffentliche Meinung lenkt. 23/3 32.

Zweiter Abschnitt. Die Grundsätze des KirchenRegiments. 309.

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Hier ist gleich aufgestellt daß es einen eigenthümlichen Charakter des KirchenRegimentes in der Evangelischen Kirche geben müsse. Es läßt sich denken die Evangelische Kirche läßt alle Formen zu die sich denken lassen nach der eigenthümlichen Idee des Christenthums, aber ebenso kann es sein daß sie viele davon ausschließt. Die Katholische Kirche hat eine Monarchische Verfassung. Man kann sagen daß dies dem Wesen des Christenthums nicht entspricht sondern daß es nur Corruption ist, dann ist es natürlich auch der Evangelischen Kirche fremd. Andere könnten sagen es sei christlich aber nicht evangelisch, darüber | muß man entscheiden. Der Zusatz spricht gegen Independenten die einen solchen Zustand für unchristlich halten. 310.

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1) Die Innere KirchenVerfassung besteht in der Art und Weise wie das KirchenRegiment sich organisirt und ergänzt, ob es sich selber seine Mitglieder wieder wählt oder ob es die Gemeinen thun, 2) in der Art und Weise wie das KirchenRegiment auf die Gemeinen wirkt. Zu s a t z . Bei der Dogmatik kommt es z. B. an auf das Dogma vom heiligen Geist, und auf die Beschränkung oder Nichtbeschränkung desselben auf den Klerus. 26/3 32. 312.

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Hier ist ein Unterschied aufgestellt zwischen dem Gebundenen KirchenRegiment i. e. dem KirchenRegiment im engern Sinne und dem ungebundenen oder formlosen das mit dem anderen den Wirkungs5 23/3 32.] 24/3 32. am Rand 28 Eine eigene Erörterung von § 311 fehlt.

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kreis gemein hat sich dadurch von ihm unterscheidet daß es nicht von der Organisation ausgeht. Es ist dies begründet mit der Entstehungsart der Evangelischen Kirche und dem Satz daß jedes Ganze nur durch die Kräfte bestehen kann durch die es entstanden, z. B. Wenn man sich das denkt was man in einem Staate den Gemeingeist nennen [kann] so ist dies nichts anderes als das in den Gliedern des Staates fortbestehende Princip durch das sie das Dauern des Staates in derselben Form wollen. Es kann kein Staat anders entstehen als durch den Gemeinwillen, ein Einzelner kann gegen den Willen aller keinen Staat constituiren. Ein Eroberer herrscht in diesem Fall nur so lange er da ist. Wenn ein Staat nur durch den Gemeingeist fortbesteht so ist er dadurch auch nur entstanden. Wenn man dies auf die Evangelische Kirche anwendet so ist sie dadurch entstanden | daß einzelne die nicht in den Organismus gehörten, rein als einzelne auftraten und die allgemeinen Kräfte gegen die Mißbräuche vereinigten. Wenn wir uns denken es sei nicht mehr möglich [daß] einer oder einzelne aufstehen und ihre Ansicht für das Ganze geltend zu machen suchen so hört die Evangelische Kirche auf eine solche zu sein, sie versteinert zur Katholischen. In dieser kann kein einzelner Laie Einfluß auf das Ganze einwirken wollen, daher gibt es kein öffentliches Auftreten irgendeiner Art ohne die Autorität des KirchenRegimentes. Die Reformation hätte schwerlich entstehen können vor der Erfindung die die Stimme des Einzelnen so sehr verbreitet, vor der Buchdrukerkunst hätte sie so nicht entstehen können, es wäre die Einwirkung nur Lokal gewesen und es hätte dieses Princip nicht an so vielen Orten zugleich entstehen können. Es ist diese freie Einwirkung einzelner auf das Ganze außer der Organisation des KirchenRegiments der Evangelischen Kirche ganz eigenthümlich. In dem Zusatz wird gesagt daß es tumultuarisch scheine wenn gesagt wird daß jedes einzelne Mitglied eine solche Einwirkung versuchen wolle. Es wird dagegen gestellt daß ein solcher aber unbegründeter Versuch ohne alle Wirkung bleiben wird, jeder würde den Versuch als Anmaßung ansehen. Die Evangelische Kirche spricht die Ueberzeugung aus daß das Ungebundene KirchenRegiment das Gebundene nicht aufheben könne, denn sie stellt beide nebeneinander. Denken wir das Gebundene KirchenRegiment wäre Corrumpirt und ein Einzelner träte dagegen auf so kann daraus eine revolutionäre Bewegung entstehen aber nur in dem Maaße als das Bewußtsein allgemein wird. Aber | auch so kann die Masse der Einzelnen als einzelne nichts thun sondern es muß die Bewegung in das KirchenRegiment selbst eindringen und so die Bewegung durch dies mittelbar verbreitet und ausgeführt werden. 4 entstanden,] entstanden.

22 vor] v’

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Das Gemeinsame zwischen beiden wird hier aufgestellt als das Wesen beider constituirend, nämlich daß die Idee keine andere sein könne als die Idee des Evangelischen Christenthums immer reiner zu realisiren. Nur die Methode ist different. Das Organisirte KirchenRegiment kann legislatorisch auftreten, jenes ungebundene Element hat keine solche Autorität es kann nur indem es auf den Einzelnen selbst in Masse wirkt eine Veränderung und Fortschritt bewirken. Was das legislatorische betrifft so bringt der Zusatz in Erinnerung daß hier eine äußere Macht nicht möglich ist. Die Tendenz des freien KirchenRegiments wird im Zusatz so bestimmt[:] das Organisirte KirchenRegiment wirke nur so viel als es Ausdruk des Gemeinsinnes ist, während das Ungebundene KirchenRegiment erst etwas hineinbringen will in den Gemeinsinn und wenn es hineingekommen in den der Glieder des anderen KirchenRegiments so kann es vermöge des neuen Gemeingeistes wirken. Das Gebundene KirchenRegiment kann nur durch den Gemeingeist wirken. Ist er unvollkommen so ist die Wirkung unvollkommen, es muß zu Bewußtsein kommen und dies geschieht im Einzelnen und es ist ganz gleich ob dieser Einzelne zum Gebundenen oder Ungebundenen KirchenRegiment gehört, er wirkt als einzelner, wird er verbreitet so geht er in das Organisirte über und durch diesen | bessern Gemeingeist wirkt dieses nun. So wirkt das freie KirchenRegiment auf das Gebundene, dieses muß aber jenes hervorzurufen suchen, und dies Verhältniß beider gehört zu dem gesunderen Zustand der Evangelischen Kirche. 314.

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je b e s t i m m t e r etc. Wenn wir denken das KirchenRegiment besteht aus theologisch Gebildeten kräftigen Einzelnen, es kann nur wirken wenn seine Anordnungen dem Gemeingeist entsprechen. Wenn der Einzelne im KirchenRegiment eine neue Ansicht auffaßt so kann er sie nicht gleich als kirchliche Anordnung aufstellen. Trägt er sie seinen Collegen vor so handelt er noch als Glied des KirchenRegimentes. Macht er sie öffentlich Bekannt so handelt er als einzelner. Entsteht eine solche Ansicht in einem anderen der nicht zum KirchenRegiment gehört, so hat er zwei Wege. 1) er insinuirt sie dem KirchenRegiment und überläßt es diesem, 2) er tritt als einzelner öffentlich auf und bringt sie der Menge zu Bewußtsein. Dies kann er nicht in der Art der 27 KD² § 314 (KGA I/6, S. 437,5f)

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Verordnung sondern durch Aufregung also im Bewußtsein des relativen Gegensatzes. Zu s a t z . Das geordnete KirchenRegiment kann nur Conservatorisch sein. Die Fortschritte können nur von dem freien KirchenRegiment ausgehen. Dies liegt schon darin daß das KirchenRegiment nur durch den Gemeingeist wirken kann, die kirchliche Auctorität kann nur das ihr Uebergebene erhalten da sie nur für die Anordnungen eine Gewähr des Gelingens hat, die den Gemeingeist aussprechen. Kann nicht die kirchliche Auctorität selbst gleich auf eine ergänzende Weise | zu Werke gehen? O ja! aber dies sind wirkungslose und leere Reformen wenn nicht der Gemeingeist beistimmt, und durch dergleichen leere Versuche schwächt sich das KirchenRegiment selbst. Da ist also das allein richtige daß die einzelnen Glieder des KirchenRegimentes erst als einzelne auftreten und erst nach der Anregung des Gemeingeistes als KirchenRegiment anordnen.

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315. Hier ist die Rede zuerst von der Formation der Gemeinen und es wird gesagt daß das KirchenRegiment einen Antheil haben muß an der Organisation der Gemeine. Wir haben den Satz aufgestellt daß die Gemeinen eher sind als der kirchliche Verband, aber sie sind nur durch ihre Organisation also könnte man schließen diese Organisation gehe dem KirchenRegiment vorher, und gehe dieses nichts an. Wenn wir uns aber denken daß der Innere Zustand und ihr Verhältniß zueinander bei dem Zusammentreten zum KirchenRegiment unverändert bliebe so wäre dies richtig, aber es ist doch eine Veränderung möglich und das Verhältniß kann sich so verändern daß der kirchliche Verband gestört würde. Ein solcher Verband kann nur bestehen bei einer gewissen Gleichheit. Sowie ein solcher kirchlicher Zusammenhang besteht so kann das Bewußtsein in welchem gerade die Gleichheit alterirt ist, nur in dem KirchenRegiment sein, da muß eine Ausgleichung statt finden und daraus folgt der Antheil des KirchenRegimentes an der Organisation der Gemeine, aber es kann nur ein A nt heil sein, da ja die Gemeinen früher sind.

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316. Es sind also zwei Coefficienten da und ein verschiedenes Verhältniß beider möglich, da entsteht die Aufgabe, zu zeigen wie verschieden 10 gehen?] gehen. 32 KD² § 315 Erl. (KGA I/6, S. 437,22)

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getheilt sein kann zwischen dem KirchenRegiment und der Gemeine. Da läßt sich für alle nicht dieselbe Antwort geben sondern man muß fragen unter welchen Verhältnissen wird das eine oder das andere das beste sein. Ebenso kann zu den einzelnen Angelegenheiten der Gemeine ein verschiedenes Verhältniß statt finden und zwar in verschiedenen Zeiten verschieden. Hier muß man auch für den einzelnen Fall entscheiden. 27/3 32. | 317.

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scheint zu eng zu sein wenn man als Zwek des KirchenRegimentes allein die Ausgleichung angibt, man kann sagen es muß die Kirche weiter gebracht werden, ja aber wenn dadurch neue Elemente in Umlauf kommen so ist dies nicht Amt des KirchenRegimentes sondern der Einzelnen. Erst wenn sich Neues verbreitet muß das KirchenRegiment behufs der Ausgleichung eintreten. Gesetz kann sich nicht anders geltend machen als dadurch daß es die Ueberzeugung der Gemeineglieder bestimmt. 318.

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Die Gleichheit erscheint nur in Cultus und Sitte. Nun diese haben wir abgeleitet rein aus dem Begriff der einzelnen Gemeine und da ist das Resultat daß Cultus und Sitte in einer jeden Gemeine sollen der möglichst adaequate Ausdruk der Frömmigkeit der Gemeine sein, das KirchenRegiment muß sorgen daß diese verschiedenen Gemeinen ein Ganzes bilden. Hier ist zwischen beiden Aufgaben Widerspruch möglich und b e i d e z u ve r e i n i ge n i s t di e A u fg a be der kirchl ichen G e s e t z g e bu n g. Dies ist eine von den Fragen die beständig ventiliert werden, sollen wir eine Theorie des KirchenRegiments haben müssen hier feste Principien aufgestellt werden. Wenn man sagen wollte die Sache läßt sich nicht anders lösen als daß die Gemeine aufgibt daß der Cultus der Ausdruk ihrer Frömmigkeit ist und sie muß sich PentschädigenS durch das Gefühl daß sie nun zu einem Ganzen gehört so wäre dies ebenso unvollkommen als wenn die Einheit der Kirche durch die einzelne Gemeine gestört wird. Zur Vereinigung beider Seiten ist eine Annäherung das einzelne Mittel, doch so daß wenn auf einer Seite eine Beschränkung fehlbar ist, ein aufzuhebendes da ist. | 4–7 Ebenso … entscheiden] am Rand mit Einfügungszeichen 6 Zeiten] zeiten 6 Fall] Falle 21 sein] sd 29–30 PentschädigenS] oder PentschuldigenS 33 einzelne] wohl zu korrigieren in einzige

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319. Gesetzt die vorige Aufgabe ist gelöset so entstehet eine andere, nämlich gegründet darauf daß alles was Ausdruk und Darstellung ist in ihrem Werthe eine Veränderung erfahren. Sprachelemente verlieren ihre Bedeutung, soll dasselbe ausgedrükt werden, muß man ein anderes Element nehmen statt des veränderten oder Antiquirten. Eben dies gilt von dem was in der Kunst Manier ist. Gesetzt 318 wäre gelöst so würde doch eine Aufgabe zur Veränderung entstehen in dem Bedeutsamen, hier sind zwei Extreme möglich 1) ein beständiger Rascher Wechsel 2) auf der anderen Seite ein Mangel an Aufmerksamkeit auf die Veränderung und die Richtung daß man lieber das früher Bedeutsam gewesene festhällt, wenn es auch eine andere Bedeutung hat: Hier ist also eine neue Aufgabe die sich gestaltet 1) als Recht Aenderungen zu machen 2) als Tendenz das Bestehende gegen allzu schnelle Aenderungen festzuhalten.

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Wenn von dem Bann die Rede war in der Theorie des Kirchendienstes stellte sich die Frage nur so, ob jemand von der Gemeine ausgeschlossen werden könne. Hier ist eine andere Frage, 1) vorausgesetzt daß jenes stattfinde, kann es stattfinden für sich ohne Eingriff von dem KirchenRegiment 2) kann eine Ausschließung aus der ganzen Kirche stattfinden. Man kann sagen die Gemeine muß das Recht haben wenn einer schlecht sich aufführt [ihn] von den Sacramenten auszuschließen. | Dabei kann er aber bei einer anderen Gemeine zugelassen werden. Denken wir aber es findet dasselbe statt bei einem ganzen kirchlichen Complexus so ist er aus der ganzen Kirche ausgeschlossen. Es ist hierüber großer Streit, Praxis und Theorie sind beide verschieden, wo die Praxis dafür ist ist die Theorie oft dagegen und umgekehrt. Wenn wir das Ganze zusammenfassen und fragen wie stellt sich das Verhältniß des KirchenRegiments auf diese verschiedenen Aufgaben so müssen wir sagen, es wohnt dem KirchenRegiment in Bezug auf Cultus und Sitte das ReformationsRecht zum Behuf der Ausgleichung bei (die Gränzen sind verschieden) 2) das Recht der Aufsicht 4 eine … erfahren] constructio ad sensum 9 ein] eine 11–12 Bedeutsam] Bedeutsame 18 Kirchendienstes] Kirchendienstes die Rede war 29 und umgekehrt] uu 17 Eine eigene Erörterung von § 320 fehlt.

18 Vgl. oben 552,7–15

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denn sonst kann es nicht zur Kenntniß der Ungleichheit gelangen (dieses Recht kann sich verschieden gestalten in Beziehung auf das Verhältniß der einzelnen Gemeinen zueinander und in der Beziehung auf den innern Zustand der Gemeinen, für das Erste muß das KirchenRegiment seine Organe haben, in das zweite wird ihm oft die Einmischung bestritten.) 3) Schiedsrichterliches Recht. Aber hier fragt sich wieder hat das KirchenRegiment das Recht unaufgefordert durchzuüben oder muß es die Aufforderung abwarten. Das ganze zusammen ist der Inhalt der Gesetzgebung.

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322 seq.

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ist vom Verhältniß die Rede das in den vorigen schon liegt. Wenn wir darauf zurückgehen woraus der Cultus besteht so finden wir Predigt und Liturgie, beides versirt im Begriff der religiösen Vorstellung und den Lehrbegriff, indem also das KirchenRegiment auf den Cultus materiellen Einfluß hat, wird es auch auf | den Lehrbegriff [Einfluß nehmen]. Ist es denn nicht die allgemeine Voraussetzung daß die religiösen Vorstellungen in der Predigt und Liturgie die Vorstellungen der Kirche sind, denn der Prediger ist Organ der Kirche und die Liturgie geht von dem Organ der Kirche aus. In unserer Kirche sieht man nicht auf eine PurchristlicheS Uebereinstimmung und es fragt sich daher in wiefern dem KirchenRegiment das Recht zusteht 1) den Lehrbegriff zu aendern und 2) die Uebereinstimmung aller Geistlichen auf einen bestimmten und für immer festgestellten Lehrbegriff zu verlangen. Diese Fragen werden immer von Neuem ventilirt weil eine feste Theorie fehlt. 323.

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An die Aufstellung einer solchen Theorie ist jetzt gar nicht zu denken da die Ansichten sich stark widersprechen, indem einige einen feststehenden Lehrbegriff verlangen, andere diesen durchaus verwerfen, und eine Einheit nur von innen heraus sich bilden lassen wollen. Sie sehen eine solche Einheit für Mangel an Leben an. 28/3 32. Es ist eine ganz unhaltbare Behauptung, die auch die katholische Kirche nicht durchführen kann daß der Lehrbegriff ein Unwandelbares sein könne. Dies ist nur möglich wenn man nicht denkt, dahin haben es einige Orientalische gebracht indem sie seit mehrern Jahr7–8 durchzuüben] vgl. Grimm: Wörterbuch Bd. 2, Sp. 1705: „durchbilden, durchdringen“ 26 323] 223 28 einige] nn 31 28/3] 27/3 35 einige] Nn

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hunderten nicht mehr denken und das Christenthum zu einer rein mechanischen Kultur gemacht haben. Wir verlangen nicht, daß die Kirche eine dem Äußern nach sei, aber eine innere halten wir fest. Was von dem Raum gilt, gilt von der Zeit. Es ist gar nicht nothwendig daß die Christliche Kirche je eine der Form und der Form der Vorstellung nach sein müsse aber nothwendig daß überall und immer eine Innere Einheit da sei. Wir sind davon ausgegangen daß das KirchenRegiment nur eine erhaltende Tendenz haben | könne und daß nur von dem ungebundenen KirchenRegiment das Verändernde ausgehen könne: Auch von der Evangelischen Kirche gilt daß sie äußerlich nicht eine zu sein braucht aber sie muß ihrem Inneren Wesen nach eine bleiben. Der Lehrbegriff muß also wesentlich einer sein, auf der anderen Seite folgt aus dem Gesagten daß das KirchenRegiment Bewegungen im Lehrbegriff nicht unterdrükken dürfe. D a ß k e i n e r A u t o ri t ät etc. Luther berief sich auf eine Cautel, und erkannte so freilich eine Autorität an, aber in der Voraussetzung daß er so entweder überzeugt werde oder überzeugen würde. Späterhin wurden diese Sätze aufgestellt zur Beschränkung des Gebundenen KirchenRegiments. Man hat freilich den Satz so ausgelegt daß für die Evangelische Kirche gelte die Bestimmung der Lehre aus den Symbolischen Büchern wie für die anderen Kirchen aus der Schrift, denn jener sprächen diese Bücher das Wesen des Evangelischen Christenthums aus wie die Bibel das Wesen des Christenthums. Aber erstens würden dennoch differente Meinungen entstehen durch verschiedene Interpretation d. Symbol. und 2) ist nicht nachzuweisen daß die Bücher in dem Sinne geschrieben sind, daß sie für die Evangelische Kirche das seien was für die christliche Kirche die Bibel. Die zweite Betrachtung ist die, wir erkennen mehreren Kirchen den [Status] einer Evangelischen Kirche aber dabei eine Evangelische Kirche an. Es sind immer Lehrer aus einer Landeskirche in die andere berufen worden ohne daß man fragt ob diese Symbole da wären wenn nur dieselbe Confession sie bekannten. Wenn wir nun also sagen das 25 d. Symbol.] Abk. wohl für der Symbole oder des Symbolischen 15 KD² § 323 (KGA I/6, S. 440,9f) 15–17 Anspielung wohl auf Luthers Verteidigungsrede auf dem Wormser Reichstag 1521, vgl. dazu Schleiermachers Darstellung in seiner Kirchengeschichtsvorlesung, nach welcher Luther „nichts begehrte, als Widerlegung aus der Schrift und Vernunft, aber Widerlegungen aus KirchenVätern oder Concilen müsse er sich verbitten da diese sich selbst widersprochen hätten [...].“ (KGA II/6, S. 631,32–632,1) 19–23 Vgl. die ähnliche Formulierung Schleiermachers in seiner Schrift „Über den eigentümlichen Wert und das bindende Ansehen symbolischer Bücher“ (KGA I/10, 137, 22–34), in der diese Ansicht als Konsequenz einer Forderung nach einer Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnisschriften beschrieben wird.

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Gebundene KirchenRegiment kann nur eine erhaltende Richtung haben so muß es auch diese Lehrgemeinschaft erhalten. Daraus folgt, jedes KirchenRegiment müßte anerkennen daß Veränderungen in der Lehre nur von den Forschungen einzelner ausgehen dürften. | Diese Forschungen gelten nur wo sie in der Gemeine Raum fassen und so muß das KirchenRegiment Lehrfreiheit erlauben. Die Evangelische Kirche ist aus der freien Wirksamkeit der Einzelnen entstanden, und diese muß das KirchenRegiment beschützen, denn nur durch das Motiv des Anfangs kann ein Faktum bestehen. Die zweite Aufgabe ist die, die Einheit der Kirche zu bewahren. Es ist also die Hauptaufgabe, beides zu vereinen und dies ist sehr schwer, daher viel Schwanken. Wenn den Einwirkungen der Einzelnen Einhalt gethan wird so geschieht es aus keinem anderen Grunde als nur die bedrohte Selbigkeit der Kirche zu erhalten. Wenn man dagegen behauptet daß für diese nichts positives geschehen dürfe so geschieht dies nur um die Freiheit des Einzelnen zu erhalten. Zu s a t z. Die Einheit der Kirche muß festgehalten werden in der Selbigkeit der Principien des Ursprungs, nicht in der Einheit der Lehre. Das letzte ist ganz zu verwerfen. Die Einheit ist das Princip der Lehre aus der Schrift zu deduciren, jeder der eine Lehre vorträgt und sie aus der Schrift klar machen kann ist ein Evangelischer Lehrer und in seiner Forschung nicht zu hemmen. Je mehr der Zustand der Kirche ein bewegter ist desto schwieriger ist die Lösung der Aufgabe und leicht verliert man den Muth da das KirchenRegiment immer bei einer Parthei anstößt, und es gehört eine große Uebersicht und Klarheit zur Lösung. In dem folgenden ist die Rede von den Wirkungen des KirchenRegiments in den Relationen der Kirche zum Staat etc. etc.

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Z u s a t z . Es gibt Gegenden wo die Evangelische Kirche ganz frei von dem Staate ist und andere wo sie ganz von ihm verwaltet wird, indem das Oberhaupt des Staates auch das der Kirche ist. | Dies ist der Fall nicht bloß wo die Fürsten Evangelische Christen sind sondern auch wo sie Nichtevangelisch sind. Der erste Fall ist in Amerika und England und endlich da wo die Kirche von dem Staat ganz ignorirt wird. Hier erhällt sie aber keine Unterstützung vom Staat sondern muß sich ganz allein erhalten. Wo die Kirche getrennt ist sind alle zufrieden, wo sie mit dem Staate gebunden ist, da sind die Meinungen getheilt. 9 zweite] 2

17–19 Z u sa t z … Lehre.] daneben am Rand PNBS

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Dies scheint zu zeigen daß es in dem Wesen der Evangelischen Kirche liegt unabhängig vom Staat zu sein. Der Zustand der Evangelischen Kirche in Portugal etc. wo der Staat sie gar nicht beachtet, duldend übersieht, ist nicht vollkommen. In den NordAmerikanischen Freistaaten ist man sehr mit der Trennung zufrieden, wir nicht, denn wir sehen sie dadurch vor einer Menge von Bildungsmitteln die nur die Verbindung mit dem Staate gibt. Wo eine Verbindung mit dem Staate da ist[,] da liegt allmählich wenn das Oberhaupt Katholik ist ein Widersinn darin daß das KirchenRegiment soll ausgeübt werden von einem der der Kirche nicht angehört. Wo der Fürst Evangelisch ist so fragt sich gleich, ist er wesentlich zu der Evangelischen Kirche gehörend so daß er nicht kann katholisch werden, wie in Schweden oder kann er, was einen großen Unterschied macht, übertreten. Wenn aber auch diese Furcht überflüßig ist so entsteht doch die Besorgniß es könnte das KirchenRegiment für das bürgerliche Regiment und umgekehrt benutzt werden. Dies muß stören. Auf der anderen Seite ist wahr daß gerade der Punkt der in Amerika fehlt, uns gesichert wird und daher die verschiedenen Meinungen die die Sache so stellen daß man sagen muß | es läßt sich keine Theorie die allgemein anerkannt wird wieder aufstellen.

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325. Hier wird die Aufgabe des KirchenRegimentes fixirt als die dafür zu sorgen, daß die Kirche nicht schwach sei und dem Staate diene wie es zu besorgen ist in Staaten wo das KirchenRegiment vom Staatsoberhaupt geführt wird und 2) daß sie durch die Trennung vom Staat nicht kraftlos werde. 29/3 32. Man hat oft gesagt daß gewisse Formen des Lehrbegriffs zu gewissen Formen des KirchenRegimentes und Staats sich hinneigen. Dies ist aber nicht richtig. Man hat früher gesagt daß die Reformierte Lehre sich zur Republikanischen Kirchen- und Staatsform, die Lutherische zur Monarchischen Form hinneigt. Aber dies ist unbegründet. In sofern aber die Staatsform auf den Geist der Einwohner wirkt so kann man eher sagen daß die Kirchen- und Staatsform zusammenhängen, indessen ist dies nicht allgemein aufzustellen, da ja es nicht in der Natur der Sache liegt daß eine Kirche sich auf einen Staat beschränke. 15–16 und umgekehrt] uu 3 Vgl. dazu Schleiermachers Ausführungen in der Kirchlichen Geographie und Statistik (Vorlesung 1833/34), KGA II/16, S. 506,12f 12 Vgl. dazu Schleiermachers Ausführungen in der Kirchlichen Geographie und Statistik (Vorlesung 1827), KGA II/16, S. 414,3–13

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Eine andere Frage ist ob die beiden Extreme richtig gestellt sind daß eine kraftlose Unabhängigkeit vom Staat und eine glänzende Dienstbarkeit die Extreme bilden. Denken wir uns eine Unabhängigkeit der Kirche vom Staat ohne Nachtheil für die Entwiklung der Kirche so wäre dies nicht mehr das Extrem. Wenn der Staat dem Geiste in der Kirche traute überall und besonders wo es auf das Urtheil einzelner über einzelne ankäme, ohne daß die Kirche diente so wäre dies kein Extrem. Wenn wir die Epitheta umkehren und eine angesehene Unabhängigkeit und eine kraftlose Dienstbarkeit aufstellen so ist das letzte gar nicht in Anschlag zu bringen, das erste wäre das wonach man streben müßte, aber aus der Geschichte würde sich zeigen daß davon nicht ausgegangen werden kann da es etwas voraussetzt was in dem Staate den Grund hat und Transaktionen zwischen Staat und Kirche verlangt. | 326.

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Hier lassen sich zwei Fälle denken daß es sich mit der Organisation die das Wissen zum Gegenstand hat ebenso verhalte wie mit der Kirche, sie kann frei und abhängig vom Staate stehen. Beides steht eigentlich nicht in gleichem Verhältniß zur Aufgabe des Staates. Dieser kann nicht ruhig sein, wenn seine Bürger nichts wissen und wenn die Bildung nicht bestimmten Formen unterworfen. Freilich kann ihm der Mangel der religiösen Gesinnung nicht gleichgültig sein. Aber dieses ist ein rein innerliches und kann sich eher ohne anderes Organ als das häusliche Leben entwikeln. Wir haben in unserem Europäischen Staatengebiet keinen Staat der sich nicht um den Organismus des Wissens bekümmere. Am wenigsten ist es in England der Fall, wo diese Institute mehr von der Kirche ausgehen. Wenn aber die dort geltenden Maximen sich mehr entwikelt haben werden, daß der Staat sich von der herrschenden Kirche mehr löset, so wird vielleicht die Organisation des Wissens sich unmittelbar an den Staat anschließen. Gesetzt es ließe sich eine solche Unabhängigkeit denken, würde nicht die Aufgabe dieselbe sein die im Paragraphen aufgestellt ist. Es steht fest, daß es zum Wesen der Evangelischen Kirche [gehört] daß sich alle ihre Maximen immer auf das fortgefertigte Verständnis der Schrift gründen. Nun kann man sagen, gesetzt es wäre einmal dieses Verständnis so festgestellt daß nicht mehr eine theologische Bildung hiefür nöthig ist, so ist zu sagen daß wenn auch andere Dinge diese Bildung nicht verlangten, es dennoch gegen den Geist der Evangelischen Kirche sei, solchen Zustand fixiren zu wollen, wie kann eine Generation sich 11 daß] daß man

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herausnehmen zu fixiren daß kein Wissen mehr nöthig ist. Auch muß zum KirchenDienst und KirchenRegiment immer Wissen da sein. | Gesetzt der Staat sagte im Vertrauen auf den Wohlstand und den Wissensdrang seiner Bürger, die Organisation des Wissens kann ich ihr selbst überlassen so existirte diese ganz frei von dem Staat, und könnte auch frei von der Kirche sein und so wären hier dieselben Extreme wie früher möglich. Nur ist der Zustand allgemein, daß die Organisation des Wissens in Verbindung mit dem Staate steht und darum ist die Aufgabe so und nicht anders gemacht. Es läßt sich der Geschichte nach denken eine Einmischung jener Organisation die die Kirche abhängig macht. Denken wir ein bestimmtes System von speculativer Philosophie anfangend und alle Gebiete durchdringend, zu allgemeiner Herrschaft gelangen so muß der Lehrbegriff in einer Beziehung dazu stehen. Ist die Kirche frei so muß man sagen es ist jene Herrschaft zufällig und vergänglich. Dies liegt in der Natur der Sprache und in der Abhängigkeit des tiefsten und Innerlichsten von der Sprache. Da muß also die Kirche neutral denken. Aber wir können uns denken daß jene Organisation die Bildung des Lehrbegriffs und Wissens bestimmen wollte, und dies wäre eben so sehr Dienstbarkeit als wenn die Kirche dem Staate gehorchte. Da kann die Neigung entstehen sich gleich unabhängig zu erhalten von dieser Organisation und vom Staat. Denken wir die Kirche frei vom Staat so ist immer noch die Frage, erkennt der Staat die Kirche als moralische Person an? Ja, so schützt der Staat sie in ihren Rechten wie jeden Einzelnen. Nein? so muß sie sich selber schützen. Hier würde die Kirche nie eine eigene bürgerliche Verfassung bilden. Wenn sie aber ganz frei ist von der Gesetzlichen Organisation so muß sie eine selbst bilden und sagen[:] | Aus jener Organisation kommen Antikirchliche Elemente und wir können ihr daher unsere Jugend nicht übergeben. In einem katholischen Lande wird die Volksbildung wesentlich katholisch sein, und daraus würde folgen, daß die Evangelischen Gemeinen in diesem Lande die Jugend dieser Organisation nicht übergeben können. Da kann die Nothwendigkeit entstehen daß eine Kirche ihren Wissenschaftsapparat sich allein construirt. Je mehr die Wissenschaftliche Organisation vom Staate frei ist, desto geringer ist die Gefahr, nur da tritt sie ein wo eine Richtung allgemein herrscht. Offenbar muß man die Bildung daher so einrichten daß sie gegen alle dergleichen Fälle in den Staat und die Wissenschaftliche Organisation eintreten kann. Eine solche eigene Organisation zu erhalten gehören große Hülfsmittel und daraus wird folgen daß wo es nicht durchaus nöthig ist, die Sache unterbleibt, doch muß sie in der Theorie aufgestellt werden, besonders darum daß die Kirche gegen drohende Gefahren immer wach bleibe.

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Hier ist die Rede von dem Verhältniß der Evangelischen PKircheS zu anderen Kirchen, und 2) der Evangelischen Landeskirchen gegeneinander. Hier ist nun die Aufgabe nur behandelt in Beziehung auf die verschiedenen Ganzen welche zusammen die Evangelische Kirche bilden. Da ist nun der Satz an die Spitze gestellt, daß diese Theilung beruht theils auf äußeren Verhältnissen theils [auf] Innern Differenzen welche beide als ve r än d e r li c h gesetzt werden müssen. Ist die Trennung und ihre Aufhebung eine Aufgabe des KirchenRegiments oder geht sie dieses gar nichts an? Es gibt eine Innere Einheit der Evangelischen Kirche, die auf der Einheit des Princips beruht und es ist daher der natürliche Zustand daß sie äußerlich Eine ist, daß der | Innern Einheit ein Äußeres entspricht. Ein Äußeres entspricht jener dagegen in der vollkommenen freien Communikation, die nur durch äußere Umstände gehindert ist. Wenn es Kirchen gibt die andere Lehren haben so ist dies eine innere Differenz, wenn aber die Einheit der Principien besteht so wäre es Unrecht die Communikation zu hemmen und in der That ist dies auch immer dagewesen. Aber es kann sich gedacht werden daß die äußere Differenz ganz aufhört. So lange man sagt, es liegt in dem Wesen der Evangelischen Kirche daß das KirchenRegiment mit dem Staatsregiment verbunden ist, so ist dies nicht möglich, aber wir haben jenes geläugnet und den Zustand der Verbindung zwischen KirchenRegiment und bürgerlichem Regiment als zufällig dargestellt, so kann also die Evangelische Kirche eine im ganzen Staate sein, und es entsteht die Aufgabe, die Möglichkeit dazu in die Handlungsweise des KirchenRegimentes hineinzulegen. In einem gewissen Grade ist zwischen Kirchen die aneinander gränzen ein positiver Zusammenhang so wie das eine KirchenRegiment die Prüfungen des anderen halten läßt. Das Maximum ist nur dann, wenn es keine einzelnen KirchenRegimente, sondern nur ein gemeinsames gäbe dem der Einzelne untergeordnet wäre. Dies ist die letzte Aufgabe die in dem Gebundenen KirchenRegiment möglich ist. Man kann nicht behaupten daß es eine nothwendige Aufgabe wäre, sondern die Nothwendigkeit ist nur die daß die Gränzen der einzelnen Kirchen veränderlich sind und daß kein partielles KirchenRegiment absolut mit Willen und für immer alle anderen ausschließt. Der andere Theil der Aufgabe daß es Beziehungen der Evangelischen Kirche zu anderen unevangelischen Kirchen gibt, ist hier nicht behandelt. Dies hat seinen Grund darin daß diese Encyklopädie von der Voraussetzung ausgeht, daß die beiden Theile der Evangelischen 2 PKircheS] oder PKirchenS

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Kirche als in der Vereinigung begriffen gedacht werden, es bliebe also nur noch das Verhältniß zur Katholischen Kirche übrig. Aber hier kann es eine bestimmte | Thätigkeit des KirchenRegimentes nicht geben, weder eine anknüpfende noch eine abwehrende. Es ist hier nur ein Verhältniß von Einzelnen zu Einzelnen oder es ist das Verhältniß beider Kirchen vermittelt durch die Gesetze des Staates. Es ist also eigentlich nur die Aufgabe, die einzelnen Glieder so zu constituiren daß sie durch Berührung mit PKatholikenS nicht gefährdet werden. Der einzige Punkt der hieher gehört sind die gemischten Ehen, dies gehört aber auch unter den Staat. Die Katholische Kirche hat nie das Evangelische KirchenRegiment anerkannt und daher können beide Kirchen hierüber nichts feststellen, eine Feststellung ist nur durch den Staat vermittelt möglich.

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Hier ist die Rede von dem freien Einfluß Einzelner auf das Ganze oder dem ungebundenen KirchenRegiment. Wir haben hier gleich einen Punkt wo wir diesen Gegenstand an das vorige anknüpfen. Der Ort ist entstanden durch die Betrachtung der Art wie die Evangelische Kirche entstand, i. e. durch den freien Einfluß Einzelner auf das Ganze. Dieses Ganze war die Katholische Kirche. Nun fragt sich also, wenn wir oben sagten, es gibt keine Aufgabe des Evangelischen Gebundenen KirchenRegimentes gegen das Katholische, so stellt sich die Sache so daß wir fragen müssen, ist durch die Trennung aller Einfluß auf die Katholische Kirche aufgehoben oder nicht? Nein. Aber für die Ausführung kann man am wenigsten eine bestimmte Formel aufstellen. Wenn man verlangte die Evangelische Kirche solle sich ganz isoliren von der Katholischen und namentlich alles Proselytenmachen aufgeben so ist dies zu viel, man würde den Eifer beschränken auf bestimmte Gränzen, so ist sie aber nicht entstanden und so kann sie nicht bestehen. Wir dürfen die Evangelische Kirche nie in einen bestimmten Raum einschließen. Es gibt hier zwei Ansichten 1) daß die Katholische Kirche nur Corruptio ist 2) daß wenn diese Corruption verschwände dennoch unserem Individuellen Charakter | ein anderer ebenso individueller entgegenträte indem hier das symbolische z. B. dann [dem] logischen bei uns sich gegenüberstellte. Von der ersten Ansicht aus versteht es sich von selbst daß man auf die katholische 8 PKatholikenS] oder PKatholischemS 24 nicht?] nicht. 21 Vgl. KD² § 41 Erl. (KGA I/6, S. 341,22–34)

23 Einfluß] Einfluß der Einfluß

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Kirche wirken muß. Von der anderen Seite aus scheint es anders, denn es scheint das Bestehen des individuellen Charakters der Evangelischen Kirche fordern zu müssen daß ihm ein anderer ebenso individueller entgegenstünde, denn sonst würde man nicht mehr das eigentlich Protestantische von dem allgemein christlichen unterscheiden können. Es ist aber in der Evangelischen Kirche mehr oder minder eine Annäherung an den Katholicismus möglich. Diese muß aufgehoben werden, und so ist schon eine Einwirkung auf die Katholische Kirche da. Dies zum Uebergang. Wir betrachten das Ungebundene KirchenRegiment innerhalb der Evangelischen Kirche. Es besteht in zwei Funktionen, des Akademischen Theologen und kirchlichen Schriftstellers, eine andere Form gibt es nicht. Die letztere ist die unmittelbarste, denn der kirchliche Schriftsteller setzt sich die Kirche als Publikum, der Akademische Lehrer wirkt nur mittelbar, er wirkt auf die künftigen Leiter und so ist seine [Wirkung] eine Thätigkeit auf das Ganze. Die letzte Form beruht auf einem Organismus, dieser ist nicht nothwendig, aber er ist gegeben. Es läßt sich sehr leicht die Möglichkeit setzen, daß ein solcher Organismus nicht existirt, sondern daß neben den allgemeinen Bildungsanstalten die theologischen Bildungsanstalten privatisirt sind. Vorausgesetzt aber die Nothwendigkeit der Theologie so muß es doch immer eine Tradition geben, die Form diese zu überliefern in Theologischen Fakultäten ist zufällig, die Tradition selbst ist nothwendig und dieses ist die eine Thätigkeit des Ungebundenen KirchenRegimentes. | 329. Offenbar wenn wir den Begriff des kirchlichen Schriftstellers so fassen wie er hier gemeint ist so ist der Wissenschaftliche Geist nothwendig, selbst wenn der Gegenstand die Praxis ist. Der Schriftsteller muß sich immer über den bloßen Kirchendienst erheben, und fällt so in die Praktische Theologie und diese ist doch immer ein Produkt der beiden Funktionen der Theologie. Bei einem Akademischen Theologen darf das kirchliche Interesse nicht fehlen sonst wird die Einwirkung nicht theologisch. Wenn der Wissenschaftliche Geist aber fehlt so kann einer nur Träger der Tradition sein, selbstständig kann er aber nicht wirken. 330. In diesem Sinne stellt dieser Paragraph die Aufgabe für den Akademischen Theologen auf, nicht für eine einzelne theologische Disciplin sondern für die ganze Richtung. Die Aufgabe ist, den Wissenschaftli-

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chen Geist zu wecken ohne das kirchliche Interesse zu schwächen. Die umgekehrte Aufgabe gehört hier nicht her, sondern fällt in den Kirchendienst. So wie man dies verlangt verfehlt man den Begriff, es ist dann ein Uebergewicht des Ascetischen da und dies gehört in diese Wirksamkeit nicht. Wenn wir aber die Aufgabe so stellten, den wissenschaftlichen Geist auf die theologischen Gegenstände zu richten, die Belebung des religiösen Interesses gehört gar nicht hinein[,] so ist dies das andere Extrem und die richtige Wirksamkeit des Akademischen wird aufgehoben, denn das erste kann geschehen bei dem größten Indifferentism. Zwischen diese beiden Extreme fällt die Methode und so haben wir hier eine Formel wie früher. Es kann in der Wirksamkeit der Einzelnen bald der eine bald der andere Faktor überwiegen nur müssen sie immer von den Extremen entfernt bleiben. |

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Dieser Paragraph behandelt die Aufgabe in Beziehung auf den Geschichtlichen Verlauf der Tradition und verlangt 1) daß das Vergangene festgehalten werde und 2) die Wissenschaft selbst weiter gefördert werde. Diese beiden Elemente gehören nothwendig zum geschichtlichen Verlauf, denn ohne Fortschritt und ebenso ohne Zusammenhang mit dem Früheren ist ein solcher nicht möglich. Ein absolutes Gleichgewicht beider ist nicht möglich, aber es muß die völlige Trennung und der Widerspruch vermieden werden, so daß man weder das Gegebene als das Maximum und Non plus ultra des Erreichbaren hällt und jede Aenderung für einen Rückschritt betrachtet, noch daß man das Alte verachtet und wegwirft und revolutionair ganz etwas Neues aufstellen will. Das Verhältniß beider wird in der Theologie [dadurch] erleichtert daß sie beruht auf Wissenschaftlicher Kritik, diese ist immer Neu und geht immer auf das Alte zurück. 30/3 32.

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332. Die schriftstellerische Thätigkeit ist die unmittelbare Einwirkung auf das Ganze. Es kann diese Thätigkeit in zwei Beziehungen Gegenstand einer Theorie sein. 1) insofern Schriften immer Kunstwerke sind, 2) insofern das Bekanntmachen von Schriften eine That ist. Was das erste betrifft so ist dies gar nicht aufgestellt wiewohl man sagen könnte kirchliche Schriften bilden als kirchliche eine besondere Gattung wenn sie gleich ihrem speciellen Inhalt nach in andere Fächer fallen, wie kirchliche Poesie, und Produktionen, die sich auf Thatsachen in der 11 kann] kann sich

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Kirche beziehen. Dies sind sehr verschiedene Gattungen und können nicht eine Kunstlehre haben. In wie fern die schriftstellerische Thätigkeit unter den Begriff des KirchenRegimentes gebracht ist haben wir es nicht zu thun mit den Schriften als Kunstwerken, sondern sofern sie That sind und ein bestimmter Erfolg beabsichtigt ist. Der Gegenstand ist hier | getheilt, 332. ist von der polemisirenden, 333 von der didaktischen Thätigkeit die Rede. Ein jeder Moment der Zeit hat einen Charakter der aus zwei Faktoren besteht, einem positiven und einem negativen. Das erste ist das Produkt des Christenthums, das zweite das ihm hemmend entgegentretende. Wenn also die Kirche gefördert werden soll so kann es geschehen entweder indem man das Negative entfernt (Polemik) oder indem man eine neue Wirkung des christlichen Princips einleitet (Didaktik). Die Polemik kann sich äußern gegen Antireligiöses, Antichristliches und Antievangelisches. Die Formel der Methode ist in zwei Punkte getheilt indem 1) Rüksicht genommen ist auf den Zusammenhang des falschen mit dem Guten, 2) das Falsche und Verderbliche ist in mehrern Mitgliedern der Kirche, es hängt zusammen mit ihrem gemeinsamen und persönlichen Eigenthümlichen und da ist die Aufgabe gestellt, diesem Eigenthümlichen das der Träger des Schädlichen ist, seine richtige Stellung zu geben i. e. es in eine andere Richtung zu leiten. Hier kommt es darauf an die Voraussetzung der Formel zu rechtfertigen. 1) daß das Böse nur am Guten ist. Inwiefern das Gute in Gedanken aufgefaßt ist ist es mehr. Es ist gesagt der allgemeine Satz daß aller Irrthum nur an der Wahrheit ist sei die Bedingung allen Streites. Diese Sache ist wenn wir sie dialektisch betrachten leicht zu zeigen. Wenn man mit dem Gegner nicht auf ein gemeinsames zurückgehen könnte so wäre kein Streit möglich, es kann keiner eine Identität des Denkens hervorbringen wenn man sich nicht auf eine frühere Identität beziehen kann. Dieses Gemeinsame mag so weit zurückliegen als es wolle so ist es doch das erste, woran man anknüpfen kann. Dieses Gemeinsame muß in dem christlichen Bewußtsein liegen sonst könnte kein Streit sein über das christlich Wahre. | Wenn einer sagt, meine Meinung ist christlich, deine ist unchristlich, so hört hier der Streit auf und es tritt die Apologetik ein, sobald man einen theologischen Streit führen will, muß ein gemeinsames da sein. Wenn als die eigentliche Aufgabe die Methode aufgestellt wird, dieses Wahre anzuerkennen so wird dem Streit ein anderer Charakter gegeben als den die rhetorische Polemik hat. Eine solche Consequenzmacherei würde den Zwiespalt vergrößern. 8 der Zeit] auf den Rand hinausgeschrieben 39 solche] solche eine

10 zweite] 2,

33 über] unter

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Was den zweiten Punkt betrifft so ist der das schwierigere. Wenn wir betrachten wie sich das Christenthum in dem Einzelnen gestaltet so finden wir daß gewisse Irrthümer mit gewissen Geistesrichtungen zusammenhängen, so daß die einen nicht leicht in andere Irrthümer verfallen. Die Aufgabe ist nun, diese Eigenthümlichkeiten zu zeigen, denn das Beieinanderbestehen aller Eigenthümlichkeiten ist nothwendig. Man muß nur die falsche Richtung des Eigenthümlichen entfernen und das Eigenthümliche in die Regionen wenden wo man nicht in diese Irrthümer gelangen kann, wo sie vielmehr nützlich und heilsam sind. Wenn man nun die Geschichte allen theologischen Streites betrachtet vom ersten Anfang der Reformation an, in PdenS PAnfeindungenS welche die Veranlassung zu der Entstehung der Evangelischen Kirche gaben so werden wir sagen, alles Scharfe Beißende Hassende ist aus der entgegengesetzten Methode entstanden. Von einer verderblichen Nachgiebigkeit ist hier nicht die Rede. Jeder muß fest stehen in dem Was er für Wahr hällt und in dem Streit gegen das Falsche der Irenischen Methode folgen.

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N e u e s ist nicht das was noch nicht gedacht ist, neu entdecktes etc. sondern auch das was in Beziehung auf den gegenwärtigen Moment Neu ist, was noch nicht zu diesem in Beziehung gestanden hat und da ist diese Beziehung das Neue. Auch hier sind zwei Punkte zu berücksichtigen, der | Gegensatz zwischen Neuem und Altem und 2) der Zusammenhang zwischen beiden. Alles was geschehen kann um auf diesem Wege die öffentliche Gedankenmittheilung [die] man für nöthig hält zur Anerkennung zu bringen kann nur sein, Neues unter der Form des Gegensatzes oder des Zusammenhangs. Es muß aber beides sein. Der Gegensatz läßt sich nicht darstellen wenn nicht das Neue und das Alte kann in Verbindung gebracht werden, und der Zusammenhang ist nicht da wenn nicht eine Differenz da ist. Vergleichen wir damit das was wirklich geschieht so finden wir häufige Fehler, hier sowohl wie 332. Denn wenn der Gegensatz zwischen Neuem und Altem auf eine übertriebene Weise dargestellt wird so wird eine Polemik erregt und diese muß die Wirksamkeit hemmen, ebenso wenn man die Differenz verdekt, eine Unwahrheit entsteht, die hier immer großen Nachtheil hat. In der christlichen Kirche gibt es keine andere Seelenleitung von dem Standpunkt der Evangelischen Kirche als durch die Ueberzeugung, da muß also auch die Wahrheit immer ganz ins Licht treten. 11–12 PAnfeindungenS] oder PAnsichtenS

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Hier wird der verschiedene Grad der Oeffentlichkeit in der Mittheilung betrachtet. Daß hier sehr häufig gefehlt wird, ist eine Thatsache. Wenn man behauptet es muß für verschiedene Wirkungen mehre Grade der Oeffentlichkeit geben, so scheint dies die Einheit der Kirche aufzuheben mehr als man in unserer Kirche anwendbar finden könnte. In der katholischen Kirche ist es anders da ist ein bestimmter Unterschied zwischen Priestern und Laien, da wird gesagt dies können die Priester Lesen und dies die Laien und mit der Bibel macht man gleich den Anfang. Der katholische Schriftsteller hat hiemit mit dieser Frage nicht zu thun, er schreibt und die Behörde bestimmt den Kreis der Leser. Wir läugnen jenen Unterschied ganz als ob es eine bestimmte Qualität der Priester gäbe, dann setzen wir | jeden Christen in Berührung mit der Bibel und geben sie als Maaßstab des Christlichen. Wir haben daher kein Recht etwas was christlich sein will ihm zu verschließen, da er ja den Maaßstab in der Bibel hat. Aber nun ist dies Verständniß nicht allgemein. Die Mittheilung kann aber nur denen nützen die es verstehen. Den anderen muß es schaden, denn sie haben nicht das Bewußtsein inne, daß sie es nicht verstehen, überall wo etwas nicht verstanden ist ist die Meinung daß es verstanden ist möglich. Von selbst verschließt sich keinem die Mittheilung wenn sie nicht besondere Anstalten macht. Kommt eine Mittheilung an solche die sie nicht verstehen, so entsteht ein Nachtheil, es entsteht also die Aufgabe die Mittheilung so einzurichten daß die welche die Sache nicht verstehen, auch die Darstellung nicht mögen. Dafür hat man empfohlen eine besondere Sprache. Diese Formel erleidet verschiedene Auslegungen. Man hat gewöhnlich dafür für Theologen die lateinische Sprache empfohlen. Aber dies ist den heutigen Verhältnissen nicht mehr angemessen. 1) eine gestorbene Sprache kann nicht mehr alle Modificationen des Denkens auf eine ihr naturgemäße Weise in sich aufnehmen und so kommt entweder fremdartiges und dunkles hinein (wenn es keinen geltenden Sprachgebrauch für solche Ausdrücke gibt) oder es fällt weg. Seit der Entstehung des kirchlichen Latein sind in der Kirche solche Fortschritte im Denken gemacht, daß jenes sie nicht faßt und das was heute gesagt wird ist dem klassischen wie dem kirchlichen Latein fremd. Daraus entstehen so viele Schwierigkeiten daß der | der sie einsähe wenn ein Gesetz wäre latein zu schreiben, gar nicht schriebe, da auch unter den Gelehrten Mißdeutungen möglich sind. 32 so] su

34 fällt] fällt es

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Es gibt aber auch in der deutschen Sprache verschiedenen Styl, und wenn gescheute Laien ein theologisches Buch mit einem wissenschaftlichen Styl voll fremder Terminologie finden, so werden sie das Buch liegen lassen. Es gibt wieder ein entgegengesetztes ein großes Gebiet schriftstellerischer Thätigkeit für das Volk, wo die Gelehrten nur Bekanntes finden würden, daher muß man es gleich der Sprache ansehen daß sie für das Volk sind. Ein zweiter Grund für den Zusatz ist, daß das lateinisch Schreiben nichts hilft, weil in der Muttersprache nachher die Relationen gegeben werden. Freilich ist dann der Schriftsteller nicht mehr verantwortlich, aber es kommt ihm ja nicht hierauf an sondern nur auf den Vortheil der Kirche. Da also dies nicht hilft, 1) Äußere Autorität bei der Evangelischen Kirche nicht möglich ist, so muß jeder den strengsten Regeln der Wahrheit folgen. Wenn auch der Staat einträte, so können wir dies nicht billigen, da dies ein Zustand der Dienstbarkeit der Kirche ist.

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Schlußbetrachtungen. 335.

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Wenn wir sagen es ist ein wichtiger Punkt in dem KirchenRegiment zu bestimmen was für Qualificationen zur Ausübung der leitenden Thätigkeit gehören und es muß in jedem Complex von Gemeinen eine Regel geben so kann man meinen dies sei doch das was jedem zugemuthet werden muß. Ja! aber nicht aus der Praktischen Theologie sondern aus den anderen Disciplinen, in der Praktischen Theologie gibt es einen solchen Unterschied nicht. In der Philosophischen Theologie war es nicht möglich, weil es sich nur um | Principien behandelte, hier, weil es sich nur um die unmittelbare Anwendung handelt. Wenn man sagen wollte, was in die Theorie des KirchenRegimentes gehört, das kann nicht einem jeden zugemuthet werden, so würde dies unevangelisch sein, und wir würden einen bestimmten Unterschied zwischen höherm und niederm Clerus haben, und im voraus könnte bestimmt werden, dieses Subject muß im Kirchendienst bleiben und jenes in das KirchenRegiment übergehen. So getrennte Qualificationen gibt es nicht, was die beiden unterscheidet ist eine bestimmte Virtuosität in der Ausübung, und dies kommt durch die Erfahrung und 2 Laien] Laien,

13 Äußere] Außere

13 Der „1)“ folgt keine „2)“.

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Uebung. In der Evangelischen Kirche wird gewöhnlich beides verbunden oder wenigstens das KirchenRegiment aus denen constituirt die früher den Kirchendienst geübt. 336. 5

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Hier wird das Maximum der Vollkommenheit aufgestellt in drei Punkten 1) Stellen der Aufgaben, dies ist die Theorie, 2) die Aufstellung der Methoden, dies ist der Uebergang zur Ausübung und 3) die Ausübung ist die Praxis selbst. Für diese drei Punkte werden die Bedingungen aufgestellt. Das Stellen der Aufgaben beruht auf der Ansicht gegen das Gute und Schlechte und was dieses sei das zeigt die Philosophische Theologie. Das Stellen der Methode beruht auf der Geschichte. Es beruht hier alles auf der Menschenkenntniß im ganzen Umfange des Wortes, Kenntniß des Einzelnen, von dem Charakter einer Gesammtheit, wie wo es auf das Verhältniß von Staat und Kirche ankommt, hier ist eine Kenntniß von dem Zustande der Staatsverwaltung, der zeitlichen Maximen nöthig etc. Nun ist aber nicht der Ausdruck MenschenKenntniß gewählt, sondern die Elemente, worauf sie beruht 1) das Leben in der Gegenwart, daß man | sich nach allen Seiten hin mit der Gegenwart beschäftigt und zwar so daß man sie bezieht auf das was man wirken will und daß man in der Erfahrung nachsieht, was die Methoden in diesen und jenen Fällen schon wirken. Hieraus sieht man daß hier alles auf Erfahrung und Uebung ankommt, denn selbst die Philosophische Theologie wächst jedem von Neuem zu. Von dem dritten Punkt wird gesagt es käme hier auf bestimmte Naturanlagen und allgemeine Bildung an. Hier liegt das Princip der Differenz größtentheils in der Vorbereitung. Die beiden folgenden Paragraphen haben es mit allgemeinen Betrachtungen über die praktische Theologie zu thun, 337 mit dem Zustande derselben als Disciplin. 337.

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Wie die praktische Theologie das letzte ist im Studio des Einzelnen so ist sie das letzte in der Entwicklung der Theologie, i. e. sie ist später als die anderen Disciplinen zu einer disciplinarischen Behandlung erlangt. Die philosophische Theologie ist auch als eine Disciplin nicht durchgearbeitet. Wenn wir nun sagen die praktische Theologie besteht doch aber als Disciplin. Aber nein, die richtige Stellung der Aufgaben beruht ja auf der philosophischen Theologie. Wir haben gesehen daß 18 Der „1)“ folgt keine „2)“.

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z. B. im Kirchendienst mehre Elemente im Gange und disciplinarisch behandelt waren aber das allgemeine fehlt und wenn man die praktische Theologie als eine betrachtet so ist sie noch nicht da. 338.

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Dieser Paragraph geht auf die Gränzen zurück in die wir die praktische Theologie eingeschlossen, daß wir nämlich nur für die Evangelische und nicht für die Katholische Kirche eine Praktische Theologie aufgestellt. Hierauf kommt der Paragraph zurück so aber daß er auf die Wandelbarkeit des Gegensatzes aufmerksam macht. Es ist | dies ein Punkt über den die Ansichten so different sind, daß es vergeblich wäre etwas allgemein aufzustellen. Wir finden die Ansicht, der Gegensatz stumpfe sich ab, und die entgegengesetzte, er müsse sich noch schärfen, indem latitirendes Katholisches aus der Evangelischen Kirche entfernt werden müsse. Beides kann richtig sein in Beziehung auf verschiedene Regionen. Im Dogma entwickelt sich der Gegensatz noch, denn im Streit fällt oft der Vorwurf daß dies und jenes von einem Evangelischen Theologen aufgestellte katholisire. In Beziehung auf die realen Verhältnisse beider Kirchen gegen einander kann man sagen der Gegensatz verringere sich, so wie man z. B. es als Thatsache aufstellen könnte daß die Gemischten Ehen sich vermehren, so wäre dies ein Zeugniß von der Abstumpfung des Gegensatzes in den Gemüthern der Einzelnen. Ebenso ist eine größere literarische Gemeinschaft und eine Annäherung um Vollkommenheiten von einander aufzunehmen. Durch diesen verschiedenen Stand wird die Aufgabe sehr Complicirt. Daß dies die höchste Aufgabe des KirchenRegimentes ist, ist deutlich wenn man sich die Stätigkeit des Geschichtlichen Verlaufs vorhält, denn es muß Revolution entstehen, wenn die Leitung von der Nichtbeachtung des Standes dieses Gegensatzes ausgeht. Der Gegensatz kann und soll ja einmal aufhören, wenn die Kirche seinen Stand nicht kennt so kann nicht kunstgemäß sondern nur verworren für die Aufhebung desselben gewirkt werden. Wenn sie also hier am meisten darauf geführt werden, daß die Theorie der Leitung PdieS Thätigkeit sehr schwach ist so wünsche ich daß sie einst Nachsicht mit dem schwachen Zustand der Kirche haben, dann aber ihn zu verändern suchen, besonders durch eine sanftmüthige Behandlung der innern Gegensätze, denn so allein kann die Zersplitterung der Kräfte verhindert werden. 31/3 32.

27 vorhält] vorhalten

33 PdieS] oder PderS

34 Nachsicht mit] mit Nachsicht

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Verzeichnisse und Register

Abkürzungen Anm. Apg Aufl.

Anmerkung Die Apostelgeschichte des Lukas Auflage

Bd. Bde. bes.

Band Bände besonders

cet.

et cetera

D., Dr. ders. d. h. d. i. Dtn

Doctor, Doktor derselbe das heißt das ist (das heißt) Deuteronomium (5. Buch Mose)

ed., edd. Erl.

edidit, ediderunt (hg. v.) Erläuterung (zu den Paragraphen-Leitsätzen in KD2)

f

und der/die folgende

Gal Gen

Der Brief des Paulus an die Galater Genesis (1. Buch Mose)

Hebr hg.

Der Brief an die Hebräer herausgegeben

i. e.

id est (das heißt)

Joh

Das Evangelium nach Johannes

KD1 KD2 KGA Kj 1 Kor

Schleiermacher: Kurze Darstellung (1. Aufl. 1811) Schleiermacher: Kurze Darstellung (2. Aufl. 1830) Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe Konjekturvorschlag Der erste Brief des Paulus an die Korinther

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Verzeichnisse und Register

Lev Lk

Leviticus (3. Buch Mose) Das Evangelium nach Lukas

Mk Ms. Mt

Das Evangelium nach Markus Manuskript Das Evangelium nach Matthäus

Nr.

Nummer

Offb

Die Offenbarung des Johannes

p, pp 1 Petr 2 Petr Phil Prof.

perge, perge perge (und so weiter) Der erste Brief des Petrus Der zweite Brief des Petrus Der Brief des Paulus an die Philipper Professor

r Röm

recto (Vorderseite bei Blattangaben) Der Brief des Paulus an die Römer

S. s. SB

Seite siehe Schleiermachers Bibliothek (Meckenstock, Günter: Schleiermachers Bibliothek) Schleiermacher-Archiv, edd. Hermann Fischer u.a. sequens (und der/die folgende) Spalte Nachschrift Stolpe Sommersemester 1827 (vgl. Einleitung der Bandherausgeber, II. 1. b.) Schleiermacher: Sämmtliche Werke

SchlA seq. Sp. Stolpe SW TRE

Theologische Realenzyklopädie, edd. Gerhard Müller u. a.

u. u. a. übers. u. ö. u. s. f. u. s. w.

und unter anderem übersetzt und öfter und so fort und so weiter

v v.

verso (Rückseite bei Blattangaben) von

Editorische Zeichen | /

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Literatur Das Literaturverzeichnis führt die Druckschriften und Archivalien auf, die in den edierten Texten, den Apparaten und in der Einleitung der Bandherausgeber genannt sind. Dabei sind folgende Regeln zu beachten: 1. Verfasser- und Ortsnamen werden in einer heute üblichen Schreibweise angegeben. 2. Die Titelangabe erfolgt nicht in diplomatisch getreuer Wiedergabe der Titelblätter; ausführliche Titel können in einer sinnvollen Kurzfassung angeführt werden, die nicht als solche gekennzeichnet wird. Entsprechendes gilt für die Archivalien. 3. Werden zu einem Verfasser mehrere Titel genannt, so bestimmt sich deren Reihenfolge nach Gesamtausgaben, Teilsammlungen und Einzelwerken. Gesamtausgaben und Teilsammlungen werden chronologisch, Einzelwerke (unter Übergehung des Artikels) alphabetisch angeordnet. 4. Bei denjenigen Werken, die in Schleiermachers Bibliothek nachgewiesen sind, wird nach den bibliographischen Angaben in eckigen Klammern das Sigle „SB“ (vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek) mit anschließender Listennummer hinzugefügt. 5. Die im Band benutzten Archivalien werden im Anschluss an die Druckschriften als Anhang aufgeführt, geordnet nach Archiven und deren innerer Systematik.

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Abaelardus, Petrus: Scito te ipsum (Ethica), ed. Rainer M. Ilgner, CCM 190, Turnhout 2001 Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5, Leipzig 1774–1786 [SB 8] Adriaanse, Hendrik Johan: Der Herausgeber als Zuhörer. Ein Schleiermacher-Kollegheft von Ludwig Jonas, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, ed. Günter Me-

Literatur

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ckenstock in Verbindung mit J. Ringleben, TBT 51, Berlin/New York 1991, S. 103–124 [Anonym:] [Rezension von Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1811)], in: Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1811 (Nr. 171–173 vom 24. bis 26. Juni), Bd. 2, Leipzig/Halle 1811, Sp. 409–429 Anweisung für angehende Theologen zur Uebersicht ihres Studiums und zur Kenntniß der vorzüglich für sie bestimmten Bildungsanstalten und anderer academischer Einrichtungen auf der königlich-preußischen Friedrichs-Universität, herausgegeben von der theologischen Facultät, Halle 1805 [SB 58] Apostolische Väter: s. Sanctorum patrum Arndt, Andreas / Virmond, Wolfgang: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen, SchlA 11, Berlin/New York, 1992 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Band 1, Erstes Stück, Berlin 1798 Athenagoras: s. Justinus Augusti, Johann Christian Wilhelm: Die christlichen Alterthümer. Ein Lehrbuch für academische Vorlesungen, Leipzig 1819 —: Denkwürdigkeiten aus der christlichen Archäologie mit beständiger Rücksicht auf die gegenwärtigen Bedürfnisse der christlichen Kirche, Bd. 1–12, Leipzig 1817–1831 [SB 105] —: s. Die katholischen Briefe Bahl, Peter: s. Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität Bahrdt, Karl Friedrich: Analytische Erklärung aller Briefe der Apostel Jesu, Bd. 1–3, Berlin 1787–1789 —: Die kleine Bibel, ehrwürdig und lesbar für Christen und Nichtchristen, ed. Karl Friedrich Bahrdt, Bd. 1–2, Berlin 1780 [SB 207] Barclay, Robert: Theologia vere christianae apologia, Amsterdam 1676 [SB 121] Barth, Ulrich: Theorie der Theologie, in: Schleiermacher Handbuch, ed. Martin Ohst, Tübingen 2017, S. 316–327 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 8. Aufl., Göttingen 1979 Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, ed. Ernst Friedrich Karl Müller, Leipzig 1903 (Nachdruck Zürich 1987) Benecke, Heinrich: Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften, Bonn 1883 Birkner, Hans-Joachim: Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm, in: Schleiermacher in besonde-

586

Verzeichnisse und Register

rem Hinblick auf seine Wirkungsgeschichte in Dänemark. Vorträge des Kolloquiums am 19. und 20. November 1984, edd. Helge Hultberg / Karsten Friis Johansen / Theodor Jørgensen / Friedrich Schmöe, Kopenhagen/München 1986, S. 59–81 —: Schleiermacher-Studien, ed. Hermann Fischer, SchlA 16, Berlin/ New York 1996 Bretschneider, Karl Gottlieb: Probabilia de Evangelii et Epistolarum Joannis Apostoli, indole et origine, Leipzig 1820 [SB 346] Calixt, Georg: Epitomes theologiae moralis pars prima, Helmstedt 1634 Calov, Abraham: Systema locorum theologicorum, Bd. 1–12, Wittenberg 1655–1677 Calvin, Johann: Christianae religionis institutio, totam fere pietatis summa et quicquid est in doctrina salutis cognitu necessarium complectens, Basel 1536 Clemen, Carl: Schleiermachers Vorlesung über theologische Enzyklopädie, Theologische Studien und Kritiken 78 (1905), S. 226–245 Cölln, Daniel von / Schulz, David: Über theologische Lehrfreiheit auf den evangelischen Universitäten und deren Beschränkung durch symbolische Bücher. Eine offene Erklärung und vorläufige Verwahrung, Breslau 1830 [SB 2605] Concordia. Pia et unanimo consensu repetita confessio fidei et doctrinae electorum, principum et ordinum Imperii atque eorundem theologorum, qui Augustanam Confessionem amplectuntur. Cum appendice tripartita (ed. Adam Rechenberg), Leipzig 1732 [SB 459] Corpus librorum symbolicorum, qui in ecclesia reformatorum auctoritatem publicam obtinuerunt, ed. Johann Christian Wilhelm Augusti, Elberfeld 1827 [SB 471] Dahler, Johann Georg: Memoria viri reverendi amplissimi Johannis Laurentii Blessig, Straßburg 1816 [SB 498] Danaeus, Lambertus: Ethices christianae libri tres, Genf 1577 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht: Ueber Religion und Theologie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuche der Dogmatik, Berlin 1815 Döring, Johann Michael Heinrich: J. G. von Herders Leben nebst gedrängter Uebersicht seiner Werke, Leipzig 1823 [SB 2307] Eichhorn, Johann Gottfried: Einleitung in das Neue Testament, Bd. 2 [= Kritische Schriften, Bd. 6], Leipzig 1810 [SB 582] Ernesti, Johann August: Institutio Interpretis Novi Testamenti, Leipzig 1761 [SB 613]

Literatur

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—: Institutio Interpretis Novi Testamenti, 4. Aufl., ed. Christoph Friedrich Ammon, Leipzig 1792 [SB 614] Flacius, Matthias: Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem reclamarunt Papae, Basel 1556 Francke, August Hermann: Methodus studii theologici, Halle 1723 Gibbon, Edward: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, Bd. 1–6, London 1776–1788 Grimm, Jakob / Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1–16, Leipzig 1854–1960 Groot, Nicolaas: Wetenschap en Theologie bij Friedrich Schleiermacher. Een interpretatie van de Kurze Darstellung des theologischen Studiums, Dissertation Leiden 1994 Hess, Jean Gaspard (Heß, Johann Kaspar): Lebensbeschreibung M. Ulrich Zwingli’s. Aus dem Französischen. Nebst einem literarisch historischen Anhang von Leonhard Usteri, Zürich 1811 [SB 894] Horatius Flaccus, Quintus: Eclogae, edd. William Baxter / Johann Matthias Gesner, Leipzig 1752 [SB 937] —: Opera, ed. David Roy Shackleton-Bailey, Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana, 3. Aufl., Stuttgart 1995 Hossbach, Peter Wilhelm Heinrich: Johann Valentin Andreae und sein Zeitalter, Berlin 1819 [SB 940] —: Philipp Jakob Spener und seine Zeit. Eine kirchenhistorische Darstellung, Bd. 1–2, Berlin 1828 [SB 941] Hug, Johann Leonhard: Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments, Bd. 1–2, Tübingen 1808 [SB 951] Hummel, Gert: Art. „Enzyklopädie, theologische“, in: TRE Bd. 9, S. 716–742 [Jochmann, Karl Gustav:] Betrachtungen über den Protestantismus, Heidelberg 1826 [SB 2414] Josephus, Flavius: Opera omnia [gr./lat.], ed. Franz Oberthür, Bd. 1–3, Leipzig 1782–1785 [SB 1003] —: Opera, ed. Benedikt Niese, Bd. 1–7, Berlin 1885–1895, Nachdruck Berlin 1955 Justinus: Justini philosophi et martyris opera quae exstant omnia. Nec non Tatiani adversus Graecos oratio, Athenagorae philosophi Atheniensis Legatio pro Christianis […], Mauriner-Ausgabe, Paris 1742 [SB 1007]

588

Verzeichnisse und Register

Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Aufl., Riga 1792 [SB 1019] —: Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Berlin 1900ff Die katholischen Briefe, neu übersetzt u. erklärt u. mit Exkursen u. einleitenden Abhandlungen, ed. Johann Christian Wilhelm Augusti, Bd. 1–2, Lemgo 1801–1808 Köpke, Rudolf: Die Gründung der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, Neudruck der Ausgabe Berlin 1860, Aalen 1981 Krug, Wilhelm Traugott: Das Kirchenrecht nach Grundsätzen der Vernunft und im Lichte des Christenthums dargestellt. Nebst einem Anhange über die klimatische Verschiedenheit der Religionsformen, Leipzig 1826 [SB 1091] Küster, Samuel Christian Gottfried: Doctor Martin Luther, der Mann Gottes. Eine lebensgeschichtliche Darstellung im einfachen Volkston, Berlin 1817 [SB 1095] Lachmann, Karl: Rechenschaft über seine Ausgabe des Neuen Testaments, in: Theologische Studien und Kritiken 3 (1830), S. 817– 845 [SB 1982] Lenz, Max: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1–4, Halle 1910 Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1810– 1850, bearbeitet von Peter Bahl / Wolfgang Ribbe, Bd. 1–3, Berlin/New York 2010 Meckenstock, Günter: Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer. Im Anhang eine Liste der nichtliterarischen Rechnungsnotizen der Hauptbücher Reimer, SchlA 10, Berlin/New York 1993; 2. Aufl., in: Schleiermacher, KGA I/15, 2005, S. 637–912 Melanchthon, Philipp: Loci communes rerum theologicarum seu hypotyposes theologicae, Wittenberg 1521 Mosheim, Johann Lorenz von: Allgemeines Kirchenrecht der Protestanten, ed. Christian Ernst von Windheim, Helmstedt 1760 Mursinna, Samuel: Primae lineae encyclopaediae theologicae, Halle 1764 —: Primae lineae encyclopaediae theologicae, 2. Aufl., Halle 1784 [SB 1342] Neander, August: Der heilige Bernhard und sein Zeitalter, Berlin 1813 [SB 1353]

Literatur

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—: Über den Kayser Julianus und sein Zeitalter. Ein historisches Gemälde, Leipzig 1812 [SB 1356] —: Der heilige Johannes Chrysostomos und die Kirche, besonders des Orients, zu dessen Zeitalter, Bd. 1–2, Berlin 1821–1822 [SB 1354] Niemeyer, August Hermann: Grundriß der unmittelbaren Vorbereitungswissenschaften zur Führung des christlichen Predigtamts. Ein Leitfaden akademischer Vorlesungen, Halle 1803 [SB 1375] Nitzsch, Karl Immanuel: System der christlichen Lehre für academische Vorlesungen, Bonn 1829 [SB 1381] Nösselt, Johann August: Anweisung zur Bildung angehender Theologen, Bd. 1–3, Halle 1786–1789 —: Anweisung zur Bildung angehender Theologen, Bd. 1–3, 2. Aufl., Halle 1791 [SB 1383] —: Anweisung zur Kenntniß der besten allgemeinern Bücher in allen Theilen der Theologie, Leipzig 1779 —: Anweisung zur Kenntniß der besten allgemeinern Bücher in allen Theilen der Theologie, 3. Aufl., Leipzig 1790 [SB 1384] Novum Testamentum Graece perpetua annotatione illustratum, ed. Johann Benjamin Koppe, 2. Aufl., ed. Johann Heinrich Heinrichs, Bd. 2-10, Göttingen 1809-1821 [SB 260] Novum Testamentum Graecum, ed. Johann Jakob Wettstein, Bd. 1–2, Amsterdam 1751–1752 [SB 254] Novum Testamentum Graece, ed. Johann Jakob Griesbach, 2. Aufl., Bd. 1–2, Halle/London 1796–1806 [SB 258] Novum Testamentum Graece, ed. Karl Lachmann, Berlin 1831 [SB 266] Novum Testamentum Graece, edd. Eberhard Nestle / Kurt Aland u. a., 26. Aufl., Stuttgart 1988 Nowak, Kurt: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002 Origenes: Opera omnia [gr./lat.], ed. Charles Delarue, Bd. 1–4, Paris 1733–1759 [SB 1413] Patsch, Hermann: Ein Gelehrter ist kein Hund. Schleiermachers Absage an Halle, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß 1984, ed. Kurt-Victor Selge, SchlA 1, Berlin/New York 1985, S. 127– 137 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob: Das Leben Jesu, als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentums, Bd. 1–2, Heidelberg 1828 [SB 1438]

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Verzeichnisse und Register

—: Philologisch-kritischer und historischer Commentar über das Neue Testament, Bd. 1–4, Lübeck 1800–1804 [SB 1439] Planck, Gottlieb Jakob: Einleitung in die Theologische Wissenschaften, Bd. 1–2, Leipzig 1794–1795 [SB 1480] Platon: Opera, ed. Societas Bipontina, Bd. 1–12, Zweibrücken 1781–1787 —: Werke in acht Bänden, ed. Gunther Eigler, Darmstadt 1970– 1983 Quenstedt, Johann Andreas: Theologia didactico-polemica, sive Systema theologicum in duas sectiones didacticam et polemicam divisum, Bd. 1–2, Leipzig 1715 [SB 1547] Reil, Johann Christian: Pepinieren zum Unterricht ärztlicher Routiniers als Bedürfnisse des Staats nach seiner Lage wie sie ist, Halle 1804 Ribbe, Wolfgang: s. Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität Rinck, Wilhelm Friedrich: s. Das Sendschreiben Rössler, Martin: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, SchlA 14, Berlin/New York 1994 Rütenik, Karl August: Die christliche Lehre für Konfirmanden, 2. Theil Sittenlehre mit Zuziehung Schleiermacherscher Predigten aus dem Begriff des Reiches Gottes entwikkelt, Berlin 1832 [SB 1630] Sack, Karl Heinrich: Christliche Apologetik. Versuch eines Handbuches, Hamburg 1829 [SB 1646] Sanctorum patrum qui temporibus apostolicis floruerunt, Barnabae, Clementis, Hermae, Ignatii, Polycarpi opera vera et suppositicia, edd. Jean Baptiste Cotelier (Johannes Baptista Cotelerius) / Jean Le Clerc (Johannes Clericus), 2. Aufl., Bd. 1–2, Amsterdam 1724 [SB 1660] Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe, edd. Ernst Behler / Jean-Jacques Anstett / Hans Eichner, Bd. 1–35, Paderborn/Wien/Zürich 1958ff Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Sämmtliche Werke, 3 Abteilungen, 30 Bde. in 31, Berlin 1834–1864 —: Kritische Gesamtausgabe, edd. Hans-Joachim Birkner, Hermann Fischer u. a.; Abt. I: 15 Bde. in 18, 1980–2005; Abt. II: bisher 8 Bde. in 9, 1998ff; Abt. III: 15 Bde., 2012–2018; Abt. V: bisher 12 Bde., 1985ff, Berlin/New York —: [Briefe] Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 1–2, edd. Hildegard von Schwerin / Ehrenfried von Willich, Berlin 1858;

Literatur

591

2. Aufl. 1860; Bd. 3–4, edd. Ludwig Jonas / Wilhelm Dilthey, Berlin 1861–1863 (Nachdruck Berlin/New York 1974; Berlin/Boston 2011) —: Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. Wilhelm Gaß, Berlin 1852 —: Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Zweite umgearbeitete Ausgabe, Bd. 1–2, Berlin 1830–1831 (KGA I/13,1–2) —: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen entworfen, Berlin 1811 (KGA I/6, S. 243– 315) —: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen entworfen, zweite umgearbeitete Ausgabe, Berlin 1830 (KGA I/6, S. 317–446) —: Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familienund Freundesbriefe, ed. Heinrich Meisner, Bd. 1–2, Gotha 1922–1923 —: Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, ed. Walter Sachs, SchlA 4, Berlin/New York 1987 —: Ueber den eigenthümlichen Werth und das bindende Ansehen symbolischer Bücher, in: Reformations Almanach auf das Jahr 1819, ed. Friedrich Keyser, Erfurt [1818], S. 335–381 (KGA I/ 10, S. 117–144) Schmid, Dirk: Schleiermacher als Universitätstheoretiker und Hochschullehrer (inklusive Übersicht über seine gesamte Vorlesungstätigkeit), in: Schleiermacher Handbuch, ed. Martin Ohst, Tübingen 2017, S. 212–226 Schwarz, Friedrich Heinrich Christian: Grundriß der kirchlich-protestantischen Dogmatik, Heidelberg 1816 [Schwarz, Friedrich Heinrich Christian:] [Rezension von Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums (1811)], in: Heidelbergische Jahrbücher der Litteratur im Jahr 1812, 5. Jahrgang, Nr. 33, Heidelberg 1812, S. 513–532 Schleusner, Johann Friedrich: Novus thesaurus philologico-criticus, sive Lexicon in LXX et reliquos interpretes Graecos ac scriptores apocryphos Veteris Testamenti, Bd. 1–5, Leipzig 1820–1821 [SB 1722] Schrader, Wilhelm: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, Bd. 1–2, Berlin 1894 Schroeckh, Johann Matthias: Christliche Kirchengeschichte, Bd. 1– 35, Leipzig 1772–1803 [SB 1763] Semler, Johann Salomo: Versuch einer nähern Anleitung zu nützlichem Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit für angehende Studiosos Theologiä, Halle 1757

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Verzeichnisse und Register

—: Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, Bd. 1–4, Halle 1760–1769 [SB 1823: Bd. 1] Das Sendschreiben der Korinther an den Apostel Paulus und das dritte Sendschreiben Pauli an die Korinther. In armenischer Uebersetzung erhalten, nun verdeutscht und mit einer Einleitung über die Aechtheit begleitet v. Wilhelm Friedrich Rinck, Heidelberg 1823 [SB 237] Stäudlin, Karl Friedrich: Kirchliche Geographie und Statistik, Bd. 1– 2, Tübingen 1804 [SB 1880] Strauß, David Friedrich: Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu, Berlin 1865 Theologische Nachrichten, ed. Friedrich Heinrich Christian Schwarz, Frankfurt am Main 1800–27 [SB 981] Thym, Johann Friedrich Wilhelm: Theologische Encyclopädie und Methodologie, Halle 1797 [SB 1995] Tieck, Ludwig: Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack, gewissermassen eine Fortsetzung des gestiefelten Katers. Ein Spiel in sechs Aufzügen, Leipzig 1799 Tzschirner, Heinrich Gottlieb: Der Fall des Heidenthums, Leipzig 1829 Virmond, Wolfgang: s. Arndt, Andreas Wegscheider, Julius August Ludwig: Institutiones theologiae christianae dogmaticae, Halle 1815 —: Institutiones theologiae christianae dogmaticae, 6. Aufl. Halle 1829 [SB 2117] Winer, Johann Georg Benedikt: Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms als einzig sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese, Leipzig 1822 [SB 2149] Wolff, Christian: Vernünftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet, Halle 1747 Zimmermann, Johann Jacob: Opuscula theologici, historici et philosophici argumenti, Bd. 1–2 in 4, Zürich 1751–1759 [SB 2179]

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Literatur

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Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin Nachlass F. D. E. Schleiermacher: Nr. 437 Tageskalender 1808 Nr. 441 Tageskalender 1820 Nr. 447 Tageskalender 1827/28 Nr. 449 Tageskalender 1829 Nr. 451 Tageskalender 1831 Nr. 452 Tageskalender 1832 Nr. 547/1 Theologische Enzyklopädie (L. Jonas) Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin Bestand 14 (Konsistorium der Provinz Brandenburg) Nr. 1332 Nachweisung der, im Regierungs Bezirke Potsdam lebenden, nach Ostern 1827 von der Universität abgegangenen Candidaten des Predigt- oder Schulamts Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Depositum 42a: Schleiermacher-Archiv Mappe 22 Theologische Enzyklopädie Mappe 23 Nachschriftenband von E. Stolpe mit drei Vorlesungen aus dem Sommersemester 1827: Ethik – Theologische Enzyklopädie – Kirchliche Geographie und Statistik Nachl. 481 (Schleiermacher-Sammlung) Theologische Enzyklopädie Deutsches Literaturarchiv Marbach Bestandssignatur A:Strauß Nr. 7452 Schleiermachers theologische Encyclopädie (1831/32)

Personen Das Personenregister verzeichnet die in diesem Band genannten Personen in einer heute gebräuchlichen Schreibweise. Nicht verzeichnet werden die Namen literarisch-fiktiver Personen, die Namen von Herausgebern und Übersetzern, soweit sie nur in bibliographischen oder archivalischen Angaben vorkommen, die Namen der an der vorliegenden Ausgabe beteiligten Personen, soweit ausschließlich die Arbeit an dieser Ausgabe betroffen ist, sowie der Name Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers. Bei Personennamen, die in den Texten der Vorlesungsnachschriften vorkommen, sind die Seitenzahlen recte, bei solchen, die ausschließlich von den Bandherausgebern genannt werden, sind die Seitenzahlen kursiv gesetzt. Die kursiv verzeichneten Vorkommen eines Namens werden den recte verzeichneten nachgeordnet. Abaelardus 217.487 Adelung XLII.9.12.15.44. 99.121.139.163.194.231.422 Adriaanse XLIX Aristoteles 217.487.491 Arius 97.309.440 Arndt, A. VII.XVIII Arndt, E. M. XXVIII Athanasius 309.440.483 Athenagoras 344 Augusti 167.409 Augustinus 126 Bahrdt 412 Barth XIX Barclay 11 Barnabas 364.378 Benecke XXXVII Bengel 172 Birkner XIX.XXXVII.LI.428 Bleek XXXVIII

Boeckh XXV Bretschneider 144 Brodkorb XXXIII–XXXV.XL Calixt 202 Calov 441 Calvin 461 Christus s. Jesus Clemen XXXVIIIf.XLIX Clemens von Rom 378 Cölln 457 Dahler 198 Danaeus 202 de Wette 63f Dilthey XXXVIII Dohna XXVIII Döring 519 Eduard VI. 447 Eichhorn 149

Personen

Elisabeth I. 447 Epiphanius 197 Ernesti 159f.398 Eusebius 197.363 Fichte 218 Flacius 329 Francke XIX Friedrich Wilhelm III. XVIII. XXX Gaß XX.XXII–XXIV.XXVIf. XXIX Gerlach 458 Gesenius 458 Gibbon 449 Griesbach 389.415.172 Grimm XLII.351.380.554.563 Groot XLIX Hanstein XXVI Hegel XXXI.XXXVIf Heinrich VIII. 447.508 Hermas 363.378 Hess 198 Homeros 385 Horatius 103.414 Hossbach 519 Hug 149 Hummel XIX Jakobus (Herrenbruder) 378 Jänicke 549 Jesus (Christus) 9.43.46.53.55. 71.73f.88.94.112.126.134. 136.138–142.149.151.162. 166. 176. 186. 229. 277. 292. 306–307.331.333.344.357– 359.374–378.380.384.393. 395. 397. 405. 407. 412. 415. 425.438–440.442.460.462. 473.498.518.530.536

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Jochmann 93.293 Jonas, F. XXXII Jonas, L. XXVIII.XXXIf. XXXIXf.XLII–XLV.XLIX.73 Johannes (Evangelist) 144.162. 382f Josephus 407 Judas (Herrenbruder) 378.380. 383 Justinus 344 Kant 218.518.491 Karl I. 447f Köpke XXIV Krug 509 Küster 519 Lachmann 391.415 Leibniz 219 Lenz XXIV Lukas (Evangelist) 140.142. 149.378 Luther XXXVIII.123.383.564 Markus (Evangelist) 142.378. 382 Matthäus (Evangelist) 382.393 Meckenstock XV Melanchthon 461 Mosheim 35 Mursinna XIX Napoleon I. XXI.350 Neander 198.519 Niemeyer 35 Nitzsch 486 Nowak XVIIIf.XXI.XXVI Nösselt XIXf.XXII.35 Origenes 16.344.386

596

Verzeichnisse und Register

Patsch XXI. Paulus (Apostel) 71.139.143f. 156.230.378.381f.400.487. 532 Paulus, H. E. G. 412 Petrus 144f.230.378.381.400. 403.498 Planck XX.XXII.314 Platon XX.254 Polycarp von Smyrna 364.378 Quenstedt 441.468.393.473 Reil 446 Reimer XX.XXIV.XXVI.XXX Ribbeck XXVI Rinck 143.382 Rössler XLIX Rütenik 459 Sachs XXXVII.XLI.XLVf. XLIX.277.292.313.344.346. 363.371.387.391.407.417. 420.422.428.430.437.438. 445.461.481.484.498.504. 507.509.513.523 Sack, F. S. G. XXVf Sack, K. H. XXV.345 Schelling 218 Schinkel 360 Schlegel 306

Schleiermacher, Henriette XXX. 526 Schleusner 532 Schmid XVIII.XXVI Schrader 452 Schroeckh 512 Schulz 457 Schwarz 48.202.307.553 Seebeck XXX Semler 172.XIX Stäudlin 369.494.512f Stolpe XXXIIf.XL Strauß XXXI.XXXV–XXXVII. XLf.XLVf.XLIX Sydow XLIX Tertullianus 468 Thym XIX Tieck 404 Tzschirner 449 Wegscheider 456f.459.458 Wette s. de Wette Wettstein 389.415.172 Winer 414 Wolff 219.491 Vatke XXXVII Virmond VII.XVIII.XLIII Zwingli XXXVIII Zimmermann 404

Bibelstellen Die in den Texten der Vorlesungsnachschriften vorkommenden Bibelstellen werden, sofern sie mit einer näheren Stellenangabe verbunden sind, durch recte gesetzte Seitenzahlen, alle anderen im Band vorkommenden Bibelstellen nachgeordnet durch kursiv gesetzte Seitenzahlen verzeichnet. Die Abfolge der biblischen Bücher ist an der Lutherbibel orientiert. Gen 22

73

Lev 16

73

Num 32,19

532

Dtn 10,9

532

Mt 1–2 11,25 22,21 23,11

382 44 186 536

Mk 16,9–20

22,6–21 26,12–18

71 71

Röm 12,6 16,14

164 378

1 Kor 9,6 14,26–33 15,29

378 529 411

Gal 1,14 2,1.9

407 378

382

Phil 4,3

378

Lk 9,19

307

1 Petr 3,19 5,3

403 532

Joh 7,53–8,11 14,26 16,12f 16,13 18,36

382f 375 139 375 186

2 Petr 1,1 3,1

381 381

Apg 1,15–26 6,3f 9,1–19 9,3–22 15,1–29 20,7–12

141. 498 499 71 71 116 71

Hebr 5,1–6 9 9,6f 10,1–26

381 73 73 73 73

Offb Überschrift

144 532