Kritische Gesamtausgabe: Band 13 Vorlesungen über die Psychologie 9783110567038, 9783110566000

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Kritische Gesamtausgabe: Band 13 Vorlesungen über die Psychologie
 9783110567038, 9783110566000

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung der Herausgeber
Einleitung der Bandherausgeberin
I. Historische Einführung
II. Editorischer Bericht
Erster Teil. Manuskripte Schleiermachers
Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818
Die Vorlesung im Sommersemester 1821
Die Vorlesung im Sommersemester 1830
Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34
Zweiter Teil. Vorlesungsnachschriften
Die Vorlesung im Sommersemester 1818. Hamburger Nachschrift
Die Vorlesung im Sommersemester 1821. Nachschrift Eyssenhardt
Die Vorlesung im Sommersemester 1830. Nachschrift Sickel
Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34. Berliner Nachschrift
Verzeichnisse
Abkürzungen
Editorische Zeichen
Literatur
Register
Personen

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe II. Abt. Band 13

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenczka

Zweite Abteilung Vorlesungen Band 13

De Gruyter

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Vorlesungen über die Psychologie Herausgegeben von Dorothea Meier unter Mitwirkung von Jens Beljan

De Gruyter

ISBN 978-3-11-056600-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-056703-8 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Meier, Dorothea, 1968- editor. | Beljan, Jens, 1982- editor. Title: Vorlesungen über die Psychologie / edited by Dorothea Meier, Jens Beljan. Description: 1 Edition. | Boston/Berlin : De Gruyter, 2018. | Series: Kritische Gesamtausgabe ; Band 13 Identifiers: LCCN 2018009053| ISBN 9783110566000 (hardback) | ISBN 9783110567038 (eISBN) Subjects: LCSH: Psychology. | BISAC: RELIGION / Christian Theology / History. | PHILOSOPHY / History & Surveys / Modern. | PSYCHOLOGY / History. Classification: LCC BF121 .V587 2018 | DDC 150.1--dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018009053 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

I. Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe . . . . . II. Die Abteilung II (Vorlesungen) . . . . . . . . . . . . . . III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII VII

Einleitung der Bandherausgeberin

. . . .. . . . . . . . . .

IX XVII

I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Biographische Linien . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorlesungen über die Psychologie . . . . . . . . 1. Die Vorlesung im Sommersemester 1818 . 2. Die Vorlesung im Sommersemester 1821 . 3. Die Vorlesung im Sommersemester 1830 . 4. Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34 3. Die Erstedition der Vorlesungen . . . . . . . . .

. . . . . . . .

. XVII . XVIII . XXV . XXVII . XXXVII . XLV . LI . LVIII

II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Manuskripte Schleiermachers . . . . . . . . . . . 1. Die Vorlesung im Sommersemester 1818 . 2. Die Vorlesung im Sommersemester 1821 . 3. Die Vorlesung im Sommersemester 1830 . 4. Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34 B. Vorlesungsnachschriften . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vorlesung im Sommersemester 1818 . a. Hamburger Nachschrift . . . . . . . . . . b. Berliner Nachschrift . . . . . . . . . . . . 2. Die Vorlesung im Sommersemester 1821 . a. Nachschrift Eyssenhardt . . . . . . . . . b. Göttinger Nachschrift . . . . . . . . . . . c. Züricher Nachschrift . . . . . . . . . . . . d. Nachschrift Terborg . . . . . . . . . . . . 3. Die Vorlesung im Sommersemester 1830 . a. Nachschrift Sickel . . . . . . . . . . . . . b. Berliner Nachschrift . . . . . . . . . . . . c. Nachschrift Wichern . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

LXV LXV LXV LXVIII LXX LXXI LXXII LXXIII LXXIII LXXIV LXXVI LXXVI LXXIX LXXX LXXXII LXXXIII LXXXIII LXXXVI LXXXVII

VI

Inhaltsverzeichnis

4. Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34 a. Berliner Nachschrift . . . . . . . . . . . . b. Nachschrift Iffland . . . . . . . . . . . . . c. Nachschrift Stern . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. LXXXIX . LXXXIX . XCI . XCII

Vorlesungen über die Psychologie Erster Teil Manuskripte Schleiermachers Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818 . . Die Vorlesung im Sommersemester 1821 . . . . . . . . . . Die Vorlesung im Sommersemester 1830 . . . . . . . . . . Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34 . . . . . . . .

. . . .

. . . .

3 109 129 171

. . . . . . . . . . .

201

. . . . . . . . . . .

475

. . . . . . . . . . .

617

. . . . . . . . . . .

875

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorische Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1047 1049 1050

Zweiter Teil Vorlesungsnachschriften Die Vorlesung im Sommersemester 1818 Hamburger Nachschrift . . . . . . . . . . . Die Vorlesung im Sommersemester 1821 Nachschrift Eyssenhardt . . . . . . . . . . . Die Vorlesung im Sommersemester 1830 Nachschrift Sickel . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34 Berliner Nachschrift . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnisse

Register Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1066

Einleitung der Herausgeber I. Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe Die Kritische Gesamtausgabe (KGA) der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Schleiermachers ist in die folgenden fünf Abteilungen gegliedert: I. II. III. IV. V.

Schriften und Entwürfe Vorlesungen Predigten Übersetzungen Briefwechsel und biographische Dokumente.

Die Gliederung richtet sich nach den literarischen Gattungen in Schleiermachers Werk, wobei den einzelnen Abteilungen jeweils auch der handschriftliche Nachlass zugewiesen wird. Der Aufbau der Abteilungen orientiert sich am chronologischen Prinzip.

II. Die Abteilung II (Vorlesungen) Die II. Abteilung dokumentiert Schleiermachers Vorlesungstätigkeit nach seinen handschriftlichen Materialien und nach Vorlesungsnachschriften. Schleiermacher hat in seiner beinahe drei Jahrzehnte währenden Lehrtätigkeit in der Theologischen Fakultät, abgesehen vom Alten Testament, über nahezu alle theologischen Disziplinen Vorlesungen gehalten. Als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin hatte er überdies das Recht, auch in der Philosophischen Fakultät Vorlesungen zu halten. Davon hat er extensiven Gebrauch gemacht. In jedem Semester hat Schleiermacher mindestens zwei Vorlesungen gehalten, oft sogar drei (eine neutestamentlich-exegetische, eine weitere theologische und eine philosophische). Ein Verzeichnis seiner Vorlesungen findet sich in dem von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond bearbeiteten Band „Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen“ (SchleiermacherArchiv Bd. 11, Berlin und New York 1992, S. 293–330).

VIII

Einleitung der Herausgeber

Angesichts der umfänglichen Materialien ist eine restriktive Berücksichtigung der Vorlesungsnachschriften unumgänglich. Für die Edition der Vorlesungen gelten folgende Richtlinien: 1.

2. 3.

4.

Jede von Schleiermacher in seinen Vorlesungen behandelte Disziplin wird in einem Band – eventuell mit Teilbänden – vorrangig durch seine eigenen Manuskripte kritisch ediert. Die Manuskripte Schleiermachers werden im ersten Teil in chronologischer Ordnung kritisch ediert. Die Vorlesungsnachschriften werden, wenn ihre Qualität es erlaubt, dort in die Edition einbezogen und unter vereinfachten Editionsregeln in einem zweiten Teil ediert, wo eigene Manuskripte Schleiermachers entweder fehlen oder wo seine Manuskripte als nicht ausreichend zu beurteilen sind. Nachschriften eines mehrfach gehaltenen Kollegs aus verschiedenen Jahren werden nur dann eigens berücksichtigt, wenn es darum geht, eine bedeutsame Entwicklung zu dokumentieren. Auch die Nachschriften werden chronologisch angeordnet. Die abgrenzende Gruppierung der Manuskripte Schleiermachers und der Nachschriften von fremder Hand in zwei Teilen des Bandes kann bei besonderen Sachlagen aufgegeben werden; die zu edierenden Texte werden dann fortlaufend chronologisch angeordnet.

Für die chronologische Anordnung der Vorlesungsdisziplinen ist dasjenige Semester maßgebend, in dem Schleiermacher die jeweilige Vorlesung zum ersten Mal gehalten hat. In den beiden Fällen, in denen er im selben Semester mit zwei bzw. drei Vorlesungen begonnen hat (Wintersemester 1804/05 und Sommersemester 1806), werden zuerst die allgemeiner und dann die spezieller ausgerichteten Vorlesungen geboten. Dementsprechend ergibt sich für die Abteilung „Vorlesungen“ folgende Gliederung: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen Vorlesungen phie (1807)

über die Philosophische Sittenlehre (1804/05) über die Theologische Enzyklopädie (1804/05) über die Christliche Glaubenslehre (1804/05) zur Hermeneutik und Kritik (1805) über die Christliche Sittenlehre (1806) über die Kirchengeschichte (1806) über die Geschichte der griechischen Philoso-

Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

IX

Vorlesungen über die Lehre vom Staat (1808/09) Vorlesungen über die Geschichte der christlichen Philosophie (1810) Vorlesungen über die Dialektik (1811) Vorlesungen über die Praktische Theologie (1812) Vorlesungen über die Pädagogik (1813) und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht (1810–1814) Vorlesungen über die Psychologie (1818) Vorlesungen über die Ästhetik (1819) Vorlesungen über das Leben Jesu (1819/20) und Vorlesung über die Leidens- und Auferstehungsgeschichte nach allen vier Evangelien (1821) Vorlesungen über die Kirchliche Geographie und Statistik (1827) Vorlesungen über die Einleitung in das Neue Testament (1829).

Die exegetischen Vorlesungen Schleiermachers werden aus pragmatischen Gründen an den Schluss der Abteilung gestellt, weil dazu sehr umfängliche Manuskripte Schleiermachers im Nachlass erhalten sind. Die Quantität und Qualität dieser Materialien stellen eine editorische Erschließung vor spezifische Probleme. Geplant ist, die Bandeinteilung an dem bei Schleiermacher erkennbaren Kurs über sechs Semester zu orientieren: 18. Vorlesungen über die Schriften des Lukas (Evangelium und Apostelgeschichte) 19. Vorlesungen über die Briefe des Apostels Paulus A 20. Vorlesungen über die Briefe des Apostels Paulus B 21. Vorlesungen über die Katholischen Briefe und den Brief an die Hebräer 22. Vorlesungen über das Evangelium des Johannes 23. Vorlesungen über das Evangelium des Matthäus.

III. Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen) Die folgenden Grundsätze schließen sich an die für die I. Abteilung in der Fassung von KGA I/1 und für die V. Abteilung in der Fassung von KGA V/1 niedergelegten an, tragen aber den Besonderheiten der Vorlesungsedition Rechnung.

X

Einleitung der Herausgeber

1. Historische Einführung und Editorischer Bericht Den Bänden der II. Abteilung wird jeweils eine Einleitung des Bandherausgebers vorangestellt, die eine Historische Einführung und einen Editorischen Bericht umfasst. Die Historische Einführung gibt Auskunft über die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der jeweiligen Vorlesung. Gegebenenfalls wird über die Rezeption durch die Zeitgenossen berichtet. Der Editorische Bericht beschreibt die Materiallage und erläutert das editorische Verfahren.

2. Textgestaltung und textkritischer Apparat Die Bände der II. Abteilung umfassen (A) sämtliche Vorlesungsmanuskripte Schleiermachers (B) dort, wo es zu deren Verständnis nötig ist oder wo andere Gründe es nahelegen, auch ausgewählte Vorlesungsnachschriften und ferner, falls keine solchen Primärquellen mehr vorhanden sind, (C) auch Texte, die nur noch sekundär, etwa im Druck der „Sämmtlichen Werke“, vorliegen. Für die E d i t i o n al l e r d r e i So r t e n v on Text zeug en gelten folgende Prinzipien: a)

S c h r e i b w e i s e u n d Z e i c h e nsetzung des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise, bei denen es häufig eine Ermessensfrage darstellt, ob eine irrtümliche Schreibweise vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung von Zeichen (z. B. für Abkürzungen und Auslassungen), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, stillschweigend vereinheitlicht. Die von Schleiermacher für Randnotizen gebrauchten Verweiszeichen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben, sofern diese Randnotizen hier als Fußnoten wiedergegeben werden. b) Of f e n k u n d i ge Sc h r e i b f e h ler oder Versehen werden im Text korrigiert. Im Apparat wird – ohne weitere Angabe – die Schreibweise des Originals angeführt.

Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

c)

XI

Wo der Zustand des Textes eine Konjekt ur notwendig macht, wird diese im Text durchgeführt und im Apparat nachgewiesen; in Zweifelsfällen wird die Konjektur mit der Angabe „Kj“ nur im Apparat vorgeschlagen. Wo bereits Konjekturen eines früheren Herausgebers vorliegen, werden diese unter Nennung des jeweiligen Urhebers und der Seitenzahl seiner Ausgabe oder Schrift im Apparat mitgeteilt. Wird eine solche Konjektur in den Text übernommen, so wird dies ebenfalls im Apparat nachgewiesen.

Über diese gemeinsamen Prinzipien hinaus wird für die drei unterschiedlichen Textsorten (Manuskripte Schleiermachers, Vorlesungsnachschriften und sekundäre Überlieferung) das im Folgenden beschriebene abgestufte Editionsverfahren angewandt. (A) Manuskripte Schleiermachers d) Es wird die l e t z t gü l t i ge Te x t g esta lt des Manuskripts wiedergegeben. Alle Belege für den Entstehungsprozess (wie Streichungen, Korrekturen, Umstellungen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt. e) Zu s ä t z e zum ursprünglichen Text, die Schleiermacher eindeutig einverwiesen hat, werden in den laufenden Text eingefügt. Sie werden mit der Formel „mit Einfügungszeichen“ und mit Angabe des ursprünglichen Ortes im Manuskript im textkritischen Apparat nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der Ort angegeben. Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. f) Bei Ab b r e vi at u r e n (Abkürzungen, Kontraktionen, Kürzeln), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) die fehlenden Buchstaben im Text kursiv ergänzt. Chiffren für Wörter (z. B. Θ für Gott) werden ebenfalls im Text kursiv aufgelöst und im Abkürzungsverzeichnis

XII

Einleitung der Herausgeber

oder im Editorischen Bericht zusammengestellt. Abbreviaturen und Chiffren, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird ggf. im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für ...“ gemacht. Zur Zeit Schleiermachers geläufige Abkürzungen werden nicht aufgelöst. Soweit sie heute nicht mehr geläufig sind, werden sie im Abkürzungsverzeichnis mit ihren Auflösungen zusammengestellt. Die durch Überstreichung bezeichnete Verdoppelung von m und n wird stillschweigend ausgeschrieben. In allen Fällen, wo (z. B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei der verkürzten Endsilbe -en) aufgrund der Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abkürzung zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. g) F e h l e n d e W ö r t e r u n d Z e i chen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden in eindeutigen Fällen kursiv in eckigen Klammern ergänzt. In Zweifelsfällen wird im Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ ein Vorschlag gemacht. Im Text gelassene Lücken werden im textkritischen Apparat durch den Hinweis (lacuna) gekennzeichnet. Sofern das Zeilenende bzw. das Ende eines Absatzes eindeutig den Punkt am Satzende vertritt, wird dieser stillschweigend ergänzt. Ferner werden fehlende Umlautzeichen in eindeutigen Fällen stillschweigend ergänzt; fehlende diakritische Zeichen (wie Akzente, Spiritus-Zeichen) in fremdsprachigen Texten werden hingegen nicht ergänzt. h) Sind im Manuskript U ms t e l l u ng en von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen oder Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben. i) S t r e i c h u n ge n . Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern unter Angabe des Ortes im Manuskript mitgeteilt. Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen.

Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

XIII

j)

Ko r r e k t u r e n Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein). k) U n s i c h e r e L e s ar t e n werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: PnochS) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: PauchS oder PnochS) vorgeschlagen. Bei unsicheren Lesarten, zu denen frühere Texteditionen eine abweichende, ebenfalls erwägenswerte Lesart bieten, wird diese unter Nennung des jeweiligen Herausgebers und der Seitenzahl seiner Ausgabe oder Schrift mitgeteilt. Nicht entzifferte Wörter werden durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. l) Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare E n t s t e h u n gs s t u f e n vor, so können diese, wo es die Klarheit erfordert, im textkritischen Apparat nacheinander jeweils für sich nachgewiesen werden. Keine eigene Mitteilung erfolgt, wenn beim Übergang aus der früheren in die spätere Stufe ein Wort gestrichen oder korrigiert worden ist; dieses ergibt sich aus dem Vergleich der Stufen. m) Ü b e r l i e f e r u n gs l ü c k e n . Ist ein Manuskript nur bruchstückhaft überliefert, so wird der Überlieferungsverlust innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Ein umfangreicherer Überlieferungsverlust wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat. (B) Vorlesungsnachschriften Die Edition der Vorlesungsnachschriften erfolgt nach einem vereinfachten Verfahren. Diese Vereinfachungen betreffen die im Vorstehenden unter den Buchstaben d), e), h), i), j) und l) genannten Editionsregeln. Die unter den Buchstaben f), g), k) und m) genannten Grundsätze gelten unverändert.

XIV

Einleitung der Herausgeber

n) Bei der Edition von Vorlesungsnachschriften wird in der Regel lediglich die l e t z t gü l t i ge Textg esta lt wiedergegeben, jedoch o h n e N ac h w e i s d e s Ma nuskript bef undes – d. i. von Streichungen, Zusätzen, Verbesserungen, Umstellungen und Entstehungsstufen – im Apparat. Abweichend hiervon werden längere Randbemerkungen zu Vorlesungsnachschriften, die den Charakter von eigenständigen Textpartien haben, als Fußnoten mitgeteilt, da es sich bei ihnen um spätere Ergänzungen des Nachschreibers handeln kann. o) Existieren zu einer Vorlesung mehrere Nachschriften, so wird die beste als L e i t t e x t ediert. Die als Leittext gewählte Nachschrift wird in der Regel vollständig geboten. Wo Vorlesungsnachschriften über Schleiermachers Manuskripte hinaus keine wesentlichen Aufschlüsse enthalten, ist es auch möglich, sie nur ausschnittweise abzudrucken. Bietet die als Leittext gewählte Nachschrift an einer Stelle einen offenkundig fehlerhaften Text, so wird nach Möglichkeit der richtige Text aus einer anderen Nachschrift übernommen, die Abweichung aber im Apparat dokumentiert. Ist die als Leittext gewählte Nachschrift unvollständig, wird sie aus einer vollständigeren ergänzt, mit entsprechendem Nachweis im Apparat. Weist auch diese offenkundige Fehler auf, wird, sofern weitere Vorlesungsnachschriften vorhanden sind, verfahren wie im vorigen Satz beschrieben. (C) Sekundäre Überlieferung p) Sofern Überlieferungsverluste gegenüber früheren Editionen eingetreten sind, können die entsprechenden Texte als sekundäre Überlieferung in ihrer ursprünglichen Gestalt unverändert unter Hinzufügung eines Sachapparats dargeboten werden.

3. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen.

Editorische Grundsätze für die Abteilung II (Vorlesungen)

XV

a)

Zi t a t e u n d Ve r w e i s e werden im Apparat nachgewiesen. Dabei wird, soweit möglich und sinnvoll, sowohl die von Schleiermacher benutzte Ausgabe als auch eine heute maßgebliche Ausgabe angeführt. Das gilt auch für Verweisungen Schleiermachers auf eigene Werke. Bei Zitaten werden sinnverändernde Abweichungen von den Quellen vermerkt. b) Zu An s p i e l u n ge n Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist.

4. Verzeichnisse und Register a) Jeder Band erhält ein A b k ü r z u n gsv erzeichnis, das sämtliche Zeichen und Abkürzungen auflöst, die von den Autoren oder vom Bandherausgeber benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten oder im Literaturverzeichnis erfolgt. b) Jeder Band erhält ein L i t e r at u r v erzeichnis, in dem die Schriften aufgeführt werden, die in den Texten sowie in den Apparaten und in der Einleitung des Bandherausgebers genannt sind. Bei denjenigen Werken, die im Katalog der Bibliothek Schleiermachers (s. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, in: KGA I/15, 2005, S. 637–912) verzeichnet sind, wird nach dem Titel in eckigen Klammern das Kürzel SB mit der jeweiligen Katalognummer hinzugefügt. c) Jeder Band erhält ein N ame n r e gist er, das alle im Band genannten historischen Personen erfasst. d) Ein Register der B i b e l s t e l l e n erhalten diejenigen Bände, bei denen es sinnvoll ist.

5. Druckgestaltung a) S a t z s p i e ge l . Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals ggf. mit Fußnoten, textkritischer Apparat, Sachapparat.

XVI

Einleitung der Herausgeber

b) S c h r i f t ar t e n . Der Text des Originals wird einheitlich in recte stehender Antiqua wiedergegeben. Hochgestellte Endungen (z. B. bei Ordnungszahlen) werden nivelliert, graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ergänzungen nicht ausgeschriebener Wörter im Text sowie Herausgeberrede werden kursiv gesetzt. c) H e r vo r h e b u n ge n in Schleiermachers Manuskripten (vorwiegend durch Unterstreichung) werden einheitlich durch S p e r r u n g kenntlich gemacht. Hervorhebungen in den Vorlesungsnachschriften bleiben unberücksichtigt, soweit sie der Lesbarkeit nicht förderlich sind. d) Die Se i t e n z äh l u n g d e s O r ig ina ls wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der Seitenwechsel des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich (|) wiedergegeben. Wo die Angabe des Zeilenbruchs sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im Text. e) Sofern ein Text bereits in den S ä m m t lichen Werken erschienen ist, wird die Paginierung kursiv am Außenrand mitgeteilt, jedoch ohne Seitentrennungsstrich. f) B e z i e h u n g d e r A p p ar at e auf den Text . Sie erfolgt beim textkritischen Apparat durch Zeilenangabe mit Lemma. Kommt in einer Zeile das gleiche Bezugswort mehrfach vor, wird ein zusätzliches Bezugswort angeführt. Die Bezugswörter werden durch das Lemmazeichen von der folgenden Mitteilung abgegrenzt. Der Sachapparat wird durch Zeilenangabe auf die jeweilige Bezugsstelle bezogen. g) Sofern in einem Band sowohl Manuskripte Schleiermachers als auch eine Nachschrift aus demselben Kolleg veröffentlicht werden, wird der Zusammenhang zwischen ihnen möglichst durch ein Ve r w e i s u n gs s ys t e m hergestellt, etwa durch die Angabe der Daten oder durch die Bezeichnung der Vorlesungsstunden am Seitenrand. Sofern solche Angaben in den edierten Quellen enthalten sind, werden sie recte wiedergegeben; sofern sie aus anderen Quellen ergänzt sind, werden sie kursiv gesetzt. Im Namen der Herausgeber Günter Meckenstock

Einleitung der Bandherausgeberin Die vorliegende kritische Edition stellt die erste vollständige, alle vier Kollegs umfassende sowie alle verfügbaren Autographen Schleiermachers inkludierende Ausgabe der Vorlesungen zur Psychologie dar. Neben den Manuskripten Schleiermachers aus den Sommersemestern 1818, 1821, 1830 und dem Wintersemester 1833/34 wird zu jedem Kolleg eine Hörernachschrift geboten, womit zugleich erstmalig eine gedruckte Dokumentation der Vorlesung von 1821 erfolgt. Durch die Vollständigkeit der Quellen und die textkritischen Apparate geht die Edition weit über die erste Ausgabe der Seelenlehre in den Sämmtlichen Werken (1862) hinaus und stellt Grundlagen zur Verfügung, die die Psychologie Schleiermachers wieder ins Bewusstsein der Forschung rücken und neu einordnen können.

I. Historische Einführung Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, der Mensch, Freund, Ehemann und Vater, der Christ und Theologe, der Universitätslehrer, Philosoph und Pädagoge war zeitlebens empfänglich für die Erscheinungen des Seelenlebens. Fast scheint es, als hätte er vermocht, in die Seelen der Menschen zu schauen, in diesen zu lesen und in sie hineinzusprechen. Eine psychologische Sichtweise ist in seinem alltäglichen Wirken und seinem Forschen erkennbar, und er stand für die Bedeutung psychischer, innerlicher Prozesse ein. Seine Erfahrungen als Hauslehrer, sein seelsorgerisches Wirken, seine Neugier auf Erkundung individueller und zwischenmenschlicher Phänomene, seine beständige Tendenz zur Selbstreflexion sowie seine Intelligenz und Lebenserfahrung sind allzeit lebensnah, natürlich und psychologisch geprägt. Dieser Blick in die einzelne Seele, dessen Wurzeln in den frühromantischen Zusammenhängen liegen, bestimmte sein Interesse an der Psychologie. Es ist getragen von dem Bedürfnis herauszufinden, was Menschen im Inneren bewegt, wodurch sie bestimmt werden, wie sie zu denen werden, die sie sind, warum sie wie handeln oder was sie in unterschiedlichen

XVIII

Einleitung der Bandherausgeberin

Gruppen zusammenhält. Das Ergebnis dieses Suchens nach dem Wesen der Seele in ihrem Sein und Werden und in ihrer Interaktion mit dem Körperlichen und der Welt veranschaulichte Schleiermacher in den Vorlesungen zur Psychologie.

1. Biographische Linien Bereits frühe Erfahrungen, die als Erlebnis religiöser Bekehrung gelten, können ebenso psychologisch gedeutet werden. Schrieb Schleiermacher in seiner Selbstbiographie im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Gnadenfrei, „daß ich meine Denkungsart, die sich bei den meisten Menschen unvermerkt aus Theorie und Beobachtung bildet, weit lebendiger als das Resultat und den Abdruck meiner eigenen Geschichte ansehen kann“1, so heißt dies, dass seine Art zu denken aus seinen Lebenserfahrungen resultiert. Nicht verwunderlich setzen seine Vorlesungen zur Psychologie später ausdrücklich das „Leben“ als den Ausgangspunkt und den Zusammenhalt aller Betrachtungen. Denkungsart bedeutet aber auch, sich seiner selbst in der Reflexion ansichtig zu werden. Das „Ich“ in seiner Einheit von Leib und Seele wird in den Vorlesungen den ersten gegebenen Untersuchungsgegenstand bilden. Wie im Leben existiert es freilich auch in der Theorie nicht isoliert, sondern in einem beständigen Austausch mit dem Du, mit Menschengruppen, mit der Welt. Aus diesem Wechselverhältnis entwickelt Schleiermacher die theoretische Grundkonstruktion der Psychologie: die Lehre von Rezeptivität und Spontaneität. Es sind einerseits der Reichtum seiner Lebenserfahrungen, seines Seelenlebens, seine pietistische Frömmigkeit, die ihn auch psychologisch geprägt und zu einem sehr differenzierten Selbstbild geführt haben. Zeugnisse dieser Annahme geben beispielsweise die Briefe Schleiermachers an den Vater, an die Schwester, an die Freunde oder die Braut. Andererseits blickte er mit wacher Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse seiner Mitmenschen, die ihn privat und beruflich umgaben. Aus beiden Reflexionsbereichen lassen sich durchgängige Motive erkennen, die Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur Psychologie ab 1818 versucht, in ganz eigentümlicher Weise als Erscheinungen 1

Vgl. Selbstbiographie, in: Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen [= Briefe], Bd. 1–2, 2. Aufl., Berlin 1860; Bd. 3–4, edd. L. Jonas / W. Dilthey, Berlin 1861– 1863

Historische Einführung

XIX

des Lebens, mithin dynamisch und teils unberechenbar, theoretisch abzuleiten und ihnen wissenschaftliche Bedeutung zu verleihen, weil sie ihm wichtig waren. Solche Sujets sind z. B. intensive menschliche Beziehungen wie Familienbindungen, Freundschaft, Liebe und Verhältnisse der Geschlechter unter einander, aber auch Phänomene wie Begehrungen, Ahnungen und Unbewusstes, ebenso Sprach- und Denktheorien bis hin zu sozialpsychologischen Betrachtungen verschiedener Menschengruppen. Auch wenn in Schleiermachers Leben und Wirken Psychologisierungen von Lebenserscheinungen in den unterschiedlichsten Motivlagen ebenso durchgängig erkennbar sind wie die Betonung von Individualität und Gefühlskultur, lassen sich vor 1818 nur wenige konkrete Hinweise auf die Konsolidierung einer wissenschaftlichen psychologischen Theorie aufspüren. Fest steht, dass Schleiermacher während seines Studiums in Halle (1787–1790) bei seinem Professor Johann August Eberhard, der seinerzeit der wichtigste Vertreter der Halleschen Schulphilosophie war, nicht nur dessen Studien zur rationalen Theologie, Moralphilosophie, Ästhetik, Erkenntnistheorie oder zur Philosophiegeschichte kennenlernte, sondern über ihn auch mit der Philosophie Christian Wolffs vertraut wurde.2 Auch wenn Eberhard über die klassischen philosophischen Themen sprach und Anthropologie oder Psychologie nicht explizit auswies, wird er diese dennoch in seine Vorlesungen eingebracht und besonders die Leibniz-Wolffsche Psychologie ausführlich dargestellt haben.3 Darüber hinaus ist anzunehmen, dass Schleiermacher bereits während des Studiums in Halle den verschieden sich ausprägenden, teils sogar gegenläufigen Strömungen begegnete, die um die Ausbildung einer anerkannten empirischen bzw. rationalen Psychologie stritten, was sich nicht zuletzt am Angebot der Lehrveranstaltungen an den verschiedenen Fakultäten der Universitäten widerspiegelte. Die preußische Universität Halle schrieb sogar die Behandlung der empirischen Psychologie als Teil der Metaphysik als 2

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Im Brief vom 14. August 1787 schrieb Schleiermacher an den Vater: „Ob ich nun gleich, weil ich die Kritik [Kant] nicht kriegen konnte, nicht im Stande gewesen bin während des Eberhard’schen Collegii die Wolfische Philosophie mit der Kantischen zu vergleichen, so soll doch solchen in den MichaelisFerien geschehen,“ (KGA V/1, Nr. 80, 41–44) Vgl. Ziche, Paul: Anthropologie und Psychologie als Wissenschaften, in: G. Eckardt / M. John / T. van Zantwijk / P. Ziche: Anthropologie und empirische Psychologie um 1800. Ansätze einer Entwicklung zur Wissenschaft, Köln/Weimar/ Wien 2001, S. 97

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Einleitung der Bandherausgeberin

Lehrstoff nach dem Lehrbuch von Alexander Baumgarten vor.4 Ab 1787 las Ludwig Heinrich Jakob in Verbindung mit der Kantrezeption schwerpunktmäßig Psychologie. Außerdem fanden gleichzeitig Veranstaltungen zur Psychologie durch Johann Gebhard Ehrenreich Maaß statt. Jakob und Maaß verfolgten über mehrere Jahre ihre Spezialisierung und wurden auch als Lehrbuchautoren bedeutsam.5 Der Theologiestudent Schleiermacher war gewiss über die innovative Bedeutung der Hallenser Psychologie informiert. Nach dem Studium sammelte Schleiermacher 1790–1793 als Hauslehrer in der Familie des Grafen Dohna-Schlobitten praktische Erfahrungen mit den psychologischen Eigenheiten seines Schülers. Davon zeugt sein Kommentar: „Ein gut gearteter und in mancher Rücksicht psychologisch merkwürdiger Zögling machte zwar nicht schnelle, aber doch erträgliche Fortschritte, ohne mir Kummer oder Unannehmlichkeiten zu machen“6. Die praktische pädagogische Tätigkeit wirkte vorbereitend sowohl für die Vorlesungen zur Pädagogik als auch für die zur Psychologie. Beide Disziplinen stehen bei Schleiermacher erst erfahrend, beobachtend und reflektierend, später dann systematisch, inhaltlich und methodisch in einem gegenseitig sich bedingenden Wechselverhältnis. Die erste Berliner Zeit von 1796 bis 1802 war bezüglich der psychologisch wichtigen Leitmotive geprägt von inniger Freundschaft sowie intensiven Kontakten zu Menschen, Lebensweise und Werken der Romantik. Neben seiner Bindung zu Henriette Herz ist besonders Schleiermachers enge biographische sowie gedankliche Nähe zu Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu erwähnen, ebenso wie seine literarische Vorliebe für Ludwig Tieck. Hinweise darauf finden sich später wieder: die Natur des 4

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Vgl. John, Matthias: Carl Christian Schmid und die Psychologie um 1800, in: G. Eckardt: Psychologie vor Ort – ein Rückblick auf vier Jahrhunderte. Die Entwicklung der Psychologie in Jena vom 16. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2003, S. 45. Der Wolff-Baumgartenschen Schule nach gehörten zur Metaphysik Kosmologie, Ontologie, Psychologie und Theologie. Die Psychologie gliederte man in rationale und empirische. Während die erstere die Seele von Tieren, Fragen der Unsterblichkeit oder des Lebens nach dem Tode untersuchte und – besonders durch den Einfluss Kants – mehr und mehr an Bedeutung verlor, behandelte die empirische Psychologie hauptsächlich die Lehre der Vermögen, letztlich des Vorstellungs-, Begehrungs- und Gefühlsvermögens mit jeweils höheren und niederen Stufen. Vgl. John (2003), in: Eckardt (2003), S. 45 Vgl. Ziche (2001), in: Eckardt / John / Van Zantwijk / Ziche (2001), S. 97–100 Vgl. Schleiermacher: Selbstbiographie, in: Briefe 1, S. 13

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Menschen ganzheitlich und dynamisch zu betrachten, auf einer Einheit von Geist und Natur, Vernunft und Sinnlichkeit, Seele und Leib zu beharren. Auch Themen wie Magnetismus, Traum, Unbewusstes, Prophetie, ebenso wie gesteigerte Blicke auf Kindheit oder Trieb und Gefühl, bis hin zur Involvierung wahnsinniger Seelenzustände erlangen Einzug in das psychologische Nachdenken Schleiermachers. Mit „Vertraute Briefe über die Lucinde“ trat Schleiermacher in dieser Lebensphase auch schriftstellerisch hervor, motiviert durch die Freundschaft und den geistigen Austausch mit Friedrich Schlegel und dessen Werk. Ihn darum allein in den Umkreis der romantischen Psychologie zu stellen, ist jedoch nur teilweise gerechtfertigt. Konkreter wird die Beschäftigung mit einem anthropologischpsychologischen Gedankenkreis 1799 mit der anonym von Schleiermacher veröffentlichten Rezension von Immanuel Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“7 in der von den Brüdern Schlegel herausgegebenen Zeitschrift „Athenaeum“8. In der siebenseitigen Stellungnahme zu Kants Schrift bezeichnet er diese nicht nur als eine „Sammlung von Trivialitäten“9, sondern gar als „Negation aller Anthropologie, als Behauptung und Beweis zugleich, daß so etwas nach der von Kant aufgestellten Idee durch ihn und bei seiner Denkungsart gar nicht möglich ist“10. Insbesondere tadelt er den von Kant vorgenommenen „Gegensatz zwischen physiologischer und pragmatischer Anthropologie“, um gleich darauf zu erklären: „alle Willkühr im Menschen ist Natur, und [..] alle Natur im Menschen ist Willkühr; aber Anthropologie soll eben die Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existieren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe, nur in verschiedener Richtung.“11 Vermutlich bereits in den Spätherbst 1798 lassen sich mehrere Notizen zu Kants 7

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Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798; Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. 1–29, Berlin 1900 ff, hier Bd. 7: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1917 (2. Nachdr. 2000), S. 117–333 Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Bd. 1–3, Berlin 1798–1800, hier Bd. 2, Zweites Stück, Berlin 1799; KGA I/2, S. 365–369. Vgl. auch KGA I/2, S. LXXXVI, wo auf einen Brief Schleiermachers an Henriette Herz vom 19. Juni 1799 hingewiesen wird, in dem es heißt: „Diesen Mittag habe ich bei der Veit gegessen, habe dann meine Notiz von Kants Anthropologie dort zu Ende ins Reine geschrieben“ (KGA V/3, Nr. 663, 2–3) KGA I/2, S. 365 KGA I/2, S. 366 KGA I/2, S. 366

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Einleitung der Bandherausgeberin

Anthropologie datieren, die Schleiermacher im ersten Gedankenheft festgehalten hat.12 Zur Zeit seiner Lehrtätigkeit in Halle (1804–1807) war Schleiermacher regelmäßig in Kontakt mit Menschen, die bereits aktiv auf psychologischem Terrain hervortraten. Es kann davon ausgegangen werden, dass er deren Auffassungen auf diesem Gebiet aufmerksam verfolgte und diskutierte. Zu dem Personenkreis, dem er begegnete oder mit dem er freundschaftliche oder kollegiale Kontakte pflegte, gehörte Henrik Steffens, dessen naturphilosophische Lehre großen Einfluss auf Schleiermacher hatte und der in seinen Erinnerungen vielfach beschrieb, wie anregend und von gegenseitigem Austausch beseelt ihr Verhältnis war.13 Oft verkehrte Schleiermacher in den Häusern von Johann Friedrich Reichardt und August Hermann Niemeyer und dessen Frau, die zu dieser Zeit die geselligen Zentren Halles waren und in denen Gesprächskultur gepflegt wurde, beispielsweise mit dem Mediziner Ferdinand Justus Christian Loder. Auch der Arzt Johann Christian Reil, der heute als Begründer der romantischen Psychologie sowie der Psychiatrie gilt und neue Wege auf dem Gebiet der Psychosomatik ging, pflegte regelmäßigen Kontakt mit Schleiermacher. Seit der Rückkehr nach Berlin, geprägt durch die Tätigkeit als Prediger an der Dreifaltigkeitskirche (ab 1809), die Mitwirkung an der Universitätsgründung und durch die Mitgliedschaft in der philosophischen Abteilung der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die ihm ab 1810 die Arbeit als Professor der philosophischen Fakultät ermöglichte, lassen sich bis 1818 – dem Jahr der ersten Vorlesung zur Seelenlehre – keine konkreten, etwa literarischen Nachweise zu einer psychologischen Arbeit erbringen. Erneut sei aber darauf verwiesen, dass es auch und besonders in dieser Zeit Erfahrungen, Themenstränge und Lebenseinstellungen gibt, die die Vorlesungen zur Psychologie vorbereiten. Maßgeblich dafür sind zum einen sein Wirken als Prediger und Seelsorger sowie das Familienleben, wodurch seine Blicke auf individuelle und zwischenmenschliche seelische Erscheinungen und Prozesse geschärft wurden. Sodann pflegte er nachweislich vielfältige gesellige Kontakte sowohl zu Freunden und Bekannten als auch zu den Salons und Zentren geistigen Austauschs, 12 13

Vgl. Gedanken 172–178 sowie 189; KGA I/2, S. 39–40 und 43 Steffens, Henrik: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben, Bd. 1–10, Breslau 1840–1844, hier Bd. 5, 1842

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wo psychologische Themen eine Rolle gespielt haben dürften und die als maßgebliche Bildungsorte gelten können. Ferner gelangte er in verschiedenen seiner Vorlesungen, z.B. über die Glaubenslehre, die Dialektik, die Pädagogik, die Hermeneutik und auch die Ethik immer wieder an Schnittstellen zur Psychologie, an die er später in der Seelenlehre anknüpfen wird. So könnten beispielsweise im Entwurf einer Geistesphilosophie Ethik und Psychologie zusammenwachsen.14 In der Dialektik greift er auf die Ideen des Wissens, der Welt und Gottes zu, die alle drei in der Psychologie vom Selbstbewusstsein bzw. dessen gesteigerten Formen her entwickelt werden. Ebenso wird Religiosität als Gefühl in der Psychologie als höheres Selbstbewusstsein hergeleitet und begründet. Gegenüber der Pädagogik kann die Psychologie sogar als begründendes und ergänzendes Komplement verstanden werden. Während die Erziehungslehre den sozial orientierten Ansatz des Verhältnisses der Generationen wählt, entwirft die Seelenlehre Möglichkeiten und Bedingungen individueller Bildungsprozesse. Pädagogisches Handeln vollzieht sich ja immer in konkreten Situationen zwischen einzelnen Menschen, deren individuelles seelisches Dasein in der Psychologie entwickelt wird. Nicht ohne Bezüge zur Psychologie formuliert Schleiermacher in der Hermeneutik ein psychologisches Verstehen. Andererseits legt er in der Psychologie mit der theoretischen Herleitung des ästhetischen Gefühls aus dem Selbstbewusstsein und des Kunstschaffens aus dem Sich-Manifestieren-Wollen als Ausdruck der Selbsttätigkeit Grundsteine für die spätere Ästhetikvorlesung. Nicht zuletzt sei darauf verwiesen, dass meist auf alltäglichen Beobachtungen oder Erfahrungen basierende psychologische Berichte zunehmend zugänglich wurden. Eine Vielzahl von seelenkundlichen Periodika kamen ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf den Markt.15 Von 1783 bis 1793 erschien als erste und einflussreichste psychologische Zeitschrift in Deutschland das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Karl Philipp Moritz, der Herausgeber der insgesamt zehn Bände, erhielt Unterstützung z. B. von Moses Mendelssohn 14

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Vgl. Arndt, Andreas: Schleiermachers Psychologie – eine Philosophie des subjektiven Geistes?, in: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, edd. A. v. Scheliha / J. Dierken, Berlin/Boston 2017, S. 255; vgl. auch Scholtz, Gunter: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, S. 165 Vgl. Eckardt, Georg / John, Matthias: Anthropologische Zeitschriften um 1800, in: Eckardt / John / Van Zantwijk / Ziche (2001), S. 143–144

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oder Marcus Herz und initiierte eine öffentliche Diskussion über gewöhnliche und ungewöhnliche Fälle psychischer Erscheinungen in großer Breite. Der seinerzeit führende Psychiater Johann Christian Reil publizierte ab 1803 zusammen mit dem Philosophen Adalbert Kayssler das „Magazin für psychische Heilkunde“. Ab 1808 gab Reil dann gemeinsam mit dem Hallenser Psychologen Johann Christoph Hoffbauer eine „Zeitschrift zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege“ heraus.16 Um 1800 wurden nicht nur bereits seelische Störungen in Einzelfallstudien und in Ansätzen systematisch von Philosophen, Pädagogen und Psychologen diskutiert, sondern auch der Umgang mit kranken, behinderten und sterbenden Kindern öffentlich debattiert.17 Der Begriff Psychologie selbst taucht in den Schriften Schleiermachers bis zum Beginn der Vorlesung zur Seelenlehre sehr wenig auf. Der Gebrauch des Wortes erfolgt in verschiedenen Zusammenhängen, zumeist jedoch allgemein oder marginal.18 In seinen Briefen erwähnt Schleiermacher den Begriff – freilich von den Notizen im Zusammenhang seiner Vorlesungen abgesehen – ebenfalls kaum; taucht er einmal auf, wird er alltagssprachlich gebraucht. In die Hallenser Studienzeit fällt ein Brief Schleiermachers an seinen Freund Carl Gustav Brinckmann vom 8. August 1789, in dem es heißt: „Daß Du den Plan der ReligionsBriefe nicht aufgegeben freut mich ungemein. Diese beziehn sich auf das menschliche Leben und der Weg den Du dabei nimst ist selbst bei den jezigen Kriegszeiten sicher; die empirische Psychologie ist in diese Unruhen nicht mit verwikelt und Du brauchst Dich also um die heftigen Kanonaden in den Provinzen der Metaphysik gar nicht zu kümmern.“ An gleicher Stelle bereut er selbstkritisch, ihm sein eigenes erstes Freiheitsgespräch geschickt zu 16 17

18

Vgl. Nissen, Gerhardt: Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2005, S. 129–130 Vgl. aus kulturgeschichtlicher Perspektive Nissen (2005) sowie aus medizinhistorischer Sicht Ritzmann, Iris: Sorgenkinder. Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert, Köln/Weimar 2008 In „Freiheitsgespräch“ und „Über die Freiheit“ (KGA I/1, S. 137, 314, 351); „Reden über die Religion“, 2. und 3. Rede (KGA I/2, S. 240, 257, 366 sowie KGA I/12, S. 164); „Rezension zu Lichtenberg“, „Rezension von Engel: Lorenz Stark“ (KGA I/3, S. 416, 456); „Der Christliche Glaube“ (KGA I/7.1, S. 111, KGA I/7.2, S. 82, KGA I/7.3, S. 83); „Über die Schriften des Lukas“ (KGA I/8, S. 35); „Gedankenheft 1817–1819 “ (KGA I/14, S. 284, 295); in hermeneutischem Sinn in „Über den Begriff der Hermeneutik“, erste und zweite Abhandlung (KGA I/11, S. 619, 634, 635)

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haben und bittet ihn, „Eberharden nichts davon zu zeigen“.19 Obgleich die Psychologie in den meisten anderen philosophischen Vorlesungen sowohl vor 1818 als auch danach durchaus berührt wird, enthalten auch sie selten direkte Bezüge.20 Eine für die Psychologie als Disziplin wichtige Stelle offenbart die philosophische Ethik: „Die Psychologie entspricht der Naturlehre und Naturbeschreibung, ist also empirisches Wissen um das Tun des Geistigen. Die Logik ist, empirisch behandelt, zur Psychologie gehörig; […]. Die Psychologie aber erschöpft die empirische Seite nicht, sondern das thut die Geschichtskunde.“21 Dies deutet darauf hin, dass Schleiermacher die systematische Einordnung seiner Seelenlehre bereits vorgenommen hatte, auch wenn die detaillierte Ausarbeitung vermutlich erst mit dem Beginn der Vorlesung im Sommer 1818 entstand.

2. Vorlesungen über die Psychologie Von einer wissenschaftlichen Ausarbeitung einer Psychologie kann bei Schleiermacher nicht eher gesprochen werden als mit der ersten Aufnahme der Seelenlehre in seinen Vorlesungszyklus. Dies geschah vergleichsweise spät. Die Gründe, warum er ein Psychologiekolleg anbot, könnten, so ist vermutet worden, in der Suche nach Vervoll19 20

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KGA V/1, Nr. 121, 93–107 Dialektik: KGA II/10,1, S. 152–153, 272; Hermeneutik: KGA II/4; Ästhetik: SW III/7, S. 14, 81 und 242. Das folgende Zitat aus der Dialektik spricht für eine klare Vorstellung über rationale und empirische Psychologie: „In der rationalen Psychologie kann nichts anderes enthalten sein wenn sie nicht fantastisch werden oder ins empirische streifen soll als die Entwickelung der Idee des Wissens und der Idee des | Handelns wie beide auf die Idee Gottes und der Welt als constitutive Principien des menschlichen Daseins hinführen. In der Ontologie kann wenn sie nicht empirisch sein soll oder auf der empirischen Psychologie beruhen nichts enthalten sein als a. das jene beiden Ideen constituirende Entsprechen des Seins zur Form des Wissens und somit auch [b.] die Entwiklung der Relativität aller Gegensätze Also diese beiden Disciplinen sind correlata die nicht zu trennen sind, die leztere aber wesentlich unter die erstere subsumirt weil uns nur in der Grundbedingung unsres Seins diese Construction des endlichen Seins überhaupt gegeben ist. Wenn aber Theologie und Kosmologie etwas anderes sein wollen als was die Ideen für die Psychologie und Ontologie sind so gehn sie über das transcendentale Gebiet hinaus, wie sie sich denn auch überall als tingirt von dogmatischem und empirisch physischem zeigen“ (KGA II/10,1, S. 152–153) Bemerkungen zur Ethik (1832). Nach Schweizer. Zu § 61, vgl. Schleiermacher, Friedrich: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, in: Werke. Auswahl in vier Bänden [Braun/Bauer], edd. O. Braun / J. Bauer, Bd. 1–4, Leipzig 1910–1913, hier Bd. 2, 1913, S. 632–633; SW III/5, S. 37

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ständigung seiner Systemkonzeption liegen.22 Möglicherweise spielten auch universitätsinterne Motive eine Rolle, etwa eine Erweiterung des Lehrangebotes oder aber Ambitionen, sich Kollegen gegenüber ins Gespräch zu bringen oder abzugrenzen. Jedenfalls war eine Nachfrage an psychologischen Vorträgen gegeben. Die Vorreiter der Seelenlehre an der Berliner Universität waren Johann Christian Reil, der 1810, 1811 und 1812 erstmals vier Vorlesungen zur Psychologie gehalten hatte, Abel Burja, der 1811, 1812 und 1814 über die Lehre von der Seele las, sowie Johann Friedrich August Calker, der ebenfalls 1817 Psychologie vortrug.23 Johann Gottlieb Fichte bot von 1811–1813 fünf Kollegs über die Theorie des Bewusstseins an.24 Darauf folgte 1818 Schleiermacher mit seiner ersten Psychologievorlesung. Für die folgenden Jahre kann von einer regelrechten Flut von psychologischen Vorträgen gesprochen werden.25 Bereits einem Brief vom 29.12.1816 an Johann Christian Gaß ist zu entnehmen, dass Schleiermacher sich mit dem Gedanken trug, eine Psychologievorlesung anzubieten: „Wie sehne ich mich danach, ein anderes solches specielles Collegium einmal lesen zu können, aber leider fehlen mir noch ganze Disciplinen, an die ich noch nicht kommen kann. Einleitung ins Neue Testament, Psychologie, Ästhetik. Davon bin ich noch sehr weit entfernt. Hören würden die Leute wohl auch dergleichen, wenn man es publice läse.“26 Erst im Sommersemester 1818, somit als eine der letzten Disziplinen, denen er sich widmete, aber noch vor der Ästhetik (erstmals vorgetragen im Sommersemester 1819), setzte er die erste Vorlesung zur Psychologie in die Tat um, drei weitere folgten im Sommer 1821 und 1830 sowie im Winter 1833/34. 22

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Vgl. Herms, Eilert: Die Bedeutung der Psychologie für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, edd. G. Meckenstock in Verbindung mit J. Ringleben, Berlin/New York 1991, S. 369–401 Vgl. Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten [= Virmond], ed. W. Virmond, Berlin 2011, S. 9, 17, 30, 41, 31, 42, 82, 144 Vgl. Virmond 2011, S. 19, 31, 53, 64, 74 Vor allem Ernst Stiedenroth, Hermann Wilhelm Ernst Keyserlingk, Immanuel Hermann Fichte, später auch August Heinrich Ritter und Friedrich Eduard Beneke boten immer wieder Collegien zur Seelenlehre an. Georg Wilhelm Friedrich Hegel widmete sich ab 1819 der Naturphilosophie. Neben philosophisch ambitionierten Kollegs tauchten auch zunehmend in der medizinischen Fakultät Abhandlungen über die Seele auf. Vgl. Virmond (2011) Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundesbriefe 1804 bis 1834. In neuer Form und mit einer Einleitung und Anmerkungen [= Briefe ed. Meisner], ed. H. Meisner, Stuttgart/Gotha 1923, S. 242–243

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1. Die Vorlesung im Sommersemester 1818 Das Kolleg begann am 16. April 1818 und war wie folgt angekündigt: „Die Psychologie, Herr Prof. Schleiermacher 5mal wöchentlich von 6–7 Uhr Morgens. | Psychologiam docebit quinquies p. h. hor. vi–vii. matutina.“ Schleiermacher hatte 137 Hörer, darunter 12, die keine Studenten waren.27 Das Ende der Vorlesung datiert Virmond auf den 21. August.28 Allerdings schrieb Schleiermacher im unten erwähnten Brief an Blanc am Mittwoch, den 19. August, er habe die Kollegien am Freitag geschlossen, wobei es sich nur um den Freitag vor dem 19.8. handeln kann, also um den 14. August. Gleichzeitig berichtete er, zusätzlich eine Ergänzung von „zuletzt noch hintereinander ¾ Stunden Psychologie und ¾ Stunden Exegese gelesen“ zu haben.29 Da aus dem Jahr 1818 kein Tageskalender Schleiermachers verfügbar ist, lassen sich die einzelnen Stunden nicht datumgenau nachvollziehen. Die Hamburger Nachschrift des Kollegs belegt, dass regulär 82 Vorlesungen stattgefunden haben, die der anonyme Verfasser nummeriert. Darüber hinaus folgt ein Textbestand von mehreren Seiten, der keine weitere Bezifferung trägt, gleichwohl aber die Vorlesung fortsetzt und den Inhalt des nachträglich gehaltenen Vortrags wiedergibt. Im gleichen Semester bot Schleiermacher ein Kolleg über den zweiten Brief Pauli an die Korinther und den an die Römer, eines zur Einleitung in die dogmatische Theologie sowie eine exegetische Übung an.30 Schleiermacher äußerte sich in sechs erhaltenen Briefstellen explizit zu seiner ersten Psychologie-Vorlesung von 1818. Zum einen schrieb er am 23. März 1818, also kurz vor Beginn des Semesters, an Ludwig Gottfried Blanc: „und dann soll ich noch meinen ganzen Leisten und Zuschnitt für die Psychologie erfinden. Diese Tollheit, auf die ich gar nicht recht weiß wie ich gerathen bin, werde ich schwer büßen müssen.“31 Die zweite Briefnotiz zur Psychologie findet sich am 11. Mai 1818, wo an Joachim Christian Gaß im Zusammenhang mit dem zeitgleich gehaltenen Kolleg zur Dogmatik zu lesen ist: „und bis jetzt schreibe ich noch immer nach dem Collegio recht ordentlich auf. 27 28 29 30 31

Vgl. Virmond (2011), S. 166 Vgl. Virmond (2011), S. 166 Briefe 4, S. 240 Vgl. Virmond (2011), S. 161, 162 und 171 Briefe 4, S. 233

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Einleitung der Bandherausgeberin

Dasselbe thue ich auch mit der Psychologie, einem ganz funkelnagelneuen Collegio, dem stärkstbesetzten, was ich noch gehabt habe, denn ich habe 130 Zuhörer. Wie es recht werden wird, weiß ich noch nicht, bis jetzt ist es so leidlich gegangen.“32 An August Immanuel Bekker schrieb Schleiermacher, drittens, am 16. Mai. 1818: „Ich lese übrigens diesen Sommer wieder von 6–9 Uhr Morgens, und zwar von 6–7 Psychologie, ein ganz neues Collegium und das stärkst besetzte, was ich noch gehabt habe, denn ich habe 130 Zuhörer, habe aber so wenig dazu können vorarbeiten, daß ich kaum die Hand vor Augen sehe. Desto weniger kann ich natürlich an andere Arbeiten denken.“33 August Detlev Christian Twesten schilderte Schleiermacher viertens, am 11. Juli 1818: „Diesen [Brief] hat wie manches andere die Psychologie verschlungen, die ich zum ersten Male lese und an die ich ohne bestimmte Vorbereitung gegangen bin, so daß ich mich nun in einem fort vorbereiten muß und aus der Hand in den Mund lebe.“34 Vom 19. August 1818 stammt der Brief an Blanc, in dem Schleiermacher berichtete: „Meine Collegia habe ich am Freitag geschlossen, und zuletzt noch hintereinander ¾ Stunden Psychologie und ¾ Stunden Exegese gelesen.“35 Wie bereits erwähnt weist die Hamburger Nachschrift neben den 82 nummerierten Vorlesungsstunden zusätzlich die Dokumentation einer Fortsetzung des Kollegs nach. Schleiermacher hat offensichtlich nach Abschluss der Vorlesung noch einen Vortrag angeschlossen. Vier Monate nach Beendigung der Vorlesung über die Psychologie erwähnte Schleiermacher diese rückblickend in einem Brief an Carl Gustav von Brinckmann vom 31. Dezember 1818: „Wieviel jünger ich an Jahren bin, weiß ich nicht genau; ich habe vor wenig Wochen auf eine recht fröhlich festliche Weise mein fünfzigstes Jahr vollendet, und ich kann rühmen daß ich weder meine geistige Productivität noch meine Empfänglichkeit geschwächt fühle. Das erste mußt Du mir leider aufs Wort glauben, da ich seit mehreren Jahren mit nichts bedeutendem öffentlich aufgetreten bin. Aber das Hervorbringen liegt in den Vorlesungen. Noch in den lezten Jahren habe ich eine Politik eine 32 33 34 35

Briefe ed. Meisner, S. 277 Bekker, Immanuel. Papers, [Box 1, Folder 13], Special Collections Research Center, University of Chicago Library Heinrici, George: Dr. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, S. 318 Briefe 4, S. 240

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Dialektik eine Psychologie nach meiner eignen Weise vorgetragen, von denen ich hoffe wenn sie auf dem Papier ständen sollten sie sich Deines Beifalls erfreuen; und im nächsten Jahren denke ich an die Aesthetik zu gehn.“36 Weniger der Druck, der aus den Worten an die Freunde spricht, wohl aber die gewissenhafte Vorbereitung des Kollegs lassen sich an dem ersten, bis heute erhaltenen Manuskript zur Psychologie-Vorlesung erkennen, der es zu verdanken ist, dass aus dem Jahre 1818 die am sorgfältigsten ausgearbeiteten und umfangreichsten Aufzeichnungen zur Seelenlehre Schleiermachers von dessen Hand vorliegen. Offensichtlich näherte er sich seinem neuen Kolleg, indem er einschlägige Literatur studierte und sich Lektürekommentare, erste Ideen für seine Vorlesung sowie Schlagwörter notierte. Den Gedanken zur Vorlesung von 1818 ist diese Herangehensweise deutlich zu entnehmen. Das Manuskript wird eröffnet von 57 kurzen Eintragungen, die sich direkt vor dem Beginn der tatsächlichen Stundenaufzeichnungen befinden. Weitere 65 sind verstreut zwischen den Stunden zu lesen, hauptsächlich in der ersten Hälfte der Vorlesung konzentriert. Von den insgesamt 122 Gedanken sind 17 am Rand vermerkt. Während als sicher gelten kann, dass die 105 Notizen, die sich fortlaufend im Heft befinden, im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1818 entstanden, liegt es nahe, dass die marginalen Eintragungen erst im Sommer 1821 hinzugefügt wurden, als Schleiermacher zum zweiten Mal Psychologie las und das Heft von 1818 dazu zur Grundlage nahm. In Schleiermachers Bibliothek befanden sich eine Reihe von Titeln, die er gewiss im Zusammenhang mit seinem ersten Kolleg zur Seelenlehre rezipiert hat.37 Freilich nahm er zeitgenössische Literatur 36 37

Briefe 4, S. 240–241 Aristoteles: Opera omnia [gr./lat.], ed. J. T. Buhle, Bd. 1–4, Zweibrücken 1791– 1793; Bd. 5, Straßburg 1800 [SB 75]; Brandis, Joachim Dietrich: Über psychische Heilmittel und Magnetismus, Kopenhagen 1818 [SB 337]; Eschenmayer, Carl August: Psychologie in drei Theilen als empirische, reine und angewandte. Zum Gebrauch seiner Zuhörer, Stuttgart/Tübingen 1817 [SB 623]; Fichte, Johann Gottlieb: Die Thatsachen des Bewußtseins. Vorlesungen gehalten 1810–11, Stuttgart/Tübingen 1817 [SB 673]; Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie, Königsberg 1816 [SB 880]; Platon: Omnia opera [gr.], ed. J. Oporinus, Bd. 1–2, Basel 1534 [SB 1489]; Reinbeck, Johann Gustav: Philosophische Gedanken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit, Berlin 1740 [SB 1570]; Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Ideen zu einer Philosophie der Natur, Leipzig 1797 [SB 1686]; Ders.: Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus. Nebst einer Abhandlung über das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts, Hamburg 1798 [SB

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und Debatten wahr. Die meisten Bezüge und Rückgriffe in seiner Seelenlehre speisen sich jedoch aus der antiken Philosophie, in der Schleiermacher sich bestens auskannte. Zumeist leitete er einen Sachverhalt der Vorlesungen mit Blick auf die „Alten“ ein,38 besonders auf Aristoteles und Platon. Beide beschäftigten sich mit dem Phänomen Seele. Während Platon eher von außen her zu dem Wesen der Seele vordrang,39 gilt Aristoteles als der erste systematisch-psychologische Denker,40 der Seele als das Prinzip für das Leben ansah41. Gleichwohl sind beide Ansätze bei Schleiermacher zu entdecken: Platons Einbettung der menschlichen Seele in ein kosmologisches Verständnis als Weltseele, als auch Aristoteles’ Ansatz, die menschliche Seele als lebendiges, organisches Prinzip zu beschreiben und dem Körper erst eine lebendige Form zuzuerkennen, wenn er mit einer Seele ausgestattet ist.42 Namentlich erwähnte Schleiermacher in den psychologischen Vorträgen des Sommersemesters 1818 Johann Christian August Heinroth, Henrik Steffens, Aristoteles, Carl August Eschenmayer, Immanuel Kant, Plato, Christian Weiß, Johann Wolfgang Goethe, Friedrich August Carus, Johann Christian Reil sowie Gottfried Reinhold Trevi-

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1691]; Schubert, Gotthilf Heinrich von: Altes und Neues aus dem Gebiete der innren Seelenkunde, Bd. 1, Leipzig 1817 [SB 2561]; Schulze, Gottlob Ernst: Psychische Anthropologie, Göttingen 1816 [SB 1787]; Steffens, Henrik: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin, 1806 [SB 1890]; Stewart, Dugald: Anfangsgründe der Philosophie über die menschliche Seele, Bd. 2, Berlin 1794 [SB 1904]; Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte, Bd. 1–5, Göttingen 1802–1818 [SB 2016]; Weiß, Christian: Untersuchungen über das Wesen und Wirken der menschlichen Seele, Leipzig 1811 [SB 2126]; Winkler, Johann Heinrich: Philosophische Untersuchungen von dem Seyn und Wesen der Seelen der Thiere, Leipzig 1745 [SB 2151]; Wolff, Christian: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, 3. Aufl., Halle 1725 [SB 2162] Einen Hinweis darauf liefert die Nachschrift Iffland: Iffland, Carl Theodor: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1833/34, MS germ oct 720 (StBPK), S. 159: „sehr alt ist die Entdeckung noch nicht, und Schleiermacher weiß nicht, wer diesen Trieb entdeckt hat. In der ganzen antiken Philosophie nicht davon die Rede.“ Vgl. z. B. das Gleichnis vom Wagenlenker, Platon: Phaidros 246a–b; KGA IV/3, S. 202–206 Vgl. Watson, Robert: The Great Psychologists, 4. Aufl., Philadelphia 1978: „The first to develop a systematic psychology was Aristotle, who may therefore be regarded as the first philosophical psychologist“ (S. 43) Aristoteles, De anima 402a; Opera, Bd. 1–2, Leiden 1520 [SB 74], hier Bd. 1, S. 379; ed. W. D. Ross, 12. Aufl., Oxford 1989, S. 1–2 Vgl. Eckardt, Georg: Kernprobleme in der Geschichte der Psychologie, Wiesbaden 2010, S. 23–33

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ranus und kommentierte einzelne Gedanken zustimmend oder auch ablehnend. Die Lektüre von Gottfried Wilhelm Leibniz, Ernst Platner, Charles Louis de Montesquieu, Johann Gottlieb Fichte, Diogenes Laertius, Christian Wolff oder auch Friedrich Wilhelm Schelling ist darüber hinaus deutlich erkennbar, auch wenn deren Namen keine direkte Erwähnung finden. Weit schwerer zu erfassen, dafür aber vermutlich ebenso einflussreich für die Konzeption der neuen Vorlesung waren sicherlich die Gespräche, die Schleiermacher in dieser Zeit mit Freunden oder Kollegen führte. Während die Gedanken zur Psychologie vor und zwischen den Ausarbeitungen der einzelnen Stunden zu finden sind und eher spontanen Reflexionen oder Einfällen gleichen, hat Schleiermacher die Texte zu den einzelnen Stunden erst nach dem Kolleg aufgeschrieben. Dies lässt sich nicht nur durch die oben erwähnte Briefstelle belegen.43 Auch im Text selber (4. Stunde) findet sich ein Hinweis auf diese Vorgehensweise: „(NB diese Wörter habe ich aber in dieser Stunde noch nicht gebraucht)“44. In seinem Gedankenheft 1817–1819 notierte Schleiermacher drei Vermerke darüber, bis zu welcher Stelle er an bestimmten Tagen im Psychologiekolleg des Jahrgangs 1818 gelangt war. Erstens: „Psychologie, stehn geblieben: [Wie] in Seelen derselben Art der Glaube und der Unglaube an Gott sein können.“45 Dieser Eintrag bezieht sich wohl auf die 26. Vorlesungsstunde. Ausgehend von der Frage, wie die Idee der Welt in die Seele kommt und sich in dem einen anders als in dem anderen darstellt, wird diskutiert, ob und wie die Seele die Idee der Gottheit erlangen kann.46 Zweitens: „Psychologie stehn geblieben bei der Differenz des Mitgefühls und den verschiedenen Arten desselben.“47 Diese Notiz 43 44 45 46

47

Oben S. XXVII–XXVIII Manuskript 1818: Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 5, Bl. 8r, unten S. 20 Vgl. KGA I/14, S. 286 Die 26. Vorlesung endet laut Hamburger Nachschrift 1818 (Privatbesitz Hamburg), S. 222–223: „Es scheint also wir kommen auf unserm Gebiet zu nichts anderem als: in einigen ist die Gottheit mit dem Gefühl der Wahrheit gesetzt, in anderen nicht, die sie also nur erhalten haben durch jene. Dann müssen wir also fragen: wie ist denn die Seele zu dieser Duplicität gekommen, und wie können wir sie erklären, so daß die Seele dieselbe bleibt? Das ist die engste Frage die wir uns hier stellen müssen; kommen wir damit nicht aus, | so müssen wir sagen: es ist hier nichts auszumachen, sondern es ist lediglich der reinen Philosophie zu überlassen.“ (Unten S. 295) Vgl. KGA I/14, S. 286

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Einleitung der Bandherausgeberin

verweist auf die 29. Stunde des Kollegs, in dem das Mitgefühl – entstehend aus der sozialen Gesetztheit des Menschen und der Notwendigkeit, mit anderen in Beziehung zu treten – als „Übergehen der Zustände des anderen in uns“48 beschrieben und analysiert wird. Drittens: „Psychologie, stehn geblieben. Zu erklären wie die Einheit des Menschen als Gattung stehe gegen die angeborene Nationaldifferenz“49. Bei dem letzten Vermerk handelt es sich wahrscheinlich um die 63. Stunde. In dieser geht Schleiermacher von der Frage aus, woher die persönlichen Unterschiede zwischen Einzelnen kommen, und erklärt, dass diese nicht vom Individuum herrühren können (dann wären sie Zufall), sondern aus der Einheit der Gattung zu betrachten sind. Der Einzelne drückt nur einen Moment des Lebens der Gattung aus. Dem gegenüber stehen nationale Unterschiede von Völkern und Zeiten.50 Die Vorlesung zur Psychologie im Sommer 1818 gliedert sich in drei größere Teile: Einleitung (1. bis 10. Stunde), Elementarischer Teil (11. bis 77. Stunde) und Konstruktiver Teil (78. Stunde bis Ende). Die Einleitung umfasst Grundsätzliches: die systematische Verortung der Disziplin und deren Abgrenzung gegenüber anderen Ansätzen, die Frage nach einer möglichen Art der Erkenntnis, die Gegenstandsbestimmung, die Darlegung des Standpunkts in der Leib-SeeleDiskussion verbunden mit der Abgrenzung des Menschlichen nach unten und nach oben, die Frage, welche persönlichen und gruppenspezifischen Unterschiede existieren sowie die Klärung des methodischen Vorgehens. Sehr klar geht aus den einleitenden Betrachtungen hervor, dass Schleiermacher einen eigenständigen Weg für seine Seelenlehre zu gehen beabsichtigte: „Wenig Vorgänger sind erst da, und nur die ersten Schritte | können gethan werden.“51 Dem entspricht auch die Bemerkung im oben genannten Brief an Brinckmann: „Noch in den lezten Jahren habe ich […] eine Psychologie nach meiner eignen Weise vorgetragen“52. Die Konzeption seiner Psychologie orientierte Schleiermacher weniger an anderen Entwürfen dieser aufkeimenden Disziplin, als vielmehr an den Leitlinien seines eigenen Denkens, wie er es 48 49 50 51 52

Hamburger Nachschrift 1818, S. 242, unten S. 303 Vgl. KGA I/14, S. 294 Vgl. Hamburger Nachschrift 1818, S. 510–518, unten S. 406–409 Manuskript 1818, Bl. 6r–6v, unten S. 16 Briefe 4, S. 240

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beispielsweise in der Ethik, der Dialektik oder auch der Pädagogik entwickelte. Zur wissenschaftlichen Einordnung seiner Seelenlehre intendiert Schleiermacher zunächst: „Anfangen muß ich wol mit der Begrenzung gegen die Anthropologie“53, gegen jenes Lehrfach also, das nach Schleiermacher „empirische Beschreibung der Natur“54 ist. Die Linie gegen die Anthropologie zu ziehen bedeutet, die Psychologie theoretisch von dieser zu separieren, „um das geistige Princip, welches durch das ganze Leben hindurch geht auf einer bestimten Stufe, der einzigen die uns wirklich gegeben ist anzuschauen und davon auf das allgemeine auszugehen.“55 Schleiermacher schließt diese Überlegung an gleicher Stelle mit der Konsequenz: „Die Psychologie ist also auf der einen Seite ein Bruch (nicht ein organischer Theil) der Anthropologie“56. Allerdings scheint dies mit der bisher unveröffentlichten Notiz aus demselben Heft zu kollidieren: „Die Psychologie ist auf der einen Seite nur Bruch (nämlich Theil der Anthropologie)“57. Heißt es einmal „nämlich“ und einmal „nicht“, so muss dies kein Widerspruch sein. Die Seelenlehre ist „Erstlich zusamen mit der Anthropologie“58. Psychologie im Sinne Schleiermachers geht zweifelsohne von der Gesamtheit der Menschenkunde als Physiologie und Psychologie umfassend aus, denn das Geistige ist nur in seiner untrennbaren Einheit mit dem Physischen gegeben und kann auch nur als solches angeschaut werden. „Bruch“ hat nicht die Bedeutung von Lossagung oder endgültiger Entzweiung, sondern vielmehr von Abbruch, Exkurs. Die Psychologie stellt keinen o r gan i s c h e n Teil der Anthropologie dar, sondern trennt sich von ihr, um einen eigenen Fokus, den des Geistigen, zu setzen, nicht ohne deren Grundlagen anzuerkennen.59 Korrespondierend damit geht die Seelenlehre methodisch von der Erfahrung aus und schreitet auf dem Weg zur höheren Erkenntnis fort, indem 53 54 55 56 57 58 59

Manuskript 1818, Bl. 5v, unten S. 15 Ethik 1816, vgl. Braun/Bauer (1913), Bd. 2, S. 506 Manuskript 1818, Bl. 6v, unten S. 16 Manuskript 1818, Bl. 6v, unten S. 16 Manuskript 1818, Bl. 2v, unten S. 7 Manuskript 1818, Bl. 5v, unten S. 15 Die zuverlässige Hamburger Nachschrift teilt den Sachverhalt so mit: „Aber indem wir eine Psychologie wollen, wollen wir ein Aggregat von einzelnen Brüchen aus denjenigen Kenntnissen, welche die Anthropologie bilden. Das Psychische wollen wir uns bloß heraussuchen aus der Anthropologie, das darum nichts ist als ein Bruch derselben, denn ein Theil derselben ist es nicht.“ Hamburger Nachschrift 1818, S. 22–23, unten S. 211

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Einleitung der Bandherausgeberin

sie „auf den sich dazu eignenden Punkten die Verbindung mit speculativen Bliken versuchen“60 möchte. Darum ist es nicht verwunderlich, dass im Sommer 1818 (allerdings nur hier) die Psychologie – einhellig in allen Textzeugen – als Fortsetzung der oben genannten Zitate auf der anderen Seite als „Glied in der ganzen Reihe der Pneumatologie“61 bzw. – in der dem Kolleg vorangestellten Notiz – auch als „Unendliches (nämlich Theorie der Pflanzen Thiere Menschen Erde und Weltseelen[)]“62 charakterisiert wird. Diese Richtung auf das Metaphysische und Theologische, mithin die spekulative Denkweise, gehören ebenso zur Psychologie Schleiermacherscher Bestimmung wie der anthropologische Ansatz. Auch wenn er sein Anliegen, empirisch beginnen und spekulativ fortschreiten zu wollen, klar formuliert, verschwimmen die Grenzen im tatsächlichen Kolleg immer wieder. Dabei bleibt vorerst unbestritten: „Psychologie kann nur Steigerung des vorausgesezten sein, keine strenge Wissenschaft“63. Bei der Darlegung der einzelnen Sachverhalte verfährt Schleiermacher methodisch konsequent: immer dialektisch, stets beim Einfachen beginnend und zum Allgemeinen aufsteigend, jederzeit alle anderen Teile der Untersuchung mit berücksichtigend und dynamisch. Eine Grundvoraussetzung der Seelenlehre, die Schleiermacher in der Einleitung erörtert, ist die untrennbare Einheit von Leib und Seele. Eine Trennung ist unmöglich, denn „Der Leib ist also Organ der Welt auf die Seele und Organ der Seele auf die Welt.“64 Als solches vermittelt er zwischen dem Individuum und dessen Umgebung und gewährleistet, dass der Einzelne Welt aufnehmen und sich selbst in dieser manifestieren kann. Nicht zuletzt ist die Einheit von Leib und Seele eine Grundkonstante des in der Ethik ausführlich behandelten Zusammenhangs von Naturbestimmtheit und vernünftiger Selbstbestimmung. Im Elementarischen Teil des Kollegs werden die einzelnen möglichen und allen Menschen gemeinsamen Tätigkeiten der Seele untersucht. Grundlage dafür bildet der Begriff des Lebens. Aus der Bewahrung der Einheit des Lebens resultiert, dass alle Tätigkeiten in der als agens verstandenen und in jedem Augenblick als Ganzes zu betrach60 61 62 63 64

Manuskript Manuskript Manuskript Manuskript Manuskript

1818, 1818, 1818, 1818, 1818,

Bl. Bl. Bl. Bl. Bl.

6r, unten S. 16 6v, unten S. 16 2v, unten S. 7 5v, unten S. 15 3r, unten S. 18

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tenden Seele untereinander in einem untrennbaren Zusammenhang stehen. Die Dynamik des zeitlichen und qualitativen Lebensverlaufs wird dadurch erklärbar, dass es einzelne unterschiedliche Momente gibt, die in einander übergehen und in ihrer Einheit Lebensprozesse konstituieren. Ein psychischer Moment zeichnet sich durch spezifische Anteile bestimmter Seelentätigkeiten aus, wobei eine Tätigkeit überwiegt, während andere nur minimal vorhanden sind. Er ist dann beendet, wenn die dominierende Tätigkeit von einer anderen abgelöst wird und sich ein neuer Moment entwickelt. Jene Wechsel- und Übergangsbewegungen liegen dem gesamten Elementarischen Teil zu Grunde. Nun steht der Mensch als Natur und Geist in sich vereinendes, natürliches und vernünftiges Wesen in einem relativen Gegensatz gegen alles Übrige, das ihn erst zu einem individuellen macht. Jenes Übrige umfasst sowohl andere Menschen, als auch die unbelebte Welt. Durch seine Tätigkeiten gehen Wirkungen vom Individuum auf seine Umgebung aus, ebenso, wie es auch durch das Außerihm beeinflusst wird. Diese beiden Seiten des Lebens bezeichnet Schleiermacher in der späteren Vorlesung von 1830 als den individuellen und universellen Prozess. Auch wenn diese Begriffe im Sommer 1818 nur implizit gebraucht werden, führt die Beschreibung dieses ständigen Austauschs auf die theoretische Grundkategorie der Psychologie: das dialektische Gegensatzpaar von Rezeptivität und Spontaneität. Die wechselseitige Bedingtheit beider Prozesse, des Aufnehmens äußerer Eindrücke und des Ausströmens der Selbsttätigkeit, setzt voraus, dass keines von beiden je verschwinden kann, sondern in jeder Tätigkeit, wenn auch minimal, vorhanden ist, anwächst, wieder abschwillt, abwechselt. Schleiermacher erklärt das gesamte Seelenleben mit dieser Theorie. Mit seinem Ansatz sichert er nicht nur die Kontinuität des psychischen Lebens und entwickelt ein lebendiges, oszillierendes Selbst-Welt-Verhältnis, modern gesprochen eine Theorie der Resonanzbeziehung,65 sondern weist auch deutlich die damalige Vermögenspsychologie zurück. Das Geistige spaltet sich in die Duplizität des Bewusstseins von etwas außer uns – das Objektive – und in das von etwas in uns – das Subjektive. Rezeptivität und Spontaneität werden mit der subjektiven 65

Vor dem Hintergrund der Resonanztheorie von Hartmut Rosa erkundet Jens Beljan mit Bezug u.a. auf Schleiermacher die Wurzeln einer modernen Resonanzpädagogik, die die Weltverhältnisse als Ausgangspunkt für Bildung versteht. Vgl. Beljan, Jens: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone. Eine neue Perspektive auf Bildung, Weinheim/Basel 2017

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Einleitung der Bandherausgeberin

und objektiven Richtung des Bewusstseins in eine Quadruplizität geführt, eine Kreuzung zweier Gegensatzpaare und eine Vierteilung möglicher Manifestierung von Tätigkeiten. Rezeptivität des subjektiven Bewusstseins meint Empfinden, des objektiven Betrachten, Erkennen. Spontaneität des subjektiven Bewusstseins äußert sich dagegen als Drang zur Tätigkeit, des objektiven als Hervorbingen von Gegenständen. Als aufnehmende Tätigkeiten, freilich gemäß seiner Theorie immer mit einem innewohnenden Anteil an Selbsttätigkeit, beschreibt Schleiermacher im Fortgang der Vorlesung erstens die eher organischen Tätigkeiten der fünf speziellen Sinne und des allgemeinen Sinnes, zweitens, in einer Steigerung der sinnlichen Tätigkeit, die mehr geistigen Aktivitäten des Denkens in ihrem Zusammenhang mit der Sprache und drittens und am weitesten entwickelt, das subjektive Bewusstsein auf seinen höheren Stufen, dem Gattungs- und dem religiösen Bewusstsein. Zu den ausströmenden Tätigkeiten, die immer auch minimal aufnehmend sind, gehören in ihrer Verbindung mit einer idealen oder realen Richtung Wissenschaft, Kunst und Fantasie sowie die Sicherung von Nahrung und Schutz. Die Benennung als Produktivität im Denken, Selbstmanifestation, Besitzergreifung und Selbsterhaltung erfolgt im Sommer 1818 noch nicht explizit. Die Anklänge an die in der Ethik ausgeführten symbolisierenden und organisierenden Tätigkeiten der Vernunft fallen ins Auge. Mit der Frage nach den möglichen Unterschieden der einzelnen Seelen werden (ab Stunde 52) die Temperaments-, Charakter- und Geschlechtsdifferenzen sowie die Stufen der Vortrefflichkeit (Genie, Heros) besprochen. Den Abschluss des Elementarischen Teils bilden die Ausführungen über die Differenzen mit sich selbst durch das Gesetztsein in der Zeit, mithin erstens die nähere Betrachtung der Lebensalter, beginnend mit der Erzeugung, über Kindheit, Jugend, reifes und hohes Alter bis zur Erörterung des Todes und zweitens die Unterscheidung von Wachen und Schlafen. Der Konstruktive Teil soll die Eigentümlichkeiten an sich und in ihrem Verhältnis zu größeren Gemeinschaften zur Anschauung bringen und berührt abschließend Fragen der Transzendenz der Seele. Indem letztere als Teil des geistigen Prinzips an sich verstanden wird, führt Schleiermacher sie aus ihrer konkreten Einzelheit hinaus zunächst in die tellurische Dimension des Geistes in Bezug auf die Erde und danach gar auf die Frage ihrer irdischen und überirdischen sowie

Historische Einführung

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kosmischen Existenz. Diese Erweiterung erfolgt so nur in der Vorlesung im Sommer 1818. Die Themen Magnetismus und Prophetie, die im Laufe des Kollegs nicht behandelt wurden, finden ihren Platz in dem nachträglichen Vortrag, der sich an die letzte Stunde anschloss. Mit dem Abriss des Inhalts fällt noch eine Eigentümlichkeit der Vorlesung von 1818 besonders ins Auge: Die Differenzen des Temperaments, Geschlechts, Charakters und der Dignität werden hier im Elementarischen Teil erörtert. Später verlagert Schleiermacher diese (beispielsweise 1830 ab Stunde 59) in den Konstruktiven Teil. Leopold George schrieb in seinem Vorwort zu dem Druck der psychologischen Vorlesungen in den Sämmtlichen Werken, dass das Kolleg von 1818 „von der naturphilosophischen Strömung der Zeit stark afficirt“66 sei. Ganz sicher sind bei Schleiermacher Anklänge zeitgenössischer Entwürfe zu beobachten, die sich an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling anschlossen und verschiedene Ausprägungen beispielsweise bei Friedrich August Carus, Henrik Steffens, Johann Christian Reil, Johann Wilhelm Ritter, Joseph Görres oder Carl August Eschenmayer fanden. Mit den Werken all dieser Autoren war Schleiermacher vertraut, wie seine Bibliothek und die Bezüge innerhalb seiner Vorlesung zeigen. Auch die Wahl der Begrifflichkeiten deutet vielfach auf eine naturphilosophische Quelle hin. Abgesehen von mancher Terminologie und einer deutlichen Reifung, einer stärkeren Verknüpfung der Gedankengänge sowie einer steigenden Sicherheit und Überzeugungskraft der Theorie unterscheiden sich die Konzeptionen sowie die Grundideen des ersten Psychologiekollegs in ihren groben Zügen jedoch nicht eminent von den späteren Vorlesungen. Gleichwohl finden sich im Detail Veränderungen vor, etwa ein verschobener Fokus oder ein an einer anderen Stelle der Vorlesung verhandelter Gegenstand.

2. Die Vorlesung im Sommersemester 1821 „Die Seelenlehre trägt in fünf wöchentlichen Stunden Morgens von 6–7 Uhr Herr Prof. Schleiermacher vor. | Privatim psychologiam docebit hor. vi–vii. matut. quinquies p. hebd.“ So lautete die Ankündigung des Kollegs im Sommer 1821, an der 89 Hörer teilnahmen.67 66 67

SW III/6, S. IX Virmond (2011), S. 251

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Einleitung der Bandherausgeberin

Im gleichen Semester bot er eine Vorlesung zur Leidensgeschichte Jesu, eine zur Dogmatik sowie eine exegetische Übung an.68 Nicht nur lässt sich anhand des erhalten gebliebenen Tageskalenders aus dem Jahr 1821,69 in den Schleiermacher täglich Notizen zu seinen Terminen und Unternehmungen eintrug, rekonstruieren, dass er die Seelenlehre am 25.4. vorzutragen begann und am 24.8. schloss, sondern auch das Datum jeder einzelnen Stunde zur Psychologie. Die folgende Übersicht enthält nur die Eintragungen, die für die Seelenlehre relevant sind. Die Stunden, die nicht explizit vermerkt sind, wurden in eckigen Klammern ergänzt: Datum April 1821 25. Mittwoch 26. Donnerstag 27. Freitag 30. Montag Mai 1821 1. Dienstag 2. Mittwoch 3. Donnerstag 4. Freitag 7. Montag 8. Dienstag 9. Mittwoch 10. Donnerstag 11. Freitag 14. Montag 15. Dienstag 16. Mittwoch 17. Donnerstag 18. Freitag 21. Montag 22. Dienstag 23. Mittwoch 24. Donnerstag 25. Freitag 28. Montag 29. Dienstag 30. Mittwoch 31. Donnerstag 68 69 70

Eintragungen zur Psychologie Alle 3 Collegia angefangen [2. Stunde] [3. Stunde] 4te Stunde aller Collegien [5. Stunde] alle Collegia ausgesezt Collegia [6. Stunde] Collegia [7. Stunde] Fahrt nach Caput [keine Vorlesung] 8te Stunde in allen Collegia [9. Stunde] [10. Stunde] Collegia [11. Stunde] 12te Stunde in allen Collegia [13. Stunde] Frühpredigt70 [Bußtag, keine Vorlesung] [14. Stunde] [15. Stunde] 16te Stunde in allen Collegien Collegia [17. Stunde] Collegia [18. Stunde] [19. Stunde] 20te Stunde in allen Collegia 21te Stunde in allen Collegien Collegia [22. Stunde] Collegia [23. Stunde] [Himmelfahrt, keine Vorlesung]

Vgl. Virmond (2011), S. 243, 244, 256 Tageskalender 1821, Schleiermacher Nachlass Nr. 442 (Archiv der BBAW) Vgl. KGA III/1, S. 893

Historische Einführung Juni 1821 1. Freitag 4. Montag 5. Dienstag 6. Mittwoch 7. Donnerstag 8. Freitag 11. Montag 12. Dienstag 13. Mittwoch 14. Donnerstag 15. Freitag 18. Montag 19. Dienstag 20. Mittwoch 21. Donnerstag 22. Freitag 25. Montag 26. Dienstag 27. Mittwoch 28. Donnerstag 29. Freitag

Collegia [24. Stunde] 25te Stunde in allen Collegien Collegien [26. Stunde] Collegien [27. Stunde] 28te Stunde vor dem Fest geschlossen [keine Vorlesung] [Pfingsten, keine Vorlesung] Noch keine Collegien [kein Eintrag] 29te Stunde in allen 3 Collegien Collegien [30. Stunde] 31. Stunde in allen 3 Collegien [32. Stunde] Nach den Collegien Wahlpredigt71 [33. Stunde] [34. Stunde] [35. Stunde] 36te Stunde [37. Stunde] [38. Stunde] [39. Stunde] [40. Stunde]

Juli 1821 2. Montag 3. Dienstag 4. Mittwoch 5. Donnerstag 6. Freitag 9. Montag 10. Dienstag 11. Mittwoch 12. Donnerstag 13. Freitag 16. Montag 17. Dienstag 18. Mittwoch 19. Donnerstag 20. Freitag 23. Montag 24. Dienstag 25. Mittwoch 26. Donnerstag 27. Freitag 30. Montag 31. Dienstag

41te Stunde in allen Kollegien [42. Stunde] Kollegia ausgefallen wegen [..] Begräbniß Kollegia [43. Stunde] Kollegia. [44. Stunde] 45te Stunde [46. Stunde] [47. Stunde] [48. Stunde] [49. Stunde] 50te Stunde [51. Stunde] [52. Stunde] [53. Stunde] [54. Stunde] Parthie nach Pichelsberg [keine Vorlesung] 55te Stunde [56. Stunde] [57. Stunde] [58. Stunde] 59te Stunde [vermutlich 60. Stunde]

71

Vgl. KGA III/1, S. 894

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Einleitung der Bandherausgeberin

August 1821 1. Mittwoch 2. 3. 6. 7. 8. 9. 10. 13. 14. 15. 16. 17. 20. 21. 22. 23. 24.

Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag

Nach dem Colleg mit Carl zu Rauch [vermutlich 61. Stunde] Ausgesezt Universitätsrede [vermutlich keine Vorlesung] 62te Stunde. [63. Stunde] Psych. 64. Ps. 65 Ps. 66. Ps. 67. Ps. 68. Ps. 69 Ps. 70. Ps. 71. Ps. 72. Ps. 73. Ps. 74 Ps. 75. Ps. 76 geschlossen.

Der Ertrag dessen, was von Schleiermachers Hand zur Psychologievorlesung im Sommer 1821 vorliegt, sind 42 kleine Zettel, sauber abgetrennt und sehr klein mit spitzer Feder beschrieben. Obwohl das Aktenbündel nicht datiert ist, kann es nun, seit dem Vorliegen mehrerer studentischer Nachschriften desselben Kollegs, sicher zugeordnet werden. Darüber hinaus ist zu vermuten, dass Randbemerkungen an dem Manuskript des Sommersemesters 1818 ebenfalls im Zusammenhang mit der 1821er Vorlesung entstanden. Bereits Leopold George erwähnte in seinem Vorwort jene Gedanken: „Außerdem fanden sich kleine Zettel vor, die für das Bedürfniß jeder Stunde berechnet in der gedrängtesten für jeden Andern unverständlichen Kürze den Inhalt derselben angaben, aber da sie so kein Interesse darboten und auch nicht einmal vollständig erhalten waren, würde der Abdruck derselben von keiner Bedeutung gewesen sein.“72 Die Gedanken, die Erinnerungshilfen und kurze Stichworte enthalten, werden hier erstmalig abgedruckt. Durch Friedrich Adolph Diesterweg, der Schleiermachers Psychologievorlesung im Winter 1833/34 gehört hatte, ist bekannt, dass dieser für seinen freien Vortrag lediglich „eine kleine, zusammengedrehte Papierrolle […] oder ein beschriebenes Papierstreifchen oder auch gar nichts“ als Anhaltspunkte 72

SW III/6, S. IX

Historische Einführung

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benutzte.73 Diese Beschreibung passt recht gut zu den kleinen Zetteln die Psychologie betreffend. Aus allen diesen Indizien ist zu vermuten, dass Schleiermacher im Sommer 1821 erneut auf der Grundlage des ausführlichen Heftes von 1818 las, zusätzlich aber 1821 einige Marginalien an seine früheren Aufzeichnungen fügte und ab und an – nicht zu jeder Stunde – zusätzliche Notizen anfertigte. Demzufolge führte Schleiermacher für das Kolleg von 1821 sicherlich kein Manuskriptheft, auch Leopold George hatte keines von Ludwig Jonas übergeben bekommen.74 Auch wenn die Vorlesungen von 1818 und 1821 eine große Nähe zu einander aufweisen, kann als sicher gelten, dass die Zettel nicht in das Jahr 1818 zu datieren sind. Das auffälligste Argument dafür resultiert aus den von Schleiermacher vorgenommenen Nummerierungen der Stunden auf den einzelnen Zetteln. Da heißt es für die fünfte Stunde im Sommersemester 1821, die Inhalte der vierten und achten Stunde des Jahrgangs 1818 enthält: „Psychologie 5 (aus 4 und 8.)“75. Auch in Stunde 42 verweist Schleiermacher auf die drei Jahre zuvor gehaltene Vorlesung: „Und nun nach der Analogie das übrige“76. Die Zettel aus dem Sommer 1821 dokumentieren durch deren namentliche Erwähnung erneut Schleiermachers Beschäftigung mit August Friedrich Carus, Henrik Steffens und Immanuel Kant. Erstmalig verweist er auf Johann Friedrik Herbart. Seiner Bibliothek fügte Schleiermacher seit dem ersten Kolleg zwei neue Titel seelenkundlichen Bezugs hinzu.77 73

74

75 76 77

Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm: Über die Lehrmethode Schleiermachers, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1–17, edd. H. Deithers u. a., Berlin 1956–1990, hier Abt. 1: Zeitschriftenbeiträge, Bd. 3: Aus den „Rheinischen Blättern für Erziehung und Unterricht“ von 1833 bis 1835, Berlin 1959, S. 251–268, hier S. 254 Vgl. SW III/6 (Psychologie), S. VIII. George spricht irrtümlicherweise von 1822. Das Kolleg fand tatsächlich 1821 statt (vgl. Virmond 2011, S. 251). Die falsche Jahreszahl zog sich bis 1980 durch die Forschung (vgl. z. B. Arndt, Andreas / Virmond, Wolfgang: F. D. E. Schleiermacher, in: Aus dem Archiv des Verlages deGruyter: Urkunden. Dokumente. Briefe, edd. D. Fouquet / M. Wolter, Berlin / New York 1980, S. 113). Sogar 2011 und 2017 wurde sie wieder benannt (vgl. Heller, Oliver: Die Bildung des selbstbestimmten Lebens, Identität und Glaube aus der Perspektive von F.D.E. Schleiermacher, W. James und J. Dewey, Berlin 2011, S. 125 und Huxel, Kirsten: Psychologie, in: Schleiermacher Handbuch, ed. M. Ohst, Tübingen 2017, S. 285–290, S. 286). Manuskript 1821: Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 6, Zettel Nr. 2, unten S. 111 Manuskript 1821, Zettel Nr. 21, unten S. 119 Beneke, Friedrich Eduard: Erfahrungsseelenlehre als Grundlage alles Wissens in ihren Hauptzügen dargestellt, Berlin 1820 [SB 171]; Steffens, Henrik: Schriften. Alt und Neu, Bd. 1–2, Breslau 1821 [SB 1891], erworben am 12.3.1821

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Einleitung der Bandherausgeberin

Auch wenn keines der Textzeugnisse aus dem Sommer 1821 vollständige Angaben zu der Systematik der Vorlesung enthält, gliedert sie sich wiederum in die drei großen Abschnitte Einleitung, Elementarischer und Konstruktiver Teil. Nur die Nachschrift Willem Sax van Terborgs beginnt explizit mit der Überschrift „Einleitung“. Diese wird höchstwahrscheinlich mit dem Beginn der 10. Stunde durch den Elementarischen Teil abgelöst. Zwar findet sich nirgends eine entsprechende Überschrift, doch alle Nachschriften kündigen im fortlaufenden Text einen solchen Teil an. Am deutlichsten ist dies wiederum der Nachschrift Terborg zu entnehmen, die abermals der einzige Textzeuge ist, der hinweisend auch den Konstruktiven Teil beschreibt, ihn später jedoch nicht mehr erwähnen kann, denn er endet mit dem Schluss der 23. Stunde. Bei Terborg heißt es: „Die Aufgabe diese Differenzen zu Erkenntniß zu bringen theilt sich in 2 Theile: 1.) das einzelne Leben in der Bestimmtheit, in dem was das einzelne wird, zu erfassen; 2.) die Totalität der Differenzen in allgemeine Gesichtspunkte zu fassen. Das Eine liegt mehr auf der Seite des Allgemeinen weil es Classification ist; das Andere mehr auf der Besonderen, weil es in der Anschauung beruht. Unter die letzte nämlich gehören die Differenzen der verschiedenen Constitutionen, und die Differenzen der verschiedenen Anlagen; unter die erste nur die Kenntniß der rein individuellen.“78 Diese Charakteristik legt nahe, dass Schleiermacher bereits im Sommer 1821 die verschiedenen individuellen Ausprägungen des Geschlechts, Temperaments, Charakters und der Dignität und folglich auch die Differenzen des Einzelnen in der Zeit (Wachen vs. Schlaf und die Betrachtung der Lebensalter) im Konstruktiven Teil, der dann mit der 53. Stunde beginnen würde, verhandelt, wie dies auch in den späteren Vorlesungen geschieht. Schwer nachvollziehbar bleibt allerdings die Tatsache, warum der Beginn eines solchen besonderen Teils weder in den Zetteln, noch in den Nachschriften genau vermerkt ist. Möglicherweise besteht der Grund darin, dass die Übergänge zwischen dem Elementarischen und dem Konstruktiven Teil im Sommer 1821 fließend sind. Damit käme dem Kolleg eine Zwischenstellung zwischen den Vorlesungen 1818 und 1830 zu. Gemäß der frühen Einteilung würden dann nur die Stunden 75 und 76 den Kon78

Nachschrift Terborg: Sax van Terborg, Willem: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1821, Nachlass Willems Sax van Terborg HS 2° 26 (Johannes LascoBibliothek der Großen Kirche, Emden), S. 14

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struktiven Teil bilden und die „Einheit“ in der „Vielheit“, also die Differenzen ganzer Gruppen von Menschen betrachten. Die Darlegung der einzelnen Themen erfolgt jedoch unberührt von diesen Unterschieden der Zuordnung in gleicher Abfolge: Wieder enthält die Einleitung die spezifischen Prämissen der Schleiermacherschen Psychologie. Danach folgt die ausführliche Erörterung der einzelnen aufnehmenden und ausströmenden Seelentätigkeiten auf ihren unterschiedlichen Stufen, um das geistige Prinzip im Allgemeinen zu verdeutlichen. Zuletzt führt Schleiermacher auch im Sommer 1821 Differenzen der einzelnen Seelen aus, individuelle Unterschiede des Geschlechts, Temperaments, Charakters, der Dignität sowie zeitlich sich ändernde Erscheinungen des Seelenlebens in den verschiedenen Lebensaltern und im Zustand des Wachens bzw. Schlafens. Erneut schließt die Vorlesung mit sozialpsychologischen Ausblicken, indem größere Gemeinschaften in den Blick genommen werden. Die Abfolge der Themen und auch die Terminologie, in der dies geschieht, ähneln stark dem früheren Kolleg von 1818. Nur der magnetische Schlaf wird bereits im Zusammenhang mit dem Schlafen und Wachen verhandelt und die Ausblicke auf die überirdischen Dimensionen des geistigen Prinzips fehlen. Dies ist vermutlich der geringeren Stundenzahl geschuldet. Auffällig ist, dass die Bestimmung des systematischen Ortes der Psychologie nun, im Sommer 1821, eine sehr ausführliche Behandlung erfährt. Obgleich man sich in der Forschung uneins ist über den Status der Psychologie innerhalb des philosophischen Systems bei Schleiermacher,79 liegt die Tatsache auf der Hand, dass die Seelenlehre mit anderen Disziplinen (konkret mit Ethik, Dialektik und Physik) eng verwoben ist: „Mit unserem Zweige des Wissens hat es noch eine ganz eigenthümliche Beschaffenheit, nämlich auf der einen Seite wird die Lehre von der Seele bei allen anderen Theilen des Wissens vorausgesetzt, und auf der anderen kann sie nur das Resultat von der Vollen79

Andreas Arndt hat die Korrelation zwischen Psychologie und Dialektik dargestellt und eine Quadruplizität des Wissenschaftssystems vorgeschlagen, die sich aus der Kreuzung der Linien Psychologie und Dialektik sowie Ethik und Physik erzeugt. (Arndt, Andreas: Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip. Friedrich Schleiermachers Psychologie, in: Dialogische Wissenschaft. Perspektiven der Philosophie Schleiermachers, edd. D. Burdorf / R. Schmücker, Paderborn 1998, S. 147–161) Bereits Hermann Fischer wies darauf hin, dass dieser Ansatz überhöht sei. (Fischer, Hermann: Friedrich Schleiermacher, München 2001, S. 84) Eilert Herms wollte die Psychologie als „Königsdisziplin“ verstanden wissen. Vgl. Herms (1991), S. 369– 401

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Einleitung der Bandherausgeberin

dung aller anderen Zweige des Wissens sein.“80 Die Psychologie erschöpft sich weder als rein vorbereitende Disziplin, noch kann sie als das Resultat allen Wissens angesehen werden. Vielmehr wohnt ihr beides inne, „Basis und Spitze“81, denn ihre eigentliche Funktion als Triebfeder des werdenden Wissens des Menschen um sich selbst ist ihre Prozesshaftigkeit, sie verkörpert das Werden selbst. Der wesentliche Fokus liegt also auf dem Fortschreiten der menschlichen Selbsterkenntnis als Prozess: „Wir haben also 2erlei Wissen des Menschen um sich selbst. Das eine halten wir in Gedanken als den Anfang und das andere als das Ende alles Wissens. Der Uebergang aus einer Form zur anderen ist das Werden der Wissenschaft selbst. Dieser Kreis löst sich dadurch, daß wir uns das Wissen des Menschen in einer Bewegung denken, wodurch zugleich alle anderen Wissenschaften mit werden. Wenn wir uns denken, daß jeder von diesen großen Zweigen der Erkenntniß auch wiederum in sich selbst ein Mannigfaltiges sein wird, und daß wir ebenso finden würden, daß jeder Theil den anderen voraussetzt, und von ihm vorausgesetzt wird, daß also hierin auch ein solches Werden ist, so findet sich dieses Schema auf allen Punkten wieder. Was wir als Wissen des Menschen über sich selbst zu Stande bringen können, wird zwischen einem dieser beiden Punkte liegen. Es muß das Zurücksehen auf den einen und das Hinaussehen auf den anderen sein. Das Vorangehende muß auch schon als ein so weit Vorübergehendes angesehen werden. Das Wissen des Menschen um sich selbst könnten wir nun vollkommen darstellen, wenn alle Wissenschaften wirklich vollendet | wären. Dieß ist aber nicht der Fall, wir können daher auf den Punkt der Vollendung nur noch hinaussehen.“82 Es ist ein Prozess, der bei den empirischen Gegebenheiten des Lebens beginnt und durch die zunehmende Anreicherung mit spekulativen Elementen an Abstraktheit zunimmt und sich der Erkenntnis nähert. Dabei handelt es sich keineswegs um eine einseitige Bewe80

81

82

Göttinger Nachschrift 1821: Anonymus: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1821, Cod. Ms. F. Frensdorf 1:1 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen), S. 1. Sehr detailliert wird in der 1821er Vorlesung das wechselseitige Verhältnis zwischen Psychologie und Ethik, Psychologie und Dialektik sowie Psychologie und Physik als Zirkelbewegung dargestellt und erklärt (vgl. Göttinger Nachschrift, S. 2–5). Vgl. Göttinger Nachschrift 1821, S. 5: „Wir müssen die Seelenlehre auf der einen Seite als die Spitze und auf der anderen als die allgemeine Basis alles Wissens ansehen“ Göttinger Nachschrift 1821, S. 5–6

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gungsrichtung. Vielmehr findet eine wechselseitige Befruchtung statt, indem einerseits das Empirische mit spekulativen Ansätzen genährt wird, andererseits die reine Vernunft die Realität braucht, um sie enträtseln und verstehen zu können. Diese Gegenseitigkeit funktioniert nur, weil in den empirischen Disziplinen bereits ein Minimum von Spekulation vorausgesetzt wird, ebenso wie letztere nie absolut sein kann, sondern immer einen Teil an Empirie enthält. Das sich im Werden befindliche Wissen kann keinen Endzustand finden. Es könnte in diesem vielfältigen Bewegen im Raum auch nicht in eine einzelne Wissenschaft kulminieren, weil auch die „vorbereitenden“ Disziplinen niemals an ein Ende kommen, sondern immer wieder neue empirische Gegebenheiten einbringen und alle Wissensbereiche mit einbezogen werden. Ein angenommenes vollendetes Wissen kann nicht die Psychologie sein, sondern dies wäre das Ganze, das Eine des Wissens, reine Spekulation. Sich zu dieser zu bewegen ist nur möglich über den Bezug zu den objektiven Gegebenheiten. Da der Mensch ebenso Naturwesen wie Geistwesen ist und seine Seele nicht anders als in dieser Verbindung betrachtet werden kann, begleitet die Psychologie an sich den Prozess des Werdens des Wissens des Menschen um sich selbst. Sie gewinnt an spekulativen Elementen, würde sich aber gleichsam in einem vollendeten Wissen auflösen. Da dieses nicht denkbar ist, behält sie ihre Funktion.

3. Die Vorlesung im Sommersemester 1830 Die Ankündigung der Vorlesung im Verzeichnis der Berliner Universität lautete: „Die Lehre von der Seele trägt Hr. Prof. Schleiermacher fünfmal wöchentl. v. 7–8 Uhr Morgens vor. | Privatim psychologiam tractabit quinquies p. hebd. h. vii–viii. matutina.“ Mit 229 Hörern war das Kolleg im Sommer 1830 das am stärksten frequentierte philosophische Kolleg, das Schleiermacher jemals hatte.83 Im gleichen Semester hielt er noch eine dogmatische Vorlesung zum Christlichen Glauben.84 Dass Schleiermacher sich wieder nach der Vorlesung hinsetzte und das Wichtigste der jeweiligen Stunde niederschrieb, kann als sicher gelten. Am Rand des Heftes ist gegen Ende der 13. Stunde, sich 83 84

Nur die theologische Vorlesung über das Leben Jesu im Winter 1829/30 hatte mehr Hörer, nämlich 251. Vgl. Virmond (2011), S. 557 Vgl. Virmond (2011), S. 579

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Einleitung der Bandherausgeberin

vermutlich auf den ganzen Absatz beziehend, zu lesen: „NB Hier ist mir manches sehr bestimmt aus einander gesezte entgangen.“85 Ferner ist belegbar, dass er im Zusammenhang mit dem 1830er Kolleg auch das Manuskript aus dem Sommer 1818 erneut zur Hand nahm. Zum einen finden sich an zwei Stellen die Einträge „Nach Maaßgabe des vorigen“ bzw. „Nach Maaßgabe des vorigen Heftes“86, womit Schleiermacher für die Stunden 60–61 und 61–63 auf seine früheren Aufzeichnungen verwies. Zum anderen ergibt sich diese Schlussfolgerung aus einer bibliographischen Notiz am Rand des Manuskripts 1818.87 Auch für das Kolleg im Sommer 1830 lassen sich alle einzelnen der insgesamt 78 Stunden datumgenau vom 24. April bis zum 27. August im Tageskalender88 nachweisen. Die folgende Übersicht, die nur die Eintragungen enthält, die für die Psychologie relevant sind, ergänzt alle Stunden, die nicht explizit aufgeführt werden, in eckigen Klammern. Datum April 1830 26. Montag 27. Dienstag 28. Mittwoch 29. Donnerstag 30. Freitag 85 86 87

88

Eintragungen zur Psychologie Psychologie angefangen. [2. Stunde] [3. Stunde] [4. Stunde] Psych. 5te St.

Manuskript 1830, Bl. 6r, unten S. 142 Manuskript 1830, Bl. 19v, unten S. 170 Im Manuskript 1818 findet sich die eigenhändige, marginale Eintragung: „H e r i n g erste und zweite Jubelfeier Chemnitz Kretschmar.“ (Bl. 33r, unten S. 70) Sie kann nur im Zusammenhang mit Schleiermachers insgesamt zehn Predigten zum dreihundertjährigen Jubiläum der Übergabe der Augsburgischen Confession zwischen dem 20.6. und dem 7.11.1830 entstanden sein (vgl. KGA III/2, S. XVIII–XXVII und S. 257–400, KGA III/12, S. XVII–XX). Die Notiz bezieht sich auf die Schrift von Carl Wilhelm Hering mit dem Titel „Das erste und zweite Jubelfest der Uebergabe der Augsburgischen Confession, nach den Verhältnissen, unter welchen, und des Geistes, in welchem es die evangelische Kirche Deutschlands im Jahre 1630 und 1730 gefeiert hat, nebst der Geschichte der Uebergabe der Confession selbst“, die beim Verleger C. G. Kretschmar aus Chemnitz gedruckt wurde. Die Vorrede ist auf den 15. April 1830 datiert. Bereits am 27. Februar 1830 war das Buch in der „Allgemeinen Schulzeitung“ (Abtheilung I, Nr. 25, S. 5–6 der 4. Beilage) zur Subskription angeboten worden. Vermutlich hat Schleiermacher entweder von der Anzeige oder dem Erscheinen selbst erfahren, als er das Manuskript zur Psychologie aus dem Sommer 1818 aufgeschlagen hatte, während er an der Vorlesung 1830 arbeitete. Am 25. Juni 1830 fand wegen der Säkularfeier und der Predigt, die Schleiermacher in der Dreifaltigkeitskirche zu diesem Anlass hielt, kein Psychologievortrag statt. Tageskalender 1830, Schleiermacher Nachlass Nr. 450 (Archiv der BBAW)

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Mai 1830 3. Montag Ps. 6. 4. Dienstag [7. Stunde] 5. Mittwoch Frühpredigt89 [Bußtag, keine Vorlesung] 6. Donnerstag [8. Stunde] 7. Freitag Ps. 9. 10. Montag Ps. 10 11. Dienstag [11. Stunde] 12. Mittwoch [12. Stunde] 13. Donnerstag [13. Stunde] 14. Freitag Ps. 14. 17. Montag Ps 15. 18. Dienstag [16. Stunde] 19. Mittwoch [17. Stunde] 20. Donnerstag [Himmelfahrt, keine Vorlesung] 21. Freitag Ps. 18. 24. Montag Psychol. 19 25. Dienstag [20. Stunde] 26. Mittwoch [21. Stunde] 27. Donnerstag [22. Stunde] 28. Freitag Psychol. 23. 31. Pfingstmontag bis Dienstag, 8. Juni [Reise Schleiermachers, keine Vorlesungen] Juni 1830 9. Mittwoch 10. Donnerstag 11. Freitag 14. Montag 15. Dienstag 16. Mittwoch 17. Donnerstag 18. Freitag 21. Montag 22. Dienstag 23. Mittwoch 24. Donnerstag 25. Freitag 26. 28. 29. 30. 89 90

Samstag Montag Dienstag Mittwoch

Ps. 24 [25. Stunde] Ps 26 Psych[.] 27 [28. Stunde] [29. Stunde] [30. Stunde] Psych[.] 31. Ps. 32. [33. Stunde] [34. Stunde] ausgesezt Hauptpredigt90 [Säkularfest zur dritten Jubelfeier der Übergabe der Augsburgischen Konfession, keine Vorlesung] Psych. 35. Ps. 36. [37. Stunde] [38. Stunde]

Vgl. KGA III/1, S. 988, KGA III/12, S. 149–157 Vgl. KGA III/1, S. 990, KGA III/2, S. 293–303

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Einleitung der Bandherausgeberin

Juli 1830 1. Donnerstag 2. Freitag 5. Montag 6. Dienstag 7. Mittwoch 8. Donnerstag 9. Freitag 12. Montag 13. Dienstag 14. Mittwoch 15. Donnerstag 16. Freitag 19. Montag 20. Dienstag 21. Mittwoch 22. Donnerstag 23. Freitag 26. Montag 27. Dienstag 28. Mittwoch 29. Donnerstag 30. Freitag

Ps. 39 Ps. 40 Ps. 41. [42. Stunde] [43. Stunde] [44. Stunde] Psychol. 45. Ps. 46. [47. Stunde] [48. Stunde] [49. Stunde] Ps. 50. Ps. 51. [52. Stunde] Ausgesezt wegen Husten [53. Stunde] Ps. 54. Ps. 55 [56. Stunde] [57. Stunde] [58. Stunde] Ps. 59.

August 2. 3. 4. 5. 6. 9. 10. 11. 12. 13. 16. 17. 18. 19. 20. 23. 24. 25. 26. 27.

Ps. 60 nicht gelesen [61. Stunde] [62. Stunde] Ps. 63. Ps 64. [65. Stunde] [66. Stunde] [67. Stunde] Psych. 68. Ps. 69. [70. Stunde] [71. Stunde] [72. Stunde] Psychol. 73. Psych. 74. [75. Stunde] [76. Stunde] [77. Stunde] Collegien geschlossen Ps. 78

1830 Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag

Während in den Vorlesungen von 1818 und 1821 eine Vielzahl von Lektürehinweisen auf verschiedene Autoren durch Namen benannt

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werden, tauchen 1830 nur Platon, Aristoteles und Leibniz konkret auf. Kant und Fichte sind implizit – meist abgrenzend – zu finden. Die Naturphilosophen scheinen nicht mehr so präsent zu sein wie in den vorhergehenden Kollegien. Schleiermacher fügte seiner Bibliothek zwischen 1821 und 1830 eine Reihe von Titeln hinzu, die seelenkundlich relevant sind.91 Wieder teilte er die Vorlesung in die drei großen Abschnitte Einleitung, die mit der ersten Stunde beginnt und bis fast ans Ende der 14. Stunde reicht, Elementarischer Teil, vom Schluss der 14. bis zur Hälfte der 59. Stunde reichend, und Konstruktiver Teil (Mitte 59. bis 78. Stunde). Die Einleitung umfasst wie schon in den vorangegangenen Jahrgängen die Klärung des Gegenstandes der Psychologie, ihre Wege der Erkenntnis, ihre Abgrenzung gegenüber der Anthropologie sowie methodische Überlegungen. Schnell fällt auf, dass – anders als in den Sommern 1818 und 1821 – die Verhältnisbestimmung der Psychologie zu den drei klassischen Disziplinen Dialektik, Physik und Ethik nicht vorgenommen wird. Stattdessen beginnen die einführenden Überlegungen sogleich mit dem lebendigen Ich als Ort der Seele, die freilich nur in Einheit mit dem Leib zu denken ist sowie mit der Abgrenzung gegen das Tierische. Klarer als zuvor betont Schleiermacher, dass die Psychologie ein Ineinander von empirischer und spekulativer Erkenntnis sein müsse: „Das heißt also daß alle Annäherung zum Wissen nur wird in der Durchdringung des a priori und des a posteriori“92. Auch die Relation gegenüber der Anthropologie zu definieren erhält einen anderen Ton. Über eine lange Argumentationsbewegung mit abwägender Betrachtung aller in Frage kommender Perspektiven dringt Schlei91

92

Ennemoser, Joseph: Anthropologische Ansichten, oder Beiträge zur bessern Kenntniß des Menschen, Bd. 1 [einziger], Bonn 1828 [SB 599]; Heinroth, Johann Christian August: Lehrbuch der Anthropologie zum Behuf academischer Vorträge und zum Privatstudium. Nebst einem Anhang erläuternder und beweisführender Aufsätze, Leipzig 1822 [SB 861]; Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, Bd. 1–2, Königsberg 1824–1825 [SB 881], erworben am 6.2.1830; Naumann, Moritz Ernst Adolph: Versuch eines Beweises für die Unsterblichkeit der Seele aus dem physiologischen Standpunkte, Bonn 1830 [SB 1347]; Scheidler, Karl Hermann: Ueber das Studium der Psychologie, Jena 1827 [SB 1679]; Schubert (1824) [SB 2561], erworben am 11.12.1824; Sibbern, Frederik Christian: Menneskets aandelige natur og vaesen. Et udkast til en Psychologie, Bd. 1–2, Kopenhagen 1819–1828 [SB 1837]; Steffens, Henrik: Anthropologie, Bd. 1–2, Breslau 1822 [SB 1886]; Wolff (1725) [SB 2162] Schleiermacher, Friedrich: Manuskript zur Psychologie 1830, Handschriftenabteilung, Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 7 Bl. 3r, unten S. 136

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Einleitung der Bandherausgeberin

ermacher zu dem Ergebnis vor: „Dies führt dahin, daß die Psychologie nichts anderes ist, als die ganze Anthropologie aus dem Gesichtspunkt des Geistes betrachtet, ebenso wie die Physiologie dasselbe umgekehrt ist von dem des Leibes aus angesehen. Wir hätten auf diese Weise vorläufig das gewonnen, daß uns der Grund einer solchen Theilung klar geworden ist, nämlich das Interessee an den rein geistigen Thätigkeiten als dem höchsten im Menschen, und daß wir von den Einseitigkeiten des Materialismus und Spiritualismus fern bleiben, indem wir die Einheit des Lebens in dem Gegensatz zwischen dem geistigen und leiblichen festhalten.“93 Dies zu bestätigen findet sich im Anschluss ein Rückblick auf die Aristotelische Bestimmung der Seele, wie es in den vorangegangenen Jahrgängen nicht explizit erfolgte. Der Elementarische Teil setzt wieder ein mit dem Leben als ungeteilte und ständig sich verändernde Tätigkeit. Auf der Grundlage der Unterscheidung von individuellen und universellen Prozessen wird auch im Kolleg 1830 das dialektische Verhältnis von Rezeptivität und Spontaneität zur Erklärung aller Seelentätigkeiten eingeführt. Aus der Spannung mehr aufnehmender und mehr ausströmender Prozesse gepaart mit der subjektiven und objektiven Richtung des Bewusstseins erhält Schleiermacher erneut vier Felder, die er nun Wahrnehmung, Empfindung, Darstellung und Werkbildung nennt: „Das Ergebniß kann nun das Sein der Dinge in uns darstellen bald mehr unter der Form des einwirkenden = objectives Bewußtsein bald mehr des wiegewordenen = SelbstBewußtsein. Eben so auf der andern Seite das Ergebniß bald mehr durch gestaltende Wirksamkeit, bald mehr durch darstellendes Aeußerlichwerden unser Sein in den Dingen[.] Wahrnehmung, Empfindung, Darstellung und Werkbildung[.]In diesen vier Fächern muß die Gesammtheit unsrer Untersuchungsgegenstände befaßt sein“94. Wieder werden zuerst die aufnehmenden Tätigkeiten erklärt, auf der ersten Stufe die der einzelnen Sinne sowie des Hautsinns. Die mehr organischen Sinnestätigkeiten, welche auf der objektiven Seite die Sprach- und Denktätigkeiten hervorbringen, sieht Schleiermacher sodann als der Potenzierung fähig an. Das ebenfalls gesteigerte subjektive Bewusstsein manifestiert sich in seinen verschiedenen Richtungen auf die Ideen der Welt, Gottes und der Natur hin im Gattungsbewusst93

94

SW III/6, S. 33; vgl. auch Nachschrift Sickel: Sickel, Karl Friedrich: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers Yi 17i (Universitäts- und Landesbibliothek SachsenAnhalt, Halle), S. 21, unten S. 635 Manuskript 1830, Bl. 7v, unten S. 145

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sein, dem religiösen Bewusstsein, dem Sinn für die Natur und dem für die Kunst. Folgerichtig schließt sich die Betrachtung der anderen Seite der Seelentätigkeiten, nämlich der ausströmenden, an, worunter nach einigen allgemeinen Bemerkungen vier hauptsächliche Richtungen subsummiert werden: Produktivität im Denken, Selbstmanifestation, Besitzergreifung und Selbsterhaltung. Obwohl die inhaltliche Aussage schon an dieser Stelle in den vorangegangenen Jahren ähnlich lautet, fallen doch im Sommerkolleg 1830 insgesamt eine klarere Struktur und deutliche Begrifflichkeiten auf. Alle Prozesse treten stärker in ihrer Zusammengehörigkeit hervor. Die subjektive und die objektive Seite des menschlichen Bewusstseins werden nicht nur einzeln betrachtet und Schritt für Schritt gesteigert, sondern auch jederzeit parallelisiert. Damit weicht auch die Einteilung der ausströmenden Tätigkeit in eine ideale und eine reale Richtung der Formulierung nach der subjektiven bzw. der objektiven Richtung des Bewusstseins. „[W]ir müssen dem elementarischen Theile einen constructiven folgen lassen der die Individualitäten zur Anschauung bringt, die einzelnen und die zusammengesezten“95. Wie vermutlich bereits im Sommer 1821, aber anders als in der ersten Vorlesung von 1818, behandelt der Konstruktive Teil mögliche Differenzen in Geschlecht, Temperament, Charakter und Dignität. Danach werden die zeitlichen Unterschiede einzelner Individuen, wie sie sich im Schlafen bzw. Wachen und in den einzelnen Lebensaltern, beginnend bei der Erzeugung, über Kindheit, Jugend, reifes und hohes Alter, bis zum Tod aufzeigen lassen. Damit endet die Vorlesung im Sommer 1830, weiterführende Spekulationen über das kosmische Prinzip des Geistigen auf der Erde, die die ersten beiden Vorlesungen zur Seelenlehre beschließen, folgen nicht. Das 1830er Kolleg scheint nicht nur zeitlich, sondern auch bezüglich der Ausreifung der psychologischen Lehre Schleiermachers eine Mittelposition zu verkörpern. Es trennt sich terminologisch und auch in einzelnen inhaltlichen Gewichtungen spürbar von den beiden vorausgegangenen Vorlesungen, erreicht aber nicht ganz die Entwicklungsstufe des späteren Kollegs von 1833/34.

4. Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34 Begonnen am 21. Oktober 1833 und fortgeführt bis eine Woche vor seinem Tod fand das letzte Kolleg zur Psychologie statt, das so ange95

Manuskript 1830, Bl. 6v, unten S. 143

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Einleitung der Bandherausgeberin

kündigt war: „Die Seelenlehre, Hr. Dr. Schleiermacher, Mitgl. der Königl. Adad. d. W. in fünf wöchentlichen Stunden Morgens von 7– 8 Uhr privatim. | Privatim psychologiam docebit quinquies p. hebd. hora vii–viii. matut.“96 Im selben Semester las Schleiermacher noch über die Katholischen Briefe und die Kirchliche Statistik.97 Dank der Eintragungen in den Tageskalendern der Jahrgänge 1833 und 183498 sind erneut alle einzelnen Stunden mit dem genauen Datum nachweisbar. Die folgende Übersicht enthält nur die die Seelenlehre betreffenden Notizen. Da, wo keine Angaben zur Psychologie zu finden sind, sind die Stunden in eckigen Klammern ergänzt. Datum Oktober 1833 21. Montag 22. Dienstag 23. Mittwoch 24. Donnerstag 25. Freitag 28. Montag 29. Dienstag 30. Mittwoch 31. Donnerstag November 1833 1. Freitag 4. Montag 5. Dienstag 6. Mittwoch 7. Donnerstag 8. Freitag 11. Montag 12. Dienstag 13. Mittwoch 14. Donnerstag 15. Freitag 18. Montag 19. Dienstag 20. Mittwoch 21. Donnerstag 22. Freitag 25. Montag 26. Dienstag 96 97 98

Eintragungen zur Psychologie Alle drei Vorlesungen angefangen. [2. Stunde] [3. Stunde] [4. Stunde] 5te St. 6te Stunde. [7. Stunde] [8. Stunde] [9. Stunde] 10te St. 11te Stunde [12. Stunde] ausgesezt aus Mangel an Vorbereitung. [13. Stunde] 14te St. 15te St. [16. Stunde] [17. Stunde] [18. Stunde] Koll. 19te St. Koll. 20te St. [21. Stunde] [22. Stunde] [23. Stunde] Koll. 24te St. Koll. 25te St. [26. Stunde]

Vgl. Virmond (2011), S. 753 Vgl. Virmond (2011), S. 743 Tageskalender 1833 und 1834, Schleiermacher Nachlass Nr. 453 und 454 (Archiv der BBAW)

Historische Einführung 27. 28. 29.

Mittwoch Donnerstag Freitag

Dezember 1833 2. Montag 3. Dienstag 4. Mittwoch 5. Donnerstag 6. Freitag 9. Montag 10. Dienstag 11. Mittwoch 12. Donnerstag 13. Freitag 16. Montag 17. Dienstag 18. Mittwoch 19. Donnerstag 20. Freitag Januar 1834 6. Montag 7. 8. 9. 10. 13. 14. 15. 16. 17. 20. 21. 22. 23. 24. 27. 28. 29. 30. 31.

Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag

Februar 1834 3. Montag 4. Dienstag 5. Mittwoch 6. Donnerstag

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[27. Stunde] [28. Stunde] Koll. St. 29. Kolleg 30. [31. Stunde] [32. Stunde] [33. Stunde] Koll. 34 St. Koll. 35. St. [36. Stunde] [37. Stunde] [38. Stunde] Koll. 39. St. Koll. 40. St. [41. Stunde] [42. Stunde] [43. Stunde] Koll mit der 44ten St. bis zum 6ten Jan geschlossen. Mit St. 45 alle Coll. wieder angefangen. Psychologie vom rel. Gefühl. [46. Stunde] [47. Stunde] [48. Stunde] Koll. 49 Koll. 50 [51. Stunde] [52. Stunde] [53. Stunde] Koll. 54. Koll. 55. [56. Stunde] [57. Stunde] [58. Stunde] Koll. 59. Collegia ausgesezt. Kolleg ausgesezt. Eben so [kein Eintrag] Psychol. 60 Psych[.] 61. [62. Stunde] [63. Stunde] [64. Stunde]

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Einleitung der Bandherausgeberin

In der Vorlesung im Wintersemester 1833/34 erwähnte Schleiermacher namentlich George Berkeley, Platon, Aristoteles, Johann Friedrich Herbart, Immanuel Kant, René Descartes und Socrates. Erneut fügte Schleiermacher seiner Bibliothek seit der letzten Vorlesung zwei seelenkundliche Bücher hinzu.99 „Schleiermacher starb am 12ten Februar Mittags 11 ½ Uhr von niemand ersetzt, von jedermann tief betrauert.“100 So ist es in der Nachschrift des Psychologiekollegs 1833/34 des Hörers Carl Theodor Iffland zu lesen, nachdem die letzte Vorlesung am 6. Februar stattgefunden hatte. Ludwig Jonas, der selbst im Sommer 1818 Hörer der Schleiermacherschen Seelenlehre war,101 begann nach Schleiermachers Tod, vermutlich auf der Grundlage seiner eigenen Aufzeichnungen, an Stelle Schleiermachers die Vorlesung zu Ende zu bringen.102 Wieder findet sich die Dreiteilung der Vorlesung in Einleitung (1. bis 8. Stunde), Elementarischen Teil, der mit der 9. Stunde beginnt und bis einschließlich 61. Stunde reicht, sowie einem unvollendet gebliebenen Konstruktiven Teil, beginnend mit der 62. Stunde. Gleichsam mit mehr Abstand als in den vorangegangenen Jahrgängen blickt Schleiermacher in der letzten Vorlesung im Winter 1833/34 auf die Situation der Disziplin: „die empirische Seelenlehre war oft nur eine Sammlung von Anecdoten aus der Seelenlehre; die rationale SeelenLehre aber führte meistens in Verlegenheit. […] So erschlich sich die rationale SeelenLehre immer Lehrsätze oder Hypothesen aus der Erfahrung. In unserer Zeit ist dieser Gegensatz mehr verschwunden“103, und gerade Schleiermacher blieb seinem Ansatz, 99

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Fischer, Friedrich: Ueber den Sitz der Seele, Basel 1833 [SB 2335], erworben am 12.10.1833; Jessen, Peter Willers: Beiträge zur Erkenntniß des psychischen Lebens im gesunden und kranken Zustande, Bd. 1 [einziger], Schleswig 1831 [SB 990] Nachschrift Iffland 1833/34: MS germ oct 720, S. 172 Die Matrikeleintragungen geben an: Das Rektoratsjahr, die laufende Nummer der Eintragung, den Namen des Studierenden, den Geburtsort, das Studienfach, den Beruf des Vaters, eventuelle Vorstudien, Vermerke zu Grad und Datum der Exmatrikulation. Hier: [5. Rektoratsjahr, 1814/15] 283: Jonas, Ludwig | Neustadt a.d. Dosse | Theologie | Kaufmann | – | rite abg. 28.10.1819. Vgl. Bahl, Peter / Ribbe, Wolfgang: Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1810–1850, Teil 1: Die Matrikel für das 1. bis 23. Rektoratsjahr (1810 bis 1833), Berlin/New York 2010, S. 61 Die Nachschrift Stern (Stern, Sigismund: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1833/34, NL 304, Stern, Mappe 7, StBPK) aus dem Wintersemester 1833/34 weist den ersten Jonasschen Vortrag am 3. März 1834 nach (Bl. 71r). Weitere folgten am 4., 6., 7., 10., 13., 14. und 17. März. Berliner Nachschrift 1833/34: Anonymus: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1833/34, Handschriftenabteilung, Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 3, Mappe 20 (StBPK), Bl. 1r, unten S. 877

Historische Einführung

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eine Verbindung herstellen zu wollen, treu. Verzichtete er im Sommer 1830 auf den Rückgriff zur Einteilung der Wissenschaften in Dialektik, Physik und Ethik, mit denen die Psychologie jeweils in einem wechselseitigen Verhältnis steht, führt er sie nun wieder an, um die komplizierte Stellung seiner Seelenlehre zu verdeutlichen. „Aber hier ist das das Schwierige, daß alles Wissen aus der Seele hervor geht, und so kann die SeelenLehre 2 verschiedene Plätze einnehmen.“104 Trotz dieser Möglichkeit als Basis und Spitze des Wissens verortet zu werden, wird im Wintersemester 1833/34 nun unmissverständlich klar, dass die Psychologie immer e i n e Wissenschaft ist, die in ihrem Werden einen Prozess durchläuft, am Gegebenen, der Erfahrung, dem Empirischen beginnend, in dem freilich immer schon apriorische Elemente vorausgesetzt werden: „aber lösen wir uns die Formel genau auf, die SeelenLehre vor allem Wissen und die SeelenLehre nach allem Wissen, so sind dieß nur Gedachte, nicht Gegebene, wir sind so wenig vor allem Wissen als in der Vollendung desselben.“105 Die Verbindung, ja die Steigerung hin zum Spekulativen ist der Disziplin immanent. Darauf, die Seelenlehre ausführlich in ihrem Verhältnis zur Anthropologie zu beschreiben, verzichtete Schleiermacher im Winter 1833. Er wies lediglich darauf hin, dass sein Vorhaben keine Anthropologie sein möchte.106 Deutlicher als in den Jahrgängen zuvor spielen bereits in der Einleitung Überlegungen zur Sprache und sozialpsychologische Anklänge eine Rolle. Es folgt der Elementarische Teil, „in dem wir die verschiedenen Thätigkeitsformen im Subject in ihren gegenseitigen Differenzen auffassen, wodurch wir das gewinnen, daß wir alles das lebendig anschauen, was uns, […] den Inhalt dieses Moments angibt.“107 In der lebendigen Succession vieler Momente, im Verstehen der oszillierenden Seelentätigkeit liegt eine große Bedeutung, die so schon früher angedeutet, aber nicht ausgesprochen war: „so sehen wir hier wieder das Zusammenwirken des Organisirens und Symbolisirens. Dieß hat Einfluß auf alle Aufgaben des Lebens, denn in diese beyden Gesichtspuncte gehören alle. Halten wir uns eine Gesammtaufgabe aller Menschen vor, nach der jeder Mensch andre Menschen um sich hat, auf die er wirkt, was die Alten Seelenleitung nannten, so ist diese allgemeine 104 105 106 107

Berliner Berliner Berliner Berliner

Nachschrift Nachschrift Nachschrift Nachschrift

1833/34, 1833/34, 1833/34, 1833/34,

Bl. Bl. Bl. Bl.

1r, unten S. 877 10r, unten S. 899 2r, unten S. 879 9r, unten S. 897

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practische Aufgabe nicht zu lösen, ohne Kenntniß alles dessen, was in der Seele vorkommt. Diese elementarischen Untersuchungen haben also Einfluß auf alles, was Lebensaufgabe für uns seyn kann.“108 Wieder steht das dialektische Verhältnis von Rezeptivität und Spontaneität als das theoretische Erklärungsmuster aller Seelentätigkeiten im Zentrum des Elementarischen Teils. Erneut wird es mit einem anderen Gegensatz gepaart: „Weitere Erörterung über die Quadruplicität. Receptivität besondere gemeinsame Spontaneität besondere gemeinsame“109. Allerdings bekommt diese Vierteilung einen etwas anderen Ton, nämlich in der Kreuzung des Aufnehmens und Ausströmens mit Identität und Einzelheit bzw. Allgemeinem und Besonderem. Aus dieser Zusammenführung „bekommen wir 4 Zustände: 1) solche, wo die Seele receptiv ist, und zwar a) so, daß die Einzelnheit des Subjects sich ausspricht oder b) daß sich die Identität mit andren darin ausspricht; ersteres ist das Empfinden, das zweyte das Wahrnehmen. Bey beyden ist das Ende [ein] rein Inneres, was wir empfinden, ist immer das Selbstbewußtseyn als eines Veränderlichen im Gegensatz von angenehm und unangenehm. […] 2) Zustände, wo das Psychische das erste ist, und das Organische das dadurch Bedingte. Auch hier haben wir a) ein Besondres und b) ein Allgemeines zu unterscheiden. Also nicht nur, was erkennbar gemacht werden soll, sondern auch die Kundmachung selbst ist individuell, und so können wir bestimmt unterscheiden, das was wirksam seyn soll, von dem, was nur darstellen soll; in beydem ist das Psychische das Erstere, und das Organische folgt erst darauf.“110 Empfinden, Wahrnehmen, Darstellen und Wirken sind erneut, wie schon im Sommer 1830, die grundlegenden menschlichen Tätigkeiten. Das Schema des Folgenden ist nicht neu: Zuerst werden die aufnehmenden Tätigkeiten ins Auge gefasst, worunter auf der ersten Stufe die einzelnen Sinnestätigkeiten, später, auf einer höheren die Denktätigkeiten und schließlich auf der höchsten das subjektive Bewusstsein in seinen Richtungen auf das Gattungsbewusstsein, das ästhetische und das religiöse Bewusstsein subsummiert werden. Der nächste Schritt beschreibt folgerichtig die ausströmenden Tätigkeiten und bedient sich erneut der Kategorien Produktivität im Denken, Selbstmanifestation, Besitzergreifung und Selbsterhaltung. 108 109 110

Berliner Nachschrift 1833/34, Bl. 9v, unten S. 898 Manuskript 1833/34: Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 7, Bl. 1v, unten S. 175 Berliner Nachschrift 1833/34, Bl. 17r, unten S. 918

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Auch wenn der Konstruktive Teil nur in Ansätzen zur Ausführung kommt, wird er sehr genau angekündigt und charakterisiert: „Der zweyte Theil, der uns das Zusammenseyn dieser verschiedenen Elemente in verschiedener Art und Weise darstellt, wodurch uns erst ein lebendiges Bild des Zusammenseyns aller Thätigkeiten dieses Agens wird, ist nothwendig wenn uns nicht alles Einzelne gänzlich verschwinden soll, was wir Geschichte nennen; denn diese ist nur der Entwicklungsproceß dieses geistigen Agens in seiner verschiedenen Art da zu seyn im menschlichen Geschlechte. Wollen wir zu einer Einheit kommen, so müssen wir die Wechselwirkung der verschiedenen Seelenthätigkeiten der verschiedenen Menschen kennen, so müssen wir jenes Elementarische zusammenfassen für einen einzelnen Menschen und das Zusammenseyn aller Menschen, wenn wir | geschichtliche Momente verstehen wollen. Dieß ist aber eben das Selbstverständniß des geistigen agens, und so lange wir die Art des Verlaufs des einzelnen Individuums und der Individuen mit einander nicht klar anschauen können, so fehlt es am Selbstverständniß des geistigen agens, am klaren Bewußtseyn. Also ist neben dem Elementarischen noch ein constructiver Theil zur Klarheit zu bringen.“111 „Er umfaßt die Zusammensetzung des menschlichen psychischen Lebens aus diesen überall gleichen Functionen, also er soll die menschlichen Differenzen im einzelnen Leben begreifen lehren.“112 Nur die Geschlechtsdifferenzen konnte Schleiermacher beginnen auszuführen. Die Unterschiede des Temperaments stellte Jonas in seinen Vorträgen dar. Über dessen weitere Ausführungen zu entscheiden fehlen die historischen Textzeugen. Die letzte Vorlesung zur Seelenlehre ähnelt in der Gesamtkonstruktion dem Kolleg von 1830, besticht jedoch durch eine überaus souveräne Darstellung, die zu jedem Zeitpunkt an die Zusammengehörigkeit einzelner Sachverhalte mit dem Ganzen des Entwurfs erinnert. Dadurch wird die Struktur zwar komplizierter, gleichzeitig aber überzeugender. In der Konsequenz ihrer Durchführung der Anfänge, Steigerungen und höchsten Formen der interagierenden Seiten des subjektiven und objektiven Bewusstseins kann im Winter 1833/34 von der Psychologie als einer Theorie des Bewusstseins gesprochen werden. Auffällig ist ferner ihre überaus evidente Anschaulichkeit, die besonders in zahlreichen, oft bildhaften Beispielen daherkommt. 111 112

Berliner Nachschrift 1833/34, Bl. 9v–10r, unten S. 898 Berliner Nachschrift 1833/34, Bl. 64v, unten S. 1037

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Einleitung der Bandherausgeberin

3. Die Erstedition der Vorlesungen Die Psychologie erschien als letzter Band der Sämmtlichen Werke Schleiermachers 1862. Damit lagen fast 30 Jahre zwischen der letzten Vorlesung und ihrem gedruckten Erscheinen. Eigentlich beabsichtigte Ludwig Jonas, der eine zentrale Rolle bei der Edition der Sämmtlichen Werke einnahm und mit dem George freundschaftlich verbunden war, die Seelenlehre zu edieren.113 Doch dazu kam es nicht, glaubt man George, weil „theils die nach vielen Seiten hin gesteigerte Berufsthätigkeit ihm nicht die dazu nöthige Muße ließ, theils die Unleserlichkeit der zu benutzenden Hefte ihn immer wieder davon zurückschreckte“.114 So wurde die Aufgabe also nach Jonas’ Tod Leopold George übertragen, der die Vorlesung 1830 selbst gehört hatte.115 Johann Friedrich Leopold George wurde am 14. August 1811 in Berlin geboren und starb am 24. Mai 1873 ebenda. Er war der Sohn 113

114 115

Jonas war, davon zeugt sein eigenes Vorwort in dem Band von Schleiermachers „Reden und Abhandlungen, der königlichen Akademie der Wissenschaften“, die er 1835 im Rahmen der Sämmtlichen Werke edierte, von Schleiermacher zum Nachlassverwalter von dessen Schriften bestimmt worden: „Schleiermacher, mein verehrter Lehrer und väterlicher Freund, hat mir kurz vor seinem Tode seine Papiere überwiesen mit dem Auftrage, den Theil derselben, welcher die Dialektik, die christliche Sittenlehre und seine Ansichten über die Apostelgeschichte enthält, zu ordnen und in Druck zu geben. Was aber das Uebrige betrifft: so hat er sich zwar über einiges günstiger erklärt, über anderes ungünstiger, dennoch aber die Bestimmung darüber, was davon dem Publikum vorzulegen sein werde und was nicht, lediglich dem Urtheile anvertraut, das sich mir nach gewissenhafter Prüfung des vorhandenen Materials werde gebildet haben. Der erste Blick nun auf den mir anvertrauten Schatz lehrte mich | zweierlei. Zuerst dieses, daß er im Allgemeinen von weit größerem Werthe sei, als Schleiermachers Aeußerungen vermuthen ließen, daß ich also weniger darauf bedacht sein dürfe, nur einiges Auserlesene mitzutheilen, als darauf, wenig oder gar nichts vorzuenthalten. Dann aber auch dieses, daß die Aufgabe an keinem Puncte werde zu lösen sein ohne langwierige und mühevolle Arbeit.“ (SW III/3, S. V–VI) Weiter berichtete er über das Material, „daß es mir, wie es denn auch nicht anders zu erwarten war, ohne Mühe gelungen ist für beides, für die Mitprüfung und für die Mitbearbeitung desselben, aus der mit zugänglichen Zahl der Freunde und Schüler Schleiermachers Männer zu gewinnen“, die ihn unterstützen würden. (SW III/3, S. VIII) „Die Dialektik, die Psychologie, die akademischen Reden und Abhandlungen, die christliche Sittenlehre und das Leben Jesu sind mir vorbehalten“ (SW III/3, S. VIII), schrieb Jonas, bevor er die Aufteilung der anderen Bände bekannt gab. Zu Schleiermachers Anliegen, Jonas seinen wissenschaftlichen Nachlass verwalten zu lassen vgl. auch KGA III/1, S. LVIII. SW III/6, S. VII Matrikel: [19. Rektoratsjahr, 1828/29] 434: George, Johann Friedrich Leopold | Berlin | Theologie | Kupferstecher | I | rite abg. 3.9.1832. Vgl. Bahl/Ribbe (2010), S. 421; [19. Rektoratsjahr, 1828/29] 951: Erbkam, Heinr[ich] | Berlin (Glogau geb.) | Theologie | Geh[eimer] Regierungs Rath | Bonn | II | rite abg. 31.8.1831. Vgl. Bahl/Ribbe (2010), S. 440.

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des Berliner Malers und Kupferstechers Johann Gottlieb George und dessen Ehefrau Friederike. Nach seinem Theologiestudium bei Schleiermacher und August Neander wurde er 1833 promoviert und habilitierte sich 1834. 1836 wurde er Gymnasiallehrer, lehrte aber bereits auch an der Universität. Von 1856 bis 1859 war er außerordentlicher Professor in Berlin, danach ordentlicher Professor an der Universität Greifswald. Im Jahr 1868 wurde George zum Rektor der dortigen Universität gewählt. Neben anderen Schriften veröffentlichte er auch ein Werk über die fünf Sinne (1846), welches durch Zusammenfassung der neueren Ergebnisse der Physik und Physiologie eine Grundlage der Psychologie zu gewinnen beabsichtigte, sowie 1854 ein Lehrbuch der Psychologie. Die Lösung der theologischen und philosophischen Probleme suchte George in einer Verbindung von Schleiermacherscher Logik und Hegelscher Dialektik. Alle wahre Spekulation ruhte für ihn auf der Erfahrung, und diese müsse immer zum spekulativen Wissen fortschreiten. So erreichte er 1868 in seinem Hauptwerk „Die Logik als Wissenschaftslehre“ eine Methodenlehre des Denkens, die das empirische und spekulative Bewusstsein gleichermaßen befriedigen sollten. Die psychologischen Studien bildeten für ihn die Grundlage zu einer wissenschaftlichen Festigung einer Metaphysik.116 Die Autographen Schleiermachers, die George zur Verfügung standen, sind genau die, die auch der vorliegenden Edition zu Grunde liegen.117 Für George stand schnell fest, „daß diese von Schleiermachers Hand herrührenden Aufzeichnungen vollständig abgedruckt werden mußten“118. Darüber hinaus beteuerte er, trotz der kleinen, vielfach abgekürzten Schrift, für die Richtigkeit einstehen zu können.119 Grundsätzlich hat sich dies bei der erneuten Übertragung der Texte für die vorliegende Edition bestätigt. Lediglich bezüglich der Orthographie und Zeichensetzung nahm George einschneidende Ver116

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118 119

Häckermann, Adolf: George, Johann Friedrich Leopold, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 1–56, Leipzig 1875–1912, hier Bd. 8: Friedrich I. von Sachsen-Altenburg – Gering, Leipzig 1878, S. 710–712; Sass, Hans-Martin: Johann Friedrich Leopold George, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 1–26, Berlin 1953 ff, hier Bd. 6: Gaál–Grasmann, 1964, S. 235–236 „Schleiermacher hat nach Ausweis der Lectionskataloge der Berliner Universität viermal über Psychologie Vorlesungen angekündigt, in den Sommersemestern 1818, 1822, 1830 und im Wintersemester 1833/34 und aus diesen Jahren fanden sich mit Ausschluß von 1822 ziemlich vollständige Manuscripte, die nach der Stunde aus der Erinnerung aufgeschrieben das Wesentliche zu fixiren suchten.“ (SW III/6, S. VIII) Zur Jahreszahl 1822 vgl. Fußnote 74. SW III/6, S. VIII SW III/6, S. IX

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Einleitung der Bandherausgeberin

änderungen vor, wahrscheinlich, um die Texte zu modernisieren. Wesentlich bedeutender jedoch ist der Eingriff Georges, die vorangestellten und zwischen den Stunden eingetragenen Gedanken nicht zu edieren. Die vollständige Lektüre der Manuskripte ist also erst mit dem vorliegenden Band möglich. Auch die in das Jahr 1821 zu datierenden Zettel werden nun erstmals geboten.120 Ihre Anzahl hat sich vermutlich, seit George sie in den Händen hielt, nicht geändert. Es liegen nicht für jede Stunde Aufzeichnungen vor.121 Folgende studentische Nachschriften waren George verfügbar: „a) Eine, wie die Vergleichung mit dem entsprechenden Schleiermacher’schen Manuscript ergiebt, aus dem Jahre 1818 stammende, welche ohne Jahreszahl und ohne Namen des Verfassers ist, aber vielleicht von dem Prediger Jonas selbst herrührt.“122 George benutzte diese als Hilfe bei der Entzifferung des Manuskripts und für kurze Anmerkungen an demselben. Diese Nachschrift ist heute nicht mehr zugänglich, ebenso wie die aus dem Sommer 1830: „b) Drei aus dem Jahre 1830; eine kürzer abgefaßte von dem Herrn Prediger Schubring und zwei fast wörtlich nachgeschriebene, die eine von meinem Freunde dem Herrn Consistorialrath Professor Dr. Erbkam in Königsberg, die andere von mir selbst herrührende“123 und „c) Endlich lag noch eine aus dem Semester 1833/34 von einem unbekannten Verfasser vor“124. Die letztgenannte Nachschrift könnte mit der identisch sein, welche sich noch heute, zusammen mit den Manuskripten, in der Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz befindet.125 George entschied sich dafür, die Vorlesung aus dem Sommer 1830 gewis120 121 122 123

124 125

Unten S. 109–128 Vgl. den editorischen Bericht, unten S. LXVIII–LXX SW III/6, S. IX SW III/6, S. X. Es liegen oder lagen mehrere Nachschriften Schleiermacherscher Kollegien von Carl Julius Schubring vor: Pädagogik 1826 (vgl. SW III/9, S. IX), Kirchliche Geographie und Statistik 1827 (vgl. KGA II/16, S. XLIII), Dialektik 1828 (vgl. KGA II/10,1, S. LXIV), Lehre vom Staat 1829 (vgl. KGA II/8, S. LVIII). Merkwürdig ist, dass er laut Matrikeleintrag die Universität bereits 1827 verließ. (Vgl. [15. Rektoratsjahr, 1824/25] 587: Schubring, Carl Julius | Deßau | Theologie | Regierungsrath, † | Leipzig | rite abg. 31.3.1827. Vgl. Bahl/Ribbe (2010), S. 292) Folglich ist es wahrscheinlicher, dass die von George genannte Nachschrift „von Herrn Prediger Schubring“ aus dem Sommersemester 1830 (vgl. SW III/6, S. X) von Gustav Schubring stammt, der von 1827 bis 1832 an der Berliner Universität studierte (vgl. Matrikel [18. Rektoratsjahr, 1827/28] 895: Schubring, Gustav | Anh[alt-] Dessau | Theologie | Regier[ungs-] Rath | von keiner | rite abg. 28.1.1832, vgl. Bahl/Ribbe (2010), Bd. 1, S. 404). SW III/6, S. X Berliner Nachschrift 1833/34, vgl. den editorischen Bericht, unten S. XCI

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senhaft und dem mündlichen Vortrag gemäß darzustellen und nur so wenig wie möglich einzugreifen. Nun, da eine weitere vollständige und zwei fragmentarische Nachschriften vorliegen, bringt der Vergleich zu Tage, dass sich große Teile der Textzeugen sehr nahe sind. Mit diesem Vorgehen, das 1830er Kolleg im Ganzen zu präsentieren, wurde diese Vorlesung ins Zentrum der Ausgabe gerückt. Der aufmerksame Leser konnte sie freilich mit den als Beilagen gebotenen Manuskripten ergänzen und vergleichen. George räumte ein, dass die Psychologie Schleiermachers zum Zeitpunkt ihres Erscheinens als bereits nicht mehr aktuell angesehen werden konnte. Gleichzeitig hoffte er, sie nicht zu spät der Vergessenheit entrissen zu haben. Diese Aussagen deuten darauf hin, dass schon 1862 kaum ein anderes als historisches Interesse an der Seelenlehre gegeben war. Dies wird auch der Grund sein, warum dem Band in den Sämmtlichen Werken bis zu dem Erscheinen der hier mitgeteilten Edition keine weitere vollständige Ausgabe folgte. Einen Auszug der Psychologie von 80 Seiten haben Otto Braun und Johannes Bauer in ihre vierbändige Auswahlausgabe der Werke Schleiermachers aufgenommen. In Band 4 erschienen 1911 (Nachdruck 1967 und 1981) auf der Grundlage des von George edierten Nachschriftentextes der Vorlesung 1830 ein Teil zur Selbsttätigkeit (SW III/6, S. 243–286) sowie zwei Auszüge zu den Differenzen der Einzelwesen (SW III/6, S. 290–301, 327–347) aus dem Elementarischen Teil.126 Ebenfalls einen Auszug der Psychologie, das Manuskript des Sommers 1818, bezog Andreas Arndt in seine Auswahl von Schriften Schleiermachers auf der Grundlage der Erstedition (SW III/6, S. 406–488) ein.127 Große Popularität bei den zeitgenössischen Hörern einerseits, eher geringe Beachtung bei den Rezipienten der Edition andererseits – diese Diskrepanz begleitet die Psychologie Schleiermachers bis heute. Die Liste der Beiträge, die sich explizit mit der Seelenlehre beschäftigen, ist sehr übersichtlich. Ist sich George noch sicher, dass „diese Vorlesung, die ja gewissermaßen den Schlüssel nicht nur zu dem philosophischen System sondern auch zu der theologischen Grundanschauung des verehrten Meisters abgiebt“128, „das hellste Licht über Schleiermacher’s wissenschaftliche Grundanschauungen und über seinen 126 127 128

Braun/Bauer (1911), Bd. 4, S. 1–80, (1967), Bd. 4, S. 1–80, (1981), Bd. 4, S. 1–80 Friedrich Schleiermacher. Schriften. Bibliothek der Philosophie, Bibliothek deutscher Klassiker 134, ed. A. Arndt, Frankfurt/M. 1996, S. 845–945 SW III/6, S. VII

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Einleitung der Bandherausgeberin

Begriff von der Religion zu verbreiten“129 in der Lage wäre, konnte sie diese Erwartungen nicht erfüllen. Auch die Hoffnung, das Werk könne „in dem Kampfe entgegengesetzter Richtungen, welcher jetzt auf diesem Gebiet der Wissenschaft mit Lebhaftigkeit geführt wird, einen mächtigen Einfluß auf die Entwicklung desselben auszuüben im Stande sein“130, hat sich nicht bewahrheitet. Sicherlich liegt dies auch darin begründet, dass die Vorlesungen zu spät für eine direkte Aufnahme in der zeitgenössischen Diskussion erschienen. Die Skala der Bewertungen reicht von größter Bedeutsamkeit bis zu vernichtender Kritik. Wilhelm Dilthey erkannte in der Psychologie Schleiermachers die Grundlage aller Philosophie.131 Die Psychologiegeschichte reiht Schleiermacher (wie auch Dilthey) in die verstehende Psychologie ein.132 In theologischem Kontext wird die Psychologie meist als der Ort der wissenschaftlichen Bestimmung des Gefühlsbegriffs relevant und somit für die Subjektivitätstheorie interessant.133 Es wurden nicht nur Ansätze moderner Psychologie entdeckt,134 Schleiermacher wurde gar mit Sigmund Freud und Carl Gustav Jung in Verbindung gebracht.135 Hingegen bezeichnete Walter Benjamin die Psychologie als „unfruchtbar“ und „Plage“.136 129 130 131

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136

SW III/6, S. XII SW III/6, S. XII Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften, Bd. 1–26, Leipzig/Berlin/Göttingen 1914– 2006, hier Bd. 14: Leben Schleiermachers, Bd. 2: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, Göttingen 1985, S. 465 Vgl. Hubig, Christoph: Die Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey und ihre Bedeutung für die Psychologie, in: Wegbereiter der Psychologie. Der geisteswissenschaftliche Zugang, ed. G. Juettemann, 2. Aufl., Weinheim 1995, S. 70–83 Vgl. z. B. Lehnerer, Thomas: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers, Stuttgart 1987; Rieger, Reinhold: Interpretation und Wissen. Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Schleiermacher und ihre geschichtlichen Hintergründe, Berlin 1988; Schlenke, Dorothee: „Geist und Gemeinschaft“. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin 1999 Vgl. Tice, Terrence: Schleiermacher’s Psychology. An Early Modern Approach, a Challenge to Current Tendencies, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, edd. G. Meckenstock / J. Ringleben, Berlin 1991, S. 509–521 Vgl. Urban, Bernd: „Neuschöpfung“ und „Kryptomnesie“. Zur hermeneutischen Tradition der psychoanalytischen Gesprächstechnik und -praxis, in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 4, ed. J. Cremerius, Würzburg 1985; Schock, Werner: Individuation und Sinntotalität in Schleiermachers Monologen, in: Analytische Psychologie, Bd. 21 (1), 1974, S. 52-65 Vgl. Benjamin, Briefe an Scholem und Schoen vom 13.1.1918, 1.2.1918, 28.2.1918. Hier ist auch zu lesen, die Psychologie, „ein in Notizen und Vorlesungen nachgelassenes Werk das keine philosophische Grundlage hat und nur in seiner Sprachtheorie negativ interessant ist.“ (Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe,

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Auf der Grundlage der Edition in den Sämmtlichen Werken ist keine durchgehend kontinuierliche Beschäftigung mit der Psychologie Schleiermachers zu verzeichnen, sondern vielmehr eine zu- und abnehmende Verdichtung von schriftlichen Zeugnissen über die Seelenlehre zu beobachten. Vor bzw. kurz nach dem Erscheinen des Bandes wurden die Vorlesungen vor allem von Lesern wahrgenommen, die seinerzeit zum Kreis von Schleiermachers Bekannten oder Hörern gehörten. In diesem Zusammenhang machten Christoph von Sigwart mit „Schleiermachers psychologische Voraussetzungen, insbesondere die Begriffe des Gefühls und der Individualität“137 sowie Carl Platz mit „Schleiermachers Psychologie“138 auf die Publikation der Seelenlehre aufmerksam. Im Zeitraum zwischen 1873 und 1913 erschienen einige umfangreichere Arbeiten, so etwa von Ernst Lang „Die Psychologie Schleiermachers“139, von August Frohne „Der Begriff der Eigentümlichkeit oder Individualität bei Schleiermacher“140, von Otto Geyer „Friedrich Schleiermachers Psychologie nach den Quellen dargestellt und beurteilt“141 oder von Friedrich Siegmund-Schultze „Schleiermachers Psychologie in ihrer Bedeutung für die Glaubenslehre“142. Neben dem italienischsprachigen Artikel Antonio Corsanos „La psicologia del linguaggio di Friedrich Schleiermacher“ von 1940 ist über einen Zeitraum von fast 80 Jahren noch Johannes Grölls Arbeit „Rezeptivität und Spontaneität. Studien zu einer Grundkategorie im psychologisch-pädagogischen Denken Schleiermachers“143 zu nennen. Eine deutliche Renaissance erfuhr die Beschäftigung mit Schleiermachers Psychologie zwischen 1991 und 1998, wo mehrere Artikel für neue Lesarten eintraten. In diesem Zusammenhang sind zu nennen: Eilert Herms: „Die Bedeutung der ‚Psychologie‘ für die Konzeption des Wissenschaftssystems beim späten Schleiermacher“144, Diet-

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Bd. 1–2, edd. Ch. Gödde / H. Lonitz, Frankfurt/M. 1995, hier Bd. 1, S. 420, 426, 438) In: Jahrbuch für Deutsche Theologie 2, 1857, Neudruck Darmstadt 1857 In: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland 9, Berlin 1862, S. 479–485, 543–551, 567–577 (Diss.) Jena 1873 Halle 1884 Leipzig 1895 Tübingen 1913 (Diss.) Münster 1966 Herms (1991), S. 369–401

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Einleitung der Bandherausgeberin

mar Kaden: „Deutsche Psychologien zwischen 1800 und 1860. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung des Entwicklungsgedankens“145, Terence Tice: „Schleiermacher’s Psychology: An Early Modern Approach, a Challenge to Current Tendencies“146, Christoph Hubig: „Die Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey und ihre Bedeutung für die Psychologie“147 oder Andreas Arndt: „‚Spekulative Blicke auf das geistige Prinzip‘. Friedrich Schleiermachers Psychologie“148. Erneute Aufmerksamkeit erfuhr die Psychologie im Zeitraum von 2011 bis 2017 beispielsweise durch Oliver Heller mit „Die Bildung des selbstbestimmten Lebens. Identität und Glaube aus der Perspektive von F.D.E. Schleiermacher, W. James und J. Dewey“149, Andreas Arndt mit „Schleiermachers Psychologie – eine Philosophie des subjektiven Geistes?“150, Eilert Herms mit „Leibhafter Geist – beseelte Organisation. Schleiermachers Psychologie als Anthropologie. Ihre Stellung in seinem theologisch-philosophischen System und ihre Gegenwartsbedeutung“151 oder Kirsten Huxel mit dem Artikel „Psychologie“152. Darüber hinaus lassen sich eine Reihe von Arbeiten erwähnen, die die Seelenlehre Schleiermachers ebenfalls rezipieren, in Einzelaspekten zu Rate ziehen, streifen.153 145 146 147 148 149 150

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(Diss.) Leipzig 1991 Tice (1991), S. 509–521 In: Wegbereiter der Psychologie. Der geisteswissenschaftliche Zugang, ed. G. Juettemann, 2. Aufl., Weinheim 1995, S. 70–83 Arndt (1998), S. 147–161. Derselbe Artikel erschien noch einmal 2013 in: Arndt, Andreas: Schleiermacher als Philosoph, Berlin/Boston, S. 379–394 Berlin 2011, besonders S. 125–144 In: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, edd. A. v. Scheliha / J. Dierken, Berlin/Boston 2017, S. 245–256 In: Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, edd. A. v. Scheliha / J. Dierken, Berlin/Boston 2017, S. 217–243 In: Schleiermacher Handbuch, ed. M. Ohst, Tübingen 2017, S. 285–290 Von diesen seien genannt: Huber, Eugen: Die Entwicklung des Religionsbegriffs bei Schleiermacher, Leipzig 1901, (Neudruck) Bremen 2012; Scholz, Heinrich: Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre. Ein Beitrag zum Verständnis der Schleiermacherschen Theologie, Berlin 1909; Schultz, Werner: Das Verhältnis von Ich und Wirklichkeit in der religiösen Anthropologie Schleiermachers, Göttingen 1935; Neumann, Johannes: Schleiermacher: Existenz, Ganzheit, Gefühl als Grundlagen seiner Anthropologie, Berlin 1936; Barth, Ulrich: Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1983; Lehnerer (1987); Rieger (1988); Schlenke (1999); Hopfner, Johanna: Studien zum Subjektbegriff im neuzeitlichen

Editorischer Bericht

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Dieser knappe Überblick zeigt: Schleiermachers Psychologie-Vorlesungen polarisieren. Hohe Erwartungen an die Lektüre wurden immer wieder von ernüchternden Urteilen abgelöst. Nicht nur weitere Textausgaben nach dem Band III/6 der Sämmtlichen Werke blieben bis zur vorliegenden Edition aus, sondern auch umfangreichere Gesamtdarstellungen der Seelenlehre. Stattdessen zog man sie – Streiflichtern gleich – meist aus äußeren Blickwinkeln zur Erklärung, Ergänzung oder Rechtfertigung heran. Eine vollständige Analyse von innen heraus, um ihrer selbst willen, liegt, außer ihren Intentionen nach bei den frühen Arbeiten von Lang und Geyer, nicht vor.

II. Editorischer Bericht A. Manuskripte Schleiermachers Von Schleiermachers Hand liegen Aufzeichnungen verschiedenen Umfangs zu allen vier von ihm gehaltenen Kollegs zur Psychologie vor. 1. Die Vorlesung im Sommersemester 1818 Titel (Bl. 1r): Zur Psychologie | angefangen | den 16ten April 1818. Autor: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Archivort: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, SchleiermacherArchiv, Kasten 1, Mappe 5 Erziehungsdenken. Ansätze zur Überwindung grundsätzlicher Dichotomien bei Herbart und Schleiermacher, Weinheim/München 1999; Meier, Dorothea: Werdendes Wissen und bewusstes Leben. Eine Untersuchung über den Zusammenhang von Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Pädagogik und Psychologie auf der Grundlage neu aufgefundener Mitschriften beider Kollegs aus den Jahren 1820/ 21 (Diss.), Jena 2001; Herms, Eilert: Philosophie und Theologie im Horizont des reflektierten Selbstbewußtseins, in: Schleiermachers Dialektik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie, edd. Ch. Helmers / Ch. Kranich / B. RehmeIffert, Tübingen 2003, S. 23–52; Huxel, Kirsten: Ontologie des seelischen Lebens. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie im Anschluss an Hume, Kant, Schleiermacher und Dilthey, Tübingen 2004, S. 145–325; Hartlieb, Elisabeth: Geschlechterdifferenz im Denken Friedrich Schleiermachers, Berlin/New York 2006; Heller (2011); Schmidtke, Sabine: Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heilung, Tübingen 2015; Cafagna, Emanuele: Hegel gegen Schleiermacher. Dogmatik, Psychologie. Hegel-Jahrbuch 2015, Heft 1, 2015, S. 180–185, S. 180

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Einleitung der Bandherausgeberin

Inhalt: Das Manuskriptheft enthält insgesamt 105 vorlaufende und zwischen den einzelnen Stunden verteilte Gedanken zum Kolleg, Vorlesungsaufzeichnungen zu den Stunden eins bis 75 sowie zusätzlich 17 weitere Gedanken, die am Rand notiert sind. Beschreibung: Eröffnet wird das Manuskript von 57 vorangestellten Gedanken (Bl. 2r–Bl. 5v, vier davon auf Bl. 2r marginal). Es folgen Ausarbeitungen zu den Stunden eins (beginnend auf Bl. 6r) bis 75 (endend auf Bl. 55r), wobei die Stunden 48 bis 51, 67 bis 71 und 72 bis 75 zusammengefasst sind. Die Hamburger Nachschrift desselben Kollegs dokumentiert 82 nummerierte Vorlesungen, anschließend den Text eines nachträglich gehaltenen, die Vorlesung fortsetzenden Vortrages. Folglich fehlen in Schleiermachers Heft Aufzeichnungen zu den Stunden 76 bis 82 sowie zu dem Nachtrag. Zwischen den Stunden (52 mal) und am Rand des Heftes (13 mal) finden sich insgesamt 65 weitere Notizen.154 Während die Gedanken vor und zwischen den Kollegs in das Jahr 1818 datieren, könnten die marginalen Anmerkungen auch spätere Ergänzungen darstellen, die wohl zumeist 1821 entstanden, als Schleiermacher zum zweiten Mal Psychologie las. Wenigstens eine marginale Anmerkung stammt aus dem Jahr 1830.155 Das Heft besteht aus 55 Blättern mit 109 beschriebenen Seiten in einer Größe von 20,4 cm mal 17 cm, die nachträglich archivalisch foliiert und mit Fadenheftung gebunden wurden. Vier Blätter (acht Seiten) entstanden jeweils durch doppeltes Falten und Aufschneiden eines Papierbogens. Dafür sprechen die Nummerierungen der insgesamt 8 Bogen, die von Schleiermachers Hand auf den Blättern 9r („Psychologie 2.“), 17r („Psychologie 3“), 25r („Psychologie 4“), 33r („Psychologie 5“), 41r („Psychologie 6“) sowie 49r („Psychologie 7“) eingetragen sind. Die Blätter 1v und 55v sind leer. Das Papier hat einen bräunlich154

155

Die 65 verteilten Gedanken befinden sich an folgenden Stellen: Zwei vor der zweiten Stunde (Bl. 6r), neun vor der dritten Stunde (Bl. 6v–7r), zwei vor der fünften Stunde (Bl. 8v), zwei vor der sechsten Stunde (Bl. 9v), vierzehn vor der achten Stunde (Bl. 11r–11v), drei vor der neunten Stunde (Bl. 12v), sechs vor der elften Stunde (Bl. 14r–14v), eine vor der zwölften Stunde (Bl. 15v, marginal, bezieht sich auf die 11. Stunde), eine vor der 13. Stunde (Bl. 16v), eine vor der 15. Stunde (Bl. 19r), drei vor der 16. Stunde (Bl. 20r), fünf vor der 17. Stunde (Bl. 21r–21v), zwei vor der 19. Stunde (Bl. 23v), zwei vor der 20. Stunde (Bl. 24v–25r), zwei vor der 23. Stunde (Bl. 28r), zwei vor der 27. Stunde (Bl. 32v und 33r, letztere marginal), fünf vor der 32. Stunde (Bl. 36v, alle marginal), zwei vor der 36. Stunde (Bl. 40r, beide marginal), zwei vor der 40. Stunde (Bl. 43r, beide marginal), drei vor der 44. Stunde (Bl. 44v, alle marginal und sich auf die Stunden 44, 45 und 46 beziehend) sowie eine vor der 64. Stunde (Bl. 51v, marginal). Vgl. Manuskript 1818, Bl. 33r, unten S. 70, vgl. auch Fußnote 87

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beigen Farbton, die Tinte ist schwarz. Das Heft ist gut erhalten und bis auf einige wenige Flecken (beispielsweise auf Bl. 17r–18r, 37r–40r oder 42r–45v), die die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen, makellos. Die Marginalien scheinen teilweise leicht auf der Rückseite durch. Während reichlich 10 cm jeder Seite beschrieben sind, findet sich ein jeweils etwa 6–7 cm großer Rand, auf den Marginalien verschiedenen Umfangs auf Bl. 2r, 6r, 7v, 10v, 11r, 15v, 24r, 25v, 26r, 27r, 28r, 28v, 29v, 30r, 30v, 33r, 34v, 35r, 36r, 36v, 40r, 41r, 41v, 43r, 44r, 44v, 45r, 46r, 46v, 48v, 49v, 50r, 51v, 52r eingetragen sind. Diese werden an den entsprechenden Orten im textkritischen Apparat nachgewiesen, ebenso wie Klammern, Striche oder Punktlinien, die marginal an den Text angebracht wurden. Schleiermacher verwendete einige Chiffren und Kürzel in seinen Texten. Typisch sind die Schreibweisen Ae oder Ue für großgeschriebene Umlaute am Wortanfang ebenso wie ein einfaches k statt ck und z anstelle von tz oder auch einfache Konsonanten ohne Verdoppelungsstrich, wo Doppelkonsonanten stehen könnten. Darüber hinaus finden sich zeittypische Schreibweisen einzelner Laute oder Wörter. Uneinheitlich ist die Zeichensetzung. Wo fehlende Kommata oder Satzzeichen für das Verständnis nötig sind, werden sie in eckigen Klammern ergänzt. Obgleich Schleiermacher die Wörter teilweise auch ausschreibt, kommen folgende Chiffren und Abkürzungen in den Manuskripten vor: BW X χlich dh Θ ₥ M φ ô p. Φ SBW 1, 2, 3, 4

Bewußtsein Christus, Christ, Christen christlich durch, Durch Gott man Mensch Natur nicht, Nicht perge Philosophie Selbstbewußtsein ein, eine einer, eines, zwei drei, dritt, vier, Quadr-

Bisherige Edition: SW III/6, S. 406–488 (Beilage A), unvollständig Besonderheiten: 120 der insgesamt 122 voran-, zwischengestellten und marginalen Notate Schleiermachers nahm George seinerzeit nicht in den Abdruck des Manuskriptheftes in den Sämmtlichen Werken auf. Sie werden hier erstmalig als „Gedanken zur Psycho-

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Einleitung der Bandherausgeberin

logie 1818“ veröffentlicht. Da sie den Charakter von Gedankensplittern, Erinnerungshilfen oder auch Lektürekommentaren tragen, sind sie nicht immer für sich verständlich oder in den Kontext integrierbar. Zwei marginale Notizen des Heftes 1818 (Bl. 2r) hat George allerdings als Eintrag für die ersten beiden Stunden an anderer Stelle aufgenommen, nämlich den Aufzeichnungen Schleiermachers zu der Vorlesung im Wintersemester 1833/34 vorangestellt,156 die eigentlich erst mit der dritten Stunde beginnen.

2. Die Vorlesung im Sommersemester 1821 Ohne Titel, ohne Datum Autor: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Archivort: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, SchleiermacherArchiv, Kasten 1, Mappe 6 Inhalt: Das Konvolut besteht aus 42 einzelnen Zetteln mit Textpassagen zu den von Schleiermachers Hand eingetragenen Stunden 5, 18, 19, 20, 22, 23, 24, 25, 26, 27 28, 29, 30, 32, 33, 39, 40, 41, 42, 43, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 55, 56, 57, 58, 61, 62, 63, 64, 65, 67, 68, 69, 70, 72, 73, 74, 75. Drei nicht mit der Angabe von Vorlesungsstunden versehene Zettel beziehen sich auf die Stunden 3, 4 und 21. Zu 29 einzelnen der insgesamt 76 Kollegs sind folglich keine Notizzettel vorhanden, nämlich zur ersten, zweiten oder dritten, sechsten bis 17., 31., 34. bis 38, 44., 52. bis 54., 59. bis 60., 66., 71. und 76. Vorlesungsstunde. Beschreibung: Jeder einzelne Zettel weist eine vom anderen verschiedene Größe auf und misst zwischen 4 und 7 cm (zweimal 9 cm) Breite und 5 bis 10 cm (einmal 16 cm) Länge. Die Zettel wurden archivalisch mit Bleistift meist in der oberen rechten, manchmal auch in der unteren rechten Ecke nummeriert. Die Ziffern entsprechen nicht immer der Reihenfolge der Stunden. Der Grund dafür liegt vor allem in einer unsicheren Lesung der von Schleiermacher eingetragenen Nummerierungen. So wurde Nr. 20 als 26, Nr. 43 als 49 sowie Nr. 48 als 40 verstanden und entsprechend eingeordnet. Meist enthält ein Zettel Gedanken zu einer Stunde, 156

Vgl. SW III/6, S. 530

Editorischer Bericht

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selten auch zu zwei Stunden.157 Zweimal ist die Rückseite beschrieben, auf Blatt 30v und 38v. Das Papier ist nicht einheitlich. Der Farbton schwankt zwischen gräulich bis bräunlich-beige. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Zettel von anderen Dokumenten zumeist mit einer Schere abgetrennt oder sorgfältig abgerissen wurden. Auf dem Zettel mit der Nummer 28 lassen sich entlang des linken Randes deutlich die Oberlängen einer anderen Schrift und einer anderen Tintenfarbe erkennen. Die Notiz zur Psychologie wurde also auf den vormals unbeschriebenen Rand eines älteren Schriftstückes geschrieben. Alle Papiere weisen deutlich sichtbare Falzspuren auf. Während manchmal der ganze Zettel beschrieben ist (Nr. 30, 34, 36), wurden andere nicht vollständig ausgefüllt (z. B. Nr. 1, 8, 12, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 23, 25, 26, 36, 40, 41, 42). Auf dem Blatt mit der Nummer 19 befindet sich eine Auflistung von Buchstaben und dahinter folgenden Zahlen mit acht Posten und einer unter einem Querstrich eingetragenen Summe. Ob diese Rechnung vorher auf dem Papier war oder erst zum Zeitpunkt seiner Nutzung als Psychologie-Notizzettel entstand, ist nicht sicher zu entscheiden. Die Zettel mit den Nummern 23 und 31 weisen Spuren eines runden, etwa 2 cm großen Siegelabdrucks auf. Als Teil eines Wasserzeichens befinden sich drei gedruckte Buchstaben („Rus“) auf Zettel 18. Bis auf einige Tintenspritzer sind die Zettel in einem guten Zustand. Wo eine kleine Ecke abgerissen ist, trifft dieser Verlust nicht den beschriebenen Teil des Zettels (z. B. Nr. 38). Die Entzifferung wurde erschwert durch die extrem kleine, gedrängte Schrift, einige Male durch verwischte Tinte (Nr. 9, 10, 36) oder ein kleines Loch im Papier, das vom Falten herrührt (Nr. 17). Zur Schreibweise sowie zur Verwendung von Zeichen und Abkürzungen vgl. oben S. LXVII. Bisherige Edition: keine 157

Auf den jeweiligen Zetteln befinden sich Aufzeichnungen zu folgenden Stunden: Nr. 1: dritte Stunde; Nr. 2: fünfte Stunde; Nr. 3: vierte Stunde; Nr. 4: 18. Stunde; Nr. 5: 19. Stunde; Nr. 6: 23. Stunde; Nr. 7: 24. Stunde; Nr. 8: 25. Stunde; Nr. 9: 20. Stunde; Nr. 10: 26. Stunde; Nr. 11: 27, 21. und 22. Stunde; Nr. 12: 28. Stunde; Nr. 13: 29. Stunde; Nr. 14: 30. Stunde; Nr. 15: 32. Stunde; Nr. 16: 33. Stunde; Nr. 17: 39. Stunde; Nr. 18: 40. Stunde; Nr. 19: 48. Stunde; Nr. 20: 41. Stunde; Nr. 21: 42. Stunde; Nr. 22: 45. Stunde; Nr. 23: 46. Stunde; Nr. 24: 43. Stunde; Nr. 25: 49. Stunde; Nr. 26: 50. Stunde; Nr. 27: 51. Stunde; Nr. 28: 56. Stunde; Nr. 29: 57. Stunde; Nr. 30: 55. Stunde; Nr. 31: 58. Stunde; Nr. 32: 61. Stunde; Nr. 33: 62. Stunde; Nr. 34: 63. Stunde; Nr. 35: 64. Stunde; Nr. 36: 65. Stunde; Nr. 37: 67. Stunde; Nr. 38: 68. Stunde; Nr. 39: 69. Stunde; Nr. 40: 70. Stunde; Nr. 41: 72. und 73. Stunde; Nr. 42: 74. und 75. Stunde.

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Einleitung der Bandherausgeberin

Besonderheiten: Die Zettel, die Schleiermachers Vorlesepraxis deutlich illustrieren, werden hier erstmalig als „Gedanken zur Psychologie 1821“ veröffentlicht.

3. Die Vorlesung im Sommersemester 1830 Titel (Bl. 1r): Psychologie | Sommer 1830 | Angefangen den 26ten April Autor: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Archivort: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, SchleiermacherArchiv, Kasten 1, Mappe 7 Inhalt: Das Heft enthält lückenlose Aufzeichnungen zu den Stunden eins bis 56. Die 57. und 58. Stunde sind unter einem Eintrag zusammengefasst. Nach der 59. Stunde folgt erneut eine Komprimierung der Stunden 60 und 61, die in aller Kürze dargestellt sind und auf das Heft der Vorlesung von 1818 („Nach Maaßgabe des vorigen.“, Bl. 20r) verweisen. Die Kollegs 62 und 63 sind nicht ausgeführt, sondern nur mit der Bemerkung „Nach Maaßgabe des vorigen Heftes“ (Bl. 20r) versehen. Der zweite, Konstruktive Teil, wird also nur angekündigt, aber kaum behandelt. Folglich fehlen Aufzeichnungen zu den letzten 17 der insgesamt 78 Stunden des Kollegs. Beschreibung: Das Manuskript besteht aus 40 Blättern (79 beschriebenen Seiten) in einer Größe von 20,5 cm mal 17,7 cm, die nachträglich archivalisch foliiert und mit Fadenheftung gebunden wurden. Vier Blätter (acht Seiten) entstanden jeweils durch doppeltes Falten und Aufschneiden eines Papierbogens. Eine Nummerierung der insgesamt 5 Bogen wurde nicht vorgenommen. Blatt 20v ist leer. Das Papier hat einen bräunlich-beigen Farbton, der fünfte Bogen (Bl. 17r–20v) ist etwas heller als die vorhergehenden. Die Tinte ist schwarz. Das Heft ist gut erhalten und bis auf einige wenige Flecken (beispielsweise Bl. 1r–8v oder 7r–8v), die die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen, makellos. Während reichlich 10 cm jeder Seite mit den Stundenaufzeichnungen des 1830er Kollegs beschrieben sind, findet sich ein jeweils etwa 6–7 cm großer Außenrand. Diesen nutzte Schleiermacher später, um auf Bl. 1r–16r die Stunden der Vorlesung im Wintersemester 1833/34 zu dokumentieren.

Editorischer Bericht

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Auf den Text von 1830 beziehen sich Marginalien verschiedenen Umfangs auf Bl. 6r, 7r (zweimal), 7v (dreimal), 9r, 10r, 11v, 12v, 14r, 14v, 15r, 15v, 16r, (zweimal), 16v, 17r, 18v, 19r, 20r (dreimal). Diese werden an den entsprechenden Orten im textkritischen Apparat nachgewiesen, ebenso wie Markierungen, die marginal an den Text angebracht wurden. Die 24. Stunde ist von Schleiermachers Hand mit folgender Bemerkung versehen: „NB Nach dem Pfingstfest“. Das war am Dienstag, den 1. Juni 1830. In der 28. Stunde verwies Schleiermacher bereits einmal auf seine Aufzeichnungen der Vorlesung 1818: „XXVIII. Erklärung des Vergessens im wesentlichen aus XX des alten Heftes“. Eine Auflistung der von Schleiermacher verwendeten Kürzel befindet sich oben S. LXVII. Bisherige Edition: SW III/6, S. 489–529 (Beilage B) Besonderheiten: Das Manuskript erschien bereits in den von Leopold George edierten Sämmtlichen Werken, wobei zwei Marginalien dabei nicht aufgenommen wurden (Bl. 14r, 16r). Eine Randbemerkung bezieht sich auf die Rekapitulation des Inhalts und weist darauf hin, dass Schleiermacher nach der Stunde das Wichtigste aufgeschrieben hat: „NB Hier ist mir manches sehr bestimmt aus einander gesezte entgangen.“ (Bl. 6r)

4. Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34 Titel (Bl. 1r): 1833. Autor: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Archivort: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, SchleiermacherArchiv, Kasten 1, Mappe 7 Inhalt: Das Manuskript dokumentiert die Stunden drei bis 64. Während die Stunden 3 bis 13, 16 bis 19, 22 bis 45, 48 bis 52, 55, 56 sowie 59 bis 64 jeweils einen Eintrag für sich aufweisen, wurden die Aufzeichnungen zu den Stunden 14 und 15, 20 und 21, 46 und 47, 53 und 54 sowie 57 und 58 zusammengefasst. Die Stunden drei bis 15 sind sehr knapp wiedergegeben. Danach folgen wieder längere Passagen zu den einzelnen Vorlesungen. Das Manuskript bricht nach dem 64. Kolleg (6.2.1834) ab, dem letzten vor Schleiermachers tödlicher Erkrankung.

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Einleitung der Bandherausgeberin

Beschreibung: Die Stundenaufzeichnungen zum Kolleg im Wintersemester 1833/34 schrieb Schleiermacher auf den Außenrand des Heftes, in das er bereits die 1830er Vorlesung eingetragen hatte.158 Von Bl. 1r bis Bl. 16r nutzte er den reichlich 6 cm betragenden Platz neben den Notaten zu der älteren Vorlesung auf 31 Seiten, um das Wichtigste des Psychologiekollegs im Winter 1833/34 aufzuzeichnen. Die Schrift ist durchgängig sehr klein und gedrängt. Randbemerkungen, die sich auf das Kolleg von 1830 beziehen, sind meist mit einer Klammer oder einem Strich von den 1833/34er Eintragungen abgetrennt. Viermal wiederholte Schleiermacher ein Wort oder eine Silbe der vorigen Seite auf der nächst folgenden.159 Ebenso verfuhr er viermal vor bzw. nach Marginalien von 1830 oder nach der Einfügung einer Textpassage mit Verweiszeichen,160 um den Fortgang des Textes zu verdeutlichen. Auf Bl. 12r, 12v, 14v sowie 16r sind am Rand vor der Fortführung des Textes erneut die Ziffern der aktuellen Stunde eingetragen (55), 56), 61) und 63)). Die von Schleiermacher verwendeten Kürzel sind oben (S. LXVII) aufgelistet. Bisherige Edition: SW III/6, S. 530–557 (Beilage C) Besonderheiten: George bietet im Abdruck des Manuskripts von 1833/34 kurze Notate zu den ersten beiden Stunden. Diese entstammen dem Manuskript Schleiermachers aus dem Sommer 1818 und befinden sich ohne Angabe einer Ziffer dort am Rand von Bl. 2r.161

B. Vorlesungsnachschriften Es liegen insgesamt zwölf Nachschriften der Schleiermacherschen Kollegs zur Psychologie vor: zwei aus dem Sommersemester 1818, vier aus dem von 1821, drei von 1830 und drei aus dem Wintersemester 1833/34. 158 159

160 161

Vgl. die Beschreibung zum Manuskript 1830, oben S. LXX Letztes Wort Bl 7r, erstes Wort Bl. 7v: auf | auf; letztes Wort Bl. 11r, erstes Wort Bl. 11v: nicht | nicht; letztes Wort Bl. 14r, erstes Wort Bl. 14v: von | von; letztes Wort Bl. 15v, erste Silbe Bl. 16r: hinter | ter Vor bzw. nach den Marginalien 1830, Bl. 7v: der | der und mit | mithin; Bl. 12v: Na|Naturbeherrschung; vor bzw. nach der Einfügung, Bl. 13v: uns |uns Unten S. 6

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1. Die Vorlesung im Sommersemester 1818 Zwei anonyme Nachschriften dokumentieren den Verlauf des Kollegs. Die Hamburger Nachschrift dient als Leittext. a. Hamburger Nachschrift Titel (S. 4): Psychologie | nach dem Vortrage des Herrn Pr. Schleiermacher | im Sommer 1818. Autor: unbekannt Archivort: Hamburg, Privatbesitz Inhalt: Die Nachschrift dokumentiert in 82 Stunden und einem nachträglich gehaltenen Vortrag den vollständigen Verlauf der Vorlesung. Am Rand des Textes sind jeweils die 1. bis 75. sowie die 78. bis 82. Stunde ausgewiesen. Auch wenn solche Angaben für die 76. und 77. Vorlesung sowie den Nachtrag fehlen, sind die Ausarbeitungen dieser Kollegs in entsprechendem Umfang vorhanden. Beschreibung: Die Nachschrift umfasst 340 Blätter mit 678 beschriebenen Seiten im Format 19 cm mal 26 cm, zu einem Heft gebunden. Während der beschriebene Teil der Seite ungefähr 11 cm einnimmt, ließ der Schreiber jeweils einen etwa 8 cm großen Außenrand, auf dem er fast durchgängig den Beginn einer neuen Vorlesung mit der entsprechenden Kollegnummerierung vermerkt hat. Diese marginale Zählung wird im vorliegenden Band in Zwischenüberschriften wiedergegeben. Die einzelnen Stunden sind nicht datiert. Durch Falten und Aufschneiden eines großen Papierbogens entstanden jeweils acht Blätter mit 16 Seiten. Dies ist an der Nummerierung der Bögen zu erkennen. Außerdem wurden alle ungeraden rechten Heftseiten nachträglich archivalisch am oberen rechten Rand mit Seitenzahlen versehen.162 162

Folglich befinden sich die Bogenpaginierungen von Schreiberhand auf folgenden Manuskriptseiten: Nr. 2 auf S. 17, Nr. 3 auf S. 33, Nr. 4 auf S. 49, Nr. 5 auf S. 65, Nr. 6 auf S. 81, Nr. 7 auf S. 97, Nr. 8 auf S. 113, Nr. 9 auf S. 129, Nr. 10 auf S. 145, Nr. 11 auf S. 161, Nr. 12 auf S. 177, Nr. 13 auf S. 193, Nr. 14 auf S. 209, Nr. 15 auf S. 225, Nr. 16 auf S. 241, Nr. 17 auf S. 257, Nr. 18 auf S. 273, Nr. 19 auf S. 289, Nr. 20 auf S. 305, Nr. 21 auf S. 321, Nr. 22 auf S. 337, Nr. 23 auf S. 353, Nr. 24 auf S. 369, Nr. 25 auf S. 385, Nr. 26 auf S. 401, Nr. 27 auf S. 417, Nr. 28 auf S. 433, Nr. 29 auf S. 449, Nr. 30 auf S. 465, Nr. 31 auf S. 481, Nr. 32 auf S. 497, Nr. 33 auf S. 513 sowie Nr. 34 auf S. 529. Danach tritt ein Fehler in der nachträglichen Seitenzählung auf, der sich bis zum Ende der Nachschrift fortsetzt. Nach der ungeraden Nummerierung 541 wurde die folgende rechte Heftseite

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Einleitung der Bandherausgeberin

Der Text ist sehr ausführlich, zuverlässig und gut lesbar, weshalb er auch als Leitschrift ausgewählt wurde. Offenbar handelt es sich um eine im Nachhinein angefertigte, wohl aber überarbeitete Reinschrift der Vorlesung, denn sie ist fast fehlerfrei und weist wenige Einfügungen oder Korrekturen, jedoch viele Unterstreichungen auf, die sich nicht selten über eine ganze Seite erstrecken. Diese werden im vorliegenden Druck nicht übernommen. An fraglichen oder verkürzten Stellen finden sich im vorliegenden Band Varianten bzw. Zusätze, die der Berliner Nachschrift desselben Kollegs (b.) entnommen wurden. Alle einzelnen Textabschnitte sind am Rand mit fortlaufenden senkrechten Strichen versehen, die manchmal langen eckigen Klammern ähneln. Der Schreiber verwendete kaum Abkürzungen, darum ist keine Kürzelliste erforderlich. Auffällig ist ein unsicherer Umgang mit griechischen Begriffen. Möglicherweise wurde der Text von einem Schreiber übertragen, der des Griechischen nicht mächtig war, denn da, wo ein entsprechender Ausdruck zu erwarten ist, wird dieser – bis auf zwei Ausnahmen – entweder umschrieben oder es findet sich eine Lücke. Bisherige Edition: keine Besonderheiten: Von der ersten bis zur 48. Stunde wurden von Schreiberhand unterschiedlich lange, meist jedoch recht ausführliche Zusammenfassungen des Inhalts des jeweiligen Kollegs an den Rand unter die Stundenzählung vermerkt. Manchmal führt der Text auch am unteren Rand der Seite fort. Diese Extrakte, die einen sehr guten Überblick über das Wichtigste der Stunde enthalten, werden der jeweiligen Vorlesungsstunde vorangestellt. b. Berliner Nachschrift Titel (S. 1): Psychologie Autor: unbekannt Archivort: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, SchleiermacherArchiv, Kasten 3, Mappe 19 nicht mit 543, sondern irrtümlicherweise mit 542 versehen, so dass neben der S. 542 noch eine S. 542a und 542b entstanden. Darum findet sich die Bogen-Nr. 35 auf S. 543 statt auf S. 545, Nr. 36 auf S. 559, Nr. 37 auf S. 575, Nr. 38 auf S. 591, Nr. 39 auf S. 607, Nr. 40 auf S. 623, Nr. 41 auf S. 639, Nr. 42 auf S. 655 und Nr. 43 auf S. 671.

Editorischer Bericht

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Inhalt: Die Vorlesung wird bis auf eine zweiseitige Lücke in der 76. Stunde vollständig dokumentiert. Beschreibung: Die Nachschrift besteht aus 261 Blättern mit 520 beschriebenen Seiten in einer Größe von 20 cm mal 25 cm, zu einem Heft gebunden. Der Schreiber hat jeweils einen neuen Bogen nummeriert. Aus einem Bogen entstanden durch Falten und Trennen immer acht Seiten (vier Blätter). Außerdem wurde in der rechten unteren Ecke der rechten Heftseite eine nachträgliche Paginierung vorgenommen, indem alle ungeraden Zahlen eingetragen wurden.163 Die Seiten 482 und 483 sind unbeschrieben. Der Verfasser hat weder eine Stundenzählung noch eine Datierung vorgenommen. Die Nachschrift wurde von der Hand des Schreibers intensiv überarbeitet und mit zahlreichen Einfügungen, Marginalien, Streichungen, Korrekturen und Unterstreichungen versehen. Ab S. 319 sind solche Revisionsspuren jedoch nur noch vereinzelt zu erkennen. Die sperrige Schrift ist oft unsauber und weist viele spezifische Zeichen, Abkürzungen und Kontraktionen auf. Regelmäßig werden mehrere Wörter zusammengezogen, die Endungen sind oft verschliffen und eine Verdoppelung von Buchstaben weist auf Pluralbildung hin. Auch wenn all diese Aspekte die Entzifferung erschweren, ist der Text zuverlässig. Er dient der Leitschrift (a.) an erklärungsbedürftigen Stellen als Quelle für Varianten und Zusätze, die im Sachapparat kursiv erscheinen. Abkürzungen und Hervorhebungen werden nicht kenntlich gemacht. Bisherige Edition: keine Besonderheiten: Die Nachschrift wird von einer Ausarbeitung des Kollegs fortgesetzt, die von gleicher Hand verfasst und mit der Überschrift „Auszug aus der Psychologie.“ versehen ist. Der Ex163

Also findet sich die Bogenzählung 1 des Schreibers auf S. 1, 2 auf S. 9, 3 auf S. 17, 4 auf S. 25, 5 auf S. 33, 6 auf S. 41, 7 auf S. 49, 8 auf S. 57, 9 auf S. 65, 10 auf S. 73, 11 auf S. 81, 12 auf S. 89, 13 auf S. 97, 14 auf S. 105, 15 auf S. 113, 16 auf S. 121, 17 auf S. 129, 18 auf S. 137, 19 auf S. 145, 20 auf S. 153, 21 auf S. 161, 22 auf S. 169, 23 auf S. 177, 24 auf S. 185. Der Bogen mit der Nummer 25 ist auf S. 197 statt auf S 193 vermerkt, also beinhaltet er 12 statt 8 Seiten. Dann folgen wieder 8 Seiten pro Bogen: 26 auf S. 205, 27 auf S. 213, 28 auf S. 221, 29 auf S. 229, 30 auf S. 237, 31 auf S. 245, 32 auf S. 253, 33 auf S. 261, 34 auf S. 269. Dieser Bogen besteht nur aus 4 Seiten, denn der Eintrag 35 findet sich auf S. 273. Bogen-Nr. 36 ist wieder nach 8 Seiten vermerkt, auf S. 281, 37 auf S. 289, 38 auf S. 297, 39 auf S. 305, 40 auf S. 313, 41 auf S. 321, 42 auf S. 329, 43 auf S. 337, 44 auf S. 345, 45 auf S. 353, 46 auf S. 361, 47 auf S. 369, 48 auf S. 377, 49 auf S. 385, 50 auf S. 393, 51 auf S. 401, 52 auf S. 409, 53 auf S. 417, 54 auf S. 425, 55 auf S. 433, 56 auf S. 441, 57 auf S. 449, 58 auf S. 457, 59 auf S. 465, 60 auf S. 473, 61 auf S. 481, 62 auf S. 489, 63 auf S. 497, 64 auf S. 505, 65 auf S. 513.

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Einleitung der Bandherausgeberin

trakt umfasst 13 Seiten und wurde mit in dasselbe Heft gebunden. Während der Schreiber mit dem Auszug eine neue Bogennummerierung beginnt (I.), die er nach acht Seiten mit II. fortführt, wird die archivalische Nummerierung nach dem Ende der Vorlesungsnachschrift am Beginn des Auszugs mit 521 fortgesetzt. Die letzte Seite (533) ist halb beschrieben. Der Auszug enthält in aller Kürze teils in Sätzen (Einleitung), teils in Stichpunkten (Elementarischer und Beginn des Konstruktiven Teils) wesentliche Gedanken der Vorlesung. Diese werden durch eine Übersicht ergänzt, die einer Skizze mit hierarchischer Anordnung der Themengebiete gleicht.

2. Die Vorlesung im Sommersemester 1821 Es sind vier Nachschriften des Kollegs überliefert. Als Leittext dient die Nachschrift Eyssenhardt. a. Nachschrift Eyssenhardt Titel (Deckblatt): Seelenlehre | dem Vortrage des Herrn Professor Schleiermacher | von | A. Eyssenhardt. | Berlin im Sommerhalbjahre 1821. Autor: Friedrich August Eyssenhardt164 wurde am 17.12.1798 in Prädikow bei Wrietzen geboren. Er studierte ab 1818/19 in Berlin, wo er neben Schleiermachers Psychologie auch die Vorlesungen Schleiermachers zur Kirchengeschichte 1821/22, Christlichen Sittenlehre 1820 und Praktischen Theologie 1821/22 hörte.165 Danach hielt er sich längere Zeit in Paris auf. Ab 1829 arbeitete er als Lehrer an der Berliner städtischen Gewerbeschule. In Berlin wurde er auch am 27.8.1832 zum Prediger ordiniert und von Bischof Roß am 23.9.1832 als 4. Diakon an St. Nikolai eingeführt. Am 2.4.1834 findet sich eine Anzeige der Hochzeit Eyssenhardts (K. Preußischer Prediger an der St. Nicolai- und an der Klosterkirche in Berlin) mit Fräulein Clara von Benda in der 164

165

Matrikel: [9. Rektoratsjahr, 1818/19] 251: Eyssenhardt, August, Theodor, | Prädikow in der Mark | Theologie | Gutsbesitzer | – | relegirt 1822, jedoch die Releg. suspendirt, exmatr. 31.7.1822, Abg. Zeugnis 12.7.1823. Vgl. Bahl/Ribbe (2010), Bd. 1, S. 133 Vgl. KGA II/6, S. LI

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evangelischen Gemeinde.166 Er starb am 29.6.1879.167 Wie den Tageskalendereintragungen Schleiermachers zu entnehmen ist, unternahm Schleiermacher vom 23.4. bis 10.5.1832 eine Reise in die Lausitz, zu der ihn Georg Reimer (1776–1842) und Friedrich August Eyssenhardt begleiteten.168 Mehrmals taucht der Name Eyssenhardt in Schleiermachers Tageskalendern auf, so am 31. Mai 1830: „predigt Eyssenhardt für mich“ – Schleiermacher befand sich vom 30.5 bis zum 8.6. auf einer Reise, die ihn über Wittenberg nach Halle führte – oder am 22. Juni 1830: „Abends Eyssenhardt“.169 Auch 1833 vertrat Eyssenhardt neben anderen Schleiermacher im Hauptgottesdienst, während dieser sich in Skandinavien aufhielt.170 Archivort: Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Signatur Yc 8o 32 Inhalt: Die Nachschrift gibt den Inhalt aller 76 Stunden wieder. Beschreibung: Die Nachschrift besteht aus 97 Blättern (193 beschriebenen Seiten) im Format 22 cm mal 18,3 cm. Sie ist mit Fadenheftung ohne festen Einband gebunden. In der Mitte der Rückseite des Deckblattes befindet sich ein runder Stempel der Universitätsbibliothek Halle (Saale) und am unteren Seitenrand die handgeschriebene Akzessionsnummer 1928K2219. Knapp 14 cm jeder Seite sind beschrieben, an den Außenseiten gibt es einen etwa 4 cm breiten Rand. Der Schreiber hat eine eigene Paginierung vorgenommen, indem er, mit der ersten beschriebenen Seite beginnend, alle einzelnen Seiten durchnummerierte. Das Papier hat einen weißen Farbton, zeigt am Rand Spuren einer unebenen Durchtrennung der Bögen, ist aber in einem einwandfreien Zustand. Die zwischen schwarz und sepia variierende Tinte ist teilweise sehr schwach. Die letzte Seite (S. 193) ist zur Hälfte be166 167

168 169

170

Vgl. Regensburger Wochenblatt, Vier und zwanzigster Jahrgang, 1843, gedruckt bei Christoph Ernst Brend’s Wittwe, Regensburg 1834, S. 258 Vgl. Fischer, Otto: Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg, Bd. 2, Teil 1, S. 189, vgl. auch Lisco, Friedrich Gustav: Zur Kirchen-Geschichte Berlins. Ein geschichtlich-statistischer Beitrag, Berlin 1857, S. 12 Vgl. die Eintragungen im Tageskalender 1832 (Schleiermacher Nachlass Nr. 452, Archiv der BBAW), vgl. auch KGA III/13, S. XII Vgl. Tageskalender 1830. Im Tageskalender des Jahres 1831 erwähnt Schleiermacher Eyssenhardt ebenfalls in neun Einträgen: eine Predigtvertretung am 9.1. und acht gemeinsam verbrachte Abende am 12.1., 9.3., 5.10., 6.11., 9.11., 16.11., 28.12., 31.12. (Schleiermacher-Nachlass Nr. 451, Archiv der BBAW). Vgl. Reich, Andreas: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, Berlin 1992 (Schleiermacherarchiv Band 12), S. 142, vgl. auch KGA III/1, S. 59

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Einleitung der Bandherausgeberin

schrieben. Es handelt sich wohl um eine im Nachhinein angefertigte Reinschrift des Kollegs. Der Text ist fortlaufend ohne Angaben von Daten oder Stundenmarkierungen, mit wenigen Absätzen und mit nur zwei Zwischenüberschriften verfasst. Es finden sich keine Einfügungen oder Marginalien und kaum Streichungen oder Korrekturen. Einzelne Wörter oder Wortgruppen wurden zur Hervorhebung ihrer Bedeutung unterstrichen. Diese Hervorhebungen werden im vorliegenden Druck nicht mitgeteilt. Der Text ist recht knapp gehalten, teilt aber das Wichtigste der Vorlesung mit. Die Auswahl der Nachschrift als Leittext ergab sich in erster Linie durch ihre Vollständigkeit und Zuverlässigkeit gegenüber den drei anderen verfügbaren Texten, die größere Lücken aufweisen. Dennoch wird die Nachschrift Eyssenhardt an den Stellen, wo Ergänzungen oder Erklärungen für das umfassende Verständnis erforderlich sind, durch Varianten bzw. Zusätze aus den anderen Textzeugnissen desselben Kollegs (b., c., d.) ergänzt. Hilfreich waren die Angaben zur Nummerierung einzelner, wenn auch nicht aller Stunden, die sich in der Züricher Nachschrift (c.) befinden und durch sorgfältige Parallelsetzung der Texte auf die Nachschrift Eyssenhardt übertragen wurden.171 Eyssenhardt kürzte sehr viele Wörter ab. Außerdem verwendete er ein umfangreiches System persönlicher Zeichen: ₰ ƒ C b., B. .  1 t ƒ. ǥ, Ǥ G h. m̅ k., K. M. t ss. 171

auch, Auch auf, Aufaus, Ausbei, Bei der, die, das, Der, Die, Das durch, Durch ein, eine, einer, eines, Ein, Eine, Einer, Eines ent-, Entfür, Für gegen, GegenGott haben immer kann, können, kommen, kommt, kein, keine, keiner, keines, Kann, Können, Kommen, Kommt, Kein, Keine, Keiner, Keines Mensch mit, Mitmüssen, Müssen

In c., folglich auch in der Leitschrift, fehlen Nummerierungen zu den Stunden 7 bis 10, 12 bis 17 und 36 bis 39.

Editorischer Bericht ß 0 s. ʄ s br u͝ d C tr v. [₰ [t ⱳ., Ⱳ. z.

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muß, Muß nicht, Nicht sein, Sein selbe, selber, selbst, Selbstsich, Sich über, Überund, Und uns, Uns unter, Untervor, von, vom welche, welcher, welches, Welche, Welcher, Welches Welt wird, werden, würden, Wird, Werden, Würden Fragewörter mit w und W zu, zur, zum

Bisherige Edition: keine Besonderheiten: Leopold George teilte das Kolleg von 1821 in SW III/6 gar nicht mit. Die vorliegende Nachschrift stellt die erste Veröffentlichung eines Zeugnisses dieser Vorlesung dar. b. Göttinger Nachschrift Titel (S. 1): Schleiermachers Psychologie. Autor: Der Schreiber der Nachschrift ist unbekannt. Der Göttinger Jurist Ferdinand Frensdorff, in dessen Nachlass sie sich befindet, kann nicht der Verfasser gewesen sein, denn er lebte von 1833 bis 1931. Archivort: Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, Signatur Cod. Ms. F. Frensdorff 1:1 Inhalt: Der Text ist unvollständig; es fehlen die Stunden 34, 35, 60, 64, 66 und 71. Beschreibung: Die ungebundene Nachschrift besteht aus 87 Blättern (168 beschriebenen Seiten) in einer Größe von 19 cm mal 27 cm, von denen etwa 14 cm beschrieben sind und ein etwa 4 cm großer Außen- sowie ein Innenrand von einem cm bleiben. Bis Seite 37 sind die Seiten fortlaufend gezählt, danach nur noch jede rechte Seite foliiert, wobei leere Seiten ausgelassen werden. Der erste Bogen bildet die Seiten 1–32, ein fester Bogen reicht von Bl. 33– 45v, ein weiterer fester Bogen ergibt Bl. 46r–55v, danach folgen 8 Abschnitte mit ineinandergelegten Doppelblättern. Vor Bl. 68r

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Einleitung der Bandherausgeberin

ist ein einzelnes 10 cm breites Blatt von der gleichen Länge wie die Bögen eingelegt. Die Nummerierungen Bl. 65 und 66 sind nachträglich korrigiert. Es gibt acht teilweise beschriebene (Bl. 42v, 63v, die Rückseite des Zettels, 84r, 92v, 94r, 99v, 103v) und sechs leere Seiten (zwei Seiten nach Bl. 43v, 72r, 93r, 100r, 100v). Ein Absatz auf Bl. 86r ist gestrichen. Der Schreiber vermerkt weder eine Stundenzählung noch eine Datierung. Nur am Ende der Nachschrift ist die Mitteilung „Geschlossen d. 24ten August 1821 | Morgens 6 ¾ Uhr.“ zu lesen. Der Text ist gefällig geschrieben, weist jedoch Unsicherheiten auf, weil mehrere Kollegstunden in ihrer Anordnung vertauscht sind (die 36.–39. folgen nach der 45.), ohne dass dies kenntlich gemacht wäre. Der Schreiber verwendete einige Kürzel. Es finden sich wenige Einfügungen und Korrekturen und keine Marginalien. Der Nachschrift wurden einige Stellen ohne Nachweis von Abkürzungen oder Hervorhebungen als Varianten oder Zusätze für die Leitschrift entnommen. Im Nachlass Frensdorff befindet sich auch noch eine Nachschrift zur Pädagogik Schleiermachers aus dem Wintersemester 1820/21. Bisherige Edition: keine Besonderheiten: keine c. Züricher Nachschrift Titel (S. 1): Psychologie b. Schleierm. Autor: Der unbekannte Autor hat auch die Vorlesung Schleiermachers zur Kirchengeschichte im Wintersemester 1821/22 gehört.172 Archivort: Zürich, Zentralbibliothek, Signatur Ms W 170 Inhalt: In der unvollständigen Nachschrift fehlen die Stunden 29, 55, 59, 75 und 76. Beschreibung: Die im Titel undatierte Nachschrift (21 cm mal 26,5 cm), die zusammen mit einem Vorsatzblatt nachträglich in feste, braun melierte Pappe eingebunden wurde, besteht aus 112 Blättern (217 beschriebenen Seiten) in Lagen zu meist 16 Seiten. Der Schreiber hat alle Seiten, beginnend mit 1) auf der ersten bis 224) auf der letzten beschriebenen Seite durchpaginiert. Jeweils ein neuer Bogen ist regelmäßig auf den Seiten 1, 17, 33, 49, 65, 81, 97, 113, 129, 145, 161, 177, 193 sowie 209 mit dem Eintrag 172

Vgl. KGA II/6, S. LIII

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„Psychologie bei Schleiermacher“ oder nur „Psychologie“ markiert. Oberhalb der Mitte des Pappdeckels befindet sich ein runder Stempel mit der Aufschrift Stadtbibliothek Zürich. Auf dem Spiegel wurde mittig und mit Bleistift die Signatur Mscr. W 170 vermerkt. Das Papier hat einen beigen Farbton, wobei die Bögen farblich leicht voneinander abweichen, und die Tinte erscheint dunkelbraun bis schwarz. Die Nachschrift lässt sich anhand der Vergleichung mit den anderen Überlieferungen eindeutig der Vorlesung im Sommersemester 1821 zuordnen. Teilweise, aber nicht durchgängig, sind Angaben zur Stundennummerierung zu finden.173 Einmal, auf Seite 38, ist das Datum 11. May vermerkt, wo dem Tageskalender Schleiermachers zufolge die 11. Stunde stattfand.174 Die Datierung und die Zählungen konnten auf die Leitschrift des Kollegs (Nachschrift Eyssenhardt) übertragen werden, allerdings nicht ohne Unsicherheiten. Die Aufzeichnungen zu den Stunden 32 und 33 befinden sich nicht an Ort und Stelle, sondern wurden später ergänzt, kommentiert mit der Bemerkung: „Zwischenhinein gehört L. 32, die pag. 107 seqq. u. 33, die p. 104 seqq. kommt.“ (S. 101) Die Seiten 92, 104, 109 und 170, sind teilweise, die Seiten 93–94, 171–172 und 182–184 gänzlich unbeschrieben. Die spröde Schrift weist sehr viele Kürzel und Kontraktionen sowie Einfügungen, Korrekturen und Marginalien auf, ist aber gut lesbar. Einige Stellen der Nachschrift dienen als Variante oder Zusatz für die Leitschrift (a.), ohne dass Abkürzungen oder Hervorhebungen kenntlich gemacht werden. Obgleich der Inhalt der Vorträge sehr ausführlich wiedergegeben wird, treten immer wieder Verständnisschwierigkeiten des Verfassers zu Tage. Bisherige Edition: keine Besonderheiten: keine

173

174

Folgende Kollegs wurden vom Schreiber mit Ziffern gekennzeichnet: 23. (S. 74), Lectio 28. (S. 89), [die datierte, aber nicht ausgeführte] Lectio 29. (S. 92), Lectio 30. (S. 95), Lectio 31. (S. 97), Lectio 32 (S. 107), Lectio 33. (S. 104), Lectio 34 (S. 101), Lectio XXXV. (S. 110), Lectio XXXXIV. (S. 138), XXXXV. (S. 140), XXXXVI. (S. 144), XXXXVII. (S. 146), LI. (S. 159) LIV. (S. 167), [die datierte, aber verpasste Stunde] LV. (S. 170), LVI. (S. 173), LVII. (S. 175), LVIII. (S. 178), LX. (S. 185), LXI. (S. 187), LXII. (S. 189), LXIII. (S. 193), LXIV. (S. 195), LXV. (S. 198), LXVI. (S. 200), LXVII. (S. 203), LXVIII. (S. 206), LXIX. (S. 209), LXXI. (S. 215), LXXII. (S. 218), LXIII. (S. 220) und LXXIV. (S. 222). Oben S. XXXVIII

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d. Nachschrift Terborg Titel (S. 2): Seelenlehre | vorgetragen | von | Prof. Dr. Schleiermacher. | Sommersemester 1821. | 4.25____ | W. Sax van Terborg. Autor: Willem (auch Wilhelm) Sax van Terborg wurde am 26.6.1797 in Emden geboren. In Berlin studierte er ab 1814 zunächst Medizin.175 Im Wintersemester 1816/17 war er als Medizinstudent in Göttingen immatrikuliert. Zum Sommersemester 1818 ging er nach Berlin zurück, wo er neben Schleiermacher auch Hegel hörte,176 vom Wintersemester 1824/25 bis Ostern 1827 wieder nach Göttingen, um Jura zu studieren. Er war Mitglied verschiedener Landsmannschaften und Burschenschaften (Guestphalia, Teutonia oder Frisia), u. a. auch in Halle, wo er jedoch nicht immatrikuliert war. Am 17./18.10.1817 nahm er am Wartburgfest teil. Später war er Advokat und Senator in Emden und 1837 Mitglied der Hannoverschen Ständeversammlung. Er starb am 17.5.1852 in Emden.177 Archivort: Emden, Johannes Lasco-Bibliothek der Großen Kirche, Nachlass Willem Sax van Terborg, Signatur HS 2° 26 Inhalt: Die Nachschrift gibt den Inhalt bis zum Ende der 23. Stunde wieder, wobei dem Fragment vermutlich auch die 22. Stunde fehlt. Beschreibung: Insgesamt umfasst die Schrift 60 Seiten. Sie ist Teil eines Konvolutes, bestehend aus: Neuere Geschichte vorgetragen von Prof. Dr. v. Raumer – Sommersemester 1821; Seelenlehre vorgetragen von Prof. Dr. Schleiermacher. Sommersemester 1821. 4.25; Philosophie der Geschichte nach Hegel. Eingebunden ist das Konvolut in einem Pappeinband der Zeit mit einem roten Rückenschild, auf dem in Goldlettern „Miscellanea“ steht. Es gibt von diesen Bänden eine ganze Reihe aus dem Nachlass von Willem Sax van Terborgs. Der Einband misst 19,5 cm mal 28,3 cm, die Schrift etwa 12 cm und lässt einen entsprechenden 175 176

177

Matrikel: [5. Rektoratsjahr, 1814/15] 24: Sax, Wilhelm | Emden | Medizin | Kaufmann | – | (abg.). Vgl. Bahl/Ribbe (2010), Bd. 1, S. 52 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1820/21 und 1823, ed. N. Hebing, Bd. 28,1, Hamburg 2015, S. 3–214 Lönnecker, Harald: Peregrinatio Academica. Beispiele nordwestdeutscher Bildungsmigration nach Halle, Jena und Göttingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Koblenz 2009, S. 10. Vgl. auch Schneider, Helmut: Geist und Geschichte. Studien zur Philosophie Hegels, Frankfurt/M. 1998, S. 194

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beidseitigen Rand. Terborg hat keine Stundenzählung oder Datierung vorgenommen, wohl aber eine Paginierung. Die Seiten sind von 3 bis 60 von seiner Hand nummeriert, wobei die Einträge 15, 20, 27, 29, 32, 33, 34. 37, 40, 42, 45 und 54 fehlen. Die Einleitung ist von Seite 3 bis 21 mit einer entsprechenden Kopfzeile versehen. Die Seiten 21 und 55 sind halb beschrieben und die Seiten 56 bis 58 leer. Der Text gibt den Inhalt zuverlässig wieder, zeigt einige Spuren einer Überarbeitung in Form von Unterstreichungen oder Randbemerkungen. Es treten wenige Abkürzungen auf. Bisherige Edition: keine Besonderheiten: keine

3. Die Vorlesung im Sommersemester 1830 Drei Nachschriften des Kollegs sind verfügbar. Die Höreraufzeichnungen, die Leopold George für die Edition der Psychologie vorlagen, nämlich die der Studenten Erbkam und Schubring178 sowie seine eigene, gelten als verschollen. Als Leitschrift dient der Text Sickels. a. Nachschrift Sickel Titel (Vorsatzblatt): Psychologie | von | Fr. Schleiermacher. | Sommer 1830. Autor: Karl Friedrich Sickel179 (1811–1886) arbeitete nach seinem Studium als Lehrer in Schleußingen und als Professor an der Klo178

179

Hier handelt es sich sehr wahrscheinlich um Gustav Schubring, vgl. Historische Einführung, oben S. LX. Die Nachschrift von „Herrn Consistorialrath Professor Dr. Erbkam in Königsberg“ (SW III/6, S. X) stammt von Wilhelm Heinrich Erbkam, am 8. Juli 1810 in Glogau geboren. Seine Mutter war die Tochter des evangelischen Bischofs Friedrich Samuel Gottfried Sack. Erbkam studierte in Bonn und Berlin, besuchte das Wittenberger Predigerseminar, habilitierte sich 1838 in Berlin, lehrte zehn Jahre an der dortigen Universität und wurde 1847 zum außerordentlichen Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte an die Universität Königsberg berufen, wo er 1884 starb (vgl. Achelis, Ernst Christian: Erbkam, Wilhelm Heinrich, in: Allgemeine Deutsche Biographie Bd. 48, Leipzig 1904, S. 388–389). Zum Matrikeleintrag vgl. Historische Einführung, oben S. LVIII. Von Erbkam liegt auch eine Nachschrift zur Dialektik 1831 vor (vgl. KGA II/10, 1, S. LXIV). Matrikel: [20. Rektoratsjahr, 1829/30] 47: Sickel, Karl Friedrich | Athenstedt in d. Prov[inz] Sachsen | Philosophie | Prediger | Halle, II | rite abg. 22.3.1832. Vgl. Bahl/Ribbe (2010), Bd. 1, S. 446

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Einleitung der Bandherausgeberin

sterschule in Roßleben/Unstrut.180 Sein Nachlass, den die Kinder Sickels der Universitätsbibliothek Halle überließen, umfasst u. a. elf Bände mit eigenhändigen Kollegnachschriften aus den Jahren 1829–1831 zur klassischen Philologie, Geschichte des Altertums, Philosophie und Erdkunde nach Vorlesungen von August Boeckh, Johann Gottfried Gruber, Heinrich Ritter, Karl Ritter, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, August Seidler und Friedrich Wilken. Dass Sickel sich auch literaturwissenschaftlich betätigte, ist verschiedenen Veröffentlichungen der Klosterschule Roßleben zu entnehmen.181 Archivort: Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Signatur Yi 17i Inhalt: Die Nachschrift teilt bis zu ihrem Abbruch vollständig den Inhalt von vermutlich 74 der insgesamt 78 Vorlesungsstunden mit. Beschreibung: Die Nachschrift mit 131 Blättern (252 beschriebenen Seiten) im Format 29,4 cm mal 20,5 cm ist nachträglich in feste, grau-schwarze Pappe eingebunden. Auf dem Buchrücken befindet sich rot unterlegt der Titel: „Psychologie von Schleiermacher“ sowie auf einem aufgeklebten Etikett die Signatur Yi 17i. Auf der Innenseite des Buchdeckels ist ein handschriftlicher Eintrag zu lesen: Nachgeschrieben von Karl Sickel, später Gymn.-Prof. in Roßleben. Yi 17i. Die Rückseite des Vorsatzblattes trägt am unteren Rand mittig den runden Stempel der Universitätsbibliothek Halle (Saale) sowie den Bleistifteintrag der Akzessionsnummer 1929G9560. Auf der ersten beschriebenen Seite beginnt der Text nach einer viertel Leerseite mit: „Einleitung“. Sickel nummerierte von eigener Hand alle Seiten von 1 bis 252. Unter dem Ende der Nachschrift ist auf Seite 252 erneut der runde Stempel der Bibliothek zu finden. Es folgen acht leere Seiten. Die Innenseite 180

181

Vgl. folgenden Zeitschrifteneintrag: „Roßleben: Der bisherige Hülfslehrer Karl Sickel am Gymnasium in Schleusingen ist an des verstorbenen Dr. Hommel Stelle als zweiter Collaborator an der hiesigen Klosterschule benannt.“ Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik oder Kritische Bibliothek für das Schul- und Unterrichtswesen, edd. Seebode, G. / Jahn, J. Chr. / Klotz, R., 5. Jg., Bd. 14, Heft 1, Leipzig 1835 Vgl. Sickel, Karl Friedrich: Jahresbericht über die von der Familie von Wißleben gestiftete Klosterschule Roßleben, umfassend den Zeitraum von Ostern 1846 bis dahin 1847. Voran geht eine Abhandlung des Dr. K. F. Sickel: Über die homerischen Gleichnisse, Halle 1847, vgl. auch: Ders.: Questionum Homericarum. Part. I, in: Programm der von der Familie von Wißleben gestifteten Klosterschule Roßleben, Halle 1854

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des hinteren Pappeinbandes ist in der Mitte nochmals handschriftlich mit der Signatur versehen. In der Doppelseite 44/45 ist ein 10,4 cm mal 8,5 cm großer Zettel eingelegt, der zwei thematisch relevante Notizen von gleicher Hand enthält. Das Papier ist beige, makellos und weist an den Außenrändern bräunliche, unebene Trennungsspuren der Bögen auf. Sickel nahm keine Stundenzählung oder Datierung der Vorlesungen vor. Der Text ist wahrscheinlich eine Reinschrift des Kollegs und ist fortlaufend ohne größere Absätze, Einfügungen, Marginalien oder Korrekturen verfasst. In einer Kopfzeile sind auf den Seiten 84 („Rede und Gesang“), 85 („Weinen und Lachen“), 87, 88 und 89 (jeweils „Denken und Sprechen“) die verhandelten Themen vermerkt. Die vereinzelten Unterstreichungen werden im Druck nicht berücksichtigt. Die Seiten 100 und 200 tragen erneut einen etwas kleineren, runden Stempel der Bibliothek am unteren linken Rand. Die Nachschrift ist zuverlässig und ausführlich und kann darum gut als Leitschrift dienen, obwohl – gemessen am Umfang der Dokumentation des 1830er Kollegs in den Sämmtlichen Werken182 – vermutlich die letzten vier Stunden fehlen.183 Im vorliegenden Band wird sie da, wo etwas lückenhaft oder unverständlich ist, durch Varianten bzw. Zusätze ergänzt. Diese stammen entweder aus den beiden anderen bekannten, wenn auch fragmentarischen Nachschriften des Kollegs (b., c.) oder aber aus dem kompilierten Nachschriftentext, den George für den Abdruck in den Sämmtlichen Werken vorbereitet hat. Sickel verwendete neben zahlreichen Abkürzungen eine Menge von Chiffren: br ₰ u͝ f C ßer . d͝ h e. 12 ƒ = Θ k., K. ₥ M 182 183

aber, Aber auch, Auch auf, Aufaus, Ausaußer, Außerder, die, das, Der, Die, Das durch, Durchein, eine, einer, eines einander für, Fürgleich, GleichGott kein, keine, keiner, keines, Kein, Keine, Keiner, Keines man Mensch

SW III/6, S. 1–405 SW III/6, S. 397–405

LXXXVI t u͝ ß ₰ nˆ φ ǥ S s ʄ s. ü̲ b̲  r͝g, n͝ g, tg͝ u̲ v. [ [₰ z.

Einleitung der Bandherausgeberin mit, Mitmuß, Muß nach, Nachnicht, Nicht Philosophie Pluralbildung (Wörter, die auf -ung enden) Seele selbe, selber, selbst, Selbe, Selber, Selbst sich, Sich sie über, Überund, Und -rung, -nung, -tung unter, Untervon, vor, vom weil, Weil welche, welcher, welches, Welche, Welcher, Welches zu, zur, zum

Bisherige Edition: keine Besonderheiten: keine b. Berliner Nachschrift Ohne Titel und Datum Autor: unbekannt Archivort: Berlin, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Signatur SN 591/1 Inhalt: Die Berliner Nachschrift enthält die Einleitung der Vorlesung sowie eine beschriebene Seite nach der Überschrift „I. Theil“. Da der Text am Ende einer Seite und eines Bogens mitten im Satz abbricht ist zu vermuten, dass weitere Bögen verloren gegangen sind. Beschreibung: Die Nachschrift besteht aus 36 Blättern (72 Seiten) im Format 17 cm mal 21,5 cm. Die ersten acht Seiten, die vormals aus einem halben Bogen gefaltet und getrennt wurden, liegen lose ineinander. Es folgen vier weitere Bögen aus jeweils 16 Seiten, die mit Fadenheftung gebunden sind. Die Seiten neun bis 24, 25 bis 40, 41 bis 56 sowie 57 bis 72 entstanden durch Falten und Trennung jeweils eines großen Papierbogens. Das Papier hat einen beigen Farbton und ist in einem sehr guten Zustand. Die Tinte ist

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dunkelbraun mit feiner Feder aufgetragen. Der Text ist etwa 12 cm bis 13 cm, die Ränder jeweils etwa 3,5 cm bis 4,5 cm breit. Der Schreiber hat eine eigene Paginierung von Seite 1 bis 71 vorgenommen. Die Ziffer 72 auf der letzten Seite wurde später mit Bleistift archivalisch ergänzt. In der oberen linken Ecke der ersten Seite und am unteren Rand der letzten Seite befinden sich je ein roter, eckiger Stempelaufdruck mit dem Eintrag „Litteraturarchiv Berlin“. Die Nachschrift ist von einem dünnen grünen Blatt umlegt, versehen mit dem Stempelaufdruck „Nachlaß F. Schleiermacher“, der handschriftlichen Eintragung der Signatur sowie der Angabe „Enthält 36 Blatt 1 – 72“. Der Text ist fortlaufend, ohne Stundenzählungen oder Datierungen geschrieben, lässt sich jedoch zweifelsfrei der Vorlesung im Sommer 1830 zuordnen. Er ist ausführlich und zuverlässig, wurde geringfügig überarbeitet und mit einigen Einfügungen bzw. Korrekturen versehen. Der Schreiber verwendete fast keine Abkürzungen. Die Nachschrift dokumentiert den Vorlesungsverlauf sehr glaubhaft und gut lesbar. Wegen ihres Fragmentcharakters kann sie jedoch nicht als Leitschrift dienen. An vier Stellen dient sie der Ergänzung der Nachschrift Sickel im vorliegenden Druck. Bisherige Edition: keine Besonderheiten: keine c. Nachschrift Wichern Titel (Titelblatt): Psychologie | [später mit Bleistift ergänzt:] nach Schleiermacher, Sommersemester 1830 Autor: Johann Hinrich Wichern184 wurde am 21. April 1808 in Hamburg geboren und starb am 7. April 1881 ebenda. Nach dem frühen Tod des Vaters musste er sich als ältester Sohn um den Lebensunterhalt der Familie kümmern und begann, Nachhilfeunterricht zu erteilen und wurde Erzieher an einer privaten Internatsschule. Zusätzlich besuchte er das Akademische Gymnasium in Hamburg, um dort sein Abitur nachzuholen. Von 1828 bis 1832 studierte er Theologie in Berlin und Göttingen. Als Oberlehrer in Hamburg kam er mit Massenarmut und menschlichem 184

Matrikel: [20. Rektoratsjahr, 1829/30] 407: Wichern, Johann Heinrich | Hamburg | Theologie | Notarius | Göttingen | abg. l. eigener Ausz. v. 9.8.1831. Vgl. Bahl/Ribbe (2010), Bd. 1, S. 460

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Einleitung der Bandherausgeberin

Elend in Berührung und entschloss sich, ein „Rettungskrankenhaus“ in Hamburg zu errichten. Ins Jahr 1833 fiel die Gründung des „Rauhen Hauses“, eines so genannten Rettungshauses für gefährdete Jugendliche, die er nach den modernen pädagogischen Prinzipien seiner Zeit in familienähnlichen Kleingruppen zu erziehen suchte. Wicherns Konzept verband gesellschaftliche Sozialfürsorge mit einer Erneuerung des individuellen Glaubens. 1835 heiratete Wichern seine Mitarbeiterin Amanda Böhme. Aus der Ehe gingen acht Kinder hervor. 1839 folgte die Errichtung des „Brüderhauses“, einer sozialpädagogischen und religiösen Ausbildungsstätte für so genannte Diakone, Sozialarbeiter im kirchlichen Rahmen.185 Archivort: Hamburg, Das Raue Haus, Nachlass Wichern, Signatur X Dc 2 Inhalt: Die Fragment gebliebene Nachschrift Wichern umfasst die Vorlesungen der Einleitung und die ersten (vermutlich drei bis vier) Stunden des Elementarischen Teils sowie fragmentarisch und stichpunktartig Aufzeichnungen zu zwei weiteren Stunden (wahrscheinlich der sechsten und achten) des Elementarischen Teils. Aufgrund der Tatsache, dass weder George (1862) noch eine der erhaltenen Nachschriften der Vorlesung von 1830 eine Stundenzählung führten, sind keine genaueren Angaben möglich. Beschreibung: Die Nachschrift besteht aus 29 Blättern mit 54 beschriebenen Seiten in einer Größe von 19 cm mal 24 cm, wobei die Außenränder etwa 4 cm betragen. Die ungeheftete Nachschrift ist nicht paginiert. Sie besteht aus mehreren Bögen. Die erste beschriebene Seite ist stark vergilbt. In den ersten 48 Seiten, die in kleiner, aber gut lesbarer Schrift einen fortlaufenden Text präsentieren, sind viele kleinere und größere Spatien enthalten. Die zwei darauffolgenden Seiten sind leer. Danach folgen erneut zwei beschriebene, aber lückenhafte Seiten. Nach zwei weiteren Leerseiten endet das Fragment mit zwei Seiten mit kryptischen, teilweise zusammenhanglosen und unvollständigen, aber überarbeiteten Textpassagen. Wichern verwendete einige zeittypische Kürzel und wenige Kontraktionen. In vier Fällen verweist der vorliegende Druck in der Nachschrift Sickel auf Wichern, ohne Her185

Kaiser, Jochen-Christoph: Wichern, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 4, Bd. 8, 2005, Sp. 1511–1514; vgl. auch Schambach, Sigrid: Johann Hinrich Wichern, 4. Aulf., Hamburg 2008

Editorischer Bericht

LXXXIX

vorhebungen zu kennzeichnen. Während der Anfang eher den Charakter einer Reinschrift trägt, handelt es sich später um eine unbearbeitete Mitschrift. Bisherige Edition: keine Besonderheiten: keine

4. Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34 Von den drei überlieferten Zeugnissen des Kollegs dient die anonyme Berliner Nachschrift als Leittext. a. Berliner Nachschrift Titel (Bl. 1r): Schleiermacher | Psychologie Autor: unbekannt Archivort: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, SchleiermacherArchiv, Kasten 3, Mappe 20 Inhalt: Die Nachschrift dokumentiert alle 64 Stunden vom Beginn des Wintersemesters bis zur letzten Stunde vor Schleiermachers Tod sowie vermutlich eine weitere Stundenaufzeichnung der von Ludwig Jonas geleiteten Fortsetzung des Kollegs. Beschreibung: Der undatierte Text lässt sich durch den Vergleich mit dem Manuskriptheft Schleiermachers und den anderen Textzeugen desselben Kollegs eindeutig der Vorlesung aus dem Wintersemester 1833/34 zuordnen. Er besteht aus 68 Blättern (136 Seiten) in einer Größe von 29 mal 18,5 cm, wobei ein etwa 5cm breiter Außenrand gelassen wurde. Das Papier hat einen beige-bräunlichen Farbton, auf dem in schwarzer, teilweise schwacher Tinte geschrieben wurde. Die Nachschrift wurde archivalisch foliiert. Der Schreiber hat eine Nummerierung der Papierbögen vorgenommen, indem er jeden neuen Bogen mit einer römischen Ziffer versah. Aus einem Bogen entstanden durch Falten und Trennen immer vier Seiten.186 Bl. 21v ist nur zur Hälfte beschrieben und 186

Folgende Einträge sind vorhanden: Psychologie II auf Bl. 3r, Psychologie III auf Bl. 5r, Psychologie IV auf Bl. 7r, Psychologie V auf Bl. 9r, Psychologie VI auf Bl. 11r, Psychologie VII auf Bl. 13r, Psychologie VIII auf Bl. 15r, Psychologie IX auf Bl. 17r, Psychologie X auf Bl. 19r, Psychologie XI auf Bl. 21r, Psychologie XIB auf Bl. 22, Psychologie XII auf Bl. 25, Psychologie XIII auf Bl. 27r, Psychologie

XC

Einleitung der Bandherausgeberin

mit der Bemerkung „Es fehlt nichts“ versehen. Die Nachschrift weist einige Unterstreichungen auf, die im vorliegenden Druck nicht berücksichtigt werden. Einfügungen und Marginalien gibt es nicht, Korrekturen nur wenige. Die Vollständigkeit und Zuverlässigkeit der Nachschrift sprechen für die Auswahl als Leittext. Ist die Nachschrift erklärungs- oder ergänzungsbedürftig, wird sie durch Varianten bzw. Zusätze der anderen beiden Textzeugen derselben Vorlesung (b., c.) ergänzt. Ebenso wurde nach sorgfältiger Parallellesung der Texte auf Grundlage der Datierung der Vorlesungsstunden aus der Nachschrift Stern (c.) die Nummerierung der jeweiligen Stunde in die Leitschrift eingefügt. Auf Bl. 67v endet – durch einen langen waagerechten Strich markiert – die Mitteilung der Schleiermacherschen Vorträge. Die danach folgenden, unvollständigen Aufzeichnungen des Jonasschen Vortrages (Bl. 67v–Bl. 68v) werden nicht in die vorliegende Ausgabe aufgenommen. Der Text ist in kleiner, sauberer Schrift verfasst und weist sehr viele spezifische Abkürzungen und Kontraktionen auf. Abgesehen davon, dass ein großer Teil aller Wörter stark abgekürzt wurden, so, dass diese gerade noch verständlich sind, verwendete der Schreiber durchgehend Kurzformen für häufig gebrauchte Vokabeln: . e. r C k. n̅ . s. u͝ . v.

der, die, das ein, eine, einer, eines er es kein, keine, keiner, keines nicht selbe, selbst, selber, selbes, sich und von, vom, vor

Bisherige Edition: keine XIV auf Bl. 29r, Psychologie XV auf Bl. 31r, Psychologie XVI auf Bl. 33r, Psychologie XVII auf Bl. 35r, Psychologie XVIII auf Bl. 37r, Psychologie XIX auf Bl. 39r, Psychologie XX auf Bl. 41r, Psychologie XXI auf Bl. 43r, Psychologie XXII auf Bl. 45r, Psychologie XXIII auf Bl. 47r, Psychologie XXIV auf Bl. 49r, Psychologie XXV auf Bl. 51r, Psychologie XXVI auf Bl. 53r, Psychologie XXVII auf Bl. 55r, Psychologie XXVIII auf Bl. 57r, Psychologie XXIX auf Bl. 59r, Psychologie XXX auf Bl. 61r, Psychologie XXXI auf Bl. 63r, Psychologie XXXII auf Bl. 65r.

Editorischer Bericht

XCI

Besonderheiten: Auf dem Inventarblatt187 der Sammlung von Handschriften zur Psychologie in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin ist eingetragen, dass es neben der Nachschrift eines Hörers der Vorlesung von 1833/34 noch ein „Bruchstück“ gibt, das die „anscheinend wörtliche Abschrift des Anfangs“ von jener ist, aber „abgesehen von guter Lesbarkeit“ „wertlos“ sei. In derselben archivalischen Eintragung wird die Vermutung geäußert, dass die vorliegende anonyme Berliner Nachschrift 1833/34 „vielleicht die Psychologie S. X erwähnte“ sei, die also bereits George vorlag und ihm bei der Entzifferung des Schleiermacherschen Heftes geholfen habe.188 b. Nachschrift Iffland Titel (Titelblatt): Philosophische Seelenlehre. | nach | Schleiermacher. | C. T. Iffland. | Berlin | den 22ten Oct. 1833. | bis zum 6. Febr. 1834. Autor: Von Carl Theodor Iffland189 konnte nur ein Eintrag vom 2. Januar 1838 gefunden werden: „Im Laufe des 4ten Quartals v. J. sind von uns nachfolgende Kandidaten des Predigtamts […] 5) Carl Theodor Iffland aus Gardelegen] pro ministerio geprüft und mit Wahlfähigkeitsattesten versehen worden“190. Archivort: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Signatur MS germ oct 720 Inhalt: Die Nachschrift enthält alle 64 Stunden von Schleiermachers Vortrag. Beschreibung: Die aus 88 Blättern mit 173 beschriebenen Seiten bestehende Nachschrift ist nachträglich in feste schwarz melierte Pappe gebunden und mit einem aus anderem Papier bestehenden Vorsatzblatt versehen worden. Auf dem roten Buchrückenschild befindet sich im oberen Drittel der Eintrag „Psychologie nach Schleiermacher“ sowie auf einem weiteren am unteren Rand des 187 188 189

190

Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 3, Mappe 20 Vgl. SW III/6, S. X Matrikel: [20. Rektoratsjahr, 1829/30] 714: Iffland, Carl Theod[or] | Gardelegen in Altmark | Theologie | Prediger | I | rite abg. d. 27.3.1834. Vgl. Bahl/Ribbe (2010), Bd. 1, S. 471 Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Magdeburg. Jahrgang 1838, Magdeburg 1838, S. 19

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Einleitung der Bandherausgeberin

Buchrückens die Signatur Ms. Germ Oct. 720. Der Einband hat eine Größe von 21,7 cm mal 18 cm. Auf dem Spiegelblatt ist mit Bleistift erneut die Signatur eingetragen. Das Vorsatzblatt trägt in der oberen rechten Ecke die Beschriftung acc. ms. 1936. 102. Das Titelblatt des Heftes wurde mit Bleistift am oberen Rand ebenfalls mit dem Akzessionsvermerk Acc. ms. 1936. 102 sowie vor dem Namen Ifflands mit einem eckigen Stempel der Staatsbibliothek Berlin versehen, der auch auf den Seiten 71 und 99 wiederkehrt. Iffland nahm weder eine Datierung noch eine Stundenzählung vor. Alle Seiten wurden von seiner Hand durchpaginiert, beginnend mit 1 auf der ersten beschriebenen Seite bis 172 auf der letzten. Die saubere Reinschrift des Kollegs enthält einige Unterstreichungen, teilweise doppelt, aber keine Marginalien oder Einfügungen und kaum Korrekturen. Iffland benutzte viele Kürzel und Kontraktionen und ist gut lesbar. Die Nachschrift dient an ergänzungsbedürftigen Stellen der Leitschrift (a.) als Quelle für Varianten und Zusätze. Hervorhebungen und Abkürzungen werden dabei im vorliegenden Band nicht gekennzeichnet. Bisherige Edition: keine Besonderheiten: keine c. Nachschrift Stern Titel (Bl. 1): Schleiermacher | Psychologie. | Wintersemester 1833,34 Autor: Sigismund Stern191 wurde im Juli 1812 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in der preußischen Kleinstadt Karge, heute Kargowa, geboren. Nach dem Abitur in Berlin studierte er Philosophie und Pädagogik an der Universität Berlin. Seine Lehrer waren u. a. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Schleiermacher. Im Herbst 1834 wurde Stern mit einer sprachphilosophischen Arbeit promoviert. Nach Abschluss des Studiums begann er 1835 als Lehrer an der „Höheren Schul- und Pensionsanstalt für Knaben“ in Berlin zu arbeiten. Sigismund Stern war ein Verfechter und Begründer des liberalen Judentums. Durch seine Vorlesungen über Aufgabe, Geschichte und Religion des Judentums erzielte er eine Breitenwirkung in Berlin und darüber hinaus. 1852 veröffentlichte er eine Samm191

Matrikel: [21. Rektoratsjahr, 1830/31] 367: Stern, Sigismund | Karge, Gr[oß]h[erzogthum] Posen | Philosophie | Kaufmann | I | rite abg. 23.6.1834. Vgl. Bahl/ Ribbe (2010), Bd. 1, S. 501

Editorischer Bericht

XCIII

lung zahlreicher Biographien sowie Essays. 1855 wurde er Direktor des Philanthropin, der Realschule der israelitischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Hier entfaltete er eine intensive pädagogische und schriftstellerische Tätigkeit. Sein Konzept einer pädagogischen Schulreform stellte er 1855–1867 in den „Programmheften“ der Anstalt der Öffentlichkeit vor. In zahlreichen Reden warb er für seine liberale Auffassung des Judentums. Er war seit Februar 1836 mit Ida Fürstenberg aus Berlin verheiratet. Aus der Ehe sind ein Sohn und sechs Töchter, darunter die Tochter Rosa Stern, die spätere Mutter des Psychologen William Stern, hervorgegangen. Sigismund Stern starb im Alter von 55 Jahren in Frankfurt am Main.192 Neben der Psychologie Schleiermachers hat er auch dessen Kolleg zur Lehre vom Staat im Sommersemester 1833 gehört.193 Archivort: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Signatur NL 304, Stern, Mp. 7 Inhalt: Die Nachschrift beinhaltet von den insgesamt 64 von Schleiermacher vorgetragenen Stunden 57. Es fehlen Aufzeichnungen zu den Kollegs 26, 42, 50, 55, 58, 59 und 60. Außerdem gibt Stern noch Hinweise zu acht weiteren Stunden, die Ludwig Jonas nach Schleiermachers Tod gehalten hat. Beschreibung: Die Handschrift enthält 86 Blätter (158 beschriebene Seiten) in einer Größe von 14 cm mal 17 cm und wurde nachträglich mit Bleistift in der oberen rechten Ecke foliiert. Sie besteht aus Lagen zu acht Seiten. Jeweils ein neuer Bogen wurde von Stern auf Bl. 5r, 9r, 13r, 17r, 21r, 25r, 29r, 33r, 37r, 41r, 45r, 49r, 53r, 57r, 61r, 65r und 69r mit dem Eintrag „Schleiermacher Psychologie“ sowie nach dem 6. Februar 1834, der letzten Stunde vor dessen Tod, auf Bl. 71r, 75r, 79r und 83r mit „Psychologie nach Schleiermacher“ und „fortgeführt von Jonas“ oder nur „Jonas“ versehen. Die Vorderseite des gräulichen Papiers ist leicht vergilbt, die Tinte ist schwarz. Stern hat alle Stunden außer der 22. und 36., meist auch die fehlenden, datiert. Alle Kollegs lassen sich mit den Eintragungen in Schleiermachers Tageskalender in Übereinstimmung bringen und zumeist sicher auf die undatierte Leitschrift übertragen. Für die Fehlstunden wurde Platz gelassen, weshalb Bl. 28v, 29r, 47v, 57r, 61r, 63v, 64r, 64v, 70r, 70v, 78r, 78v, 79r, 86v leer sind und auf Bl. 14r, 24r, 28r, 39r, 44v, 47r, 192 193

Brüll, Adolf: Stern, Sigismund, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 36, Leipzig 1893, S. 109–110 Vgl. KGA II/8, S. LXII

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Einleitung der Bandherausgeberin

54r, 56v, 60r, 63r, 69v, 84v und 86r einige Zeilen der Seite unbeschrieben blieben. Öfter fehlen auch die Anfänge einer Stunde. Im Schriftbild finden sich wenige Marginalien, Unterstreichungen und Randmarkierungen. Die Entzifferung der eher spröden Handschrift wird dadurch erschwert, dass oft Buchstaben fehlen und Wörter zusammengezogen sind. Bisherige Edition: keine Besonderheiten: Ludwig Jonas, der 1830 das Psychologiekolleg Schleiermachers gehört hatte, führte im Wintersemester 1833/34 die Vorlesung nach dessen Tod fort. Die Nachschrift Stern dokumentiert acht Stunden über den Tod Schleiermachers hinaus: am 3., 4., 6., 7., 10., 13, 14. und 17. März 1934. Während von sieben dieser Vorlesungen recht ausführliche Aufzeichnungen existieren, hat Stern die vom 10. März zwar datiert, aber nicht mitgeschrieben. *** Die Anfänge der editorischen Arbeit am vorliegenden Band reichen bis kurz vor die Jahrtausendwende zurück. Damals vereinbarte Michael Winkler mit dem Herausgeberkreis der KGA nicht nur, die Edition des Bandes II/12 (Vorlesungen über die Pädagogik) vorzubereiten, sondern ebenso die Vorlesungen über die Psychologie herauszugeben. Als Mitarbeiterin seines Lehrstuhls gehörte ich von Beginn an zur Schleiermacher-Arbeitsgruppe und konzentrierte mich vor allem auf die Sichtung und Übertragung der Handschriften. Nach den Geburten dreier Kinder und einer damit verbundenen zehnjährigen Elternzeit konnte ich 2011 die Arbeit an der Psychologie an der Stelle fortführen, wo ich 2001 aufgehört hatte. Herr Winkler unterstützte mit aller Kraft meine Rückkehr und die Fortsetzung des Projekts. Mit einem Antrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, den seinerzeit auch Hermann Fischer ausdrücklich befürwortete, und dessen Bewilligung, konnten beide Bände erneut in Angriff genommen werden. Jens Beljan übernahm die Erarbeitung des Sachapparates. Günter Meckenstock begleitete mit vielen wertvollen Anregungen und Hilfestellungen geduldig die Endphase der Entstehung des Bandes. Walter Jaeschke stellte erste Rohtranskription von vier Nachschriften zur Verfügung. Die Prüfung der griechischen Ausdrücke übernahm Henning Kläfker. Die Mitarbeiter der Schleiermacherforschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, beson-

Editorischer Bericht

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ders Wolfgang Virmond, Simon Gerber und Sarah Schmidt, sowie Ralph Brucker von der Kieler Forschungsstelle halfen mehrfach gerne bei Entzifferungsproblemen. Frau Pröpstin Uta Grohs (Hamburg) stellte eine in ihrem Besitz befindliche Nachschrift zur Verfügung. Allen genannten Personen gilt mein herzlichster Dank, ebenso wie den Archiven und Bibliotheken, die der Veröffentlichung der Textquellen dieses Bandes zugestimmt haben. Jena, im Februar 2018

Dorothea Meier

Erster Teil Manuskripte Schleiermachers

Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

Gedanken und Aufzeichnungen zur dritten Stunde der Vorlesung im Sommer 1818. Manuskript Schleiermachers, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 5, Bl. 7r

Zur Psychologie

1r

angefangen d. 16.ten April 1818. |

[Gedanken und Vorlesung zur Psychologie 1818] 5

10

[1] Die Uebereinstimmung des Idealen und Realen hat vielleicht eine geschichtliche Bedeutung; Die Gattungen sind geworden indem die Vernunft ward[.] Sie hat eine psychologische; Wir dürfen das erscheinende Bewußtsein nicht allein abhängig machen von der äußeren Veranlassung.

[Marg. 1] Leibliches Leben und Seelenleben (Heinroth) ist auch schon ein verdächtiger Unterschied denn das Leben ist nur eines[.]

[Marg. 2] Ueber den verschiedenen Gebrauch der Wörter.

[Marg. 3] Gefühl ist wol Totalität[,] Affection und Empfindung partieller[.]

15

[2] Die Temperamente sind sehr gut aus Steffens zu nehmen und mit meiner Ansicht zu verbinden.

9 Vgl. Heinroth, Johann Christian August: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung, Bd. 1–2, Leipzig 1818, hier Bd. 1, insbesondere S. 3–43 14–15 Vgl. Steffens, Henrik: Ueber die Geburt der Psyche ihre Verfinsterung und ihre Heilung, in: Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege, Bd. 2, edd. J. Chr. Reil / J. Chr. Hoffbauer, Wien 1816, S. 249– 324, insbesondere S. 289–290

2r

6

Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

[3] Kein Sinneneindruk bleibt sondern er wird Verstandesthat oder Gefühl.

[Marg. 4] Deutsche Wort Seelenlehre dessen Analyse bildet die Prolegomena. Seele als bekant, was für eine Lehre. Sonst rationelle und empirische[,] leztere Anekdoten von der Seele. Ersteres könnte nur Ichlehre sein sofern das Ichsagen allem Beobachtungsstoffe vorangeht. Andere Verschiedenheit nach Verhältniß zu den Wissenschaften. – Wird bei Logik Physik und Ethik vorausgesezt[.] 2. Vereinte Anthropologie [

5

10

]

[4] Wenn man das sanguinische als Genuß erklärt, so muß man die Veränderlichkeit aus dem Genuß folgern. Und freilich ist sie nicht ursprünglich da die Melancholischen auch veränderlich sind. Wenn Phlegma aber als Mitte zwischen Genuß und Sehnsucht angesehn wird, so muß Cholerisch auch so erscheinen nur auf entgegengesezte Weise.

15

[5] Die innerste Eigenthümlichkeit ist undenkbar. Sie ist auch unabbildbar außer in einzelnen Momenten, weil ihr Abbild in dem unendlichen der Natur liegen müßte.

2v

[6] In wiefern kann man mit Steffens sagen | der Unterschied zwischen Gutem und Bösem sei nicht das höchste? Er ist nicht das höchste in der einzelnen That, er ist auch nicht das höchste in der Totalität des Daseins; er ist das immer entstehende und immer verschwindende, aber das Band zwischen allen einzelnen Thaten, die Reflexion, das secundäre Bewußtsein.

1 wird] folgt )Gestalt*

7 Verschiedenheit] Ver korr. aus Ent

20–21 Vgl. Steffens (1816): „Der Unterschied von Gut und Böse ist keineswegs das Höchste; die reinste Naturgestalt hebt diesen Unterschied in der Anschauung der Unschuld auf, und der Fall trat, der alten Sage nach, erst mit jener Unheilbringenden Unterscheidung ein.“ (S. 316)

20

25

Gedanken zur Psychologie

7

[7] Wie verhalten sich Wille und Talent? Ist nicht Talent die vegetative Seite des Willens und Wollen die animalische Seite des Talents?

[8] So gewiß ein volksthümliches Temperament so gewiß giebt es auch einen volksthümlichen Willen und volksthümliches Talent[.]

5

10

15

[9] Die Psychologie in ihrer unendlichen Ausdehnung kann Physik Ethik und Dialektik verschlingen[.]

[10] Wer weiß ob nicht die Differenz des Geschlechts in der planetarischen Dignität der Erde wurzelt[?] Das weibliche repräsentirt die Erde selbst in ihrem abhängigen empfangenden Verhältniß zur Sonne. Das männliche repräsentirt die Erde selbst in ihrer Selbständigkeit die aber nur entstehn kann indem eben dieses Verhältniß ins Innere aufgenommen d. h. begriffen[,] erkannt wird. Die Pflanzen die im Schoß der Erde ohne unmittelbare Beziehung auf dieses Verhältniß geboren werden sind geschlechtslos aber auf eine untergeordnete Weise.

[11] Die Psychologie ist auf der einen Seite nur Bruch (nämlich Theil der Anthropologie) auf der anderen Unendliches (nämlich Theorie der Pflanzen Thiere Menschen Erde und Weltseelen[).] [

20

]

[12] Die höchsten Aeußerungen der Seele sind auch die höchsten Bestrebungen der Erde die Abhängigkeit ihres Daseins aufzuheben und alles Andere in sich hineinzuziehn um dadurch sich allem Andern gleichzusezen. – Hieraus ließe sich allerdings folgern daß in der Sonne 15–17 Die ... Weltseelen[).]] Textpassage durch drei fast senkrechte Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 19 die] über )ihre* 15–16 Vgl. 2. Stunde, Bl. 6v (unten S. 16): „Die Psychologie ist also auf der einen Seite ein Bruch (nicht ein organischer Theil) der Anthropologie,“

3r

8

Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

kein Erkennen zu sein brauchte relativ der Erde sondern nur der höheren Körper[.]

[13] Die Individualitäten müßten einen kosmischen Cyclus bilden denn sie sind das Gesammtvermögen der Erde. Ihr Erkennen rein physisch geht uns aber ab. Analogie dafür die Thiergattungen. Durch die physiognomischen Tendenzen.

5

[14] Das Nacheinander in der Seele und das Zugleich in ihr. Ueber die untergeordnete Ursache eines durch das andre zu bestimmen[.] Alles ist immer gleichzeitig zu sezen[,] nur zurüktretend[.]

[15] Ueber die Aufmerksamkeit als das selbstbestimmende Band der Receptivität.

10

[16] Die Ethnographischen Bestimmungen der Seele sind nicht von der Beschaffenheit der Länder abhängig.

[17] Ueber die Erregung als das außen bestimmende Band der Spontaneität.

15

[18] Sezt man einmal die Seele so ist in gewisser Hinsicht der Leib mit der Seele zusamen der Welt entgegengesezt, in anderer der Leib mit der Welt zusammen der Seele entgegengesezt. Der Leib ist also Organ der Welt auf die Seele und Organ der Seele auf die Welt.

[19] Die Kunst als Eintritt einer eigenthümlichen Welt in die gemeinsame erscheint natürlich als Wahnsinn. – Man kann aus diesem | 16–19 Sezt ... Welt.] Textpassage durch vier fast senkrechte Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk

20

Gedanken zur Psychologie

9

Gesichtspunkt den Wahnsinn eintheilen in epischen und lyrischen. – Blödsinn ist eine mitgeborene Seelenschwäche? – Was ist eigentlich das ϑηριῶδες des Aristoteles?

5

[20] Materie ist nur die Abstraction alles realen Geist eben so alles idealen[.] Dem Materialismus der Seele steht gegenüber der Spiritualismus des Leibes.

[21] Die materielen und die geistigen Thätigkeiten bilden im Leben eine Reihe von wechselndem Maximum und minimum[.]

10

[22] Wie Ethik und Physik die Psychologie voraus sezen müssen, und wie sie von ihr abstrahiren können.

15

[23] Immaterialität Freiheit und Unsterblichkeit können wir der Seele gar nicht zuschreiben[.] Denn wir sehn sie nur mit dem materiellen Leibe zugleich werden; wir sehen sie nur im Zustande der Wechselwirkung, und wir sehn sie mit dem materiellen Leibe zugleich verschwinden[,] überall aber uns durch ihn wirken.

20

[24] Weiter hinaus können wir die Entstehung der Seele auch an die Weltbildung anknüpfen. Der Erdgeist als Formtrieb und rotirende Bewegung; der Erdgeist als organisches Princip, der Erdgeist als intellectuelles Princip. Fortgeseztes erhöhtes Spalten des Lebens nach beiden Seiten hin.

3 ϑηριῶδες] ϑηριωδες 4 alles] folgt )materiellen* 9–10 Wie ... können.] Textpassage durch sechs leicht schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 2–3 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1145a, 1148b–1150a; Opera 2,48–49, 52– 53; Ethica Nicomachea recognovit brevique adnotatione critica instruxit, ed. I. Bywater, Oxford 1988, S. 129, 138–142

3v

10

Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

[25] Betrachtung eines vollständigen Moments[.] Alles nothwendig zugleich sonst wäre kein Uebergang von einem zum Anderen.

4r

[26] Allerdings giebt es ein Fortschreiten vom Naturinstinkt zum Willen vom animalischen | Lebensgefühl bis zum sittlichen Mitgefühl, von der verworrenen Wahrnehmung bis zur speculativen Weltanschauung; aber nur nicht Eschenmaiers 15.

5

[27] Höchst wunderlich hat Erschenmaier den Glauben auf die Willensseite gestellt und das Schauen auf die Gefühlsseite[.]

[28] Erforschung der Seele bis zum Sohn Gottes und zum heiligen Geist auf der einen und bis zum Wahnsinn auf der andern Seite.

10

[29] Wie besteht das zusammen daß Kant sagt Es gebe zwar eine Vielheit des physischen Charakters aber nur Einen sittlichen und doch hernach, das Nachahmen sei ohne sittlichen Charakter, denn dieser bestehe eben in der Originalität der Denkungsart.

[30] Das Aneinanderhängen der Seelen als Wahlanziehung nach Plato.

3–6 Vgl. Eschenmayer (1817), Paragraph 15, S. 27–28 7–8 Vgl. Eschenmayer (1817), insbesondere S. 34 11–14 Vgl. Kant (1798): „In pragmatischer Rücksicht bedient sich die allgemeine, n a t ü rl i c h e (nicht bürgerliche) Zeichenlehre (semiotica universalis) des Worts C h a ra c t e r in zwiefacher Bedeutung, da man theils sagt: ein gewisser Mensch hat d i e se n oder jenen (physischen) Character: theils er hat überhaupt e i n e n Character (einen moralischen), der nur ein einziger, oder gar keiner seyn kann.“ (S. 255; Ak 7,285); sowie Kant (1798): „Der N a c h a h m e r (im Sittlichen) ist ohne Character: denn dieser besteht eben in der Originalität der Denkungsart.“ (S. 268; Ak 7,293) 15 Vgl. Platon: Phaidros 252c–253c, 255d; KGA IV/3, S. 445–448

15

Gedanken zur Psychologie

11

[31] Die Abstufung der Intension vom stumpfen Zustande bis zur höchsten Seligkeit, philosophische religiöse gesellige künstlerische.

5

[32] Die Abstufung von der Regelmäßigkeit bis zur Verwirrung, Blödsinn Wahnsinn Wuth. Auch alles relativ. Das Genie kann alles für Blödsinn halten, die Passivität alles für Wahnsinn, die mechanische Regelmäßigkeit alles für Wuth. – Eben daher giebt es überall Momente von allem[.]

10

[33] Geräusch und Ton sind wol verschieden wie derb und krystallisirt. Es gefällt mir aber nicht mit Eschenmaier auch die qualitativen Tonverschiedenheiten auf Zahlen allein zu reduciren, vielmehr möchte ich auch die andern davon befreien. [

15

20

]

[34] Giebt es einen Gemeinsinn welcher etwas anderes wäre als der innere Sinn? so daß die Operationen jedes einzelnen Sinns eine Fraction von jenen wären? Das will mir noch nicht einleuchten.

[35] Man muß darauf denken die Sinne als ein System darzustellen: Alle Operationen müssen darin eingebildet sein. Die Lichtthätigkeit ins Auge, die Luftthätigkeit ins Ohr; der chemische Prozeß in den Geschmack, die Elektricität in den Geruch, der Magnetismus in den Tastsinn. – Die Elektricität ist mir noch am wenigsten klar aber durch die Grenzen des Sinnes ist die Sache vielleicht noch klarer zu machen.

1 Abstufung] korr. aus Q R 10–11 Vgl. Eschenmayer (1817), S. 50–59

4v

12

Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

[36] Von den Alten aus fällt alle plastische Kraft in das Gebiet der Seele. Die krystallisirende aber geht auf die Weltkörper zurük. Die ganze Erde scheint nichts anderes zu sein als die Entwiklung des Erdgeistes. – Dann ergreift uns wieder die höhere Natur der vernünftigen Kräfte; diese Betrachtung verbindet sich mit der der Unselbständigkeit der Erde.

5

[37] Wenn man von dem Gegensaz von Materie und Form ausgeht und zur Einheit des Seins beides verlangt so kann man nicht sagen die Seele sei die Form unsres Daseins und der Leib die Materie[.]

[38] Man kann nicht sagen (Weiß S. 18) daß die Seele sich nicht selbst errege. Denn wenn man die psychischen Erscheinungen QvorstelltR müßte man dann zu jedem Moment eine äußere Erregung annehmen und dann würde alle Selbstthätigkeit der Seele vernichtet.

5r

[39] Weiß (S. 18) leugnet jedes wirkliche Zugleichsein im Zeitleben der Seele. Allein dies widerlegt das unmittelbare Selbstbewußtsein welches jeden Moment zerlegt in ein mannigfaltiges[.] Beispiel: Man wird sich hintennach sinnlicher Wahr|nehmungen bewußt die man während eines Zustandes geistiger Thätigkeit gehabt. Was hieße auch Aufmerksamkeit und Abstraction wenn es kein Zugleichsein gäbe? Woher entstünde das Gefühl der Differenz? Wenn zwei differente Töne in noch so kurzen Zwischenräumen auf einander folgen wie beim Trillern hat man es nicht.

21 folgen] folgt )hat* 10–11 Vgl. Weiß (1811): „Indem wir jetzt außer der geistigen Kraft und ihrer Erscheinung noch der erregenden Außenwelt als eines Dritten gedenken, ohne welches die Genesis der innern Thatsachen nie befriedigend aufgestellt werden könne, so bezeichnen wir nur den Anfangspunkt und die Grenze der Psychologie. Eben darum aber hat auch der Begriff einer Erregung von außen, oder eines dabei als Ursache erscheinenden Objects, für die Psychologie nur negative Bedeutung, nämlich daß die Seele sich nicht selbst errege.“ (S. 17–18) 14–15 Vgl. Weiß (1811): „Ein Daseyn, welches nur die Zeit erfüllet, ist einfach und schließt jedes wirkliche Zugleichseyn in ihm mit strenger Nothwendigkeit aus.“ (S. 18)

10

15

20

Gedanken zur Psychologie

13

[40] Sehr wunderlich scheint mir daß Weiß (S. 32) seinen Gegensaz von Trieb und Sinn auf den ganz unverständlichen von Richtung und Bildung gründet.

5

[41] Sinn und Trieb sind auf die Totalität gerichtet[.] Die Totalität ist also auch jeden Augenblik in ihnen nur auf andere Art.

[42] Den Grund der Differenz der einzelnen Seelen sieht Weiß (S. 45) ganz außer der Seele theils im Körper theils in der übrigen Welt[.]

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[43] Eben so wunderlich als Weiß quantitativ und qualitativ braucht, braucht er auch Individualität und Universalität, jenes als das Niedere womit man in der Kindheit anfängt.

[44] Gedächtniß und Erinnerungskraft unterscheidet mir Eschenmaier auch wunderlich. Erinerungskraft und reproductive Einbildungskraft scheint mir völlig einerlei zu sein; und das Gedächtniß sich zu theilen in das Auffassungsvermögen und in das Hervorrufen[.]

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[45] Aufmerksamkeit und Abstraction kann man wol nicht von einander trennen[.]

1–3 Vgl. Weiß (1811): „Die Elemente aller geistigen Thätigkeit sind zwei: zuerst ein Analogon dessen, was in dem Raume Expansivkraft genannt wird, oder ein Princip der Richtung im Geiste; sodann ein Analogon der Attractivkraft in der Natur, oder ein Princip der inneren Bildung. Wir wollen das erstere Element der Kürze halber den Trieb, das zweite den Sinn nennen.“ (S. 32) 6–7 Vgl. Weiß (1811): „Denken wir uns die Elemente in Concreto, d. h. in wirklicher erster Activität, denken wir uns den ersten Augenblick des wirklichen Zeitlebens und Handelns; so erfolgt diese erste Thätigkeit der Seele unter den Bedingungen des Organismus und seiner Umgebung. Da aber hier alles in jedem Punkte anders ist, so kann auch, was geschieht, in keinem auf dieselbe Weise, (wenn schon nach denselben allgemeinen Gesetzen,) geschehen; mithin würden die Anlagen, wenn man sie ja noch (fälschlich) so nennen wollte, hier durchaus ungleich sein.“ (S. 45) 8–10 Vgl. Weiß (1811), insbesondere S. 48–49, sowie S. 60– 61 11–12 Vgl. Eschenmayer (1817), S. 66–68

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Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

[46] Um empirisches und speculatives recht zu binden muß man unterscheiden in jeder Function ihre Wirkung und ihre Bedeutung. Leztre ist das speculative[.] [ 5v

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[47] Eschenmaier sagt die unbedeutendste Pflanze habe eine höhere Gleichung in sich als der ganze Mechanismus der Erde. Warum rechnet er es aber nicht mit zum Wesen der Erde daß Pflanze Thier und Mensch darauf entstehn. Der Mechanismus ist nur das Mittel um diese auf eine bestimte Weise mit der Sonne in Verbindung zu sezen.

[48] Ich muß wol das Ganze schließen mit der Zurükführung der Seele auf das Verhältniß zwischen Sonne und Erde und also mit der Ahnung der Unsterblichkeit.

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[49] Sprache und Zeugung sind die Humanitäts[-] Circulationssysteme, die Organe des allgemeinen im Einzelnen[.]

[50] Eschenmaier parallelisirt Erkennen und Reproduction, Gefühl und Irritabilität, Wille und Sensibilität. Ich möchte sagen Wille sei mit Reproduction parallel denn diese ist eine Wirkung auf die Stoffe und Sensibilität mit Erkennen[.]

[51] Kann man überhaupt mit Eschenmaier die Vermögen der Seele den geistigen Organismus nennen und auf diese Weise noch einen gemischten Organismus annehmen. Offenbar wird hier das Wort Organismus auf ganz verschiedene Weise gebraucht.

4–5 Vgl. Eschenmayer (1817), S. 152–153 14–15 Vgl. Eschenmayer, Carl August: Versuch die scheinbare Magie des thierischen Magnetismus aus physiologischen und psychichen Gesetzen zu erklären, Stuttgart/Tübingen 1816, S. 29 sowie Eschenmayer (1817), S. 24–278, insbesondere S. 192, 252 18–20 Vgl. Eschenmayer (1817), insbesondere S. 24–25

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[52] Anfangen muß ich wol mit der Begrenzung gegen die Anthropologie; auf der Erkenntnißseite ausschließend den physiologischen Anfang[,] auf der Willensseite das physiologische Ende.

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[53] Erstlich zusamen mit der Anthropologie[.] Verhältniß zur Physik als Voraussezung und als Ende eben so zur Ethik. – Psychologie kann nur Steigerung des vorausgesezten sein, keine strenge Wissenschaft[.] Aufzählung der Wissenschaften welche in Relation stehen. Die Physik zeigt die Seele gewißermaßen als ein Werk des Leibes; die Ethik den Leib als ein Werk der Seele[.] [

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Er s t e S t u n d e . Wir müssen den Ort unserer Lehre aufsuchen im Wissen. Dazu fehlt uns vieles. – In naher Verbindung stehn Physik und Ethik. Physik sezt Seelenkentniß voraus weil alles durch ihre Operationen kommt; aber ihr höchstes Werk ist Seele zu begreifen[.] Also Cirkel. Ethik sezt Seelenkentniß voraus denn sie arbeitet an der Seele; aber sie sagt die Seele sei erst so recht wie sie sie gemacht habe. Also Cirkel[.] Das physische und ethische verbunden giebt die höchste Seelenkunde nach allem Wissen. Hier nur die vorbereitende. [

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[54] Aus der Naturkunde, nicht NaturWissenschaft, um alle geschichtlichen Vergleiche hinein zu bringen[.] Der Weg ist Beobachtung mit Anwendung dialektischer Geseze. [

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Zw e i t e S t u n d e [.] Von welcher Art ist diese Kenntniß empirisch oder a priori. Das vor aller Wissenschaft hergehende also immer vorausgesezte Wissen des Menschen um sich selbst ist das empirische; das nie vollendete ist das speculative. Aber das empirische ist nur in seinem minimum vorauszusezen es wächst immer mehr zu[.] Die Fortschrei1–3 Anfangen ... Ende.] Textpassage durch vier leicht schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 4–9 Erstlich ... Seele[.]] Textpassage durch drei schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 14 denn] korr. aus aber 18– 20 Aus ... Geseze.] Textpassage durch drei senkrechte Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 22–2 Das ... specualtive.] am Rand ohne Einfügungszeichen

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tung ist also die innigere Hineinbildung des wachsenden empirischen in das speculative[.] Wir haben a priori nichts als das Ich. Viele haben geglaubt dieses nun durch Anwendung der dialektischen Trennungsgeseze zu einem mannigfaltigen der Erkentniß spalten zu können; allein das Ich ist kein Begriff in dem etwas zum theilen wäre sondern ein ungetheiltes Gefühl also ist die Psychologie a priori eine Täuschung. Andere haben eine bloß empirische gemacht allein diese täuschen sich auch wenn sie nicht glauben Verfahrungsprincipien anzuwenden die sie vorher haben[.] Also muß man beides verbinden. Dies rechtfertigt sich auch aus dem allgemeinen Zustand. In der Mitte ist empirisches und a priori geschieden, die Vollendung können wir uns nur als innige Durchdringung denken. Also kein Wunder daß im Anfang auch nicht geschieden ist aber auf eine verworrene Weise. Die Psychologie fängt also an mit Darlegung der verschiedenen Thätigkeiten der Seele aus der Beobachtung unter Anwendung der als gegeben angenomenen dialektischen Regeln. Wenn sie aber den künftigen Zustand vorbereiten soll: so muß sie auf den sich dazu eignenden Punkten die Verbindung mit speculativen Bliken versuchen. Wenig Vorgänger sind erst da, und nur die ersten Schritte | können gethan werden. Woher aber bekommen wir unsern Gegenstand? Die Seele ist uns nur mit dem Leibe gegeben. Auch das lezte der Naturkunde wäre Anthropologie nicht Psychologie. Es ist nicht das rechte Anthropologie zu theilen in Psychologie und Physiologie, sondern Anthropologie muß das geistige und körperliche in jedem Moment zusammenfassen. Warum wollen wir also diese Trennung und die Psychologie isoliren? Es kann keinen vernünftigen Grund geben als um das geistige Princip, welches durch das ganze Leben hindurch geht auf einer bestimten Stufe, der einzigen die uns wirklich gegeben ist anzuschauen und davon auf das allgemeine auszugehen. Die speculativen Blike sind also der eigentliche Hauptzwek der Psychologie. Die Psychologie ist also auf der einen Seite ein Bruch (nicht ein organischer Theil) der Anthropologie, auf der andern ein Glied in der ganzen Reihe der Pneumatologie.

[55] Skeptische Behandlung der Frage über die Trennung von Seele und Leib. Der Materialismus läßt keine zu, der Monadologismus auch nicht. Wir auch nicht ohne beide Fragen zu berühren. Den Leib gegen 22 das] korr. aus die folgt )Ph*

32–33 Anthropologie] An korr. aus Ps

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die übrigen Dinge können wir erklären durch Organismus. Die Seele gegen den Leib durch Bewußtsein. Die Erklärung des Beharrlichen im Bewußtsein erschöpft nicht die bewußte Seele. Denn 1.) ist die Beharrlichkeit nicht gegeben 2.) liegt im Bewußtsein an und für sich nicht die Thätigkeit. Das Eine beharrliche Subject der innern Veränderungen ist eben so wenig die Seele. Denn der Leib ist eben so Eins und eben so beharrlich.

[56] Von Launen und Stimmungen muß nothwendig gehandelt werden; aber wo? Uebergewicht des Gemeingefühls, also relative Schwäche des Willens. Es giebt zweierlei Selbstbeherrschungen[,] die active, Stimmung besiegen | und die passive[,] der Stimmung nachgeben[.] (Goethe)

[57] Es ist wol ganz einerlei zu sagen Es werde ein Mensch mit mehr oder weniger Geist geboren oder (wie Carus) Einem werde durch innere Nothwendigkeit mehr oder weniger entlockt.

[58] Man muß bei der Ungleichheit vorzüglich auch auf die Ungleichheit derselben sehn, weit geringer in ungebildetern Zeiten und Völkern[.]

16–18 Man ... Völkern[.]] Textpassage durch drei leicht schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 16 Ungleichheit] Ungl über )G* 10–12 Goethe war das Thema „Selbstbeherrschung“ nicht zuletzt durch Ifflands gleichnamiges Theaterstück bekannt, das unter Goethes Leitung 1812 am Weimarer Theater aufgeführt wurde; vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Tagebücher. Historisch-kritische Ausgabe, ed. J. Golz unter Mitarbeit von W. Albrecht, Stuttgart/Weimar 1998 ff, hier Bd. 4: 1809–1812, Teil 1: Text und Register, 2008, S. 401, 425. Goethe thematisiert die Selbstbeherrschung beispielsweise in „Die Wahlverwandtschaft“ (1809; Werke, Bd. 1–13, Tübingen 1806–1810, hier Bd. 13, 1810 [SB 2353]; Sämtliche Werke: Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 1–40, Frankfurt/M. 1985–1999, hier Bd. 8, 1994, S. 269–555) und den Topos „Stimmungen“ in dem Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96; Werke, Bd. 2–3, 1806; Sämtliche Werke 9,355–992). 14– 15 Vgl. Carus, Friedrich August: Psychologie, Bd. 1–2, Leipzig 1808, hier Bd. 1, S. 98 16–17 Vgl. Hamburger Nachschrift, S. 74 (unten S. 235): „um das Gebiet unserer Untersuchungen ganz vor uns zu haben, müssen wir nicht nur auf die Ungleichheit, sondern auch auf die Ungleichheit der Ungleichheiten sehen“

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[59] Man kann die Seelenthätigkeiten theilen in äußre und innere; aber diese beziehn sich nur auf jene. Wenn man die inneren, die geistigen Genüsse selbständig macht so tritt der größte Einfluß des Leibes doch wieder ein.

[60] Die Trennung von Leib und Seele kann nicht fest bestimmt werden, weil in der Verbindung eine Oscillation ist; anderes wird dem Leibe angerechnet sofern er Organ der Seele auf die Welt anderes sofern er Organ der Welt auf die Seele ist.

[61] Ob die Seele den Schmerz empfindet und an seinen Ort weiset, ob die Seele den Ton fixirt und an seinen Ort bringt, ob die Seele den Fuß versezt, sind ganz coordinirte Fragen[.]

[62] Die Alten hatten Recht das θρεπτικον mit zur Seele zu rechnen weil Hunger und Durst Begierden wie die andern sind und durch freie Handlungen gestillt werden. Auch wäre es voreilig zu sagen daß diese Prozesse bei den Menschen völlig dieselben wären wie bei den Thieren.

D r i t t e S t u n d e [.] Bei der schwierigen Aufgabe Leib und Seele gegen einander abzugrenzen käme eine gute Erklärung der Seele wol zu statten. Die fehlt bis jezt und kann überhaupt erst das Resultat der Psychologie sein. Beispiele 1, beharrliches im Bewußtsein. Man kann die Beharrlichkeit der Seele nicht nachweisen, Lüke im Schlaf ja sogar im Wachen wo Vorstellungen ohne Zusammenhang auf einander folgen. Auch erschöpft das Bewußtsein nicht die Seelenthätigkeiten. Das Combiniren selbst ist nicht Bewußtsein und das unmittelbare Wollen auch nicht, 2. Einheit des Subjects der innern Veränderung. Aber Ein5–8 Die Trennung ... ist.] Textpassage durch drei fast senkrechte Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 12–16 Die Alten ... Thieren.] Textpassage durch drei fast senkrechte Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 25 Einheit] gestrichen, dann Streichung durch gepunktete Linie annulliert 12–14 Vgl. Aristoteles: De anima 414b; Opera 1,389; ed. W. D. Ross 31–32

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heit hat der Leib eben so gut oder die Seele eben so wenig, die Mannigfaltigkeit der Vermögen auf eine zureichende innre Einheit zu reduciren ist noch | nicht gelungen, also kann auch das nicht zum Grund gelegt werden. Eben so wenig hält der Unterschied innerer Veränderungen Stich; denn im Leibe giebt es auch ein inneres und in der Seele auch ein äußeres. Sehr bequem können in dieser Noth Ansichten kommen, welche den Gegensaz ganz aufheben. Das thut der Materialismus welcher sagt Alles ist Leib, und der Spiritualismus welcher sagt Alles ist Seele. Allein nicht nur ist jener nothwendig atomistisch und dieser nothwendig idealistisch (doketisch) und nicht nur muß doch wenn man sie polemisch gegeneinander stellt die entgegengesezte als ein möglicher Gedanke zugegeben werden. Sondern auch wenn man sich selbst des Zusammenstellens enthalten und sich einer von beiden blindlings hingeben wollte, bleibt da sich doch die Thätigkeiten der geringen Zusammenfügungen im Menschen auch finden die Frage dieselbe – wie denn überhaupt die Frage nach dem Substrat uns noch sehr fern ab liegt. Müssen wir nun den Gegensaz fassen so kommen wir zunächst zu der Bemerkung daß die Alten ihn anders gefaßt haben als wir. Wir hängen am Bewußtsein[,] sie an der Lebenskraft. Sie nehmen das θρεπτικον mit. Man kann es nicht für einen Wortstreit annehmen; denn sie unterscheiden auch σωμα und ψυχη und geben die ernährenden Thätigkeiten dieser. Will man dem ausweichen so muß man entweder den Appetit auch dem Leibe zuschreiben wie den Hunger, und dann müßte die Seele ein ganzes Gebiet abtreten oder man muß Hunger und Appetit unter ganz verschiedene Klassen bringen da doch beides die Menschen größtentheils nicht einmal unterscheiden. Das erste wonach wir zu streben haben ist die Schwierigkeit auf einen allgemeinen Grund zu bringen. Wenn man Seele einmal besonders sezt so bekommt der Leib, da das Gesammtleben nicht begriffen werden kann als nur im Gegensaz gegen die Welt eine doppelte Stellung, einmal als Organ der Seele auf die Welt, dann aber auch als Organ der Welt auf die Seele[.] In so fern also dies verschiedene Systeme sind wird einmal mehr der Seele angeeignet vom Leibe, ein andermal mehr der Welt[.]

Vi e r t e S t u n d e [.] Wenn nun die Grenzen nicht allgemein im voraus zu fassen sind: so müssen sie erst durch unsere und die physiologi11–15 und nicht nur muß ... bleibt] am linken Rand mit Einfügungszeichen davor )sondern* 16 finden] folgt )so bleibt*

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schen Untersuchungen gefunden werden[.] Und daraus entsteht uns die Maxime vorläufig unsere Beobachtungen da anzustellen wo wir das streitige Gebiet weniger berühren, und erst wenn wir so Raum gewonnen allmählig zu sehn wie weit wir auch nach der Grenze hin kommen können. Diese Maxime ist auseinanderzusezen um so zugleich | von diesem Gesichtspunkt aus einen Umriß zu bekommen. – Es ist schon gesagt daß vom einfachen Ich ausgehend man nichts zu theilen hat, wenn man es nicht anderwärts her nimmt. Wir gehn also vom Leben aus[.] Dies ist als Einzelnes im Gegensaz gegen alles andere und als lebendiges hat es den Grund seines Verhaltens im Gegensaz in sich, und der ist das Bestreben sich darin zu erhalten. Leben ist also ein Zustand von Wechselwirkung aber ohne reine Passivität, sondern die Spontaneität muß Gegenwirkung oder wenigstens Hemmung erfahren und die Receptivität (NB[.] diese Wörter habe ich aber in dieser Stunde noch nicht gebraucht) muß sich selbst als Gegenwirkung manifestiren. Je mehr man nun auf den Gegensaz zwischen Leib und Seele hält, um desto mehr unterscheidet man Lebensthätigkeiten der Seele wobei sie mit dem Leibe und durch ihn wirkt, und solche welche sie durch sich selbst verrichtet ohne den Leib. Die einen sind die mehr äußeren, von der Außenwelt ausgehenden oder sich auf sie beziehenden; die anderen die mehr inneren. Allein als qualitativ so daß der Leib bei den lezten ganz ausgeschlossen wäre, kann man den Unterschied nicht annehmen. Im Wahrnehmen und Handeln sind wir uns zwar des Gebrauchs bestimter Theile des Leibes bewußt, im innern Sinnen und Denken nicht. Aber erstlich ist dies doch auch Combination von Bildern und Worten. Die einzige Operation die dieses ganz ausschließt ist die Aufgabe das höchste Wesen zu denken und darum wird diese auch als That nie gelöset. Mit den Bildern und Worten ist also doch ein Zusammenhang mit den leiblichen Thätigkeiten wodurch jene ursprünglich entstanden gesezt (welche Behauptung ganz unabhängig ist von der Frage ob die Ideen von den einzelnen Vorstellungen abhängen oder nicht)[.] Dann empfinden wir auch körperliche Folgen nach solchen Zuständen welche auf eine begleitende Thätigkeit des Körpers hinweisen nach aller Analogie. Also werden wir nur sagen müssen, daß wir weder den Ort des leiblichen wissen noch auch ob es am Anfang oder Ende steht oder vielleicht nur am Anfang und Ende der unendlich kleinen Momente und also den ganzen Verlauf der Handlung begleitet. Die andere Klasse hingegen hat offenbar, die eine ein physiologisches | Ende bei psychischem Anfang, die andere ein psychisches Ende bei leiblichem Anfang. Ton und Bild an einen 23–24 Unterschied] Unters über )Leib*

29 Mit den] korr. aus Q R

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bestimmten Ort zurükwerfen ist gewiß Sache der Seele aber es liegt darin zugleich die Anerkennung, daß die Affection des Organs durch die Luft und Licht Erschütterung angefangen habe. Die Füße vorwärts sezen ist gewiß die Sache des Leibes; aber die Seele hat angefangen und ohne deren Wollen wäre die Bewegung nicht erfolgt. Der Sinn der Maxime nun ist, daß wir vorläufig bei dieser Klasse nicht anfangen wollen die zusammenstoßenden Enden zu sondern, bei jener aber wo wir von selbst freien und sichern Spielraum haben wollen wir nie glauben die Thatsache recht gefaßt zu haben wenn wir nicht einen freien Raum lassen für die leibliche Mitwirkung.

[63] Die leiblichen Enden des Erkennens und Wollens sind psychologisch bei weitem nicht so interessant als die des Fühlens. Jene bringen nur einzelne Abnormitäten hervor, diese haben an allen Stimmungen und Launen Theil.

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[64] Was heißt das „die denkende Seele ist aufs Gehirn beschränkt, die empfindende durch die ganze Materialität zerstreut“? (Reil I, 39) Kann man sagen das Denken ist in Bezug auf den Leib eine Contraction der Seele, das Fühlen eine Expansion? „Das Denkvermögen ist nur vom Kopf, das Gefühlsvermögen vom ganzen Körper abhängig.[“]

Fü n f t e S t u n d e [.] Eine zweite Maxime ergiebt sich von einem anderen schon berührten Punkte aus. Wenn die Sonderung des Psychischen keinen andern Zweck haben kann als das geistige Princip in seiner ganzen Entwiklung kennen zu lernen so müßte uns um diese zu erreichen eigentlich eine Stufe unterhalb des Menschen und eine oberhalb gegeben sein. Es ist uns aber nur die erste wirklich gegeben in der 17 das] korr. aus daß 15–20 Vgl. Reil, Johann Christian: Einige Parallelen zwischen Seele und Leib, somatischem und pneumatischem Kopf, Gehirn und Denkvermögen, Behufs der Diagnosis der Asthenie des letztern, in: Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege (1808), Bd. 1: „Die denkende Seele ist aufs Gehirn beschränkt, die empfindende durch die ganze Materialität zerstreut, und wird durch das Leitungsvermögen der Nerven im Gehirn, als ihrem Centrum, gesammelt.“ (S. 39)

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thierischen Welt, von der andern nur Fantasien. Zwar hat es eine Ansicht gegeben, welche auch das erste läugnen und die thierischen Veränderungen alle aus dem Mechanismus erklären will. Allein sie kann dies nicht ohne die ganze lebendige Idee der Natur aufzuheben. Sezt man nun in den Thieren Leben so ist zweierlei möglich entweder das was in dem Menschen dem Thiere analoges ist rein identisch zu sezen so daß das eigenthümliche des Menschen | man nenne es nun Vernunft oder wie sonst ein rein hinzukommendes sei; oder das analoge nur als analog aber eben wegen des hinzukommenden höheren doch als ein anderes und von diesem durchdrungen. Zwischen beiden können wir nur entscheiden entweder aus einem gegebenen Bewußtsein oder aus einem Interesse also nur hier aus dem wissenschaftlichen. Unser Bewußtsein giebt uns nichts weil wir unsere Vorstellungen über das thierische nicht verificiren können. Daß das Thier definitiv so sehe und höre wie wir können wir weder behaupten noch läugnen, daß es die ersten organischen Eindrücke so empfange und den ersten Impuls auf die Organe so gebe wie wir, das können wir weder läugnen noch behaupten. Das wissenschaftliche Interesse aber spricht ganz gegen die erste Ansicht. Man pflegt sich zwar häufig in der Wissenschaft ihr gemäß auszudrücken z. E. wenn man vegetative Functionen im Menschen sezt. Allein dies ist doch bei den wenigsten genau zu nehmen sondern sie wollen nur die Analogie bezeichnen. Die verworfene Ansicht aber involvirt zweierlei Behauptungen[.] Einmal daß die Gattungen nichts streng geschiedenes sind wenn wir ganz dasselbe wiederfinden in den höheren und das müßte bis auf das anorganische durchgehn[.] Dann auch daß in dem Menschen selbst keine wahre Einheit ist. Denn was von seinem eigenthümlichen Princip gar nicht afficirt wird kann man ihm eben so gut absprechen als beilegen. Dahin deutet freilich der Ausdruk mein Leib allein er ist nie gleichbedeutend mit dem mein Hut, sondern nur mit dem meine Seele dem Dein entgegengesezt. Das Interesse unserer Aufgabe treibt uns also zu der Ansicht, daß alles im Menschen menschlich sei, und also daß wir die Differenz zwischen Mensch und Thier auf allen Punkten also als eine unendliche sezen müssen, und menschliches und thierisches nur in ihrer Differenz vollkommen verstehn können. – Das über dem | Menschen liegende anlangend: so sind uns nur Fantasien gegeben. Nämlich es ist hier nicht davon die Rede daß wir Gott über den Menschen sezen, sondern daß wir uns genöthigt fühlen etwas Endliches über den Menschen zu sezen. Diese Fantasien kehren so sehr auf allen Kulturstufen und unter allen Völkern wieder, daß wir sie als eine natürliche Ausgeburt des Menschen ansehn müssen und daß auch die am wenig7 so daß] über )und* mit Einfügungszeichen

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sten speculative Psychologie sich auf sie einlassen muß. In diesem liegt nun freilich zunächst nur das negative daß wir den Menschen nicht als das höchste sezen können, die angeborene Demuth spiegelt sich darin; aber diese ist einerlei mit dem höchsten dem Streben des Menschen über sich hinaus. Wir haben also auf der einen Seite die Differenz vom thierischen festzuhalten auf der andern den Grund von diesem Streben aufzusuchen – wenn nicht beides wieder dasselbe ist[.]

[65] Nämlich wenn das höhere Princip in allem ist so wird es dadurch gedrükt, die Anerkennung der Differenz ist die Anerkennung dieser Gewalt der Schwere als etwas nicht im Wesen des höheren Princips selbst liegenden und davon ist jener nur die andere Seite.

[66] Sollte nicht auch hier etwas vorläufig gesagt werden über die Theilung in Leib Seele und Geist?

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VI. Nämlich wenn das thierische rein für sich wäre so wäre die Seele in ihrem Gebiet von demselben ganz unabhängig. D. h. wo sie sich des Leibes bedient kann immer das Resultat unvollständig werden, allein dies wäre nur dieselbe Hemmung die auch durch äußeres Hinderniß erfolgen kann. Hat sie aber auch an dem thierischen einen Antheil wodurch es ein menschliches wird: so muß sie, als eine sich selbst gleiche endliche Größe betrachtet eben so viel verlieren für ihre eigenthümliche Thätigkeit als sie in jene sich versenkt. Sezen wir nun eben so wie in dem Menschen das animalische so im Thier das vegetabilische und in der Pflanze das unorganische und fassen dieses alles im Menschen zusammen: so müssen wir sagen wenn auch nur die niedrigste von diesen Stufen seinem leiblichen Dasein fehlte, so würde die Seele freier sein in ihrem Gebiet. Mit jener Voraussezung also (Voraussezungen aber sind beides nur weil uns nichts davon unmittelbar gegeben ist, sondern wir nur durch die Wirkung der Vorstellung auf unser Gefühl bestimmt sind) | daß die Seele Antheil habe an den niederen Functionen entsteht auch die andere, daß es eine höhere Entwiklung des geistigen Princips geben könne. Diese bildet sich zwiefach aus als Vorstellung von höheren Wesen als der Mensch und als Vorstellung von einem höheren Zustande des Menschen als der uns gegebene irdische. Keines von beiden können wir als Bereicherung unserer

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Kenntniß in die Bildung einer Psychologie aufnehmen, also auch von der Unsterblichkeit nichts auf unserem Gebiete wissen oder über sie entscheiden. Was aber für uns daraus folgt ist dieses. Wenn die Hemmung der Seele durch die niederen Lebensfunctionen immer dieselbe wäre so würde sie als Null wirken; jedes Verlangen erklärt sich aus einem mehr und minder, und beide Voraussezungen entstehn der Seele nur dadurch, daß sie sich in einem auf und absteigenden schwankenden Zustande befindet. Es wird uns also die Aufgabe diesen aufzufassen als Annäherung zum freien Leben, Emporsteigen zum Licht, und als größeres Gebundensein, Versenktheit in die Schwere und dies maximum und minimum müssen wir in allen Thätigkeiten auffassen, sonst haben wir sie nicht verstanden. Dies ist aber nicht zu verwechseln mit dem Unterschiede zwischen den Thätigkeiten wobei sich die Seele mehr und denen wozu sie sich weniger des Leibes bedient sondern diese lezten haben eben so gut ihr maximum wie jene ihr minimum[.] Dies führt uns als ein einzelner Fall auf die allgemeine Differenz von gut und schlecht. Sollen wir beobachten so müssen wir wissen ob diese stattfindet; sonst kommen wir einseitig auf das Eine oder andere und construiren einen zu engen Begriff. Was haben wir hierüber nach der Analogie festzusezen? Diese Differenz verschwindet auf den Endpunkten. Wo die eigene Thätigkeit Null ist existirt sie nicht. Z. E. in einem derben Gestein weniger als in einer Krystallisation. (In jenem bleibt fast nur das mehr oder minder leiden von außen, die Verwitterung zu unterscheiden.) Wo die höchste eigene Thätigkeit in ihrem ganzen Umfang vollkommen ausgebildet ist, z. E. jedes Exemplar den Begriff der Gattung rein ausdrückt, da verschwindet es wieder. Also ist im Gebiet der Seele der größte Raum für diesen Gegensaz. Und zwar ist er nicht etwa gleich mit dem bloß ethischen zwischen gut und böse, sondern dieser tritt nur als ein einzelner Fall ein. Diesen fließenden Gegensaz haben wir also ebenfalls bei allen Seelenthätig|keiten zur Anschauung zu bringen. VII. Aber auch hier dürfen wir im Voraus nichts über den Grund dieser Differenz festsezen. Es tritt hier die schwierige Frage von der Freiheit ein[,] ein Ausdruk, dessen ich mich wegen seiner ungeheuren Vieldeutigkeit lieber enthalte. Der fließende Gegensaz ist aber nicht nur so daß in derselben Seele einige Thätigkeiten als gut erscheinen und andere als schlecht, sondern auch so daß man wenigstens a parte potiori einige Seelen als gute bezeichnen muß und andere als schlechte. 5–12 jedes Verlangen ... verstanden.] am rechten Rand mit großer eckiger Klammer markiert und mit der Notiz Aufgespart zur eigentlichen Erörterung versehen 22 Z. E.] z. E.

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Und dieses führt nun überhaupt auf die vorläufige Betrachtung der psychischen Ungleichheit in ihren verschiedenen Abstufungen. Zuerst die persönliche. Keiner ist wie der andere. Neigung die Differenzen auf Eine gemeinschaftliche Formel zurükzuführen neigt sich zu der Annahme diese Ungleichheit als eine ursprüngliche d. h. angeborene anzusehn. Die Unmöglichkeit sie wirklich auf Einen Begriff zurükzubringen beweiset nichts dagegen; denn vom Einzelnen läßt sich nie ein Begriff wirklich vollziehen, sondern nur ein Bild. Die Neigung jede einzelne Differenz auf eine Unendlichkeit von kleinen Ursachen zurükzuführen geht darauf aus die ursprüngliche Gleichheit anzunehmen und alle Differenzen aus äußeren Einwirkungen zu erklären. Die Beharrlichkeit in den Differenzen beweiset nichts dagegen denn auch die Neigungen können aus Einwirkungen entstanden sein. – Die zweite Ungleichheit ist die des Geschlechtes. Daß diese sich nicht auf die eine Function allein erstrekt ist offenbar. Weibliche Seelen nehmen wir an wie männliche und die Ausnahmen erscheinen uns nicht nur als Abnormitäten sondern im tiefsten Grunde nur als Schein[.] Auch hier ein Gegensaz der Ansicht aber ein solcher außerhalb dessen wir uns gänzlich halten müssen. Daß die psychische Differenz nur aus Gewohnheit und Erziehung entstehe, und daß die physische Seite [ ] Die dritte Differenz ist die der Völker. Sie tritt uns recht ins Auge, wenn wir in eine gewisse Ferne treten[.] Nehmen wir einen Menschen einzeln so werden wir zu sehr von der persönlichen Eigenthümlichkeit angezogen. Jene bemerken wir nur wenn wir die Masse | vor uns stellen. Diese Differenz ist praktisch angesehn wichtiger als die persönliche weil alles große nur durch sie geschieht, was oft ganz mit Unrecht nur den ausgezeichneten Einzelnen beigelegt wird. Sie ist auch an sich wichtiger. Denn die nationale Eigenthümlichkeit ist nicht nur die Beschränkung, sondern wirklich die productive Kraft der per4 zurükzuführen] folgt )ist* 14 Daß] davor )Auch hier ein Gegensaz* 17– 21 Auch … Völker.] am linken Rand mit gepunkteter Linie versehen 20 Seite] es folgt ein Spatium von knapp eineinhalb Zeilen Länge 21 uns] uns uns 27–1 Sie ... persönlichen.] am rechten Rand mit Einfügungszeichen 19–20 Vgl. Berliner Nachschrift 1818, S. 63: „Die eine Meinung ist: Die Verschiedenheiten, die sich in der Seelenthätigkeit offenbaren, sind bloß in der leiblichen Verschiedenheit gegründet; die andern: die Verschiedenheit in den Seelenthätigkeiten ist für sich, sie ist so ursprünglich als die leibliche. Über diese verschiedenen Ansichten können wir im Voraus auch kein Urteil fällen, sondern wir werden es auch nur daher nehmen können, wenn wir auf den entgegengesetzten Punct merken, auf das Versenktsein der Seele in die mehr animalischen Thätigkeiten und auf ihre eigentlichen Thätigkeiten. Suchen wir die Verschiedenheit in dieser Reihe, so werden wir finden, ob die Verschiedenheit in den entgegengesetzten Puncten oder in demselben Puncte ruht.“

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sönlichen. Aber sie ist immer nur als Nebensache behandelt worden und also noch sehr zurük. Meinung daß die physische Seite völlig von den Einwirkungen des Klima abhänge. Aber sie bleibt bei unvermischten Ehen auch in einem andern Klima. Meinung daß die psychische Seite ganz von Regierungsformen p. abhinge aber woher gestalten sich die Institute verschieden als aus einem gemeinsamen innern Grunde. Die Ansicht welche die Differenz für zufällig erklärt, will die Einheit der Gattung desto fester halten.

[67] Das romantische ist die Sehnsucht nach der persönlichen Eigenthümlichkeit und in seiner höchsten Form nach der Systematisirung derselben. Das ächt dramatische hält sich durchaus mehr an das nationale.

[68] Die Meinung von ursprünglicher nationaler Differentiirung der Seele streitet gar nicht gegen die Einheit der Gattung sondern höchstens gegen die der Abstammung. Gegen diese müssen wir uns indifferent halten. Den Menschen nun so auffassen wollen, wie er uns wirklich kann gegeben werden.

[69] Der Gegensaz der Temperamente geht durch. Nicht bloß als Klassification der persönlichen Eigenthümlichkeit.

1 behandelt] behandeln 13–17 Die ... werden.] Textpassage durch drei leicht schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 18–19 Der ... Eigenthümlichkeit.] Textpassage durch vier leicht schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 2–3 Montesquieu hat beispielsweise das Klima für den zentralen Einflussfaktor der physischen und psychischen Unterschiede der Völker bzw. Nationen gehalten. Vgl. Montesquieu, Charles Louis de Secondat de: De L’esprit des Loix, ou du rapport que les loix doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les moeurs, le climat, la religion, le commerce, Genf 1748 [SB 2642]; Œuvres complètes des Montesquieu, Bd. 1–22, Oxford 2002 ff, hier Bd. 3–4: De l’esprit des loix, 2008. In Schleiermachers Bibliothek befand sich eine Ausgabe des Buches von 1824 [SB 2642]. Die Ausgabe konnte allerdings nicht zweifelsfrei zugeordnet werden; vgl. KGA I/15, S. 903.

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Gedanken und Einleitung, 7. Stunde

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[70] Cholerisch und phlegmatisch sind plastische Temperamente sanguinisch und melancholisch sind musikalische[.] Cholerisch und melancholisch sind offensive, sanguinisch und phlegmatisch sind defensive.

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[71] Das Genie und der Heros stehen zusammen dem Virtuosen des Geschmaks und dem vollkommen sittlichen Menschen entgegen. Oder soll man statt Heros oder Genie geradezu den Philosophen nennen? Denn wir nennen doch nicht leicht einen als Philosophen ein Genie.

[72] Das allerverbreitetste Ahnden ist das des Gelingens oder Mißlingens, das mit jedem Beschließen oder Aufstreben verbunden sein muß, gewöhnlich ohne daß ein Calculus vorangegangen wäre.

[73] Durch einen vermeintlichen Beweis der Unmöglichkeit können wir beim Verfahren auf dem Wege der Beobachtung nichts abweisen.

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[74] Wenn man die Temperamente mit Kant theilt in Temperamente der Thätigkeit und des Gefühls so kann man doch unmöglich die Mischung abläugnen; denn jeder muß doch beides haben. Auch geht es aus seiner physiologischen Analogie hervor; denn QniemandR kann doch zugleich leicht und schwer sein.

[75] Man muß nicht die Vaterlandsliebe als eine zu erklärende Erscheinung sezen, sondern den Mangel der Vaterlandsliebe[.]

[76] Die vom politischen ablösende Religiosität ist gewöhnlich in solchen Menschen, die durch den Staat keine Bildung empfangen haben, sondern nur durch die Religion.

15–16 Vgl. Kant (1798), S. 257–265; Ak7, 286–289

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Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

[77] Die einzelne Seele ist ein sich allmählig ablösendes und hernach wieder allmählig sich in Andere einbildendes. – Daher sind die Fortschritte der Kinder am schnellsten, weil sie noch gar nicht äußern und von sich geben.

[78] Cholerisch und melancholisch sind egoistisch; die andern sind verläugnend; phlegmatisch in der Unpartheilichkeit, sanguinisch in der Weichheit[.] Nämlich cholerisch und melancholisch sezen das Ich in große Massen, sanguinisch nur im Moment und phlegmatisch nur im Ganzen, welches beides nie bestimmt herauskommt.

[79] Cholerisch und melancholisch haben am meisten Launen. Cholerisch unter der Form der langen Weile, melancholisch unter der Form des unerwarteten Abspringens.

[80] Die Auffindung des Gegensazes ist nöthig um die Ordnung zu motiviren. Er führt auf das einzelne Dasein[.] Also erstlich elementarisch das gemeinsame. Dann die persönlichen Differenzen und die Geschlechtsdifferenz. Dann die persönliche Eigenthümlichkeit für sich und im Verhältniß zur nationalen Ebene so die nationale für sich und im Verhältniß zur persönlichen. Dann Versuch [über] die Idee der Seele[.]

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VIII. Wenn die Nationaleigenthümlichkeiten als ursprünglich gesezt werden müssen es noch mehr die Racen Charaktere, und dann erscheinen die Racen als Arten. Den Nachtheil der daraus folgte sehe ich nicht ein, da weder die Liebe der Menschen zu einander noch ihre Verständigung unter einander von einem solchen Begriff abhängt und da doch kein näheres Verhältniß Einer Art zu irgend andern Wesen sich vor ihr Verhältniß zu den übrigen stellen könnte und Liebe und Verständigung immer zugenommen haben. Die Besorgniß entsteht 13–19 Die Auffindung ... Seele[.]] Textpassage durch drei fast senkrechte Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk

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Gedanken und Einleitung, 8. Stunde

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aber eigentlich wol daraus daß die Einheit der Abstammung bei ursprünglichen Rassencharacteren aufgegeben werden muß. Allein wir verhalten uns zur Einheit oder Mehrheit der Stammeltern gleichgültig. Für uns ist nur überhaupt jeder erste Mensch etwas unbrauchbares, und es kann keinen größern Mißgriff geben als die Entwiklung des Bewußtseins an dem Bilde des ersten Menschen anzustellen. Denn alles was zeitlich betrachtet werden muß kann nur zusammen mit seinem Entstehn recht verstanden werden und dieses Entstehn fällt beim ersten Menschen ganz aus der Analogie mit uns heraus, daher immer nur zweierlei übrig bleibt einmal alles als übernatürlich d. h. vom Unendlich großen gewirkt theils aus Null, aus dem Unendlich kleinen sich selbst entwikkelnd anzusehn welches beides nicht begriffen werden kann. Daher ist der erste Mensch nothwendig mythisch; nur aufzufassen in einer Reihe von Bildern welche wenn man sie in Begriffe auflösen will Widersprüche hervorbringen. Das speculative Interesse wäre daher die Unbegreiflichkeiten nicht zu vervielfältigen[.] Die nächste Ungleichheit und die lezte ist nun die sich durch alle durchziehende der Temperamente. Sie ist in beiden Geschlechtern und in allen Völkern. Sie ist nicht nur eine Klassification der persönlichen Eigenthümlichkeiten; denn diese hat einen größeren Umfang so daß das Temperament nur ein Theil von ihr ist. Das Temperament muß man eigentlich aus zwei Momenten abnehmen können an der Kenntniß der persönlichen Eigenthümlichkeit bauen wir beständig und bringen sie nicht eher zu Stande bis wir das ganze zeitliche Leben des Menschen beisammen haben. Die Temperamente sind auch in beiden Geschlechtern und es ist nur ein Vorurtheil daß einige überwiegend männlich wären und andre überwiegend weiblich. Ebenso in allen Völkern. Allerdings schreiben wir jedem Volk wie einen Nationalcharakter, so auch ein Nationaltemperament zu[.] Dies will aber nichts weiter sagen als daß Eines in ihm das | Uebergewicht hat, die andern nicht so klar heraustreten[.] Müssen wir aber auf alle Ungleichheiten sehn so dürfen wir auch die Ungleichheit der Ungleichheiten nicht übersehn, daß nämlich der Gegensaz in jeder bald gesteigert ist bald abgestumpft. Völker und Zeiten in denen die persönliche Eigenthümlichkeit mehr oder weniger gesteigert ist, in denen mit der ganzen Lebensfülle auch die Temperamente stärker oder schwächer heraustreten, eben so die Geschlechter denn wenngleich Sybariten und Amazonen nur Dichtungen sind, so sind sie doch nothwendige und es stekt etwas dahinter. Das gleiche gilt von den Nationaldifferenzen in den verschiedenen Racen.

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Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

[81] Daß keineswegs die Spontaneität abhängig ist von der Receptivität, nichts bloße Gegenwirkung sondern die Activität muß QinerlichR absolut gesezt werden. Das ganze Sein ist That.

[82] Das höchste Selbstgefühl (in einem begeisterten Moment) ist zugleich die höchste Selbstvergessenheit[.]

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[83] Daß es im Menschen Uebung giebt und Willkühr anstatt Kunsttrieb und Instinkt hängt an der größeren Allgemeinheit seiner Natur.

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I X [.] Nachdem wir nun den Umfang unserer Untersuchungen kennen gelernt müssen wir, wenn uns dann nichts gegeben ist als das einfache kahle Ich uns nach einem Gegensaz umsehn, von dem eine Spaltung des Ich oder eine getheilte Zusammenfassung des aus der Erfahrung bekannten mannigfaltigen folge. Dieses scheint schon der Anfang der Untersuchung selbst zu sein, und doch ist noch kein Plan derselben vorgelegt worden. Allein der erste Keim des Materiellen und des Formellen kann nur derselbe sein. Da im Ich nichts zu spalten ist, müssen wir uns nach einem andern Begriff umsehn und das wird wol der des Lebens sein. Dies ist kein zufällig herausgreifen, sondern er ist das vermöge dessen das Ich eine Einheit ist im Wechsel der Erscheinungen. Leben verstehen wir nur im Gegensaz mit dem Tode und schreiben Leben demjenigen zu was im Gegensaz mit dem übrigen den Grund zu seinen Veränderungen zum Theil in sich selbst hat, todt aber nennen wir dasjenige welches den Grund seiner Veränderungen ganz außer sich hat. Das Leben nur zum Theil. Jede Veränderung hat zugleich einen äußern Factor, hätte nicht etwas so eingewirkt so wäre sie anders geworden[.] | Aber eben so hat auch jede Veränderung des Lebendigen einen Ineren. Hätte das Einwirkende mich nicht so gefunden so wäre auch die Veränderung eine Andere. Eine Thätigkeit ohne äußern Factor wäre eine solche die keinen Widerstand fände, also eine unendliche welche außerhalb unseres Gebiets liegt die wir nicht anschauen, und in der wir auch keinen Abschnitt machen können um einen Wechsel von Zustän2 inerlich] oder nemlich 11 getheilte] geth über )Zus* 14 kein] folgt )BQ R* 21– 23 Gegensaz ... ganz] drei Zeilen am linken Rand markiert mit je zwei kleinen senkrechten Doppelstrichen

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Gedanken und Einleitung, 9. bis 10. Stunde

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den zu sezen. Das Todte hat seinen Grund nicht nur theilweise außer sich sondern ganz. Denn wenn es gleich auch in seiner Vielheit verschieden ist, und dieselbe Einwirkung in dem einen nicht die gleiche Veränderung hervorbringt wie in dem anderen: so ist doch dieser Unterschied theils mehr ein negativer, indem er gewiße Modificationen der Veränderung ganz ausschließt, theils ruht er nicht in einer ineren Differenz einer wechselnden Thätigkeit, sondern in einer festen Beschaffenheit, welche aber selbst das Monument einer erstorbenen That ist und auf ein früheres Leben zurükweiset. Dieser Unterschied bleibt derselbe, man mag den Gegensaz zwischen Leben und Tod als einen absoluten oder nur als einen relativen ansehn. Das Leben kann also nur gedacht werden im Verhältniß der Wechselwirkung und gegenseitigen Bestimmung. In wiefern nun es gesezt wird, wird also alles andere ihm entgegengesezt und erscheint in Bezug auf jenes im Verhältniß wie Ich zu Nicht ich als eine unbestimte Mannigfaltigkeit. Nur muß man nicht wähnen oder wollen daß diese Bestimmung eine Erkentniß dieses Entgegengesezten ausdrüke (vielmehr diese muß ganz anderswoher genommen werden) sondern nur die Relation zu dem gesezten Leben. – So wie wir nun in dem Leben überhaupt wie es uns gegeben ist schon das menschliche und thierische unterscheiden also eine Mehrheit sezen: so ist uns das menschliche selbst und also auch die geistige Seite des menschlichen gegeben als Einheit und als Vielheit, und es kommt darauf an von welchem wir ausgehn wollen. Von der Beantwortung dieser Frage aber hängt die ganze Einrichtung ab. Wir könen von der menschlichen Natur oder Gattung als Einheit ausgehn und zum Einzelnen als ihren Fractionen oder Producten herabsteigen oder auch vom Einzelnen ausgehn und zur Einheit allmählig hinaufsteigen. Das leztere indeß scheint wenn wir den Weg der Beobachtung nicht verlassen wollen das vorzüglichere zu sein, und danach muß sich unser Plan bestimmen[.] X. Da wir nun vom Einzelnen anfangend fortschreiten und nach dem obigen ohne wiederholte Betrachtungen nicht auskommen so theilen wir unsere Untersuchungen in einen elementarischen Theil und einen constructiven. Im Ersten suchen wir den Gegensaz in Bezug | auf die geistigen Verrichtungen weiter zu entwikeln so daß wir alle einzelnen Thätigkeiten welche uns in irgend einem einzelnen Leben vorkommen mögen darunter subsumiren können. Indem wir nun hier das einzelne Leben betrachten: so ist jedem alles übrige entgegengesezt also auch menschliches. Wir werden die Verhältnisse der einzelnen Seele zu anderem menschlichen wol scheiden von denen zum Todten aber sie werden doch immer unter der Form des Gegensazes aufgestellt werden also einseitig und unvollständig und um uns dessen recht bewußt zu werden werden wir uns die Fragen welche die andere Seite

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Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

betreffen skeptisch vorlegen als etwas worüber wir so nicht entscheiden können. Eben so werden wir aus den Relationen zum außermenschlichen kein System von diesem aufstellen können sondern die Zustände mit ihren Abstufungen von Sicherheit und Klarheit nur auf die Seele beziehen und die Frage über das Verhältniß derselben zu den Beschaffenheiten der Dinge nur skeptisch behandeln können[.] [Darum werden wir das Ich in die Differenzen hineinführen welche sich auf das einzelne Leben beziehn und zwar zuerst in die Temperamentsdifferenz] Allein auf diese Weise erhalten wir nur Formeln durch welche die Thätigkeiten streng geschieden sind. In allem mannigfaltigen ist aber eben so wesentlich allmähliger Uebergang als strenge Scheidung. Wir werden uns also jene Formeln beleben müssen indem wir die Seele betrachten theils in der intensiven Unendlichkeit des einzelnen Momentes wo also der Gegensaz vermittelt wird indem das zugleich seiende sich nicht widersprechen kann; theils in der Continuität des Seins indem entgegengeseztes nicht aus einander entstehn kann. [..] welche wir nur verstanden haben wenn wir sie auf den entwikelten Gegensaz einerseits zurükgeführt und andererseits in der Art und Weise der Coexistenz und Succession angeschaut haben. Hierauf betrachten wir die Geschlechtsdifferenz und nachdem wir diese ebenso durchgeführt das davon abhängige System der Fortpflanzung. Das Ich in seinem Entstehn und Vergehn für die Erscheinung[.] Und hiemit ist das Elementarische durchaus gemein|same der Zustände geschlossen. – Der constructive Theil beginnt mit dem Versuch die persönliche Eigenthümlichkeit oder Individualität erst an sich zur Anschauung zu bringen, und dann in ihrer Beziehung auf die Volksthümlichkeit, von welcher aber auf diese Weise nur eine unvollkommene und einseitige Vorstellung entstehn kann. Von hieaus aber wird dann zweitens versucht die Volksthümlichkeit an und für sich selbst und alsdann in ihrer Beziehung auf die Production der einzelnen Individualitäten anzuschauen. Endlich kann der Versuch gemacht werden noch die Volksthümlichkeit und die Rassencharactere als einen Cyclus aufzufassen in welchem sich dann die lebendige Einheit der Gattung ausspricht. So ist denn die Seele in ihrer kosmischen Bedeutung erfaßt, alles menschlich lebendige ist eins und nur das untergeordnete lebende und todte steht gegenüber und man kann versuchen zu begreifen wie sich die Seele im allgemeinen zu der Erde verhält. Die Aufgaben werden immer größer je mehr man sich vom Einzelnen entfernt aber die 7–9 [Darum … Temperamentsdifferenz]] eckige Klammern im Manuskript 13 theils] über der Zeile mit Einfügungszeichen 17 [..]] eckige Klammern mit zwei Punkten im Manuskript, vermutlich Einfügungsmarkierung für Textzeilen 7–9 [Darum … Temperamentsdifferenz] 24 Theil] Theils

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Erkentniß auch bleicher indem dieselbe Masse von Licht sich über einen größern Raum vertheilt, und das meiste wird hypothetischer erscheinen und fantastischer. Bei dieser Ansicht verschwindet nun die Dignität der Persönlichkeit welche vorher so hervortrat, die Vergleichung beider entgegengesezter Schäzungen ruft die vorher vermiedenen Begriffe der Freiheit und der Unsterblichkeit wieder hervor und der Versuch uns in diesen zu orientiren wird das lezte und höchste.

[84] Die Seele hört im A l t e r allmählig auf zu erzeugen und auch was sie erzeugt hat keine rechte Lebenskraft; es wird vergessen und das Alte tritt vorherrschend heraus.

[85] So fern der St r e i t in der Seele auf dem Leben des Ganzen in ihr beruht kann davon erst im lezten Theil die Rede sein.

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[86] Die Zeit des Sc h l af e s ist für unser Sein in der Welt Null. Wir vergessen nicht mehr zwischen einem Tag und dem andern als an Einem Tage. – Die Vorstellungen verlieren dadurch nichts daß wir sie des Morgens erst wieder erneuern müssen.

[87] Die Theorie der Ve r m ö ge n bringt Verwirrung hervor. Als Wiederholung gleichartiger Thätigkeiten gehören sie in das Nacheinander; als beschränkt und gemessen durch andere gehören sie ins Zugleich.

[88] Das S i n n e n d e r T h i e r e unterscheidet sich vorzüglich durch ihre beschränktere Welt; Vieles uns auch sinnlich wahrnehmbare existirt für sie gar nicht[.]

17–20 Die ... Zugleich.] Textpassage durch vier leicht schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 21–23 Das ... nicht[.]] Textpassage durch drei leicht schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk

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Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

[89] Leben ist in Wechselwirkung. Aber Gegenwirkung und Ausströmung eins. Also Thätigkeit in Oscillation. Thätigkeit welche die Einwirkung sucht = Sinn und Thätigkeit welche den Widerstand sucht = Trieb. Sinn = Sein der Dinge in der Seele[,] Trieb = Sein der Seele in den Dingen. Das Einwirkung suchen erlöscht im SelbstBewußtsein, Gefühl Genuß; es haftet sich fest in der Wahrnehmung. Erlöscht auch der Trieb im SelbstBewußtsein als Begierde?

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XI. Das Fachwerk auszufinden muß auf den Gegensaz zurükgegangen werden, der die allgemeine Formel des erscheinenden Lebens ausspricht. Das Einzelne im Zusammensein mit Anderen, sofern es den Grund seines Verhaltens bei diesem fortwährend in sich trägt. Es erleidet also nichts ohne Gegenwirkung; aber es muß auch auf ursprüngliche Weise einwirken, und beides muß sich unterscheiden lassen. Wir dürfen seine Gegenwirkungen und seine Einwirkungen nicht unmittelbar auf einander zurükführen. Sehn wir die Einwirkungen nur an als abhängig von den Gegenwirkungen so wird das Leben gang passiv und am Ende tritt die mechanische Erklärung des Lebens wonach alles darin von den äußern Dingen abhängt. Sieht man die Gegenwirkungen an als bloße Einwirkungen des Lebenden selbst so wird das Dasein der Dinge im Zusammensein mit dem Leben ganz passiv, sie erscheinen als ein bloßes Nicht-ich. Man kann aber wenn die Einheit des Lebens nicht aufgegeben werden soll beide nicht als unabhängige Reihen neben einander stellen sondern nur in gegenseitiger Anhängigkeit; wonach doch beides wieder Eines sein muß und nur einen fließenden Gegensaz des Mehr und Minder oder einen Zustand der Oscillation bildet. Das erscheinende Leben ist also eine schwankende | Thätigkeit deren Maximum ist die Ausströmung welche Gegenwirkung erwartet von den Dingen, das Minimum aber die Thätigkeit, welche auf Einwirkung der Dinge ausgeht, sie sucht und hervorlokt. – Das Zusammensein des Lebenden mit der Totalität offenbart sich also unter zwei Formen. Die Thätigkeit worin das Lebende Einwirkung sucht und daher nur Gegenwirkung leistet endet in eine der Natur des Lebenden angemessene Veränderung, worin sich aber die Einwirkung der Dinge spiegelt; diese sind darin überwiegend wirksam gewesen und solche Zustände sind daher das Sein der Dinge in dem Lebenden. Die Thätigkeit worin das Lebende ursprünglich 1–7 Leben ... Begierde?] Textpassage durch drei fast senkrechte Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 7 SBW] über )der Einwirkung* 11 bei] über )fort* 14 dürfen] folgt )uns*

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ausströmt, und welche nur durch Gegenwirkung der Dinge gehemmt und fixirt wird, endet in eine der Natur der Dinge angemessene Veränderung welche aber die ausströmende Einwirkung des Lebenden abspiegelt, und solche Zustände sind daher das Sein des Lebenden in den Dingen. In beidem aber giebt es noch eine nicht zu übersehende Duplicität. Nämlich in den ersten Zuständen kann doch die Einwirkung der Dinge zurüktreten und nur die Veränderung des Lebenden hervor, oder auch umgekehrt die Abspiegelung der Natur der Dinge hervor und die Veränderung des Lebenden zurük. Eben so in den lezten kann bald die Veränderung der Dinge im Resultat als unmerklich zurüktreten und nur die Ausströmung des Lebenden hervor, bald auch die Veränderung der Dinge hervortreten und die Ausströmung des Lebenden in dieser ersterben. Dies ist der aus dem Gegensaz sich entwikelnde Schematismus, der soweit auf alles Lebende anwendbar ist nach dem Maaß seines Lebens und noch nichts dem Menschen eigenthümliches enthält, vielweniger noch das psychische ausgesondert. Dies muß nun geschehn indem wir es ausfüllen durch das in unserm gemeinsamen Bewußtsein vorkommende. Vollständig aber scheint zu diesem Behuf der Schematismus zu sein. Diese Ausfüllung nun geschieht gewöhnlich durch eine Theorie verschiedener sogenannter Seelenvermögen welche wir aber lieber vermeiden und uns hier nur darauf einlassen wollen die einzelnen Thätigkeiten in ihrer Differenz aufzusuchen. Den Vermögen wird immer mehr oder weniger eine relative Selbständigkeit beigelegt; mit dieser nun treten sie gegen einander in Conflict, und es fehlt an dem Regulator dieses Conflicts der entweder außer der Seele liegen oder wieder ein besonderes Vermögen sein muß. Beides giebt zu Verwirrung Anlaß und die Psychologie erscheint bei dieser Behandlungsweise | mehr oder weniger als ein interessanter Roman. Was in der Ansicht von verschiedenen Vermögen wahr ist wird sich bei uns auch finden. Es ist nämlich theils dieses, daß wenn man die analogen Thätigkeiten aus allen Momenten zusammensucht sie ein Ganzes unter sich ausmachen theils daß eben in den einzelnen Momenten jede durch die andere begrenzt ist und also auch für sich als ein bestimmtes Quantum erscheint. Dies wird bei uns auch zur Betrachtung kommen wenn wir die Seele in der Totalität des Moments und in der Continuität der Succession betrachten und wir könen es jezt vollkomen entbehren. [ 32 wenn] korr. aus wie

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Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

[Marg. 5] 11te Stunde[.] Anfang der Ausfüllung des elementaren mit den au f n e h m e n d e n T h ät i gkeit en, weil durch diese mehr das Einzelne aus dem Ganzen constituirt wird. Nach der Maxime anzufangen mit dem wo leibliches am leichtesten zu scheiden ist greifen wir die Si n n e s t h ät i gk e i t en. Wir unterscheiden den organischen Eindruk vom Bewußtsein weil im Zustand der Zerstreuung und Vertiefung jener sein kann ohne dieses. Abgrenzung gegen das thierische vorläufig nur die Voraussezung (weil sonst keine Einheit in der menschlichen Natur sein kann) daß menschliches auch in das Analoge des animalischen eindringt. Die genauere hängt zusamen mit dem Hinsehn auf das geistigere und leiblichere. Das geistigere sind die Verstandesthätigkeiten die imer auf jene sich gründen. Wir sezen dabei ein leibliches voraus theils aus allgemeiner Analogie, theils weil wir leibliche Wirkungen der Geistesthätigkeiten fühlen, aber wir erkennen das leibliche nicht. [

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XII. Wir fragen also die gemeinsame Erfahrung wodurch ist dies allgemeine Fachwerk des Lebens in dem menschlichen Leben ausgefüllt, und was davon gehört in das Gebiet der Seele? Zuerst aufnehmende Thätigkeiten sind alle die durch die Sinne geschehen. Ein Aufnehmenwollen, ein die Einwirkung suchen und sich ihr hingeben liegt offenbar zum Grunde. Denn es kann nichts aufgenomen werden, wenn dieses Wollen ins unendlich kleine gespalten ist, wie im Zustande der Zerstreuung oder wenn die Seele einseitig einem bestimten Verhältniß hingegeben sich von allem andern zurükzieht in die Vertiefung. Aber die Seele verhält sich dabei nur gegenwirkend und in jedem Sinnen Eindruk ist etwas von der Natur der Dinge abgebildet; sie bilden daher das Sein der Dinge in uns. Ursprünglich freilich nur ihre zeitlichen Veränderungen sind in den Eindrüken abgebildet; allein hieran schließen sich alle sogenannten höheren Verstandesthätigkeiten, welche aus Combinationen jener Eindrüke Kenntnisse von der Natur der Dinge constituiren. Von der Befugniß hiezu metaphysich zu reden gehört gar nicht hieher, allein das Factum betrachtet müssen wir diese Thätigkeiten nur ansehn als eine Fortsezung von jenen. Denn sie beruhen ganz auf ihnen, ihrem Inhalt nach drüken sie auch die Dinge aus, ohne doch daß eine neue Einwirkung der Dinge hinzukäme, also kann man sie nur als gesteigerte Thätigkeit der Seele im Aufnehmen betrachten. 1 elementaren] folgt )nach*

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36 also kann] über )sondern*

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Zur ausströmenden Thätigkeit gehört alles von den Menschen ausgehende Bilden und Beherrschen; alle Veränderungen welche wir in den Dingen bewirken. Diese sind von den Dingen abhängig sofern sie gegenwirken mit stärkerer oder schwächerer Empfänglichkeit aber sie drücken ganz die Natur der Seele aus, wo wir sie in den Dingen | finden da erkennen wir den Menschen. Das kleinste und vergänglichste sind die bloßen Aeußerungen innerer Zustände in Bewegung und Gebärde; in diesen liegt eine auf ein Empfangen menschlicher Sinne berechnete Einwirkung, welche wenn sie empfangen wird ebenfalls in dem Empfangenden das Sein des Einwirkenden wie es eben bestimmt ist ausdrükt. Das maximum sind die großen Denkmäler des menschlichen Daseins, die durch den Menschen fortgesezte und vollendete Erdbildung. Die Seele ist hier ursprünglich ausströmend, aber der Bestimmtheit ihrer Einwirkung liegt ein mehr oder minder hervortretendes Urbild zum Grunde, welches dem Inhalt nach ganz gleich ist mit den Bildern und Gedanken welche durch die Betrachtung der Dinge entstehen, und nur durch die verschiedene Entstehungsart und Beziehung indem das eine Anfang ist, das andere hingegen Ende könen beide unterschieden werden, so daß beide Reihen einander berühren[.] In dem aufgezeigten liegt die geistige Vollendung beider Reihen wo liegt der am meisten leibliche Anfang. Die Luft ist das allgemeine Chaos, die Auflösung aller Elemente wenn man auf den Inhalt, und das ewige Fluctuiren wenn man auf die Form sieht. Die Respiration ist das Sein der Luft in uns, die eine Grundlage des Lebens ohne alles eigene geistige Resultat. – Durch alles Bilden werden die Dinge in das Gebiet des Menschen hineingezogen; er kann aber nicht leben ohne sie auf animalische Weise auf das allerinnigste in sein Gebiet hineinzuziehn im Assimilationsprozeß die andere Grundlage des Lebens ohne alles eigene geistige Resultat aber offenbar auf der Seite der ursprünglichen Thätigkeit liegend. Das physische Leben ist also ebenfalls aus beiden zusammengesezt[.] Wir haben noch einen untergeordneten Gegensaz aufgefunden weil nämlich jedes Glied aus zwei Factoren besteht, deren jeder auf beinahe Null gebracht werden kann. Ein Gesichtseindrukk z. E. wird in der Regel Wahrnehmung; je vollkomener diese ist, um desto mehr geht die ganze Seele in dem Ausdruck der Beschaffenheit des Dinges auf; die reinste Anschauung ist das vollkommenste sich selbst vergessen. Ist der Eindrukk zu stark und blendet so geht die Wahrnehmung ganz verloren, es bleibt nur der Zustand der Seele, das Gefühl übrig, und das reinste | Gefühl ist das vollkomenste Vergessen des einwirkenden Gegenstandes. Eben so in der ausströmenden Thätigkeit. 20 die] korr. aus Q R

34 Gesichtseindrukk] Gesichts korr. aus Q R

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Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

Wenn die Veränderung in den Dingen dem innern Urbild vollkomen entspricht so verschwindet es auch vollkommen in seinem Abbilde und kein Bewußtsein desselben bleibt übrig, entspricht es nur unvollkomen so wird das Urbild imer wieder aufs neue producirt. Diese Unvollkommenheit kann man sich nun zunehmend denken so daß an dem angestrebten Gegenstande gar nichts hervorgebracht wird dann bleibt nur das Bild als ein thätiges Ausströmen übrig und dies ist der Zustand der Begierde die sich zum Werk verhält wie Gefühl zur Wahrnehmung. Aber Begierde und Gefühl stehn einander auch so nahe daß sie nur durch ihre Entstehungsart können bestimmt unterschieden werden. Nehmen wir nun dieses zum vorigen hinzu so müssen wir sagen daß alle Seelenthätigkeiten von denen jezt die Rede sein kann unter diesen Formen müssen begriffen sein[.]

[90] Den physiologischen Anfang lassen wir vorläufig. [Hypothese über den Unterschied des thierischen. Das nicht allgemein geöfnetsein des Sinnes und die Verworrenheit von Sinn und Gefühl]. Der specielle Sinn und der allgemeine Sinn, (Hautsinn). Lezterer der Atmosphäre zugewendet, und bestimmt zu Vorstellungen. Klassification des speciellen Sinns nach den Thätigkeiten. Sinne die mehr dem Gefühl und die mehr der Vorstellung angehören. Falscher Vorzug und wahrer. [...]

XIII. Wir fangen an mit denen Thätigkeiten wobei die Seele Einwirkung suchend sich hernach nur gegenwirkend verhält. Die höhere Stufe derselben enthält die Resultate welche angesehen werden als solche wozu sich die Seele nicht des Leibes bedient hat allein wir können diese – das reine Denken – nicht isoliren und wir fangen also an bei derjenigen Stufe wo der Leib thätig ist. Die physiologischen Anfänge machen wir zwar nicht zum Gegenstand unserer Betrachtung abstrahiren aber auch nicht ganz von ihnen. Das System der organischen Veranstaltungen durch welche Einwirkungen aufgenommen werden heißt die Sinne[.] Am leichtesten empfiehlt sich zur Uebersicht die Eintheilung in specielle Sinne und 8 wie] folgt )Wahrne* 15–21 Den ... [...]] Textpassage durch drei leicht schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk. Eckige Klammern mit drei Punkten im Manuskript, vermutlich Einfügungsmarkierung für Textzeilen 15–17 [Hypothese … Gefühl] 15–17 [Hypothese ... Gefühl]] eckige Klammern im Manuskript 25 allein] korr. aus Q R

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einen allgemeinen. Die ersten sind an bestimmte Organe gewiesen die 5[.] Der lezte an die ganze der Außenwelt zugekehrte Oberfläche des Körpers, der Hautsinn[,] die ersten empfangen einzelne sich besonders herausbildende Einwirkungen. Der lezte ist nur der Atmosphäre, dem | chaotischen Ineinandersein aller Thätigkeits Elemente zugewendet, und empfängt nur unbestimmbare Einwirkungen aus dieser. Der Gegensaz ist freilich nur ein fließender; denn der Tastsinn ist auch nicht mehr einem bestimten Organ ausschließend zugewiesen, wir können wenn auch nicht eben so gut doch auch mit der übrigen Haut tasten als mit den Fingerspizen und auch die Eindrücke des Tastsinns sind nicht so bestimmt nicht so in Reihen gebracht wie die der andern. Ja schon das Gehör hat außer dem Ton das Geräusch welches unbestimmbar ist aber nur als ein Gewirr von Tönen angesehen werden kann. Die Sinne komen hiernach so zu stehn. Gesicht am entschiedensten speciell, im gesunden Zustande durch kein anderes Organ zu ersezen, nur die Modificationen des Lichts wahrnehmend welche in bestimmte Farbenskalen gehn; Das Gehör, eben so bestimmt an das Ohr gebunden das ganze Tonsystem wahrnehmend[.] Dann Geruch, Geschmak, Getast und Hautsinn[.] Die speciellen Sinne erscheinen gewöhnlich ganz fragmentarisch und zufällig und man hat wol den Gedanken geäußert, ob nicht unsere ganze Weltvorstellung eine andere sein würde wenn wir ein Paar Sinne mehr hätten, ein Gedanke welcher voraussezt es gäbe Einwirkungen von den Dingen aus, denen in uns keine Empfänglichkeit entspräche. Allein wenn man bedenkt daß wir unmittelbar durch die Sinne nicht die Natur der Dinge vernehmen sondern nur Thätigkeiten, so sind wir nicht an die Unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge gewiesen, sondern nur an die verschiedenen Arten der Thätigkeit und von da ergiebt sich eher die Möglichkeit die Sinne als einen geschlossenen Complexus zu erklären. Der Hautsinn wird von den Regungen des allgemeinen Lebens in der Atmosphäre afficirt. Der Tastsinn hängt mit der magnetischen Thätigkeit zusamen, im weitern Sinn in welchem er das Princip der Cohäsionsverhältnisse ist denn alles was der Tastsinn wahrnimmt geht darauf hinaus. Geschmak und Geruch hängen jener mit dem Chemischen Prozeß | dieser mit der elektrischen Thätigkeit zusamen[.] Dies scheint am wenigsten klar; allein man muß die Einwendung nicht davon hernehmen 2 Oberfläche] Ober korr. aus Q R

3 empfangen] em korr. aus QhabR

20–24 Anspielung auf Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, I,97; Opera [gr./lat.] Leipzig 1718, S. 26 [SB 1828]; Opera, Bd. 1–4, ed. J. Mau / H. Mutschmann, Leipzig 1958–1962, hier Bd. 1: Pyrroneion hypotyposeon. Libros tres continens, 1958, S. 26

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daß wir elektrische Schläge fühlen; denn diese sind Explosionen den Blendungen gleich die auch das eigentliche Organ schließen[.] Es ist aber nicht zu läugnen daß die riechbaren Ausflüße Hydrogenisationen sind, und diese besonders mit dem elektrischen so wie die schmekbaren Oxydationen sind und diese besonders mit dem chemischen Prozeß zusammenhängen. Uebrigens sind auch Geruch und Geschmak eben so verwandt eben so sich gegenseitig erregend wie Elektricität und Chemismus. Läßt sich nun diese Ansicht, die so sehr viel für sich hat bisher aber von den Physiologen nur nebenbei ist vorgetragen worden, begründen so erscheint das specielle Sinnensystem als ein abgeschlossener Complexus, in dem andere Thätigkeitsformen in den Dingen uns nicht bekannt sind. Es ergiebt sich aber wenn wir die speciellen und den allgemeinen Sinn zusammennehmen noch eine andere Differenz, die ebenfalls einen fließenden Gegensaz bildet, nämlich daß einige Organe mehr der Wahrnehmung andere mehr dem Gefühl angehören. Als Endpunkte stehn auch hier auseinander Gesicht und Hautsinn. Denn Gesichtseindrüke enden nur in Gefühl bei einem offenbaren Mißverhältniß zum Organ bei Blendung durch allzu starke Lichtmasse als bei Augenschwindel durch allzu schnelle Bewegung der Lichtstrahlen[.] Die Eindrüke des Hautsinns werden im gesunden Zustande unmittelbar nie Wahrnehmungen, sondern immer nur Gefühl. Gehör steht zwar dem Gesicht am nächsten, jeder einzelne Eindrukk wird in der Regel auch Wahrnehmung, zurükgeworfen auf den Gegenstand welcher tönt; aber eine größere Folge von Eindrücken lenkt uns von der Wahrnehmung zum Gefühl über, am meisten zwar wenn die Eindrüke rein musikalisch sind, doch auch sonst. Geruch und Geschmak sind gleichsam neutral; die Einwirkungen werden nicht auf den Gegenstand zurükgeworfen sondern in den Organen empfunden also als Gefühl. Im Tastsinn ist das Zurükwerfen nicht möglich weil er alle Entfernung aufhebt aber doch bildet sich als Wahrnehmung aus was nicht Verlezung wird aber alle äußern Verlezungen | gehen dafür durch den Tastsinn. Diese sind Gefühle aber weit bestimmtere und mehr lokale als die durch den Hautsinn. Aus diesen Zusammenstellungen hat man eine Skala der Sinne nach ihrer Vorzüglichkeit entworfen, worin einiges wahr ist, manches aber auch ganz falsch. XIV. Man hält durchaus Gesicht und Gehör für höhere und edlere Sinne weil das Gesicht uns allein über die Erde hinaus führt und das Gehör uns allein die Gedanken der Menschen offenbart. Allein das 1 Schläge] Sch korr. aus Ex 2–6 Vgl. Steffens (1816), S. 157–158

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Gesicht verkündet uns nicht daß die Sterne weit jenseit der Atmosphäre liegen sondern heftet sie an diese an und die Offenbarung der menschlichen Gedanken beruht doch auf dem Sprachvermögen nicht auf dem Gehör. Dann wieder sieht man Geruch und Geschmak entschieden als niedere Sinne an. Daß es weichlich ist sich den Eindrükken dieser Sinne hinzugeben sofern sie Lust und Unlust erregen ist gewiß; aber diese Hingebung liegt nicht im Sinn, und eine ethische Beurtheilung gehört nicht hieher. Sofern aber diese Sinne sich überwiegend zum Gefühl neigen kann man sie durchaus nicht niedriger stellen, weil das Gefühl eben so unentbehrlich ist und eben so sehr unser Wesen ausdrükt. Denn es giebt ohne den Wechsel beider keine Begrenzung der Momente und ohne Gefühl auch keinen Uebergang vom Anschauen zum Handeln. Will man sie aber zurükstellen in Bezug auf das was sie als Wahrnehmung leisten so ist allerdings wahr, daß sie uns die Gegenstände nur darstellen sofern sie im Vergehn sind. Allein das heißt auch nichts anderes als daß sie mehr dem allgemeinen Leben zugewendet sind und weniger dem speciell gesonderten Dasein. Man kann deshalb freilich sagen daß diese Sinne minder fruchtbar sind aber das gilt nur vom gegenwärtigen Zustand, und man sollte sie also nicht zurüksezen sondern zu vervollkomnen suchen wie sie denn in der Naturforschung und besonders in der Chemie vortrefliche Dienste noch leisten könen. Keinesweges aber sollen wir es als einen Vorzug des Menschen ansehn daß die Sinne welche bei den Thieren hervortreten bei uns | zurükweichen. Denn ein Zurüktreten irgend einer Kraft kann nie ein Vorzug sein, sondern nur ein Mangel. Dies führt – was auch sonst zunächst in dem Gang der Untersuchung liegt – auf den Unterschied zwischen dem menschlichen und thierischen in diesen den physiologischen Antheil in sich tragenden Stuffen der aufnehmenden Thätigkeit. Ich finde ihn in zweierlei. Einmal darin daß ihr Sinn im Ganzen weit weniger geöfnet ist als der unsrige. Die meisten Dinge sind ihnen gleichgültig, und wenngleich die erste organische Wirkung erfolgt, so reagiren sie gar nicht dagegen und es wird also nichts bestimmtes daraus. Wir haben gar nicht Ursach anzunehmen daß sie das wirklich sehen und hören was ihnen vollkommen gleichgültig ist; sondern wir tragen nur allzuleicht auf sie das unsrige über. Ihre Welt ist beschränkt weil ihr Sinn nicht weiter geht als ihr Instinkt. Die leztere Annahme stimmt auch allein mit dem aufgestellten Princip, daß die aufnehmende und die ausströmende Thätigkeit Eines ist. Des Menschen Sinn ist allgemein, der Gegenstand desselben die Totalität, weil sein Trieb allgemein ist, des Thieres Sinn ist beschränkt, weil sein Trieb beschränkt ist, und umgekehrt. Die 30 weniger] korr. aus Q R

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zweite Differenz ist daß Wahrnehmung und Gefühl sich beim Thiere nicht so bestimt scheiden. Niemand schreibt dem Thiere ein Ich sezen zu, und doch schreiben wir ihm oft bestimmte Vorstellungen der Dinge zu. Eines ist aber wesentlich durch das andere bedingt. Ohne die verschiedenen Momente eben so auf das Ich zu beziehn können auch die verschiedenen Wahrnehmungen nicht eben so auf den Gegenstand bezogen werden. Wir können allerdings nie zu bestimmten und sicheren Vorstellungen über den Seelenzustand der Thiere komen und das ist auch, da wir nicht auf sie zu wirken haben gleichgültig. Zu beobachten ist es nur wegen der Rükwirkung auf unsere Vorstellungen von unsern eigenen Zuständen. Wenn nun sowol die Welt auch dem Menschen sich erst allmählig öffnet und er auch nur allmählig Ich und Dinge scheidet so müssen wir doch annehmen daß auch die unvollkommensten menschlichen Sinnes Thätigkeiten schon die Fähigkeit dieser Erweiterung in sich schließen und | also niemals den thierischen gleich sind. Aus dem wirklich thierischen könnte nie das menschliche werden.

[91] Ueber die falsche Vorstellung einer sinnlichen Einheit zu den fünf Sinnen[.] – Ueber die Combination der einzelnen Sinne, und ihren Ursprung. – Ueber die Differenz zwischen leitenden und folgenden Sinnen – zwischen ruhigen und revolutionären Sinnen. – Ueber den allgemeinen Sinn, dessen Verhältniß zur Respiration[.] – Warm und kalt, feucht und troken. – Ueber den Anfang des psychischen in den Sinnen; nemlich in der Gegenwirkung. – Geheimnißvolles darin. – Ueber das Vikariren der Sinne. Tastsinn ist der Hauptvikar. Erklärung davon. – Ueber die Frage ob die Sinne irren können.

XV. Eben so schwierig ist die Frage wo denn das psychische anfängt, weil es keinen Theil der Thätigkeit giebt, der nicht mittelst des Organs erfolgte. Am meisten verleitet hier das Auge; wir halten das Bild welches wir im Auge sehn für das lezte organische und also das Wahrnehmen des Bildes für das eigenthümliche der Seele. Allein erstlich wissen wir nicht ob wir nicht das Bild erst hineinsehn und ob es wol sonst da wäre und dann ist auch mit gleichem Recht eine Unendlichkeit in einandergeschobener Bilder da, welche doch von der Seele nicht 18–26 Ueber … können.] Textpassage durch drei leicht schräge Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk

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wahrgenommen werden. Ueberhaupt aber erklärt der Gedanke, Wahrnehmen des Bildes gar nichts da wir ja nicht das Bild im Auge sehen sondern das Bild außer uns. Dazu kommt noch daß es offenbar ein Sehen giebt ohne Bild im Auge, nemlich das Sehen der Einbildungskraft und eben so ein Hören der Einbildungskraft ohne Erschütterung des Ohres durch äußere Luft. Beides würde gar nicht hieher gehören, indem es eher der andern Reihe zuzuschreiben ist, wenn nicht auch hier die Mitwirkung des Organs zu spüren wäre. Diese merken wir beim Ohr weniger weil wir es nicht verschließen könen, und das Innere Hören ist auch leichter zu erklären weil es desto besser wird wenn wir dabei die Thätigkeiten der Stimmwerkzeuge | angeben; beim innern Sehen aber welches desto besser geräth wenn wir das Auge verschließen fühlen wir eine Anstrengung des Auges, die eine ganz andere Empfindung ist als welche aus dem unthätigen Schließen des Auges entsteht. Die Bilder und Töne selbst sind nur bleicher theils weil sie außer Zusammenhang mit anderm Gesehenen und Gehörten stehn, theils weil die gewöhnliche Erregung des Organs fehlt. Hier also tritt die Function des Bewußtseins ein ehe und ohne daß die organische auf die gewöhnliche Weise vollendet ist. Also wir könen die Thätigkeit nicht in ihrem ganzen Verlauf verfolgen sondern nur die beiden Enden von denen das eine ohne Zweifel organisch das andere ohne Zweifel psychisch ist. Das lezte wissen wir daher weil die Zurükwerfung des Bildes und Tons in eine gewisse Entfernung gar nicht eine Sache des Sinnes selbst ist, sondern nur der Uebung und der Combination, die uns aber so früh entsteht, daß wir uns ihrer nicht mehr bewußt sind. Gesehn wird alles ursprünglich auf Einer erleuchteten Fläche. Halbkugel, und eben so gehört von einer tönenden Halbkugel, und die Gegenstände innerhalb dieser verschieden zu stellen, lernen wir erst wenn wir den Raum durch Entfernung messen und ihnen einen körperlichen Raum beilegen lernen wir erst durch den Tastsinn. Daß so das ganze Geschäft nie durch Einen Sinn allein vollendet wird, hat die Meinung veranlaßt, als sei von diesen 5 Sinnen jeder einzelne nur eine Fraction und als gäbe es eigentlich nur Einen Sinn. Allein hiebei geht der eigentliche Begriff verloren, weil es für die 5 zusammen keine gemeinschaftliche Einheit des Organs giebt als das ganze Gehirn, welches zugleich Organ aller spontanen Thätigkeit ist. Wenn man den Sinnen auf der einen Seite zu wenig zuschreibt und sie für zufällig hält, so thut man auf der andern zuviel, und will sie für Einen halten. Bleibt man dabei stehn, daß jeder einer eignen Naturthätigkeit zugewendet ist so begreift man daß sie ein System | sind, und begnügt sich damit daß sie getrennt bleiben. Ihr Zwek ist gar

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nicht die Gegenstände zu zeigen diese bilden das Verhältniß des speciellen Lebens zum allgemeinen, und wir gelangen zu ihnen nur durch diejenigen Thätigkeiten welche wir dem Verstande zuschreiben. Den Sinnen kommt nichts zu als uns die verschiedenen Naturthätigkeiten zu zeigen. In dem Uebergang aber hievon zu dem Geschäft der Erkentniß der Gegenstände giebt es eine verschiedene Verwandschaft nach welcher die Sinne sich untereinander erregen, und ein verschiedenes Verhältniß in welchem die einen leitende sind und die andern folgende. Und hierin zeigt sich ein constanter Unterschied des Menschen von den Thieren. Bei den Thieren ist der Geruch der herrschende Leitsinn bei den Menschen kann er es nie werden, beides wegen seiner Indiferenz zwischen Wahrnehmung und Gefühl. Sondern bei dem Menschen ist zuerst das Auge leitend, und der Tastsinn folgt; dann wird auch das Gehör leitend und das Auge folgt; Der Tastsinn folgt am allgemeinsten und ruft sich nur Geruch und Geschmak zu Hülfe welche nie leitend werden. Nach dieser Ansicht nun ist auch die Frage zu beantworten in wiefern die Sine irren. Die allgemeine Bejahung und die allgemeine Verneinung müssen beide falsch sein. Der Irrthum ist imer nur an der Wahrheit und es wäre schlimm wenn die Sine allein die Wahrheit haben und der Verstand den Irrthum allein erzeugen müßte. Sondern es wird mit den Sinnen sein wie überall, wo wenig Wahrheit da kann auch wenig Irrthum sein, wo aber viel da auch viel und diesen Unterschied muß man beachten.

[92] Unterschied zwischen dem Irrthum aus Sinnenschwachheit und aus Urtheil – Theätet. – Uebergang in die höhere Stufe. – Irrthum durch das Medium. –

[93] Von Menschen welche mit wenig Gedächtniß auskommen weil sie nur auf das Allgemeine ausgehn[,] die aber doch immer in Verlegenheit sind sich zu rechtfertigen.

25–27 Unterschied ... Medium. –] Textpassage durch drei fast senkrechte Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 25–26 Vgl. Platon: Theaitetos 142a–210d; Opera 2,45-195; Werke 6,1–217

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[94] Mancher Irrthum ist ohne die innere Nachbildung eines angestrebten, also ohne inneres Sehen, Hören, nicht zu erklären. [

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XVI. Wenn man die Sinne von allem Irrthum befreien will so ist die Absicht wol die die Natur zu rechtfertigen daß ihre ursprünglichen Einrichtungen mit der Aufgabe des Menschen übereinstimen und daß der Mensch sich die Lösung derselben nur durch die Fehler welche er selbst in seiner freien Thätigkeit begeht erschwere. Wahr aber ist die Behauptung nur von der Sinnesthätigkeit welche Gefühl wird; denn diese sagt nichts als den eignen Zustand aus. Das kann man aber von den wahrnehmenden Thätigkeiten nicht sagen aber auch nicht daß aller Irrthum erst vom Verstande ausgehe. Denn das Zurükwerfen des Bildes vom Auge in den äußern Raum in welchem immer schon die meisten Fehler gemacht werden ist doch die Thätigkeit des Sinnes selbst, wenngleich mehr seiner psychischen Seite als seiner organischen. In dem anfänglichen Sehen und Hören der Kinder ist wenig Wahrheit aber auch wenig Irrthum; je mehr sie combiniren um desto mehr wächst beides. Die Irrthümer aber welche aus Schwachheit der Sinne entstehen, das indifferente Verhältniß solcher Eindrüke deren Gegenstände noch im klaren Sinnenkreise liegen und solcher die außerhalb zu ihren Gegenständen diese kommen doch offenbar auf Rechnung des Sinnes. Der Verstand kann hernach diese Irrthümer verificiren, wenigstens durch Zurükhaltung des Urtheils vermeiden aber daraus folgt nicht daß der Sinn sie nicht begeht. Andere Irrthümer gehen aus von der Vermischung des innern Sehens und Hörens mit dem äußern in einem Zustande des Verlangens, und sind eine offenbare Verfälschung der Sinnesthätigkeit wenngleich sie durch eine andere Seelenthätigkeit entstanden ist[.] – Aus jenen Irrthümern welche aus der Schwachheit des Sinnes entstehn und sich bei Abnormitäten des Sinnes noch besonders gestalten ist man auf den skeptischen Gedanken gekomen ob überhaupt wol die Eindrüke dieselben wären und nicht wo Farben und Töne mit denselben Namen belegt wären wie sie doch vielleicht ganz anders sehn und hörn. Aber es ist hier kein Grund die allgemeine Analogie in Zweifel zu ziehn. Es giebt allerdings wol Differenzen aber sie sind entweder Krankheiten oder Nationalitäten. So würde es wol unmöglich sein das Farben Schema der alten auf das unsrige zu reduciren, und vielleicht möchte es sich mit den 1–2 Mancher ... erklären.] Textpassage durch vier fast senkrechte Striche markiert, vermutlich Erledigungsvermerk 18–19 deren Gegenstände] über )die* 22 des] folgt )Irrthums*

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Geschmäckern eben so finden. Dies hat | vielleicht seinen Grund nur darin, daß beim Sehn z. E. außer der Farbe noch der Glanz zu betrachten ist, und das Organ so gebaut sein kann den lezteren Factor stärker hervorzuheben als den ersteren. Dies alles würde nun dahin führen die hinzukommenden Seelenthätigkeiten, die Begriffsbildung p. hier anzuknüpfen, wenn es nicht besser schiene auch die andere Seite des Sinnes, die Gefühl werden will erst eben so weit zu bringen. Diese haben wir zunächst in dem allgemeinen oder Hautsinn. Er ist der Respiration als der niedrigsten physischen Grundlage dieser Seite offenbar verwandt, und man kann eben so gut sagen die Respiration sei ein centralgewordener Hautsinn als der Hautsinn sei eine peripherisch gewordene Respiration, wenngleich die Lunge keine Haut ist und die Haut weder pulsirt noch vielleicht materiell aufnimmt sondern nur dynamisch afficirt wird. Denn der Hauptpunkt ist nur das unmittelbare und ausschließende Verkehr mit der Atmosphäre. Was von der Atmosphäre auf die Haut wirkt das können wir in den alten elementarischen Gegensäzen auffassen die wahrscheinlich von hier genommen sind, Warm und kalt, feucht und troken. Wie dieses wirkt, das gehört zur physiologischen Seite, und kann hier nicht nachgewiesen werden. Unmittelbar aber wird empfunden durch diese Einwirkungen eine Förderung oder Hemmung der Lebensprocesse mit einem erheiternden oder deprimirenden Gefühl. Es werden jedoch dieselben Einwirkungen, wenn sie eine Zeitlang unverändert fortgedauert haben, gleichgültig indem sich ein Gleichgewicht zwischen außen und innen, und ein gewohnter Zustand herstellt. Dies gilt allgemein von aller Lust und aller Unlust, und sind dieses die Grundformen aller Gefühle.

[95] Die allgemeinen atmosphärischen Einwirkungen sind die chronischen. Die durch die Specialsinne sind die acuten. – Ueber das revolutionäre dieser Eindrüke. – Glanz und Geruch verbinden. – Ueber die Eigenthümlichkeit der Gehörsgefühle. – Ob die Thiere Geschmaksgefühl haben? wenig oder nichts. – Alles untauglich, aber auch unübertragbar[.]

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[96] Die Treviranussche Temperamentslehre sagt die Temperamente antworten absolut ungleich. Denn kleine Re|ceptivität und kleines Reactionsvermögen ist ein minimum von Leben, starke und großes ein maximum wozwischen die anderen mitlern innen[.]

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[97] Einzelne Wahlverwandschaften z. E. Freundschaft treten um so mehr hervor als die Gesezmäßigkeit eines großen Zusammenlebens zurüktritt.

[98] Mit dem Gefühl komen wir auf den Keim eines Nacheinander; es knüpft sich eine andere Reihe an von dem einen als von dem andern[.]

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[99] Das Gehörgefühl grenzt wegen seiner Amphibolie schon an das höhere Gebiet.

XVII. Wenn nun das Wesen des angenehmen und unangenehmen im erhebenden und deprimirenden besteht, und das durch den Hautsinn erregte Gefühl ein allgemeines ist: so muß es auch auf alle Functionen ursprünglich gleichmäßig gehn, und nur in jedem Einzelnen ein anderes werden je nachdem in jedem die Functionen in einem andern Verhältniß stehen. Es geht also auch auf die andere Seite derselben Function und zeigt sich als eine größere Leichtigkeit oder Schwierigkeit des Wahrnehmens. Dieser Einfluß des Gefühls auf die thätigen Functionen ist das was wir Stimmung nennen. Man hält es gewöhnlich weil der Mensch in sich abgeschlossen und selbständig sein soll für Zeichen einer schlechten Seele wenn im Leben viel Stimmungen vorkomen. Aber mit Unrecht denn er soll auch das Sein in sich abspiegeln und also auch die Relationen anderes Seins und vorzüglich des allgemeinen Lebens mit dem seinigen. In wiefern also die wahrnehmende Thätigkeit aufnehmend ist, müssen sich die Stimmungen in ihr spiegeln. Die 1 Treviranussche] Treviramussche 1–4 Vgl. Treviranus (1802), Bd. 1, S. 70–71

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Schlechtigkeit kann nur darin bestehen wenn weniger Reaction dagegen stattfindet überhaupt wenn weniger Thätigkeit gesezt ist. Denn darin freilich besteht das vollkomnere Heraustreten des einzelnen Lebens. Dies bestätigt sich durch die Vergleichung mit den Thieren, die Thiere haben gar keine Stimmung. Weder ihr Instinktgebiet wird erweitert noch die Welt ihres äußern Sinnes. Freilich schließt sich ihnen diese bei ungünstigen Einwirkungen der Atmosphäre ganz zu z. E. im Winterschlaf; allein dies ist durch kein Gefühl vermittelt; es ist unmittelbar das Sein der allgemeinen Lebenspotenzen in ihnen, und zeigt eben, daß sie nicht in einem so starken Gegensaz dagegen hervorgetreten sind. Bei ihnen finden sich Hemmungen der bewegenden und wahrnehmenden Kräfte nur durch bestimte specielle Einwirkungen und zwar die der Gattung feindselig sind, wie in der Nähe von Raubthieren wo man gar nicht ein Resultat aus der Wahrnehmung an|nehmen darf sondern ein reines Gefühl. Hier waltet nur der Gegensaz zwischen einem speciellen Leben und dem andern. Die Gefühle durch den allgemeinen Sinn sind bei uns chronisch (wogegen die durch die speciellen acut sind). Man kann dieses bis so weit erweitern daß man die geringeren Fähigkeiten der Polarnationen als chronische Uebel ansieht, die allmählig erblich geworden sind. Diese Ansicht ist nicht schlechthin falsch aber auf jeden Fall nur einseitig. Man kann nach derselben voraussezen jeder Lappländer wurde eben so empfänglich geboren als wir, aber er verfiel von Jugend an durch die ungünstigen Umgebungen in diese chronische Krankheit. Die speciellen Sinne haben wir nun getheilt in solche die ursprünglich dem Gefühl wenig darbieten und in solche welche indifferent sind gegen Wahrnehmung und Gefühl. Zu den ersten gehören Gesicht und Getast; aber auf entgegengesezte Weise indem die Gesichtseindrüke aus objectiven Gründen Gefühl werden, die Getastseindrüke nur aus subjectiven. Gesichtseindruk wird Gefühl bei Blendung. Die Wirkung auf jeden unendlich kleinen Theil des Organs ist zu stark als daß sie könnte in eine wirksame Einheit zusammengefaßt werden. Dieses unendlich viele im endlich kleinen macht also die Wahrnehmung cessiren und bleibt nur für das Gefühl übrig als Bewußtsein der Unfähigkeit des Organs. Wenn wir hievon zurükgehn müssen wir aber auf einen Punkt komen wo auch für das Gesicht Wahrnehmung und Gefühl zusammen sind. Bei einem hohen Grade von Erleuchtung sehn wir sehr scharf, darum tritt manches was sich sonst verbirgt mit vors Gesicht, die Wahrnehmung ist erhöht. Damit verbindet sich das Ge18 sind).] sind.)

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fühl einer erhöhten Lebensthätigkeit, so wie ein solcher Grad der Dunkelheit wobei wir das Wahrnehmen wollen nicht aufgeben können und doch auch nichts zu Stande bringen [was] das Gefühl einer verminderten Lebensthätigkeit hervorbringt. Jenes Gefühl von Fülle schwebt aber zwischen angenehm und unangenehm, indem eben das stärkere Heraustreten zu immer weiterer Theilung der Wahrnehmung auffordert und uns also ebenfalls der Unmöglichkeit der Lösung entgegenführt. Allein diese Punkte sind nur sehr beschränkt und darin so wie darin, daß das Gefühl immer von dem Wahrnehmen wollen und können ausgeht, zeigt sich der angegebene Charakter des Gesichts sehr deutlich. – Die Eindrücke des Tastsinns werden durch die Beschaffenheit der Einwirkung in keinem Falle in Allen Gefühl. Aber wol haben Viele Menschen bestimmte Eindrüke die bei ihnen Gefühl werden und zwar unangenehme sowol als angenehme. Mancher kann keinen Sammt anfassen (das angenehme im Betasten menschlicher Oberfläche habe ich | nicht angeführt weil es wahrscheinlich auch nicht hieher gehört.) Alles scheint nur Gefühl zu werden durch Idiosynkrasie. Das Gefühl ist dann schnell vorübergehend aber heftig. – Geschmack und Geruch sind in der Indifferenz und zwar so daß Wahrnehmung und Gefühl einander nicht ausschließen sondern in einander sind. Es giebt streng genomen keinen Geschmakseindruk der nicht angenehm oder unangenehm wäre. Aber das Gefühl entsteht durch die Seite wo dieser Sinn mit dem Getast zusammenhängt, denn es ist auch nichts objectives darin, sondern lauter Idiosynkrasie. Der eine liebt sauer der andere süß. Die häufige Neigung zu den Geschmakseindrücken, da doch die damit verbundene Wahrnehmung selten von Werth ist, erklärt sich am leichtesten daher weil es das sinnlichste Mittel ist sich seiner persönlichen Eigenthümlichkeit bewußt zu werden. Die Thiere haben daher auch wenig oder kein Geschmaksgefühl[.] Sie unterscheiden die Speise durch den Geruch und werden auch angelokt durch den Geruch. Darum probieren die Kinder alles. XVIII. Demnach ist im Geschmak der Anfang des revolutionären in den acuten Gefühlen. Im unangenehmen bildet der Ekel eine physiologische Revolution, im angenehmen die Lüsternheit eine psychische. Die Seele kann ganz in dieser Begierde aufgehn. Der Grund liegt in dem fast gänzlichen Mangel der innern Production. Man hat nur die Erinnerung des angenehmen im allgemeinen, nicht die specielle, und bei der großen Flüchtigkeit, mit der gewiß jener Mangel zusammenhängt will man also immer die Fortsezung. Uebrigens hängt die Lüsternheit weder mit der Wahrnehmungsseite zusammen, denn je 2 Wahrnehmen] en über )ung*

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mehr man kostend zerlegt um desto weniger entsteht Ekel oder Lüsternheit, noch auch mit dem Naturbedürfniß denn sie entsteht ohne dasselbe und dauert auch nach dessen Befriedigung fort. – Weit stärker ist das revolutionäre im Geruch. Nämlich anhaltende starke Gerüche besonders gewisser Art bringen einen Zustand hervor nach vielen Erfahrungen (die sich nur bei den großen Anomalien des Organs nicht willkührlich wiederholen lassen, in denen der Mensch aller optischen und akustischen Täuschungen weit fähiger ist als sonst. – Daß starke angenehme Gerüche dazu gehören, bleibt freilich eine lose Bestimmung, wie wir uns überhaupt in die physiologische Seite nicht einlassen können, da die meisten grade dieser narkotischen Gerüche wie Moschus nur gemäßigte unangenehme sind[.] – Die genaue Verwandschaft des Geruchs mit dem Hautsinn ist nicht zu verhehlen da er eben so genau mit der Respiration zusammenhängt, indem nur bei Gelegenheit des Athmens gerochen wird. Beides ist jedoch im Maaß von einander unabhängig. Denn wenn wir stark riechen wollen: so athmen wir nicht in demselben Verhältniß stark; das Athmen des riechbaren nimmt seinen Weg nach dem Gehirn. Und hieran knüpft sich die einzige freilich | nur hypothetische Erklärung die ich von der Wirkungsart des Geruchs zu geben weiß, daß nämlich die Einwirkung sich den inneren Organenden der andern speciellen Sinne mittheilt und zum innern Sehn und Hören aufregt welches dann mit dem äußern sich mischend die Täuschungen begünstigt. Es liegt hierin allerdings eine größere Hinneigung des Sinns zum Gefühl als zum Wahrnehmen die auch daraus hervorgeht daß die Wahrnehmungen des Geruchs sich nicht in Begriffe zusammenfassen lassen; diese Thätigkeit wird also nicht bis an ihr natürliches Ende verfolgt, und deshalb dringt um so leichter die andere vor. Die Gefühlsseite ist hier das specifisch menschliche, denn bei den Thieren geht der Geruch am meisten ins objective aus. – Es giebt also eine Skala in dem Einfluß des Gefühls auf die Wahrnehmung vom Hautsinn der die Function erleichtert oder erschwert durch den Geschmak der sie sistirt zum Geruch der sie umkehrt. – Uebrig ist noch das Gehör, welches auf eine zwiefache Weise in Gefühl ausschlägt. Einmal bei einzelnen Tönen theils durch Stärke und Schwäche nach der Analogie mit dem Gesicht, theils qualitativ bei Ton und Geräusch durch Idiosynkrasie nach Analogie mit dem Getast, dann aber in Zusammensezungen und einem währenden Wechsel von Eindrücken auf revolutionäre Art nach Analogie mit Geruch bis zur Erregung der stärksten Gemüthsbewegungen

6 nur] über )nach* 22 zum] korr. aus Q R 24 Sinns] über )Gefühls* 24 Gefühl] über )Wahrneh* 32 durch den] über )zum* 37 dann] davor )theils*

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und Leidenschaften. Man hat dies einerseits aus dem arithmetischen zu erklären versucht indem man die Seele die Schwingungen und die Differenz ihrer Verhältnisse zählend denkt[.]Allein das qualitative sowol als die Stärke und Schwäche wirkt ohne alles Zeitmaaß und da in der Zusammenstellung auch die reine Melodie ohne Harmonie wirkt, in ihr aber der Gegensaz von consonirend und dissonirend gar nicht heraustritt so muß man zu einer andern Erklärung seine Zuflucht nehmen. Diese hat man nun ganz auf der geistigen Seite gesucht, indem man den Ton als Aeußerung und also das dadurch erregte Gefühl als Mitgefühl ansieht. Allein theils kommt man selten darauf, daß der Anordnende sich in dem bestimmten Zustand befunden, sondern nur daß er einen bestimmten hat hervorbringen wollen, theils finden die Wirkungen auch wenngleich in geringerem Grade statt bei Tönen welche auf keine Person zurükzuführen ist, und wo die poetische Personification etwas weit späteres ist, ja auch | nur in geringerem Grade beim leblosem Geräusch.

[100] Selbst auf die Thiere wirkt Musik. Die Wirkung geht auf Bewegungen aus – vielleicht mit vom Pulse her, Oscillation, gilt auch von Höhe und Tiefe.

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[101] Recapitulation. Spiel beider Functionen, kleinliches Resultat. An der Grenze des Nacheinander und an der Grenze des höheren. Aber erst fortgesezt. Erste Frage ob (da alles auf Combinationen beruht) noch Dauer. Man kann nicht sagen es beruht alles auf Sonderung. Nur vom gleichartigen. Alles allmähliges Verfallen. Vom Nachempfinden. Ob man nöthig hat zu materieller Spur zu gehn. Die Seele muß sich selbst behalten.

1–3 Die Ansicht einer ‚anima numerans‘ vertrat Leibniz; vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Opera omnia, Bd. 1–6, ed. L. Dutens, Genf 1768 [SB 1126], hier Bd. 2: „La Musique nous charme, quoique sa beauté ne consiste que dans les convenances des nombres, & dans le compte, dont nous ne nous appercevons pas, & que l’ame ne laisse pas de faire, des battemens ou vibrations des corps sonnans, qui se rencontrent par certains intervalles. Les plaisirs que la vûe trouve dans les proportions, sont de la même nature; & ceux que causent les autres sens, reviendront à quelque chose de semblable, quoique nous ne puissions pas l’expliquer si distinctement.“ (S. 38; Principes de la Nature et de la Grace, Fondés en Raison, in: Philosophische Schriften, Bd. 1–5, Darmstadt 1985–1989, hier Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik, ed. H. H. Holz, 1985, S. 414–439, hier S. 436–437)

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XIX. Daß die geistige Erklärung nicht hinreicht sieht man daraus, daß musikalische Wirkungen auch bei Thieren vorkommen. Man muß also einen physiologischen Anfang suchen. Wenn man nun den Gegensaz betrachtet zwischen den Geruchswirkungen und Gehörwirkungen daß jene nur auf die Sinne gehn keine Gemüthsbewegungen erregen, diese hingegen grade in solcher Erregung sich zeigen auf die Sinne unmittelbar weniger wirkend und beobachtet wie die Wirkung auf das Herz besonders wahrzunehmen ist: so komt man leicht auf den Gedanken daß für diese ganze Einwirkung der Rhythmus die Hauptsache ist und der Wechsel der Höhe und Tiefe nur Nebensache. Aber auch die Höhe und Tiefe wirkt als Wechsel in der Spannung des medii, welche gewiß noch etwas anderes ist als die Schnelligkeit der Schwingungen. Der von außen eindringende Rhythmus wirkt also auf den innern. Daher auch die Wirkung am ungehemtesten ist wenn das Gemüth ruhig also zu jeder Schwankung geneigt ist jede schon vorhandene Stimmung aber (außer gegen das völlig gleichartige) eine Opposition bildet. Hiedurch erklärt sich auch die allgemeine Regung des Tanzenwollens nach der Musik. Da nun aber in jedem Fall kein Organ einen so großen Reichthum differenter Eindrüke über das Gewöhnliche empfangen kann als das Ohr, so erregt immer diese Fülle das Bewußtsein der Kraft, und auch die wehmüthigen Eindrücke sind nie unangenehm, sondern nur die Armuth z. E. die Eintönigkeit. Nachdem wir nun das Gebiet der Sinne soweit nach beiden Seiten durchmessen haben, ist uns im Vergleich mit dem was wir in der aufnehmenden Thätigkeit des Menschen als Resultat finden erst ein sehr kleines Resultat | gegeben, und alles andere muß also in der Fortsezung dieser Thätigkeit liegen. In dem bisherigen sind uns zwar allerlei Uebergänge gegeben, theils zum Nacheinander in der Seele mit seinen Verschiedenheiten wozu die Stimmungen führen, theils zur ausströmenden Thätigkeit wohin die Gemüthsbewegungen führen theils zu der Aufgabe dem Sinn auch das menschliche darzureichen. Allein dem angegebenen Gange nach wollen wir erst die aufnehmende Thätigkeit zu ihrem Ziel bringen. Bisher haben wir es nur mit den einzelnen Eindrüken zu thun gehabt, nun fragt sich zunächst wie bildet sich aus den gleichartigen Eindrüken d. h. aus dem Gebiet eines jeden Sinnes ein Ganzes. Und zwar haben wir es zunächst nur mit der Wahrnehmungsseite der speciellen Sinne zu thun. Festhalten der Sinneseindrüke oder sinnliches Gedächtniß. Hiebei kann man nun von zwei ganz entgegengesezten Voraussezungen ausgehn, es bilde sich durch Verknüpfung und es bilde sich durch Sonderung, die jede für sich einseitig und ungenügend sind. 38 Festhalten ... Gedächtniß.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen

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Man sagt nämlich das Wiederekennen desselben Gegenstandes und das Zusammenfassen mehrerer unter denselben Begriff entstehe da jeder Eindruk unmittelbar wieder verschwinde durch Wiedererwekung des ähnlichen und also Verknüpfung beider. Aber warum soll die Seele ehe sie die Gleichheit erkannt hat gerade diesen und keinen andern Eindruk wiederholen? man sezt also voraus was eben erklärt werden soll, daß die Gleichheit schon anderwärts her erkannt ist. Um nun dies zu vermeiden schiebt man den Grund auf die Dinge und sagt in der Einwirkung auf das Organ liege die Kraft den ähnlichen Eindruk hervorzurufen. Dies mechanisch genomen führt auf die materiellen Ideen, und diese Voraussezung widerspricht sich. Denn zwischen beiden liegen andere Eindrüke die nur in dem Maaß klar sein konnten als die Bewegung rein war d. h. die Spuren des vorigen verwischt waren; sollen also die Spuren bleiben so müssen die zwischen liegenden Eindrüke trüb gewesen sein. Je trüber sie aber sind desto weniger können sie selbst Spuren zurüklassen[.] Jeder aber ist selbst ein zwischenliegender. Also müssen alle Eindrüke trüb sein damit die andern zurükgerufen werden könen und selbst hell die andern aber trübe, damit sie selbst zurükgerufen werden können. Nimmt man es dynamisch so kann man am Ende auf nichts komen als daß der schon dagewesene Eindruk leichter wiedergemacht wird, und also dieser Leichtigkeit wegen als ein bekannter erschiene. Aber da es ein leichteres und schwereres Auffassen auch des noch ganz un|bekannten giebt so ist kein Mittel gegeben das leichte neue von dem schwerern alten zu unterscheiden[.] Auch fragt sich imer welches Element, des sichtbaren z. E. Gestalt oder Farbe beim zurükrufen dominiren soll warum einem nicht beim grünen alles grüne einfällt ehe auf die Gestalt genau geachtet wird und umgekehrt. Bedenkt man nun wie auf diese Weise auch der erste Eindrukk schon eine Combination als solche aber ein vielfältiges ist dessen Zusammenfassen erst erklärt werden muß: so kommt man auf die Voraussezung daß alle weiter fortgesezte Thätigkeit aus dem Sondern entsteht. Das ursprünglich wahrgenommene z. E. ist die bunte sichtbare Halbkugel und hörbare Halbkugel; eine Unendlichkeit wird zugleich gesehen und zugleich gehört, und aus dieser nach einem der Seele einwohnenden Gesez gesondert, jedesmal ursprünglich aber einmal wie das andere, und das Erkennen desselben 16 aber] über )also* 10–11 In dem Manuskript zur Vorlesung 1833/34 (vgl. unten S. 179) präzisiert Schleiermacher in ähnlichem Zusammenhang diese Bemerkung und verweist auf Platner. Vgl. Platner, Ernst: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Bd. 1–2, Leipzig 1793–1800 [SB 1488], hier Bd. 1, 1973 (Nachdruck) Brüssel 1968, S. 55

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Gegenstandes komme erst allmählig durch die Gleichheit in den vielfältigen Beziehungen heraus. Allein hier wird auch das zu erklärende vorausgesezt denn wenn die Seele vor der Abschließung bestimter Eindrüke schon im Besiz von Beziehungspunkten ist nach denen sie sondert so hat sie schon vor aller Sonderung gesondert. Beide Voraussezungen gehn offenbar zurük auf zwei auch entgegengesezte metaphysische, auf die Entstehung der Begriffe aus Abstraction und auf das Angeborensein der Begriffe, und wir würden also nur vergebens auf diese zurükgehn und müssen also einen andern Weg einschlagen.

[102] Man kann sich eben so aufgeben das Vergessen zu erklären da man ja bei der Successivität aller Eindrücke immer das vorher aufgefaßte behalten muß. – Jedes Behalten und begrenzen ist also zu erklären aus dem Verwachsensein mit einem gegenwärtigen. – Ob die Abwesenheit dabei mehr Unterschied mache als das Abziehn der Aufmerksamkeit. – Auch das Bemerken jeder Veränderung sezt schon das Behalten voraus. – Das Behalten wird nur unvollständig durch die Distraction[.] – Das Behalten ist nichts anderes als das innere Sehn und Hören. – Ausdrüklich zu bemerken daß nur von den permanenteren Eindrüken die Rede ist. – Auch das Wiedererkennen des Einzelnen ist nie Sprung durch Abstraction da man jedes immer in andern Zuständen findet[.]

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[103] Die Sprache ist nicht in einem andern Sinn aus den Interjectionen abzuleiten als sofern Gefühl und Wahrnehmung an diesen ersten Anfängen noch unaufhörlich ineinander übergehen[.]

XX. Zu bemerken daß bis jezt da von der Sprache noch gar nichts vorgekomen auch nicht von dem Festhalten des Gedachten durch die Sprache bezeichneten, sondern nur der primitiven Sinnes Eindrüke die Rede ist. Da es nun mit den beiden Voraussezungen nicht recht geht so muß man versuchen die ganze Frage umzukehren nicht das Behalten als dasjenige anzusehn was erklärt werden müsse, sondern das Vergessen. Dies ist dem natürlichen Gefühl ganz angemessen. Denn wir bewundern nicht wenn wir etwas behalten haben als sei darin besondere Kunst oder Glük sondern wir wundern uns verdrießlich

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wenn wir etwas vergessen haben. Auch ist leicht zu sehn, daß die Sache nur so gestellt werden kann. Denn wenn man vom momentanen Verschwinden der Wahrnehmung ausgeht so sezt man bei der Frage eine Einheit schon voraus zu welcher man unter dieser Voraussezung gar nicht hat kommen können. Die ursprüngliche Wahrnehmung Eines ganzen Gegenstandes ist auch ein successiver Act, man nimmt nicht alle Theile zugleich wahr; ist also die Wahrnehmung gleich verschwunden so hat man auch die ursprüngliche Wahrnehmung nur durch ein Zurükrufen[.] Also muß die partielle Wahrnehmung nicht verschwunden sein. Dasselbe z. E. wenn man das Anschwellen des Tons wahrnimmt; denn das schwächere ist nicht mehr da, wenn das stärkere kommt. Ja dasselbe gilt von der Wahrnehmung jeder Veränderung an einem Gegenstande. Denn wenn ein sich bewegender Gegenstand am zweiten Orte wahrgenomen wird, so ist die Wahrnehmung desselben am ersten Orte nicht mehr und ohne ursprüngliche Dauer kann nur wahrgenommen werden daß er am ersten Orte verschwunden ist, und daß ein ähnlicher am zweiten Orte zum Vorschein gekomen und man könnte nie zu einer Vorstellung der Identität kommen. Ferner wenn wir bedenken daß im Maximum der Wahrnehmung die Seele ganz im Wahrnehmen aufgeht und wir sezen die Wahrnehmung als verschwindend: so konnte die Seele auch sich selbst nicht als ein continuum sezen sondern dies Sezen beruht nur auf der Dauer und Beharrlichkeit beider Thätigkeiten aber eben so nothwendig der Wahrnehmung als der Ausströmung. Und wenn die Wahrnehmung nur aus unendlich kleinen discreten Größen besteht so läßt sich auch gar nicht einsehn woher der Seele die Zeit kommen und wie sie sich in die Zeit sezen könnte. So gewiß wir also die Seele sezen so sezen wir auch als das ursprüngliche ihr Dasein constituirende nicht das Verschwinden sondern die Dauer ihrer Thätigkeiten[.] | Ist uns nun dies so natürlich erschienen so fragen wir billig, wie kommt man denn zu der entgegengesezten Ansicht bei welcher allein ein Erinnerungsvermögen und ein Gedächtniß (als Kasten zu der Wachstafel und dem Taubenschlage) als etwas besonderes stattfinden kann? Mir scheint dies seinen Grund zu haben darin daß man theils das psychische vom physiologischen zu sehr trennt theils beides zu sehr identificirt. Wenn man die Seele von dem Organ trennt und gleichsam hinter dasselbe stellt um die Bewegungen desselben wahrzunehmen (wozu am meisten das Bild im Auge verleitet) so kann sie freilich nichts wahrnehmen wenn nichts bewegt wird[.] Und wenn man das psychische Ende von dem physiologischen gar nicht absondert so kann man sich dann einbilden das psychische könne auch nicht länger dauern als das physio1 wenn] über )Qaus ErfR*

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logische. Allein alle relative Unterscheidung beruht darauf daß das nicht getrennt gesezte doch anders gemessen werde, und wozu wäre die im Bewußtsein liegende Unterscheidung wenn nicht eben um kundzuthun daß das psychische Ende ein anderes Maaß hat. Also kann aus dem vergänglichen physiologischen ein bleibendes psychisches werden[.] Wenn also die ursprüngliche Ansicht die sein muß, die Wahrnehmung einmal gesezt bleibt: so kann zuerst noch die Einwendung gemacht werden es wäre doch ein Unterschied zwischen dem Bleiben der Wahrnehmung bei dem Bleiben des Gegenstandes und bei der Entfernung des Gegenstandes, und dies lezte Bleiben bedürfe einer besondern Erklärung. Ich antworte theils der Gegenstand bleibe nicht ohne sich zu verändern, und die Wahrnehmung werde dann doch als unverändert behalten sei also doch die Wahrnehmung eines abwesenden Gegenstandes; theils die Abwesenheit des Gegenstandes mache keinen größeren Unterschied als die Abwendung der Aufmerksamkeit von dem anwesenden Gegenstande. – Hierauf entsteht nun die Frage was ist demnach das Verschwinden der Wahrnehmung? Vorausgesezt das Sein einer jeden Wahrnehmung in welcher Manigfaltigkeit und Einheit ist, sei schon an sich ein Verwachsen der Vergangenheit in die Gegenwart: so ist auch jedes Festhalten eben so. Aber nicht jeder Theil jeder Vergangenheit hängt gleich stark mit jeder Gegenwart zusamen also ist einiges Vergangene stärker in der Gegenwart und einiges schwächer. Indem aber die aufnehmende und die ausströmende Thätigkeit nur für die Betrachtung gesondert werden so muß auch (da es hier lediglich auf das Selbstsezen der Seele ankommt) der Zusammenhang eben so gut in der That seinen Siz haben können. Und um beides recht zusammenzufassen wird die rechte Formel sein, daß die ganze Vergangenheit in der Gegenwart ist nach Maaßgabe des Interesse welches die Seele in diesem Augenblikk daran nehmen kann. Daher man so leicht das unwichtige vergißt. Hiernach würde es also ein absolutes Vergessen nicht geben, sondern immer | nur ein minimum des Behaltens. Und jenes ist auch gar nicht nachzuweisen, denn darin würde von unserer Voraussezung liegen die Unmöglichkeit der Reproduction. Nur in so fern die Continuität der Seele abgebrochen wäre könnte ein absolutes Vergessen stattfinden. Indem wir nun aber das psychische nie völlig vom organischen trennen dürfen müssen wir für dieses Behalten allerdings auch ein organi3 um] korr. aus Q R 13–16 unverändert ... Gegenstande.] markiert durch einen senkrechten Strich am linken Rand 19–22 Manigfaltigkeit ... zusamen] markiert durch einen senkrechten Strich am linken Rand 27 die] Die 27–31 die rechte Formel ... immer] markiert durch einen senkrechten Strich am linken Rand 30 Daher ... vergißt.] am linken Rand ohne Einfügungszeichen 34–35 die Continuität ... stattfinden.] markiert durch zwei senkrechte Striche am rechten Rand

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sches Substrat haben, und da ist mit Bezug auf das über das innere Sehen und Hören schon gesagte nur übrig zu sagen die organische Seite des Festhaltens sei das innere Sehen und Hören selbst. Nemlich das Hervorrufen im Bewußtsein falle mit diesem zusammen. Wie die Seele will den Fuß sezen so will sie auch die inneren Organenden in Bewegung sezen so wenig sie zu jenem eine materielle Spur der früheren Bewegungen braucht, so wenig auch zu diesen. Man faßt das schwer wiederholbare an etwas noch mit der Gegenwart zusamenhangenden. Vorher aber hat die Seele die Wahrnehmung nur im bewußtlosen Zustande d. h. potentia oder ενεργεια aber als absolutes minimum. XXI. Für dieses haben hat der Ausdrukk bewußtlose Vorstellung einen Sinn in so fern man annimmt daß noch ein minimum übrig sei. Aber man kann auch sagen Wie nachdem einmal Hand und Fuß mit Wissen und Willen bewegt worden sind, der Seele auch ohne daß eine materielle Spur aber ein minimum der Bewegung übrig bliebe, die Fertigkeit geworden ist die Bewegung eben so und keine andere wieder hervorzubringen: so sei auch, nachdem einmal abhängig von der äußern Erschütterung des Organs das innere Organ die Bewegung hervorgebracht der Seele die Fertigkeit geworden durch den Willen dieselbe Bewegung und keine andre hervorzubringen. Wenn das ursprüngliche Vorhandensein noch hervortritt ohne Absicht also auch noch nicht die Continuität abgebrochen ist, so sei das das freiwillige Spiel des Gedächtnisses, welches aber auch unter der Regel des Interesse steht; wenn die Bewegung nun erzeugt wird sei das die absichtliche Erinnerung, die aber ebenfalls nur nach jener Regel entsteht, und daher oft bei einer bloß äußeren Auffoderung mißlingt. So wie auch wenn die Continuität ganz verloren gegangen ist, das Wiedererscheinen desselben Gegenstandes nur eine zweifelhafte Wiederkennung gebe und wenn ein anderes Interesse herrscht, welches andere Wahrnehmungen nachbilden will leicht die eben schon angemerkte Verwechselung entsteht. Wenn also unter der Voraussezung des momentanen Verschwindens auch das Auffassen eines Gegenstandes nicht ohne Wiederaufnahme des Verschwundenen gedacht werden kann: und wir nun gesehen haben Festhalten und Erwerben der Gegenstände sei dasselbe: so müssen wir also zurükgehn und fragen: wie werden denn die Gegenstände erworben? Wenn wir als das ursprünglich z. E. dem Auge gege2 schon] über )QwiederR* 3–4 Nemlich ... zusammen.] markiert durch zwei senkrechte Striche am rechten Rand 7–9 Man ... zusamenhangenden.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichem 15 der] davor )ist* 16 bliebe,] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen: Analogie mit den selbstthätigen Bewegungen 22 ohne] )ohne*

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bene die chaotische Halbkugelfläche | betrachten so ist das Auffassen der Gegenstände ein Aussondern und bestimmen, dieses kann auch nur von der ursprünglichen Thätigkeit der Seele ausgehn und also auch, da die organische Affection gleichzeitig gegeben ist aus ihr aber die Wahrnehmung nur successive hervorgehn kann, allein dem Gesez des Interesse folgen. Sezen wir nun in der Seele ohne alle Hypothese bloß das Wahrnehmenwollen voraus: so hat die Seele in dem ersten Moment kein anderes Interesse als das an dem Zustande des Organs. In diesem sind aber nur verschiedene Grade gesezt. Die Seele also wendet sich wie es auch bei Kindern geschieht der erleuchtetsten Stelle zu die es ertragen kann. Wenn diese nun aber auch eine Masse ist und kein Punkt so ist immer nur ein Theil eines Ganzen gesezt und nichts für sich bestehendes. Sondern diejenige Beschaffenheit der Wahrnehmung, welche das Substrat des Gedankens sein kann wird erst durch das Zusammentreten mehrerer Sinne hervorgebracht; aber auch die abgeschlossene des Sinnes selbst kann sich erst erzeugen wenn der Gegenstand sein Verhältniß zu dem übrigen sichtbaren ändert entweder durch seine oder durch meine Bewegung. Daher auch die Kinder nächst dem hellen auf das bewegliche sehen. – Wenn man nun auch sagte in der erleuchtetsten Masse ist doch wieder ein Punkt der erleuchtetste und die Seele wirft sich also demselben Gesez gemäß zunächst auf diesen: wie kommt sie weiter? so erhält man dasselbe Resultat und auch durch Ausbreitung der Wahrnehmung von diesem Punkt aus kann eine abgeschlossene Vorstellung nur entstehen wenn durch die Bewegung abgeschnitten wird. Wenn nun aber das Festhalten wie das Erwerben der Gegenstände nur vom Interesse abhängend eins ist: so müßte folgen daß in Absicht auf das Behalten alle Seelen einander gleich wären und es so etwas wie ein gutes und schlechtes Gedächtniß gar nicht gäbe, oder daß sie wenigstens nur verschieden wären nach Maaßgabe ihrer allgemeinen Stärke oder Schwäche. Nun ist zwar in der Behauptung daß Interesse an den Gegenständen (Verstand) und Gedächtniß im Gegensaz wären viel Vorurtheil[,] allein sie in grades Verhältniß zu sezen ist doch auch völlig paradox da man oft Menschen von der entschiedensten Combinationsgabe über ihr Gedächtniß klagen hört, und das vortreflichste Gedächtniß bei denen findet, welche nicht recht wüßten was sie mit den Vorstellungen die sich angehäuft haben anfangen sollen und ihr Gedächtniß scheinen immer für Andere zu haben. | XXII. Da wir die Sache hier nur in Bezug auf die gleichartigen Sinneseindrüke zu betrachten haben so ergiebt sich außer dem Interesse noch ein anderes Maaß des Festhaltens nämlich die Tüchtigkeit der äußern Einwirkungen von welcher die Thätigkeit der innern Seite des Organs abhängt, also im Ganzen die Virtuosität des Sinnes selbst.

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Schwachsichtige haben natürlich kein Gedächtniß für Gesichtseindrüke etc. Das zweite Moment ist dann das Interesse dieses aber geht natürlich durch alle Sinne durch, es hat seinen Siz im Charakter und weil es schwer aufzufinden ist so sucht man lieber ein negatives, und kommt so zu jenen einseitigen Urtheilen denen sich immer das entgegengesezte gegenüber stellen läßt. Die Sinnes Skala kann für ein partielles Gedächtniß eine desto größere Skala geben je mehr das andere zurüktritt und dann sagt man das beste Gedächtniß hat wer wenig selbstthätig combinirt. Aber mit Unrecht; denn die Wahrnehmung bleibt der einzige unmittelbare Stoff aller Combination und wer also viel combiniren will muß auf demselben Gebiet auch die Wahrnehmungen festhalten. So der Naturforscher die Gestalten der natürlichen Dinge, der Feldherr die Namen und Relationen der Einzelnen, p. Aber je zerfahrener und zufälliger die Combinationen eines Menschen sind, desto weniger ist von dieser Seite aus etwas für die Festhaltung gesezt und dann dominirt die andere Skala. Hält man also diese beiden Momente nur gehörig zusammen, und wendet sie richtig an: so müssen alle Erscheinungen daraus können erklärt werden ohne daß man ein besonderes Gedächtniß anzunehmen braucht. Combinationen der Sinneswahrnehmung[.] Auf diese Weise also werden durch jeden einzelnen Sinn Gegenstände fixirt und nach diesem Gesez festgehalten. Die Fülle der Wahrnehmung aber welche dem Denken zum Grunde liegt entsteht erst durch Verbindung der Sinneseindrüke welche sich auf denselben Gegenstand beziehn. Auch diese Verknüpfung erfolgt nach demselben Gesez, je mehr der Gegenstand das Interesse auf sich gezogen hat um desto mehr durch absichtliche Richtung aller Sinne auf ihn d. h. durch Be o b a c h t u n g, je gleichgültiger aber er ist, um desto mehr nur zufällig. Die Beobachtung aber tritt schon ganz früh ein, um so mehr als durch das Gesicht allein der Gegenstand doch niemals umschrieben wird. Daß wir durch das Gesicht auch den körperlichen Umfang mit einer gewissen Sicherheit abschäzen lernen (das perspectivische Sehen) ist nicht eine Entwiklung des Gesichtssinns durch sich allein sondern es beruht auf einer Reihe von Bemerkungen über das Zusammentreffen des Gesichts und Getasts, so wie wir hernach auch anderes ursprünglich dem Getast an|gehörige z. E. Weichheit und Härte lernen durch das Gesicht abschäzen. Die ursprüngliche Combination also durch welche uns erst das körperliche wird ist die des Gesichts und Getasts d. h. desjenigen Sinnes der das weiteste Feld hat mit dem der das engste hat[.] Eine Verknüpfung zu welcher wir die Bewegungsor20 Combinationen der Sinneswahrnehmung[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen

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gane (Hände zuerst um die Gegenstände zu uns herzubewegen, Füße hernach um uns zu ihnen hin zu bewegen) gebrauchen, und in welcher sich ebenfalls der zwiefache Ursprung, Aussondern aus dem Ganzen durch Gesicht (denn in diesem sind wir uns doch des successiven Wahrnehmens der einzelnen Theile des Gegenstandes nicht bewußt) und Zusammenfassen durch Uebergehn von einem Theil zum andern abspiegelt; denn dies ist die bestimmte und einzige Methode des Getasts in welchem wir nie ein Ganzes auf einmal haben. – Auf die Combination dieser Sinne folgt dann die des Gesichts und Gehörs, welche auf eine besondere Art sich dem lebendigen zuwendet denn nur das lebendige und was mit ihm zusammen hängt tönt, die Natur eigentlich rauscht nur. Voran schike ich hier die freilich schon auf das Denken mittelst der Sprache sich beziehende Bemerkung wieviel zufälliges ist in unsern Subjectsbestimmungen und Prädicatsbeilegungen. Nämlich dasjenige wodurch der Gegenstand zuerst ist fixirt worden fassen wir nun in Eins zusammen als Ding, und das später wahrgenommene legen wir ihm erst bei. Sehr gut aber kann jenes nur etwas zufälliges gewesen sein, und dieses etwas wesentliches. Allerdings wird sich hievon viel durch Austauschung und durch fortgesezte Beobachtung ausgleichen; aber da doch alle unmittelbar austauschenden auf derselben Stufe stehn wird die Ausgleichung immer nur sehr bedingt sein, und die Geschichte unserer Naturkunde und Geschichtskunde zeigt wie erst durch das Hinzutreten der spekulativen Thätigkeit, die eben deshalb Anfangs imer einen harten Kampf verursacht das Scheiden des wesentlichen vom zufälligen tiefer begründet wird und erst die völlige Durchdringung beider das vollendete Erkennen hervorbringen kann. Durch diese Combination der Sinneseindrücke nun entsteht eine solche Fülle daß die Seele dadurch theils verwirrt theils übersättigt wird, so daß sie sich | derselben wieder entledigen muß, und dies geschieht durch die B e z e i c h n e n d e T h ä tig keit oder die S pra che. Denken und Sprechen. Nämlich die unmittelbaren Sinneseindrüke sind immer ein schlechthin besonderes, die Sprache aber immer ein Schwanken zwischen dem besondern und allgemeinen, und auf der einen Seite ein Ordnenwollen gegen die Verwirrung, auf der andern ein Vergessenwollen gegen die Ueberladung. – Jede ursprüngliche Wahrnehmung ist ein absolut momentanes; durch die Combination der Sinneseindrüke wird allerdings dieses aufgehoben und ein beharrliches gesezt aber es besteht nun die Totalität der Eindrüke aus beharrlichem zu 18 aber] über )also* 32 Denken und Sprechen.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen 40–3 besteht ... werden.] am linken Rand markiert mit gepunkteter Linie

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dem nichts hinzukommt, aus Wechsel am beharrlichen, aus momentanem das noch auf kein beharrliches zurükgeführt ist, und dies muß auseinandergehalten werden. Dann aber auch eben wie wir denselben Punkt als Subject festhalten und verschiedene Wahrnehmungen auf ihn beziehen so beziehn wir auch dieselben Wahrnehmungen auf verschiedene Punkte, die Aehnlichkeit wird erkannt und je größer diese ist, um desto inniger wird es die einzelnen Eindrüke alle festzuhalten. Der Name aber als solcher haftet imer nur an den gemeinsamen Umrissen des Aehnlichen und läßt das untergeordnete differente weg, wir entledigen uns also an ihn und an das allgemeine innere Bild welches mit ihm zusammenhängt einer Menge einzelner Eindrüke[.] Was wir aber hier über die Sprache zu sagen haben muß ebenfalls ganz in den Grenzen der Beobachtung stehn bleiben also nichts von der Entstehung der Sprache in dem ersten Menschen sondern nur wie sie jezt entsteht und was sie eigentlich abgesehn von aller Entstehung bedeutet, und wie sie sich zu den beiden Grundthätigkeiten verhält – Denn sie gehört selbst der ausströmenden an, bezieht sich aber auf die aufnehmende, auch die physiologische Seite, welche ohnedies noch so weit zurükk ist, daß man kaum sagen kann die Probleme seien richtig aufgegeben[.]

[104] Ueber die Ordnungsliebe im äußern mechanischen die zur Qual werden kann – ich weiß noch nicht bei welcher Gelegenheit dies anzubringen sein wird.

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[105] Wo das Spiel ohne Leichtsinn betrieben wird pflegt das Leben leichtsinnig betrieben zu werden. [

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Wesen der menschlichen Sprache[.] XXIII. Wenn wir nun das Sprechen näher betrachten so liegt uns zunächst das rein menschliche in seinem Unterschiede vom thierischen aufzufassen da alles lebendige von einem gewissen Entwiklungspunkt an nach Maaßgabe seiner Entwiklung tönt. Da in Ermangelung der 18 auch] Auch davor )Q R* 26 Wesen … Sprache[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen 30–3 Da ... Gefühls[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen

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Sprache auch die Bewegung Bezeichnung wird so muß man in der Identität von beiden den Keim suchen. Identisch sind beide aber als Ausdruk des Gefühls[.] Ist der Ton nun immer derselbe so schließen wir daraus auch auf ein unvollkomenes Leben. Je mannigfaltiger die Differenzen sind im Verhältniß zum Umfang der Stimme um desto gebildeter das Leben. Der erste auffallende Unterschied ist, daß alles menschliche Sprechen immer Mittheilung ist. Denn wenn auch ein Mensch nur zu sich selbst redet: so ist es doch Mittheilung von einem Augenblik an den andern; die Thiere aber tönen ohne Rüksicht auf Andere zu nehmen ins Blaue hinein. Allein dieser Unterschied geht nicht durch denn wir finden Verständigung durch die Töne auch bei den Thieren und wenn auch am häufigsten bei den Hausthieren so können wir es doch auch bei den andern verfolgen wenigstens auf ihre eigentlich geselligen Verhältnisse zwischen Eltern und Jungen im Nest und zwischen Männchen und Weibchen in der Begattungszeit. – Eine bestimmtere Grenze bildet die A rt icula tion, Begriff den ich hier nur fixiren will durch den Gegensaz zwischen Selbstlautern und Mitlautern. Dieser Gegensaz ist zwar auch nur fließend denn es giebt in den menschlichen Sprachen Mitteltöne die nur in einzelnen Fällen an einer bestimmten Stelle bestimmt das eine oder das andere werden, und gerade an diese müssen wir alle Nachahmung thierischer Töne anknüpfen, aber doch charakteristisch für die Sprache, und wir fühlen daß ohne diese Entwiklung kein Tonsystem Sprache werden kann. Indeß da das ganze Resultat davon doch nichts ist als daß ein unendlicher Reichthum der Bezeichnung daraus entsteht, und die Thiere doch auch eine Mannigfaltigkeit von Bezeichnungen haben so ist auch dies nur ein Mehr und minder und also nicht das gesuchte. – Wir gehen also weiter und finden in dem ganzen menschlichen Tonsystem den höheren Gegensaz von Sprache und Gesang der sich in dem Thierischen nicht findet[.] Zwar giebt es thierische Töne die mehr Sprache sind, und andere die mehr Gesang allein nicht in derselben Gattung. Jene Differenz aber bezieht sich offenbar auf die zwischen Gefühl und Wahrnehmung. Denn der natürliche Ausdruk des Gefühls ist der Gesang, und alle Töne die sich dem Gesang nähern und von der Sprache entfernen wie Lachen Weinen | Seufzen, Aufschrein Jauchzen p. sind unmittelbar Ausdruk des Gefühls, die Sprache aber ist unmittelbar Ausdruk der Wahrnehmung. Der Mangel dieses Gegensazes in den thierischen Tonsystemen ist also die ursprüngliche Differenz und hängt damit zusamen daß im thierischen Leben Gefühl und Wahrnehmung nicht bestimt aus einander treten. Wenn man sagt daß Gefühl auch durch Sprache mitgetheilt wird: so ist das wahr; aber nur in 1 die] folgt )Geberde und*

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sofern es sich durch ein inneres Gedankenspiel kund giebt, welches auf der mit dem Namen Einbildungskraft bezeichneten Thätigkeit beruht, oder in sofern über das Gefühl selbst Wahrnehmungen gemacht worden sind (reflectirt worden ist) woraus aber nur die Beschreibung des Zustandes entstehn kann. Aber die Aeußerung und Mittheilung desselben durch jenes Gedankenspiel bildet nun in der Sprache selbst den Gegensaz zwischen Prosa und Poesie, von dem man sagen kann daß in der Poesie Tonmaaß und Zeitmaaß hervor, in der Prosa aber beides zurüktritt ins Unbestimmte, durch welche Annäherung an den Gesang sich die Beziehung auf das Gefühl deutlich genug ausspricht. Dieses nun stimmt auch zusammen theils mit der elementarischen Betrachtung selbst der Sprache, da jedes Wort eine Sinneswahrnehmung bedeutet, theils auch mit der Geschichte in jedem einzelnen Menschen; jeder lacht p. ehe noch die Sinnesorgane deutlich genug gebildet sind um vollkomene Wahrnehmung aufzufassen. Nur will es nicht ganz stimen mit unserer früheren Behauptung daß das Bedürfniß, das Gefühl des überfülltseins, also ein Gefühl die Sprache heraustreibe. Beides aber läßt sich sehr wohl vereinigen. Auch das Gefühl hat zwei Aeußerungsarten Geberde und Ton, so wie es auch zwei ursprüngliche Bezeichnungsarten giebt durch Ton und durch Bewegung der Finger welches leztere sich auch sehr weit ausbilden ließe. Daß nun dieses verschwindet oder wenigstens ganz untergeordnet bleibt jenes aber sich ausbildet erklärt sich theils daraus weil die Organe womit das eine müßte hervorgebracht werden noch andere Bestimmungen hat, der Mensch aber bestimmt ist zugleich bezeichnen und Handeln zu können, theils daraus weil eben jenes mitwirkende und antreibende Gefühl zu denen gehört welche mehr auf den Ton treiben als auf die Bewegung. Dies erklärt freilich nicht, bringt aber | doch den einzelnen Fall unter eine bestimmte allgemeinere Analogie. Die tiefere Erklärung liegt in der Aufgabe die aber rein physiologisch ist den Zusammenhang aufzufinden zwischen den innern Enden der Sinnesorgane durch welche unsere Wahrnehmungen vorzüglich bedingt sind d. h. Gesicht Getast und Gehör mit dem eigenthümlichen aber sich erst von einem gewissen Zeitpunkt an ausbildenden System der Sprachorgane. Entstehung der Sprache[.] Wegen jener Verbindung nun, und weil wegen dieser spätern Entwiklung die Aeußerungen des Gefühls durch den Ton eher da sind als die Sprache hat man versucht die Sprache ganz aus jenen frühen Aeußerungen abzuleiten was aber etwas ganz einseitiges und dürftiges wird. 15 Wahrnehmung] nehmung über )heit* 29 Analogie] Analogie zu bringen 35 Entstehung … Sprache[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen

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X X I V. Denn wenn man die Sprache betrachtet so gehn nur die Interjectionen vom Gefühl aus, die in der Sprache selbst völlig isolirt stehn und an die Hauptstämme der Nenn und Zeitwörter nichts abgeben sondern eher noch von ihnen empfangen. Darum hat man eine andere Erklärung versucht aus der Nachahmung der Naturtöne. Dergleichen mimische Onomatopöien finden sich freilich. Aber grade die Thiernamen welche die meiste Veranlassung dazu geben sind am wenigsten so gebildet und dann findet man auch die Nachahmungen in verschiedenen Sprachen sehr verschieden. Woraus folgt entweder daß der gehörte Ton anders ist gehört worden, oder daß der producirte Ton anders gehört wird, oder daß die eine Nachbildung zwar als genau die andere als ungenau gewußt wird, aber organische Hindernisse sind sie zu produciren. Das erste ist das unwahrscheinlichste, das zweite führt schon auf einen specifischen Zusammenhang des innern Sprechens mit dem innern Hören und das dritte auf das individuelle in der Bildung der Sprachorgane. Will man also die Forschung über das differente Werden der verschiedenen Sprachen und über die Entwiklung jeder Sprache von ihren Anfängen an gründlich treiben: so müßte man gerade damit anfangen das eigenthümliche jeder Sprache in den Elementen die sie eigen hat und die ihr fehlen, die häufig und die selten vorkomen, die zusammenfließen und die sich abstoßen auch die für einander vikariren und das verschiedene Verhältniß der Mitlauter und Selbstlauter je einander zu erforschen und mit Rüksicht darauf ihre Stammsylben und Wurzelwörter betrachten und vergleichen. Dann könnte man der Aufgabe über die ursprüngliche Bedeutsamkeit einzelner Sylben und Sylbentheile näher treten und so in das innere von dieser Seite eindringen. Doch dies liegt ganz an den Grenzen unserer Untersuchung. – Näher liegt uns | die Frage wie sich die Sprache wenn sie einmal in einem bestimmten Typus gegeben ist fortpflanzt[.] Fortpflanzung der Sprache[.] Hier muß ich protestiren gegen die gemeine viel zu einseitige Vorstellung daß den Kindern die Sprache eingeflößt wird, daß sie sie bloß durch Nachahmung erlernen. Wir bemerken vielmehr in den Kindern eine ursprüngliche Productivität in dieser Hinsicht, und zwar eine zwiefache; die eine ist ein zwekloses freies Spiel aus dem Reiz der in der Entwiklung befindlichen Sprachorgane entstehend und weder auf Gefühl noch auf Wahrnehmung sich bestimmt beziehend. Sie versuchen was sich mit den Organen machen läßt. Die andere geschieht nicht wie jene im Zustand der Ruhe, sondern im Zustand der Erre22 und] über )QalR* 22 und das ... einander] am linken Rand mit Einfügungszeichen 31 Fortpflanzung ... Sprache[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen

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gung aus dem Bedürfniß des Festhaltens, und ist ein wirkliches Bezeichnenwollen, wie man aus dem Zusammentreffen mit der Gebehrde und mit einer bestimmten Richtung des Auges, und Ohrs deutlich sieht[.] Hiedurch also würden sich die Kinder eine eigene Sprache bilden wenn sie nicht von der bereits vorhandenen sie umgebenden Sprache überwältigt würden. Dieses überwältigt werden geht aus dem natürlichen Verhältniß des Einzelnen zur Gesammtheit hervor und ist etwas ganz anderes als bloße Nachahmung[.] Auch erhalten sich bei vielen Kindern selbstgebildete Wörter bis ziemlich tief in das Leben hinein. Wenn man diese Productivität für die Sprache nicht gefunden hat bei den problematischen Beispielen von wilden Kindern: so beweiset dies gar nichts. Es war eine verwerfliche Maxime einer gewissen Zeit das unnatürliche auftreten zu lassen gegen das natürliche. Ein solches Kind kann sich nie in dem Zustand von Behaglichkeit finden in dem ein anderes seine freien Uebungen vornimmt und haben diese gefehlt so ist es dann ohne Rath für den Augenblik des Bedürfnisses. Wenn eine Sprache bloß durch Nachahmung erlernt wird so folgt daraus auch sogleich daß alles eigenthümliche was hinein kommt fehlerhaft ist, und das ist der Charakter einer todten Sprache; wogegen das Wesen einer lebendigen Sprache in der beständigen Einbildung des eigenthümlichen (welches nach Maaßgabe seines Umfangs bleibend wird oder verschwindet) in das gemeinsame besteht. Dies eigenthümliche aber kann nur als ursprüngliche Production verstanden werden. – Mit der Frage über die Fortpflanzung hängt zusamen die recht im Mittelpunkt unserer Untersuchung liegende über das Verhältniß zwischen Denken und | Sprechen. Priorität zwischen Denken und Sprechen. Denn man kann die ganze Frage auch auf die natürliche Entwiklungsgeschichte des Einzelnen zurükführen und fragen spricht das Kind eher oder denkt es eher? Unserm Gange nach haben wir gesagt, die Entwiklung des Denkens aus dem Wahrnehmen sei bedingt durch die Dazwischenkunft der Sprache, und so scheint Sprache früher zu sein. Gewöhnlich aber denkt man sich das Sprechen erst als die Folge des Denkens welches freilich größtentheils daher kommt, weil man an das innere Sprechen, welches mit dem Denken durchaus identisch ist, nicht denkt. Wenn wir die Sache genau nehmen wollen müssen wir Wahrnehmen und Denken aneinander rüken und fragen worin der Unterschied zwischen beiden besteht. Das Denken ist im Begreifen und Urtheilen und dieses ist seinem Wesen nach auch im Wahrnehmen. Denn wenn das Beharrliche im Wechsel und in der Abweichung 6 Sprache überwältigt] überwältigt über )gebildet* linken Rand ohne Einfügungszeichen

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wahrgenommen wird so ist das Wesen beider da; aber wir nennen es nicht Denken wenn nur das Bild die Art der Dinge zu sein in der Seele ist wenn auch dann Ton und Betastung hinzukommen. Verlöschen aber diese differenten Arten zu sein in einer gemeinsamen, dann ist auch die Form des Denkens da[.] Die Sinnesthätigkeit darf aber nie Null werden weil das Schema indem die Zufälligen Beschaffenheiten ihrer Grenze nach mit heraus kommen hernach wieder angefüllt wird[.] Dies ist wenn alles Bild verlöscht ist nicht mehr möglich. Daher ist Wort ohne Bild nur todte Formel[.] Diese für alle Sinneseindrüke gemeinsame Form ist nicht die nachbildende innere Sinnesthätigkeit; denn auch das Zusammensein äußerer und innerer Sinneseindrücke als solcher ist kein eigentliches Denken, sondern diese Form ist nur die Sprache. Nun kann aber der Uebergang aus der einen in die andere nicht stattfinden ohne daß die eine verlischt oder wenigstens ohne daß beide Akte wenn sie auch gleichzeitig bleiben sich völlig trennen. Also kann man sagen das Losreißenwollen vom Sinneseindruk ist das Denkenwollen, und dies ist eher aber auch unbestimmter als das Sprechenwollen; aber wirklich gedacht wird nur in der Identität mit dem Sprechen. Betrachten wir dagegen die physiologische Seite: so erscheint das Sprechenwollen als unabhängig vom Denken rein für sich und also als ein erstes; das Denken ist von dieser Seite erst in der gerundeten Combination des Sprechens und also später aber ein sich wirklich bestimt sonderndes und gestaltendes Sprechen ist ohne Denken auch nicht anzunehmen. XXV. Alles bisherige Zusamengenommen fragt sich, was haben wir nun als Inhalt der Sprache. Nichts anderes als den Schaz von Namen, in welchen die Subjecte gesezt sind[,] Aussagen, in welchen die Prädicate gesezt sind, und Beiwörter, welche nichts anderes sind als Abbrevirte | Urtheile, endlich den ganzen Schaz von einzelnen Urtheilen die hieraus zusammengesezt werden. Betrachten wir nun nur die Sprachelemente so fehlen uns die Präpositionen und Conjunctionen. Die ersten sind den Adjectiven gleichzusezen; sie sind imer abbrevirte Aussagen um die Verhältnisse einzelner Subjecte zu bezeichnen sofern sie für sich gesezt sind. Aber die Conjunctionen bezeichnen [einen] Zusammenhang den wir unter dem allgemeinen Schema der Causalität befassen wollen. Es fragt sich ob dieser Theil des Denkens auch aus dem Wahrnehmen abzuleiten ist, da diese Verknüpfung offenbar etwas ganz anderes ist als die bisher abgehandelte der Inhärenz. Eben so ist wol mit den Begriffen zugleich auch eine Unterordnung derselben gesezt. Denn so wie man über die Operation des Verlöschens einzelner Bilder im allgemeinen nachdenkt so muß 5–9 Die Sinnesthätigkeit ... Formel[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen

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man den Unterschied finden in dem Maaß des Verlöschens; aber alle diese Reihen stehn eigentlich einzeln da. Man kann zwar sagen wenn nur zwei Sprossen dieser Leiter gegeben sind so steigt man vermöge derselben Operation zu der höchsten nämlich dem Begriff des D ing es hinauf, durch welchen nun alle verknüpft sind weil alle unter ihm stehn. Allein der Begriff des Dinges der nur die höchste Abstraction enthält ist nur das Zeichen für das bleichste Bild in welchem das minimum der Wahrnehmung, das bloße einzelne für sich gesezt sein gezeichnet ist, und er kann nicht den Zusamenhang enthalten. Dies erhellt auch daraus daß man in ihm keinen Grund findet zu einer in sich geschlossenen Klassification durch welche die verschiedenen Leitern im Zusammenhang unter sich erscheinen. Sondern eben sowol die Totalität der Zusammengehörigkeit der Gegenstände als die Totalität des Zusammenhangs der einzelnen Thatsachen ist nur gesezt in dem lebendigen Begriff der We l t . Und die Frage wendet sich nun so: ob wir zu diesem und was von ihm ausgesagt werden kann auch durch das an das Wahrnehmen sich anschließende Denken gelangen. Denn auch diese kann nicht als schon beantwortet durch das vorige angesehn werden, weil nämlich jeder Gegenstand in der Totalität seiner Relationen und Veränderungen auch eine Welt ist, indem ja in dem bisher erörterten Denken auch die einzelnen Gegenstände so nicht gegeben sind, sondern nur als ein Aggregat von ganz vereinzelten Urtheilen, vielmehr ist eben diese Ansicht nur mit jener zugleich noch zu erklären. – Alles auf den Begriff der Welt im weitesten Umfange | sich beziehende Denken, worunter aller Zusammenhang unter dem besonders gedachten als solcher mit gehört ist also ein vorläufig besonders zu betrachtender, der speculative Theil des Denkens, wozu auch in unserer Hinsicht wenigstens der über die Welt hinausgehende Begriff der Gottheit mit gehört. Es fragt sich nun ob dieser auch als aus der Wahrnehmung entstanden oder anderweitig her erklärt werden muß? Die Ansichten darüber sind getheilt und eine Entscheidung darüber fällen das hieße über unser Ziel hinausgehn und eine ganze Philosophie aufstellen, deren Anknüpfungspunkt von der Psychologie aus allerdings hier zunächst liegt. Wir wollen aber von unserm Wege nicht abweichen, und müssen uns also darauf beschränken nur zu fragen was bei beiden Voraussezungen für die Betrachtung der Seele heraus kommt. Zuerst müssen wir sagen wenn das speculative Denken aus dem empirischen entstanden ist und doch für etwas anderes ausgegeben wird so bringt man eine Fiction herein, und dadurch muß auch alles Wahrnehmen derer welche diese Fiction machen verdächtig werden, denn sie können dahin eben so gut willkührliches hinein ge13 Gegenstände] über )Dinge*

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bracht haben. Eben so auch Wenn es verschieden ist und wird doch für identisch ausgegeben, also mit dem empirischen in Verbindung gebracht was nicht damit in Verbindung gebracht werden kann: so wird auch das ursprüngliche empirische Denken derer die so handeln verdächtig. Und diese Besorgniß, daß ein großer Theil der als empirisch mitgetheilten Erkentniß in jedem Fall ebenfalls verdächtig wird ist die Ursach von dem allgemeinen Interesse der Frage. Die Sache anlangend aber gehen von dieser Voraussezung aus wieder zwei Wege. Wenn das speculative Denken nicht in der Wahrnehmung mit enthalten und durch sie gegeben ist: so muß es durch eine ursprüngliche Thätigkeit der Seele hervorgebracht werden. Da wir nun eine solche, als Wahrnehmenwollen, auch bei dem Wahrnehmen zum Grunde legen mußten so können diese beiden entweder verschieden sein oder einerlei. Sind sie einerlei so ist auch das Wahrnehmenwollen schon ein Welt in sich abbilden wollen. Sind sie verschieden: so müßte man sagen nachdem das Wahrnehmenwollen eine gehörige Fülle von Gedanken herbeigebracht entwikle sich erst das Speculirenwollen als ein Anderes. Das lezte aber scheint inconsequent zu sein, weil man als That der Seele das Uebergehn aus | der einen Function in die andere nicht begreifen kann, indem es ja immer noch wahrzunehmen giebt und dieses doch ganz aufhören müßte wenn man anfangen wollte zu speculiren, und umgekehrt. Auch erscheint in der natürlichen Entwiklung das Denken ganz als ein continuum, und niemand findet einen solchen plözlichen Uebergang wie aus einer Function in die Andere. Diejenigen also welche das speculative Denken nicht durch die Einwirkung der Dinge entstehen lassen müssen doch sagen daß die ursprüngliche Thätigkeit der Seele in der auffassenden Thätigkeit nur Eine sei, daß sie vom ersten Wahrnehmen an die Welt suche, und die Begriffe des Zusammenhanges eben aus dieser innern Nothwendigkeit producire[.] XXVI. Nun müssen wir auch die zweite Voraussezung betrachten. Wenn das speculative Denken eben so durch die Einwirkung der Dinge bedingt sein soll wie das sinnliche Wahrnehmen: so ist hier an sich dieselbe Duplicität denkbar wie dort. Es kann dieselbe Einwirkung sein, und dies kann man darauf stüzen daß doch jede Wahrnehmung schon wesentlich Verknüpfung ist, und als solche den Keim in sich trägt aus welchem sich alles was zur Construction der Idee der Welt gehört allmählig entwickelt. Man könnte aber auch sagen wollen, es sei eine andere secondäre Einwirkung der Dinge. Allein diese Form hält näher betrachtet nicht Stich. Denn da keine von beiden 8 gehen] über )liegen* )QmehrR* oder )QnichtR*

15 wollen. Sind] korr. aus wollen, sind 24 in] an

20 noch] folgt

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jemals Null ist so läge dann nur in einer Wahl der Seele der Grund weshalb jedesmal die eine und nicht die andere Vorstellung würde. Also dann würde schon im voraus wenigstens ein Interesse am Zusammenhang in der Seele gesezt also auch eine einwohnende Richtung darauf und die Voraussezung ginge in die andere über. Ist nun also die Einwirkung dieselbige, und wird also diese Thätigkeit eben so als auffassend angesehn: so liegt doch auch eine ursprüngliche Thätigkeit der Seele zum Grunde, nur daß gesagt wird in dieser sei vor dem Bestimtsein durch die Einwirkung der Dinge nichts bestimmt. Daß sich aber in derselben aus diesem wenigstens ein Interesse am Zusammenhang entwikkelt, muß schon um deswillen zugestanden werden weil so oft Aussagen über einen Zusammenhang gemacht werden welche falsch sind d. h. mit der Entwiklung der Dinge nicht übereinstimmend, welche also auch in ihrer Einwirkung | nicht können gegründet sein. Daher bleibt nun für unser Gebiet der Unterschied zwischen beiden Voraussezungen nur ein mehr und minder indem die eine die ursprüngliche Thätigkeit der Seele positiver sezt, die andere aber negativer. Und diesen Unterschied müssen wir für einen im Charakter gegründeten ansehn, so daß naturgemäß ein Mensch mehr zu der einen der andere mehr zu der andern getrieben wird. Wie aber steht es nun mit dem andern Gipfel des speculativen Denkens, mit der Idee der Gottheit? Hier tritt nur allen Untersuchungen gleich dieses in den Weg daß sie auf so vielfältige Art gefaßt erscheint, daß zwischen diesen zu entscheiden die ganze Philosophie voraussezt und daß zugleich man wenn über nichts anderes doch darüber einig ist, daß alle einzelnen Aussagen über die Gottheit welche man könnte zusammenstellen wollen als inadäquat müssen anerkannt werden, indem die Idee alles mannigfaltige verschmäht. Das nächste für uns also wäre zu fragen, ob auch hiebei von denselben beiden Voraussezungen kann ausgegangen werden und was dabei für die Natur der Seele herauskommt. Deutlich genug geht aus der Geschichte hervor daß diejenigen, welche den Grund des speculativen Denkens in einer der Seele einwohnenden Richtung suchen leicht haben diese Richtung auch auf die Idee der Gottheit zu erstreken, und indem sie auch diese mit den früheren für dieselbe annehmen einen Zusammenhang zwischen den Ideen der Welt und der Gottheit als nothwendig zu postuliren. Und eben so ist bekannt daß unter denen, welche alles Erkennen von der Einwirkung der Dinge ableiten, sich immer diejenigen befinden welche die Realität der Idee der Gottheit läugnen. Hier wäre nun abermals für uns die nächste Frage, ob ein nothwendiger Zusammenhang zwischen den beiden Ideen Gott und Welt stattfände, 6 und] korr. aus s

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allein auch dieser führt uns nothwendig in die Philosophie hinein, und da die beiden entgegengesezten Behauptungen doch wirklich vorkommen: so müssen wir uns zunächst auf die Frage beschränken, beide ohne Rüksicht auf ihre Wahrheit zu betrachten und zu fragen Wie sind denn in der der Art nach selbigen Seele beide Behauptungen möglich; daß die Idee der Gottheit gesezt wird, und daß sie geläugnet wird.

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[106] Die nächste Methode ist zu fragen wie jede Parthei die entgegengesezte Meinung erklärt. Personification. Wille. [ 33r

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[Marg. 6] He r i n g erste und zweite Jubelfeier Chemnitz Kretschmar. [

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XXVII. Am leichtesten kommen wir zu Stande wenn wir fragen wie jede Parthei sich das Gegentheil erklärt. Die Atheisten also erklären den Monotheismus aus Polytheismus, und diesen aus poetischen Personificationen welche nichts anderes sind als ein Bestreben das Leben in die Natur hineinzutragen. Die Theisten erklären sich den Atheismus nur als Mißverstand, als gegen eine bestimmte Form gerichtet nicht gegen die Idee überhaupt, oder als maximum der ihnen entgegengesezten Ansicht. Wenn nämlich die Welt schon nur gesezt wird um des Einzelnen willen also bleich ist weil die Seele immer wieder zum Einzelnen zurükgetrieben wird so muß die Idee der Gottheit noch bleicher werden bis zum Verschwinden und wenn die Seele auch im Wahrnehmen fast schon nur receptiv gesezt also alles Werden des Geistes 9–10 Die Marginalie ist wohl eine erst 1830 hinzugefügte bibliographische Notiz Schleiermachers, die sich auf die Schrift von Carl Wilhelm Hering „Das erste und zweite Jubelfest der Uebergabe der Augsburgischen Confession, nach den Verhältnissen, unter welchen, und des Geistes, in welchem es die evangelische Kirche Deutschlands im Jahre 1630 und 1730 gefeiert hat, nebst der Geschichte der Uebergabe der Confession selbst“ bezieht, das beim Verleger C. G. Kretschmar aus Chemnitz gedruckt wurde. Die Vorrede ist auf den 15. April 1830 datiert. Bereits am 27. Februar 1830 war das Buch in der „Allgemeinen Schulzeitung“ (Abtheilung I, Nr. 25, S. 5–6 der 4. Beilage) zur Subskription angeboten worden. Die Notiz steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit Schleiermachers Predigtreihe zur Feier der Übergabe der Augsburgischen Confession (20.6.–7.11.1830, erstmalig publiziert 1831 als Sechste Sammlung, „Predigten in Bezug auf die Feier der Uebergabe der Augsburgischen Confession“, vgl. KGA III/2, S. XVIII–XXVII und S. 257–400, vgl. auch KGA III/12, S. XVII–XX). Das Buch von Hering selbst ist jedoch nicht in Schleiermachers Bibliothek nachgewiesen.

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aus dem Einwirken des todten erklärt wird, so ist es dann leicht das todte für sich zu sezen ohne lebendigen Grund[.] Dieses nun führt auf dasselbe daß die Richtung in der Seele welche die Idee der Gottheit producirt ein Suchen des Lebens ist, welches mit der Entwiklung der Wahrnehmung und des Denkens parallel laufend nicht eher Ruhe findet als in der Einheit eines unendlichen alles producirenden Lebens. Nehmen wir nun zusammen was wir gefunden seitdem wir zuerst das Denken sich entwikeln ließen so liegt auf der Seite des Erkennens hier alle Erfahrung und alle Wissenschaft. Denn durch die bloße Wahrnehmung wird nichts erfahren sondern Erfahrung ist erst wenn die Wiederholung der Eindrüke als Nothwendigkeit gesezt wird und dies geschieht erst im Denken. Zur Erfahrung verhält sich die Wissenschaft nur wie das gebildete zum chaotischen. Beide aber sind ganz in der Idee der Welt eingeschlossen und man kann sagen alles sammeln von Erfahrung und alles Austauschen von Erfahrung und Wissenschaft ist nur das Bestreben die Idee der Welt hervorzubringen. Diese ist also praktisch d. h. als Richtung ursprünglich gegeben und ist die auch schon dem einfachen Wahrnehmen zum Grunde liegende Thätigkeit. Durch die Idee der Gottheit aber kommt zu unserm Erkennen nichts hinzu was nicht schon in der Idee der Welt läge | indem nichts einzelnes und auch kein einzelner Zusammenhang unmittelbar sondern nur mittelst der Idee der Welt auf Gott kann bezogen werden. Dagegen wird sich zeigen daß die Idee der Gottheit eben so sehr auf der Seite des Gefühls steht, wie die Idee der Welt auf der Seite der Wahrnehmung. – Sehn wir nämlich auf das Gefühl so hatten wir vorher nur das Bewußtsein von durch die äußern Naturpotenzen gehobenen oder gehemmten Lebensäußerungen. Liegt nun dem Fühlen eben so gut ein Fühlenwollen zum Grunde wie dem Wahrnehmen ein Wahrnehmenwollen: so ist also jenes auch ein Suchen des Lebens. Wir hatten damals alles vom menschlichen außer uns ausgehende Gefühl ausgeschlossen weil dieses gar nicht vom Wahrnehmen der Identität der Gestalt ausgeht. Denn wieviel eher wird ein Kind von Liebe und Abneigung bewegt als es sein Bild im Spiegel erkennt worin es sich die Gestalt rein isolirt hat. Sondern es liegt zum Grunde die Wahrnehmung von der Identität der Thätigkeit und diese ruht auf der Bezeichnung also auf der Sprache, wenn gleich jene Gefühle ebenfalls der wirklichen Entwiklung der Sprache vorangehn so sind sie doch mit dem Bezeichnenwollen, mit dem Instinkt von dem eignen Zusammenhang des innern und äußern verbunden[.] Also auch Leben suchend nur in weiterem Kreise. Und so finden wir auch hier zwei entgegengesezte Unterordnungen. Das Mitgefühl dem eignen unterordnen, die 33 sich] korr. aus Q R

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selbstsüchtige Richtung erschwert die Bildung der Idee der Gottheit so daß sie überflüßig und unbequem erscheinen kann. XXVIII. Nachdem wir nun diese Grundzüge aufgestellt: so ist das Gefundene auf beiden Seiten der objectiven und der subjectiven noch näher nachzuweisen und zu erörtern. – Auf der objectiv en zuerst könnte man anfechten daß Erfahrung und Wissenschaft als identisch gesezt werden da doch Viele diese Thätigkeit als zwei verschiedene Potenzen des Bewußtseins sezen und man also wenigstens glauben möchte die Wahrheit müsse zwischen jenem maximum und diesem minimum des Unterschiedes liegen. Allein zwischen diesen beiden hält nichts Stich, sondern geht immer auf eines von beiden Extremen zurük. Es ist aber in jeder Erfahrungskenntniß eine Identität des heraufsteigenden und herabsteigenden Verfahrens wie in der Wissenschaft. | Der Unterschied ist nur der, theils daß in der Erfahrung alles auf subjective Art genetisch gesezt ist, jede Einsicht hängt an dem Orte auf dem sie im subjectiven Bewußtsein entstanden ist, in der Wissenschaft aber geordnet wird nach dem formellen Element theils was mit dem vorigen zusammenhängt daß so lange wir nur eine Erfahrung wollen wir nicht eine Entwiklung des formellen Elements wollen[,] in der Wissenschaft aber diese Entwiklung vor sich geht indem das Erfahren selbst zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird, und wir bemerken durch welche innere Richtung wir die Wahrnehmung abschließen. Nur dieses Wollen der Nothwendigkeit ist in der Wissenschaft zum Bewußtsein erhoben, und darum ist in ihr das durchgebildete in der Erfahrung das unvollständige. Diese Entwiklung des formellen Elementes ist aber für sich nichts als ebenfalls das Festhalten des Bildes der eignen Thätigkeit, derselben nämlich welche auch schon dem Wahrnehmenwollen zum Grunde liegt. Wenn man nun die Wissenschaft selbst eintheilt in a priori und a posteriori so ist auch das nur ein relativer Unterschied. Denn die Construction des Besondern aus dem Allgemeinen ruht eben so auf dem Zusammenschauen des Allgemeinen aus dem Besondern, wie diesem schon indem es angestrebt wird jenes zum Grunde liegt. Was weiter die s u b j e c t i ve , die Gefühlsseite betrifft so haben wir vorher nur die physische Einwirkung betrachtet, Ueber alle menschliche aber finden wir den Streit daß Einige sie ganz auf die Person beziehn, Andere das gesellige als etwas ganz eigenthümliches sezen. Im ersten Falle wäre keine specifische Einwirkung des menschlichen als solchen sondern alles wirkte nur inwiefern es den persönlichen Lebensprozeß d. h. theils die Ausströmung theils das Erkennen und das vorher betrachtete Fühlen mehrte oder minderte. Hier finden wir 23 Nur] korr. aus QBR

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eine auffallende Aehnlichkeit zwischen der Ansicht welche alle Combination nur um des Einzelnen willen sucht – denn auch dies müßte dann seinen lezten Zwek in der Le|bensförderung haben, und der welche alles einzelne Wahrnehmen nur auf die Combination und somit auf die Weltauffassung bezieht. Eben so hier eine entgegengesezte Unterordnung welche ähnliche entgegengesezte Resultate giebt[.] Denn wer das einzelne Leben isoliren will kann keine Einheit des Lebens in der Totalität suchen. X X I X . Bei der ersten Ansicht kann es keine unbedingte und keine beharrliche Anziehung zu dem menschlichen außer uns geben, sondern jeder kann erst nachdem er sich erprobt der Gegenstand eines beharrlichen Gefühls werden. Und auf diese Weise die ganze auf die Zuneigung gebaute sittliche Welt zu erklären ist fast unmöglich. Die sicherste Handhabe für die andere Ansicht hat man außerdem in den vermischten Gefühlen welche auf dem geselligen Gebiet so häufig sind. In dem physischen Gefühl finden wir überall den strengen Gegensaz des angenehmen und unangenehmen, so daß eins das andere ausschließt und nur aufeinander folgen kann. Zwar ist ein Nebeneinandersein einer angenehmen und unangenehmen Empfindung durch zwei verschiedene Sinne möglich aber diese bleiben auch von einander getrennt, und stumpfen wenn ‚sie‘ das Gleichgewicht halten einander nur allmählig so ab daß mehr die Wahrnehmungsseite hervortritt[.] Ja man könnte sagen auch aufeinanderfolgende entgegengesezte Empfindungen hätten nicht imer einen Uebergang durch Null, sondern oft überraschten sie einander, und dann müßten sie doch ein Zugleichsein haben, aber das ist doch nur ein solches, wobei die schwache im Verschwinden begriffen ist, kein Ineinandersein. Dies finden wir in den geselligen Empfindungen dominirend, und es ist nur dadurch zu erklären daß man das Leben des Andern selbst in die Identität mit dem seinigen aufnimmt[.] Dieses Aufnehmen ist dann selbst eine Lebenserhöhung und daraus entsteht ein von dem Zustande der mit | aufgenommen wird und von der Einwirkung dieses vorübergehenden Zustandes auf das persönliche Dasein unabhängiges Grundgefühl vermittelst dessen jede menschliche Erscheinung angenehm empfunden wird, worauf hernach die hemmende Einwirkung sich aufsezt, auf denselben Gegenstand mit jener zurükbezogen Eines mit ihr ist und also das Angenehme und Unangenehme in Eins gebildet wird. Dies ist freilich nur in sofern richtig als man auch eine Duplicität des Ange5 bezieht.] am linken Rand mit Einfügungszeichen: )Auch ist diese Ansicht deshalb unzureichend weil das*, im Text befindet sich kein Einfügungszeichen 5 eine] folgt )ähnliche* 12 werden] über )geben* 13 unmöglich.] es folgt ein gestrichenes Einfügungszeichen, wahrscheinlich Einfügungsmarkierung für die Marginalie Zeile 5

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nehmen zugeben muß, wenn sich auf das Grundgefühl ein specielles angenehmes aufsezt; aber diese ist auch leicht nachzuweisen. Dagegen reicht die selbstsüchtige Ansicht zur Erklärung nicht hin. Denn alle mitleidigen Gefühle enden nicht in ein Bestreben sich zu zerstreuen oder den Gegenstand zu entfernen, noch in ein Bestreben sich selbst sicher zu stellen, wie geschehen müßte wenn das Mitleid nur als Besorgniß ähnlicher Zustände oder als Erinnerung selbsterlebter erklärt würde, sondern in ein auf den Gegenstand gerichtetes Bestreben von ihm den unangenehmen Zustand zu entfernen, wodurch weder ähnlichem vorgebeugt noch die Erinnerung wenn sie einmal entstanden ist getilgt werden kann. Daß nun auch von unserer Erklärung aus vielerlei Abstufungen und Arten stattfinden wird demnächst zu erörtern sein. X X X . Das gesellige Gefühl nach seinem Umfang betrachtend beruht es auf dem Auseinandertreten des persönlichen und des gemeinsamen. Und hier findet zuerst eine Abstufung statt. Mehr am thierischen liegt das Nichtunterscheiden von beidem in der rohen Menschheit wo die gesellige Cohäsion eine ziemlich thierische Gestalt hat. Das gesellige Gefühl kann dann so genau an der unmittelbar gegebenen Masse haften daß alles zu dieser nicht gehörige menschliche als feindselig betrachtet wird, und dies kann bis zur Menschenfresserei gehn. Aber solche Beschränkung ist nur in einem sehr isolirten Zustande möglich ohnstreitig der niedrigste Zustand des sittlichen Gefühls. Dann kommt das bestimmte Auseinandertreten, wo aber oscillirend auch Hervortreten des persönlichen über das gesellige möglich ist. Endlich die vollkomne Einigung in der höchsten Besonnenheit, wo kein Streit mehr möglich ist weil die Person nur als ein Siz | des gemeinsamen Bewußtseins gefühlt wird. In der Mitte ist der Siz aller Leidenschaften und Kämpfe. – Alles specifische, wie das elterliche geschlechtliche und vaterländische Verhältniß übergehn wir hier und halten uns nur [an] das elementarische. Um nun die verschiedenen Aeußerungen zu übersehn theilen wir die Relationen zwischen zwei Einzelnen in gleiche und ungleiche. Die Gleichheit besteht darin wenn beiden dasselbe Verhältniß zugesprochen wird zu dem entstehenden Subject des höhern Bewußtseins. Dies ist aber nie allgemein und absolut sondern ursprünglich nur in Bezug auf die sich eben bildende Erregung zu verstehen. Die Ungleichheit ist also doppelt, der fühlende entweder untergeordnet oder überragend. Das erste in der G leichh e i t ist T h e i l n ah m e als Mitleid und Mitfreude, zu welcher aber auch gehört Freude an der Theilnahme des anderen und Neigung sie zu befriedigen, A n z i e h u n g. Dies kann zufällig und fragmentarisch 5–6 noch ... stellen,] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen

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bleiben es kan auch ausschlagen theils in das Gefühl der Unentbehrlichkeit = F r e u n d s c h af t theils in A n t i p at hie. Das erste wenn eins als bleibende Veranlassung erhebender Erregungen gesezt wird, das lezte wenn er als fremdartig und nicht aufzunehmend, als unsere eigenen Beziehungen zu dem erhöhten Bewußtsein verwirrend erscheint. Die persönlichen Antipathien entwikeln sich erst in Zuständen wo die Persönlichkeit individueller ausgebildet wird. Die Freundschaften können mehr weichlicher oder mehr heroischer Natur sein (welches erst bei den Temperamenten zur Anschauung komen kann. Immer aber sezen sie eine starke Regsamkeit voraus; so wie die Antipathien eine beschränkte Empfänglichkeit[.] In der Ungleichheit ist nun das Gefühl der untergeordneten Ehrfurcht, das Gefühl des Ueberragenden ist Herablassung und Begeistung (Gefühl daß eine Kraft an einen geht) die Ungleichheit sei nun die physische oder die intellectuelle oder die sociale. In der Ehrfurcht ist kein Verändern des Verhältnisses angestrebt, gewissermaßen aber doch imer in der Begeistung. Denn wenn man herunterhalten will ist der Zustand unrein. So potenzirt sich also die Ungleichheit durch sich selbst. | XXXI. Das meiste angeführte scheint mehr Verhältniß, also Handeln als Gefühl zu sein. Beides ist auch freilich schwer zu trennen weil Gefühl in Handeln und Reaction ausgeht. Deshalb vorzüglich festzuhalten wie die Freundschaft hier z. E. nur entstanden als aus der Wiederholung einzelner Annäherungsmomente behandelt ward also nur als festgehaltenes Gefühl von dem Handeln aber in der Freundschaft nicht ist geredet worden, und strenger läßt sich die Trennung nicht halten. Dasselbe gilt von den ungleichen Verhältnissen wo auch, wenn man von dem specifischen absieht das beharrliche sich erst aus dem momentanen, und somit auch die Handlungsweise erst aus dem Gefühl entwikkelt. – Eben dies nun auch von dem Ehrg ef ühl zu bemerken. Es hat eine Seite von der es mit dem specifischen zusammenhängt, weil unser Verlangen nach Billigung niemals allgemein ist[,] wir betrachten es aber hier so wie das bestimmte selbst erst aus dem momentanen und zerstreuten entsteht. Wenn sich der Unterschied entwikkelt zwischen Sympathie und Antipathie entwikkelt bestimmt sich auch immer mehr der Kreis in Bezug auf den wir Ehrgefühl haben. Nämlich die uns widerwärtig sind, das sind solche zwischen denen und uns ein gemeinsames Bewußtsein nicht auf die Art entstehn kann daß einer das Dasein des Andern richtig darin aufnähme. (Legt man das specifische zum Grunde so soll freilich einem 40–2 (Legt ... werden.)] am rechten Rand mit Einfügungszeichen )sich*

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schlechthin durch die Natur gegebenen gemeinsamen die persönliche Antipathie immer untergeordnet werden.) Hieraus ergiebt sich schon worin das Ehrgefühl besteht. Nicht eigentlich in dem Bestreben unser eigenes Urtheil von uns durch das Urtheil anderer zu bestätigen, das ist viel zu künstlich und zu reflectirt. Sondern es ist das Gefühl von der Art wie Andere unser Dasein in das gemeinsame Bewußtsein aufnehmen. Es hat eine mehr negative Seite, wenn wir eine Handlung vorgebildet haben auch die Affection des gemeinsamen Bewußtseins darüber vorzubilden, welches dann hemmend oder fördernd auf die vorgebildete Handlung wirkt, und eine mehr positive, indem es | die durch das gemeinsame Bewußtsein aufgegebenen Forderungen vorbildet, wodurch es Vorbildung eigner Handlungen veranlaßt. Zu bemerken aber ist über dieses und alles bisher aufgezeigte gesellige daß es mit dem eigentlich sittlichen nicht zu verwechseln ist. Denn auf der einen Seite ist alles dieses nicht das sittliche auf der andern ist das sittliche nur ein einzelnes hierunter mit begriffenes. Denn die einzelne Erscheinung des menschlichen bringt kein absolut allgemeines gemeinsames Bewußtsein hervor sondern nur in Bezug auf das Verhältniß unter dem der einzelne mir erscheint. Wie denn alles was von Sympathie, Antipathie, Freundschaft p. gesagt ist auch auf das geht was in einzelnen Gebieten entsteht, und so ist es auch mit der Ehre. In dem Auseinandertreten des persönlichen und gemeinsamen ist nun die Möglichkeit des Streits zwischen beiden gesezt und die Entwiklung der leidenschaftlichen geselligen Zustände[.] Wir müssen uns zu dem Ende die Grundansicht noch einmal vorhalten. Das Grundgefühl der menschlichen Erscheinung ist angenehm; aber nach dem allgemeinen Gesez stumpft sich dieses in dem constanten Zusammensein ab und desto leichter kann dann das persönliche hervortreten. An dieses Grundgefühl knüpft sich dann das Mitempfinden des Zustandes des andern an. Dies kann mit dem persönlichen Gefühl contrastiren. Diese beiden lassen sich nicht zusammenschmelzen sondern eins muß das andere überwiegen. Aber die Theilnahme ist gegenseitig. Wenn nun das Ueberwiegen nach gleichem Maaß geschieht so daß jedes persönliche in seiner Beziehung auf ein gleichmäßig gebildetes GemeinBewußtsein geschäzt wird so entsteht kein Conflict. Fehlt das gemeinsame Maaß so entsteht ein Conflict der weichlich ist sentimental, wenn jeder sein persönliches gegen das andere zurükstellen will hart wenn jeder seines gegen das andere durchsezen will[.] Treffen die entgegengesezten Maximen zusamen so entsteht ein abhängiges Verhältniß.

3 Ehrgefühl] versehen mit gestrichener Unterstreichung

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[Marg. 7] Eben deshalb ist nicht möglich alles Handeln bloß als Reaction auf das Gefühl anzusehn. Man bekäme dann gar kein constantes Handeln, und es bliebe nur übrig als Supplement zur Gewohnheit seine Zuflucht zu nehmen.

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[Marg. 8] Schadenfreude ist eben so gut gegen die triste Demuth als gegen die Eigenliebe gerichtet.

[Marg. 9] Jene gegen die Anmaßung dem Andern das gemeinsame Maaß geben zu wollen.

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[Marg. 10] Man kann unterscheiden die rein persönliche die rein gesellige und die gesellig persönliche. Schema zu lezterer Zorn und Unwillen.

[Marg. 11] Zusamenhang mit dem religiösen Gefühl nach Analogie des Erkennens. [

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X X X I I [.] Man kann dem gemäß dreierlei Abstufungen unterscheiden in den geselligen Empfindungen welche auf einem Streit beruhen. Die eine ist die rein persönliche. Als Schema | davon aufgestellt N eid und S c h a d e n fr e u d e . Wenn A im leidenden Zustande den B zur Theilnahme auffodert, dieser aber selbst im behaglichen Zustande sie verweigert: so wird dies constant werdend im B den Neid erregen, in C aber der sich auf einer höheren Entwiklungsstufe befindet das bloße Urtheil einer Unfähigkeit des B und das Bestreben ihn des erhöhten Bewußtseins fähig zu machen. Kommt nun B auch in einen leidenden Zustand: so wird in C zwar das Mitleid entstehn in A aber die Schadenfreude. Gegen D der das Mitleid nicht verweigert hat wird weder Neid noch Schadenfreude entstehn als auf eine unnatürliche d. h. aus einem fremden Incidenzpunkt zu erklärende Art. Die zweite Stufe ist die wo das erhöhte Bewußtsein zwar entsteht aber dem persönlichen untergeordnet wird[.] Schema davon Z o r n . Wenn A eine Handlung

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oder eine persönliche Dignität darbietet welche von B nicht anerkannt wird: so wird je thätiger diese Nichtanerkennung ist in A der Zorn gegen B entstehn welcher sich imer auf ein gefordertes gemeinsames Bewußtsein bezieht, in C aber wird nur Unwille entstehn. Die dritte Stufe ist die wo das persönliche überall dem gemeinsamen untergeordnet wird. Schema U n w i l l e n und B e wundrung . Wenn B gegen D auf eine seiner Stellung ungemäße Weise verfährt so wird in C derselbe Unwille erregt als wenn das nämliche gegen A geschieht und kein Zorn. Eben so wird die Bewunderung in einem noch persönlichen imer nicht frei sein von Neid. In diesen drei Stufen haben wir die Entwiklung des erhöhten Subjects und sehn wie es sich erst allmählig gegen das niedre feststellt. Zugleich sehen wir hier den Ursprung der beiden entgegengesezten Ansichten daß das gesellige erkünstelt und daß es ursprünglich sei. Jene beruht darauf daß die völlige Entwiklung des geselligen Verfahrens später ist und sezt daher, daß ein gänzlicher Mangel desselben das erste sei. Die andere beruht darauf, daß das gesellige der ursprüngliche Zustand sei aber daß es sich später im Bewußtsein entwikle, und sezt deshalb auch die oben gefoderte Einheit daß schon das ursprüngliche rein der Natur zugewendete Fühlenwollen dieselbe Richtung der Seele sei wie hernach das Mitfühlenwollen, und daß auch schon in seinen ersten Anfängen der Mensch sich nicht als ausschließendes Subject seiner Zustände, sondern als Bruchstück des Subjects seines er|höhten Bewußtseins ansehe. Wenn wir nun erst in der lezten Stufe die Vollendung sehn, und diese durch die Mannigfaltigkeit der geselligen Relationen bedingt ist und dadurch daß jeder seiner Stelle gemäß und nicht anders in das gemeinsame Bewußtsein von jedem aufgenomen sei, diese Thätigkeit aber mit jener ersten dieselbe ist so müssen wir gestehn daß die Seele schon im ersten Anfang ihres Fühlenwollens auf die Construction eines unpersönlichen SelbstBewußtseins gerichtet ist eben wie schon in dem ersten Wahrnehmen auf die Realisirung der Idee der Welt[.] Ehe wir aber von hier weiter gehn ist noch etwas zu berüksichtigen nämlich die körperlichen Eindrükke welche das Erscheinen der Menschen hervorbringt, und welche durch einzelne persönliche Sympathien und Antipathien auch noch auf das Maaß in der höchsten Stufe einen Einfluß ausüben. Man sucht diese Eindrükke des Wohlgefallens und des Mißfallens gewöhnlich ganz geistig zu erklären aus Aehnlichkeiten und aus allgemeinen physiognomischen Bildern; allein das geht nur in den Fällen wo wir uns entweder bestimmter Aehnlichkeiten, welche mit dem Eindrukk zusammenfallen, bewußt werden und dies sind so sehr die wenigsten, daß wir uns oft bei einem Men7 C] korr. aus diesem

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schen der uns widerlich auffällt der Aehnlichkeit mit einem lieben Menschen können bewußt werden, – oder wo wir wenigstens wissen der Eindrukk gehe von der Physiognomie oder sonst etwas bestimmten öfter gemessenen aus, allein das ist eben so selten. Das ganze kann nur als Aufgabe aufgestellt werden[.] Worauf es aber am meisten anzukommen scheint ist dieses. Wir haben das Gefühl als der Atmosphäre zugewendet mit der Respiration verglichen, nur daß diese bestimmt pulsirt. Allein die Haut ist auch im Einziehn und Ausströmen und muß also auch ihren Puls haben[.] Die Atmosphäre ist auch in lebendiger Bewegung und pulsirt und ihr Zusammentreffen mit jenem Pulsiren muß auch auf sie rükwirken und so in der Nähe der Menschen etwas hervorbringen dem ähnlich was man die sensible Atmosphäre des Menschen genannt hat. Die Eindrücke können nun beruhen auf einer Zusammenstimmung oder einem Mißverhältniß dieser | Pulsationen an der Grenze beider Atmosphären. Indessen muß man noch eins hinzunehmen, und das ist die Wirkung welche das Auge eines Andern fühlbar hervorbringt. Beides nun hängt mit dem psychischen des Einwirkenden genau zusammen, und wirkt also auch unmittelbar psychisch. Das wirkende ist physisch angesehn ein solches minimum, daß es noch gar nicht zur Messung gekommen aber es hat einen stärkeren und bestimmten psychischen Gehalt. So läßt sich auch begreifen wie mancher Mensch sehr bestimmte Eindrüke häufig hervorbringt, höchst selten aber deren selbst empfängt weil nämlich beim Uebergewicht des Ausströmens seine Receptivität geringer ist. Doch ist dies keinesweges nothwendig[.] Daß aber die Eindrüke entgegengesezt wären ist ein sehr seltener und imer unnatürlicher Fall. X X X I I I . Wenn sich nun das erhöhte Bewußtsein so weit gesteigert hat daß das Leben der menschlichen Gattung in das SelbstBewußtsein aufgenommen und alles persönliche so wie alle kleinern Sphären in dieser begriffen und ihr untergeordnet sind: so bleibt immer noch übrig daß diesem höchst entwickelten SelbstBewußtsein entgegengesezt ist die äußere Natur. Die Einwirkungen dieser werden nun auch in jenes zusammengesezte SelbstBewußtsein aufgenommen; aber es muß sich nun nach der Analogie der bisherigen Entwiklung ein Bestreben entwikeln auch zwischen sich und der Natur ein gemeinsames Bewußtsein zu stiften und dieses nun wird das Bewußtsein der absoluten Einheit alles Lebens d. h. der Gottheit, und die Beziehungen aller Lebenszustände auf dieses sind dann die relig iösen G e f ü h l e . Dies ist ganz analog dem auf der objectiven Seite sich entwikelnden Bewußtsein der Welt. Auch müssen wir eben so sagen, schon das Menschheitsuchen welches im geselligen Empfindenwollen 36 BW] korr. aus Q R

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liegt ist ein Gottheitsuchen, ja auch schon das organische Empfindenwollen, es ist alles dieselbe Richtung der Seele die nur allmählig aus dem bewußtloseren in das bewußtere übergeht. Auch finden wir hier denselben Streit daß Einige das religiöse Gefühl für ursprünglich und natürlich andere für künstlich und durch Täuschung oder Betrug erzeugt ansehn. Aber der lezten Ansicht kann man sich wol nicht hingeben wenn man bedenkt theils wie der Irrthum nirgend anders sein kann als in der Wahrheit und wie vergeblich man die Aufgabe stellen würde die Wahrheit aufzufinden an welcher dieser | Irrthum sein könnte der seinem Inhalt nach über alle andere Wahrheit hinausgeht[,] theils wie dem Betrug nicht nur immer eine Absicht zum Grunde liegt sondern auch eine solche Erklärung nachweisen muß daß die Absicht sich nicht auf einem leichteren und sichereren Wege erreichen ließ. Wenn nun dies nicht sein kann: so ist das religiöse Gefühl die lezte Entwiklung und Vollendung über das gesellige hinaus. XXXIV. Diese Stellung des religiösen Gefühls bestätigt sich von allen Seiten. 1.) Betrachten wir die Entwiklung des geselligen in ihren drei Abstufungen so finden wir dem gemäß drei Abstufungen im religiösen Gebiet. Parallel der fast thierischen Geselligkeit ist der Fetischismus, verworrene Verwechselung des einzelnen mit der absoluten Einheit. Parallel dem Streit finden wir den Polytheismus, das höchste selbst den noch nicht in einander aufgegangenen Relationen gemäß gespalten; und die reine Idee der Gottheit entwickelt sich erst mit dem Streben nach einer völligen inneren Harmonie zugleich. 2.) Daß schon das Wesen des Menschensuchens ein Gottheitsuchen ist zeigt sich in der allgemeinen Ansicht pietas geht auf Gottheit und auf Vaterland und Eltern, und der Frömmigkeit am meisten zuwider ist υβρις d. h. Erhebung des Einzelnen sei es über die Macht der Natur oder sei es über eine bestimmte Sphäre erhöhten Bewußtseins. 3.) Unserer Ansicht nach muß das Gottheitwollen und das allen Gegensaz von Lust und Unlust aufheben wollen Eines sein und das zeigt sich auch. Indem das gesellige Bewußtsein entsteht wird in diesem alle bloß persönliche Lust und Unlust aufgehoben; aber es entsteht eine höhere Persönlichkeit und es ist also auch dem Gegensaz von Lust und Unlust unterworfen. Das religiöse Grundgefühl aber ist durchaus Anbetung d. h. das Verschwinden aller Lust und Unlust in der Unterwerfung unter die absolute Lebenseinheit. Nun finden wir zwar das religiöse Gefühl auch sich in Lust und Unlust spalten; aber nie ursprünglich | sondern nur sofern eine Reflexion entsteht über Annäherung oder Entfernung von dem gänzlichen Uebergehn aller Gefühle in das religiöse. Und dies ist nothwendig weil wir Menschen ganz und gar aus dem Gebiet des 12 nachweisen] nach über )zum Gr*

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Gegensazes nicht kommen, er ist aber hier völlig untergeordnet. [Das Gebiet dieses untergeordneten Gegensazes aber constituirt sich sehr anders je nachdem das religiöse Gefühl sich mehr oder weniger teleologisch ausbildet] – Die Frage könnte noch aufgeworfen werden ob diese Parallele Welt : Gott = objectives Bewußtsein : subjectivem Bewußtsein das ganze Verhältniß beider Ideen erschöpfe und keine Subordination zwischen ihnen sei. Diese Frage aber kann hier nur als transcendent abgewiesen werden. Wir müßten die ganze Dialektik mit in unsere Untersuchung ziehn wenn wir entscheiden wollten ob die Idee der Welt und die einzelnen Subsumtionen unter dieselbe wirklich vollzogen werden können ohne die absolute Einheit vorauszusezen[.] Nur bleibt dieses immer der Anknüpfungspunkt daß wenn sich die Idee der Gottheit aus der Idee der Welt auf dem Gebiet des objectiven Denkens entwikelt, dieses gar nicht die religiöse Genesis ist, sondern daß hier das Gefühl das primitive ist und der Gedanke erst aus der Reflexion entsteht, so wie auch das Gefühl welches die Idee der Welt begleitet nicht das religiöse ist sondern ein anderes. – Der lezte Punkt der Parallele ist aber der, daß das für sich besonders heraustretende religiöse Gefühl ganz gegenübersteht dem für sich besonders heraustretenden speculativen Verfahren wovon auch keiner ganz entblößt welches aber auf verschiedener Entwiklungsstufe und in verschiedenen Naturen in einem verschiedenen Maaß vorhanden ist. Noch aber ist übrig das Gefühl aufzusuchen welches die Manifestationen der Weltidee im Erkennen begleitet. Es ist das sogenannte ästhetische Gefühl, welches man gewöhnlich unter den beiden Ausdrücken des Schönen und des Erhabenen zu befassen pflegt. Daß es dies wirklich ist, wird sich an einigen Beispielen zeigen, und dann leichter das ganze Gebiet vorzeichnen und charakterisiren lassen[.] | Das Geschmaksgefühl an der schönen Natur hat mit dem organischen aus der Atmosphäre entspringenden nichts zu schaffen. Das eine kann angenehm das andere unangenehm sein in demselben Moment, und sie thun dann einander Abbruch aber ohne sich zu verschmelzen. Eben so das Gefühl an einer schönen Gestalt ist ganz auf dieselbe Weise unterschieden von dem sympathetischen und zwar offenbar so daß in allen Fällen das ästhetische durch das Erkennen durchgegangen ist. Hingegen kann die bekannte Instanz daß die Kritik den Kunstgenuß stört nichts austragen; denn dies ist ein Erkennen in welchem die Einheit des Gegenstandes aufgelöst wird und so lange dies geschieht kann der Genuß nicht stattfinden. Es fragt sich nur was für ein Erkennen ist das zum Grund liegende? 1–4 [Das … ausbildet]] eckige Klammern im Manuskript 14 religiöse] reliogiöse

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X X X V. Zuerst müssen wir von der hiesigen Behandlung das Gefühl welches die Kunst hervorbringt ausschließen damit wir nicht die ganze Aesthetik herein bekommen. Die Kunst ist eine menschliche Production, Ausströmung von Gedanken Bildern Tönen und es muß also von ihr bei der ausströmenden Thätigkeit die Rede sein[.] – Wenn wir nun an unsern Faden anknüpfen voraussezend alles Gefühl des Anmuthigen Schönen und Erhabenen sei eine Aufnahme des Erkennens ins Gefühl und allem Erkennenwollen liege das Bestreben die Idee der Welt zu realisiren zum Grunde: so tritt die Bemerkung entgegen daß während des Gefühls das Erkennenwollen aufhöre. Darin scheint zu liegen daß das Ziel des Erkennenwollens auf eine freilich nur relative Weise aber doch anders als bei andern Gegenständen erreicht sei. D. h. alles Anmuthige Schöne und Erhabene muß in einem eminenten Sinne Bild der Welt sein, und das ist das Gemeinsame dieser Empfindungen. Zwei Momente aber sind hier die HauptSache 1.) das Aufgehobensein der Gegensäze in einem bestimmten Spiel lebendiger Kräfte und die unendliche Fülle in diesem Spiel. Was einen Gegensaz in sich enthält und uns zu Auflösung desselben aus sich heraus führt das ist in so fern nicht schön. Was wir in dem Bilde das uns entsteht erschöpft fühlen das ist nicht erhaben. Der schönen Gestalt steht entgegen die häßliche und die gleichgültige. Jene zeigt die bildende Kraft der Natur entweder sich selbst widersprechend oder im Streit mit äußeren Potenzen. Die gleichgültige ist nichts in sich ab|geschlossenes denn sie erinnert an tausend ähnliche. Eben so mit schönen Handlungen[.] Es muß die ganze Seele darin sein, das Zusammenwirken aller Kräfte sich darin offenbaren und die Uebereinstimmung mit der Natur. Die sittlichste Handlung die dies nicht hat wird uns nicht als schön auffallen. Aber nur im Leben finden wir das Schöne. Auch die Natur ist nur schön als lebend, nicht in der Erstarrung. Ein schönes Stük Natur ist nur ein solches in welchem sich alle Erdelemente vereinigen, je vollständiger dies geschieht in desto größerem Styl ist sie schön als Erdbild. Eben so auch ist das Erhabene nur im Leben und im Spiel der Kräfte. Es ist nur Täuschung daß man eine einförmige große Ebene auch nur im ersten Augenblik erhaben finde, eben so wenig wie einen isolirten kahlen Felsen (außer insofern man das vergangene Leben der Bildungsepoche hineinträgt) der bloßen Größe wegen; der trübe Wolkenhimmel und der heiße Mittagshimmel sind nicht erhaben ohnerachtet sie eben so groß sind als der Sternenhimmel. Nichts mathematisches ist als solches erhaben. Wenn uns aber im Spiel der Kräfte das relativ für unser Fassungsvermögen Unendliche entgegentritt dann fühlen wir das Erhabene. Wir haben 24 erinnert] folgt )sich*

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dann das Bild der Welt von dieser Seite auf eine positive Weise und sehn nicht warum wir einzelnes zu einzelnem hinzufügen sollen um uns dem Unendlichen zu nähern. [

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[Marg. 12] Erhabenheit der Naturerscheinungen Sturm Gewitter überhaupt die allgemeinen Potenzen im Gegensaz des individuellen. So auch im sittlichen Kein Mensch erhaben sondern nur ein Zustand allgemeiner Motionen. Im individuellen mehr die Schönheit (Christus erhaben, dies aber schwerlich zu erwähnen) Bild der Seele, wieweit es gediehen ist. – Ueberall Ausbauchen auf die ausströmenden Kräfte[.] – Ueber das Ausformen der aufnehmenden[.] Im Gefühl kein Festhalten[.] [

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X X X V I . Die Unterscheidung des Schönen und Erhabenen wird noch dadurch bestätigt daß das Schöne weit mehr im Individuellen seinen Siz hat[;] eine schöne Gestalt ist in einem weit bestimmteren Sinne schön als eine schöne Gegend das Erhabene weit mehr in den allgemeinen Potenzen. Sturm Gewitter sind erhaben wegen unbestimbarer Fülle der Kraft. Wenn man berechnen könnte die elektrische Intension des Gewitters und die Zeit seiner Entladung nebst dem Umkreis seiner Wirksamkeit so würde bei dieser Berechnung der Eindruk des Erhabenen cessiren. Auf dem ethischen Gebiet kann eine Seele schön sein; aber kein Mensch ist im Ganzen seines Daseins betrachtet erhaben: Sondern das Erhabene kann nur in einzelnen | Handlungen sein in denen sich Erregungen allgemeiner sittlicher Potenzen kundgeben, und es entsteht um so stärker je mehr die Persönlichkeit zurüktritt daher alle reinen Aufopferungen bei großen Veranlassungen erhaben sind[.] Mit diesen Gefühlen nun ist die aufnehmende Thätigkeit beschlossen und wir nehmen ehe wir weiter gehn noch eine allgemeine Uebersicht von dem bisher geleisteten. Alles ist fragmentarisch weil wir durch Abstraction eine Thätigkeit isolirt haben die in der Wirklichkeit nur mit den andern zusamen ist. Durch solches Isoliren bekommt man nie etwas Ganzes in sich abgeschlossenes sondern nur für sehr vieles die homogenen Elemente. Daher ist uns nichts so deutlich 19 Eindruk] korr. aus Q R auch nie.*

21 betrachtet] über )Q R*

26 sind[.]] folgt )QSieR kommen

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geworden als der Anfang inwiefern wir nachdem wir das Leben angesehn als einen Zustand des Erregtwerdens, wobei uns der Unterschied zwischen Leben und Tod verschwand indem nichts so absolut todt ist daß es nicht fähig sein sollte erregt zu werden, hernach darauf zurükkamen daß wir ein Erregtwerden wollen voraus sezten. Eben so das Ende nachdem wir inne geworden daß die höchste Entwiklung des Gefühls auch die ganze Entwiklung der ausströmenden Thätigkeit voraus sezt. Denn das Bestreben den Gegensaz mit der Natur durch die That aufzuheben muß imer eher gesezt werden als das religiöse Gefühl welches das beständige Supplement desselben ist. Alles erhöhte SelbstBewußtsein sezt Bildung eines gemeinsamen Lebens voraus und so enthält auch die Idee der Welt nothwendig das Bewußtsein aller Thätigkeiten des Menschen darin. Daher bekam auch die Entwiklung einen Schein von Unstätigkeit weil wir bei beiden Formen Gefühl und Anschauung auf einen Punkt kamen den wir nur verstehn konnten wenn wir eine bestimte aus strömende Thätigkeit voraussezten die wir hier nicht entwikeln konnten, nämlich für das Denken die Sprache, für das gesellige Bewußtsein die Aeußerungen des Gefühls in Ton und Geberde, weil die An|nahme eines menschlichen außer uns auf der Wiedererkennung der menschlichen Thätigkeiten ruht. Was aber die beiden Grundformen Gefühl und Anschauung betrifft so haben wir gesehn wie in dem ganzen Umfang einer jeden die Thätigkeit dieselbe ist und nur sich weiter entfaltet[.] Der Anfang alles menschlichen aber beruhte auf dem bestimmten Auseinandertreten beider so daß das unvollkommenste Auseinandertreten die höchste Verworrenheit ist. Aber die Vollendung alles menschlichen beruht auf dem vollkomnen Ineinandersein beider. Denn die Idee Gottheit entsteht im Allgemeinen nur aus der Reflexion über das Gefühl und das religiöse Gefühl ist selbst nur vollkomen in der Identität der Empfindung und der Reflexion und das ästhetische Gefühl beruht auf der Idee der Welt aber diese ist selbst nur vollkommen in der Identität des Erkennens mit dem Empfinden. Und dies Zusammensein von Auseinandertreten und sich Ineinanderbilden ist auch in jedem Moment und Sonderung eines Momentes vom andern ist nur in diesem Wechsel. Ein Erkenntnißmoment ist nur geschlossen in dem Gefühl der Befriedigung, es sei nun das ästhetische oder das speculative und ein Gefühl ist nur geschlossen im Zurükwerfen auf den Gegenstand also wenn ein Erkennen daraus geworden. Die Seele ist also Weltsuchend und Ichsezend, nur daß im Weltsuchenwollen Aufnehmen und Festhalten Eines ist, im Ichsezenwollen aber Aufnehmen und Fahrenlassen eines ist denn alle Gefühle verschwinden wie das Gleichgewicht wieder eintritt. Das Ich wird auf gleiche Weise im Wechsel der Gefühle und im Festhalten der Erkentnisse, und die Welt wird für uns eben so in beidem.

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X X X V I I . Von der Reflexion über das Erkennen ist noch übrig geblieben der Zustand der U e b e r z e u gu n g nebst ihrem Gegentheil und des Zw e i fe l s . Offenbar keine Eigenschaft des Erkennens selbst, weder von der Lebhaftigkeit des Erkennens abhängig noch von der Uebereinstimung mit den Dingen, und anderes giebt es in der Erkentniß nicht zu unterscheiden. Sondern Gefühl von der Art wie in einer Vorstellung dem Ziel des Erkennens | näher gekommen ist oder nicht und also abhängig von dem Entwurf des Fortschreitens den man sich gemacht. Wenn durch eine Vorstellung hier Erkentniß wieder aufgehoben worden so wird sie verworfen; wenn die neue Vorstellung nach dem gemachten Schema mit der frühern Zusammenhängt hat man Ueberzeugung; wenn man zwischen beiden schwankt hat man Zweifel. [Nach dem Zweifel kann das Verwerfen Lust machen, wenn dadurch Uebereinstimmung zwischen dem Einzelnen und der Methode wiederhergestellt wird, und Ueberzeugung Unlust machen wenn man einen Theil seines Schema – denn vom Ganzen, kann niemals die Rede sein – aufgeben und einen neuen bauen muß.] Mehr auf dem wissenschaftlichen Gebiet zu Hause als auf dem Erfahrungsgebiet, weil nämlich auf dem lezten alles Gewißheit hat solange man nicht etwas wissenschaftliches mit hineinfließen läßt. Denn die Erfahrung ist immer eigentlich nur die, daß man so vorgestellt hat[.] Dieses nun ist der unmittelbarste Anknüpfungspunkt für den Uebergang zur ausströmenden Thätigkeit denn es ist darin Gefühl und Trieb nicht mehr zu unterscheiden indem die Ueberzeugung immer an sich schon Grund des Fortfahrens im Erkennen ist und umgekehrt. Wenn nun die Ueberzeugung eigentlich nur an der Uebertragung auf das wissenschaftliche Gebiet hängt, und Einige auf diesem so gut als gar nicht verkehren andere überwiegend: so ist also als die erste freie Thätigkeit, die sich aus dem Erkennenwollen weiter entwikelt die theoretische Richtung denn diese ist an sich in der aufnehmenden Thätigkeit nicht enthalten. In denen aber diese ein minimum ist steht ihr als maximum gegen über die Anwendung alles Erkennens auf die bildende Thätigkeit des Menschen wodurch er der Welt sein Dasein einprägen will. Diese Seite ist wieder in jenen ein minimum, beides aber nicht aus Unfähigkeit welches nur die einseitige Ansicht ist die jeder von dem andern hat. Wir haben also zunächst in zwei Richtungen unsern Gegenstand zu betrachten. Ausströmende Thätigkeit Ideale Richtung Uebersicht[.] XXXVIII. Alles hieher gehörige zerfällt in drei große Massen 1.) Wi s s e n s c h a f t . Denn oben konnten wir sie nur betrachten in ihrer 1 Erkennen] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen: NB. Hier nur noch von der Gefühlsseite zu betrachten. 13–17 [Nach … muß.]] eckige Klammern im Manuskript 38 Ausströmende ... Uebersicht[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen

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Beziehung auf das Erfahrungsgebiet, nur in wiefern die aufnehmende Thätigkeit nicht ohne auch auf sie zu sehn ganz verstanden werden konnte. Daß sie aber wesentlich hieher gehört sehen wir daraus theils daß die Durchbildung und Anordnung welche die Wissenschaft vom Erfahrungsge|biet unterscheidet nicht in der aufnehmenden Thätigkeit liegt, und auch nicht wie das ursprüngliche Festhalten in dem ursprünglichen Aufnehmenwollen. Theils auch daraus daß die Wissenschaft ganz an der Sprache hängt, das innere Sprechen nur der Schatten des äußern ist, und die äußere Sprache eine Thätigkeit nach außen ist. Auch geht alle Wissenschaft auf Mittheilung und würde ohne diese schwerlich da sein. 2.) K u n st . Kann auch scheinen theils zur aufnehmenden Thätigkeit zu gehören wegen ihres offenbaren Zusamenhanges mit dem ästhetischen Gefühl allein sie hängt zu sichtlich an den Aeußerungen des Gefühls welche ausströmende Thätigkeiten sind. Auf der andern Seite kann sie scheinen der realen Seite anzugehören[.] Allein dies ist nur das Aeußere welches größtentheils mechanisch allein ohne das innere bestehn kann. 3.) Das schwer zu bezeichnende c h a o t i s c h e Sp i e l , welches man gewöhnlich besonders der Fantasie zuzuschreiben pflegt, wohin alle Einfälle alle begleitenden Vorstellungen p. gehören. Offenbar muß man nicht das gestaltete aus dem ungeordneten zu verstehen suchen sondern umgekehrt[.] Man hat viel Versuche gemacht das lezte Gebiet für sich allein zu verstehn und die sogenannten Geseze der Ideenverbindung in dem freien Spiel zu entdeken; sie sind aber alle mißlungen und mußten mißlingen. Erklärung an ein Paar Beispielen der Aehnlichkeit und der Ergänzung. Nach jedem dieser Geseze müßte mir jedes-mal mein ganzes voriges Bewußtsein einfallen und das eigentliche Gesez der Auswahl fehlt[.] Und wenn beide Geseze wahr sind fehlt noch die Erklärung warum ich nach dem einen combinire und nicht nach dem andern. XXXIX. Wissenschaft pflegt man von Kunst zu unterscheiden wie Vernunftproduction von Production durch Fantasie; allein das hält in psychologischer Hinsicht nicht Stich. Denn wenn auch die Wissenschaft im Gebiet der objectiven Nothwendigkeit versirt: so entstehn doch ihre Elemente in der Seele (und davon ist hier eben die Rede) nicht durch diese Nothwendigkeit[.] Die Entstehung der bereichernden Gedanken hat größtentheils auch die Form der Einfälle, und ist von der Art wie die chaotische Masse entsteht gar nicht zu unterscheiden[.] Wir halten nur den für wissenschaftlich besser der mehr | solcher Einfälle hat, in denen die wissenschaftliche Nothwendigkeit liegt. Wer wissenschaftliche Gedanken auf einem andern Wege empfängt, der hat sie nur gelernt, denn selbst die geometrischen Säze sind auf diese Art entdekt worden. Eben so auf der andern Seite, wenn man

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auf das lezte nämlich auf wissenschaftliche Werke sieht so sind diese zwar der Ausdruk und die Darlegung jener objectiven Nothwendigkeit aber immer auf eine eigenthümliche Art. Sie entstehn im Gemüth und bilden sich allmählig aus (nachdem die Elemente längst gegeben sind) eben wie andere Kunstwerke, und wem ein wissenschaftliches Werk anders entstanden ist, der hat es nur nachgeahmt. – Die bereichernden Elemente sind also Ve r s u c h e oder Beoba chtung , wie beides einander nur relativ entgegengesezt ist. Und zu diesen kommt man ursprünglich nicht durch Calculus. Das Beobachtenwollen ist etwas anderes als das ursprüngliche Auffassenwollen, und ist in seiner inneren Mannigfaltigkeit auch wieder freies Spiel. Wollen wir nun weiter gehn und fragen Wie kommt denn der eine grade zu diesen der andre zu jenen Versuchen und Beobachtungen: so denken wir ihn hiebei schon in einem bestimmten wissenschaftlichen Gebiet, und müssen doch erst fragen wie ist er in dieses gekomen? Vielleicht daß die Antwort auf diese große Frage auch die Beantwortung der kleineren in sich schließt. Man antwortet durch N e i gung . Was ist aber der Sinn dieses Ausdruks. Ein Verneinen erkennbarer Nothwendigkeit und ein Verneinen äußerer Bestimmung. Von äußeren Bestimmungen kann man sich bloß die untergeordnetsten wissenschaftlichen Thätigkeiten entstanden denken[.] Ein Samler z. E. hat vielleicht keinen inern Grund lieber Schmetterlinge zu sammeln als Steine; auf so oberflächliche Art kann er mit beiden Wissenschaften gleich verwandt sein. Eine gewisse Verwandschaft aber ist es die das positive zu jenen Verneinungen bildet. Wir finden sie zuerst auf der organischen Seite. Ein stammelnder Philolog (?) ein harthöriger Musiker (wenn ihn die Musik von der rhythmischen Seite fassen will, schrumpft doch die Neigung zum bloßen | Wunsch zusammen) ein blödsichtiger Maler sind widernatürliche Erscheinungen. [

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[Marg. 13] Verstand und Fantasie verhalten sich gegen einander wie Synthesis und Analysis. Alle Gedankenproduction gehört der Fantasie[.] Rein die Betrachtung eines schon gesezten folgt einem Schematismus[.]

30–2 Verstand ... selbst.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen

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[Marg. 14] Abhängigkeit von dem specifischen versteht sich von selbst. [

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XL. Die Meinung ist aber nicht daß die Seele durch die Beschaffenheit der Organe bestimmt werde, sondern man kann eben so gut umgekehrt sagen die Seele bildet sich die Organe. Es ist aber nur beides zusammen das richtige. Wenn man alle Thätigkeit der Seele nur als Rükwirkung auf die Einwirkungen ansieht so wird alles äußerlich gedacht und der Mensch ist bloß passiver Sammelpunkt. Nimmt man aber eine eigne Thätigkeit an so muß man sie auch in den Anfang des Lebens sezen. Also mit der Seele selbst ist auch Neigung Talent und Wille gesezt welches alles Eines und dasselbe ist. In Anwendung nun auf unser Gebiet ist diese Neigung zuerst das Geseztsein eines Maaßes des Interesse an den Gebieten des Denkens. Wie sich die innere Erregbarkeit der Organe zur äußern und wie sich die Spontaneität eines Menschen zu seiner Receptivität verhält so ist sein speculatives Talent gemessen[.] Man kann nicht sagen daß in dieser Prädestination der Wille aufgehoben werde denn sie ist selbst das Entstehen des Willens, und der Wille kann nur entstehn und man kann ihn sich nicht nach belieben machen weil es sonst ein Wollen-wollen geben müßte. Der Wille im Denken ist allerdings eine bestimmte Art zu calculiren die Welt zu berechnen aber er wird selbst nicht durch Calculiren gesezt sondern entsteht lebendig. Dann ist zweitens die Neigung eine bestimmte Combinationsweise. Diese erscheint uns als Methode aber es ist damit wie mit dem ähnlichen in den Kunstwerken desselben Meisters, es ist die Form der Fantasie selbst welche sich so offenbart. Man muß also bei Erklärung der wissenschaftlichen Combinationsweise nicht vom universellen ausgehn, nicht auf allgemeine Formeln zurükgehn: sondern man muß sie nur als Gegenstand der Beobachtung ansehn, um daraus den eigenthümlichen Charakter des Menschen kennen zu lernen. Jede Seele ist der Art nach der Ort für alle möglichen Gedanken und Combinationen jede aber für sich betrachtet hat eine bestimte und eben damit auch beschränkte Production[.] | Mit jeder Seele ist für sie eine eigenthümliche Welt gesezt, das Leben ist die allmähliche Entdekung dieser eigenthümlichen Welt und die Seele schreitet von jedem Punkte aus so fort daß sie das meiste von dieser eigenthümlichen Welt ergreift, was sie nach Maaßgabe ihres Zustandes und ihrer Umgebung ergreifen kann. XLI. Die nun am schnellsten ihre Welt ergreift ist die beste in diesem Stük die am langsamsten ist die schlechteste und deren eigen-

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thümliche Welt also gering wie denn dieser Unterschied entwikelter und zurükgedrängter Eigenthümlichkeit nicht zu verkennen ist. – Man kann einwenden 1.) ob denn wenn alle Gedankenproduction der Fantasie zukommt das was wir Verstand nennen nichts ist? Antwort es g i e b t außer der synthetischen Thätigkeit im Denken eine analytische die aber nur das schon gedachte betrachtet und zerlegt und also offenbar jener untergeordnet ist. 2.) Wenn die Production eigenthümlich ist woher denn doch das gemeinsame? Dieses würden wir wenn es uns auch nicht ursprünglich entgegenträte doch finden in dem Bestreben die einzelnen Eigenthümlichkeiten zu verstehn welches nur durch Zusammenstellung geschehn kann. In dieser würde sich die Aehnlichkeit zeigen. Sie tritt uns aber auch ursprünglich entgegen in der Sprache. Aber nicht auf eine Art welche unsere Ansicht störte. Denn die Sprache ist nur eine größere eigenthümliche Einheit, ein System eigenthümlicher Combinationen. Denn jedes Wort stellt einen allgemeinen Begriff dar, der also durch Zusammenfassen entstanden ist, und kein Wort einer Sprache entspricht genau einem in der andern, also ist jede solche Zusammenfassung eigenthümlich. Die einzelnen Eigenthümlichkeiten sind aber Modificationen der gemeinsamen. Wir sehn hier also nur daß die Seelenbildende Weltthätigkeit nicht bunt durcheinander sondern nach Gesezen verfährt. Doch dies ist ein Uebergangspunkt für das specifische welches wir doch nicht von einem einzelnen Punkt aus ergreifen können[.] Das zweite Gebiet ist die Kunst. Ganz für sich zu betrachten. Schließt sich zunächst den natürlichen Aeußerungen des Gefühls an[.] Hauptschemata Ton und Gebärde welche ausgehn in Musik und Mimik. Beide Künste finden sich wenn auch unvollkomen auf allen Bildungsstufen. Kunst nennen wir aber die Aeußerung erst wenn zwischen das Gefühl und die Aeußerung ein Vorgebildetsein derselben im Bewußtsein eintritt. Dieses findet in den ursprünglichen Aeußerungen zumal in den leidenschaftlichen Zuständen nicht statt. Das Vorbild ist ein Werk der Besonenheit, diese kann während des leidenschaftlichen Zustandes nur diesem vermindernd entgegentreten; ehe sie selbst etwas bilden kann muß jener erst durch den Nullpunkt gegangen sein. Während des leidenschaftlichen Zustandes findet nur noch eine praktische Rükwirkung statt auch Abwehren oder Festhalten und das sich Aeußern wollen ist nur Nebensache. Ist die Leiden|schaft erloschen oder befriedigt dann kann das Aeußernwollen die Hauptsache werden und die Kunst tritt hervor. Nun aber giebt es noch ein großes Kunstge17 andern] korr. aus anders 19 gemeinsamen] korr. aus allgemeinen )Ton* 34 Nullpunkt] N korr. aus S

26 in] folgt

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biet die bildende Kunst, die wir nicht eben so auf die ursprünglichen Aeußerungen zurükführen können, und es fragt sich deshalb ob wir dieses sondern müssen oder ob sich auch psychologisch das Ganze als Eines ansehn läßt. XLII. Ueber die Eintheilung in höhere und niedere Vermögen am Ende des elementarischen[.] Die bildende Kunst ist nicht auf Gemüthsbewegung zurükzuführen wol aber auf das die Thätigkeiten des objectiven Bewußtseins begleitende Schönheitsgefühl. Allein jene Künste stellen auch nicht die Bewegung an sich dar sondern sie gehn erst aus der beruhigten Bewegung hervor. Das Aeußernwollen ist auch bei ihnen ursprünglich, als Richtung und Trieb sich selbst und seine Zustände der Welt einzubilden, und nimmt nur die Gemüthsbewegungen zur Veranlassung wodurch es zur That bestimmt wird. Solcher starker Veranlassungen bedarf es am Anfang. Daher auch Musik und Mimik in den einfachen Zuständen immer entwikkelter also eher vorhanden sind als bildende Kunst. Bei der bildenden Kunst also liegt dasselbe Wollen zum Grunde die Production eines Urbildes geht auch aus dem freien Spiel hervor, nur je größer die Kunstthätigkeit ist, um desto mehr muß dieses bis zur Begeisterung erhöht sein. In diesem freien Spiel aber hat die Seele die ganze Vergangenheit in sich und sucht darin nach Maaßgabe ihrer Sinneskraft was sich ihr als aufgelöster Gegensaz darstellt, worin sich das unmittelbare Zusammenstimmen der verschiedenen Kräfte zeigt. Daß nun einer dies oder jenes Kunstgebiet ergreift rührt von seinem Interesse her und von seinem Sinn; denn jede Kunst entspricht einem eignen Sinn die Malerei dem Gesicht die Plastik dem Getast das Gesicht ist dabei nur vicarirender Sinn. Ob sich aber einem kunstthätigen in einem Augenblik des freien Spiels etwas darstellt was zur Kunsthandlung wird, das hängt davon ab ob ihm nach Maaßgabe seiner Anregung etwas vorkommen kann was in irgend einer besonderen Hinsicht ein abgeschlossenes Weltbild sein kann. Nun ist aber noch die Frage von der Poesie übrig. XLIII. Die Poesie scheint mit Gedanken zu verkehren; allein sie will nie weder die Wissenschaft noch die Erfahrung bereichern. Die Gedanken sind auch nur Beschreibung von Bildern wie die Wechselbeziehung zwischen Poesie und Mahlerei oder Beschreibung von Gefühlen wie die Wechselwirkung zwischen | Poesie und Musik genugsam beweiset. Die Poeise ist eben so wenig als die bildende Kunst auf einzelne Momente zurükzuführen sondern auf den Zustand der Ruhe 1 nicht] nicht als 1 eben so ] über )durch* 5–6 Ueber ... elementarischen[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen 8–9 wol ... Schönheitsgefühl.] am rechten Rand mit Einfügungszeichen 21 Vergangenheit] über )Gegenwart*

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dem die ganze Vergangenheit gegenwärtig ist. Wo nun die speculative Seite oder die innere Anregung der Organe dominirt da wird leichter die Neigung zur Poesie entstehn, so wie wo der Sinn mehr für die menschliche Gesellschaft geöfnet ist als für die Natur. Denn Malerei und Bildnerei behandeln auch den Menschen mehr als Naturprodukt[.] [

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[Marg. 15] 44[.] Das chaotische Gebiet als zurüktretende Anstrengung. Woher die wissenschaftliche Kunst und die Lebenskunst. [ 10

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[Marg. 16] 45. Die reale Thätigkeit. Anknüpfungspunkt aus dem vorigen. Ausgehend vom Bedürfniß Hauptformen Nahrung und Schuz. Lezteres positiver, weist auf ursprüngliche Thätigkeit zurük. Diese ist Gleichsezung der äußeren Welt mit dem Leibe. Naturbeherrschung, Freiheit. Ohne diese Voraussezung das Hinausgehn über das unmittelbare Bedürfniß nicht zu begreifen. [

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[Marg. 17] 46. Die Aufgabe gleich unendlich, wächst in sich durch Erfahrung und Wissen. Die Erscheinung des menschlichen (hier entwikelt durch die in der Analogie mit dem Leibe liegenden regelmäßigen Gestaltung) erzeugt das gemeinsame Bewußtsein. Entgegengesezte Ansicht. Grund aller Vereinigung der Kräfte. Verschiedener Maaßstab der Identität und der Differenz, woraus sich auch der Widerstreit erklärt! [

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4 Denn] folgt )QauchR* 18–19 (hier ... Gestaltung)] die eingeklammerte Notiz ist mit einem Einfügungszeichen versehen und befindet sich nach dem Wort Maaßstab weiter unten in dieser Marginalie 7–22 Es ist nicht sicher zu klären, ob Schleiermacher die zusätzlichen Gedanken zu den Stunden 44, 45 und 46 im Laufe der Vorlesung von 1818 oder erst 1821, als er das Heft erneut zur Grundlage seines Kollegs nahm, hinzufügte.

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XLIV. Ehe wir nun zu dem chaotischen Gebiet übergehen ist noch zu bemerken, daß es auch eine eigentliche Kunstthätigkeit durch Gedanken giebt, nämlich die w i s s e n s c h a ftliche Composition. Diese entsteht auch nicht eher als von einem Punkt der Befriedigung aus; denn so lange man noch nicht auf einen Auflösungspunkt der Gegensäze gekommen ist bleibt man im Forschen von einem zum andern getrieben und ist auch sich selbst nicht völlig klar. Sobald eine Befriedigung eingetreten entsteht auch das Bedürfniß der Mittheilung und diese ist völlig kunstmäßig. 2.) Daß wenn man auf alles bisherige zurüksieht man sagen muß es könne ein Punkt kommen, wo die Seele sich selbst in ihrer Eigenthümlichkeit in der besonderen Art wie die Idee der Welt in ihr gesezt ist so klar ist, daß alle Lebenstheile in ihr mit Bewußtsein in ein bestimtes Verhältniß treten und diese Idee sich völlig verhält wie die Grundidee eines Kunstwerkes wovon alles hernach erlebte die Entwiklung und Ausführung ist. In diesem Sinne dann kann man sagen daß das ganze Leben ein Kunstwerk ist. Allein dies ist nur eine Idee der sich nur die lebendigsten und besonnensten einigermaßen annähern. Nun können wir die Frage nach dem cha otische n Gebiet des f r e i e n S p i e l s beantworten. Wenn wir davon ausgehn daß die Seele jedesmal das ergreift und zu dem übergeht wodurch sie sich am meisten ihrer Welt bemächtigen kann so entsteht daraus das wechselsweise Heraustreten jener verschiedenen Gebiete und auch des uns noch fehlenden Gebietes der realen Thätigkeit[.] | Ueber Ueberlegung und Raum. Aber zwischen dem Ende des einen und dem Anfang des andern großen Momentes müßte nothwendig ein Nullpunkt liegen. Der kann indeß nicht eintreten sondern in demselben Maaß als die Fähigkeit in der einen Hervortretung thätig zu sein abnimmt nähern sich der Seele nach ihrem eigenthümlichen Maaß alle anderen Gebiete und daraus entsteht die chaotische Masse, und erst aus dieser kann sich hernach eine neue anhaltende Thätigkeit entwikeln. Wir finden aber das chaotische Spiel nicht nur im Wechsel der Anstrengung theils einsam theils in der freien Mittheilung sondern auch die Anstrengung begleitend. Weil nämlich die Seele in keinem Moment in einer einseitigen Thätigkeit allein aufgehn kann so muß ihr noch die Nothwendigkeit bleiben wenigstens ein Schattenbild der übrigen gleichzeitig zu haben. Eben so auch wenn die Außenwelt der aufnehmenden Thätigkeit nicht genug giebt wird dies durch innere ersezt, die immer auch nur als jene begleitend kann angesehn werden. Es sind also auch hier keine andern 12 Bewußtsein] wußtsein über )stimmtheit* 22 bemächtigen] bemächtigte ber … Raum.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen

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Geseze als die der eigenthümlichen Natur welche man aber durch Betrachtung dieses Spiels kann kennen lernen[.] Ausströmende Thätigkeit[.] Reale Richtung[.] XLV. Zu der andern Seite der ausströmenden Thätigkeit gab es schon Anknüpfungspunkte indem schon Sprechen und Bilden eine solche ist. Aber da war das innere ideale die Hauptsache und das Streben nach außen nur untergeordnet. Hier kommt es bei weiterer Entwiklung auch zum Vorbilden, denn nur das erste instinktartige entbehrt dessen ganz; aber das Vorbilden bleibt immer untergeordnet als Mittel. Das erste und am meisten animalische geht aus vom Bedürfniß und erscheint nur als Rükwirkung, aber es knüpft sich daran eine unendliche Fortschreitung, welche nicht auf das bloße Bedürfniß kann zurükgeführt werden. Die beiden ursprünglichen Hauptschemata sind Nahrung und Schuz. Sie weisen hin auf die früher schon bemerkte doppelte Stellung der Seele zum Leibe inwiefern sie auf der einen Seite durch ihn afficirt wird auf der anderen in ihm die Anfangs- und Endpunkte aller Thätigkeit zwischen der Seele und der Welt | liegen. Diese doppelte Position auf die Einheit des Seins zurükbezogen erscheint auch einmal als Versenkung in die organische Existenz und dann wieder als Vergeistigen derselben und so läßt sich beides als Oscillation ansehn. Die Nahrungsbedürftigkeit kann so hoch steigen daß alle intellectuellen Thätigkeiten cessiren bis sie gestillt ist und die Thätigkeit durch den Leib nach außen so hoch daß der Leib darüber vernachläßigt und von seinen Bedürfnissen keine Notiz genommen wird. Aus beiden muß sich wieder Gleichgewicht bilden. Im Schuzsuchen manifestirt sich schon eine ursprüngliche Thätigkeit weil man sonst nur würde zu entkomen suchen, und ein Ersaz physiologischen Mangels durch psychische Thätigkeit. Das Wesen dieser Thätigkeit aber besteht offenbar darin daß der Mensch alle Dinge in der Welt dem Leibe sofern er Endpunkt der Thätigkeit ist gleichstellen will[.] Nur aus diesem Streben ist die fortgehende Erweiterung des Prozesses zu erklären. Dies ist die positive Seite der Freiheit auf diesem Gebiet (die negative ist die größere Angemessenheit der Natur, Naturbegeistigung) das Wollen der N a t u r b e h e r r s c h u n g. XLVI. Die Aufgabe ist so gestellt unendlich und wächst immerfort durch Anwendung des Erfahrungs- und Wissensgebietes. Auch kann man das ganze Kunstgebiet von Seiten der Ausführung mit darunter bringen. So ist die Aufgabe keiner Ausdehnung über ihr primitives Geseztsein fähig. Allein ihre Ausführung gestaltet sich anders durch die äußere Erscheinung des menschlichen. Denken wir uns einen iso3 Ausströmende ... Richtung[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen 31 diesem] korr. aus dieser 31 Streben] über )Thätigkeit*

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lirten Menschen so werden wir sagen müssen, wo er an Dingen die regelmäßige Gestaltung findet, die er selbst, durch die Analogie mit seinem durch die Schwerpunktslinie gleich getheilten Leibe getrieben, seinen Gebilden giebt, da wird er auch gleich im Suchen und Voraussezen des menschlichen begriffen sein welches freilich auf die einwohnende Ahnung desselben schließen läßt. Erscheint aber das menschliche Wesen so wird | er dann auch gleich nicht nur den Leib als bereits organisirt außer seinem Streben sezen, sondern es wird sich auch in dieser Beziehung das gemeinsame erhöhte Bewußtsein bilden kraft dessen alles von dem andern gebildete als eine Befriedigung des eignen Triebes gesezt wird. Dies ist die Neigung zur Vereinigung die aber freilich nicht gleichmäßig verbreitet ist, sondern nur nach dem Maaß als die Differenz von der Identität überwogen wird. Nach Maaßgabe der Differenz aber kann freilich die Anerkennung nicht verschwinden allein sie besteht mit einem Triebe zur Absonderung zugleich. Daher Widerstand wenn dennoch die Grenze überschritten wird. Entgegengesezte Ansicht derer welche den Widerstand als das allgemeine natürliche und die Vereinigung nur als ein erkünsteltes, als spätere Folge des oft wiederholten Widerstandes ansehn, im Zusammenhang mit der negativen Ansicht des Selbsterhaltungstriebes und der positiven des Naturbeherrschungstriebes[.] XLVII. In dem ganzen großen Umfang dieses Gebietes ist nun eine natürliche Ungleichheit im Verhältniß der Einzelnen zu dem sich erzeugenden höheren Bewußtsein. In Einigen überwiegt die Receptivität so daß sie nur N ac h b i l d n e r sind. Andere produciren neues, aber nur als für sich und überlassen der Freiheit der Andern was sie davon annehmen wollen, dies sind die E r f i n der. Andere treten auf mit dem Anspruch daß sich das Schema einer gemeinsamen Thätigkeit in ihnen construirt habe und das sind die G e s e z g eber, die bürgerlichen sowol als andere. Hier finden wir also das erhöhte Bewußtsein auch als ein solches, welches nicht erst auf eine äußere Anregung zustande kommt, sondern welches sich ursprünglich erzeugt, eben so wie das persönliche Bewußtsein in seinen verschiedenen Functionen[.] Dies führt auf eine verwandte Betrachtung. Nämlich unter den Nachbildnern selbst finden wir eine größere und geringere Leichtigkeit des Aneignens und dieses ist in Bezug auf den früheren Zustand ein Annehmen des Neuen und also ein Gegensaz von Anhänglichkeit an das Alte und Liebe zum Neuen. Dem ursprünglichen Charakter nach ist die Liebe zum Neuen in der Genußsucht gegründet; was alt 7 nicht nur] über der Zeile mit Einfügungszeichen 19–21 im Zusammenhang ... Naturbeherrschungstriebes[.]] Dieser Teil des Satzes wird erst auf dem verbleibenden Platz der Zeile, dann am rechten Rand fortgesetzt.

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wird wird gleichgültig: die abstumpfende Kraft der Gewohnheit. Die Anhänglichkeit an das alte ist auf die Thätigkeit gegründet und sieht die Gegenstände als Organe an; die erleichternde Kraft der Gewöhnung. Die Anhänglichkeit | an das Alte ist also an sich offenbar das thätigere Princip, es erscheint aber als widerstrebend wenn sich eine neue Evolution darbietet, und dann kann scheinen die Liebe zum Neuen besser zu sein. Aber jenes scheinbare Widerstreben weiset auf nichts andres als darauf daß Vorbereitungen vor einer neuen Evolution nöthig sind. Und dieses scheinbar bessere bleibt das schlechtere weil es am objectiven der Evolution sein Maaß nicht findet. Alle Gräuel der französischen Revolution sind aus demselben Grund entstanden mit dem ewigen Wechsel der Moden, nur ist die Schnelligkeit im Wechsel bis zum zerstörenden Schwindel gekomen. Wäre aber die Liebe zum neuen nicht gewesen, so wäre man auf den langsamen Weg der Vorbereitung gekommen. Das erste Uebel lag darin, daß was Gesezgebung hätte sein sollen mit der Persönlichkeit einer Privaterfindung auftrat. XLVIII[.] – LI. Vergleichung unserer Behandlung des elementarischen mit der gewöhnlichen Eintheilung in Erkentniß und Begehrungsvermögen und beider in höheres und niederes. Erweis der Nichtigkeit dieser Theilung aus dem Schwanken zwischen Duplicität und Triplicität (Gefühl zwischen erkenen und begehren; schönes zwischen angenehm und gut. θυμος zwischen Sinnlichkeit und praktischer Vernunft) aus dem doppelten Werth von Sinnlichkeit und Vernunft, und aus dem cyclischen[.] Differenz der Seelen[.] Temperamente[.] LII. Die allgemeine Klassification führt zunächst auf die Quadruplicität der Temperamente, aus griechischen Philosophemen ins gemeine Leben und aus diesem wieder auf verschiedene Weise in unsere Philosophie aufgenomen. Dabei aber die verschiedensten Ansichten; Einige es gäbe nur einfache Temperamente; Andere in jeder Seele müsse etwas von jedem sein. Was offenbar auf verschiedene Begriffe zurükweiset. Daher ist es nicht genug eine Ansicht aufstellen, sondern man muß sie entweder durch Kritik der anderen oder durch Zusammenhang mit einer Grundanschauung rechtfertigen. Das lezte offenbar das am meisten fördernde. Unsere Grundansicht von zwei Formen der Seelenthätigkeiten hat eine Beziehung zu jener Quadruplicität[.] | Denn ob ein Mensch 2 ist] korr. aus QberuhR 26 Differenz ... Temperamente[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen 27–28 Quadruplicität] 4plicität 27–30 Ausführlicher dazu vgl. Schulze (1816), S. 466–469 [SB 1787]

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cholerisch oder phlegmatisch ist sieht man mehr seiner ausströmenden Thätigkeit an, ob sanguinisch oder melancholisch mehr seiner aufnehmenden. Hievon ausgegangen müssen wir sagen: soll es nur einfache Temperamente geben: so muß in dem Einen die Receptivität ganz durch die Spontaneität in dem andern die Spontaneität ganz durch die Receptivität bestimmt sein und die Menschen müssen zuerst getheilt werden in solche bei denen die Spontaneität bestimmt, diese wären dann nur entweder cholerisch oder phlegmatisch und in solche bei denen die Receptivität bestimmt und diese wären dann entweder sanguinisch oder melancholisch[.] – Daß aber in jeder Seele etwas von allen Temperamenten sein müsse könnten wir nicht sagen, sondern wenn wir in jedem Receptivität und Spontaneität als unabhängig sezen müssen wir sagen jedes Temperament der einen Klasse könne verbunden sein mit jedem der andern nicht aber mit seinem coordinirten weil keine Form auf zwei entgegengesezte Arten bestimmt sein kann. Welches von diesen beiden nun wahrscheinlicher das kann nur beurtheilt werden wenn wir untersucht haben worin denn der Gegensaz zwischen den coordinirten Temperamenten bestehe. LIII. [Für unsere Hypothese läßt sich anführen daß wenn man auch kolerisch und phlegmatisch auf das Gefühl beziehn will es doch mehr auf die Reaction geht.] Indeß wenn durch die Thätigkeit das Gefühl ganz zurükgedrängt ist kann ein Mensch ausschließend cholerisch oder phlegmatisch sein und umgekehrt: allein dies sind Extreme welche an den Verlust des Gleichgewichts der Seele grenzen. Und eben so kann auch das eigentlich ausgeschlossene Temperament in einem Menschen sein auf eine Zeit lang wenn er nicht durch sich sondern durch Andere in Bewegung gesezt wird. Allein dies sind nicht seine Zustände, sondern die Grenzen der Selbständigkeit seines eigenthümlichen Wesens. [...] Eben so wenn sanguinisch und melancholisch auf das Handeln scheint bezogen zu werden wird es nur auf die Hemmungen des Handelns durch das Gefühl bezogen[.] | Den Gegensaz selbst wollen wir gleich im Einzelnen betrachten. Hauptpunkte sind Sanguinisch Bedürfniß des Wechsels und Hingebung an die Gegenstände. Melancholisch Verharren in Einheit der Stimmung und Färbung der Gegenstände nach der Stimmung. Dies geht auf im Gegensaz größerer und kleinerer Gefühlseinheiten. Man könnte hiegegen einwenden das Temperament müßte dann in der Mitte verschwinden allein es giebt nur ein mehr oder minder Hervor1 cholerisch] chorlerisch 19–21 [Für ... geht.]] eckige Klammern im Manuskript 30 [...]] eckige Klammern mit drei Punkten im Manuskript, vermutlich Einfügungsmarkierung für Textzeilen 19–21 [Für … geht.]

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treten desselben und zwar am meisten da wo die Thätigkeit über das Gefühl hervorragt[.] In einer gewissen Stärke wird es nur sein mit Hinneigung zum einen oder anderen. (Ein Verschwinden des Temperaments giebt es theils im ungebildeten Zustande wo das persönliche hinter dem nationalen verschwindet und in der Mäßigung die aber doch imer die Spuren beibehält.) – Man könnte auch einwenden dem sanguinischen müßte alles im unendlich kleinen zerfließen und dem melancholischen die Stimung sich bis zum Wahnsinn steigern. Dazu ist auch die Neigung da; aber sie wird gedämpft durch die Beziehung auf die Thätigkeit und daher erhält sich das Schwanken in einem sicheren Maaß. LIV. Bei Betrachtung des cholerischen und phlegmatischen komt man auf ein analoges Resultat. Im cholerischen ist das Interesse am einzelnen also an der kleinen Einheit vorherrschend, im phlegmatischen das Interesse an der großen[.] Daher der Glaube an Schiksal und Vorsehung, die Unterordnung des Einzelnen als eingreifenden Wesens, die Neigung nur zu handeln wo sich der Pflichtbegriff aufdrängt d. h. wo die Handlung entweder an einen früher gefaßten allgemeinen Entschluß sich nothwendig anknüpft oder im erhöhten Bewußtsein gegründet ist. Der cholerische handelt überall mehr aus der freien individuellen Conception ist daher auch der Begeisterung weit mehr fähig. Aber leicht haben auch alle seine großen praktischen Constructionen einen egoistischen Anstrich, wenn es auch das erhöhte Bewußtsein ist was aus ihnen handelt. Das Extrem des phlegmatischen kann bis zum Quietismus gehn und wenn das erhöhte Bewußtsein welches den PflichtBegriff aufschließt nicht erwacht zur Faulheit | unter dem Vorwand es müsse sich alles von selbst machen[.] Das cholerische zum feindseligen Zerstören des schon gemachten um eines rein persönlichen Zweks willen also zur Ungerechtigkeit. Gegen diese Extreme ist nun das Gegengewicht im Gefühl, aber desto besser wenn das Gefühl auf die entgegengesezte Weise bestimmt ist. Ueberwiegt in einem Menschen die Thätigkeit und ist sie cholerisch bestimmt so wird er vom cholerischen Extrem leichter befreit bleiben wenn er melancholisch ist denn er wird dann weniger geneigt sein seine Thätigkeit ins unendlich kleine zu zersplittern. Je mehr Gleichgewicht in beiden Seiten ist, um desto weniger wird die entgegengesezte Bestimtheit hervortreten können[.] LV. Vergleichung mit der Carusschen Theorie. Die Beziehung allein auf den Sinn mit Ausschließung des Triebes scheint gegen die 38 Schleiermacher bezieht sich im Folgenden auf den Abschnitt „Charakteristik der Seelenart der Temperamente“ im zweiten Band von Carus’ „Psychologie“ (1808), S. 92–121.

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Erfahrung welche die Differenz im Triebe auch dem Temperament beilegt, und wäre nur zu rechtfertigen wenn auch aller Trieb nur negativ als Rükwirkung gesezt wäre. Im Sinne nun sind nur die beiden Elemente Auffassen und Rükwirkung zu unterscheiden und nur unter der Voraussezung daß die Rükwirkung in der ursprünglichen Thätigkeit (d. h. im Triebe) gegründet ist, können zwischen beiden mannigfaltige Verhältnisse statt finden. Aber auch nur Ungleichheiten der Stärke und Schwäche. (Aus diesen construirt er Schwäche an beiden Seiten und Stärke an beiden Seiten auf den Enden als cholerisch und phlegmatisch Stärke und Schwäche zwiefach getheilt in der Mitte) Also zuerst offenbar kann er nur einfache Temperamente sezen. Aber da diese nur den Sinn theilen braucht er einen anderen Theilungsgrund für die andere Seite des Naturells: wogegen bei uns die Temperamentsverschiedenheit sich in aller Eigenthümlichkeit zeigt. (...) Hieraus nun geht weiter bei Carus eine Ungleichheit der Temperamente hervor. Das phlegmatische muß das schlechteste sein wenn er dies auch verbergen will denn auch das best administrirte kann nicht so weit komen wie | ein gleich gut administrirtes cholerisches denn es ist als geringere Lebenskraft gesezt. Weil nun Stärke und Schwäche nur ein fließender Gegensaz ist so erscheinen auch die Temperamente in einander übergehend; sanguinisch als kindlich, cholerisch, melancholisch phlegmatisch als alternd; so daß ein stark-schwaches dem starken und das andere starkschwache dem schwachen vorangeht. Dies nun ist ganz gegen die Erfahrung cholerisch hält bis ins höchste Alter nur gemildert vor und melancholisch erblikt man schon an Kindern. Der Schein aber erklärt sich daher daß z. E. die Kinder noch mehr Auffassen als Handeln und sehr dem Reiz unterworfen sind. Demohnerachtet aber werden sich die cholerischen und melancholischen sehr leicht von den eigentlich sanguinischen unterscheiden. (Hier komen wir also auf unsere zurük[.]) Das phlegmatische des Alters erklärt sich eben so aus Abstumpfung für den Reiz des einzelnen aber demohnerachtet wird man den sanguinischen und cholerischen von dem eigentlich phlegmatischen unterscheiden könen. Wenn ich nun noch hinzunehme die hohe Bedeutung unseres Theilungsgrundes so kann mir über den Vorzug meiner Ansicht kein Zweifel bleiben[.] LVI. Haben alle Temperamente gleichen Werth; aber doch jedes seine gefährlichen Extreme und seine wohlthätige Mitte: so fragt sich 14 (...)] umklammerte Punkte vermutlich Einfügungsmarkierung für in Klammern gesetzte Textzeilen 8–10 (aus … Mitte) 21 kindlich] über )jugendlich* 29 sanguinischen] über )Q R* 15–16 Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 100–101

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ist jeder auch an seine Stelle in dieser Linie gebannt oder giebt es eine Bewegung vom Extrem zur Mitte und umgekehrt. Das ethische Interesse scheint das lezte zu fordern. Aber auf dem psychologischen Standpunkt können wir nicht zugeben daß es etwas außer seiner Natur gäbe womit der Mensch auf seine Natur handeln könne; am wenigsten wir die wir auch die ursprüngliche Thätigkeit unter das Temperament gestellt haben. Die Erfahrung scheint vielfältig die Bewegung zu bestätigen aber wir können sie in nichts gegründet finden als in der Entwiklung des erhöhten SelbstBewußtseins und in der damit zusammenhängenden Hemmung der Momente bis zur Durchdringung von demselben[.] Charakter[.] Dies führt zugleich auf die Frage Was man unter Cha ra kt er zu verstehn habe insofern viele hierunter die bleibende Correction des Temperamentes verstehn. Auch hier sehr entgegengesezte Ansichten[.] Einige geben nur Einheit des Charakters zu, Andere Mehrheit, Einige Zu|sammenhang mit dem Temperament, Andere gänzliche Absonderung; unvermeidlich wenn Worte aus dem gemeinen Leben wissenschaftlich gemacht werden sollen. Offenbar liegt darin Constanz und nicht bloßes Getriebensein durchs Temperament; er zeigt sich in den verwikelten Lebensverhältnissen. Daher schließe ich es sei die constante Weise wie sich in der Entwiklung des erhöhten Bewußtseins das Verhältniß dieses zu dem persönlichen Bewußtsein gestaltet. Ist gar kein constantes sondern Abhängigkeit von veränderlichen Impulsen so ist Charakterlosigkeit. Ist ein constantes aber das erhöhte positiv zurükgedrängt so ist ein schlechter umgekehrt ein guter Charakter. Beide aber können verschieden sein weil Temperament und Neigung den Einfluß nach verschiedenen Seiten hin verschieden bestimen und weil auch die Thätigkeit des erhöhten Bewußtseins dem Temperament wenn gleich nicht in so hohem Grade unterworfen ist[.] LVII. Vergleichung dieser Ansicht mit der Kantischen. Kants Unterschied von Sinnesart und Denkungsart nicht richtig. Denn auch einen Charakter kann man mit Maximen haben und dann ist er Denkungsart und auch den Charakter ohne Maximen (zumal alles auf Wahrheit und Treue hinausläuft was ins Gefühl fällt) und dann wäre er Sinnesart. Daß er also auch Constanz zum Grunde legt und auch Bezug auf gemeinsames Bewußtsein nimmt ist klar. Seine Unterscheidung aber und Unterordnung ist unrichtig, und nur daher entstanden weil er immer über den allgemeinen Formeln die unmittelbare An12 Charakter[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen 31 Vgl. Kant (1798), S. 255–272; Ak 7,285–294

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schauung verliert. Denn die Maximen welche die praktische Vernunft vorschreiben kann füllen das Leben nicht aus, ja sie lassen auch in ihrem Gebiet noch Modificationen zu die nach den Eigenthümlichkeiten sich verschieden gestalten können[.] – Die allgemeinen Formeln haben aber hier gar nicht den Werth den er ihnen beilegt. Sie werden nicht rein gefunden und bestimen so den Willen sondern sie entstehn erst durch die Reflexion über die Bestimmung des Willens begleiten den Willen und wenn sie irgendwo voranzugehn scheinen: so ist es nur weil eben durch das Gefühl eine Hemmung des gewöhnlichen Processes eintritt. | Geschlecht. LVIII[.] Wenn man betrachtet, wie sich beide Geschlechter in der aufnehmenden Thätigkeit unterscheiden so bleiben die Weiber in der Speculation zurük (oft schon ganz verkehrte Art unter Begriffe zu subsumiren) aber gehn in Religiosität voraus. Eben so in der NaturBeherrschung geht ihre Thätigkeit nur ins Kleine. Man kann sagen es tritt bei ihnen die Seite zurük welche die einwohnende Idee der Welt realisiren will und die hervor welche das Ich sezt. Denn das Gefühl dominirt überall. LIX. Auch mit der Kunst so. Ihre Virtuosität ist nur in der Technik, Erfindung ist gering in Malerei und Musik. Ihre Poesie ist auch mehr ein Wiederheraustreten der Bilder welche ihr Leben ausgefüllt haben. Daher voll Portraits und Anspielungen auf wahre Begebenheiten: zusammenhängend mit ihrer schnellen und genauen Menschenkentniß die auch gar nichts ist durch den Begriff sondern alles nur durch das Gefühl. Sonst ihr Kunstsinn in den Lebenserscheinungen wo er nur bezwekt daß alles mit dem Ton ihres Gefühls stimen soll[.] Daher auch muß bei den Weibern das Gefühlstemperament hervortreten und das Thätigkeitstemperament zurük. Eine überwiegend cholerische oder phlegmatische Frau ist auf eine unangenehme Art männlich so wie ein sanguinischer oder melancholischer Mann weibisch ist. Eben so macht man weniger Anspruch auf Charakter an eine Frau. Das erhöhte Bewußtsein aber soll sich bei ihnen im Gefühl und dessen unmittelbaren Aeußerungen offenbaren, und das geschieht in der S i t t e . Denkt man sich Männer fühlend unter sich so ist die beste Sitte die möglichste Freiheit. Denkt man sich Weiber handelnd außer dem häuslichen Kreise den der Mann beschirmend rein hält, so verzeiht man auch leichter wenn sie vom Augenblik fortgerissen werden. Es ist daher kein Geschlecht besser oder schlechter als das andere. Aber die größere Contraction | der Weiber macht daß sie sich mehr 11 G es c h l e c h t .] am linken Rand ohne Einfügungszeichen 24–26 zusammenhängend ... Gefühl.] am linken Rand mit Einfügungszeichen 38 sie] über )man*

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isoliren und jede hat ihren Werth einzeln für sich. Die Männer sind zur Gemeinschaft geboren haben ihre Haltung durch einander, und jeder zeigt am meisten was der Einzelne kann im Zusammensein mit andern. Wenn wir jezt nachdem durch Sokrates und Christus die Gleichheit zur Anerkennung gekomen war wieder anfangen die Weiber geringer zu achten so kommt das daher weil wir in großem Bedürfniß nach öffentlichem Leben das häusliche zurükstellen; aber davor ist zu warnen. Stufenfolge der Vortreflichkeit[.] LX. Nun ist zu fragen nach dem fließenden Gegensaz des besten und schlechtesten. Dabei nicht zu übergehn das Zusammensein des Einzelnen mit Mehrern. Die beste Seele offenbar die den entschiedensten entwikelnden Einfluß auf Viele ausübt. Die schlechteste nicht die nur aufnehmende sondern die nicht einmal aufnehmende und festhaltende. Jenes beste theilt sich in das ge n i al e und heroische. Das eine auf der idealen Seite das andere auf der realen. Alles heroische politisch oder religiös[.] Aber lezteres auch nur wo es auf Stiften der Gemeinschaft ankommt. Auf das reale bei Wissenschaft und Kunst wird beim Genie wenig gesehn; auf das ideale der Naturbeherrschung auch wenig beim Heroischen. Heroisches Zeitalter das der politischen Bildung. Völlig vorbei wenn eine Gleichheit eingetreten ist die kein solches Heraustreten möglich macht, und wenn der gesellige Zustand unter dem völlig consolidirt oder völlig verfallen ist. LXI. Hauptmerkmal also Productivität welche die Andern mit ergreift; geschieden durch den Gegensaz des idealen und realen. Das Ergreifen scheint freilich von Umständen abzuhängen; sie könen nicht mehr ergriffen werden wenn sie schon da sind. Daher im Genie das Merkmal hereingebracht daß es ohne Schule müsse an seinen Punkt gekomen sein. Allein dies läßt sich niemals trennen. Das Wahre ist daß wer | nicht ergreift auch nicht das Bewußtsein von überströmender Lebensfülle haben kann welches mit zum Zustande des Genie und Heros gehört. Daher müssen beide wenn man stetige Fortschreitung mit endlichem Ziel denkt allmählig aufhören. Dann sind aber auch die niedrigsten Punkte nicht so weit zurük und also die Summe der Kräfte gleich. – Vereinzeln kann man den Heros nur politisch, religiös, sittlich. Das Genie wissenschaftlich künstlerisch. Mechanisch gar nicht; dies ist der allgemeine Grenzpunkt. Je mehr das besondere wissenschaftliche und künstlerische am Organ hängt desto weniger läßt sich Genie darauf beziehn. Die Kunstgebiete sind aber strenger geschieden. Darum kann man sagen poetisches Genie musikalisches Genie (nur nicht Genie auf der Flöte,) aber nicht ethisches Genie, physi9 Stufenfolge der Vortreflichkeit[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen

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kalisches chemisches Genie sondern hier nur Talent welches dem Genie seine Richtung anweiset. LXII. Man könnte fragen ob nicht noch vortreflicher wäre die Verbindung des genialen und heroischen. Allein die giebt es nicht; auch Christus war nicht genialisch. Das genialische darf zwar nicht mit dem barbarischen und das heroische nicht mit dem brutalen verbunden sein aber immer mit einer untergeordneten Stufe. Alle Virtuosität ist ihrer Natur nach einseitig[.] Man könnte aber die Frage so stellen ob nicht die harmonische Ausbildung nach beiden Seiten eine eben so große Treflichkeit wäre als die einseitige Virtuosität? Das Sein der Gattung wird zwar allerdings in ihr am besten repräsentirt aber die lebendige Kraft nicht. Schon die zweite Stufe von dieser, die Originalität wird einseitig sein, und die harmonische Ausbildung nur die dritte Stufe einnehmen wo bei allseitiger Empfänglichkeit die Productivität nur tadellos und ausgezeichnet ist ohne ein neues Feld zu eröfnen. Auf diese dritte Stuffe folgt nun die Empfänglichkeit mit zurüktretender Productivität | und bei dieser macht man den bestimmten Anspruch daß sie sich nach beiden Seiten bewähren soll. Endlich folgt nun abnehmend die zurüktretende Empfänglichkeit welche sich durch Widerstand gegen die Einwirkungen des genialen und heroischen zu erkennen giebt. Doch muß man hier unterscheiden den Widerstand der sich an der Grenze zweier Perioden entwikkelt und bestehn kann mit ungestörter Aufnahme der Einwirkungen die zur alten Zeit gehören. Solche Menschen repräsentiren durch die scharfe Grenze das rukweise Vorrücken der Entwikelung so wie die leicht übergehenden mehr den stätigen Gang repräsentiren. Zulezt komt auf der idealen Seite die Stumpfsinnigkeit, die an Blödsinn grenzt und auf der wahren die positive Leidenschaftlichkeit, die Wildheit die an Wuth grenzt. Die Grenzlinie ist hier schwer zu finden und läßt sich nicht immer gleich ziehn. Dieselbe Rohheit verzeiht man in einem ungebildeten Gemeinstande und hält sie für einen natürlichen Zustand, die man in einem gebildeten für krankhafte Anlagen erklärt. LXIII. Die krankhaften Anlagen lassen wir jezt noch und fragen Da nun jeder Einzelne in dieser Stufenleiter einen bestimmten Plaz einnimmt, worin ist der Unterschied zwischen dem Einen und dem Andern gegründet. Bei angeborner Gleichheit nur in den äußeren Umständen können wir nicht zugeben. Aber allen Einfluß der äußeren Umstände auch nicht läugnen. Denn da unter den früh sterbenden gewiß auch Ausgezeichnete sind und die äußern Umstände also diese an der Entwiklung hindern: so müssen sie auch Lebenbleibende hindern können da alle mögliche Hinderniß doch nur darin besteht daß 38 läugnen] über der Zeile mit Einfügungszeichen

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Raum und Zeit abgeschnitten wird. In dem äußern Einfluß aber ist ein Gesez nicht leicht aufzufinden. Die angeborene Ungleichheit läßt sich eines Theils auf äußern Einfluß zurükführen indem äußere Umstände auch schon vor der Geburt einwirken. Wenn man aber | auch beim ersten Moment stehn bleibt so ist wieder in so fern man die Erzeugung als eine That zweier Einzelner ansieht alles Zufall. Bei ursprünglicher Gleichheit aber alles auf die eigene Fortentwiklung schieben heißt nichts. Denn in derselben kann doch nur die ursprünglich angelegte Kraft thätig sein; und ihre Unthätigkeit müßte auch in einer ursprünglichen Unerregbarkeit gegründet sein. Es ist also nur übrig in der ursprünglichen Ungleichheit eine höhere Bedeutung zu suchen[.] Wir müssen aber die Erzeugung als eine That der Gattung ansehn und dieser also eine ungleiche oscillirende Thätigkeit zuschreiben. Dies fodert zu beständig ins Große gehenden Beobachtungen auf über das Verhältniß der auf beiden Seiten ausgezeichneten zu den gewöhnlichen und über das Verhalten verschiedener Zeiten und Räume in dieser Hinsicht[.] Allein ein Gesez des Verlaufes aufzufinden dürfen wir schwerlich hoffen. Dann aber müssen wir die äußern Einwirkungen eben so betrachten und sagen sie sind theils psychologisch und dann im Großen angesehen auch wieder in den großen Massenverhältnissen gegründet[,] ruhige Zeiten und bewegte, freundliches Zusamenwirken und feindliches Auseinandertreten, theils physische und dann im Großen angesehn auch bestimmt durch das Verhältniß des Gattungslebens zu den übrigen Naturkräften. Dies hier nur Trost um Gleichheit. Erscheinung der Seele in der Zeit. Entstehung. Angeborene Ideen oder tabula rasa. Kindheit bis Pubertät. Aufnehmen nach außen; plastisch nach innen. Jugend. Ehe. Entwiklung der Liebe, Geschichtssinn, Kunst und Religion. Krankheit ist Liederlichkeit. LXIV. Dieses war hier vorzüglich zum Trost gesagt (genauer aufgenommen kann es erst später werden) um das Gefühl über diese Ungleichheit zu berichtigen. Denn wenn wir Zufall in höhere Nothwendigkeit verwandeln und unter dieser Alle gleich stehn und jeder sein Leben mehr im gemeinsamen findet als im abgeschlossenen Dasein so gleicht sich alles wieder aus, auf eine höhere Weise als wenn man nur bedenkt, daß das ganze lebendige Spiel aller Kräfte auf dieser Ungleichheit beruht, und daß also jeder auch auf seiner unter|geordneten Stelle mehr ist als wenn die Ungleichheit nicht wäre. Jezt ist uns noch übrig die Differenz eines jeden Einzelnen mit sich selbst die auf dem Geseztsein in die Zeit beruht zu betrachten und dabei an die Erzeugung anzuknüpfen[.] 25–29 Dies ... Liederlichkeit.] am linken Rand ohne Einfügungszeichen

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Die Erzeugung müssen wir als ein Zugleichwerden von Leib und Seele betrachten. Wenn auch der Gedanke der Präexistenz der Seele Wahrheit hat so muß man sich doch weil er der Trägheit zu viel Vorschub thut vor seinem Einfluß auf die Erklärungen hüten. Dieser Einfluß ist noch dazu unbegründet weil was ganz aus dem Bewußtsein verloren ist auch nicht als ein vorher gewesenes auf das Bewußtsein wirken kann sondern nur so wie eine ursprüngliche Anlage auch wirken müßte. Wegen der großen Empfänglichkeit in der ersten Periode kann man die ursprüngliche Anlage nicht mit dem ersten Moment als völlig abgeschlossen betrachten. Aber in dem Zugleichwerden können wir nicht den Eltern einen gleichen Einfluß auf die geistige wie auf die leibliche Seite einräumen. Denn auch im organischen waltet zwar zuerst die ganz gemeinsame und identische plastische Kraft der Gattung überall vor und dann der nationale Typus (wovon nachher), aber nächst dem tritt doch auch der Familientypus wiewol in sehr verschiedenem Grad (so daß man danach die Familien eintheilen kann in typische und vagirende) vor theils in den allgemeinen Formen der Constitution theils in einzelnen Zügen. Allein im psychischen tritt er weit mehr zurük; nur specielle Talente und Neigungen wiederholen sich und erben an, Charakter und intellectuelle Dignität gar nicht; und selbst in der künstlerischen Wiederholung ist oft das spätere Geschlecht nur Organ des früheren. – Wie nun die Seele auch in dieser Hinsicht freier eintritt so nimmt sie auch weit weniger Antheil an der Lebensgemeinschaft der organischen Seite mit der Mutter. Dies zusammengenommen scheint es natürlich die Gegenwirkung des leiblichen und geistigen im Fötus nicht | schlechthin gleich zu sezen sondern der Seele eine überwiegende Thätigkeit zuzuschreiben, einen Einfluß auf die Plastik des Leibes. – Hieraus ist nun im allgemeinen der Charakter der Kindheit zu zeichnen. Die aufnehmende Thätigkeit nach außen gekehrt. Fassen und Sondern von Bildern und Gestaltung von Begriffen. Die bildende Thätigkeit nach innen auf den Leib. Die Grenze ist die völlige Entwiklung des Geschlechtssystems womit diese Thätigkeit aufhört und nun das quantitative davon dem Leibe selbst überlassen bleibt. LXV. Der Zustand der Seele ist überwiegendes Versenktsein in den Organismus, wobei die Tendenz auf das Bewußtsein ganz zurüktritt[.] Daher der viele Schlaf. Abwechselnd damit Aufbliken in die Welt mit Erkennenwollen. Doch ist der Weg den dieses Bestreben durchläuft die schnellste Entwiklung gegen welche alles nachherige Kleinigkeit ist. Ueber den Anfang derselben die Streitigkeit ob die 8–10 Wegen ... betrachten.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen über )früher*

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Elementarischer Teil, 64. bis 65. Stunde

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Seele als tabula rasa auf die Welt komme oder mit angebornen Ideen. Richtig angesehn stimmt beides. Die Seele ist leer an wirklichem Bewußtsein aber sie ist ein Bewußtsein erzeugendes Princip und hat dazu ihre ursprünglichen Typen. Sollen die angeborenen Ideen wirkliches Bewußtsein sein so sind sie fantastisches Erzeugniß der Vorstellung von Präexistenz. Soll die tabula rasa auch den Typus läugnen so wird die Seele rein passiv und der Materialismus ist gesezt. Ueber die richtige Ansicht von angebornen Ideen kann man nur imer soviel hinausgehn daß man sagt das Bewußtsein läßt sich in keinem Moment des wirklichen Lebens als Null sezen; und das heißt nur die intellektuelle Seite und die organische des wirklichen Daseins beginnen zugleich, oder vielmehr in der plastischen Thätigkeit der Seele ist auch ein Bewußtsein eingeschlossen. Ueber den angegebenen Sinn der Tabula rasa kann man nur noch so weit hinausgehen daß | man sagt die Seele bedarf zu jedem wirklichen Bewußtsein Organe und also kann es nicht eher beginnen bis Organe vorhanden sind. Dieser Gegensaz ist nothwendig. Das Entstehen des Lebens selbst auf eine causale Weise zu begreifen kann und darf nie möglich sein denn es muß als productiver Act der Gattung und nicht als Wirkung Einzelner erscheinen. Die plastische Thätigkeit ist am meisten überwiegend und die erkennende zurükgedrängt so lange der Assimilationsprozeß noch nicht durch das Zahnen selbständig geworden ist. Dann geht die Richtung auf die Sprache an und die erkennende Thätigkeit nimmt ihren Hauptschwung[.] Das Gefühl bleibt in der ganzen Periode zurükgedrängt. Schmerz und Lust tritt einander nicht scharf gegenüber daher beides in einem Sack, welches man fälschlich für sanguinisch nimmt. Die Liebe ist auch noch fast ganz in animalischer Analogie auf dem getheilten Leben mit der Mutter beruhend[.] Daher wenn das Selbstgefühl in der Pubertät vollendet ist diese Liebe verschwindet und ehe die eigentlich geistige sich erzeugt eine Zwischenzeit eintritt welche lieblos erscheint. Das Gleichgewicht der plastischen und erkennenden Thätigkeit ist die psychische Gesundheit des Kindes. Ihr stehn zwei Krankheiten gegenüber die Gefräßigkeit welche dumm macht und die Altklugheit welche schwächlich macht. Beide pflegen auch rein physiologisch erklärt zu werden und die Verwechslung beider Seiten ist in diesem Alter auch am verzeihlichsten[.] Die J u g e n d beginnt mit der physischen Entwiklung des Geschlechtssystems also mit der völligen Selbständigkeit des Einzelwesens in welchem nun nach der Einseitigkeit des Geschlechtes auch schon die Kraft der Gattung dem Einzelnen eingebildet ist. Darum 4 Typen] typen

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Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

erwacht nun desto stärker das SelbstBewußtsein und die Jugend ist die Zeit der völligen Entwiklung desselben[.] Lust und Schmerz treten bestimmter | gegen einander, Lebensfreude und abwehrende Leidenschaften bilden sich. Mit dem Gemeingefühl entsteht Liebe und Ehre als das Verhältniß des Einzelnen zum Einzelnen bezeichnend, und dann das unbestimte Gemeingefühl welches überall Freude mittheilen und Schmerz abwehren will. Daher das Ritterthum welches auch am meisten herrschte als die Nationalverhältnisse noch nicht ausgebildet waren einen völlig jugendlichen Charakter hat. Das volksthümliche entsteht nur allmählig und zulezt nach Maaßgabe es sich in der Masse entwikelt findet und im Leben heraustritt. LXVI. Die erkennende Seite scheint zwar auch erst zur Vollkommenheit zu kommen weil wahres Wissen erst möglich wird; allein auch das rührt eigentlich daher weil das erwachte SelbstBewußtsein in seinen verschiedenen Gestalten zum Gegenstand des Wissens gemacht wird. Erwacht aber die Speculation in dieser Periode nicht so erwacht sie schwerlich. Uebergang vom Gefühl zum plastischen ist imer der Kunstsinn der auch erwacht als natürliche Aeußerung des überströmenden Gefühls. Daher so leicht fälschlich für Lebensberuf genomen wird was nur Charakter dieser Periode ist. Aus dieser Täuschung kommen die Weiber eher zurük als die Männer. Was noch fehlt erkennt man am besten wenn man fragt wo soll denn die Jugend enden? Antwort: in der Ehe und in der bürgerlichen Feststellung welches beides zusammentreffen soll. Die Jugend ist also die Zeit wo noch keine Herzens und Berufswahl gemacht ist. Daher was den Geschlechtstrieb betrifft das Uebergehn desselben in die Seele. Erwachen seiner intellectuellen Seite und damit verbunden versuchende Annäherung an das weibliche | Geschlecht. Von plastischer Seite zunächst im Zusamenhang mit dem bisherigen die Richtung auf die schöne Darstellung des Leibes. Neigung zum Schmuk[.] Dann Zeit der versuchenden Entwiklung aller Neigungen und Talente, sich anschließend an das dominirende Verhältniß des Einzelnen zur unbestimmten Vielheit. Reiselust. Bei den Weibern in Romanen die die Manigfaltigkeit der häuslichen Welt enthüllen. Je mehr sich die Neigungen fixiren desto mehr Annäherung an Ernst und an Festwerden[.] Die beiden Krankheiten der Jugend sind Wollust und Zerstreuung. Die erste Aufhebung des Gleichgewichts durch das Versenken der Seele in die dominirende organische Seite, macht das reine Resultat der rechten Liebe unmöglich. Die andere ist das Uebermaaß des umherschweifenden Versuchens welches die Unstätigkeit habituell 22 Weiber] über )Männer*

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werden läßt und wodurch das Festwerden im bestimmten Beruf unmöglich wird. L X V I I [ .] – LXXI. Das m än n l i c h e Alter. Anfangend mit dem psychischwerden des Geschlechtssystems und zusammenhängend damit mit dem völligen Bestimtsein des SelbstBewußtseins. Ehe und Beruf. Endend mit dem Verschwinden der Zeugungskraft als Anfang des hohen Alters. Größte Productivität und Charakterstärke; später kommt beides nicht mehr – Gesezmäßigkeit und Virtuosität[.] Der Anfang des hohen Alters bereitet sich vor und daraus entsteht in der zweiten Hälfte Gefühl der Nothwendigkeit den Organismus zu schonen. Daher Krankheiten und zwar zwiefach die intellectuelle und die organische sowol sthenisch als asthenisch a Trunk und Gourmandise b hypochondrische Pedanterei c Herrschsucht oder Ehrgeiz d Feigheit und Kriecherei[.] – Die intellectuellen treten nicht ein wenn sich das einzelne Bewußtsein gegen das gemeinsame richtig stellt[.] | Die organischen nicht wenn das gehörige Gleichgewicht zwischen beiden Functionen bleibt und die Seele sich nicht zu tief in den Organismus versenkt. Im reifen Alter kommt auch sonst ausschließend der Wa hnsinn sofern er wahrhaft psychisch ist zum Vorschein. Die 4 F ormen desselben nach den Temperamenten. Phlegmatisch Blödsinn sanguinisch Wahnsinn melancholisch Tiefsinn cholerisch Wuth. Auch eben so mit einander zu copuliren wie die Temperamente. Nicht aus dem Uebermaaß der Temperamente entstanden aber wol durch dasselbe erleichtert. Erst möglich wenn das positive im Temperament d. h. der Wille wegfällt. Abhängig davon daß er nur entsteht wenn die Fixirung der Anfangspunkte gestört wird. Daher die allgemeine Meinung daß aller Wahnsinn aus Liebe oder Ehrgeiz entstehe[.] Zusammenhängend damit daß er oft im hohen Alter wieder aufhört, wenn nicht durch die Unregelmäßigkeit oder den Mangel der geistigen Einwirkung der Organismus eher aufgerieben wird[.] Der psychische Wahnsinn ist daher immer gemeine Schuld[,] theils sollten die Veranlassungen nicht entstehn, theils sollte zusammentretende Kraft den Willen suppliren. Die Möglichkeit hievon geht besonders aus den lichten Intervallen hervor die nicht nur im Tiefsinn und der Wuth sondern auch in den andern Formen stattfinden[.] LXXII[.] – LXXV. Das h o h e A l t e r. Streit ob es Vollendung sei oder Abnahme, zusamenhängend mit den Vorstellungen von der Fortdauer. Beides. Abnimt die organische Seite[.] Also alles Aufnehmen und Ausführen[.] Auch das Gefühl selbst des sittlichen nach der Seite der Aeußerung hin. Dagegen vollendet ist und bleibt Charakter[.] Ansicht Die ganze Form in welcher sich die inwohnende Idee und das

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Gedanken und Vorlesung im Sommersemester 1818

inwohnende SelbstBewußtsein | ausgebildet haben. Wir können also eben so gut sagen die Seele verschwinde weil wir sie nur als thätige Kraft kennen als sie bleibe und sei nun geschikt mit größerer Kraft in einen neuen Zustand überzugehn.

Die Vorlesung im Sommersemester 1821

Stark vergrößerter Konzeptzettel zur 56. Stunde der Vorlesung im Sommer 1821. Manuskript Schleiermachers, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 6, Zettel Nr. 28

[Konzeptzettel zur Psychologie 1821]

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P s y c h o l o g i e [3.] Ursache zur Trennung. Zusamenhang der geistigen Functionen unter sich – Aussichten für das geistige überhaupt – Fragment und Differential Trenung. Frage was beide sind übergehn[.] Materie[,] Monadologie. (Was zu beidem gehört.) Bewußtes; Innerlichkeit. – das θρεπτικον der Alten – Stellung des Leibes zwischen Welt und Seele [

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Psychologie 5[.] (aus 4[.] und 8.) Vom Lebensprozeß aus gesehn 1.) Auf Leib und Seele. Doppelte Stellung des Leibes. Anfang und Ende. Unbekanntes begleitendes. 2.) Auf die Aufgabe den Geist zu fassen. Allgemeine Form. Nothwendigkeit 2er Außenpunkte. Umfang des menschlichen Daseins zwischen ihnen und Festhalten der Differenz von ihnen [

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P s y c h o l o g i e [4.] a. Aufsteigen. b[.] Grenzfindung. Also beobachtend in der Mitte – Theilung des Ich durch Wechselwirkung – durch den Leib und ohne Leib[.] Denken = Bild + Verstand bis auf Gott. Leibliches = Christus. Sonst psychischer Anfang leibliches Ende und umgekehrt[.] Wahrnehmen und Wollen Nicht sondern nicht ausschließen. [

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Psychologie 18. Gefühlsseite. a[.] Allgemeiner Sinn Hautsinn. Verwandt mit Respiration. Einwirkung alter elementarer Gegensaz. Erhebend und deprimirend allmählig abgestumpft. – Stimmung. (die 19–20 Verwandt] verwandt 1–6 Ohne Stundennummerierung, wahrscheinlich 3. Stunde, vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 7–8 (unten S. 482–483) 7–12 Ohne Stundennummerierung, wahrscheinlich 4. Stunde, vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 8–10 (unten S. 483–485) 13–18 Die Angabe (aus 4 und 8) bezieht sich auf die Nummerierung der Stunden von 1818, hier 5. Stunde, vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 10–13 (unten S. 485–487) 19–6 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 41–43 (unten S. 508–510)

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Die Vorlesung im Sommersemester 1821

Thiere keine). Nicht schlecht, Abspiegelung der Relationen des allgemeinen Lebens zu seinem. Aber Reaction muß sein. (...) Ihr Winterschlaf kein Gefühl[,] ihre Hemungen alle Idiosynkrasie[.] Die Stimungen chronisch besonders jene angebohrnen. Speciele Sinne[.] Gegensatz von Augen (aus objectivem Grunde) und Tast aus subjectivem. [ 5

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P s y c h o l o g i e 19[.] G e f ü h l aus den speciellen Sinnen[.] G esicht aus objectiven Gründen[.] (Blendung) [Getast aus subjectiven] Wahrnehmung und Gefühl zusamen in Helle und Dunkelheit[.] [...] Ge schmak und Geruch indifferente Sinne. Beides ineinander. Geschmack aus lauter Idiosynkrasie. Analogon mit Thieren. Die Thiere wenig Geschmaksgefühl. Revolution im Geschmack[.] Ekel. Lüsternheit _ _ Geruch verwirrend revolutionär[.] Täuschungen (Zusammenhang mit innern Organenden?) Mehr zum Gefühl. Die Wahrnehmungen nicht in Begriffen. Bei den Thieren überwiegend objectiv. [

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Psychologie 20. Gefühlsseite des G e h örs[.] Analogie mit G esicht bis stark und schwach[,] mit G e t as t bei Geräusch Idiosynkrasie[,] mit G e r u c h u n d Geschmak revolutionär bei Zusamenfassung der Töne. Nicht bloß arithmetisch. Nicht bloß Mitgefühl – Zurükführung auf Antipathie. Daher auch Thiere. – Respiration und Puls.

Noch das meiste übrig. Uebergänge gebahnt zu Succession durch Stimung[,] zur Ausströmung durch Gemüthsbewegung. – Um zu vollenden müssen wir fragen Wie bilden Ein Ganzes[?]

2 (...)] umklammerte Punkte im Manuskript, vermutlich Einfügungsmarkierung für (die Thiere keine) (Zeile 21–1) 2 Ihr] ihr 8 [Getast aus subjectiven]] eckige Klammern im Manuskript 9 [...]] eckige Klammern mit drei Punkten im Manuskript, vermutlich Einfügungsmarkierung für [Getast aus subjectiven] (Zeile 8) 16 20.] könnte auch als 26. gelesen werden, inhaltlich aber hier einzuordnen 7–15 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 43–45 (unten S. 510–511) schrift Eyssenhardt, S. 45–48 (unten S. 511–513)

16–24 Vgl. Nach-

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18. bis 23. Stunde

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Ob durch Wiederholung beide verknüpft werden? – Grundlosigkeit vor der Erbauung. Materielle Ideen. Widerspruch wegen hell und trübe. – Auch wegen der differenten Elemente – Ob durch Sonderung; wenn vielfältig gesondertes zusammenfällt. Daß man das Behalten voraussagen muß, und das Vergessen erklären. [

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[21.] Erklärung des Vergessens. Analogie mit willenlosem Wahrnehmen. Gänzliches Vergessen nicht nachzuweisen ohne wesentliche Störung. Daher auch beim Festhalten das innere Element. Jedes Wahrnehmen [

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Zweites Element[.] XXII[.] Die Virtuosität des Sinnes selbst. – Die Sammelsucht

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Sprache[.] Sind die Elemente die Hauptsache so ist sie die QAnweisungR und Mittheilung. Aber Einheit[.] Combination ist ursprünglich. Ineres Sprechen fängt an. – Abstraction[,] Causalität [

]

P s y c h o l o g i e 23. Ve r hältniß des organischen Eindrucks zum Bew u ß t sein. Vergänglich materiell wird bleibend geistig[.] Das Hervorrufen durch Willensacte wie Anfang. Falsches Verhältniß beider in 7–12 Erklärung … Sammelsucht] der Text befindet sich unter der Notiz mit der Stundennummerierung 27 auf Zettel Nr. 11 (vgl. unten S. 115) 11 Die] die 13 QAnweisungR] Tinte sehr schwach 1–6 Obwohl diese Notizen mit auf dem Zettel zur 20. Stunde stehen, weisen sie dem Inhalt nach eher auf die 21. Stunde hin. Möglicherweise hat Schleiermacher die Gedanken in der 20. Vorlesung nicht mehr geschafft. Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 48–49 (unten S. 513–515) 7–11 Diese Gedanken sind nicht nummeriert, lassen sich aber der 21. Stunde zuordnen; außerdem folgt auf demselben Zettel die römische Ziffer XXII. Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 48–50 (unten S. 513–515) 11–15 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 50–53 (unten S. 515–517) 16–10 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 53–55 (unten S. 517–519)

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Die Vorlesung im Sommersemester 1821

der gewöhnlichen Vorstellung von Gedächtniß. – Das tiefste geistige mit drin. An a l o go n des Gedächtnisses bei Thieren. Zugvögel[,] Hausthiere. Co m b i n at i o n d e r Si n n e auch Sonderung und Verbindung – Unsicherheit im Verhältniß[.] Subject und Prädicat – Auf diesem ruht die bezeichnende Thätigkeit – wesentliche Richtung auf das allgemeine. Sinnenresultat[.] Beharliches Flüchtiges Combinirtes. Durch die Sprache strenge Auseinanderhaltung. Erstere Zusammenfassung. Hauptaufgabe über die Sprache. [ 7

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P s y c h o l o g i e 24. Sinnenresultat: Beharrliches Flüchtiges Combinirtes. – Dieselbe Beziehung auf verschiedene Punkte. Dies ist Leitung der Zusamenschauung. N a m e n (als Ausdruk der Ueberraschung) fixirt das gemeinsame, läßt das untergeordnete differente weg. – Entledigung einer Menge von Eindrüken. S p r a c h e . Nicht Entstehung noch elementarische Bedeutung. Beobachtung und Verhältniß zu beiden Grundthätigkeiten. Der Unt erschied des menschlichen und thierischen. – Tonbildung ist Maaßstab des Lebens. – Menschliche immer Mittheilung (doch das auch Thiere) – A r t i c u l at i o n fixirt am Gegensaz von Consonanten und Vokalen. – Gegensaz von Sprache und Gesang (die bei Thieren fließend vertheilt). Bezieht sich auf objectiv und subjectiv. Daher auch im Thiere nicht aus einander tretend Sprache fürs subjective nur mittelbar[.] Daher Poesie mit hervortretendem Zeitmaaß und Tonmaaß [

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P s y c h o l o g i e 25. Recapitulation. Articulation. Ungemessen[.] Dieß nicht ganz aus Ausruf zu erklären, auch nicht aus Mimik der Naturtöne. [Verwandschaft zwischen innern Eindrücken und Sprechorganen] Wenig Onomatopöien bei Thieren[.] Möglichkeit der Differenz. 11 Beharrliches] beharrliches 14 )] Klammer gestrichen und wieder gesetzt 17 elementarische] korr. aus Q R 20 Menschliche] menschliche 29–30 [Verwandschaft … Sprechorganen]] eckige Klammern im Manuskript 11–26 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 55–58 (unten S. 519–521) schrift Eyssenhardt, S. 58–60 (unten S. 521–522)

27–8 Vgl. Nach-

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23. bis 27. Stunde

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Erste Untersuchung wäre Verhältniß des eigenthümlichen in Tonbildung und danach Wurzelsylben – E n t s t e hn der Sprache in Kindern nicht bloß Nachahmung sondern Selbstthätigkeit durch Ahndung. a. Freies Spiel b. Ausruf der Wahrnehmung. c[.] Einübung in das gegebene. – Die Einbildung des Eigenthümlichen geht beständig fort. P r i o r i t ä t vo n Denken und Sprechen[.] Denkenwollen ist eher als Losreißen; aber wirklich Denken nur mit Sprache. [

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Psychologie 26. Sp r ac h e . Einbildung des Eigenthümlichen geht fort, untergeordnet der Typus bis zum Werden der Sprache. – Rükkehr zum Zusamenhang mit der Auffassung. Denken und Sprechen identisch[.] [Denkenwollen und Sprechenwollen vorher außer einander liegend] Noch kein Denken so lange der sinnliche Eindruk der vorherrschende in der Seele ist. Denkenwollen ist Losreißenwollen vom sinnlichen Eindruk[.] NB. Wie dieses hernach zur todten Formel werden kann. Schema muß bleiben. Inhalt der Sprache[.] a. Umfang[.] Hauptwörter Zeitwörter Adjective als Abbreviaturen[.] Fehlen Praepositionen und Coniunctionen. Analogie beider. Ob auch ein Wahrnehmen? Unterordnung der HauptBegriffe Ding und Kraft[.] Lebendiges über aller Welt Verhältniß zwischen speculativ und empirisch [

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P s y c h o l o g i e 2 7 . Zweierlei noch in Ordnung zu bringen. Die bestimte Objectivität der Bilder und die Differenz der Zeit. Lezteres ist Bedingung des ersteren[.] In letzterem liegt zuerst das Wiederkomen desselben und dann auf die Erneuerung (geht vermittelst der neuen Erzeugung auf jenes zurük.[)]

10 Rükkehr] Rükehr 12 [Denkenwollen … liegend]] eckige Klammern im Manuskript 22 27.] 27, 26 zurük.(])] auf demselben Zettel folgen zwei weitere Notizen: eine kann der 21. Stunde zugeordnet werden, die andere ist mit XXII markiert (vgl. oben S. 113) 9–21 Der Gedankenzettel mit der Stundennummerierung 26 enthält Stichworte, die in der 26. und 27. Stunde behandelt wurden. Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 60–64 (unten S. 522–526) 22–26 Diese Gedanken sind nicht eindeutig in der Nachschrift Eyssenhardt nachweisbar.

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Die Vorlesung im Sommersemester 1821

P s y c h o l o g i e 28. Erfahrung im Samelnwollen. Wissenschaft im combiniren. Allgemeiner Puls aus beiden[.] Idee der Welt praktisch gegeben – die allgemeinsten Formeln das erste aber nicht kleinste Wa h r h e i t – Wirkend im Uebergang aus Bewußtlosigkeit zum Bewußtsein. – Elemente Ungeduld und Skepsis[.] Fantasie zwischen beiden [

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P s y c h o l o g i e 29. Recapitualtion des objektiven Bewußtseins – 1[.] Die Idee der Gottheit ist die Voraussezung der Zusamengehörigkeit. (Zufall und Satan als Gegensaz) Ob aus dem Spiel der Fantasie. – Uebergang in Gefühl und Ausströmung[.] Subjectives Bewußtsein. Ob es ein Hinaufsteigen vom bloß physischen giebt? Die ursprüngliche Sympathie. – Grenze gegen das Thierische 2. Hinausgehnwollen aus der Sprache hängt mit erweitertem Identitäts Gefühl zusamen 3. Uebergang in Gefühl und Ausströmung Von der Geselligkeit der Thiere – Uebergang zur bloßen Cohäsion[.] Bestimte Identifikation und Entgegensezung – Die Resultate sind nicht aus erprobtem Vortheil zu erklären – Theorie der vermischten Empfindungen aus der Erweiterung des Subjects[.] Unerklärbarkeit des Mitleids aus der selbstsüchtigen Theorie [

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P s y c h o l o g i e 30. Versuch am Mitgefühl, am intellectuellen, am praktischen – Ueber die Grenze gegen das animalische. – Geselligkeit der Thiere[.] Uebergang zur menschlichen Cohäsion mit bestimmtem Gegensaz[,] nicht aus erprobtem Vortheil[.] Wahlanziehung Theorie der vermischten Empfindungen aus der Erweiterung des Subjects, unerklärbar aus der selbstsüchtigen Ansicht [

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8 Die] die 10 Uebergang] davor [ 10 Subjectives] davor [ 24 Wahlanziehung] über der Zeile mit Einfügungszeichen

16 Von] davor [

1–6 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 64–66 (unten S. 526–528) 7–20 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 66–69 (unten S. 528–530) 21–26 Die Gedanken lassen sich inhaltlich sowohl der 30. als auch der 31. Stunde zuordnen. Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 70–75 (unten S. 530–534)

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28. bis 30., 32. bis 33. und 39. Stunde

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Psychologie 32. A n t i p at h i e . Keim zu entgegengesezten Ansichten – Nicht leicht[,] ganz uneigennüzig. Auf hoher Stufe imer Ideenstreit (Gehört also zum Streit des persönlichen und gemeinsamen) – Ung l e i c h h e i t[,] das Anziehn vom objectiven ist Ueberströmung[,] desto reiner Gefühl, je mehr von der anderen Seite entgegenkommt[.] Begeisterung activ passiv Kl a s s e n a n z i e h u n g. Ehrgefühl[,] Eitelkeit Zu s t a n d d e s St r e i t e s , Neid und Schadenfreude rein persönlich aber in Bezug auf Mitgefühl. Gesellig[,] persönlich = Z o r n auf ein persönlich leztes gemeinsames Bewußtsein Unterordnung des persönlichen U n w i llen und Bew underung . [

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P s y c h o l o g i e 33. Analogie mit der objectiven Welt und Menschheit. – Das Fühlenwollen gleich durch das gemeinsame im Einzelnen. [..] Geseze der Anziehung. Gebunden an den Naturzusammenhang, mit Ausnahmen (diese am schwierigsten) Anknüpfend an das persönliche a[.] aus Bedürfniß der Ergänzung b[.] aus Aehnlichkeit – [Im Allgemeinen Expansion und Contraction sonst käme keine Bestimtheit zu Stande] Physisches Element. – Vielfältig verbunden mit geistigem. [

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16

]

P s y c h o l o g i e 39. Neigung ist (Verneinung erkennbarer Nothwendigkeit und Vereinigung äußerer Bestimmung.) Bestimtheit und Veranlassung, keine Willkühr – Zusammenhang mit S inn. (Prädestinirter Wille und Organ durch Eine That der Gattung bestimmt) – Kastenwesen bezeichnet untergeordnete Stuffe 15 [..]] eckige Klammern mit zwei Punkten im Manuskript, vermutlich Einfügungsmarkierung für [Im … Stande] (Zeilen 19) 19 [Im … Stande]] eckige Klammern im Manuskript 19–20 sonst] s korr. aus einer schließenden eckigen Klammer 21 Vielfältig] vielfältig 22–23 (Verneinung … Bestimmung.)] als zweite Ergänzung unter dem Text desselben Zettels mit Verweiszeichen 23–24 Veranlassung] folgt gestrichenes Verweiszeichen 24–25 (Prädestinirter … bestimmt)] als erste Ergänzung unter dem Text desselben Zettels mit Verweiszeichen 1–12 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 75–77 (unten S. 534–536) 13–21 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 77–80 (unten S. 536–538) 22–2 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 90–94 (unten S. 547–549)

17

118

Die Vorlesung im Sommersemester 1821

Eigenthümlichkeit: wissenschaftliche Elemente: Entdekung und Erfindung Je mehr die Veranlassung dominirt, desto untergeordneter Geschäft. [ 18

P s y c h o l o g i e 40. B e o b ac h t u n g und Versuch. Nicht bloß natürlich sondern auch speculativ – Entdeckung und Erfindung[.] Allgemeinheit als Nachbildung. Jede Seele aufgenommen in die Sprache. Verschiedenes Verhältniß zu derselben. – Gleichgültigkeit. Bestimmte Liebe. Beherrschung[.] Daneben Vielsprachigkeit Verschiedene Zweige der Wissenschaft nach Thätigkeit und Gegenstand. [

20

5

10

]

P s y c h o l o g i e 41. Wissenschaftlicher Prozeß unendlich. Unterbrochen durch Composition. Vielseitig verbunden Ku n s t [.] (Verhältniß zum Schönheitsgefühl[)] Anknüpfend an Natur Aeußerung – Dazwischentreten des Urbildes. Analogon von ursprünglichem und anschaulichem. – Beiden gemeinsam der ursprüngliche Trieb. Die bildende später eben aus demselben freien Spiel. Einfluß des untergeordneten Talents in beiden das aber kein Kunstgebiet schaffen kann. – Verhältniß von Plastik und Mahlerei = Gesicht und Getast [

21

]

15

20

]

P s y c h o l o g i e 42.) Parallele der beiden Momente. Priorität des Schönheitsgefühls auch mimisch und musisch. – Erweiterung durch musisch und mimisch wie bildend. Werth des specifischen an höhere Sinne sich anschließenden Talentes in diesen Künsten. Das Kunstgebiet wird dadurch nicht geschaffen 3 Je … Geschäft.] als dritte Ergänzung unter dem Text desselben Zettels mit Verweiszeichen 3–4 desto] desto )weniger* 14 (Verhältniß zum Schönheitsgefühl[)]] unter dem Text desselben Zettels mit Einfügungszeichen 23 höhere] über )niedere* 5–11 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 94–97 (unten S. 549–551) 12–20 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 97–99 (unten S. 551–552) 21–3 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 99–102 (unten S. 553–555). Der letzte Satz verweist auf das Heft von 1818.

25

39. bis 43. und 45. bis 46. Stunde

119

P o e s i e [.] Gedanken aber eben so wenig auf Erfahrung und Wissenschaft als Bild – Beziehung zwischen Poesie und bildender Kunst; auch Musik und Mimik. Und nun nach der Analogie das übrige [

5

10

P s y c h o l o g i e 43[.] Fortsezung der Poesie. – Speciell poetisches Talent. – Erfindung in allen[.] Existenz des Gesammtlebens im Einzelnen – Ganzes Dasein als Kunst. Gegensaz des chaotischen nach beiden Seiten activ und passiv wie in der Welt des Anorganischen. Uebergang ins r e al e = Ichwerdenwollen (vorher geworden Ich ohne Wollen) Reaction des Gefühls Samlung des Angenehmen[.] Abwehr des Unangenehmen. – Schuz und Nahrung[.] Jenes auf die Affection durch den Leib. Dieses auf die Thätigkeit durch den Leib. [

15

20

24

]

Psychologie 45. F o r m . Gestaltungsprincip anschließend an thierischen Kunsttrieb aber veränderlich und frei. Geometrisch und organisch – Keim der G e m e i n s am keit in der Anerkennung des gebildeten, also auch des bildenden Leibes selbst. Ungleichmäßigkeit dieser Anerkennung bis zum Nullpunkt[.] Aus beiden Absondernde Gemeinschaft nach dem Bildungstypus. – St r e i t – Entgegengesetze Ansicht von der Natürlichkeit des Widerstandes. Analogie D i f f e r e n z i n d e r Productivität. Nachbildner[.] Erfinder. Gesezgeber. Aus ihrem Zusamensein erzeugt sich das erweiterte Bewußtsein. – Differenz mit der Nachbildung. Neotrismus; auf Abstumpfung der Gewohnheit sich beziehende Genußsucht[.] Anhänglichkeit an das Alte. Auf Erleichterung durch Gewöhnung gebaute Trägheit. [

25

]

22

]

P s y c h o l o g i e 46. Differenz in Production. Nachbildner Erfinder Gesezgeber. – Nothwendigkeit aller zum Gesammtleben. – Unter den ersten selbst Neotrismus und Archaismus. Neotrismus = Genußsucht 2 Poesie] über )Mahlerei* 8 Uebergang] davor )Idealen* Qi d e a l eR 17 S tr e i t ] über der Zeile ohne Einfügungszeichen

8 r e a l e ] korr. aus

4–11 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 102–105 (unten S. 555–557) 12–23 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 107–110 (unten S. 559–560) 24–2 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 110–112 (unten S. 561–562)

23

120

Die Vorlesung im Sommersemester 1821

wegen abstumpfender Gewohnheit. Archaismus = Trägheit wegen erleichternder Gewöhnung. [

]

P s y c h o l o gi e 47[.] Ueber den A b e r gl a uben. Zwar weiteres Gebiet aber hier vorzüglich [Analyse.] Uebergang aus Instinkt in Besonnenheit und Rükgang. Gegengewicht gegen Verengung des philosophischen Gebietes H e r o i s c h e u n d feigherzige. Ausgezeichnete Naturbeherrscher oft die lezten – [..] Manches hört auf Aberglaube zu sein. War es aber doch wirklich. [ 19

]

P s y c h o l o g i e 4 8 . Quelle des Aberglaubens. – Der passive weiset auf den activen zurük. Dieser ist theils blödsinig (Entsagen des Erkenens) theils fantastisch[.] Constitution des chaotischen – Warum nicht ins Gebiet des Menschlichen. Die Verwandschaft nur scheinbar

Vergleichung unserer elementarischen Darstellung mit Abstufung der Vermögen 1.) Erkentniß und Begehrungsvermögen trenen sich nicht 2. anderes und höheres ganz unsicher 3.) Schwanken zwischen Duplicität und Triplicität [ 25

5

]

Psychologie 49. Beim subsumiren das eigenthümliche verloren (Gar nicht die Differenzen und die Succession) Vermögen allein aus den 4 [Analyse.]] eckige Klammern im Manuskript 7 H e r o i s c h e ] h e r o i s c h e 8 [..]] eckige Klammern mit zwei Punkten im Manuskript, vermutlich Einfügungsmarkierung für [Analyse.] (Zeile 4) 10 48.] könnte auch als 40. gelesen werden, inhaltlich aber hier einzuordnen 17 Triplicität] am unteren Ende des Zettels befindet sich eine Addition von acht Posten, die nicht mit der Vorlesungsnotiz in Zusammenhang steht 18–19 (Gar … Succession)] als erste Ergänzung unter dem Text desselben Zettels mit Einfügungszeichen 3–9 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 112–114 (unten S. 562–564) 10–17 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 114–118 (unten S. 564–566) 18–1 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 118–119 (unten S. 566–568) 19–4 Anspielung auf Herbart (1816), insbesondere S. 110–123

10

15

46. bis 51. und 55. Stunde

121

Resultaten. (Maximum ist Herbart. Als Einheit nur Passivität.) – Triebe und Formen – führen in die unbestimte Manigfaltigkeit. Große Anknüpfungspunkte unserer Eintheilung[.] Analogie mit Leben. Verhältniß zur Welt [ 5

10

P s y c h o l o g i e 50. Ueber das Successionsgesez als Uebergang. 1.) Als Wechsel 2.) Als Aufnehmen einer Thätigkeit in eine höhere Einheit. Auch auf inere Differenz. Alles übrige auf die äußern Veranlassungen. Ueber die Freiheit und Wahl. Identität des höchsten mit Begeisterung. Die Wahl am meisten in der Gleichgültigkeit. Nothwendigkeit am meisten im Verhältniß zum erhöhten [

15

26

]

P s y c h o l o g i e 51. Die doppelte Frage verliert sich in Eine indem das aneinanderhängende nur Eins ist – Mehr äußere mehr innere[.] In einander gebildeter Wechsel durch allgemeine Bestimungen. Das Einzelne weit mehr Kleinigkeit Ueber Freiheit Nothwendigkeit und Wahl. Identität in der Begeisterung und in der Ordnung. Nothwendigkeit in der Unterordnung und dem Impuls. Wahl in der Gleichgültigkeit. [

20

]

27

]

P s y c h o l o g i e 55. Auch das ausgeschlossene auf eine Zeitlang bei fremden Impulsen als Grenze der Selbständigkeit – Cholerisch und phlegmatisch auf Gefühl geht doch mehr auf Reaction – Sanguinisch und melancholisch auf Handeln mehr auf Hemmung Gegensaz Große und Kleine Einheit in Gefühl und Handeln[.] Ex t r e m S a n g u i n i s c h schwindelnde Zerstreuung[.] Mela nchol i s c h Heftig verwirrte Ueberzeugungen nach verzehrendem Brüten[.] 1 (Maximum … Passivität.)] als zweite Ergänzung unter dem Text desselben Zettels mit Einfügungszeichen 5–10 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 119–123 (unten S. 568–570) 11–17 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 123–125 (unten S. 570–572) 18–3 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 134–137 (unten S. 578–579)

30

122

Die Vorlesung im Sommersemester 1821

Ch o l e r i s c h Ungerechtigkeit[.] P h l e g ma tisch Faulheit – Verbindungen sanguinisch mit phlegmatisch und cholerisch mit melancholisch [ 28

P s y c h o l o g i e 56. C ar u s Temperamente. Sinn ohne Trieb. Auffassung und Rükwirkung. Stärke und Schwäche getrennt und verbunden. Warum sich leztes nicht denken läßt. Ueberschuß an Rükwirkung ist Trieb – Dignität[.] Bei ihm ganz geschieden und Mischung unmöglich[,] cholerisches Extrem das vortrefflichste Steffens Sanguinisch : Melancholisch = animalisch vegetabilisch[.] Cholerisch : phlegmatisch = Combination zu Indifferenz. Genuß, Sehnsucht – Thätig leidend[.] Luft Erde Feuer Wasser. Thier Pflanze Insect Graphyte. Lustspiel Trauerspiel[.] Kampf Ruhe [

29

]

]

Dem Charakter entspricht Gemüth als Princip der Hingebung QvomR Gemüth[.] Gemeinschaftstiftender Charakter = Persönlichkeit sezen[.] Gleichgewicht selten [ 7 Bei] korr. aus S

10

]

Psychologie 57. Die Frage über die Beweglichkeit inerhalb bleibt zurük – Ueber die Veränderlichkeit durch Natur. Skala durch die Alten cholerisch den meisten Raum Ch a r ak t e r. Verschiedener Gebrauch des Wortes als bona und media. Verschiedenes Verhältniß zu Temperamenten. Constanz in gegenseitiger Begrenzung[,] hervortreten SelbstBestimmung mit veränderlichen Impulsen. St ar k und s c h w ac h ; gut und schlecht. Jenes gegen die Nachahmung und Anstekung. – Kant Zurükführung auf Maximen ist falsch. Maximen könen charakterlos sein und umgekehrt. [

5

]

10 Cholerisch] cholerisch

4–12 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 137–139 (unten S. 579–581) 4–12 Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 92–121 9–12 Vgl. Steffens (1816) 13–24 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 139–143 (unten S. 581–583) 20–21 Anspielung auf Kant (1798), S. 266; Ak 7,292

15

20

55. bis 58. und 61. bis 62. Stunde

5

10

P s y c h o l o g i e 58. Differenz der Geschlechter. A ufnehme nd[.] Die speculative Seite zurük, menschliche und empirische vor[,] aber nur vom Einzelnen. Falsche Begriffs Subsumtion[.] Alles vom Gefühl aus zu betrachten – In der Kunstproduction überall Erfindung gering. Nachahmung und Anspielung auf wirkliches – Kunstsinn in der Lebensverschönerung wo alles auf Uebereinstimung mit ihrem Gefühl gerichtet ist. – Menschenkentniß auch durchs Gefühl (NB[.] über ihre Kenntniß der Männer) Patriotismus auch nur so[.] Ueber ihre Regierungsfähigkeit Gegensaz im Temperament active = männlich[,] receptive = weiblich. Umkehrung unangenehm. Aber zu leiden in männlichen Geschäften [

15

20

32

]

P s y c h o l o g i e 62. Recapitulation der Richtungen und Stufen[.] Ueber die Veränderlichkeit weder durch religiöse noch durch moralische[.] Das Angeborne das Dominirende[.] Nur durch Vermehrung der Gemeinschaft. Zwei Fragen[.] 1.) Entstehung – im Einzelnen Zufall wegen Rükgang auf Erzeugung [

31

]

Psychologie 61. Vereinzelung beider. Trennung der Kunst vom Wissenschafts Gebiete[.] Beides zusamen nicht – brutaler Heroimus und feigherziger Genialismus (Supplement ist harmonische Ausbildung[.] Antheil der Frauen.) Annäherung an Genie = Originalität[.] Annäherung an Heroismus = Autorität[.] Die leichter Gesez annehmen, die blinde Nachahmung des Einzelnen. Die stupide Unbildsamkeit[.] NB[.] Hier ist das moralische und religiöse schon mitgerechnet – Nur tieferes Eintauchen in folgende Generation kann helfen. [

25

123

]

23 Recapitulation ... Stufen[.]] als fünfte Zeile des Zettels mit Einfügungszeichen 1–12 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 143–146 (unten S. 583–586) 13–22 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 152–154 (unten S. 589–591) 23–28 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 154–157 (unten S. 591–593)

33

124 34

Die Vorlesung im Sommersemester 1821

P s y c h o l o g i e 63. Die Frage ob Geniales und Heroisches könne verloren gehn unentschieden gelassen

Zum andern Extrem – St u m p f sinnigkeit nur durch erhöhte Gemeinschaft als Form. Das Heroische muß eintreten, gegen den Widerstand nur mittelbar wirken [Gemeingeist als allgemeine Ergänzung und Befruchtung.]

5

Verweisung auf die Schlußbetrachtung

Uebergang nach Lebensverlauf und krankhafte Anlagen. 1.) Kindheit: Leib und Seele zugleich. Selbstthätigkeit und Bestimtwerden zugleich[.] Aufzulösen als That der Gattung [

10

]

Natur Nothwendigkeit und Freiheit in der Erzeugung. – Begrenzung des Anerbens. Specielle Talente und Neigungen aber nicht Charakter und Dignität [ 35

]

Psychologie 64. K i n d h e i t . Seelenthätigkeit angeknüpft an Fötus. – Bildende Thätigkeit nach innen; auffassende nach außen mit Uebergewicht der bildlichen Seite – [chaotisch in der Succession] Ueber Tabula rasa und angeborne Ideen – Unstetigkeit – Begriffe – passiv und [..] Schlaf an den Zustand im foetus anschließend, vegetatives Versenktsein. 3 Zum] zum 5–6 [Gemeingeist ... Befruchtung.]] eckige Klammern im Manuskript, als 13. und 14. Zeile desselben Zettels mit Einfügungszeichen 16 [chaotisch... Succession]] eckige Klammern im Manuskript 17 [..]] eckige Klammern mit zwei Punkten im Manuskript, vermutlich Einfügungsmarkierung für [chaotisch in der Succession] (Zeile 16) 1–13 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 157–160 (unten S. 593–594) Nachschrift Eyssenhardt, S. 160–163 (unten S. 595–596)

14–5 Vgl.

15

63. bis 65. und 67. Stunde

5

Continuität des Lebens noch nicht fest. Daher in Gegensaz von Lust, Schmerz nicht gespannt. Leichte Uebergänge. Sanguinischer Charakter. Liebe. Analogie mit animalischer[.] Zurüktreten derselben wen das SelbstBewußtsein sich befestigt [

10

15

125

]

P s y c h o l o g i e 65. Entwiklung der wahren Pietät und des religiösen Sinnes gleich. Muß vorhergehn. Blüthe der Kindheit vor dem Verlöschen der animalischen Pietät – Gehorsam ist Band von dieser zu jener; gleicht der intellectuellen Atmosphäre. Ende der Kindheit. Pubertät. Hineinspielen der folgenden Periode [Widernatürlich der Geschlechtsreiz – hervorgehend aus den Krankheiten. Gefräßigkeit. Altklugheit. Beides auch physiologische Seite – Beide aufgehobenes Verhältniß.] Ueber die Prognose aus der Kindheit, täuschend auf 2fache Art. Grund in den später entwikelnden Functionen [

36

]

Ju g e n d beginnt mit völliger Selbstständigkeit – Uebergang aus Wachsthum in Stärke und Schönheit. [

20

25

]

P s y c h o l o g i e 67. [Aus Versuch und Unfixirtsein auch Reiselust. Bei den Weibern in Romanen[.] Wenige wo Bürgerlichkeit stärker] K r a n k h e i t e n Wollust = Versenken in lezte organische Function[.] Zerstreuung. Aus Uebermaaß an umherschweifenden Versuchen [...] Nicht das Ende beschleunigen M ä n n l i c h e s Alter Anfang mit Ehe und Beruf. Ende ist Verschwinden der Zeugungskraft – Zeit des Charakters (der sich wegen Unbestimtheiten der Verhältnisse noch nicht entwickeln konnte) und 6–9 Entwiklung … Atmosphäre.] als Zeilen 11 bis 16 desselben Zettels mit Einfügungszeichen 11–13 [Widernatürlich... Verhältniß.]] eckige Klammern im Manuskript 18–19 [Aus ... stärker]] eckige Klammern im Manuskript 21 [...]] eckige Klammern mit drei Punkten im Manuskript, vermutlich Einfügungsmarkierung für [Aus … stärker] (Zeile 18–19) 6–17 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 163–165 (unten S. 596–598) Nachschrift Eyssenhardt, S. 168–170 (unten S. 599–601)

18–8 Vgl.

37

126

Die Vorlesung im Sommersemester 1821

der Productivität. Virtuosität auf beiden Gebieten[.] Ende mit Verschwinden der Generation. Daher Gefühl der Nothwendigkeit sich zu schonen (Trunk und Gourmandis) [Zeit der Krankheiten[:] organische sthenische und asthenische psychische eben so Ehrgeiz, Kriecherei. Auflösen des festen Verhältnisses zwischen persönlichem und Gemeinbewußtsein. Dies dominirt] Allgemeine Färbung des Temperaments ist cholerisch. – Aber stärkste Ausbildung des persönlichen. [ 38

39

]

Psychologie 68. R e i f e s A l t e r. Fortsezung[.] Neben das geistige auch das leibliche der abnehmenden Beweglichkeit – [Bei Mangel an Gesinnung[,] vor Ende eine Rükkehr zum Egoismus] Im bürgerlichen und häuslichen abnehmende Kraft der Wahlverwandschaft. Freundschaft mehr wissenschaftlich und politisch als persönlich Damit verbunden die Krankheiten geistig leiblich stehnisch und astehnisch. 1. Der Umfang verschieden nach Maaß des Auseinanderseins von Einzelnen und Masse [

5

10

15

]

P s y c h o l o g i e 69. M än n l i c h e s A l t e r. Gegensaz der Geschlechter. Erinerung an harmonische Ausbildung. 2.) Verhältniß von Charakter und Gemüth – Productivität an Zeugung angeschlossen. Statt Herrschsucht Launen. Wa h n s i n n . Rein körperlich nur der organische. – Uebermaaß der Temperamente mit gebrochenem Willen. Blödsinn Wahnsinn Tiefsinn Wuth. Ueber die Herleitung aus Liebe und Ehrgeiz im Zusamenhang mit Fixen der Uebergänge Aehnlichkeit mit thierischem. Daher Einige dem thierischen ähnliche Behandlung. Doch nur um Wille zu wecken

4–6 [Zeit ... dominirt]] eckige Klammern im Manuskript Egoismus]] eckige Klammern im Manuskript

10–11 [Bei Mangel ...

9–18 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 170–172 (unten S. 601–602) Nachschrift Eyssenhardt, S. 172–175 (unten S. 602–604)

19–3 Vgl.

20

25

67. bis 70. und 72. bis 73. Stunde

127

Gemeinsame Schuld nur durch gemeinsame Kraft zu tilgen[.] Anknüpfung an die unwillkührlichen Combinationen und die pathematischen Zustände [

5

P s y c h o l o g i e 70. Ueber fixe Ideen, zwiefache Art – über helle Zwischenräume. – Gemeinschuld. – Hülfe aus dem Gesammtleben. – Verschieden nach den Formen. Am unheilbarsten Blödsinn, aber auch unschädlicher[.] Am leichtesten zu assimiliren. – Körperliche Behandlung nur um gegen den Temperaments Exceß zu wirken[.] Verschwindet oft von selbst im hohen Alter und Tod [

10

15

20

40

]

P s y c h o l o g i e 72. To d . Eben so unerforschlich als Anfang. Unsicherheit der Zeichen; Unbestimmbarkeit des Momentes. – Fortdauer der Vorstellungen im Scheintod Dialektische Behandlung – To d al s Na t urtha t[.] Einwirkung welche das Ende der Reaction herbeiführt nicht zu begreifen Als T h a t d e r Se e l e aus der Sehnsucht nicht zu begreifen bei der wenigen Gewalt über Respiration und Umlauf. T ha t des Leibes auch nicht weil Aufhören aller That. NB. Bei Gelegenheit die That der Seele[.] Vom Se l b s t m o r d . Dessen Verhältniß zum Wahnsinn. Alternativen Analogie des Todes mit Sc h l af . Ab und Zunehmen des Schlafes. Tod als Rükkehr in die Indifferenz Schlaf ist nur relative Ruhe der psychischen Thätigkeit wegen Traum. [

25

]

]

73 [.] Seelenthätigkeit im Traum a. Analogie mit QdemR chaotischen Zustand und Wahnsinn b. Verstärkung einzelner Functionen – Ob der Traum ein continuum ist, oder nur im Uebergang des Einschlafen und Erwachenwollen. Aus dem Nichtwissen um den Traum folgt nicht der Stillstand. 18 Vom] vom 4–9 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 175–177 (unten S. 604–605) 10–23 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 180–183 (unten S. 607–609) 24–4 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 183–185 (unten S. 609–611)

41

128

Die Vorlesung im Sommersemester 1821

Erhöhte Functionen sind Krankheit des Traumes. (Nachtwandler auch geistige) Nur mit Ausnahme des Ahnungsvermögens. Dessen Erhöhung ist hervortreten des allgemeinen Lebens bei zurüktretender Persönlichkeit. [ 42

]

Psychologie 74. Fortsezung vom magnetischen Schlaf. Ahnungsvermögen sollte eigentlich allgemein sein aber nur vom Allgemeinen aus. Daher zurükgedrängt – Extasen eben das Ueber den R ap p o r t . Sehen und Hören, auch nur innere Apperception. Ueber die magnetische Unfehlbarkeit. Anwendung auf Tod, als Rükgang in das allgemeine Leben [

5

10

]

Psychologie 75. 1.) Verwandlung des unbestimten Verhältnisses in bestimmte Vielheit. Rasse und Völker, allmählige Verwandlung scheint dagegen doch nur Wiedererscheinen des Typus unter geistigen Umständen [

]

2.) Verhältnisse zum Erdenleben. Auch nicht unabhängig. Höhere Wurzel des Geistes [

]

5 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 185–187 (unten S. 611–612) 5–10 Der magnetische Schlaf gleicht einem Hypnose- oder Trancezustand, der durch das Handauflegen eines Magnetiseurs erzeugt wird. Kenntnisse über die Methode des magnetischen Schlafes bezog Schleiermacher aus Wolfart, Karl Christian: Der Magnetismus gegen die Stieglitz-Hufelandische Schrift über den thierischen Magnetismus in seinem wahren Werth, Berlin 1816 [SB 2160], sowie aus Brandis „Ueber psychische Heilmittel und Magnetismus“ (1818) [SB 337]. 11–16 Vgl. Nachschrift Eyssenhardt, S. 187–190 (unten S. 612–614)

15

Die Vorlesung im Sommersemester 1830

Anfänge der Vorlesungen im Sommer 1830 sowie im Winter 1833/34. Manuskript Schleiermachers, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 7, Bl. 1r

Psychologie Sommer 1830 Angefangen den 26ten April

Einleitung 5

10

15

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25

30

Er s t e S t u n d e[.] Zwei Präliminarfragen[.] Ueber Gegenstand und über Art und Weise der Erkentniß. Schon schlimm daß man sie trennen muß ohne zu wissen wiefern jede durch die andre bedingt ist. Die Frage über den Gegenstand wird erleichtert wenn er sich äußerlich aufzeigen läßt. Dann giebt es gleichwerthige Vorstellungen die keiner Erklärung bedürfen. Die Seele aber läßt sich nicht aufzeigen. Dagegen haben wir ein innerliches auch allen gleichwerthiges, nämlich Ich. (NB[.] der Ausdrukk d a s Ich involvirt schon nähere Bestimmungen über die man vielleicht nicht einig sein könnte) Wo das ist da sezen wir auch Seele. Aber wir können nicht behaupten daß nicht Seele weiter gehe als Ich[.] Wie verhält sich also Seele zu Ich? Dies führt uns auf Mensch. Aber dann müßte zuvörderst bestimmt sein ob wir nur von menschlicher Seite reden wollen. Nehmen wir nun an daß Seele weiter geht als Mensch und fragen nach einer allgemeinen Erklärung: so ist eine solche allemal ein Zusammenfassen mit andern und entgegen sezen in verschiedner Abstufung. Man kann damit anfangen so zusamenzufassen daß nur nichts entgegengesezt wird, desto mehr Stufen giebt es[.] Man kann aber auch zu weit gehn im Trennen wenn man z. B. die Seele so bestimmen wollte daß die wahnsinnige Seele ausgeschlossen würde. Bleiben wir nun vorläufig bei dem menschlichen stehn oder gehn davon aus so können wir nicht Ich als Mensch und Seele denken ohne auch Leib zu denken. Was kommt nun im Menschen dem Leibe zu entweder ausschließend oder überwiegend und was eben so der Seele. Daß die Bestimung nicht gleichmäßig gemacht wird geht schon daraus hervor daß die Griechen die θρεπτικη δυναμις mit zur Seele rechnen. Die Griechen müssen also auch den Pflanzen Leib und Seele zuschreiben. Wir thun es nicht. Wir finden das Verhältniß ausgedrükt durch den Saz der Mensch bestehe aus Leib und Seele. Es fragt sich ob dieser Saz aus dem gemei3–4 Angefangen … Einleitung] am Rand

1r

132

1v

Die Vorlesung im Sommersemester 1830

nen Leben ist oder aus der wissenschaftlichen Untersuchung. Im lezten Falle würden wir uns an etwas binden was offenbar weder allgemein noch ursprünglich ist[.] | Anaxagoras hat (nach Aristoteles de anima I,2) an vielen Stellen gesagt, νους sei το αἴτιον του καλως τε και ορθως, dann aber doch wieder daß er in allen Thieren wäre. – „Alle bestimmten die Seele durch dreierlei durch Bewegung Wahrnehmung und das unkörperliche“. Lezteres offenbar weil nichts wahrnehmbares verloren geht wenn der Tod eintritt. Zw e i t e St u n d e . Bei unserm Gegenstand ist höchst schwierig zu unterscheiden ob ein Saz in der Speculation oder im Leben seinen Ursprung habe. Von denen wenigstens die an der Spize wissenschaftlicher Untersuchungen stehen ist fast zu präsumiren (vermöge der obigen Behauptung) daß sie aus dem Leben her sind. Hier ist nun vermöge des allgemeinen Interesse auch die größte Mannigfaltigkeit zu erwarten und in den Schulen wieder der verschiedenste Gebrauch der so entstandenen Formeln; also alles voll Verwirrung und Vieldeutigkeit[.] Kommen wir nun auf die Formel der Mensch besteht aus Leib und Seele zurück: so führt das „besteht aus“ auf Zusammensezung und man denkt sich daß abgesehen von dieser beide Glieder auch für sich zu denken und zu sezen sind. Allein wir können unter keiner Gestalt weder bildlich noch formularisch Seele fassen ohne Leib. Leib nun nennen wir gar nicht mehr so wenn getrennt von der Seele. Das besteht aus muß also hier anders gefaßt werden; und wir sind vorläufig angewiesen v o n Se e l e n u r au s zusa g en w a s in der Ung et r e n n t h e i t vo m L e i b e ( al s I c h ) z u sa g en ist . Von jener Voraussezung aus sind Fragen entstanden Wo und wie die Seele sei nach dem Tode item Wann und wie sie zu dem Leibe gekommen und vielerlei Antworten auf diese Fragen die wir aber alle nur als Fantasien d. h. als willkührliche Annahmen ansehn können[.] Indem wir aber auf das Ich zurükgehn welches die Identität von Seele und Leib ist (weil man eben so gut sagt meine Seele als mein Leib) so sezen wir zugleich daß wir n i c ht w eit er a ls menschliche S e e l e g e h n w o l l e n , weil wir nicht weiter vom Ich wissen. Auch dies indeß wird nicht in aller Strenge zu halten sein. Die Ausdrücke menschliche Seele, vernünftige Seele (denn wir nennen auch die thörichte und wahnsinige Seele vernünftig) deuten auf die Annahme au22 noch] korr. aus )So* 3–7 Zu Anaxagores vgl. Aristoteles: De anima 404b; Opera 1,381; ed. W. D. Ross 6– 8. Zur Bestimmung der Seele durch Bewegung, Wahrnehmung und Unkörperlichkeit ebd. 405b; Opera 1,382; ed. W. D. Ross 9–10

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Einleitung, 1. bis 3. Stunde

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ßer menschlicher unvernünftiger Seelen d. h. der thierischen. Wir werden uns schwerlich ganz enthalten können diese mit [her]anzuziehen aber nur als hypothetische Vergleichungspunkte keinesweges um etwas über sie selbst festzustellen[.] D r i t t e S t u n d e [.] Die erste vorläufige Maxime hat keinesweges die Tendenz den Gegensaz aufzuheben, sondern nur innerhalb desselben stehn zu bleiben. Aufgehoben kann er nur werden durch metaphysische Annahmen. Dies ge|schieht auf zwiefache entgegengesezte Arten im Materialismus der alles für Zustände der Materie und dem Spiritualismus (Monadologie) der alles für Zustände des Geistes erklärt. Um zwischen beiden zu wählen oder eine zwischen beiden liegende dritte Annahme aufzustellen müßten wir entweder anderweitig über Vieles entschieden haben was eine Verständigung voraus sezte oder wir sezen Resultate aus der Untersuchung voraus die wir erst anstellen wollen. Geht man aber über die Identität beider in Ich so hinaus, daß man Seele und Leib als Duplicität einander gegenüberstellt: so wird dann auch das Spalten immer weiter fortgesezt[.] Entweder der Mensch besteht aus Leib Seele und Geist, oder die Seele besteht aus Sinnlichkeit und Vernunft. Dies geht auf viele Fäden zurük die wir schon angeknüpft haben[.] Es ist theils Sonderung des zwischen Leib und Seele streitigen Gebietes = Seele im engeren Sinn und des entschieden seelischen = Geist theils Subsumtion des Gegensazes zwischen menschlich und thierisch unter ein gemeinschaftliches[,] Sinnlichkeit = das gemeinschaftliche Vernünftige das eigenthümliche wozu sich kein Analogon bei den Thieren findet. Noch schwieriger sich darin zu orientieren ist das Spalten in die verschiedenen Vermögen welches man nicht nur im ganzen Leben sondern auch in wissenschaftlichen Untersuchungen findet. Das Ich ist dann gar nicht mehr das ursprüngliche vorangehende, sondern das immer nur werdende Resultat aus dem Conflict dieses mannigfaltigen. Dieser Conflict involvirt einen Gegensaz von stark und schwach woraus eine Tendenz zu mathematischer Behandlung des Gegenstandes entstehn muß, für die es aber an dem Maaß fehlt und auch an der ursprünglichen Gleichung weil man sonst müßte entschieden haben ob diese Differenzen in Jedem einzelnen constant sind oder ob sie erst von außen entstehen. Daher müssen wir nun bei unsern beiden Maximen stehn bleiben[.] 2 anzuziehen] ziehen korr. aus nehmen

22 Sinn und] und über )theils*

10 Leibniz: Opera 2,20–31; Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, ed. C. J. Gerhardt, Bd. 1–7, Berlin 1875–1890, hier Bd. 3, Berlin 1887 (Neudruck) Hildesheim 1978, S. 618–621

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Es ist aber die Frage ob wir nicht durch unsre Maximen schon unserer andern Präliminarfrage etwas vorweggenommen haben, nämlich von welcher Art die Erkentniß sei welche wir suchen. Die Frage kann überhaupt nicht so verstanden werden, als ob es dem Inhalt nach zweierlei Erkentniß von demselben Gegenstand geben könne (Ausführung hievon) aber eine Verschiedenheit in der Art zur Erkentniß zu gelangen sezt die Frage allerdings voraus. Diese Frage scheint unsre Untersuchung aber schon als beendet vorauszusezen da das Erkennen etwas in der Seele ist. Allein wir abstrahiren jezt von dem einzelnen Hergang im Leben, indem wir uns das Erkennen objectiviren und können also Beschaffenheiten | desselben voraussezen ohne Seelenlehre. Vi e r t e St u n d e [.] Anerkannt ist immer noch, wenn auch nicht so hoch gestellt, ein Unterschied zwischen a priori und a posteriori, empirisch und speculativ. Die Meinung war nun nicht daß durch unsre Maxime das empirische ausgeschlossen sei weil die Seele nicht äußerlich gegeben sei; sondern im Gegentheil daß es schiene als seien wir an das empirische allein gewiesen weil das Ich ein uns immer schon gegebenes ist. Man muß aber genauer betrachtet sagen, daß, insofern gegeben, wir einen Unterschied zwischen äußerlich und innerlich gegeben hier nicht anerkennen. Denn wir wollen ein Wissen immer als ein gemeinschaftliches also sezen wir auch das Ich der Andern dem unsern völlig gleich und dieses ist uns so wie das unsrige ihnen äußerlich gegeben. Aber auch unseres ist uns äußerlich auf objective Weise in so fern gegeben als wir den ersten Moment nicht reconstruiren sondern nur aus Erzählung haben können und als wir das Ich abgesehn von allen Modificationen immer nur in der Reflexion haben. Die Beschränkung auf das empirische tritt aber dennoch nicht ein, weil das Ichsezen doch eine Thätigkeit ist und zwar die allem Wissen ohne Unterschied zum Grunde liegende weil alles nur am und im Ich ist. Es ist also gleichsam die Indifferenz zwischen beiden weil alles beides sich daraus entwikkelt. Hieraus nun scheint zu folgen es müsse nothwendig zweierlei Seelenlehren geben wenn jener Unterschied überhaupt begründet ist weil wir uns von diesem Indifferenzpunkt gleich leicht nach beiden Seiten bewegen können. Wir nehmen dies an und versuchen es zuerst mit dem empirischen. Um aber durch Beobachtung Säze zu gewinnen müssen wir Momente sondern[,] wie entsteht aber das discrete in dem Continuum der Zeit. (Die Frage ist weit allgemeiner auch für den Raum aber sie gehört auch hieher.) Demnächst aber bedarf es der Bezeichnung durch die Sprache, und wie entsteht die Sicherheit daß dasselbe gedacht wird. 8 unsre] darüber )auf*

40 durch] d korr. aus QhR oder QfR

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Dies ist die skeptische Ansicht der Sache. Zunächst zu fragen wie es mit dem a priori steht. F ü n f t e S t u n d e [.] Um aus dem Ich ein Mannigfaltiges der Erkenntniß zu entwikkeln ohne einen anderen Anfangspunkt zu haben müssen wir in demselben ein manigfaltiges finden ohnerachtet wir von der Mannigfaltigkeit eines gegebenen Inhaltes abstrahirt haben[.] Könnten wir so theilen A ist theils B theils C oder sowol B als C so ließe sich hieraus ein complexus von Säzen entwickeln und desto größer wenn die erste Theilung wieder eine andre erzeugte. Dieser Proceß ist was man gewöhnlich Analyse nennt; allein der Name sezt voraus daß das gegebene als ein manigfaltiges und verbundenes ist gegeben gewesen welches sich nun als ein mannigfaltiges darstellt. Auf jeden Fall ist das Verfahren weiter nichts als Entwiklung. Ein solches komt uns allerdings entgegen wenn wir sagen das Ichsezen ist zwar einfach an sich aber es ist nicht ohne ein Du; oder von der Formel Selbstbewußtsein aus, Bewußtsein ist nicht SelbstBewußtsein ohne Bewußtsein eines Andern. Dann gäbe es immer mit dem Ichsezen ein Dusagen, und wir könnten sehen was sich hieraus weiter entwikkelt. Zuvor aber müssen wir | bedenken, daß wir nicht dabei stehn bleiben dürfen dies in der Sprache zu finden. Denn wäre es nur in unserer und nicht in andern so wäre es auch nur ein besonderes und keine Sicherheit ob durch das andere erzeugt oder durch das andere aufgehoben d. h. keine Sicherheit ob Erkentniß oder Irrthum. Gesezt aber auch wir hätten dies mit der Ueberzeugung daß es sich in aller noch unbekannten Erfahrung eben so finden werde, wir hätten es also vor der Erfahrung und diese Ueberzeugung wäre nicht nur ein Schluß von Vielen auf Alle sondern wir wüßten auch daß wir mit einem minimum von Erfahrung dasselbe gesagt hätten: so kommt dann hinzu daß wir nicht wissen ob sich nicht noch andere eben solche Anfangspuncte finden, die uns nur jezt nicht einfallen[.] Giebt es nun solche: so wäre unser Wissen auch nicht eher wirklich ein solches als bis es sich mit jenem durchdrungen hätte. Hieraus nun geht hervor daß wir auf dieser Seite eben so auf einen Skepticismus kommen wie dort. Das empirische giebt den materiellen Skepticismus, ob das auch ist, was wir als seiend sezen, das apriori giebt den formellen, ob das auch wahr ist was wir wissen. Die Frage aber ob es noch andere Anfangspunkte giebt würden wir doch verneinen müssen wenn wir in dem Suchen des a priori für unsren Gegenstand immer blieben und uns nun die Gesammtheit der Erfahrung gegeben wäre; denn alsdann müßten auch diese Anfänge darin vorgekommen sein und wir könnten sie nicht verfehlt [haben]. 31 auch] auch )k*

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Dies heißt, das a priori wird erst eigentlich Wissen mit der Vollendung der Erfahrung und die Erfahrung wird nur ein festes vom Anfang des a priori an. (Lezteres ist nicht vorgekomen es folgt aber sehr leicht aus der Behandlung des empirischen in voriger Stunde.) Das heißt also daß alle Annäherung zum Wissen nur wird in der Durchdringung des a priori und des a posteriori[.] Sonach werden wir doch wieder auf das in der Beobachtung gegebene zurükgeführt als auf das mit dem apriorischen zu durchdringende um so die Quellen des Skepticismus auszutroknen[.] Dies führt uns nun wieder auf die Bestimung unseres Subjectes zurück wie es sich zu dem Ich und dem in ihm ermittelten Gegensaz verhält. Also auch auf die schon bemerkte Ungleichheit in der Trenung. Hiebei kommt nichts darauf an daß man nicht mehr so trennt: sondern nur auf die verschiedenen möglichen Principien der Trenung zwischen welchen wir doch entscheiden müssen. Es fragt sich ob nicht wenn wir vom Seelenleben Ernährung ausschließen wir nicht auch noch vieles andre ausschließen müßten und auf der andren Seite wenn die Griechen Ernährung hineinsezen sie nicht auch noch vieles andre hineinsezen müßten[.] S e c h s t e St u n d e [.] In dieser Unsicherheit verwickelt kommen wir natürlich auf die Frage, warum überhaupt eine solche Theilung gemacht werden soll und man nicht lieber bei dem Menschen als Einheit von Leib und Seele stehn bleibt d. h. warum man nicht Anthropologie ganz und ungespalten vorträgt? Man könnte sagen bloß weil dies zu viel wäre; aber das führt doch immer darauf zurük, | daß wir vieles mitnehmen müßten woran wir kein Interesse haben. Denken wir uns die Theilung sei gemacht so hätten wir dann statt der Anthropologie die Physiologie d. h. die Kenntnisse der Thätigkeiten des Leibes in der Identität mit der Seele und die Psychologie als Kenntniß der Seele in ihrer Identität mit dem Leibe. Die menschliche Physiologie ist ein Theil der allgemeinen, das dritte zu Pflanzen Physiologie und thierischer, beide wieder in manigfaltigen Abstufungen. Und diese zusamen bilden die Kenntniß von dem irdischen Organismus. Fragt sich nun ob die menschliche Seelenlehre eben so ein Theil eines Ganzen ist und welches. Die Pflanzen fallen hier schon weg weil wir ihnen keine Seele geben die animalische würde doch fast ganz wieder auf den Organismus und die Verhältnisse der verschiednen organischen Functionen zurükgehn. Man müßte also an dem andren Ende ansezen können 2 vom] über )wenn* Einfügungszeichen

29 die] folgt )Kenntniß der*

37 der] über der Zeile ohne

18 Vgl. Aristoteles: De anima 414b; Opera 1,389; ed. W. D. Ross 31–32

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aber was wir über den Menschen als Seele denken ist alles problematisch. Dann aber müßten Seelenthätigkeiten sein welche ohne deren Identität mit diesem Leibe gedacht werden können und an denen müßte das Interesse des Isolirens liegen[.] Dies führt auf zwei Ausdrüke, auf Geist neben Seele und auf Thätigkeiten welche die Seele ohne den Leib durch sich selbst verrichtet. Das Interesse an diesen allein kann Ursache des Isolirens sein, weil wir hiezu die Kenntniß des Leibes nicht brauchen. Dahin gehören nun die Ideen und das sittliche denn die Handlungen werden zwar durch den Leib verrichtet und die Gegenstände durch den Leib wahrgenommen aber der Willensact, der Entschluß nicht und der Begriff auch nicht. S i e b e n t e S t u n d e [.] Die Voraussezung aus welcher die Physiologie entsteht sezt zugleich dem organischen das anorganische oder positiv ausgedrückt das machende und Massendasein entgegen. Jenes ist Sezen eines individuellen und Aufhebung des universellen sowol chemischen als mechanischen Prozesses, und dieses umgekehrt Gewalt des lezten und Aufhebung des ersten so daß auch in dem anorganischen Gebiet jedes nur auf zufällige und unbestimmte Weise ein Ganzes ist sondern immer wieder vieles werden kann. Beides wird aber wieder gleich gesezt und zusammengefaßt als das materielle Sein und an dieser Zusamenfassung hängt der Begriff der Materie oder des Stoffs. Die Wahrheit der Vorstellung ist hier nicht auseinanderzusezen. Materie schlechthin ist uns nicht gegeben sondern immer nur modificirte Materie; aber in ihrer Modification ist uns auch jede eine gewordene. Wenn wir nun hier die psychologischen Elemente übersehen so liegt darin schon die Voraussezung daß sie mit der Materie nicht zusammenhängen[.] Ac h t e S t u n d e [.] Auf der geistigen Seite haben wir zwar keine Reihe, aber die allgemeine Erfahrung daß Geistige Thätigkeiten auch außer der menschlichen Seele gedacht werden, und von dieser aus die Auffoderung hier auch ein gemeinsames zu sezen, der Materie gegen über welches wir durch den Ausdruck Geist bezeichnen. Dies nun ist das positive zu der Vorstellung von der Immaterialität der Seele. Von diesem Gedanken | Geist aus ist nun die Seele nur Erscheinung des Geists, Art und Weise desselben zu sein in der Verbindung mit dieser Organisation. Das Interesse an den Ideen läßt uns nun in dem Geist das eigentliche Wesen sehn. Von hieraus entsteht dann leicht der Spiritualismus theils unter der Form alles sei Geist wenn auch nur schlafender theils unter der das Nichtgeistige sei auch eigentlich nicht. Diesen nun brauchen wir nicht zu prüfen weil wir hier auf das Nichtgeistige 4 das] korr. aus der 18 unbestimmte] korr. aus Unbestimmte eines e 39 Diesen] korr. aus QwirR, davor )Indem*

18 Weise] Weise

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nicht komen. Aber geschichtlich ist zu merken daß wo es an dem ethischen und speculativen Interesse fehlt der Materialismus entsteht, der Spiritualismus aber überall dies Interesse begünstigt. Indem wir nun den Geist als das eigentliche Ich sezen so sezen wir ihn auch als das die Organisation bewegende. Nur scheint QesR freilich als ob wir innerhalb dieser ihm auch nichts entziehn könnten und als ob wenn der die Organisation bewegende Geist Seele ist die Seelenlehre auch alle organischen Facta aufnehme und also doch wieder die ganze Anthropologie hineinziehe[.] N e u n t e St u n d e [.] Müßte es nun hiebei sein Bewenden haben so hätten wir zwar den Grund der vorhabenden Trenung besser eingesehen aber die Theilung selbst nicht in Bezug auf den Inhalt sondern nur auf die Behandlung vollzogen. Um nun zu versuchen ob wir nicht auf etwas bestimmtes komen können müssen wir auf ältere Bestimmungen zurükgehn. A r i s t o t e l e s sagt Alle bestimmten die Seele durch Bewegung Bewußtsein und ασωματον womit er nur meinen kann daß sie nicht organisch zusamengesezt sei. Denn er zählt doch die mit auch die sie für Luft oder Feuer halten. Alles was Bewußtsein allein ist, gehört gewiß der Seele so auch Bewußtsein und Bewegung als eins, sofern die Bewegung vom Bewußtsein ausgeht wogegen der eigentliche Verlauf der Bewegung in sich rein physiologisch zu betrachten ist, weil nämlich dieser innere Verlauf ohne Bewußtsein ist. Hängt das Bewußtsein von der Bewegung ab oder ist die Bewegung ganz bewußtlos so würde sie der Physiologie anheimfallen. Allein auch die Organe deren Bewegungen die Empfindung und die Wahrnehmung hervorbringen stehn unter einem Einfluß des Geistes denn wenn dieser eine andere Richtung hat so komen jene nicht ins Bewußtsein und außerdem bemerken wir einen großen Unterschied in den Thätigkeiten selbst wenn das Wahrnehmen von einem bestimten Willen geleitet und begleitet wird also ist auch hier eine psychologische Seite. Dasselbe gilt auch von den rein animalischen. Denn auch auf diese üben die geistigen Zustände einen Einfluß aus | der eben deshalb weil die Bewegung an und für sich bewußtlos ist physiologisch als krankhaft aufgefaßt wird. Ze h n te St u n d e [.] Es gehn uns hieraus Grenzen hervor für unsere Untersuchung. Voraussezen wir auf der physiologischen Seite den Organismus ganz so wie er im Gegensaz gegen den individuellen Prozeß besteht, auf der andern Seite den Geist an und für sich und sein 5 QesR] unkenntlich wegen Tintenfleck tersuchung] folgt )über QVoR*

18 auch] auf

20 der] über )die*

15–16 Aristoteles: De anima 405b; Opera 1,382; ed. W. D. Ross 9–10

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Verhalten zur Materie. Wir gehn nicht bis zu den Resultaten welche sich auf den Gegensaz zwischen organischem und mechanischem beziehen, auch nicht auf der anderen Seite zu denen welche von der Form des einzelnen Lebens abstrahirend den Geist in der Totalität seiner Wirksamkeit darstellen d. h. die ethischen, sondern in diesen Grenzen bleibt unsere Untersuchung stehn. Wir haben nun eben so weit die Folgen zu entwickeln aus der Einheit von Leib und Seele im Begriff des Lebens. Das Leben ist physiologisch das Fortbestehn des Gegensazes gegen den universellen Prozeß. Als solches bildet es eine Kurve steigend und fallend. Die organischen Kräfte entwickeln sich zu einem Maximum des Widerstandes und sinken dann wieder. Tod ist Untergang des individuellen Prozesses im universellen. Auf der Seite der Erscheinung des Geistes im Bewußtsein ist es eben so. Die Continuität des Ich sezens beginnt erst später die Vollständigkeit des SelbstBewußtseins in Verbindung mit dem objectiven Bewußtsein entwickelt bildet die ακμη; hernach wird die Stetigkeit loser wie man daraus sieht daß die späteren Momente nicht so festgehalten werden als die früheren. Alles dieses aber können wir nur behaupten von dem durch die Erzeugung entstehenden Leben. Denn von dem Anfang und der Entwiklung eines problematisch ersten Menschen bis die Erzeugung mit ihm anfängt ist keine Vorstellung zu machen[.] E l f t e S t u n d e . Um nun die Frage auch für die geistigen Thätigkeiten zu beantworten müssen wir noch einmal auf die philologische Seite zurükkehren. Das Leben als zum Theil den Grund der Veränderung in sich tragend sezt schon voraus zum Theil außer ihm und dies sezt voraus Einwirkung von außen[.] Zu diesen verhält sich aber das Leben nicht mechanisch sondern mitwirkend. Die Mitwirkung ist eine geringere Lebensäußerung, die ursprüngliche Selbstthätigkeit eine größere. Beide sind aber in Bezug auf das Verhältniß zwischen Ich und Außerich entgegengesezt weil der eine Moment beim Außerich anfängt, der andere dabei endet. Der Gipfel des Lebens ist zugleich das Maximum von beiden[.] Die geistigen Thätigkeiten seien nun zunächst das Erscheinen der Ideen im Bewußtsein. Auch dieses können wir beim ersten Menschen gar nicht vorstellen, sondern nur im Zusammensein mit schon entwickeltem Bewußtsein. Der Prozeß beginnt aber offenbar mit der Aneignung der Sprache, also auch ein physiologischer Anknüpfungspunkt. Sie ist aber bedingt | durch das GattungsBewußtsein. Die Gesamtheit der Einzelnen ist die Gattung sofern die Natur in Allen dieselbe ist und als dieselbe sich immer wieder erneu1 Materie] M korr. aus QGR oder QHR )Gesamtheit der geistigen Wesen als*

15–16 Vollständigkeit … objectiven] über 27 sich] folgt )also*

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ert. Schon die Richtung des Bewußtseins im Zusamensein nur mit Menschen schließt dieses in sich. Die Entwiklung beginnt nur mit der Aneignung der Sprache[.] Gegen das Ende des Verlaufs findet sich oft das Band zwischen Vorstellung und Wort geschwächt; der Erzeugungsprozeß in der Sprache hört auf. Der Gipfel also ist die vollkomene Thätigkeit und Gegenwärtigkeit der Sprache[.] Auch hier hat der Verlauf dieselbe Form [.] Das Erscheinen der Ideen im Bewußtsein des Einzelnen hört auf mit dem Tode[.] Zw ö l f t e St u n d e [.] Die Thätigkeit im Darstellen der das Wesen des Geistes constituirenden Ideen fängt eigentlich schon an mit der Bildung des Leibes selbst in welchem ja der erscheinende Geist erkannt wird. Man könnte dies als unabhängig von der Seele ansehn wenn bloß von der Bildung im Mutterleibe die Rede wäre. Allein so lange die Seele selbst wächst entwickelt sich auch der physiognomische und pathognomische Ausdruk abhängig von den der Seele zukomenden Thätigkeiten. Diese Einwirkung ist aber freilich eine ganz bewußtlose und darum auch als ein minimum. Das maximum dagegen ist die Kunst, ausgeschlossen den mechanischen Gebrauch, den Gebrauch nach der geistigen Seite hin aber möglichst erweitert[.] An jenes schließt sich zunächst an was als Erweiterung der Organisation die nächste Umgebung derselben bildet und woran man auch den eigenthümlichen Geist des Einzelnen gewöhnlich erkennt. Dann die momentanen Aeußerungen welche von der einen Seite unwillkührlich sind auf der andern doch imer eine Beziehung auf Andere, für die man sich äußert, voraussezen. Dann nun die eigentlich bleibenden Werke aller Art. Auch hier giebt es aber nach dem maximum eine Verringerung[.] Die Stärke des Heraustretenwollens nimmt ab wie die Stärke der Eindrüke abnimmt, die geistige Productivität nimt ab wie der Umlauf des Bewußtseins langsamer wird und im Tode ist minimum und maximum zugleich Null. Die Form ist also auch hier dieselbe. Wie wir aber nun diese Form als dieselbe gefunden haben in so vieler Beziehung so führt dieses auf die Frage ob nun alle Seelen in dieser Beziehung gleich sind die jeder verneinen muß, und die sich auch schon a priori verneint. Wir finden zuerst die Ungleichheit in der Differenz von Anfangspunkt und maximum, die Ungleichheit in der Zeit in welcher das maximum erreicht wird und in der es dauert. Ferner Ungleichheit in der Freiheit vom | Einfluß des Leibes und in der Macht welche die Seele gegen den Leib ausübt. – Aber wir finden die Ungleichheiten nicht nur einzeln, sondern auch massenweise in 7 dieselbe] diesebe 28 die] korr. aus das

7 Form] Fo korr. aus Q R

25 voraussezen] en über )ung*

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der Organisation sich verbindend und durch Zusamenhang mit klimatischen Differenzen an den allgemeinen Differenzen der Erde theilnehmend. D r e i z e h n t e St u n d e [.] Die einzelne Differenz aber entsteht nur und die allgemeine reproducirt sich nur vermittelst der Erzeugung welche selbst auf der Geschlechtsdifferenz beruht[.] Diese geht daher eigentlich allen andern voran, aber ob sie über das organische hinaus in das psychische das ist theils geleugnet theils behauptet worden. Unser bisheriges Verfahren von den beiden Punkten aus, den Gegensaz von Leib und Seele vorläufig festzustellen und die Einheit beider in dem Begriff des Lebens zur Anschauung zu bringen hat uns so weit gebracht im Allgemeinen die Grenze unserer Untersuchungen und auch schon das mannigfaltige des Inhalts anschaulich zu machen. Fragt sich ob sich daraus schon die Methode unseres Verfahrens bestimen läßt. Die verschiedenen einzelnen Thätigkeiten in ihrer organischen Bedingtheit und geistigen Tendenz auseinanderzulegen ist freilich eins. Aber in diese theilt sich nun der einzelne Verlauf jedes Lebens so daß wir sagen müssen wenn eine oder mehrere von ihnen in einem ganzen Leben gar nicht vorkämen: so wäre entweder das Subject keine menschliche Seele oder wir hätten etwas nicht wesentliches mit aufgenomen. Die Theilung aber bei welcher wir auch den zeitlichen Verlauf zerfällen in eine Reihe von Momenten sezt außer den Thätigkeiten auch Uebergang aus einer in die andere voraus. Um aber über diesen etwas zu sagen müssen wir erst die Theilung selbst näher bestimen. Wir können uns vorstellen einerlei Thätigkeit einen Moment erfüllend und dann einen andern von anderer Thätigkeit erfüllten folgend. Dann aber tritt zwischen beide ein Nullpunkt und die Einheit des Daseins hört auf[.] Dem wird nicht abgeholfen wenn man sich das Uebergehn als eine eigne Thätigkeit denkt, sondern nur wenn man den Anfang der neuen schon in das Ende der alten aufnimmt. Aber es reicht nicht hin wenn dies nur zwischen zweien stattfindet: denn zwischen einer solchen Wechselreihe und einer andern von anderm Doppelgehalt wäre dann wieder ein leeres [.] Denkt man sich das Uebergehen ganz durch äußere Einwirkungen bestimmt und zugleich das Wachsen der einzelnen Functionen durch das Verhältniß bestimmt nach welchem die Momente sich theilen so wird das Resultat des Lebens abhängig von äußeren Einwirkungen | indem nun alle Thätigkeiten als quanta erscheinen so wird der ganze 9 bisheriges] bisheriges )QEleminirenR* 11 dem B] über )Q R* 15–16 organischen] erstes n verdeckt durch Tintenfleck 16 auseinanderzulegen] aus korr. aus Q R 33 leeres] korr. aus Q R 35 der] folgt )Ersten* 36 Verhältniß] folgt )an welches* 37 das] folgt )ganze* 37 Einwirkungen] E korr. aus QeR 38 der] korr. aus das

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Lebensgehalt dem Calculus unterworfen vorausgesezt daß die äußeren Einwirkungen auch qualitativ und quantitativ gegeben wären, ganz unerkennbar aber genetisch weil jene nicht gegeben werden können. Dies ist das Streben nach mathematischer Psychologie. Gegenüber steht die Annahme das Uebergehn sei allein von innen heraus bestimmt ohne vorangehenden und ohne sich daraus erzeugenden Bestimmungsgrund; d. h. durch vollkomene Willkühr, und dies ist die Theorie der absoluten Freiheit. Beides bringt keine Erkentniß zu Stande und hebt die Bestimmungen von denen wir ausgegangen sind auf[.] Vi e r z e h n t e St u n d e [.] Wir müssen also von der Ansicht ausgehn daß in jedem Moment alle Thätigkeiten sind und jede Thätigkeit durch alle Momente durchgeht. Dann bleibt nur zu erklären wie der Wechsel des hervor und zurüktretens sich stellt und entsteht. Im allgemeinen werden wir dies auch vorstellen können durch bestimmte Endpunkte und die Ausfüllung des Zwischenraums. Die Endpunkte sind hervortreten einer einzelnen Function als maximum während alle andern ein minimum sind und Zurüktreten der Differenz als minimum, so daß alle im maximum des Gleichgewichtes sind. Alle Zwischenpunkte sind als Annäherung zu einem von beiden dieser Extreme zu betrachten. Stellt man sich die der ersten Art zusammen so bilden sie die Reihe welche die Entwiklung der Virtuosität darstellt wogegen die andere die welche die Harmonie darstellt. Die Construction des Wechsels mit seinem Ergebniß ist nun ein großer Theil der Eigenthümlichkeit des Seins. Dasselbe gilt nun aber auch von der Charakteristik der Massen der Racen und Völkerstämme. Diese ist wiederum aufzufassen mehr empirisch wenn man sich mit dem Aggregat begnügt oder mehr speculativ wenn man sie als Cyclus zu construiren sucht. Wollte man nun von dieser Totalbeziehung des Geistes auf die Erde noch weiter gehn und sowol die einzelnen Functionen als die Gestaltungsweise der Lebensweisheit auch so ansehn wie sie analog auf andern Weltkörpern außerhalb der menschlichen Seele sein könnte oder auch nur bestimen was unter dem unsrigen allgemeingültig sei für allen erscheinenden Geist: so würden wir weit über unser Gebiet hinausgehen und rein speculativ werden[.] Nachdem wir uns so unsere Grenze zwischen dem physiologischen und dem spekulativen festgestellt haben können wir übersehn, daß wir 7 d. h.] davor )Qhier seR* 7 d. h. ... Freiheit.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen, sich vermutlich auf den ganzen Absatz beziehend: NB[.] Hier ist mir manches sehr bestimmt aus einander gesezte entgangen. 4 Eine mathematische Psychologie hat Herbart entworfen. Vgl. Herbart (1816)

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Einleitung und Elementarischer Teil, 13. bis 15. Stunde

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unserer Aufgabe nicht genügen würden wenn wir nur die einzelnen Functionen vollständig aufführten und in ihrer Zusammengehörigkeit zu verstehen suchten sondern | wir müssen dem elementarischen Theile einen constructiven folgen lassen der die Individualitäten zur Anschauung bringt, die einzelnen und die zusammengesezten[.]

E r s t er element ar ischer T heil.

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Einleitung[.] Die gewöhnliche Behandlung die einzelnen Thätigkeiten als Vermögen zu substantiiren bringen Redeformeln hervor welche fast alle Uebergänge als einen Conflict verschiedener Personen darstellt so daß das Ich gleichsam erst jeden Augenblick aus diesem Conflict entsteht. Diese verleitenden und nur eine leere Abstraction darstellenden Formeln wollen wir vermeiden und die Thätigkeiten nur an und für sich als solche betrachten[.] X V. S t u n d e [.] Nothwendig aber ist eine Methode um uns sicher zu stellen, daß wir weder auslassen noch für sich sezen was nur an einem andern ist. Hiezu muß uns das bisher verhandelte führen. Wir dürfen aber nicht darauf ausgehn die psychischen Thätigkeiten etwa so wie sie dem Geist angehören d. h. auf speculative Weise zu theilen weil wir uns dann auf ein fremdes Gebiet begeben, noch auch von den organischen ausgehn aus demselben Grunde[.] Es bleibt uns also nur unsere Vorstellung vom lebendigen Einzelwesen übrig. In dem „den Grund zum Theil in sich haben[“] liegt schon, daß es ihn zum Theil außer sich hat. Aber wir dürfen auch nicht so theilen je nachdem dasjenige worin es ihn außer sich hat dies oder jenes ist. Denn wir haben nicht denselben Grund in dem Außeruns Einzelheiten zu fixiren da in der Vorstellung des universellen Prozesses alles nur Durchgangspunkt ist. Da aber diese Sonderung durch unsere psychischen Thätigkeiten erfolgt so muß uns die Frage anderwärts kommen, jezt dürfen wir den Grund nur in der Gesammtheit suchen. Diese Theilung giebt uns aber zunächst nur ein Mehr und Minder, die sich aber nur in Gegensaz verwandeln lassen durch bestimmte Unterordnung. Diese liegt im Verhältniß von Action und Reaction. Wenn der Grund ganz im Außer uns wäre so gehörte das Resultat dem universellen Prozeß an das Leben wäre also für den Moment aufgehoben und müßte sich erst wiederherstellen. Da wir es aber als ein Continuum ursprünglich erkannt und die Trenung der Momente nur dem untergeordnet haben so müssen wir beides zusamenfassen. Die Einwirkung wird nur Ein Moment mit der Gegenwirkung zusammen welche das Ergebniß nach

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der Weise des individuellen Prozesses gestaltet. Eben so wenn alle Thätigkeit nur von dem lebenden Einzelwesen ausginge so würde sie den universellen Prozeß zerstören indem sie Leben und geistige Wirkungen hervorbrächte. Die Thätigkeit muß also im Außeruns gebrochen | werden d. h. diese leistet Gegenwirkung und gestaltet das Ergebniß nach der Art und Weise des universellen Prozesses[.] Dieses sind des Lebendigen Werke oder ausströmende Thätigkeiten welche durch die Gegenwirkung des Außeruns fixirt werden, und zusamengenomen die Selbstthätigkeit des Einzelwesens bilden. Jenes sind des Lebendigen Aufnehmende Thätigkeiten welche zusamengenomen seine Empfänglichkeit constituiren. Betrachten wir aber diesen theilenden Gegensaz wieder unter der Form des zeitlichen Verlaufs so muß er auch ein von Null bis maximum steigender sein. Das Leben wird also anfangen mit einer Indifferenz von Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit und das stärkste Auseinandertreten wird den Gipfel bezeichnen. X V I [ .] S tu n d e [.] Wenn wir dieses zusamennehmen und noch darauf achten daß zur Form der zeitlichen Entwiklung auch gehört das Vorangehn des überwiegend organischen und Nachfolgen des überwiegend geistigen so erhalten wir folgendes Totalbild[.] Das Leben besteht in einer von stumpfer Indifferenz zwischen aufnehmen und ausströmen beginnenden zur stärksten Entgegensezung zwischen beiden sich entwikelnden schwankenden Thätigkeit nach beiden Seiten hin deren Vollendung ist im zusamengehörigen Sein des Menschen in den Dingen und Sein der Dinge im Menschen. Ehe wir aber weiter gehn um innerhalb unsers Gegensazes einen neuen zu finden müssen wir fragen ob dieser das Leben vollständig umfaßt oder ob es auch Thätigkeiten giebt welche einen rein inneren Verlauf haben. Wir finden für diese sogleich eine Analogie wenn wir Uns und Außeruns als eins zusamenfassen, weil dann jene Thätigkeiten ein rein innerer Verlauf werden; eben so könnte es auch einen geben innerhalb uns zwischen Seele und Leib. Also beginnend mit leiblicher Erregung und endend in rein geistiger Thätigkeit. Denken wir aber Geist und Materie im allgemeinen Verhältniß so ist das Werden der Organisation schon Thätigkeit des Geistes um Seele zu werden in der Materie also imer schon eine Relation zum Außeruns; also auch jede leibliche Erregung von dieser Relation abhängig[.] Eben so ist enden in rein geistiger Thätigkeit wenn in Willensbestimmung wieder ein Enden nach außen; wenn im Denken und nicht im bloßen 3–4 Wirkungen] korr. aus Q R 7 oder ausströmende Thätigkeiten] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen 8 und] korr. aus so 25 Dingen] korr. aus Q R 30 Uns] korr. aus uns

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Elementarischer Teil, 15. bis 17. Stunde

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brütenden Ichsagen sondern im Denken von etwas ebenfalls ein Enden in der Relation zum Außer uns vermöge des Inhalts, aber auch schon vermöge der Sprache weil Sprache nicht ein innerliches bleiben will sondern das GattungsBewußtsein und die Tendenz auf Mittheilung in sich hat und so kann es ein Gebiet von Thätigkeiten geben welche ihren Verlauf nur innerhalb der menschlichen Gattung haben, aber nicht im Einzelwesen. Es giebt also streng genommen keinen bloß | innerlichen Verlauf, keine rein immanenten Thätigkeiten die wirklich etwas abschlössen. Aber wol bezeichnet das einen sehr bedeutenden Unterschied. Je näher die Enden von und nach außen zusammentreten um desto mehr erscheint das Ich nur als Durchgangspunkt, um desto mehr nach Analogie des universellen Prozesses, und entgegengesezt. NB[.] In Bezug auf die Bedeutung des Ausdrucks Moment ist dies noch näher zu erklären. In unserm Hauptgegensaz finden wir noch einen untergeordneten angedeutet. Nämlich die aufnehmenden sind doch zusammengesezt aus Einwirkung und Gestaltung. Das Ergebniß kann nun das Sein der Dinge in uns darstellen bald mehr unter der Form des einwirkenden = objectives Bewußtsein bald mehr des wiegewordenen = SelbstBewußtsein. XVII. Eben so auf der andern Seite das Ergebniß bald mehr durch gestaltende Wirksamkeit, bald mehr durch darstellendes Aeußerlichwerden unser Sein in den Dingen[.] Wahrnehmung, Empfindung, Darstellung und Werkbildung[.] In diesen vier Fächern muß die Gesammtheit unsrer Untersuchungsgegenstände befaßt sein wenn es keine immanenten Thätigkeiten giebt. Diese erscheinen am meisten in der Betrachtung aber der Moment ist dann auch nicht vollendet sondern nur abgebrochen und es knüpft sich daran ein anderes bis es nach außen endet. Ja selbst wenn man fallen läßt so war der Moment entweder ein Theil eines andern in welchen das Resultat hineingeht oder er war eben deshalb verfehlt weil er kein Ende nach außen gewann. Beginnt aber das Leben mit der Indifferenz von Receptivität und Spontaneität aber bei organischen Bewegungen aus denen sich die intellectuellen erst entwickeln: so werden wir bei den aufnehmenden beginnen, werden sie aber zugleich als Selbstthätigkeit zu betrachten haben. Sinnesthätigkeiten[.] 5 hat] hat. 5–7 und so … Einzelwesen.] am rechten Rand mit Einfügungszeichen 13–14 NB[.] … erklären.] am linken Rand ohne Einfügungszeichen 19 des] folgt )Q R* 24 Wahrnehmung … Werkbildung[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen 38 Sinnesthätigkeiten[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen

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XVIII[.] Die organische Vermittlung aller aufnehmenden Thätigkeiten sind die Sinne deren physiologische Seite wir aus der gemeinen Erfahrung voraussezen. Das Außer uns umgiebt unsere Oberfläche, diese ist theils durchgängig nicht passiv sondern empfänglich theils an gewissen Punkten auf besondere Weise empfänglich. Jenes ist der allgemeine Sinn, Hautsinn, dieses sind die speciellen Sinne, fünf an der Zahl. Der Hautsinn, für den die Temperatureinwirkungen der klassische Punkt sind, ist zunächst den atmosphärischen Zuständen geöffnet und sagt das Verhältniß derselben zum individuellen Leben aus. Er giebt keine einzelnen Wahrnehmungen außer insofern einzelne Punkte durch eigenthümliche Prozesse bestimmt sind. Daß wir | uns nicht auf seine Aussagen verlassen wenn es darauf ankommt die Differenzen zu messen, beweist nur, daß wir bei den Einwirkungen auf die Sinne nicht passiv sind. Die gewöhnliche Entgegensezung höherer und niederer Sinne ist kaum haltbar[.] Die sentimentale, scheinbar ethische Auffassung daß das Gesicht allein uns über die Erde hinausführe und das Gehör allein menschliche Gedanken offenbare ist nichtig. Denn das Gesicht heftet die Sterne an den Himmel und den Himmel an den Horizont und die Offenbarung geht nur von der Sprache aus. Das Gesicht allein giebt uns auch keine Gegenstände, sondern nur Lichterscheinungsdifferenzen auf Einer Fläche. Das Gehör ist nicht nur für den Ton sondern für Schall und Geräusch und ebenfalls der gesammten schwingenden Luft zugewendet. Geruch und Geschmack haben es mit chemischem und elektrischem Prozeß zu thun und Tastsinn mit den Cohaesions oder magnetischen Verhältnissen. Alle also mit allgemeinen Differenzen des universellen Prozesses, und stehen mithin ziemlich gleich. Der angenommene Unterschied kann also nur darauf gehn daß von den sich daranknüpfenden psychischen Thätigkeiten mehr und weniger Entwiklungen ausgehn. XIX. Ein anderer nicht zu verwerfender Unterschied ist der zwischen l e i t e n d e n Sinen und solchen die es nicht sind oder weniger sind. Dieser beruht darauf, daß der Gegensaz von Empfindung und Wahrnehmung nur durch Combination klar wird[.] – Die ursprünglichste und gewöhnlichste ist Gesicht und Tastsinn – der zweite Sinn folgt dann dem ersten. Der Hautsinn bleibt im SelbstBewußtsein entschieden und giebt keine Leitung zur Wahrnehmung hin wodurch er sich am bestimtesten unterscheidet. Gesicht und Gehör sind die am meisten leitenden. Geruch und Geschmack fodern am meisten anderes um zur Wahrnehmung zu werden. 3 uns] folgt u. 17 Denn] korr. aus denn 18 heftet] he korr. aus QerR 18 und den Himmel] )H*immel 19 Das] D korr. aus Q R 20 Gegenstände] Gegenstände sondern nur 25 Verhältnissen] Ver korr. aus QtionR davor )Reak* 27 ziemlich] folgt )Q R*

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Dies führt auf die ursprüngliche Indifferenz zwischen Receptivität und Spontaneität. Die hinzukommende Spontaneität (das Greifen nach dem Gesehenen) um die Combi|nation zu bewirken ist nicht ursprünglich. Aber da ein Hinwenden des Willens zu andern Gegenständen die weitere Entwiklung der Sinnesthätigkeit hemmt so daß wir hören ohne zu hören, so können wir auch schon das Geöffnetsein des Sinnes als ein Wollen ansehn. Es ist das allgemeiner sich in Berührung mit der Außenwelt sezen wollen, von welchem hernach auch alle Combinationen der Sinnesthätigkeiten ausgehn. Wogegen auf der andern Seite auch das Oefnen des Auges wiewol schon willkührliche Bewegung doch zugleich als Wirkung des Lichtreizes angesehn werden kann. Jenes ist die mehr psychologische dies die mehr physiologische Ansicht. In dieser Indifferenz von Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit ist nun auch schon die Identität von physiologischem und psychologischem aber doch nur auf der Stufe des Lebens überhaupt[.] Wollen wir aber auch den Anfang des eigentlich menschlichen suchen so werden wir uns einer Ve r gleichung mit dem thierischen nicht enthalten können; nicht um das menschliche als etwas irgendwo hinzukommendes aufzufinden sondern nur um den Punkt zu finden wo es aufhört sich zu verstecken. Das erste ist nun hier das eigennüzige d. h. nur auf den Erhaltungstrieb berechnete Verschlossensein des Sinnes bei den Thieren wodurch ihnen das meiste gleichgültig ist[.] XX. Unser geöffnet sein gegen das gesammte ohne Beziehung auf den Trieb, in den beiden Momenten der untergeordneten Selbstthätigkeit hat freilich gegenüber daß bei den Thieren das scheinbar allgemeine Geöffnetsein entweder in eine auf den Trieb bezügliche Thätigkeit Endet oder spurlos verschwindet. In dem eigenthümlich menschlichen latitirt also auf negative Weise wenigstens diese Freiheit schon in den ersten Momenten sogar der Empfänglichkeit und die Bestimmung die Gesamtheit des Seins zum Bewußtsein zu erheben läßt sich ahnden indem der zweite Moment schon (nur unter der Form der Bewußtlosigkeit und das ist die noch vorwaltende Analogie mit dem thierischen) die Ahndung des getheilten Seins und des vereinzelten Daseins enthält. Der zweite Vergleichungspunkt ist die Unvollkomenheit des Gegensazes von subjectivem und objectivem. Nichts kann reine Wahrnehmung werden weil es durch die | Beziehung auf den Trieb bedingt ist und nichts kann SelbstBewußtsein werden, weil es sich vom einwir4 Hinwenden] Hin über )QUmR* nicht bei den*

9 .] korr aus ,

26 hat freilich gegen] über )sei

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kenden Object nicht losreißen kann. In der gegenüberstehenden menschlichen Tendenz zur Klarheit des Gegensazes spiegelt sich also ab einerseits die Reinheit des Ichsezens andrerseits die Freiheit des Geistes als sich gegenseitig bedingend. Hierin ist nun auch jene ursprüngliche Eintheilung der Sinne gegründet und wir haben nun zu fragen wie sie sich zu jenem Gegensaz verhalten. Der a llg emeine Sinn (Hautsinn) ist ein beständiges Geöfnetsein gegen die Atmosphäre aber ein bestimmtes SelbstBewußtsein entsteht daraus nur an den Extremen der Temperatur und barometrischen Verhältnisse an welchen die andern Lebensverrichtungen merklich gefördert oder gehemt erscheinen. Auch dies beweist die Freiheit vom Triebe. Die wechselnden Lebensverhältnisse werden nur ins SelbstBewußtsein aufgenomen wenn ihr Einfluß auf die geistigen Thätigkeiten sich merklich macht. Indem nun aber der Gegensaz zwischen diesem und den speciellen auch nur relativ ist so fragt sich ob und wie auch dieser kann in Wahrnehmung umschlagen. XXI. Der Anfang wird gleich gemacht wenn man aussagt das Außen ist erwärmend allein dies ist nur die Aussage über die innere Veränderung + Der daß diese nicht innerlich bewirkt sei Bestimte Wahrnehmung ist. Die Wahrnehmung ist erst eine völlige mit ihrem Maaß und hiezwischen fallen alle Naturbeobachtungen auf diesem Gebiet. – Vom Umschlagen der Gesichtseindrüke in Empfindungen gilt dasselbe, daß das Element ursprünglich ist und immer mitgesezt aber nur an bedeutenden Punkten hervortritt[.] Eben so vom Gehör. NB[.] Etwas ganz anderer Art ist hier und beim Gehör das Mißfallen an Farben, Tönen und deren Folge und Verhältnissen wovon noch nicht die Rede gewesen. Wenn nun das Gefühl niemals trügt weil da Sein und Bewußtsein dasselbe ist: so entsteht von hier aus die Frage ob die Sinne auf der objectiven Seite trügen und wo der Anfang davon ist. Wenn wir einen Schein für eine Gestalt haben so trügt nicht der Sinn sondern das combinirende Urtheil. Nur in Fällen wo wir ein Innerlich bewirktes für ein von außen bewirktes und umgekehrt hielten wäre der Betrug in der Sinnesthätigkeit selbst. XXII. Voran eine Uebersicht von dem nächsten Punkt bei dem wir ankommen wollen[.] Nämlich die Totalität der subjectiven und objectiven Eindrüke aber abgesehen von allem was höheren intellectuellen Thätigkeiten angehört. Verhält es sich nun überall wie wir am allgemeinen Sinn gesehn haben daß der Cyclus eines Sinnes sich am entgegengesezten Ende nur voll|endet nachdem höhere eingetreten 1–4 In der … bedingend.] am linken Rand mit senkrechtem Strich markiert 8 an den] über )die Tem* 25–27 NB[.] … gewesen.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen 32 umgekehrt] umgekeht

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sind; so folgt daraus daß die eigenthümlich menschliche Sinnesthätigkeit kein für sich abgeschlossenes Ganze bildet ja daß nicht nur intellectuelle aufnehmende sondern auch selbstthätige dazwischen liegen[.] Ferner würde auch folgen daß das minimum des objectiven vom subjectiven so gut als nicht differirt, daß aber in der weitern Entwiklung der Irrthum seinen Ort findet an der Wahrheit, überall wo ein zwiefaches gegeben ist. G e h ö r und G e s i c h t sind objectiv weil das subjective als Bewußtsein des Organs nur an einzelnen Stellen heraustritt. Sie haben aber außerdem einen subjectiven Gegensaz der die Wahrnehmung begleitet, angenehme und unangenehme Farben, Töne und Zusammenstellungen beider den wir hier nur als begleitend geltend machen ohne auf die Gründe einzugehn. Geruch und G eschma k höchst verwandt entwickeln das objective minimum gleich mit dem subjectiven, aber die vollendete Objectivität sezt alle naturwissenschaftlichen Thätigkeiten voraus. Der Gegensaz des angenehmen und unangenehmen in Elementen und Zusamenstellungen ist bei ihnen constant, aber minder gemeinsam[.] XXIII. Die Idiosynkrasien dieser beiden Sinne hängen damit zusamen daß sie bei den Thieren die am gleichmäßigsten bestimmten sind weil die Leitung des Triebes davon ausgeht, und sie sprechen den Gegensaz hiegegen aus indem auch in ihnen keine Beziehung auf den Trieb ist und zugleich auch die höhere Individualität, indem sie persönliche Eigenthümlichkeiten der Organe nachweisen. Auf der andern Seite vermehren diese die Veranlassungen zum Skepticismus um so mehr als es auch Idiosynkrasien der Wahrnehmung giebt im Gebiet des Gesichts. Subsumiren nun Einige dieselben Eindrüke unter einen andern allgemeinen Begriff so entsteht die Frage ob nicht auch bei gleicher Bezeichnung diese Eindrücke verschieden sind. Dies führt uns auf den Irrthum in der Sinnesthätigkeit zurük. Auch die einfache Aussage daß die Affection von außen herrührt kann schon falsch sein und der Irrthum kann entstehn so oft eine Duplicität der Beziehung möglich ist. Bei Unachtsamkeit kann man eine innerlich bewirkte Erwärmung für eine äußerlich begründete halten. Aber bei Gesicht und Gehör ist dies wegen der ekstatischen Zustände eine Quelle großer Streitigkeiten. Entweder was nur innerlich war wird für äußerlich gehalten aus Verlangen nach dem Wunderbaren. Oder was äußerlich war wird für bloß innerlich ausgegeben aus beschränkter Weltvorstellung. Der | Streit hätte aber keinen Sinn wenn es nicht ein unstreitig rein innerliches Sehen und Hören gäbe, nachbildend sowol als vorbildend. Allerdings aber größtentheils als ein Gewolltes. Will nun der Skepticismus die Ausmittlung des Unterschiedes als etwas 6 ein] eins

31 eine] folgt )QÄhnlichkeitR*

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gleichgültiges darstellen weil es nur darauf ankome daß die Empfindungen und Wahrnehmungen angenehm seien: so fragt sich ob dieses das natürliche ist und die Richtung auf die Wahrheit irgend woher etwas erkünsteltes oder ob wir etwas nachweisen können als ursprünglich woran sich diese Richtung auf die Wahrheit knüpft. XXIV[.] Recapitulation wie wir hier mit der Aufgabe über den Werth der skeptischen Hypothese zu entscheiden an die Grenze unseres Gebietes gekommen sind indem die Frage ob das Interesse an der Wahrheit etwas erkünsteltes ist oder natürlich schon an das transcendentale streift. Da wir die Erfahrung nie so vervollständigen können daß gesagt werden kann Alle stehn auf der Seite des Einen und der Andere steht allein: so werden wir sie müssen unentschieden lassen wenn nicht irgendwo ein Punkt sich finden läßt der uns eine Gewißheit aus unserm Gebiete her giebt. Zunächst müssen wir uns die beiden Punkte an welchen die skeptische Ansicht ihre Haltung findet ihrem ganzen Umfange nach klar machen. Erstlich die Differenzen zwischen den Sinnenverhältnissen des Einen und Andern dann die Unsicherheit über das von Außen und das von innen erzeugte. Jene Differenzen sowol die Idiosynkrasien der Empfindung als die Subsumtionsweisen der Wahrnehmung sind nicht nur zwischen den Einzelnen sondern sie gehn in die Sprachbildung und die nationalen Constitutionen ein. Grönländern und Eskimos ist allgemein angenehm in Geruch und Geschmack was uns allgemein zuwider ist. Das FarbenLexicon war für alle Griechen anders als das unsrige u. s. w. Hier also große Differenzen anerkannt aber doch subsumirt unter die Identität der Sinnesthätigkeiten selbst. Wir räumen Alle ein und auch der stärkste Skepticismus hat nichts dagegen eingewendet daß das Sehen und Schmecken der Andern dasselbe sei mit unserm Sehn und Schmekken[.] Diese Einräumung ist nichts anderes als die Stärke des GattungsBewußtseins. Diese ist wiederum einerlei mit der nicht immer zur Wirksamkeit kommenden aber imer als Impuls vor|handenen Tendenz uns über das differente zu verständigen[.] Dieses aus dem bloß subjectiven Heraustreten und ein allgemein menschliches zur Erscheinung bringen wollen ist wiederum nichts anderes als das Wissenwollen sofern nämlich die Bilder als Repräsentation des Außeruns angesehn werden. Da aber hier ganz unentschieden bleiben muß ob der Grund der Differenz mehr ein organischer ist oder ein logischer, weil 6 XXIV[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen: NB[.] Nach dem Pfingstfest 7–8 unseres] korr. aus QdenR, folgt )Qbeider hR* 23–24 Anspielung auf Platon; vgl. Platon: Timaios 67c–68d; Opera 9,383–384; Werke 7,138–141

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wir nämlich auch von den Eindrükken nicht anders als in allgemeinen Ausdrücken reden können und also logische Thätigkeit wenn auch nur zusammenfassende immer schon vorausgesezt wird: so erhellt schon hieraus daß die Hauptfrage aus einer isolirten Betrachtung der Sinnesthätigkeiten nicht entschieden werden [kann]. XXV. Zweitens die Unentschiedenheit zwischen von außen bewirktem und innerlich erzeugtem. – Großer Reichthum des innerlich erzeugten in verschiednen Abstufungen; die Gaukelei aus gespannter Aufmerksamkeit entstanden, das erinnernde Wiederholen des selbsterlebten, das innere Gestalten des von Andern vernommenen, und das vorbildende Gestalten von Grundzügen der Darstelung außerdem aber noch der Traum und der Wahnsinn welche genetisch hier nicht entwickelt werden können. Alle Gaukelei ist das was wir zu eliminiren suchen sobald wir Zeugnisse haben denen wir uns unterwerfen und hierin ist auch Gattungsbewußtsein und Richtung auf das Erkennen vorherrschend, die Selbstthätigkeit hierin ist also eine unwillkührliche nicht gewollte. Das Nachbilden hat ebenfalls die Richtung vom GattungsBewußtsein aus, ruhend nämlich auf der Voraussezung von Identität der Functionen – auf das Erkenen, die Gesammtheit der Bilder soll gemeinsam werden, sofern sich darin die gemeinsame Welt spiegelt. Das vorbildende hat die Richtung auch vom Gattungsbewußtsein ausgehend auf die Mittheilung des eigenthümlichen Lebens welches sich in diesem innern Produciren manifestirt welche Mittheilung wir die Kunst nenen. Der Musiker hört der Maler sieht vorher innerlich der Dichter auch, alle stellen dar damit ihr inneres auch Anderen von außen her ein inneres werde. Wenn die Wahrnehmung ins Bewußtsein nimt wie die Idee der geistige Lebensgehalt sich in den Dingen spiegeln so giebt die Kunst ins Bewußtsein wie sich das geistige Einzelleben in der Insichbildung spiegelt. GattungsBewußtsein und Richtung auf Wahrheit sind hier auch[,] nur ist die Wahrheit hier die des Einzellebens aber sofern es der Träger des gemein menschlichen ist. In dieser Anerkennung so | wie in der Auflösung der Gaukelei und in dem Verschwinden der sie begünstigenden gemeinsamen Zustände ergiebt sich die Nichtigkeit der skeptischen Annahme. XXVI. Nehmen wir nun das bisherige zusammen so besteht unser Resultat aus folgendem 1.) am meisten zu isoliren und am reinsten im Gebiet der Empfänglichkeit bleibend ist die Thätigkeit des Ha ut s i n n s . Nur indirect entsteht durch Selbstthätigkeit der Gegensaz von A b h ä r t u n g und Ve r w e i c h l i c h u n g, der aber auch weniger unmittelbar das organische Resultat selbst betrifft als nur den Einfluß desselben auf den gesamten Lebensverlauf. 2.) Das subjective Element in 3 immer] immer,

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allen Speciellen Sinnen, die Gesammtheit angenehmer und unangenehmer S e n s at i o n e n , ist das am meisten dem physiologischen zugewendete aber freier als das animalische indem bei steigender Entwiklung alles im Außeruns einen solchen Gehalt darbieten soll. Denken wir uns das Seelenleben ganz in diese Function versenkt so ist dies der Zustand des Sinnenrausches. Die identischen Sensationen stumpfen sich ab und müssen zu stärkeren Reizen gesteigert werden. Auf den Reiz folgt Erschlaffung und das Leben besteht in diesem Wechsel. Die objective Seite ist dann nur in dem Dienst von dieser, alle Wahrnehmungen werden nur auf die Sensationen bezogen. Es ist aber auch umgekehrt möglich daß bei derselben Entwiklung (ja die Aufgabe alles bestimmt zu empfinden wird durch diese Combination nur gesteigert), die Sensationen nur auf die objective Seite bezogen werden also nicht um ihrer selbst willen gesucht so daß alle Sensationen nur Elemente zur Beobachtung und zum Versuch werden[.] Dazu aber muß die Seele am wenigsten in die Sensation versenkt sein, aber die Sensation bleibt auch so am reinsten und gleichmäßigsten[.] 3.) Der analoge Gegensaz im Kunstgebiet. Das Wohlgefallen rührt hier nicht aus dem organischen Eindrukk allein her wenngleich niemand die malerische Darstellung an lauter widrige Farben oder die gemessene Harmonie an lauter qualitativ unangenehme Klänge binden wird. Wir finden uns hier an der Grenze unserer Untersuchung gegen die Aesthetik und können nur voraussezen daß hier auch intellectuelle Elemente im Spiel sind, und warten ob wir von einem andern Orte aus die Sache genetisch begreifen[.] 4. Das objective Element kann zu seiner ganzen Entwicklung nicht gelangen ohne das logische hinzuzunehmen. Die einzelnen Wahrnehmungen bleiben auch wenn sie extensiv und intensiv | gemessen werden könnten doch nur chaotische Aggregate von Einzelheiten ohne bestimte Einheit und bestimte Vielheit wenn nicht die Subsumtion und das allgemeine erfolgt[.] Nimmt dieses überhand so wird freilich die bloße Wahrnehmung nur das Alphabet, bleibt aber doch die Bürgschaft für die Realität auch des vollkomen beschaulichen Lebens. Die S e l b s t t h ät i gk e i t i m D e n k en[.] XXVII. Noch haben wir aber nichts entwickelt was mit der Sprache also auch mit dem Denken zusammenhängt sondern nur das ganze Gebiet der Bilder soweit es ohne jenes vorgestellt werden kann. Nehmen wir nun in dieser Hinsicht einen Moment eines entwickelten Lebens vor uns und vergleichen ihn mit dem ursprünglich gegebenen: so finden wir gesonderte Bilder als feste Einheiten auf welche fortbe24–25 genetisch] genetisch zu gungszeichen

34 D i e … D e n k e n [.]] am linken Rand ohne Einfü-

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zogen wird, und Bilder aus verschiedenen Zeiten[.] Wenn nun auch durch Zusamenfassen verschiedenartiger Eindrücke welche uns aus derselben Richtung kommen die Gegenstände fixirt werden so bleibt doch noch zu erklären, die Dauer des Bildes nach aufgehörter Einwirkung, das Wiedererkennen eines Gegenstandes zu verschiedenen Zeiten und das Zurükrufen. Das erste und lezte hängt insofern zusammen als während der Dauer kein Zurükrufen vorkommt, das zweite hängt ab vom ersten oder lezten. Die erste Hauptfrage ist also die nach der Dauer. Der ewige Fluß ist vorauszusezen ohne daß man deshalb das Beharrliche zu läugnen braucht. Ist die Wirkung nur einen Augenblick dieselbe wie ist die dauernde Selbigkeit des bewirkten zu erklären[?] Hier liegen uns zwei Voraussezungen ganz gleich nahe. Entweder das bewirkte ist ein fortdauerndes wenn auch die Einwirkung nur momentan war, oder es ist so vergänglich wie die Einwirkung selbst. Unsere Praxis neigt sich zu der ersten denn wir wundern uns nicht leicht über das Behalten aber in der Regel über das Vergessen. Eben deshalb aber müssen wir zuerst fragen[:] Läßt sich die Dauer erklären bei verschwindendem Eindruck? Hypothese: aus zurükbleibenden Spuren entweder Eindrücke oder Bewegungen. Aber dann müßten die Bilder auch immer gegenwärtig sein. Erklärung der Wiedererkenung desselben Eindrucks aus größerer Leichtigkeit aber dann müßte man imerfort was doch nur selten geschieht leichtere neue für schon da gewesene halten[.] Wenn man annimmt das bewirkte könne beständig sein wenn auch die Einwirkung nur vorübergehend sei und das Wie vielleicht nur aus dem intellectuellen Element zu begreifen so hat man die Aufgabe das Vergessen zu erklären[.] | XXVIII. Erklärung des Vergessens im wesentlichen aus XX[.] des alten Heftes. Ist das Bewußtsein als dauernd angenomen so erklärt sich das Vergessen aber nur als ein minimum des Behaltens oder der Reproducibilität nach der Analogie mit dem unaufmerksamen Wahrnehmen aus Mangel an Interesse. Das minimum welches bleibt gleicht dann dem Bewußtsein welches wir oft hintennach von dem ohne Bewußtsein wahrgenommenen erhalten, voraussezend aber ein minimum von Bewußtsein sei doch auch hier gewesen, indem sonst das Band zwischen der organischen und der psychischen Seite der Function zerrissen gewesen wäre. In dieser Dauer des Bewußtseins haben 7 während der] währender 20 Wiedererkenung] über )Reproduction* über )schon* 33 ohne] ohne B über )Wahrnehm*

25 nur]

28–29 Gemeint ist das Manuskript Schleiermachers zur Psychologievorlesung im Sommer 1818, vgl. oben S. 54–57

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wir also die Vergangenheit in der Gegenwart, und ohne dieses Haben wäre auch keine Continuität des Ich zu denken. Wie nun die Aufmerksamkeit als Impuls nichts anderes ist als das Wahrnehmen wollen, dieses aber in andern Momenten als das zurükrufende innere Sehen und Hören erscheint: so werden wir sagen können eben dieses sei nun das beim Wahrnehmenwollen zur äußeren Affection hinzukommende. Ganz läßt sich indeß das Verhältniß zwischen Vergessen und Behalten nicht aus dem Maaß des Interesse erklären weil man oft vergißt, was man gern behalten möchte. Aber dies erklärt sich doch hinreichend aus der Differenz zwischen einem momentanen und einem habituellen Interesse[.] Ein zweites Element ist aber allerdings die Differenz in der Schärfe der Sinne die nur durch entgegengeseztes Uebergewicht des Interesse aufgewogen werden kann. Am bestimtesten aber tritt gegen unsere Ansicht auf die Virtuosität des Gedächtnisses ohne Interesse[.] Diese ist nur aus dem Sammelgeist, dem Interesse am einzelnen, gewöhnlich nur den abstracten Formen zu erklären[.] Daher ist nun das Gedächtniß nichts besonderes für sich, sondern nur das an der Dauer jedes gewordenen Bewußtseins haftende Sein der Vergangenheit in der Gegenwart ohne welches viele Wahrnehmungen (z. E. anschwellender Ton) gar nicht zu Stande komen könnten. Wie nun diese Ansicht sich bewährt das muß sich zeigen wenn wir den ganzen Uebergang betrachtet von dem ersten Anfang der chaotischen Einheit bis zum vollkomenen Zustand[.] XXIX. Von dem chaotischen Anfang an entwickelt sich allmählig indem die Operation Einheiten zu fixiren den Hauptentwiklungsknoten bildet die Allen gemeine Manigfaltigkeit der Bilder aus welchen zusammen das Weltbild besteht. Hiebei sind offenbar die leitenden Punkte die Einerleiheit des Afficirtseins und die Identität des uns noch unbekannten intellectuellen Elements. Die Differenz aber daß Mancher einige Theile zurükstellt | entsteht nur aus dem Interesse welches sich individualisirt. Eben dasselbe muß man sagen wenn man fragt[:] Was haben wir von dem ersten Wahrnehmungszustand behalten und was vergessen. Der geistige Impuls ist anzusehen als ein sich zum bestimmten Bewußtsein erheben wollen. Dieser ist schon im Wahrnehmenwollen auf der selbstthätigen Seite des Oefnens der Sinne. Natürlich also daß alles unbestimte sobald das bestimmte entwickelt ist sich aus dem Bewußtsein verliert; dies ist das allgemeine Interesse daher wir uns die früheren Bewußtseinszustände nur auf eine künstliche Weise, indem wir Analogien folgen, zurükrufen können. Mit diesen hängt denn auch das specielle Interesse zusammen[.] 5 eben] folgt )Q R* verwischter Tinte

30 zurükstellt] zurükstellt Qund das der AndernR unsicher wegen 40 das] folgt )spätere*

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Form des Bewußtseins als Denken und Sprache. XXX[.] Die Gewißheit daß niemand zu dieser Vollständigkeit gelangt ehe Denken und Sprache ihren Einfluß geäußert führt uns nun zunächst auf diesen Gegenstand. Die Hauptpunkte der Untersuchung sind folgende 1.) Ist hier auch auf ein Unentwickeltsein der Gegensäze als auf ein erstes zurükzugehn? 2[.)] Ist in Beziehung auf den Gegensaz des leiblichen und geistigen die Sprache überhaupt das leibliche und das Denken überhaupt das geistige oder hat auch die Sprache ihren geistigen und auch das Denken seinen leiblichen Gehalt, oder die Sprache zwar auch einen geistigen das Denken aber keinen leiblichen? 3.) Wie verhält sich diese Function zu allen Andern in den mancherlei Abstufungen vom allgemein begleitenden bis zu dem ausschließlich als höchstes hervortretenden. 4. Die Mannigfaltigkeit der Sprachen in Beziehung auf das Factum daß keine genau in der andern aufgeführt einerseits und auf die Identität der Vernunft andererseits zu begreifen. XXXI. Die erste Frage. Indem sie auf das anfängliche zurücksieht können wir doch keine Hypothese von einem übernatürlichen Ursprung der Sprache aufnehmen. Denn haben die ersten Menschen sie nicht aus sich entwickeln können so hat die Fähigkeit des Denkens und Sprechens nicht ursprünglich in ihnen gelegen und die menschliche Seele war erst durch jene Mittheilung in ihren dermaligen Zustand gekomen so daß wir doch bei der Art wie sie sich jezt bildet stehn bleiben müßten. – Die Frage bringt uns zunächst aber wieder auf die Vergleichung mit dem thierischen zurück. Hier vermissen wir ganz den Gegensaz von Selbstlautern und Mitlautern. Die thierischen Töne sind nur schwebende Analoga die sich bald mehr diesen bald mehr jenen nähern gewöhnlich an den Enden mehr consonantisch in der Mitte mehr vokalisch. Eben so den Gegensaz zwischen Rede und Gesang als Gegensaz gemessener und chaotischer Schwingung. Dieser tritt in Conflict mit vorigen[.] | Beim Gesang tritt die Articulation etwas zurück; so wie bei der Rede das rhythmische zurüktritt. Die Rede knüpft sich unmittelbar an das bisher behandelte objective Bewußtsein was beim Gesang nicht der Fall ist. Der Mangel an Articulation so wie an Rhythmus bei den Thieren hängt also zusamen mit dem Nichtauseinandertreten des objectiven und subjectiven Bewußtseins. Um aber nun zu wissen, wie sich beides verhält müssen wir von der Sprache wieder zurükgehn zu den primitiven menschlichen Lauten[.] XXXII. Lachen und Weinen vor der Sprache. Lezteres ursprünglich nur organischer Reiz ersteres mit Anerkenung des menschlichen 1 Form … Sprache.] am linken Rand ohne Einfügungszeichen

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verbunden. Beides abgewendet von der Articulation, zugewendet dem Gesang wie denn auch beide die beiden musikalischen Hauptdifferenzen des heitern und wemüthigen repräsentiren, welche auch erkennbar bleiben beim Gesang ohne daß er die Sprache zu Hülfe nimmt. Die den gemessenen Ton oft unwillkührlich begleitende Geberde ist ihm gleichartig und bildet mit ihm ein Ganzes. Der Gesang nimmt die Sprache nur auf eine untergeordnete Weise zu Hülfe um den subjectiven Bewußtseinszustand auch durch das Gedankenspiel zu erläutern welches an die Poesie annähert die uns aber jezt zu weit aus dem Wege liegt. Richtung auf Mittheilung wächst mit der Entwiklung des Systems. Wo diese ganz fehlt ist auch nur organischer Reiz. Die allmählige Entwiklung der Gegensäze ist also auch hier nicht zu läugnen, aber sie ist auch ursprünglich angelegt, und auch hiedurch die objective Seite schon ursprünglich von der subjectiven geschieden. Wie der Gesang nur seine ganze Ausdehnung erreicht wenn er die Sprache zu Hülfe nimmt so auch die Rede nur wenn Rhythmus und Betonung. Zweite Frage. Ob das Verhältniß zwischen Denken und Sprechen ganz einfach ist wie inneres und äußeres oder zusamengesezt, das können wir erst ausmitteln wenn wir nocheinmal auf das Verhältniß zwischen dem sinnlich objectiven Bewußtsein und dem Denken zurükgehn. Haben wir erst Bilder von einzelnen Gegenständen so ist es nur in derselben Richtung fortschreitend wenn wir die einzelnen Exemplare als solche vergessen und nur das allgemeine Bild der Art und so auch das Gattungsbild = Schema festhalten. Diesen ganzen Reichthum von allen Abstufungen können wir im Bewußtsein haben ohne Sprache oder eigentliches Denken. Sehn wir nun dies als die Hauptsache bei der Sprache an: so entsteht die Vermuthung sie sei entstanden durch das sich Mittheilen wollen welches nur sehr schwierig mittelst Darstellung der Bilder könte vollbracht werden. | XXXIII. Die Sprache als organisches Product hat also einen gemeinsamen Siz zwar mit Gesang, aber es ist beides zusammen betrachtet eine Differentiirung derselben ausströmenden Thätigkeit welche Manifestation sein will. Aus dem subjectiven Gebiet gehn zwar Elemente in die Sprache über, Interjectionen die sich aber auch von allen andern als inflexibel unterscheiden. Sie sind dort nur Nachbildungen der Naturlaute aber jeder Versuch mißlingt die Sprache selbst im Ganzen so zu erklären. Die Hauptfrage ist nun die: reiht sich das Denken so an das sinnliche Bewußtsein an daß die Worte nur Uebertragungen der allgemeinen Bilder sind zum Behuf der Mittheilung oder ist es eine 1 zugewendet] folgt )Q R* korr. aus Q R )QWorinR das*

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andre Seelenthätigkeit die mit dem innern Sprechen zugleich aus einem bloß innerlichen Impuls ausgeht. Nomen und Verbum sind freilich nur Uebersezungen der allgemeinen Bilder ins hörbare: sie könnten eben so gut in demonstrative Bewegungen übersezt sein und daß der Prozeß bei den lezten (mit Taubstummen) doch auch seinen Gang geht zeigt daß das Bild dabei noch dominirt; aber das Wesen des Denkens ist auch nicht in den Elementen sondern in der Combination derselben im Saz. Die Ansicht das Denken aus dem bildlichen Bewußtsein zu erklären ist dieselbe mit der Erklärung der Sprache aus der Nachahmung der Naturlaute. Die Ansicht die Sprache aus göttlicher Mittheilung zu erklären ist dieselbe mit der Erklärung des Denkens als einer von dem bildlichen Bewußtsein verschiedenen Seelenthätigkeit. Die unmittelbare Verknüpfung aber von Subject und Prädicat ist nicht aus dem bildlichen Bewußtsein zu erklären. XXXIV. Wären diese beiden Elemente das Wesen des Denkens dann könnte man es als Umgestaltung der Wahrnehmung ansehn zum Behuf der Mittheilung. Nun aber ist außer der Flexibilität der Wörter zum Behuf der Sazbildung und allen formellen Sprachelementen auch noch die ganze Masse von Substantiven und Verben welche nicht aus den Bildern abstammen können, so wie alle combinatorischen Sprach Elemente. In diesem zusammenhängenden Bewußtsein also ist das eigenthümliche Wesen des Denkens. Die Bilder sind dessen unfähig und geben immer nur ein Nebeneinandergestelltes. Diese Richtung auf die Vereinigung des Bewußtseins ist also die auf das Wissen. Dieselbe geistige welche auch schon im Wahrnehmenwollen ist, die aber in der Sprache eine neue Stufe ersteigt[.] Indem aber doch das von den Bildern ausgehende Element nicht abzuläugnen ist so repräsentirt dieses die untergeordnete Richtung der Sprache auf das Verkehr wo die Mittheilung vorzüglich das Sprechen motivirt, die aber natürlich auch das andere Element an sich zieht und ohne dasselbe ebenfalls nicht bestehn könnte. | XXXV. Die Kinder eignen sich zunächst nur die Namen der Schemata an und sprechen eben so von sich wie von einem Gegenstand. Mit dem Ich sagen geht erst die rechte Sazbildung an, woraus hervorgeht wie genau dieses eigenthümliche Wesen des Denkens mit dem SelbstBewußtsein zusammenhängt. Daß es wesentlich Sprache ist deutet allerdings auch auf Mittheilung und darauf daß das SelbstBewußt2 bloß] folgt )sinnl* 8 das] folgt )Sprache mit dem* 19 noch] über )nicht* 33 Gegenstand.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen: Herbart Sprachenwerden als SelbstBewußtsein und als das Sein aussagend 32–36 Vgl. Herbarts Auseinandersetzung mit Kant in Herbart: Psychologie als Wissenschaft (1825), Bd. 2, S. 260

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sein im Denken wesentlich auch GattungsBewußtsein ist. Darum will alles Wissenwerdenwollendes Denken auch ein gemeinsames werden. Wie nun das Ichsagen das Innere ist zu der Mannigfaltigkeit der Affectionen so geht auch das Wissen auf das Innere des Sein aus. Daher werden auch die Bilder wenn diese Richtung sich entwickelt andere, nicht das Verhältniß der Dinge zum Einzelwesen oder zum Menschen aussagend, sondern die Verhältnisse der Dinge unter einander. Sprachen, in welchen noch die eigennüzigen Bilder vorherrschen, sind auch solche in denen sich das Wissen noch nicht entwikkelt. – In der eigentlichen Denkthätigkeit findet sich am meisten auch das bloß innere Sprechen durch lange Reihen fortgesezt, die aber schon um deswillen immer den Stempel der Unvollendung tragen und erst beim äußeren Heraustreten für abgeschlossen erklärt werden. Zugleich aber erscheint auch das innere Sprechen als alle Lebensmomente beständig begleitend und die Stetigkeit des SelbstBewußtseins hieran haftend. Wir stehn hier zugleich wieder an der Grenze des metaphysischen. Es giebt eine entgegengesezte Schäzung beider Momente. Das intellectuelle wird für Täuschung erklärt[;] damit hängt zusammen das Bestreben alle Sprachelemente aus sinnlichen Eindrücken abzuleiten. Das empirische wird vom Denken ausgeschlossen und dies hängt zusammen mit dem alle individuellen Bezeichnungen in die allgemeinen auflösen zu wollen. Die Denkthätigkeit erscheint in ihrer Entwiklung als die Stärke der sinnlichen Organe vermindernd weil das Bewußtsein sich mehr an die Namen heftet; aber wenn das Wissen die Richtung auf die Natur nimmt reproducirt sich diese Stärke aus einem höheren Impulse und bekommt dann auch den höheren Charakter der Beobachtung und der Divination. XXXVI. Vergleicht man die Sprache sofern sie die Bilder umbildet isolirt betrachtet mit der Sprache sofern sie vom SelbstBewußtsein ausgehend combiniren und das innere darstellen will: so kann man sich erklären die | wenn sie vollkommen durchgeführt wird entweder die Einheit der menschlichen Natur oder die Einheit des einzelnen Lebens aufhebende Theorie von einer zwiefachen Potenz des Bewußtseins. Aber sie ist deshalb unrichtig weil jenes Isoliren nicht stattfindet und auch das gemeinste Verkehr hat das innerliche und combinatorische Element in sich. – Neben dem wissenschaftlichen finden wir nun aber auch noch das poetische; zu gewissen Zeiten und in gewissen Formen dem Gesang sich verbindende, überall sich unterscheidend als freie Composition wesentlich aus dem die Bilder repräsentirenden 30 will] will isolirt betrachtet 33–34 Bewußtseins.] am linken Rand ohne Einfügungszeichen: NB[.] Das erste wenn einige Menschen nun nur auf dem einen Standpunkt stehn das andere wir in jedem Augenblick nur ganz auf dem einen stehn

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Sprachgebiet. Von Einigen freilich wird dieses ganz verworfen weil anfangs auch alle Composition poetisirt und Prosa nur fürs gemeine Leben ist; aber darauf ist um so weniger zu geben als dies dieselben sind die auch das speculative Element im Wissen verwerfen. Wir können aber dies Gebiet hier nur anführen da es unter den allgemeinen Begriff der Kunst gehört. Beide sind auf verschiedene Weise gebunden und frei und die ganze Function stellt sich so: Das bloß begleitende innere Sprechen ist nur das Wahrnehmenwollen auf die eigenen Zustände gerichtet und sofern ganz gebunden und wesentlich das zweite. In der Composition und der Willensbestimmung ist das innere Sprechen das erste also die Selbstthätigkeit überwiegend[.] Das denkende Auffassen und Mittheilen steht in der Mitte zwischen beiden. XXXVII. Die D i f f e r e n z d e r Sp r ac h en ist nicht bloß organisch auch nicht bloß eine Differenz des Reichthums sondern sie sind gegen einander irrational. Dies giebt einen scheinbaren Widerspruch[.] Die Sprache geht, weil sie Mittheilung ist von der Voraussezung der Identität des denkenden Princips in Allen aus; es manifestirt sich in derselben aber eine durchgängige Differenz des Denkens. Um nun diesen Widerspruch zu lösen wollen wir versuchen die Erklärung von jeder Seite aus für sich. Von der einen Seite aus würde also zu sagen sein es sei natürlich daß der Mensch nur die Identität vorausseze bei dem Stammes und Sprachgenossen, von Andern wegen Unvernehmlichkeit Störung besorge und sie feindselig behandle. Dies erweitert sich hernach wenn Verein und Sprache zusamenwachsen bleibt aber wesentlich dasselbe. Lösungen bieten sich aus der allgemeinen Sprache die aber nie von dieser Ansicht aus ist versucht worden und Sprachgemeinschaft auf das Verkehr bezogen. Aber diese lezte läßt immer die Differenz des Denkens übrig und die erste ist auch von der andern Seite aus doch niemals zu Stande gekommen: so daß von dieser Seite nicht gelingen will beides mit einander zu verbinden[.] | XXXVIII. Von der Einheit des Denkens aus müßte man voraus sezen daß die Differenz nur auf die Natur Differenzen zurükgehe nämlich theils auf die organischen theils auf die in der äußeren Welt gegebenen. Die von hier aus in Anregung gekomene Idee sei es nun einer allgemeinen Sprache oder einer Pasigraphie stellt sich die Aufgabe die Sprachelemente zu zerlegen in das an und für sich identische und in das durch Reduction zu identificirende differente. Allein die Reduction gelingt nicht und die Aussonderung auch nicht da die Differenz auch in die am meisten innerlichen und combinatorischen Elemente eingeht. Doch kann eine Allen gemeinsame Wissenschaft nur gefunden werden auf diesem Wege. Als Durchgangspunkt stellt sich aber auch hier von selbst die möglichste Gemeinschaft aller Sprachen. Ein Saz kann nur wiedergegeben werden durch Combination im ein-

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zelnen verschiedener Elemente. Aber die Uebertragung einer Schrift welche auf diese Weise aus der Uebertragung einzelner Säze zusammengestellt wäre wird nie eine so genaue Auflösung sein als wenn sie eben so aus einer Combination im einzelnen verschiedener Säze besteht. Und dies wendet sich von selbst auf die Gesammtheit der Sprachen an. Das Denken jeder Person ist ein individuelles[.] XXXIX. Wäre nun die Identität des Wissens nur in denen mit der Totalität des individualisirten Wissens zugleich welche selbst alles wissend es in allen Sprachen in der eigenthümlichen Weise jeder aussprechen könnten, d. h. sie ist in der Zusammengehörigkeit und Auflösbarkeit alles aus differenten Elementen bestehenden individualisirten Wissens. Die Totalität alles Wissens ist aber nichts anderes als die Analyse des Begriffs Welt, dieser also überall identisch; und wo er durch ein einfaches Zeichen ausgedrückt ist muß dieses auch identisch sein: wobei freilich auch immer noch von der geschichtlichen Art der Entwiklung des Begriffs (anders in Welt und anders in κόσμος) abstrahirt werden muß. Dem gegenüber stellt sich ein ähnliches Element, das Sein an sich; und diese beiden am meisten überall identischen Angelpunkte sind es zwischen denen alle Differenzen sich entwikkeln von dem einen identischen ausgehend und zu dem andern hin. Das subjective Bewußtsein auf seinen höheren Stuffen[.] Das subjective Bewußtsein hatten wir nur bis zur sinnlichen Thätigkeit entwickelt. Der Gegensaz angenehm und unangenehm war hier von außen bestimmt. Er ist aber auch | von innen bestimmbar durch veränderte Circulations und Assimilations Verhältnisse rein leiblich. Diese Erweiterung aber schließt keine Erhöhung ein. Der Analogie nach könnte diese nur da statthaben wo der Gegensaz nicht auf das persönliche SelbstBewußtsein sondern auf das gattungliche bezogen würde. Im geselligen Zustande entwickeln sich eine Menge von Verhältnissen welche das SelbstBewußtsein bestimmen; aber wenn gleich geistiger ist dieses doch auch keine Erhöhung[.] XL. Daß aber von den selbstischen auf gesellige Verhältnisse sich gründenden Empfindungen die eigentlich geselligen sehr verschieden sind das sieht man am deutlichsten aus den vermischten Empfindungen wo das selbstische und das gesellige auf den entgegengesezten Seiten des Gegensazes stehn kann. A n merkung. Das Zusamensein des angenehmen und unangenehmen auf dem sinnlichen Gebiet ist etwas ganz anderes doch so daß das ungleiche hier auch in verschiedenen Functionen sein muß[.] Hier ist wie beim Denken das GattungsBewußtsein die Hauptsache und dieses wird an und für sich als erweiter7 XXXIX.] korr. aus Q R 21 Das … Stuffen[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen 36–39 A n m erkung … muß[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen

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tes und erhöhtes Leben aufgenommen; es beruht auf der Anerkennung des menschlichen als uns gleichen. Diese Anerkenung beginnt freilich sehr zeitig und lange vor der Aneignung der Sprache (die aber auch ohne jenes nicht möglich wäre) dafür aber auch mit einer Indifferenz zwischen geselligem und selbstischem in der noch fortwährenden Lebensgemeinschaftlichkeit zwischen Vater und Mutter aus welcher sich erst das übrige allmählig entwickelt[.] XLI. Die weitere Entwiklung von hier aus durch Familie Stamm und Volk hat immer noch den Zusammenhang mit dem selbstischen aber wir finden auf der andern Seite in großen geschichtlichen Erscheinungen daß dieser Zusamenhang sich trennt um eines anderen willen z. E. des religiösen indem Ein Volk in verschiedene religiöse Gemeinschaften zerfällt und verschiedene Völker sich zu Einer religiösen Gemeinschaft vereinigen. (A n merkung. Es kommt hier nicht auf das Wesen des religiösen Elements selbst sondern nur auf das Geselligkeitsverhältniß an.) Hier ist eine Identität gesezt für alles menschliche Sein (zumal wenn eine Religion die entschiedene Tendenz hat Weltreligion zu sein) in dem Verhältniß zu dem absoluten Sein. Hernach finden wir ein Ueberschreiten in dem Gebiet des Verkehrs über die Grenzen des Volkslebens worin also die Abstoßung des fremden untergeht und die sich ohne Beziehung auf eigennüziges Geschäft zur Gastfreiheit veredelt, endlich auch Wahlanziehung außerhalb der verwandschaftlichen und Volkskreise bis zum Connubium unter verschiedenen Racen. Hier wirkt überall das GattungsBewußtsein zur Unterdrükkung der geselligen Beschränktheit eben so auf der subjectiven Seite, wie auf der | objectiven nur nicht unter der Form des Begriffs. Die persönliche Wahlanziehung ist freilich auch nur ein Interesse des Einzellebens und nicht immer überwiegend des geistigen aber das Verhältniß geht doch unmittelbar durch jenes höchste Bewußtsein durch[.] XLII. Wir würden diese Entwiklung des SelbstBewußtseins für vollständig ansehn können, wenn nicht der eigenthümliche Inhalt des religiösen Elements uns schon vorgekomen wäre. Nun wird zwar häufig geläugnet daß das nicht hieher gehöre indem Einige denselben zum objectiven Bewußtsein Andere ganz zu den Willensbestimungen rechnen. Offenbar aber äußert sich Andacht ursprünglich durch Ton und Geberde, die Rede tritt erst später ein, und offenbar findet sich Andacht schon in solchen Klassen und Zuständen wo an eine Entwik13 Völker sich] über )Zusamenste* 26 Begriffs.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen und mit acht senkrechten Strichen versehen: Gegensaz von menschlicher und sachlicher Critik von ErkentnißVermögen und BegehrungsVermögen 35 Willensbestimungen] Will über )Erleb*

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lung des Gedankens Gottheit nicht zu denken ist. Der Grund liegt darin daß zumal im Christenthum und am meisten in dem unsrigen eine große Masse von Gedanken in der religiösen Mittheilung umlaufen, wobei man sich nicht erinnert daß diese anderwärts auch zu den natürlichen Aeußerungen als Ergänzung hinzukommt. N a t u r ge f ü h l [.] Ist nun offenbar, daß in den frommen Bewußtseins Zuständen nicht eine gesellige Beziehung sondern eine auf außerhalb menschlichem [beruhende] zum Grunde liegt: so ist dieses nicht eine Fortsezung der bisherigen Reihe, sondern wir müssen eher voraussezen sie hänge mit einer andern zusammen welche schon Beziehung auf nicht menschliches enthielt[.] Dies sind nun die Naturgefühle welche mit den Bestimtheiten des allgemeinen Sinnes anfangen. Aber sie erhalten einen höheren intelligenten Charakter allerdings mit dem objectiven Bewußtsein verbunden aber doch nicht aus demselben entspringend in dem Wohlgefallen an der Natur. Der primitive Eindruck ist hier immer das ursprüngliche; wir fangen dann an über den Zusamenhang zu reflectiren aber wie dieses überhaupt selten ein bestimtes Resultat giebt so wird auch in keinem Fall der Eindruck dadurch abgeändert und ist also auch nicht dadurch bestimt worden. Wird nun die Empfänglichkeit für diese Eindrücke durch einseitige praktische Richtung oder ausschließendes abstraktes Denken abgestumpft: so sieht man umso bestimter daß sie dem SelbstBewußtsein angehören. XLIII. Das Wohlgefallen am Schönen ist offenbar dasselbe auch an der menschlichen Gestalt aber nicht zusamenhängend mit Gattungsbewußtsein, sondern gleichartig dem Naturgefühl sofern die Gestalt ein Theil der irdischen Natur ist, aber Eindruck bezieht sich auf die Form sezt also objective Auffassung voraus aber was an dem Eindruck Lebenshemung (im häßlichen) oder Förderung ist geht nicht auf den Zustand in dem sich diese Function befindet das häßliche wird nicht schön wenn es auch auf das genauste aufgefaßt ist. Also ist ein anderes aufzusuchen. Der Gegenstand steht vor uns als Theil | [der] Welt aber auch als einzelnes zum Schema. Keins ist auszuschließen. Das eine ist anwendbarer bei dem was dem allgemeinen Leben angehört, das andere mehr bei dem individuellen[.] Hier ist nun häßlich die Erscheinung welche in dem Schema nicht aufgeht wo also die bildende Kraft durch fremde Potenzen gehemt erscheint. Jedes Lebensgebiet macht Anspruch auf einen freien Spielraum von Differenzen die aber noch mit Leichtigkeit das Schema zurükrufen und was in diesem Gebiet liegt ist das gleichgültige. Das Schöne also ist das wodurch das 6 N a tu r g e f ü h l [.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen gen*

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Schema selbst in seiner Reinheit vergegenwärtigt wird und woraus sich die Differenzen erklären[.] XLIV. Als gleichartig ließe sich hier anschließen das Wohlgefallen am ethisch schönen welches sich noch auf dieselbe Art erklären läßt, aber dann auch am Kunstschönen[.] Allein bei diesem ist das Kunstwerk wesentlich das frühere also das Wohlgefallen, wiewol gleichartig dem unsrigen, doch nur aus der Production zu verstehn. Die Naturschönheit muß soviel möglich ein Bild der Welt sein in ihrer Beziehung auf den Menschen. Also Manigfaltigkeit und Fülle, Natur und Kulturbeziehung. Das meiste ist indifferent, das positiv belebende ist das Schöne. Wir haben aber das Maaß nur für unsern klimatischen Typus[.] – Das Erhabene ist mehr auf der Naturseite als auf der menschlichen. Der Eindruk ist der einer unerschöpflichen Kraftfülle von der wir uns niedergedrükt fühlen aber zu der wir auch immer wieder zurükmüssen. Einzelne menschliche Gestalt macht diesen Eindruck nicht wenn nicht eine auf das Unendliche berechnete Absicht mit darin liegt (wie Olympischer Jupiter)[.] Die Quantität thut nichts nur daß in dem kleinen die unendliche Kraft nicht zur Anschauung komt. Religiöses Gefühl[.] XLV. Das religiöse Gefühl hat am meisten Aehnlichkeit mit dem lezten. Auch wurden die Tempel in der Nähe erhabener Naturscenen gebaut. Aber wie kommen wir zu der Voraussezung? Wir müssen eine unmittelbare Richtung auf das Unendliche annehmen[.] Der Gegensaz zwischen dem bewußten Sein als Gattung und dem dem Bewußtsein gegebenen Sein muß im SelbstBewußtsein aufgehoben werden, also es muß dabei afficirt sein von einem Andern. Also offenbar von einem worauf es nicht reagiren kann. = absolutes Abhängigkeitsgefühl. Die Bezeichnung des Etwas worauf dieses geht wird imer eine symbolische sein. Das Gefühl findet sich auf allen Stuffen der Entwiklung und erweitert sich mit dieser. Es giebt von jedem Punkt aus einen Uebergang zu demselben wie auf jedem der aufzuhebende Gegensaz sich findet. Es wird daher ebenso als ein constantes postulirt wie das SelbstBewußtsein als Ich. Alles was auf der Gefühls Seite übergangen zu sein scheint kommt zur Sprache wenn von den psychischen Differenzen die Rede sein wird. | XLVI. Uebergang zur Spontaneität. Wie dieselbe schon in der Denkfunction aufgenommen worden[.] Wie diese endet in Wissenschaft und Kunst in welchen beiden das 6 wesentlich das frühere] über )Q R* 19 Religiöses Gefühl[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen 20 XLV] X korr. aus L 25 gegebenen Sein] korr. aus Q R 37 XLVI.] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen: Uebergang zur Spontaneität.

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maximum von Selbstthätigkeit ist; wie aber die erste die wissend gewollte Erweiterung des objectiven Bewußtseins ist. Die andere nur die Kundgebung des individuellen Seins in wissend gewollten Gedankenreihen. Von hier aus zurükgehend finden wir Gedankenzustände die nicht wissend gewollt und auch nicht durch eine gewollte Oefnung des Sinns bewirkt sind. Ja sogar solche die gegen unsern Willen in uns sind, was freilich nur bestimmt wahrgenommen werden kann wenn der Wille auf Denken gerichtet ist und andere Denkthätigkeiten vorkommen welche jenen Willen unterbrechen. Beide Endpunkte sind schwer verständlich[.] XLVII. Wenn wir uns die gesammte Denkthätigkeit eines einzelnen auf dem maximum vorstellen wollen: so dürften es auch nicht aneinanderstoßende Reihen [sein] welche jede von einem gewußten Denkenwollen ausgehn. Denn das Denken wollen selbst geht nicht wieder auf ein gewußtes Denkenwollen selbst zurük entsteht mithin ohne Wollen und steht nicht auf dem maximum. Also dürfte es nur Eine Reihe sein, der Zwekk müßte dann sein die Idee Welt zu entwikkeln. Die ganze Entwiklung müßte sich systematisiren, die Lage des Denkenden in der Außenwelt dürfte eben deshalb nicht von Einfluß sein und die Kunstseite ganz leer bleiben. Dies wäre vollkomne Unnatur. Zu diesem fingirten bildete dann den strengsten Gegensaz die Masse der freien Gedankenerzeugung als Spiel von Einzelheiten die sich aus der jeden Moment neuen innern Lebendigkeit erzeugen. Aus dieser aber bilden sich die Zwekbegriffe als einzelne Momente heraus. Eben so aber auch die Kunstconceptionen. – Wenn auch jene innere Lebendigkeit zurüktritt erscheint als minimum das an nichts denken, womit man doch etwas anderes sagen will als Nicht denken; es ist das Zurüktreten des Denkens zur bloß begleitenden Reflexion wie es auch bei angestrengten Thätigkeiten anderer Art das einzige bleibt so auch hier ein Sich selbst vorstellen im Zustand der Abspannung. XLVIII. Die gegen den Willen vorhandenen Vorstellungen rühren auch aus der freien Beweglichkeit her und bezeichnen nur daß der Willensimpuls nicht stark genug ist diese ganz zu beherrschen. Also ist maximum dieser in seiner größtmöglichen Kraft minimum die freie Beweglichkeit bis zur allgemeinen Abspannung aller Functionen niedergedrückt. Beide Formen aber verhalten sich so daß das | gewußte Wollen sofern es nur aus der freien Beweglichkeit hervorgeht unter der Potenz von dieser steht. Denn je mehr diese abgespannt ist um desto weniger Willensbestimmungen kann es geben. Da aber die freie Beweglichkeit sich nur wieder herstellt wenn jene Concentration nachläßt: so steht sie auch wieder unter der Potenz von jener. Beide 18 müßte] folgt )Unnatur sein*

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also einander gleich und das ganze selbstthätige Leben ein Wechsel zwischen beiden. Eine zweite Differenz ist diese. Wie auf der Seite der Receptivität sich bald das GattungsBewußtsein entwickelte so ist auch die Selbstthätigkeit bald persönlich bald das im Einzelnen wirkende Gattungsleben. So wird der einzelne nur durch dieses. Die willkührlichen Bewegungen des Neugebohrnen sind Indifferenz von Reaction und Spontaneität. Wenn diese sich auflöst entsteht mehr oder weniger Conflict zwischen Persönlichkeit und Gattung bis beide wieder zur freien Zusammenstimmung gelangen. Es fragt sich nun wie dieser Gegensaz zu dem vorigen steht. XLIX. Um die Frage wie sich die Richtung auf die Persönlichkeit und die Richtung auf die Gattungen zu den beiden Formen der Selbstthätigkeit dem gewußten Wollen und der freien Lebendigkeit verhalten müssen wir darauf zurükgehn daß das GattungsBewußtsein anfängt mit der Anerkenung Anderer als Menschen und das sich ihnen mittheilen wollen ist das die Gattung wollen. Also auch das sie in sich aufnehmen d. h. die Empfänglichkeit für die in der Gesamtheit umlaufenden Vorstellungen in sich aufzunehmen als auch in einzelnen Momenten hervortretend ist dem Gattungwollen angehörig, offenbar aber unter der Form der freien Beweglichkeit. Wogegen wenn wir uns einen Conflict denken so ist das den Conflict aufhebenwollen ein gegen die widerstrebende Persönlichkeit gerichtetes Gattungwollen aber offenbar unter der Form des gewußten Wollens; also hier beide. Wie ist es auf der Seite des persönlichen? L. Das Werden der Persönlichkeit ist nur das Resultat von dem Spiel der inern freien Lebendigkeit, so wie sich dieses selbst durch die zum Grund liegende Eigenthümlichkeit bestimmt. Daß die Fortentwiklung der Persönlichkeit auch wird durch die Thätigkeiten welche vom bewußten Wollen ausgehn liegt darin weil auch diese mit der Persönlichkeit verrichtet werden. Die Frage ist nur, ob es ein bewußtes Wollen gebe, welches auf Bestimmung der Persönlichkeit ausgehe. Dies läugne ich und zwar nicht nur den Erfolg sondern auch die Richtung. Denn es müßte einer sich selbst anders wollen d. h. sich selbst nicht wollen. Unstatthafterweise führt man hiebei das sich sittlich bessern wollen an. Dies ist aber keine andere Bestimung der Persönlichkeit denn eben die Persönlichkeit, das gegebene Verhältniß der Functionen wird sittlicher d. h. vernünftiger[.] | Denn die Vernunft die gar kein Quantum ist geht nicht in die Formel der Persönlichkeit ein, so daß diese eine andere würde, wenn die Vernunft an Einfluß zu oder abnimmt. Es läßt sich auch nicht einsehn womit eine Veränderung der Persönlichkeit sollte bewirkt werden. Denn alles was in das Gebiet der Uebung und der Vernachlässigung fällt geht ebenfalls aus der Persönlichkeit hervor. Der Schein eines solchen Wollens entsteht nur aus

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dem eignen Nichtgelingen und dem Reiz der Nachahmung. Der lezte aber geht nie auf das Sein sondern nur auf das Haben oder Thun. LI. Alle Selbstthätigkeit des Einzelwesens ist immer nur Entwiklung der Persönlichkeit aber nicht hinausgehn aus derselben da selbst die bestimten Entschlüsse welche das Uebungsquantum einzelner Functionen bestimmen nur in der Persönlichkeit gegründet sind – Nächstdem ist auch noch ins Auge zu fassen das Verhältniß einer Thätigkeit zur Totalität ihres Gegenstandes; die Richtung auf einen vorgezogenen Theil nennen wir Neigung, so wie das Hervorragen einer Thätigkeit über die übrigen wir Talent nennen. In dieser Beziehung sind zwei Endpunkte zu beobachten das maximum der Einseitigkeit und das maximum der Gleichmäßigkeit. Denken wir uns ein Gesammtleben ganz nach der ersten Art construirt so wird es reich sein an aller Virtuosität aber die Gemeinschaft wird nur durch ein schwaches Band zusamengehalten weil sie einander wenig ähnlich mithin wenig verständlich sind. Ganz nach der Andern wird umgekehrt die Virtuosität fehlen[.] Zwischen diesen Endpunkten liegen aber alle Differenzen. Den Inhalt anbetreffend so sind alle Aeußerungen der Selbstthätigkeit theils Selbsterhaltungstrieb theils SelbstManifestation theils Besizergreifung der Dinge. Allein alles dieses ist nicht von einander zu trenen und jedes immer zugleich das andere. LII. Die SelbstManifestation ist K unst. Die ursprüngliche Aeußerung enthält die Elemente dazu, die zusamengesezten Werke sind nur Gruppirungen von jenen. Selbst in der Dichtkunst dominirt in den Gedankenreihen das bildliche, und die freie Zusamenstellung ist nur Darlegung der eigenthümlichen Weltansicht und Verknüpfungsweise. Sobald die Zusamenstellung einen bestimten Zweck hat z. E. Belehrung so sehn wir sie nicht als Kunst an und wenn auch die Form hier hinein verwickelt wird (versus memoriales) so machen wir auch an diese keine Kunstansprüche[.] So ist auch Kunsttendenz an allem was Besizergreifung ist aber als etwas besonderes indem wir uns durch das für den Zweck zufällige in der Gestaltung manifestiren[.] Indem nun Manifestation Mittheilung sein will und Andere voraussezt so geht sie freilich vom GattungsBewußtsein aus aber es ist doch in der Form der Persönlichkeit. Sehr oft wird durch die Kunstleistung | vorzüglich dargestellt die eigenthümliche Richtung der Rececptivität. Das Besizergreifen ist an und für sich nicht um sein selbst willen sondern für die Selbsterhaltung im weitern Sinn und zu dieser gehört denn auch die Manifestation weil sie ein wesentliches Lebenselement ist, so daß sich der Ring vollkomen schließt[.] 39 zu] korr. aus für

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LIII. Um die Kunst ganz als Selbstmanifestation zu verstehn müssen wir auch der Receptivitätsweise eine Manifestation zugestehn. Virtuosität des Auffassens und Nachbildens der Gestalten = Plastik; der Gestalten unter der Potenz des Lichts = Malerei; der menschlichen Handlungsweisen = Poesie. Ursprünglich productiv ist Musik (auch Mimik) weil alle gemessenen Töne nur menschliches Werk sind[.] Eben so ursprünglich ist der metrische Theil der Poesie aber auf das inigste mit dem materiellen Theil der Conception verbunden. Die Kunst dringt auf diesem Wege auch in das theoretische und praktische Gebiet der Sprachmittheilung ein, so wie die bildende Kunst in alle Besizergreifensacte. – Das Wohlgefallen an der Kunst verhält sich zu der Productivität in der Kunst nur wie mehr und minder. Die Kunstentwiklung ist ungleich je nachdem die geselligen und Naturumgebungen das Schöne (eine vollkomene Durchdringung von Schema und Individualität) oder das erhabene in die Anschauung bringen. Dasselbe Talent das unter günstigen Umgebungen zur Production geweckt wird, bleibt unter ungünstigen auf der Stufe der Empfänglichkeit. Besize r g r e i f e n d e T h ätigkeit[.] LIV. Zu dieser gehört alles was Naturbeherrschung ist. Diese fängt allerdings an in der Indifferenz mit dem Selbsterhaltungstriebe. Aber Plato hat recht daß man überall den Erwerb vom Geschäft trennen muß. Jene Indifferenz ist überall wo Alle Alles allein verrichten. Damit verträgt sich die dem thierischen analoge Verschlossenheit des Sinnes[.] Die Indifferenz hört erst auf mit der Theilung der Arbeit und verkündigt sich dann durch Beharrlichkeit bei einer gewissen Art von Einwirkung auf die Natur auch wenn das Resultat für den Selbsterhaltungstrieb eher ungünstig ist. Von diesem Zeitpunkt an erwecken sich Erkenntnißtrieb und Beherrschungstrieb gegenseitig. Im Großen betrachtet giebt es imer Gesammtheiten die noch jenen Kindheitszustand repräsentiren. Aus diesem gehn manche Völker heraus indem sie durch ihre Vermehrung gedrängt werden ihre Wohnsize zu verlassen und komen dann zu Völkern, welche schon in der Theilung leben. Unter andern erwacht in Einzelnen von Seiten des Erkentnißtriebes die Wanderungslust und die Uebertragung des Bessern geht allmählig vor sich. Indem nun aber jeder nicht für sich allein bildet sondern für die Gesammtheit und die Idee nach welcher gebildet wird nur die der 15 bringen] bringt 17 ungünstigen] u korr. aus U 18 Besize r g r e i f e n d e T h ätigkeit[.]] am linken Rand ohne Einfügungszeichen 20 in] über )mit* 34 und die] folgt )Reformation* 21–22 Vgl. Platon: Sophistes insbesondere 219a–e; Opera 2,205–207; Werke 6,228– 233

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Gesammtheit ist so ist auch hier die überhandnehmende Herrschaft des GattungsBewußtseins unverkennbar. Selbsterhaltungstrieb[.] LV. Muß in seinem ganzen Umfang gefaßt werden. Das Seelewerden ist zwar kein Wollen für unser Gebiet; es kann auch nur eine speculative Fiction sein wenn man es als einen Trieb des Geistes an sich oder als Gattung betrachtet ansieht. Aber der SelbstErhaltungstrieb ist nun doch nur dies Seelebleibenwollen, worunter also sowol die Richtung auf das Wissen als die auf die Kunst enthalten sind. Der Besizergreifungstrieb erscheint dabei zunächst nur als Mittel; allein dies ist ein Gegensaz den wir immer wieder aufheben müssen. In günstiger Natur erscheint dieser als maximum während oft die beiden andern ganz zurükgedrängt sind, so wie in ungünstiger diese nicht hervortreten weil jener keine Resultate liefert. Im lezten Fall findet Beruhigung statt weil das Bewußtsein der Aufgabe sich nicht hat entwickeln können, und die Correction liegt in dem anderwärts rege gewordenen Triebe das menschliche aufzusuchen, dann entsteht Verlangen nach dem bessern. Im ersten Fall sollte der Widerspruch empfunden werden der im Befangenbleiben in den Mitteln liegt; es geschieht nicht weil Kunst und Wissenschaft sich nur mit dem GattungsBewußtsein entwickeln wenn diese Entwiklung zurükbleibt. Dies ist die eigentliche sittliche Richtung. LVI. Wenn wir den Selbsterhaltungstrieb so fassen so ist er nicht etwas einzelnes sondern die Lebenseinheit in ihrem Verhältniß zur Gesammtheit der Functionen, das Fortfahrenwollen zu sein was man ist. Will man die physische Lebenserhaltung besonders hervorheben so begünstigt man nur zu leicht die Ansicht daß alles andere nur um dieser willen gewollt werde und dadurch wird die Wahrheit des Bewußtseins verfälscht. Sezen wir nun aber dies allgemein so scheint zu folgen will Jeder als der fortbestehn der er ist: so wird vorausgesezt daß Jeder schon vor aller Selbstthätigkeit ein bestimmter ist und dies scheint zwei Ansichten gegen sich zu haben[.] Eine gewisse Vorstellung von Freiheit auf der einen Seite, und eine Vorstellung von ursprünglicher Gleichheit auf der andern. Von der lezten aus wird behauptet theils jeder werde was er ist durch eigne Willkühr, theils durch die äußeren Einwirkungen. Das leztere verwandelt das Leben ganz in Mechanismus, das erste hebt alle Zuversicht auf indem dieselbe Willkühr auch das durch die Willkühr gewordene vernichten kann. Wird hingegen angenomen daß etwas bestimtes ursprünglich angelegt sei: 3 Selbsterhaltungstrieb[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen, mit geschweifter Klammer unterlegt 12 maximum] folgt )während die andern* 13 zurükgedrängt] drängt korr. aus QleitetR 32 zwei] korr. aus QeineR

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so müßte dann die Freiheit darin bestehn, dieses angelegte wieder aufzuheben, und auch diese Aufhebung könnte jeder folgende Act der Willkühr wieder aufheben. Eben so müßte die Gewalt äußerer Einwirkungen troz des angelegten aus Jedem jedes machen können. | LVII[.] und LVIII. Der SelbstErhaltungstrieb als Quantum betrachtet bietet dar die größte Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. – Die feigherzige Anhänglichkeit welche das Leben um jeden Preis und unter jeder Gestalt will, die Unterordnung des Einzellebens unter das Gesamtleben, das Beendigen des Lebens durch eine freiwillige Handlung. Schon jenes Unterordnen ist auf niedriger Stufe der Bildung nur ein scheinbares wo nämlich die Differenz zwischen beiden noch gar nicht herausgetreten ist, stumpfsinige instinktartige Dranwagung für das Ganze. Nur auf hoher Bildungsstufe giebt es wahre Tapferkeit. Dann aber müssen wir auch die zwiefache Richtung des Triebes unterscheiden, und nicht der Trieb wird überwunden sondern nur eine Richtung desselben durch die andere. Hiebei ist nun zugleich Betrachtung anzustellen über die Vorstellungen von Unsterblichkeit. In diesem Zusamenhang wenn man von denen die sich auf besondere religiöse Ueberlieferung gründen abstrahirt erkennt man gleich ihren Ursprung im SelbstErhaltungstrieb. Sie fehlen nur in dem rohen Zustande in welchem noch kein freies Spiel mit Bildern stattfindet; sie entwickeln sich dann auf der sinnlichen Stufe als Schattenleben analog dem Traum wie der Tod dem Schlaf. Wo das intelligente dominirt entwickeln sie sich unter der Form von sittlicher Fortschreitung. Aber auf derselben Stufe entsteht auch eine Polemik gegen sie welche sichtlich mit der Dranwagung der persönlichen Existenz zusamenhängt, um nämlich diese ganz als Aufopferung ohne Rükhalt zur Darstellung zu bringen. Daß indeß dieser Skepticismus sich am Ende der Entwiklungsreihe findet beweist nichts gegen die Wahrheit der bezweifelten Vorstellungen; auch das nicht, daß wir ihren natürlichen Ursprung in SelbstErhaltungstrieb sezen denn dieser kann ja auch durch sie gerade die Wahrheit unsres Seins ausdrücken. Wenn man indeß erwarten sollte daß dieser Glaube den Selbstmord befördern werde da der Tod ja unter dieser Voraussezung nur ein Durchgangsmoment wie jeder andre wäre, und es findet sich das Gegentheil so ist dies vorzüglich in dem religiösen Ursprung zu suchen. Finden wir nun im Dranwagen sowol als wenn der Fall denkbar ist im Selbstmord aus intellectuellem Gesichtspunkt kein Ertödten des SelbstErhaltungstriebes so bleibt uns nur noch die Frage wie der Selbstmord aus sinnlichen Motiven zu erklären ist. 5 Der] korr. aus Das

16 andere] korr. aus Q R

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Die Vorlesung im Sommersemester 1830

LIX[.] Der Annahme daß diese noch übrige Art Seelenzerrüttung sei steht die andere gegen über, daß es solche gar nicht gebe sondern dies imer Erscheinungen körperlicher Ursachen wären. Wir können uns hierauf nicht einlassen indem die Frage von Seelenkrankheiten in den 2ten Theil gehört. QAberR wir können uns die Thatsachen erklären aus zwei schon aufgestellten Momenten. Einmal kann ein Versunkensein in den Moment die ganze Zukunft vergessen machen. Es soll ein unerträglicher Moment beendigt werden und man beendigt das Leben[.] Zweitens |

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Zweit er, const ructi ver Theil[.]

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Zu diesem bildet der SelbstErhaltungstrieb den Uebergang weil er schon eigentlich auf die Gesamtheit der Functionen geht und das Einzelwesen constituirt. Wir haben nun das Leben zu begreifen als Wechsel von Zuständen und die Persönlichkeiten als den Inbegriff der Möglichkeit der menschlichen Gattung. Aber man versteht die einzelnen Persönlichkeiten nur in ihren großen und unter den großen wieder unterscheiden sich solche von starkem und von schwachem Entwiklungs Exponenten. Leztere stellen dann in großen Reihen von Generationen nur denselben Zustand dar, und die Individuen unterscheiden sich dann auch weniger[.] Geschlechtsdifferenz[.] LX[.] und LXI. Nach Maaßgabe des vorigen. Uebergewicht des subjectiven Bewußtseins damit auch individueller Anschauung. Durch Wirkung auf die erste Jugend steht im Total Einfluß das weibliche Geschlecht dem männlichen gleich[.] So auch ist das SelbstBewußtsein in seiner höchsten Entwiklung als Frömmigkeit der höchsten des objectiven gleich. Zurükstehn in Kunst und Wissenschaft weil in beiden nur nachbildend[.] Vom öffentlichen Leben durch die Natur zurükgezogen[.] Temperamentsdifferenz[.] LXII[.] und LXIII. Nach Maaßgabe des vorigen Heftes

5 QAberR] unsicher wegen Tintenflecks 10 Z w e i t e r, c o n s t r u c t i ver Theil[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen 21 Geschlechtsdifferenz[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen 30 Temperamentsdifferenz[.]] am rechten Rand ohne Einfügungszeichen 31 Gemeint ist das Manuskript 1818, vgl. oben S. 95–99

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3. Also physiologisches noch das begleitende – Auf der andern Seite das metaphysische. Ob auch als einwohnend ausgeschlossen z. E. Ideen angeboren p. Also alles immer wie es in der Identität w ird. Alles dialektische als Beziehung auf das Sein ausgeschlossen, der Gegensaz von Wahrheit und Irrthum als Erscheinung gehört uns. Auf die Frage zurük vor den Anfang. 4. Zusamenschauung der Schwierigkeiten den Anfang zu sezen, und Lösung derselben durch die Sprache. Die verschiedenen Auffassungen der Seele 5[.] Wie wir zum θρεπτικον stehen[.] Frage über Bewußtsein und ἀσωματον. Dies geht auch auf Sprache (Zeichen) zurük[.] Alles auf das Ichsagen als Manifestation also als GattungsBewußtsein im SelbstBewußtsein zurükgeführt. 6[.] Das GattungsBewußtsein führt auf die Differenzen; und es entsteht die Frage ob diese nur in äußerem gegründet sind oder nur leiblich oder auch ursprünglich psychisch. Sie scheint vorher beantwortet werden zu müssen weil sie auf die ganze Anlage Einfluß hat. Denn sind sie etwas ursprünglich psychisches, so müssen sie auch besonders behandelt werden. Liegen sie außerhalb unsres Gebietes so beschränkt sich auch unsere Untersuchung auf die einzelnen Functionen in ihrer Besonderheit. Beispiel von der Geschlechtsdifferenz. 7[.] Die Volksdifferenzen schließen sich an. Die durch die Sprache gegebenen Differenzen im Denken[.] Aber auch im einzelnen Leben die Differenzen der Combination von vorausgesezten gleichen Prämissen geben beim weiteren Hinaufrücken das Resultat, daß jeder Einzelne schon ehe er Gegenstand für uns wird, ein Anderer geworden ist sei es nun ursprünglich oder durch äußere Einwirkungen oder durch bloß leibliche Verschiedenheit. 8[.] Wir würden also Zwei Theile haben. Aber große Vorsicht mit den Ausdrücken. Für den elementaren Theil stünde uns ein ganz empirisches zu Gebot, aber dies würde endlos sein und müßte sich im 4 in] korr. aus im 20 Liegen] korr. aus Liegt zwischen Stunde 7 und 8 mit Einfügungszeichen

23–24 Die durch … Denken[.]]

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Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34

constructiven Theil aufs neue wiederholen. Also müssen wir suchen ein ordnendes Princip zu haben, indem wir uns auf unser einfaches I c h - s a g e n zurükziehen[.] |

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[Elementarischer Theil] 9[.] Das einfache Ichsagen hält doch eine Duplicität in sich weil wir uns nie schlechthin sondern imer irgend wie finden. Es giebt kein Ichsagen ohne Unterscheiden und also ein anderes entgegensezen, wir stellen etwas vor, wir empfinden von etwas her, wir wollen etwas. Dies ist das mit dem Ich gesezte Du im weiteren Sinne abgesehn von aller Mehrheit menschlicher Individuen. Ohne dieses wäre das Ichsagen selbst nicht zeitlich, nicht gesonderter Moment. Aber dieses Einssein des Ich und seines Wechsels führt auf den Begriff des Lebens zurück 10[.] Leben als Organismus im Gegensaz des Mechanismus nach dem ersten Aristotelischen Merkmal. Innere Bewegung beginnt freilich auch nicht ohne gewisse Reaction 11[.] Vermischte Beispiele um zu zeigen daß überall in den einzelnen Momenten ein mitwirkendes ist sowol in gewollten Gedankenreihen als im Gedankenspiel, und daß dieses überwiegend die leibliche Seite ist in ihrem Zusamenhang mit dem Außer Uns. 12. Mannigfaltigkeit dieses Verhältnisses bis zu den Extremen. Aber sobald eines von beiden Gliedern auf Null kommt befinden wir uns außerhalb unseres Gegenstandes. Die Ernährung wie sie hinter der Befriedigung des Hungers anfängt, liegt außer uns. Bewußtsein fängt erst allmählig nach der Geburt an[.] Fortwirkende Bewegung seit dem. Leztere hört auf vor dem Tode, während die geistigen Thätigkeiten noch in der Vollkommenheit sind. 13. Also quantitativ existiren alle Differenzen aber auch Gleichheit beider Factoren im minimum überhaupt als Lebensverminderung und im maximum als ἀκμη. Dynamisch giebt oft Bewegung den Impuls und das Bewußtsein ist receptiv; dann auch Bewußtsein den Impuls und Organismus ist receptiv. Wir hätten also Receptivität und Spontaneität zu betrachten. (Gleichheit findet hier nicht statt weil es keinen Wechsel gäbe an dem man die Momente unterscheiden könnte[.]) Nun aber treten die materiellen Differenzen ein theils im Außeruns oder aber auch als verschiedene Verrichtungen. 1 Theil] folgt )Q R sein* 2 wir] folgt )Qunser EndeR* 11 zeitlich, nicht] folgt )QgesichtetR* 19 dieses] dieses Q R 20 Uns] korr. aus uns 30 als] folgt )Q R*

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14. 15[.] Weitere Erörterung über die Quadruplicität. Receptivität besondere gemeinsame Spontaneität besondere gemeinsame 16[.] Die Eintheilung muß vollständig sein wenn es keine immanenten d. h. ohne organischen Antheil verlaufende giebt. Dergleichen scheint es zu geben, bloß inerlich | bleibendes Denken und Bilden. Dies ist aber nur abgebrochen, und gehört einem auf Aeußerung gerichteten Willen an. Also Spontaneität in beiden. Eben so träumende Fantasien, was man thun würde in diesem und jenem Fall welches nur gleichsam Erweiterungen und Anticipationen des eignen Afficirtseins sind. Also Receptiität. – Von unsrer bisherigen Aufstellung scheint sich die gewöhnliche Terminologie ganz zu entfernen. Dabei aber zu bemerken daß viele von diesen Ausdrükken auf für unsern Standpunkt untergeordneten Unterscheidungen beruhen die also in der weiteren Ausführung vorkommen werden[.] Andere aber von der Art und Weise des Ueberganges von einem Moment zum andern reden, also daß sie erst in unsern constructiven Theil gehören[.] 17[.] Die Frage von dem Uebergang gehört aber in sofern auch hierher als es darauf ankommt zu wissen wie sich diese verschiedenen Thätigkeitsformen in Beziehung auf ihre Zeitlichkeit gegen einander verhalten. Die beiden gewöhnlichen entgegengesezten Theorien des Bestimmtseins der Seele lediglich durch äußere Einwirkungen und der Selbstbestimmung durch absolute Freiheit gehn mit unserer Grunderklärung des Lebens nicht zusammen. Die erstere hebt die Spontaneität auf, weil das Bestimmtsein nur Passivität ist und äußere Einwirkungen in jedem Moment da sind; aber die Selbstthätigkeit kann dann nur Reaction sein[.] Die absolute Freiheit hebt alle Receptivität auf und ihre consequente Durchführung ist auch nur der Berkeleysche Idealismus der die Vorstellungen der Außenwelt auch als Wirkungen der Seele allein sezt. Wir fangen also die Sache von vorn an mit der Frage wie verschiedenhaltige Momente im lebendigen zu denken sind. Die erste Annahme ist die, daß sie so aufeinander folgen daß die jezige Null war, als die vorige währte und Null wird während die vorige beginnt[.] 18[.] Dieses würde die Continuität des Lebens aufheben, was gegen unsere Voraussezung ist wozu noch das Bewußtsein komt daß wir in jedem Moment auch viele frühere noch theilweise mit haben. Eben so wenig ist das mit dieser Hypothese verbundene ausschließende Vor10 sind.] korr. aus sind, 27–28 In Schleiermachers Bibliothek befanden sich: Berkeley, George: Three dialogues between Hylas and Philonous, London 1725 [SB 183]; Alciphron, or The minute philosopher. In seven dialogues, Bd. 1–2, London 1732 [SB 184].

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handensein einzelner Functionen mit dem bisherigen verträglich weil dann die Vollständigkeit des Lebens nur in einer unbestimten Reihe von Momenten wäre, nicht in jedem wozu noch das Bewußtsein kommt daß wir in jedem Moment entweder SelbstBewußtsein und GattungsBewußtsein haben und so auch auf der andern Seite beide Glieder[.] Wir können uns also diese Formen nur vorstellen als immer thätig mithin auch jeden | Augenblik nur als ein Zusamensein derselben und den ganzen Verlauf nur als ein Auf und Abwogen. Um die Bestimmungsgründe hievon in Zukunft zu finden werden wir aber zu keiner von jenen einseitigen Theorien geführt werden schon deshalb weil beides Receptivität und Spontaneität immer da ist. Wenn wir nun die Elementarformen näher betrachten wollen wird es immer nicht gleichgültig sein bei welcher wir anfangen, weil natürlich das schon bekannte dominirend wird, und wir können diesem nicht anders entgehn als wenn wir bei jedem von Anfang an zugleich auf das entgegengesezte Glied sehen[.] 19. Als die ersten beiden Momente können wir ansehn Geschrei und Oefnen des Auges beide lassen sich als Receptivität und als Spontaneität ansehn; ersteres als gegen Lichtreiz und Luftreiz lezteres als Selbstmanifestation und als Aufsuchen der Außenwelt[.] 20. 21. Hautsinn und Gesichtssinn als Elemente des besonderen und des gemeinsamen[,] ersterer als Empfindung lezterer als Wahrnehmung (nicht zwar der Gegenstände, sondern nur der Lichtdifferenzen, die aber doch äußerlich gesezt werden) sind die Anfänge des SelbstBewußtseins und des Bewußtseins der Außenwelt. Jene Empfindung geht nun durch die Reflexion in Wahrnehmung über, an und für sich ist sie ganz intransitiv. Die Gesichtswahrnehmung aber geht nie in Empfindung über ohne gestört zu werden[.] Die Empfindung ist überwiegende Receptivität deren psychisches Resultat unmittelbar gar nicht erscheint, sondern nur indirect als Hemung bei Extremen mithin auch zwischen diesen als Richtungsbedingung indem wir in der einen körperlichen Stimung lieber dieses in der andern lieber jenes wählen ohne uns dessen bestimmt bewußt zu sein. 22. G e r u c h steht dem allgemeinen Sinn zunächst und ist auch nur auf die Atmosphäre, aber auf locale Processe in derselben gewiesen, die Wahrnehmung wird erst aus einem Complexus von Kenntnissen denn der Saz die Blume riecht ist nur der unbestimte Anfang einer Wahrnehmung. G e s c h m ak k ist dem Geruch genau verwant als Empfindung, aber er komt nicht aus dem Gesamtsein sondern bedingt 14 weil] davor )Q R* 20 ersteres als] als über der Zeile mit Einfügungszeichen 25 äußerlich] äußer korr. aus inner 30 Receptivität] Re korr. aus Spon

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durch bestimmte Berührung eines bestimmten Gegenstandes, und von dieser Seite nähert er sich dem Tas t s i n n . Dieser gleicht in der Objectivität dem Gesichtssinn; nur wie das Gesicht ursprünglich ein Ganzes giebt und in diesem Sonderungen: so wird uns durch den Tastsinn ein Einzelnes ganz | und gesondert, und so allmählig erst ein Aggregat von Einzelnen. Daher ergänzen sich nun beide am unmittelbarsten und die Anwendung des Tastsinns auf die Bildergränzen giebt uns erst Gegenstände. Nehmen wir nun mit Beiseitsezung des Hautsinnes alles zusamen so erscheint auch die gesammte Sinnesthätigkeit nicht als ein abgeschlossenes Ganze. Einige Sinne sind leitend d. h. sie regen zu anderen Operationen auf so Gesicht und Gehör, der Tastsinn folgt diesen. Denn ursprünglich ist dieser nur wirksam bei unwillkührlichem Widerstand[.] Hier der Ort zur Ve r gleichung mit dem thierischen. Der Gegensaz zwischen subjectivem und objectivem tritt darin nicht vollständig heraus[,] eine allgemeinere Oefnung der Sinne ist nur scheinbar, denn das Thier nimmt von dem was nicht zu seiner Selbsterhaltung gehört keine Notiz. Der Sinn wird nur durch den Trieb aufgeregt und geht auch nur auf den zurük. Die menschliche Sinnesthätigkeit entfernt sich von der thierischen imer mehr aber sie kann doch auch in den ersten Momenten nicht mit ihr identisch sein. 23. Die Differenz beruht nun von dieser Seite angesehn auf der Bestimmtheit des Bewußtseins die aus der Bestimmtheit der Gegensäze entsteht, und auf der Freiheit der Operationen des Bewußtseins von dem Zusamenhang mit dem persönlichen Triebe[.] Beides hängt genau zusammen[.] Was das Thier zu seiner Existenz bedarf gehört in dasselbe und es giebt kein anderes außer ihm was es festhält, so daß hierin beides dasselbe ist. Für den Menschen giebt es auf allen Punkten der Aussagen des Hautsines die Möglichkeit einer Willensreaction also Gegensaz von Verweichlichung und Abhärtung. Und alle Operationen die sich an die Thatsachen des Gesichtssinns anschließen sind ganz frei von der Beziehung auf die Selbsterhaltung. Wenn aber doch in dem Begriff des Lebens die Wechselbeziehung liegt und die ganze Skala des thierischen Lebens nur eine Steigerung dieser Wechselbeziehung ist bis zur Annäherung an die Vollständigkeit des menschlichen Sinnensystems und an seine freie Beweglichkeit so muß doch auch das menschliche Leben unter diese Form gebracht werden können. 24. Das vollständige R e s u l t at al l e r S innest hä tig keiten wenn sie Wahrnehmungen geworden sind ist das a usg eführt e We l t b i l d (Bild im weiteren Sinne genommen.[)] Hierauf geht also auch schon die Oefnung der Sinne. Da aber das einzelne Ich hiezu 19 zurük] korr. aus aus

23 aus] auf

24 Bewußtseins] folgt )welche*

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nicht gelangt so wird dieser Impuls von dem im Ich gesezten GattungsBewußtsein gegeben und der einzelne Leib als Organ für dieses in Besiz genommen. Dieses Weltbild nun ist eben so wesentlich zum Sein des Menschen gehörig wie das was jedes Thier aufnimmt zu dem seinigen. 25[.] Hiegegen die skeptische Ansicht welche zugleich niedrig egoistisch ist, das Interesse an der Wahrheit sei ein erkünsteltes und werde eben so von den Klügeren den übrigen eingebildet wie es mit der Idee des Rechts der Fall ist denn es sei ihnen möglich auch die Vorstellungen Anderer für sich in Anwendung bringen zu können. | Daß dieses Interesse in sehr verschiedenen Graden vorhanden ist und mancher manches von sich weiß als nicht in seinen Bedürfnißkreis gehörig ebenfalls. Eben so geht es mit der Berichtigung des Irrthums, wiewol die Neigung dazu auch sehr allgemein verbreitet ist. Demohnerachtet können wir hier die Ansicht nicht als völlig widerlegt ansehn, sondern wollen sie stehn lassen und nur bei vorkommenden Fällen sehen wie sich die beiden Voraussezungen verhalten. 26. Offenbar entstehen aus beiden verschiedene Vorstellungen von dem was der gesunde und natürliche und von dem was der kranke und gestörte Verlauf des Seelenlebens ist, und diese Differenz müssen wir als Thatsache stehn lassen, die jedoch erst anderwärts ihre Erklärung finden kann. Die Frage wie nun aus den einzelnen Wahrnehmungen das Welt Bild entsteht gehört freilich einerseits auch anders wohin, andrerseits aber auch hieher, insofern wir nur bei dem stehn bleiben was von der Sinnesthätigkeit ausgeht. Offenbar wenn das daraus entstandene Bewußtsein mit dieser Thätigkeit selbst verschwände käme nie ein Weltbild zu Stande. Sollen wir aber sagen es bleibt oder es kann wieder erneuert werden. Das lezte würde eine eigne Function erfordern, das erste nicht. Vergleichen wir dieses Factum mit dem, daß bisweilen aus der Sinnesthätigkeit auch kein Bewußtsein entsteht wenn unsere Aufmerksamkeit anderswohin gerichtet ist, so läßt sich auch denken, daß wir um sein Bleiben nicht wissen weil unsre Aufmerksamkeit sich abgelenkt hat. Ein Schlüssel liegt in der Thatsache des Sichbesinnens. Da haben wir die Vorstellung indem wir uns fragen wie war das; aber wir haben sie auch nicht; aber das nicht gehabte wird aus dem was wir haben[.] Die Sprache bezieht Gedächtniß auf das Festhalten, Erinnerung auf das Produciren und nimt also beides an. Wer ein gutes Gedächtniß hat braucht sich weniger zu erinnern[.] Auch das in der Sprache niedergelegte allgemeine Bewußtsein nimmt also als zu 6 25] korr. aus 26

26 der] folgt )Q R*

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Grunde liegend die Beharrlichkeit des Bewußtseins an und läßt sich nur daraus das bestimtere Hervortreten entwikkeln. 27[.] Es giebt nun noch zwei weiter auseinander liegende Erklärungen. Die der prästabilirten Harmonie welche das Bewußtsein ganz von der organischen Thätigkeit löst und beide nur parallel laufen läßt und die der Plattnerschen materiellen Ideen. Die leztere | schiebt ein Mittelglied ein ohne allen Nuzen denn es bleibt dieselbe Aufgabe zu wissen wie das Verhältniß zwischen diesen und der Vorstelung ist wenn das Bewußtsein ruht und wenn es erregt wird. Die erste hebt die Einheit des Lebens von der wir ausgegangen sind völlig auf. Das thut aber auch schon die Theorie welche das Bewußtsein verschwinden läßt und gelegentlich wieder erzeugen. – Denn sie verwandeln das Leben aus einer stätigen Einheit in ein Aggregat durch leere Zeit getrennter Momente. Wir müssen also vorläufig für die Erklärung entscheiden welche mit unserer Grundvoraussezung stimmt. Also die durch die Sinnesthätigkeit gewordenen Vorstellungen sezen wir als bleibend aber nur mit jedem späteren Moment zum kleineren Theil ausfüllend aber dann abwechselnd wieder hervortretend theils freiwillig theils gesucht nach einer uns noch unbekannten Regel. Die Verschiedenheit des Weltbildes erklärt sich nun von dieser Seite theils aus der quantitativen Verschiedenheit der einzelnen Sinne in mehreren, theils auch aus der quantitativen Verschiedenheit der auf das Geöfnetsein gerichteten Willensacte. Die Empfindungs Seite der Sinnesthätigkeiten am meisten repräsentirt durch den allgemeinen Sinn ist weit mehr unwillkührlich und deshalb richtet sich das Subject gegen sie. Nämlich man kann den Punkt wo die Vorstellung oder auch jede andere Thätigkeit durch die Empfindung gehemmt oder aufgehoben wird weiter hinausschieben indem die Richtung auf jene Thätigkeit verstärkt also die Empfindung weniger ins Bewußtsein aufgenommen wird. Hieraus der Gegensaz zwischen Abhärtung und Verweichlichung, der aber nicht so positiv, wenigstens nicht auf der psychischen Seite ist als er scheint. Denn wenn der Raum der freien Bewegung sich wirklich verringert so ist das mehr eine organische Folge. Geschieht aber kein Willensimpuls dagegen so komen Andere, die von Natur hinter jenem zurück waren ihm voraus, und er scheint mithin zurükgekommen zu sein[.] 28. Da nun warm und kalt Gegensäze sind Schmerz und Schmerzlosigkeit, wenn es auch kein positives Gesundheitsgefühl giebt eben12 erzeugen] korr. aus Q R W korr. aus QMR oder QVR

13 einer] einem 13 stätigen] korr. aus Q R 15 die] korr. aus das

6 Vgl. Platner (1793–1800), Bd. 1–2 [SB 1488]

14 Wir]

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falls so ist die Gesamtheit der Empfindungszustände nur im Nacheinander, mithin, wenngleich das Gesammtgefühl jedes Momentes auch ein mannigfaltiges ist das Gesamtergebniß nur im Nacheinander, nur das SelbstBewußtsein des Ich um seine gesammte Veränderlichkeit[.] Mit diesem zugleich wird es auch ein Bewußtsein von wachsender oder abnehmender Willenskraft [geben] um dem hemmenden Einfluß der Empfindungszustände auf die Selbstthätigkeit entgegenzuwirken. Wir stehn also nach dieser Ueber|sicht auf einem Punkt, wo wir von den Wahrnehmungen Uebergang sehen zum Denken und von den Empfindungen zum Handeln. Jedoch nicht so als ob lezteres nur Reaction auf die Empfindung wäre, denn wir haben schon ursprüngliche Spontaneität bei den Sinnen selbst angenomen. Aber wir müssen zuvor noch mehr ins einzelne gehn. Der Totalgesichtseindruck giebt keine Sonderung von Gegenständen, denn was wir als gegenständliche Einheit sezen ist für das Gesicht doch manigfaltiges. Es entsteht also die Frage woher die Einheiten kommen. – Für das Gehör ist der Raum eben so bunt erfüllt[.] 29. Wenn wir nun auch die andere Seite in den Vorbereitungszuständen nachtragen wollen: so kommen wir zunächst auf die D a rs t e l l u n g . Jede Empfindung pflegt nun solche hervorzubringen, und in den ersten Anfängen ist der Schein ganz dafür daß es eine rein organische Reaction sei[.] Aber das ist nur das minimum. Wir finden hernach die Darstellung als offenbar bezogen auf andere Individuen. Hier ist also die Thätigkeit des GattungsBewußtseins in der Voraussezung unverkennbar[.] Wenn nun aber auch darstellende Aeußerungen vorkomen wo kein wahrnehmender ist, da ist also das Subject selbst das wahrnehmende. Das Impuls gebende muß aber hier dasselbe sein welches die Stetigkeit des SelbstBewußtseins befördern will[.] Wie es sich dort zwischen zwei Individuen vermittelt so hier zwischen zwei Momenten. 30[.] Die werkthätigen Bewegungen sind theils auf Selbsterhaltung und diese am meisten das Analoge mit dem thierischen. Dann aber auch am meisten veranlaßt dadurch daß sich in der chaotischen Gesichtsmasse etwas bewegt (oder auch sonst sich bestimmt als Eines heraushebt) dieses zu prüfen. Das zum Munde führen würde auch als Verirrung des Selbsterhaltungstriebes schon eine Befreiung von den thierischen Schranken beweisen[.] Es ist aber dieselbe combinatorische Richtung zur Ergänzung des Sehens. Wie schon in den darstellenden Bewegungen eine Richtung vorauszusezen ist auf Wiederfinden des menschlichen (also Vorauswissen um ein noch nicht gewordenes Bewußtsein, Platonische αναμνησις) eben so ist in jenen die Richtung 41 Zu Platons Konzept der Anamnesis vgl. Platon: Menon 81c–86d; Opera 4,351– 362; Werke 2,539–557; Phaidon 72a–77a; Opera 1,163–174; Werke 3,51–67; Phaidros 249a-253a; KGA IV/3, S. 222–252

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auf das getheilte Sein in seiner Bestimmtheit. Die so entstehenden Bilder schwanken zwischen dem Moment, dem einzelnen Ding und seiner Art[.] 31. Wie sich also der chaotische Wahrnehmungszustand sondert so entsteht der Gegensaz zwischen menschlichem und sächlichem, das erste ruhend auf dem sich sondern beider Elemente des Ich dem GattungsBewußtsein und dem | EinzelBewußtsein das lezte auf der Ungeschiedenheit desselben welches sich nur erst ändert indem es anders als Wahrnehmung und anders als die Empfindung bewirkend auf das menschliche bezogen wird. Vergleichen wir nun auf diesem Punkt unsre bisherige Entwiklung mit den gewöhnlichen Ausdrücken ErkentnißVermögen und Begehrungsvermögen so können wir dies beides nicht so scheiden weil dem Erkennen immer schon ein Begehren zum Grunde liegt, und ein so großer Theil des Begehrens sich im Erkennen endigt. Wir werden am besten sagen, (abgesehn davon daß wir mit Vermögen gar nichts zu thun haben) daß das eine (BegehrungsVermögen) die Thätigkeit zu früh ergreift denn Begehren ist nur Bewegung der Selbstthätigkeit nach irgendwohin; das andere aber (ErkenntnißVermögen) zu spät indem das fertige von der Selbstthätigen Bewegung zurückbleibende Bewußtsein darunter zumeist verstanden wird. 32. So weit mußten die Hauptfacta gebracht werden um weiter zu gehn zu dem Denken mittelst der Sprache. Zu diesem finden wir keine Brücke von den zwischen momentanem einzelnen und allgemeinem schwankenden, und nach diesen Richtungen verschiebbaren Bildern. Dazu kommt noch der üble Umstand daß wir jezt die Sprache nur überliefert empfangen von denen die sie schon besizen. So kann der erste Mensch sie nicht empfangen haben, da eine solche Differenz in dem bisherigen nicht hervortrat. Hätte er sie nun auf einem andern Wege bekommen so wäre sie auch für ihn etwas anderes gewesen, und der Begriff der menschlichen Natur wäre nicht derselbe zwischen ihm und uns. Daher liegt uns ob eine Anknüpfung zu finden für die Sprache und eine solche Genesis derselben wodurch der Widerspruch zwischen dem ersten Menschen und uns vermittelt wird. Die Anknüpfung finden wir in den darstellenden Momenten Ton und Geberde die sich freilich sowol physiologisch als auch logisch unterscheiden aber doch eine analoge Action des psychischen Agens auf den Organismus haben[.] 33. Wenn wir von der gesonderten Mannigfaltigkeit sinnlicher Bilder keinen Uebergang zur Sprache finden: so müssen wir versuchen 4 31.] korr. aus 31, 8 sich] über der Zeile ohne Einfügungszeichen )entste* 34 zwischen] korr. aus QvonR

8 erst] folgt

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mit der organischen Seite anzufangen. Hier kennen wir den darstellenden Ton in Verbindung mit der darstellenden Gebehrde und wie sich jener zur Wortsprache verhält, so dieser zur Zeichensprache. Es fragt sich, ob | beides sich auch gegen einander verhält, wie subjectives und objectives Bewußtsein. Der Ton in der Sprache ist articulirt, Gegensaz von Selbstlauter und Mitlauter (Analoges in der Bewegung) fehlt bei den Thieren eben weil beide Seiten des Bewußtseins nicht recht auseinandertreten. – Die Duplicität daß sich Darstellung primitiv auf Andere bezieht (mithin auch mit der Liebe connex ist) aber dann auch einsam vorkommt findet hier auch statt, und es fragt sich nur ob jenes ebenfalls das primitive ist, dann würde sich diese Connexität auch leicht ergeben. Die Neigung dieses zuzugestehen hat sich schon darin gezeigt, daß wir zuvor die Liebe glaubten ans Licht bringen zu müssen; aber es bedarf noch einer Nachweisung. Beim Auffassen der Bilder ist das selbstthätige agens in einem Wechsel von Expansion und Contraction auf der Skala des Interesse und dieses gehört mit in den Zustand des Ich. Entsteht nun durch Contraction ein bedeutendes Interesse so will ich dieses auch darstellen, und das Zeigen auf den Gegenstand ist nun eine in das Gebiet der Zeichensprache gehörige Bewegung. 34. Wie Tonsprache und Zeichensprache sich gegen einander verhalten sieht man an den Taubstummen, deren Unfähigkeit die Sprachwerkzeuge zu gebrauchen vom Mangel des Gehörs abhängt. Nämlich nicht als ob das Reden ganz als Nachahmung aus dem Hören entstände, sondern nur weil äußeres und inneres Gehör so genau zusammen gehören daß ihnen eben so gewiß das vorbildende innere Gehör abgeht. Daher wirft sich nun die Richtung auf das Denken in ein anderes Organ und erzeugt ein System von Bewegungen, die sich eben so an die darstellenden anreihen, aber auch sich von ihnen unterscheiden wie die Wörter von den darstellenden Tönen. Dieses System wird ihnen so hinreichend daß sie es auch hernach wenn für die Tonsprache das Gehör durch Gesicht und Tastsinn ersezt ist, doch vorziehn[.] Man sieht aber auch hieraus zugleich wie es innere Selbstthätigkeit ist, welche auf diesem Entwiklungspunkt überschlägt und das bildliche Bewußtsein in Denken umsezt. Dies zeigt sich auch darin daß die Kinder selbst im Erfinden der Sprache begriffen sind sich nicht selten eigne artikulirte Silben und Wörter bilden und diese erst allmählig gegen die welche sie schon im Besiz finden vertauschen. Allein wenn wir dies bloß auf | die Bilder der Gegenstände, also die Substantiva beschränken: so ist dies noch nicht der Besiz der Sprache. Dieser ist erst mit dem Saz da. Also auch die Bilder der Veränderungen müssen sich umsezen und erst die Beziehung beider auf einander ist die wesentliche Eigenthümlichkeit des Denkens. Indem sich

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Elementarischer Teil, 33. bis 36. Stunde

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aber die Entwiklung zuerst an die Manifestation des Interesse knüpft, ist sie auch in der unmittelbarsten Beziehung auf das menschliche Verkehr; und eben so konnte sie auch bei dem ersten Menschen erfolgen den wir ja doch im Zusammensein getrenter Geschlechter denken müssen. 35. Fängt nun die Sprache eigentlich erst an mit dem Saz, den streng genomen das bildliche Bewußtsein nicht erreicht, so finden wir nun auch die beiden Hauptelemente sich vervielfältigen auf eine Weise, welche das Bild nicht erreichen kann und combinatorische Elemente zur Verbindung der Säze welche ebenfalls aus dem bildlichen Bewußtsein nicht herstammen als welches nicht mehr kann als aus der unbestimten Verworrenheit Einzelheiten hervorzurufen. Beide sind zu erklären. Schon die einfache Combination von Hauptwort und Zeitwort im Saz deutet auf eine doppelte mögliche Unterordnung, die Thätigkeiten dem Ding unterzuordnen oder das Ding der Thätigkeit[.] Die eine hat die Richtung, indem sie die Zustände des Dinges zusamenstellt, das wesentlich seinen Verlauf constituirende vom zufälligen zu scheiden und führt auf diesem Wege aus dem bloß äußeren der Erscheinung zu dem inneren, dem Sein. Die andere indem sie die Dinge auf die Spannung der Kräfte zurükführt thut dasselbe unter einer andern Form. Dasselbe wird zu verschiedenen Zeiten auf entgegengesezte Weise behandelt. Zwischen beiden zu entscheiden würde uns in die Speculation hineinführen[.] Wir sehen hier beides nur an als in verschiedener Form dasselbe als Fortsezung desselben Prozesses der schon mit dem Auseinanderlegen der chaotischen Sinneseindrücke anfängt nämlich ausgehend vom afficirtsein durch das Sein, das Sein selbst in seiner Einheit und Vielheit im Bewußtsein zu haben und das lezte Ziel ist der an dem Weltbilde sich entwickelnde Weltbegriff. Die combinatorischen Elemente im engern Sinn drükken nun am meisten die Selbstthätigkeit des Ich in diesem Prozeß aus die auf dem gegenwärtig bleiben der Bilder zunächst beruht, die glükliche wie die unglükliche unter denselben Formen[.] | 36. Der Saz, daß das Ergreifen der Sprache aber auch nur dieses zwar ein neuer Entwiklungspunkt sei, aber der Impuls immer derselbe bleibe steht im Widerspruch mit der unter vielen Formen aufgestellten Theorie von einem zwiefachen Standpunkt des Bewußtseins, welche später im Verlauf des Denkens eine stärkere Scheidung zieht und einen neuen Impuls dort entstehen läßt. Diese Differenzen lassen sich aber erklären aus dem verschiedenen quantitativen Verhältniß dieser Function zu den andern, welches wir aber hier noch nicht sondern erst im constructiven Theil nachweisen können. Die combinatorischen Ele7 das] korr. aus den

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mente sofern sie zur Flexibilität gehören vermitteln die Einheit des Sazes durch Beziehung von Subject und Prädicat, sofern sie selbständig sind stellen sie die freie combinatorische Thätigkeit des denkenden Subjects dar. Hiebei komen die entgegengesezten Zustände der Gewißheit oder Ueberzeugung und des Zweifels vor die wir ihren Gründen nach noch nicht erklären, aber doch als entgegengesezte Zustände nachweisen können welche die Ausübung der Denkfunction begleiten. – Schließlich noch zu bemerken, daß alles gesagte sich nicht nur auf die Naturseite Dinge oder Kräfte bezieht, sondern auch auf die ganze geistige Seite in ihrer Totalität d. h. auf das ganze Geschichtsgebiet, wie denn der Ausdruck Weltbild und Weltbegriff schon beides vereinigt. 37. Wenn Ueberzeugung und Ungewißheit Zustände der Befriedigung sind und Mangel daran, also in der Analogie mit angenehm und unangenehm so ist also das in der Ueberzeugung vorgestellte Zusamentreffen des Bewußtseins mit dem Sein eine wesentliche Lebensbedingung, das Stocken auf dieser Skala eine Lebenshemung. Und wenn beides in dem bildlichen Bewußtsein nicht ist, weil nämlich hier (auch wenn der Gegensaz zwischen SelbstBewußtsein und objectivem schon im Gange ist) imer nur die Berührung, das Aeußere wiedergegeben wird worin kein Gegensaz zwischen wahr und falsch aufgenommen werden kann, sondern dieser imer nur auf das Urtheil bezogen wird welches nicht ohne die Sprache zu denken ist: so folgt daß mit dem Denkenden Aufnehmen des getheilten Seins seinem Innern nach erst diese ganze Function aus ihrem embryonischen Zustand zum freien Leben erwacht ist[.] Das Interesse an der Wahrheit erleidet allerdings auch große quantitative Differenzen aber es ist nirgend Null sondern wo zu wenig Lebenszeit auf diese Function verwendet werden kann fehlt die Uebung, die auch hier ein wichtiger Coefficient des Exponenten ist. Diese Differenzen selbst aber gehören in den constructiven Theil. Uebrig ist nun nur noch die Differenz der Sprachen die nicht nur physiologisch ist, sondern auch den logischen Gehalt betrifft. Weil kein einzelnes Element einer Sprache einem einzelnen in einer andern entspricht, so ist das Denken in jeder Sprache anders individualisirt. Hierüber giebt es eine zwiefache Betrachtung. Gehn wir auf die eigne Erfindung der Kinder zurück die sich doch gegen das schon vorhandene ausgleicht: so möchten wir sagen | Diese Differenz entstehe nur aus der zu spät eintretenden Ausgleichung und entstehe nur daraus 3 combinatorische] folgt )QReactionR* folgt )denen andrer*

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daß die Menschen erst allmählig zusamenkomen nachdem sich in jedem Volk schon eine bestimmte Denkweise organisirt hat[.] 38. Weil jedoch auf der einen Seite alles nur Analyse des WeltBegriffs ist auf der andern alles Denken auf Sein bezogen wird: so mögen wir sagen daß Welt und Sein zwei Grenzpunkte sind, die für und in allen Sprachen dieselben sind. Aber beide theilen auch dieses daß sie nicht Begriffe wie die andern sind, sondern Sein ist der Ausgangspunkt; denn was wir wirklich denken ist immer schon mehr als das bloße Sein weil näher bestimmt. Als reine Abstraction aber ist es noch chaotisch mehr oder weniger unbestimtes enthaltend wovon zu abstrahiren wäre[.] Welt ist der Zielpunkt auch nie wirklich gedacht so lange das Denken noch nicht vollendet ist. In der Wirklichkeit aber etwas chaotisches daran nämlich alles noch nicht durchgeforschte. Zwischen beiden aber bewegt sich alles Denken jener individuellen Differentiirungen. Wenn wir nun bedenken wie die uns bekanntesten Grundsprachen zusammengewachsen sind aus verschiedenen Mundarten[,] diese sich aber gegen einander ausgeglichen haben wie das in der Erfindung begriffene Kind sich ausgleicht in die Familiensprache ohne daß jedoch die Individualisirung dieses Denkens aufhört, die sich doch im Gebrauch der Sprache wieder erzeugt: so kommt man auf den Gedanken der Möglichkeit daß eben so aus allen Sprachen zusamen Eine entstehn könnte, ebenfalls ohne daß die Individualität deshalb verloren ginge. 39[.] Wenn bei einer allgemeinen Sprache, welche an die Stelle aller besondern träte, die Besonderheit sich wie im Umfang einer einzelnen Sprache nur einzeln reproducirte: so ginge die Massenbesonderheit und mit derselben die Harmonie zwischen der Differentiirung der menschlichen Natur und der äußeren Natur verloren, welches nicht sein darf. Darum ist dieses aber auch nicht möglich denn eine so gemachte Sprache könnte nicht auf | solche Weise gleichzeitig in das innere aller Familien dringen, daß nicht die besondere Sprache sich immer neben ihr reproduciren sollte. Darum wäre nun die nächste Ausgleichung eine allgemeine Sprache die nur neben den andern bestände, mithin auch nur für diejenigen welche sich mit dem Denken als dem identischen berufsweise beschäftigten, d. h. eine philosophische Sprache. Oder da diese doch unter sich mehr in Schriftverkehr stehn als in mündlichem eine Schriftzeichensprache, aus der jeder 15 die] korr. aus auf 32–1 Vgl. Schmid, Johann Michael: Vollständiges wissenschaftliches Gedankenverzeichniß zur Behandlung der allgemeinen Schriftsprache, Dillingen 1807 [SB 1728]; Von den bisherigen Versuchen, eine allgemeine Schriftsprache einzuführen, Dillingen 1807 [SB 1729]

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seine Sprache lesen könnte. Beides wurde als nicht durchführbar nachgewiesen und sonach blieb nur übrig die von beiden Seiten, von der wissenschaftlichen und der Seite des Verkehrs, gleichmäßig sich ausbildende möglichste Gemeinschaft der Sprache, allerdings unvollkommen aber doch das so einzig gemäße. 40[.] Die weitere Entwiklung des SelbstBewußtseins ausgehend von dem allgemeinen Wohl und Uebelbefinden sowol von außen als körperlich von innen angeregt kommt nun die Skala des Mehr und Wenigergefärdertseins im Auffassen der Gegenstände von den Eindrücken an welche den Sinn möglichst erfüllen ohne das Organ zu verlezen bis zu denen welche ihrer geringen Kraft wegen auch gleich als verschwindend mithin als fast Null aufgefaßt werden. Positiver Gegensaz entsteht hier nur wenn eine bestimmte Willensrichtung dazu kommt auf eine einzelne Region, ein bestimmtes Richten der Aufmerksamkeit denn hier können wir uns wahrhaft gehemmt fühlen theils durch Zerstreuung von außen, theils durch das Widerstreben des Gegenstandes. Dies alles findet sich schon wenn wir noch bei den Bildern versiren. Nun aber fragt sich was wirkt das Denken und was wirkt das durch die Anerkennung des menschlichen erweckte GattungsBewußtsein. – Die Sprache bewirkt die | Stetigkeit des SelbstBewußtseins welche in dem Ausdruck Ich liegt. Nicht als ob es buchstäblich eine solche gäbe, bis zu der können wir vielmehr niemals kommen sondern haben imer nur ausgezeichnete aber sich mehr zusammendrängende Punkte. Aber erst mit der Sprache wird das Subject in allen diesen sich selbst dasselbige Ich. – Das zweite: Sobald das menschliche so erkannt wird, daß die Personen unterschieden werden bilden sich auch die täglichen Umgebungen zu einem besondern Kreise, und es entsteht ein den Einflüssen derselben eigenthümliches Wohl und Uebelbefinden. Dies ist aber ein zwiefaches; ein selbstisches und ein rein geselliges. Vermöge des ersten kann das Leiden eines Andern für uns auch Freude werden, wenn wir nämlich von ihm nachtheilige Einflüsse zu erwarten gewohnt wären; das andere hingegen ist immer der reine Nachklang von dem Zustand des Andern[.] 41. (Anmerkung: Die Anerkennung des menschlichen tritt weit früher ein als die Sprache. Beides ist aber zusammengenommen weil vorher jenes auch noch in die Verwirrung hineinfällt indem erst durch das Ich ihre Gegensäze bestimmt auseinander treten[.]) Die selbstischen sind nur Erweiterung des rein persönlichen SelbstBewußtseins keine neue Entwicklung wol aber sind dies die rein geselligen[.] Diese theilen sich in Wahl Anziehung und Gemeinsinn (Gemeingeist als Uebergang in die Spontaneität bemerkt aber aufge28 derselben] folgt )Q R*

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spart)[.] Erstere vom Minimum der Indifferenz bis zum Gipfel der Freundschaft. Die Abstufung beruht nicht auf der Stärke des selbstischen Einflusses sondern auf der Verständlichkeit der bewegten Zustände[.] Gemeinsinn sezt Organisation voraus, die in der Familie zwar ist aber dort in der Kindheit nicht wahrgenommen wird. Er fängt an auf der Schule und geht so zum bürgerlichen Verein, am vollkommensten wenn positive Gestaltung und Naturgrenze zusammenfallen. Die Wahlanziehung hat in der Regel innerhalb derselben Organisation ihren Ort, geht aber auch darüber hinaus wie man an wissenschaftlichen und religiösen Verbindungen sieht, die aber auch danach streben Organisation zu erhalten. Aber auch der Gemeinsinn eingeschlossen den sich daraus entwikelnden GemeinGeist ist nicht das sittliche, sofern noch ein feindseliges gegen andere Organisationen darin vorkommt sondern nur wenn eben so das Gemeinwesen als Theil der Gesammtheit im wesentlichen Zusammengehören mit allen andern Theilen gesezt ist. 42. Wenn wir den Uebergang von den geselligen Affectionen zu Handlungen betrachten so finden wir noch ein eigenthümliches – so lange wir bei den Lebensaffectionen durch die äußere Natur stehn | nicht zu bemerkendes Mittelglied, nämlich den Affect der noch nicht die entgegenstrebende Thätigkeit selbst ist. Im Zustande des selbstischen Afficirtseins ist es z. E. Zorn, im afficirten Gemeinsinn Unwille θυμος. Beide sind verwandt und beruhen auf der Voraussezung daß Lebenshemmungen aus freien Handlungen Anderer, wenn sie nicht nur per accidens zu Hemmungen ausschlagen, gar nicht vorkommen sollten. Also haben sie ihren Grund im rein menschlichen. Aber dieses ist auch im Zorn Unwille, das andere beigemischte ist rein selbstisch. Ist nun alles hieher gehörige ein ganz neues Glied außer unserer Quadruplicität? Antwort daß diese zur darstellenden Function gehören, und daß dies dort weiter aus einander gesezt werden soll. Wenn wir nun aber unsere Erfahrung mit dem aufgestellten vergleichen, so finden wir daß uns noch zweierlei fehlt, das religiöse Gefühl und das reine Wohlgefallen. Das leztere ist zwar auch ein die Wahrnehmungen begleitendes Wohlgefallen aber doch von Ueberzeugung p. sehr verschieden. [Das erste eben so hat eine besondere Verwandschaft zur höchsten Entwiklung des Denkens aber es ist doch etwas anderes, und viel weiter verbreitet als alles was Denken darüber ist.] 43. Das reine Wohlgefallen als das am Schönen sowol an Naturgegenständen als an menschlicher Gestalt (auch als Natur betrachtet) 13 sofern] folgt )nicht* 30 aus] davor )hin* 30 einander] über der Zeile mit Einfügungszeichen 35–38 [Das … ist.]] eckige Klammern im Manuskript, Schlussklammer fehlt

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erklärt zugleich mit dem Mißfallen am verkümmerten verkrüppelten häßlichen einerseits als (analog dem angenehmen und unangenehmen) Wohl und Uebelbefinden aber nicht selbstisch sondern einer gemein menschlichen Function weil nämlich das allgemeine Bild (und ehe diese nicht aufgenommen sind giebt es kein solches Wohlgefallen) nicht fest bleiben würde wenn wir der Art nur verkrüppelte Figuren sehen; und jedes schöne d. h. rein als Werk der specifischen productiven Kraft ohne störende Seiten Einwirkungen dastehende erregt ein solches Wohlgefallen. Andrerseits ist es auch Mitfreude an dem Zustande der Naturkraft selbst, und in dieser Doppelseitigkeit besteht das eigenthümliche der Function. Der besondere Geschmack z. B. der Türken in Sachen der weiblichen Schönheit beweist nichts dagegen, sondern nur daß im isolirten Zustande kleiner Gesellschaften das allgemeine Bewußtsein sich nur nach Maaßgabe der besondern Constitution entwikkelt, und daß es Einen Geschmak nur vermittelst allgemeiner Auffassung der menschlichen Natur geben kann[.] | 44. Es scheint aber als ob diese Erklärung nur auf das einzelne ginge, nicht auf Zusamenstellen wie Gegenden oder Gruppen. Mißfallen haben wir an der Natur an wüstem Gedränge. Dem ersten liegt ein Bild zum Grunde von Beziehungen der Natur auf die Menschen, aber ohne irgend einen besondern Zweck im Auge zu haben. Wir verlangen die lebendigen Naturkräfte und zwar im Gegensaz des starren und flüssigen zu sehn und darin zugleich die Möglichkeit der menschlichen Herrschaft. Aber wir bleiben solange in der freien Natur im Suchen des einzelnen bis sich uns eine Masse als ein abgeschlossenes darstellt. Nur an ein solches kann die Forderung eines solchen Wohlgefallens ergehen. Eben so mit Zusamenstellungen von Menschen[.] Da verlangen wir Leichtigkeit des in Verbindung tretens zu sehn und Leichtigkeit der Auflösung. Und auch dies ist so wie jenes ein allgemeines Bild worauf wir das einzelne beziehen. Hiezu kam noch eine kurze Auseinandersezung über das Gefühl des Erhabenen. | 1834 vom 6. Januar an. 45. Ueber das religiöse Gefühl als das lezte und höchste auf der Seite des SelbstBewußtseins ist schwer etwas zu sagen aus dem Standpunkt einer allgemeinen psychischen Thatsache, also ohne falsches und wahres zu sondern. Das Selbst kann sich auch über das GattungsBewußtsein hinaus erweitern. Mitgefühl mit dem Lebenden als solchem ist schon in dem Verkehr mit den Thieren. Mitgefühl mit den Naturkräften ist im Gefühl des Erhabenen und nimmt in diesem die Furcht weg. Somit giebt es auch möglicherweise eine Erweiterung des Selbst zum Mitgefühl 8 dastehende] über der Zeile mit Einfügungszeichen von R* 27 Wohlgefallens] folgt )entstehen*

15 Geschmak] folgt )Qweder

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mit allem einzelnen und getheilten Sein als solchen unsere ganze Weltkenntniß mit eingeschlossen. Aber dies Mitgefühl kann nur stattfinden sofern in jedem solchen eine Beziehung ist auf ein anderes außer dieser Gesamtheit. Damit es aber ein solches sei muß es auch außerhalb der Wechselwirkung liegen[.] 46. 47. Weitere Erklärungen des religiösen Gefühls der Parallelismus mit dem objectiven Bewußtsein Welt und Sein[;] wenn man dahin gekommen ist so wird auch das transcendente gefordert[.] Weder das objective Absolute noch das subjective GottesBewußtsein hat man jemals allein sondern nur mit anderm (welches freilich auch allgemein gilt weil kein Moment ganz durch einen Factor erfüllt ist, hier aber doch besonders[)]. Daß ein Gleichsezen mit dem Sein an sich zum Menschen gehört ist klar weil sonst das Sein nicht ganz Bewußtsein würde. Nun aber inhärirt dem Sein an sich keine Affection als die des gänzlichen bedingtseins mithin ist auch diese Repräsentation im SelbstBewußtsein nur zu unterscheiden durch ein solches Bewußtsein; so wie wiederum[,] sofern wir uns unser selbst nur als schlechthin abhängig bewußt sind sind wir uns auch unser als Sein schlechthin bewußt[.] Wir sezen es aber für alle Momente des SelbstBewußtseins als das Kenzeichen ob sie rein menschlich sind oder gemein, je nachdem sie das | GottesBewußtsein in sich aufnehmen können oder nicht. Wo es sich ausschließt, sobald nämlich die Sonderungen zu einer gewissen Vollständigkeit gekomen sind da ist das gemeine. Wir finden es auch sowol in allen Momenten des Naturgefühls als in dem geselligen. Um aber den Gegenstand ganz zu übersehn fehlen uns noch die Momente des SelbstBewußtseins welche der Widerschein der freien Selbstthätigkeit sind. 48. Das GottesBewußtsein als SelbstBewußtsein ist nicht von außen hervorgebracht sondern nur von außen gewekt innerlich aber eben so angelegt als dem allgemeinen endlichen SeinsBewußtsein angehörig wie das GattungsBewußtsein angelegt ist und nur durch die menschliche Erscheinung geweckt wird. Dies ist also die Bedingung unter der allein das Sein kann Bewußtsein werden. S p o n t a n e i t ät [.] Vom ersten zweideutigen an immer stätiger werdend, und nur aus der Indifferenz der allgemeinen Beweglichkeit durch die äußere Anregung herausgerissen. Digression über die Herbartsche mathematische Psychologie, welche glaubt den inneren Factor als überall denselben aus dem calculus eliminiren zu können. Wir können das um so weniger, da wir schon individuelle Differenz vorausgesezt haben[.] 36–37 Vgl. Herbart (1816), sowie Herbart (1824–1825)

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49. Gehn wir nun davon aus daß auch in den receptiven Momenten Spontaneität ist und wir also die Anfänge schon haben müssen: so ergiebt | sich a[,] wo die Receptivität überwiegt, die Spontaneität als Reaction, welche nur manifestirt b[,] Wo die Receptivität nur Coefficient ist, da ist die Spontaneität α, die betrachtende welche in ihrer Richtung auf das Sein durch die jedesmalige Affection bestimmt ist, also die Productivität im Denken β, die aneignende, Besiz ergreifende die mit den ersten Aeußerungen des SelbstErhaltungsTriebes anfängt[.] Die erste hat zur Totalität ihres Resultates die Kunst. Denn jedes KunstWerk, welches ja keinen einzelnen bestimmten Zwekk haben darf kann nur Manifestation sein wollen. Dies gilt von Epos und Tragödie eben so wol wie von Mimik und Musik[.] Die zweite hat zu ihrer Totalität die Wissenschaft auf welche die Richtung von Anfang an ausgeht. 50. Die dritte wird zur Cultur oder Naturbeherrschung. In allen aber unterscheiden wir Momente die einer unmittelbaren inneren Beweglichkeit angehören, und Momente welche mit einem Vorherdenken des Thuns, einer Willensbestimmung anfangen. Und zwar nicht so daß jene nur in der chaotischen Zeit vorkomen, sondern jedes Kunstwerk selbst beruht auf einem solchen, auch jeder Anfang einer Meditation ja es ist auch auf dem Kulturgebiet dasselbe. Hier entsteht nun die Frage nach der Freiheit und ob nicht alles was als zufällig erscheint soll unter den Willen gebracht werden. [Gedanken sind eben so gut ohne den Willen da als durch den Willen, ja sie entstehen auch gegen den Willen.] und ob im Willen allein die Freiheit ist oder in der innern Beweglichkeit auch. 51. Der Einfluß des Gedankens auf die Productivität ist der Einfluß einer Function auf die andere (?) und ob diese für sich gehn oder in einander eingreifen das sind zwei verschiedene Modificationen des Seins, aber die eine drükkt nicht mehr das menschliche aus als die andere. – Ueberdies aber geht jedes Vorherdenken eines Thuns doch wieder zurükk auf einen Akt des Denkens der aus freier Beweglichkeit entspringt. Wenn also die Freiheit nur in jenem wäre so wäre sie nur etwas secondäres. Aber zugleich auch etwas seltenes. Denn Viele kommen | eigentlich niemals zu dem Wollen in diesem Sinn (sondern wo es so scheint entwikelt sich die Selbstthätigkeit bei Gelegenheit eines Gedanken, am meisten einer Erinnerung ohne eine eigentliche Wirksamkeit desselben) und auch bei denen die dazu komen sind es nur seltene Momente. Also drückt ein aus der Unmittelbarkeit handelnder den Begriff des Menschen eben so gut aus. Alles kommt vielmehr 4 Receptivität] über )Spontane* 11 Manifestation] korr. aus Q R … Willen.]] eckige Klammern im Manuskript

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nur darauf an, ob die Gattung auch als Kraft in der Selbstthätigkeit wirksam ist[.] 52. Der erste Saz in 51. ist nicht genau zu nehmen. Denn jeder Moment bestimmt sich durch den Gesammtzustand des vorhergehenden. Um das Ganze klar zu machen müssen wir nun zum einzelnen gehn. Zuerst M an i f e s t at i o n s t r i e b gleich Kunsttrieb, welche Behauptung aber erst wahr zu machen ist. Aus den ursprünglichen Aeußerungen des Stoßens und Schreiens entwikeln sich musikalische und mimische Elemente die aber erst Kunst werden wenn Gemessenheit und Regel hineinkommen. Dies unterbleibt aber ganz auch nur auf der alleruntersten Bildungsstufe. Die Bilderauffassung auf dem Punkt wo schon einzelne auf allgemeine bezogen werden findet sich gehemt durch die Unangemessenheit der ersten zu den lezten. Daher Gegensaz von Wohlgefallen und Mißfallen, und die freie Entwerfung von angemessenem = bildende Kunst ist die Manifestation davon. Die Poesie bildet Menschen oder menschliche Momente aus demselben Grunde, weil diese nie rein herauskommen. Daher nun auch Musik und Mimik wieder in die Poesie hineinschießen (reine Instrumentalmusik ist am Ende doch auch nur aus dem Standpunkt dieser Verbindung zu verstehen)[.] Schon die erste Umwandlung hat ihren Grund in dem den Einzelnen einwohnenden Gattungsleben weil es Festhalten und Wiedergeben der Momente für sich und Andere ist[,] vielmehr noch die Reinigung des objectiven und subjectiven Bewußtseins. 53[.] und 54. Fragen wir aber nach dem Verhältniß des Entstehens aus der unmittelbaren Lebendigkeit und des aus dem Gedanken so ist die allgemeine Meinung daß jedes wahre Kunstwerk den ersten Ursprung haben muß und daß erst in der Entwiklung das Vorbedachte seine Stellung bekommt. Ja je weiter derselbe ursprüngliche Impuls fortwirkt um desto vortrefflicher. Wogegen jedes aus der Construction entstandene Werk als ein gemachtes einen geringeren Rang erhält. Aber allerdings sind nicht | alle solche Keime fruchtbar und gelangen zur wirklichen Entwiklung weil sich der Wille nicht zu ihnen hinwendet. Insofern also geht ein Willensact allemal am Anfange vor, und man kann von allen welche verworfen werden sagen daß sie gegen den Willen waren, aber freilich nur auf indirecte Weise. Die S e l b s tt h ät i gk e i t i m D e n k e n (das Wort hier im so sehr weitesten Sinn genommen daß auch die dem SelbstBewußtsein ursprünglich anhaftende Selbstthätigkeit mit darunter begriffen wird ohne doch daß sie hier besonders berüksichtigt werden könnte) ist also der Trieb auf Wahrheit, Forschungstrieb[.] Trägt aber dieselbe Duplicität in sich denn was dort Kunsttrieb ist, das hier der wissen1 an] über )geht*

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schaftliche Trieb, der sich überall zeigt in der logischen Ausbildung der Sprache. [Die Bilder im vorbereitenden Zustande gehören dazu insofern an ihnen zuerst die Sprache sich fortleitet.] Jedes wissenschaftliche Wirken ist nothwendig logische Sprachbildung. Das GattungsBewußtsein ist darin freilich schon von Anfang an wirksam weil jeder Gedanke der in dieser Richtung wird auch den Anspruch mitbringt, für Alle dasselbige zu sein[.] Aber da er sich in einer bestimten Sprache findet, so wird auch zuerst das Gattungsleben nur in diesem Umfang repräsentirt und tritt erst ganz hervor in der Richtung auf die Auflösung aller Sprachen in einander, welche eben so der Richtung auf absolute Gemeinschaft parallel ist, wie auch der ersten Beschränkung zur Seite geht jeden außerhalb der Sprache lebenden als Feind zu behandeln oder wenigstens gering zu achten. 55. Was nun das Verhältniß des unmittelbaren und vorbedachten betrifft: so erscheint überall das lezte nur als das untergeordnete. Sofern ein Complex von Gedanken sich als Kunstwerk gestaltet (z. E. ein philosophisches System) geht dies schon aus der Analogie mit dem vorigen hervor ja der Entschluß selbst z. E. einen Gegenstand zu beobachten ist ein unmittelbarer. Eben so der Gedanke zu einem bestimmten Versuch. Man könnte also im allgemeinen sagen die unmittelbar entstehenden Gedanken zerfielen in solche deren sich der Wille bemächtigt in solche welche sich selbst überlassen bleiben und in solche welche der Wille zurükweiset, wie alle einen gewollten Prozeß störenden[.] Von diesen kann man nun, wenn sie allgemein (nämlich von demselben Einzelnen unter allen Umständen) zurükgewiesen werden, nicht sagen | daß sie ein Ausdruk von dem eigenthümlichen Sein des Individuums wären. Sie führen uns auf das geheimnißvolle Vorhandensein von Gedanken welche nur in der Masse als Ausdruck von den Grenzen des Bildungszustandes einer Zeit und Räumlichkeit vorhanden sind. Alle gefabelten Existenzen und aller gefabelte Zusammenhang superstitiöses Denken haben ihren Ursprung ebenfalls in der Richtung auf den Weltbegriff, aber sie füllen ihn nur provisorisch aus bis die wirkliche Erkenntniß eintritt[.] Sie treiben aber ihr flatterndes Spiel auch hernach als solche sich unwillkührlich reproducirende, aber überall zurückgewiesene fort. 56. Im constructiven Theil wird auch auf jenes noch einmal zurükzukommen sein. Jezt gehn wir zu der Besizerg reif enden T hä t i g k e i t über welche eben so N at u r b eherrschung wird wie Manifestation Kunst. Der Saz daß die Noth die Mutter aller Erfindungen 2–3 [Die … fortleitet.]] eckige Klammern im Manuskript 23 der Wille] korr. aus als St 27–28 Vorhandensein] folgt )welches* 34 hernach] folgt )als Qfür mancheR* 35 aber] folgt )Keiner*

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ist, subsumirt dies alles unter den Selbsterhaltungstrieb (den wir gar nicht als besondern bis jezt aufgestellt haben). Dabei liegt natürlich der Gedanke zum Grunde daß ohne Noth der Mensch nicht erfinden würde, mithin daß er träge ist[.] Daraus erklärt sich aber die Naturbeherrschung nicht, vielmehr müßte der Mensch bei einem minimum von Befriedigung des SelbstErhaltungstriebes stehn bleiben und würde nichts erfinden. Daher sehn wir diesen Trieb als gleich ursprünglich an, wie denn auch schon das Greifen der Kinder, wenn sie gleich alles zum Munde führen, nicht vom Hunger ausgeht. Gehn wir auf die ersten Anfänge zurück so kann man, wenn man sagt daß die Seele sich den Leib bildet, diesen als den ersten Besiz ansehen. Es ist aber eigentlich das untrennbare Seele und Leib-Werden | ein Besizergreifungsact des Geistes von der Materie. Und alle folgenden hieher gehörigen Acte sind Fortsezungen davon Vereinigungsacte des äußern Seins mit dem eignen. Sobald wir aber über die vorbereitenden Zustände hinausgehn besteht jeder aus einer Reihe von Momenten, welche vorbedacht sein muß und ein Wissen um die Natur voraussezt, und von da an entwikkelt sich beides gegenseitig an einander, Naturkenntniß und Naturbeherrschung. Wir können daher sagen daß hier nur der Impuls an und für sich aus der Unmittelbarkeit des Lebens hervorgeht, ein bestimtes aber imer nur wird mit einem Willensact. So daß hier gleichsam das m aximum des Vorbeda cht e n ist[.] Woher sich denn auch erklärt weshalb man in dem vorbedachten Handeln vorzüglich die Freiheit findet, weil man nämlich fast alles eigentliche Handeln auf diese Besizergreifende Thätigkeit reducirt, wiewol mit Unrecht. Uebrigens kann das die Handlung bedingende Wissen auch in dem Handelnden bald ursprünglich sein bald auch nur aus Ueberlieferung. Daher kann auch ein Handeln unter mehrere so getheilt sein daß nur in Einem das Wissen ist, der dann ordnet, das Handeln aber unter mehrere so getheilt sein, daß es in ihnen bloß Mechanismus ist. Daher man auch hier nicht sagen kann daß Wissen und Handeln dasselbe sei[.] 57[.] und 58. Diese Thätigkeit ist nun von dem psychischen Leben aus die möglichste Aufhebung der Theilung des Seins[.] Denn wenn alles Sein auf diese Weise dem Menschen angeeignet und mit dem seinigen vereinigt ist: so ist die Theilung von dieser Seite aufgehoben. Betrachten wir nun wie sich hier verhält die Thätigkeit des Einzelwesens als solches zu der Thätigkeit des Gattungslebens in ihm: so finden wir diese allerdings hier auch. Denn | alle Arbeit an der Natur welche auf lange Reihen geht ist auch nicht mehr auf das Individuum 24 vorzüglich] korr. aus Q R 38 als] folgt )Gattungen*

28 nur] folgt )Mechanismus und T*

32 daß] das

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berechnet, und wenngleich es nicht das Bewußtsein der Gattung hat doch die Wirkung des Gattungslebens in ihm. Aber wir haben noch die ganze andere Hälfte zu betrachten, nämlich die Besizergreifung von menschlichem Sein. Nicht als ob dieses ganz vom Gattungsleben ausginge alles was Wahlverwandschaft ist, Freundschaft p. ist gegenseitiges Besizergreifen der Individuen von einander welches nur durch die Identität der Individuen in der Gattung bedingt ist. Alles aber auf Naturzusammenhang beruhende und solche Gemeinschaft constituirende geht aus dem Gattungsleben hervor. Die stoßweise Fortschreitung auf diesem Wege die auch als positive Feindseligkeit gegen das Fremde erscheint hängt nur mit der allmähligen Entwiklung des objectiven Bewußtseins zusammen, so daß dieses durch die Besizergreifung wird, wie diese auch auf ihm beruht. Eben so besteht ein gegenseitiges Verhältniß zwischen diesem Zweig der Selbstthätigkeit und dem analogen SelbstBewußtsein. Die Selbstthätigkeit will ursprünglich vom Einzelwesen aus den übrigen Geist fassen; dabei schon das Gattungsleben aber noch fast bewußtlos und darum auch die geselligen Thiere eben so behandelnd. Aber sie ist nun indifferent gegen alles einzelne und wird also durch die Eindrücke bestimt; aber gar nicht so daß der momentan stärkste Eindruck die Selbstthätigkeit weiter bestimmte. Wer im Geschäftsleben begriffen ist dem kann in geselligen Stunden einer begegnen der anderweitig einen sehr angenehmen Eindruk auf ihn macht. Aber das wird kein Grund zum anknüpfen eines weitern Verhältnisses als daß er sich freut wenn ein zweiter Moment kommt. Aber auch das umgekehrte ist möglich. Dies sind also quantitative Differenzen die individuell sind. Die beiden Formen aber einer gegenseitigen gleichen Besizergreifung und einer ungleichen mit Uebergewicht der Selbstthätigkeit auf einer Seite gehn durch und sind zugleich Massencharaktere, indem manche Massen sich in sich so und anders entwickeln[.] | 59. Es kann wol befremden Naturbeherrschung und Liebe als zwei Triebe an demselben Zweige zu finden. Die Frage ist ganz richtig wenn man allgemeines und besonderes als bloße Abstraction betrachtet, aber wichtig wenn es Darstellung eines lebendigen Verhältnisses ist. Nun finden wir aber beides sich überall durchdringend. Die Ehe ist zugleich gemeinschaftlicher Naturbesiz eben so das Volk und die Völkergemeinschaft fängt mit dem Verkehr an und eine Freundschaft ist nur recht kräftig wenn sie auch auf NaturBesiz geht, sei es nun 1 und] über der Zeile ohne Einfügungszeichen 6 der Individuen] am Ende der Zeile mit Einfügungszeichen 8–9 constituirende] constituirende ist 20 die] folgt )Moment so* 37–2 und eine … Naturerforschung[.]] nach Und nun ist uns mit Einfügungszeichen (S. 195 Zeile 22)

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künstlerisch oder politisch oder auch wissenschaftliche Naturerforschung[.] Beide sind auch eins in den transcendenten Formen. Das Seelewerden unter Seelen ist gleich das Gegenstandwerden für die Liebe und ist zugleich des Geistes Besizergreifung von der Materie. Keins von beiden kann in einem Einzelwesen Null werden, beide können mit einander wachsen. Maximum des Einzellebens mit minimum des Gattungslebens ist in dem Abstoßen der Gemeinschaft als eines beschränkenden. Maximum des Gattungslebens mit minimum des Einzelwesens ist Vernachlässigung desselben im Gemeinschaftsdienst[.] Aber beides ist unvollkomenes[.] Denn das Gattungsleben im Einzelnen muß auch dieses als Organ wollen und als integrirenden Bestandtheil und die Selbstliebe ohne Gemeinschaftssinn kann nur angesehen werden als noch in der Entwiklung begriffen und niemals als hätte es untergehn können. Die Vollkomenheit ist nur in der innigsten Durchdringung von beiden. Diese sind die Ehe als die vollständigste gegenseitige Besizergreifung aber zugleich die Reproduction der Gattung also unmittelbare Thätigkeit des GattungsBewußtseins und die Kirche als die gegenseitige Mittheilung (also auch Besizergreifung) des höchsten SelbstBewußtseins in welchem der Geist sich auch als mit dem Sein identisch weiß. Hieraus entstehn zugleich und lösen sich auf alle individuellen Differenzen. Und nun ist uns nur noch übrig, aber gar nicht als aus unsern Betrachtungen entstehend die Frage wie sich diese Darstellung verhält zu dem sogenannten SelbstErhaltungstriebe. | 60. Die Formel SelbstErhaltungstrieb ist noch ziemlich neu, aber als allgemeinen Ausdruck für alle Functionen können wir sie schon deshalb nicht gelten lassen weil das Gattungsleben dabei ganz zur Täuschung wird ja auch alle Richtung auf das Erkennen nur insofern natürlich wäre, als sie mit der Naturbeherrschung zusamenhängt[.] Als einzelnen Trieb angesehn haben wir aber gar kein Bewußtsein davon, vielmehr beklagen wir jeden welcher dasselbe hat. Der leibliche Ernährungstrieb ist allerdings die erste Aeußerung, allein sobald sich das Bewußtsein entwikkelt wird er auch ein geselliges mithin in die Identität mit dem Gattungsleben gebracht, und wir halten es für Rohheit wenn ohne Ordnung jeder nur ißt wenn es ihm einfällt. Dasselbe gilt hernach mit allen zur NaturBeherrschung gehörenden weitern Anstalten, welche bald mehr auf die Nachkommen gehn als auf den Anfangenden selbst. Von dieser Seite also entstehn aus dieser Annahme lauter untergeordnete Auffassungen[.] Und wie wenn wir die ganz entgegengesezte Erscheinung, den Selbstmord erklären wollen so 8 Abstoßen] Ab korr. aus Aus 22 uns] uns uns Wortwiederholung nach Einfügung (Seite 194–195 Zeile 37–2) 39 untergeordnete] unter korr. aus QmehrR

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muß man sagen daß einem der SelbstErhaltungstrieb abhanden gekomen sei und dann wäre er auch nichts wesentliches. Daher dieses imer sehr dahin führt den SelbstMord immer als Wahnsinn zu erklären[.] 61. Wenn nun ferner auch keine Liebe etwas ursprüngliches sein soll, sondern nur um des Selbst willen, so geht uns alle Wahrheit des Bewußtseins verloren[.] Faßt man nun das Seelenleben von seinem ersten Anfang als minimum auf: so ist auch die ganze Steigerung seines Gehaltes nicht erklärlich aus dem SelbstErhaltungstrieb. Denn dieser hat doch nur den Werth der vis inertiae des bleibenwollens wie man ist. Statt dessen also müßte man einen Entwiklungstrieb sezen der aber nur bis zur Lebens Culmination ginge, dann würde er SelbstErhaltungstrieb aber nur frustrirter, woraus am besten erhellt, daß an keinem von | beiden ein Gewinn zu machen ist. – Indem aber erklärt ist daß die Elemente nun zusammen sind so entsteht Verwunderung daß so viele Ausdrücke gar nicht vorgekomen sind. Die meisten davon hangen mit einem andern Schematismus zusamen nämlich ErkenntnißVermögen BegehrungsVermögen, niederes und höheres. Alles dieses nun paßt nicht für uns. Vermögen ist imer eine Art von Passivität und dem steht unsere ganze Ansicht die Seele als Agilität zu fassen entgegen. Wir geben zwar auch für jeden Moment einen äußern Coefficienten zu aber nur als bestimmend nicht als ursprünglich erregend, nur überhaupt das Wiewerden des Seins durch das Zusammensein bestimmend. Eben so ist niederes und höheres zweideutig. Das niedere soll auch wesentlich sein, es soll aber im Vergleich mit dem höheren zurückgesezt werden und dies giebt lauter Verwirrung[.] 62. So ist Verstand und Vernunft von verschiedenen verschieden gestellt. Wenn nun aber Vernunft, als höchstes, zugleich erklärt wird als das Vermögen zu schließen und dieses die allergeringste Verstandesprocedur ist, doch aber alles vernünftige im höchsten Sinn die Form des Schlusses haben soll: so ist die Verwirrung total[.] Eben so wird Fantasie sehr hoch gestellt, aber dann auch wieder theils alles fantastische getadelt theils auch ganz nichtsbedeutende Operationen mit dem Namen Fantasie belegt. So daß fast erst eine allgemeine Degradation vorgenomen werden muß mit Ausdrücken die eine wissenschaftliche Stellung usurpirt haben während sie doch ganz in der Verworrenheit der Umgangssprache versiren. Das Maaß also das an unsern Schematismus gelegt werden muß ist nicht ob man über alle diese abstracten Ausdrücke Auskunft findet, sondern ob man wirkliche Momente finden kann die man in demselben nicht zu stellen weiß. Wenn wir nun zum c o n s t r u c t i ven Theil übergehn: so ist die | Absicht desselben die, zu sehn wie sich das Leben als continuum aus 22 überhaupt das] folgt )Werden de*

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Elementarischer und Konstruktiver Teil, 60. bis 63. Stunde

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diesen Elementen zusammensezt mit allen Differenzen die wir an den Einzelnen finden[.] Einzeln wird aber hier im weitesten Sinne genomen als Gegensaz gegen die ungetheilte Einheit des Geistes also auch Volkseinheit in den verschiedenen Abstufungen und Racen[.] Eine Construction der leztern aus dem allgemeinen Begriff des menschlichen Lebens würde außerhalb unserer Grenzen liegen weil hiebei zugleich physiologische Elemente und telurische Verhältnisse. Daher liegen auch diese Versuche immer unter einander im Streit. Die Völker sind leicht unter die Racen zu gruppiren und auch in sich zu theilen, zumal wo auch die Sprachen getheilt sind. Aber wie sich nun ein Volkscharakter in wieviel und was für Individualitäten erschöpft, das wäre für die Construction eine unendliche Aufgabe. Wir sind also nur an die Beobachtung gewiesen. Aber doch muß es eine Vermittlung geben zwischen jener Einheit des Lebens und der Unendlichkeit der Individuen; denn aus einem unmittelbaren Uebergang kann schon nach Platon keine wissenschaftliche Erkentniß entstehn. Wir haben aber zu sehen auf die zeitlichen Wechsel des Lebens, den täglichen und den culminativen, dann auf die quantitative Differenz des Lebensgehaltes, und auf die qualitativen Mischungsverschiedenheiten. |

Der const ruct ive Theil 6 3 . Da der Zeitwechsel uns an das Lebensende führt mithin auch an das Ende unserer Darstellung: so ist es auch natürlich ihn zulezt zu sparen, und mit den gleichzeitigen Differenzen anzufangen. Und da wir an die Beobachtung gewiesen sind auch mit der anschaulichsten und klarsten, nämlich d e r G e s c h l e c h t s d ifferenz[.] Ausgemacht daß sie leiblich nicht auf das System der Geschlechtsorgane beschränkt ist, aber zweifelhaft ob sie im Gehirn und Nervensystem hervortritt. Daher ein alter Streit ob die gewöhnlichen psychischen Differenzen ursprünglich sind oder nur ein Werk der Erziehung[.] Er wird immer wieder aufgenomen durch das Gewissen, weil die Erziehung eine Ungerechtigkeit wäre wenn sie ohne angeborene Schwäche doch die Frauen von der Leitung des öffentlichen Lebens ausschließt. Plato an der Spize Aller die eine bürgerliche Verbesserung der Weiber wol14 geben] folgt )Fungiren* 15–16 Vgl. Platon: Sophistes 259c–e; Opera 2,287–288; Werke 6,370–371 32– 1 In der Politeia entwirft Platon die Vision eines idealen Staates in dem die Frauen die gleiche Erziehung erhalten wie die Männer; vgl. Platon: Politeia, insbesondere 449a– 471e, Opera 7,2–49; Werke 4,366–439

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len. Menstruation und Schwangerschaft haben nur einen auf Zeiträume beschränkten Einfluß und könnten nur bewirken daß Frauen um ein weniges hinter | gleichbegabten Männern zurückbleiben während sie doch über die geringeren hervorragen könnten. – Dieser Voraussezung steht nun gegenüber die, daß eine ursprüngliche Ungleichheit von der Art stattfinde daß das weibliche Geschlecht geringeren Geistesgehalt habe[.] Für jene muß zuerst untersucht werden ob die Stellung beider Geschlechter wirklich eine ungleiche sei[.] 64. Das eigentliche Verhältniß beider ist aber das zwischen Haus und Oeffentlichkeit[.] Im Hause gehn von ihnen die ersten Erziehungseinflüsse aus und dann die Ausgleichung und Mäßigung der leidenschaftlichen Bewegungen die in der Oeffentlichkeit entstehn. Man kann also sagen daß die Männer durch sie werden und Geltung bekommen in dem was sie in der Oeffentlichkeit sind, und so stellt sich die Gleichheit her. Mithin haben wir keine qualitative Ungleichheit vorauszusezen aber auch, wenn man nicht annehmen will daß sich beides auch eben so leicht umkehren ließe, keine qualitative Gleichheit[.] Die quantitative Ungleichheit kann also innerhalb beider Geschlechter dieselbe sein; die qualitative aber muß sich verhalten wie die beiden Standpunkte. Diese aber wie das einzelne zur zusammenfassenden Einheit. Dem gemäß geht auch die Richtung der Frauen überall vom abstracten allgemeinen ab zum einzelnen hin. Dies ist keine geistige Verengerung. Denn das vollständige Weltbild hat dieselbe Dignität wie die Weltconstruction und vom chaotischen Zustande aus ist auch schon im Fixiren des Einzelnen wenn es richtig sein soll die ganze geistige Kraft in Thätigkeit weil eben so die einwohnenden der Theilung des Seins entsprechenden Formen vorausgesezt werden.

17 beides] davor )beides eben so leicht QanfertigenR*

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Zweiter Teil Vorlesungsnachschriften

Die Vorlesung im Sommersemester 1818 Hamburger Nachschrift

Anfang der Vorlesung im Sommer 1818. Anonyme Nachschrift, Privatbesitz, S. 5

Psychologie nach dem Vortrage des Herrn Pr. Schleiermacher im Sommer 1818. |

Erste Vorlesung. Einleitung. 5

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Inhalt, Verhältniß der Psychologie zur Dialectik, Ethik und Physik. – Verschiedene Ansichten über die Psychologie, hervorgehend aus der verschiedenen Auffassung ihres Verhältnisses zur Dialectik, Ethik und Physik. – Wie haben wir das Verhältniß der Psychologie zu der Dialectik, Ethik und Physik anzusehen? Psychologie, Dialectik, Ethik und Physik können nur mit und durch einander zur Vollkommenheit kommen, darum muß man alle zugleich bearbeiten. – Es giebt keine Wissenschaft, die mehr den Standpunct, auf welchem wir stehen, angiebt, als die Psychologie. Dies wird klar werden aus ihrem Verhältniß zu den übrigen Theilen der menschlichen Erkenntniß. Aber die Bestimmung dieses Verhältnisses setzt voraus, daß wir eine solche Organisation der Theile der menschlichen Erkenntniß hätten; wäre dies der Fall, so würde das Verhältniß der Psychologie nicht so sonderbar gestellt sein gegen die übrigen. Da es nun aber keine giebt, und auch hier keine gemacht werden kann, so bleibt nichts übrig als sich an die Alten zu halten. Die Alten theilten alle Erkenntniß in Dialectik, Physik und Ethik. Wie steht dazu die Psychologie? Die Dialectik hat es zu thun mit der Aufstellung der Gesetze für alles Verfahren des menschlichen Erkenntnißvermögens überhaupt, d. h. 21–22 Die Alten ... Ethik.] Vgl. Diogenes Laertius: Les vies des plus illustres philosophes de l’antiquité, traduites de grec, Bd. 1–6 in 3, Amsterdam 1761 [SB 542], hier Bd. 1, S. 10–11; De vitis, dogmatibus et apophthegmatibus clarorum philosophorum libri X [gr./lat.], Amsterdam 1692, 1,17–18 [SB 540]; Vitae philosophorum, Bd. 1–3, ed. M. Marcovich, Stuttgart/Leipzig 1999–2002, hier Bd. 1, 1999: „καὶ ο μὲν π τς περὶ φσιν πραγματείας φυσικοί ο δὲ πὸ τς περὶ τὰ θη σχολς !θικοί διαλεκτικοὶ δὲ "σοι περὶ τὴν τ$ν λγων τερθρείαν καταγίνονται. Μέρη δὲ φιλοσοφίας τρία, φυσικν, !θικν, διαλεκτικν φυσικὸν μὲν τὸ περὶ κσμου καὶ τ$ν 'ν α(τῷ, !θικὸν δὲ τὸ περὶ βίου καὶ τ$ν πρὸς +μ,ς διαλεκτικὸν δὲ τὸ μφοτέρων τοὺς λγους πρεσβε.ον. Καὶ μέχρι μὲν Ἀρχελάου τὸ φυσικὸν 0ν ε1δος

πὸ δὲ Σωκράτους, 3ς προείρηται, τὸ !θικν πὸ δὲ Ζήνωνος το. Ἐλεάτου τὸ διαλεκτικν.“ (S. 13)

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die Gesetze für die Construction und Combination der Begriffe. Diese scheint offenbar die Psychologie vorauszusetzen, denn um Gesetze zu finden für die Vorstellungen und Begriffe, müssen wir erst wissen, was Vorstellungen und Begriffe sind. Sie sind doch Thatsachen | der menschlichen Seele, und wir müssen wissen, wie sie zu andern Thatsachen der Seele stehen. Aber wo sollen wir die Psychologie her haben, wenn wir nicht schon die Dialectik haben? Denn wir können nicht die übrigen Thatsachen der Seele kennen, als nur unter der Form der Vorstellungen und Begriffe. In Beziehung auf diese beiden sind wir also hier in einem vollständigen Zirkel. Wie steht die Psychologie zur Ethik? Diese ist von den ältesten Zeiten an bis jetzt auf sehr mannigfache Weise behandelt worden. Soviel aber muß jeder sagen: Die Ethik hat es zu thun mit den menschlichen Handlungen, deren Gegenstand die menschliche Seele selbst ist; denn indem sie Gesetze der menschlichen Handlungen aufstellt, so ist zwar das letzte Resultat nicht in der menschlichen Seele eingeschlossen, es soll freilich auch dadurch außerhalb in der Welt etwas gesetzt sein, aber es soll doch nur werden durch eine gewisse Beschaffenheit der Seele. Dabei müssen aber alle verschiedene Vermögen der menschlichen Seele, durch welche etwas gewirkt werden kann, mit aufgestellt werden. Hier sehen wir | also offenbar, die Ethik setzt auch die Kenntniß der menschlichen Seele voraus, sie ist was handelt, und was behandelt wird, und dann ist auch die Totalität des Ganzen und seiner verschiedenen Verzweigungen zu betrachten. Auf der andern Seite liegt aber in dieser Behauptung der ganzen Constitution der Ethik die nach allen Seiten hin fortgehende Entfaltung des Gegensatzes des Guten und Schlechten in der Seele. Daher kann es keine vollendete Kenntniß der menschlichen Seele geben auch ohne die Ethik. Wie steht es mit der Physik, der Gesammtheit der Naturwissenschaften? Sie soll das System enthalten, speculativ begründet, empirisch aufgesucht, aller unserer Kenntniß von der Natur. Woher haben wir diese Kenntniß? Vermittelst der verschiedenen Thätigkeiten, wodurch die menschliche Seele Kenntniß nehmen kann von dem, was außer ihr liegt, und wodurch sie dieselben in sich festhalten kann. Aus diesen so entstandenen Kenntnissen wird hernach durch eine höhere wissenschaftliche Operation die Wissenschaft zu Stande gebracht. Kann nun diese mitgetheilt werden, ohne das Verständniß über die verschiedenen | Operationen der Seele, welche den Kenntnissen zum Grunde liegen? Es giebt also keine Physik ohne Psychologie. Aber was ist das Resultat der Physik selbst? Können wir sagen, daß wir die Natur begriffen haben, wenn wir die Seele nicht mit begriffen haben? Das Leben ist das höchste Räthsel der Physik, und wir haben die Natur nicht eher begriffen, bis wir das Leben begriffen haben. Das ist aber nicht zu

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begreifen ohne die Seele, und die Seele können wir nicht begriffen haben ohne das Leben, denn beide sind Correlate. Wir können nicht sagen, daß wir die Seele begriffen haben, wenn wir nicht wissen, was lebendig ist, und was leblos. Es ist also klar, daß ohne Physik keine Psychologie sein kann. Sehen wir also auf diese Triplicität des Erkennens, so befinden wir uns mit der Kenntniß der menschlichen Seele in einem vollkommenen Cirkel. Dialectik, Ethik und Physik weisen auf sie zurück als auf ein schon Bestehendes und auf der andern Seite ist Psychologie das Resultat von Dialectik, Ethik und Physik. Daher auch | die verschiedenen Ansichten von ihr. Einige sagen: man muß alle Philosophie auf die Kenntniß der Seele gründen, und nichts kann Wissenschaft werden, was nicht auf diesem Boden ruht. Diese haben allerdings Recht. Andere sagen: es ist nichts mit der Psychologie; wenn man jetzt eine Theorie der menschlichen Seele aufstellen will, so muß man sich in leere Terminologien verflechten, und man muß mit dem Bauen der menschlichen Erkenntniß anfangen, ohne zu wissen was die Seele ist. Diese haben auch Recht, denn die gehen davon aus, daß Dialectik, Ethik und Physik da sein müssen, wenn die Psychologie da sein soll. Zu welcher Parthei sollen wir uns schlagen? Offenbar zu denen, die da sagen, die Psychologie soll da sein, aber indem die andern auch Recht haben, so können wir sie nicht unbeachtet lassen, und wir müssen beide Ansichten combiniren. Das heißt offenbar, wenn von einem Gegenstand Entgegengesetztes ausgesagt wird, so muß es nicht wirklich Entgegengesetztes sein, oder der Gegenstand muß nicht derselbe sein, oder beides findet statt. Wie steht es hier? Wenn wir sagen: | die Psychologie mit der man anfangen muß, die muß etwas anders sein, als die, welche das Resultat der fertig gewordenen Dialectik, Ethik und Physik ist, so werden wir das nicht leugnen können. Die höchste Selbstverständigung und das Verstehen der Welt, des gesammten Daseins, ist nur in gegenseitiger Beziehung möglich; und wenn wir jetzt eine Psychologie aufstellen wollen, so müssen wir damit anfangen uns 11–13 Vgl. z. B. Eschenmayer (1817): „Wie konnten wir je zu einer Logik gelangen, wenn uns die Natur des Denkens nicht vorher bekannt wäre, wie zu einer Aesthetik, wenn die Natur des Fühlens und wie zu einer Ethik, – wenn uns die Natur des Wollens unbekannt bliebe? Alles diß hat die Psychologie zu leisten und in einen Grundriß aufzunehmen und erst dann, wenn dieser fertig ist, kann die Philosophie eine einzelne Parthie herausnehmen und ein wissenschaftliches Gebäude aufführen.“ (S. 2–3) 13–17 Vgl. ebenso Buhle, Johann Gottlieb: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie und einer kritischen Literatur derselben, Bd. 1–8 in 9, Göttingen 1796–1804 [SB 375], hier Bd. 6: „Der Mensch hat von sich selbst gar keine gewiße Erkentniß. Wir wissen nicht, was die Seele ist, oder die Seele in den Körper eingeschlossen erkennt sich selbst nicht.“ (S. 337). Möglicherweise denkt Schleiermacher auch an Schellings Kritik der Psychologie in der Methodenlehre; vgl. Schelling: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium, Tübingen 1803, S. 131–133 [SB 1692]

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zu bescheiden, daß sie es nicht sei, sondern daß unsere höchste Erkenntniß erst das Resultat sein könne von der vollendeten Dialectik, Ethik und Physik. Ist das aber ein wahrer Gegensatz: man darf nicht eher die Psychologie aufstellen wollen, bis Dialectik, Ethik und Physik vollendet sind, und: man muß Dialectik, Ethik und Physik auf Psychologie gründen? Das ist kein Gegenstaz, denn beides sind Irrthümer, und Irrthümer sind nie sich vollkommen entgegen, sondern immer nur ein Irrthum und eine Wahrheit. Man kann nicht sagen: Dialectik, Ethik und Physik sind auf Psychologie gegründet, denn die | Psychologie kann nur durch sie vollendet werden; man muß also auch mit Dialectik, Ethik und Physik anfangen, dies sich eben so fortbilden können und müssen zur höchsten Erkenntniß als die Psychologie. Von der andern Seite ist es eben so wahr, daß man nicht müsse allein an der Dialectik, Ethik und Physik bauen, um daraus die Psychologie zu finden, ja indem man an Dialectik, Physik und Ethik arbeitet, muß man sich verständigen über die Thätigkeiten der Seele, weil man sonst sich selbst sehr leicht widersprechen kann. Die Sache steht also so: wenn Dialectik, Ethik und Physik vollendet ist, so ist auch die Psychologie beendet; ja man könnte sagen: die Psychologie steckt in den Resultaten dieser drei: das Wesen der Seele ist aufgefaßt als Theil der Natur, dann als Wesen der Freiheit in der Ethik, und eben so, das Wesen der Seele ist aufgefaßt in Beziehung auf den Gegensatz zwischen dem Erkennen und Erkanntwerden in der Dialectik, und also da wiederum ganz bei Seite gesetzt den Gegensatz zwischen Physik und Ethik und ganz davon abgesehen, daß die Seele sich selbst und anderes erkennen kann, | so daß das ganze Sein derselben vor Augen liegt. So wäre freilich weder das eine noch das andere Psychologie, aber wir brauchten sie auch gar nicht. Aber da es noch nicht ist, so müssen wir uns zu verständigen suchen über die Thatsachen der menschlichen Seele. Die Verständigung kann aber nicht in sich selbst vollkommene Wissenschaft sein, und sie kann nur fortschreiten, jemehr Dialectik, Ethik und Physik fortschreiten und am Ende Eins werden, in das philosophische Erkennen rein übergehen, und so auch die Psychologie mit vollkommen machen. Die Psychologie kann bis jetzt nur eine provisorische sein, weil Dialectik[,] Ethik und Physik noch nicht vollendet sind, wir stoßen auf dialectische, ethische und physische Räthsel, und dabei muß die Psychologie erkennen, daß sie nur Aufschluß von jenen erwarten kann. Aber auf der andern Seite müssen wir beständig zu dem Bewußtsein gelangen, daß auch wieder das Dialectische, Ethische und Physische uns aufgehellt werden muß, indem wir uns über die Thatsachen der menschlichen Seele verständi29 Thatsachen] über Voraussetzungen (?)

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gen, und indem wir dies überall wahrnehmen, werden wir sicher sein, daß wir nicht | auf einem Wege sind, der unfruchtbar ist, und wir werden gleich weit von denen entfernt bleiben, welche alles erst aufbauen wollen, und die menschliche Seele zuletzt versparen und gleich weit von denen, die da meinen, daß sie schon in dieser unvollkommenen Wissenschaft die Basis alles Übrigen haben, sondern beides muß zusammengehen. Wir werden sagen können: die Vollendung unserer Wissenschaft liegt auf dem Wege den wir eingeschlagen.

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Inhalt. Giebt es eine empirische und eine rationale Psychologie? Gegenseitiges Verhältniß des Empirischen und des a priori. – Irrthum derer welche bloß eine rationale Psychologie haben aufstellen wollen[.] Resultat derer, welche eine Psychologie allein aus der Beobachtung haben aufstellen wollen. – Frage nach dem eigentlichen Anfang der Disciplin. – Wo finden wir den Gegenstand derselben[,] die Seele? Wie machen wir es die Seele vom Leib zu trennen? – Verhältniß der Psychologie zur Anthropologie. – Die Psychologie soll zu einer allgemeinen Anschauung des geistigen Prinzips führen. Die Psychologie kann nichts anderes sein als das Fortschreiten von einem Puncte zu einem Ziele, das nur erreicht werden kann, indem noch von mehreren Puncten zugleich mit angefangen wird; wir müssen mit der Kenntniß von den Seelenthätigkeiten anfangen, wenn wir in andere Gebiete hineingehen. Von welcher Art wird die Erkenntniß sein? Es kommt uns entgegen der Gegensatz zwischen empirischer Kenntniß, die durch einzelne Eindrücke entsteht, und der Kenntniß a priori, die von etwas Allgemeinem ausgeht, und nicht von bestimmten einzelnen Eindrücken. Die Psychologie scheint einen Anspruch auf beide Arten zu haben, denn wenn man Kenntniß der Seele | voraussetzen muß, ehe man Dialectik etc. beginnt, so ist ja in dieser die ganze Summe der Erfahrungserkenntniß mit eingeschlossen. Allerdings unterscheiden wir auf dem Gebiete der Natur Naturwissenschaft, die speculativer Art ist, und Naturkunde die empirischer Art ist, aber letztere ist erst etwas wenn sie mit ersterer Eins geworden ist; und eben so verhält es sich auf dem Gebiet der Geschichtskunde und der Ethik, denn jene enthält was wirklich geworden ist durch die in der Ethik verzeichneten Kräfte, wie die Naturkunde das durch die in der Naturwissenschaft verzeichneten Kräfte Entstandene. Beides muß aber zusammen sein. Die Psychologie fängt vom Ich an, und das Ich haben

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wir nie in einem einzelnen Eindruck, sondern in jedem einzelnen Eindruck ist immer schon das Ich bestimmt, rein für sich können wir es immer nur auf allgemeine Weise haben. Auf der andern Seite scheint wieder die Psychologie keine Kenntniß a priori zu sein, denn wenn sie bloß beim Ich bleibt, so ist sie nichts als ein allgemeines Bewußtsein, das nur den Zusammenhang zwischen dem Einzelnen vermittelt, was nie von Einfluß auf das Leben ist, woraus keine Wissenschaft | entstehen kann. Soll aber die Wissenschaft ein Mannigfaltiges der Erkenntniß werden, so muß sie aus dem allgemeinen Bewußtsein vom Ich heraus und dazu giebt es keinen Weg als den der Erfahrung. Seitdem man diese Arten der Erkenntniß unterscheidet, so hat man gedacht die Psychologie müsse beides sein, und hat unterschieden eine Erfahrungsseelenkunde und eine a priori. Was könnte letztere wol enthalten? Gegeben ist a priori das Ich. Das muß a priori gegeben sein, weil kein einzelnes Bewußtsein gegeben sein kann ohne das allgemeine Bewußtsein. Aber was kann man mit diesem Bewußtsein des Ich machen? Sagt man: wir müssen uns nun damit zur Dialectik wenden, welche die Gesetze der Theilung und Verknüpfung enthält; so müssen wir die Gründe der Theilung desselben aufsuchen in den dialektischen Gesetzen, um so zu einer Mannigfaltigkeit zu kommen. Das ist aber nichts als eine Täuschung; denn sobald wir fragen: woher sind denn diese dialectischen Gesetze? so führt uns das auf vorausgesetzte psychologische Elemente zurück, die empirisch geworden | sein müssen; und so können uns die Theilungsgesetze nichts helfen zu einer Theilung, da sie selbst nur auf etwas Empirischem beruhen. Dann enthält die Dialectik freilich die Theilung von Begriffen, aber auch nur von Begriffen deren jeder ein System von Merkmalen in sich schließt. Aber das Ich, was wir von allem Einzelnen haben ist gar kein Begriff, es ist nichts, als das bloße reine unmittelbare Gefühl der Identität des Handelnden und Leidenden in uns in seinen verschiedenen Momenten. Das scheint freilich schon ein Begriff zu sein, aber ist es das nur geworden, indem verschiedene Momente empirisch gedacht sind. A priori allein ist nichts anzufangen auf dem Gebiet der Psychologie. Aber sollen wir denn leugnen daß die Psychologie etwas a priori habe und soll man sagen: unsere Kenntniß, die wir von der Seele haben, kann nur vom Einzelnen anfangen? Hier kommen wir auf entgegenge32 A] a 11–13 Die Unterteilung der Psychologie in eine Erfahrungsseelenlehre (Empirische Psychologie) und eine Seelenlehre a priori (Rationale Psychologie) führte Christian Wolff ein. Vgl. Wolff, Christian: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. Praemittitur Discursus praeliminaris de philosophia in genere, Frankfurt/Leipzig 1728

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setzte Schwierigkeiten; denn wo bekommen wir das Einzelne her? Das Einzelne haben wir nur in der Sonderung. In der unmittelbaren | Realität ist diese Trennung nicht, sondern wir machen sie erst; jedes Mannigfaltige machen wir erst, und in dem Aufeinanderfolgenden, machen wir erst die Aufeinanderfolge. Wir können also weder mit dem bloß Empirischen noch mit dem bloß a priori Gegebenen anfangen, sondern wir müssen beides verbinden. Was darin für eine Aufgabe liegt, ohne welche wir nicht anfangen können in der Psychologie, darauf kommen wir bald. Jetzt noch über das Ineinandersein dessen, was man empirisch, und dessen was man a priori nennt. Wenn wir auf den gegebenen Zustand unserer Erkenntnisse merken, so können wir allerdings dieses unterscheiden. Z. B. die Naturbeschreibung ist etwas Empirisches, und niemand kann die verschiedenen Gattungen a priori construiren. Erst wenn sie empirisch gegeben sind, kann man versuchen, sie auf etwas Allgemeines zurück zu führen. Eben das werden wir sagen können in der Geschichte. Denn sehen wir auf die verschiedenen Formen, unter denen die verschiedenen Völker existiren, und die Schicksale derselben, so kommen wir dazu | nur durch die Erfahrung. Hat man diese, dann kann man das freilich auf eine allgemeine Idee der menschlichen Natur zurückführen, und auf allgemeine Entwickelungsgesetze. Auf ursprüngliche Weise kann man dies nicht anders als durch die Erfahrung haben. Gegenwärtig können und müssen wir also dies trennen bei jeder Erkenntniß; aber wenn wir uns den vollendeten Zustand der Erkenntniß denken, so liegt in diesem, daß, was wir bis jetzt angenommen haben als Versuche das Einzelne auf das Allgemeine zurückzubringen, nicht mehr Versuch ist sondern Vollendung, und die Wissenschaft ist erst vollendet, wenn beides Eins geworden, und das Philosophische ist nichts, als das Streben nach der Einheit des Empirischen und des a priori. In der Mitte unserer Erkenntniß giebt es also die Trennung, in der Vollendung nicht. Wenn nun feststeht, die Idee einer vollendeten Wissenschaft ist nur die Einheit beider, die Mitte der Erkenntniß ist getrennt, so muß auch im Anfang die Erkenntniß der Einheit sein, aber auf eine verworrene Weise. Also von | einer Trennung der Psychologie in eine empirische und eine rationale wollen wir nichts wissen, sondern indem wir erst anfangen, müssen wir beides ineinander haben; aber das müssen wir wissen, daß wir hier vorläufig die Psychologie nur zu einer empirischen machen können, da alles vom Einzelnen ausgeht. Da aber die Wissenschaft ein Fortschreitendes sein soll, so müssen wir das Ziel der vollendeten Wissenschaft schon im Auge haben, und müssen dazu eben die Versuche machen, die wir auf anderen Gebieten auch machen, das Einzelne in das Allgemeine zu bilden; d. h. um das Mannigfaltige der psychologischen Kenntniß zu bilden haben wir keinen an-

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dern Weg, als den der Beobachtung, aber wenn wir zu gleicher Zeit etwas dazu thun wollen, daß diese Lehre zur Aufnahme in ein System der Erkenntnisse vorbereitet werde, dann müssen wir das andere Verfahren mit hinzunehmen und sehen, wie wir die gewonnenen Massen auf das Allgemeine zurückführen und aus ihm herausführen können. Aber dabei müssen wir nun beide Arten immer nur auseinander halten, und wissen, ob wir auf dem einen Gebiet oder auf dem andern sind, | und wir müssen von dem einen immer auf das andere zurückgehen. Die Masse wird immer empirisch sein; das Speculative können nur einzelne Blicke sein. Dies zeigt auch den Unterschied in der bisherigen Behandlung der Psychologie. Einige haben ganz auf dem rationalen Wege gehen wollen. Die haben oft das, was nur auf der Erfahrung beruht, für ein solches genommen, was auf allgemeine Weise feststünde; und weil sie geglaubt haben darin das Allgemeine zu haben, haben sie das nicht gefunden, was nachher aus den Massen hätte gewonnen werden können. Sie haben also nichts als eine empirische Psychologie gefunden, nach einer rationalen suchend; natürlich aber mußte sie hohl sein, da sie nicht von der lebendigen Anschauung ausging. Andere haben mit Bewußtsein die Psychologie auf die Beobachtung gebaut, allein weil sie gar nichts Höheres gewollt haben, so ist ihre Psychologie nichts anderes, als eine etwas wissenschaftliche Gestaltung desjenigen Gefühls, was alle Leute haben. Daraus entsteht gar keine Vervollkommnung. Der dritte Weg, in welchem allein eine wirkliche Fortschreitung | angelegt, und von welchem beständig auf die andern Erkenntnisse zurückgewiesen wird, ist sehr wenig versucht, und Schleiermacher gesteht nach seinem Gefühl noch auf ungelenke und willkührliche Weise; und das muß er bevorworten, daß auf diesem Wege es noch wenig Vorgänger giebt, daß wir also eine ganz junge Disciplin bearbeiten, und uns mit wenigen Fortschritten begnügen müssen. Nun entsteht uns die schwierige Frage nach unserm eigentlichen Anfang. Es ist gesagt: wir müssen den Gegenstand dieser Disciplin in seinen verschiedenen Äußerungen und Zuständen beobachten, und darin die ersten realen Elemente unserer Wissenschaft suchen. Der Gegenstand ist nun die Seele. Das ist wol leicht gesagt, aber wenn nun jemand sagt: ich soll die Seele beobachten, wo finde ich sie denn? so sind wir in großer Verlegenheit; weil wir nämlich die Seele nur mit dem Leibe haben, so entsteht uns eine große Schwierigkeit, indem wir die Seele fixiren, d. h. vom Leibe trennen wollen. Man könnte leicht sagen: es wäre dies im Grunde nicht wahr. Denn als gesagt wurde: 18 rationalen] rationalend

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wir müßten | bei allem Kenntniß der Seele voraussetzen, so ist das freilich wahr; aber wenn auf der andern Seite nachher gesagt ist: das höchste Resultat der Naturwissenschaft wäre erst die Kenntniß der Seele, so hätte man sagen können: das sei falsch, es sei das Leben das höchste Resultat, das Ineinander sein von Leib und Seele. So scheint es. Allein auf der andern Seite, wenn wir uns wiederum zusammen stellen das Lebendige und Leblose, so müssen wir doch sagen: es ist zwischen beiden eine Identität, in wiefern sich beides den Sinnen als ein Materielles zeigt, und wir müssen also dasjenige, was Princip des Lebens ist als etwas Besonderes setzen, und dieses höchste Resultat der Naturwissenschaft kann nicht herauskommen, wenn wir nicht die Idee des Lebens vom Kleinsten bis zum Höchsten verfolgen, und darin wird allerdings die Psychologie auch liegen, und es wird ein anderes sein die Betrachtung des Lebens, der Entwickelung des Geistes, und die Betrachtung des Menschen. Sollen wir aber unsern Gegenstand ins Auge fassen, wie machen wir es, daß wir die Seele vom Leibe trennen, nur sie allein zu | beobachten? Wenn man auf der Seite der Naturkunde von den untergeordneten Gestalten des Lebens zu dem Menschen kommt, so muß da aufgestellt werden eben solche Kenntniß des Menschen wie die der Thiere, und dies pfelgt man Anthropologie zu nennen. Die Psychologie die wir suchen ist auf der einen Seite also nichts, als ein Bruch der Anthropologie. Gewöhnlich sagt man die Anthropologie theilt sich in die psychische und somatische, oder in die Physiologie und Psychologie, allein Schleiermacher mögte doch immer sagen: wenn man diese Theilung macht, so hat man gar keine Anthropologie, sondern die Kenntniß des Menschen hat man nur, wenn man die Trennung nicht macht. Aber indem wir eine Psychologie wollen, wollen wir ein Aggregat von einzelnen Brüchen aus denjenigen Kenntnissen, welche die Anthropologie bilden. Das Psychische wollen wir uns bloß heraussuchen aus der Anthropologie, das darum nichts ist als ein Bruch derselben, denn ein Theil derselben ist es nicht. Warum wollen wir aber das? Wenn wir das Psychische isoliren könnten, so ist das die einzige unmittelbare Anschauung des höchsten Lebens, aus dem die Analogie für alles Übrige zu nehmen ist. Eine | allgemeine Anschauung des geistigen Princips soll daraus werden, und muß daraus werden, wo nicht, so sollen wir bloß bei der Anthropologie bleiben, und uns der Trennung des Geistigen und Physischen ganz enthalten. Aber zu jenem Höhern soll die Psychologie führen, und aus dem Streben danach ist sie hervorgerufen. 24 somatische] über der Zeile markiert mit (?)

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Dritte Vorlesung. [Inhalt.] Critik einiger Erklärungen von der Seele. – Vom Materialismus der Seele und dem Spiritualismus des Leibes. Unterschied der alten und der neuern Ansicht über die Grenzen der Thätigkeiten der Seele und des Leibes. Worauf beruht dieser Unterschied? 1) Die Seele ist das Eine Subject der innern Veränderungen. Die Einheit der Seele ist uns aber nicht gegeben, und daß die verschiedenen Vermögen der Seele Ein Ganzes | sind, ist eine Aufgabe die noch gelöst werden soll; auch der Leib ist eben so sehr Eins als die Seele. Der Gegensatz von äußern und innern Veränderungen findet Anwendung auf den Leib sowol als die Seele. | 2) Die Seele ist die berharrliche Einheit des Bewußtseins. Die Beharrlichkeit der Seele ist uns aber eben so wenig gegeben als die Einheit; das Bewußtsein davon entsteht erst daraus, daß wir die Erfahrungen wieder annuliren. Dann erschöpft auch der Begriff des Bewußtseins, in welchem eigentlich nur der eines Auffassens liegt, nicht den Begriff der Seele, indem er die freie Thätigkeit nicht mit begreift.

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Aber nun haben wir noch nichts gewonnen, als daß es ein herrliches und großes Ziel giebt, um dessentwillen wir die Schwierigkeiten nicht scheuen sollen die darin liegen, das Psychische im Menschen von dem Körperlichen zu trennen. Wie wir dieses zu machen haben, haben wir nun zu suchen. Es wäre vielleicht sehr gut, wenn wir eine passende Erklärung von der Seele geben könnten, aber die wahre Erklärung kann erst das Resultat der vollendeten Wissenschaft sein. Wie es mit den Erklärungen der Seele steht, können wir aus einigen Beispielen sehen. 1) Sie ist das Eine Subject der innern Veränderungen. Hier soll die Seele getrennt werden vom Körper durch die Einheit, und dann durch die innern Veränderungen. Das hält aber nicht Stich, vielmehr ist | die Einheit der Seele uns gar nicht gegeben. Es ist eine Mannigfaltigkeit von Vermögen, daß diese aber als Ein Ganzes, daß ihre organische Verbindung nachgewiesen werde, das soll noch gelöst werden. Dazu kommt noch, daß der Leib eben so sehr Eins ist als die Seele. 30 Vgl. Carus (1808), Bd. 1: „Der Körper, welcher die in bestimmten Grenzen beruhende Materie ausmacht, bildet ein organisches Wesen durch die Zweckmässigkeit, welche dem Bewußtseyn sowohl im Verhältnisse seiner Theile unter sich, als auch in dem des Ganzen gegeben ist. Mit ihm verbunden finden wir das Eine beharrliche Subjekt der inneren Veränderung, die Seele.“ (S. 88–89)

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Soll er erklärt werden, so kommt man auch auf eine Differenz verschiedener Functionen, aber nicht anders als bei der Seele. Weil uns aber auch die Seele nicht als getrennt vom Leibe erscheint, so haben wir auch wol nicht einmal ein Recht, sie als Einheit gegen den Bruch anzusehen. Soll aber die Seele das Subject der innern Veränderungen sein, so ist der Leib das Subject der äußern Veränderungen. Ist das aber ein Gegensatz? Wir können in den Thätigkeiten der Seele, und in den Thätigkeiten die wir dem Leibe zuschreiben müssen, ein Aeußeres und ein Inneres unterscheiden. Die Willensthätigkeiten können äußerlich und innerlich sein ein Wunsch ist bloß [ ][,] ein Entschluß ist eine Willensthätigkeit, die äußerlich wird, und also innerlich und äußerlich genannt werden kann. Die Seele ist | also das Subject der äußern und der innern Veränderungen. 2) Die Seele ist die beharrliche Einheit des Bewußtseins. Das klingt schon besser, weil es nicht so formell ist, aber ist doch unzulänglich. Denn die Beharrlichkeit der Seele ist uns eben so wenig gegeben als die Einheit, sondern wir schließen sie immer nur aus Combinationen. Es ist auch ein Wechsel im Dasein in der Wirksamkeit, und Nichtdasein in der Wirksamkeit, wie z. B. im Schlaf, und wenn sie nicht wirksam ist, ist sie gar nicht zu erkennen. Eben so bei der Zerstreutheit. Man kommt oft auf etwas ganz Neues, wo man sich den Übergang nicht erklären kann. Wir können also auch die Beharrlichkeit der Seele nicht allen Betrachtungen zum Grunde legen, sondern das Bewußtsein davon entsteht uns erst daraus, daß wir die Erfahrungen wieder annulliren; aber darum können wir noch nicht a priori dies aufstellen. Sagen wir weiter: die Seele ist das beharrliche Bewußtsein, erschöpft dann der Begriff des Bewußtseins den Begriff der Seele? Im Begriff des Bewußtseins liegt eigentlich nur der | eines Auffassens, welches der erste Seelenact sein kann, wiefern etwas Äußeres zum Grunde liegt, welches aber nicht der erste Seelenact sein kann, wiefern etwas Inneres zum Grunde liegt. Alle freie Thätigkeit ist also in dieser Erklärung gar nicht aufgefaßt. Man denke sich das Spiel der Phantasie; sobald die Vorstellungen da sind, bin ich mir ihrer bewußt, aber es ist doch nicht Bewußtsein darin sie entstehen, sondern das Bewußtsein ist erst Resultat der Vorstellungen. Eben so giebt es Willensthätigkeiten vor allem Bewußtsein. Die Erklärung ist also eben so mangelhaft als die vorige. 7 Gegensatz?] Gegensatz. manent?

10 bloß] es folgt ein Spatium für ein Wort, am Rand: im-

14 Anspielung auf Kant; vgl. Kant: Critic der reinen Vernunft, 5. Aufl., Leipzig 1799 [SB 1018], S. 413; Ak 3,270–271, 1. Aufl., Ak 4,229–230

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Es ist nun freilich in dieser Noth ein sehr natürlicher Versuch zu sagen: die Seele im Gegensatz gegen den Leib kann ich nicht definiren, aber den ganzen Menschen kann ich wol erklären. Wie wäre es also, wenn man da eine Erklärung faßte, wo gar keine Trennung möglich wäre? Solcher Ansichten haben wir zwei, man nennt die eine den Materialismus der Seele, und die andere könnte man Spiritualismus des Leibes nennen. Nämlich wenn wir sagen: die Seele besteht aus geistiger | Materie, und die Materie ist erstarrter Geist, so könnte es scheinen als ob kein Gegensatz mehr bliebe. Aber diese Erklärung hilft mehr dem Scheine nach als wirklich. Nämlich wenn sie gegeneinander treten, und wir stellen uns in die Mitte, so stehen wir eben so wie vorher zwischen Seele und Leib, und wir werden durch sie um nichts mehr gebessert, als wenn wir beide schon von vorn herein ausgleichen. Aber auch das würde nichts helfen. Denn wenn wir auch sagen: alle Thätigkeiten der Seele sind auch nur die der Materie, die Seele ist nicht eigenes Princip, sondern was wir so nennen, ist nichts als eine bestimmte Art der Zusammensetzung der Materie, was entsteht nun? Materie die auch nicht recht zu erklären ist wird vorausgesetzt als Substrat aller Thätigkeit; aber ist nun ein Unterschied zwischen den verschiedenen Thätigkeiten, so muß man doch eine so und eine anders componirte Materie voraussetzen, und so kommen wir wieder auf den Unterschied von innern und äußern Veränderungen, von Veränderungen die dem Bewußtsein involviren und solche die nicht, was wir immer gegen | einander abwägen müssen, und die Schwierigkeit bleibt immer die nämliche. – Gehen wir von der andern Erklärung den Prozeß rückwärts, so erfolgt dasselbe. Der Gegensatz zwischen Seele und Leib soll als Eins erscheinen, Geist und Materie giebt es nicht, sondern nur Eins, es sei nun welches es wolle, so ist dadurch nichts geholfen für die Erforschung der menschlichen Thätigkeiten. Die Ansicht, daß der Materialismus etwas nutzen könne ruht auf der atomistischen Ansicht, daß alles Aggregat zurückgeführt wird auf unendlich kleine Theile. Alle diese unendlichen Theile sind sich gleich. Die Differenz besteht nur im Aggregat. Aber diese Erklärung ist selbst nichts als ein Aggregat von unendlich vielen kleinen Unerklärlichkeiten. Die Schwierigkeit beruht gar nicht darauf, wie wir die Seele gegen den Körper stellen, das kann erst eine spätere Frage sein, zunächst handelt es sich darum, einen Regulator zum Unterschied für die Thätigkeiten des Leibes und der Seele zu finden, wie sie auch zu einander stehen mögen. Die neuern Ansichten stimmen damit überein, | alles, was auf die Seele bezogen werden soll, in das Bewußtsein hineinzule-

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gen, also die Seele als das Subject des Bewußtseins anzusehen. Bei den Alten kam dies gar nicht auf dieselbe Weise zum Vorschein. Nämlich da finden wir dieses, daß sie auch diejenigen Kräfte, deren Resultat nichts anderes ist, als die Erhaltung und Ernährung des Leibes, der Seele beilegten. Indem sie dieselben in ihren verschiedenen Abstufungen betrachteten, war ihnen dieses die unterste Stufe; dann kam dasjenige, was das allgemeinste und äußerste Substrat des Bewußtseins ist, die Wahrnehmung und Empfindung, dann die Begierde, die aber einen niedern Gegenstand hatte, und dann das höchste vernünftige Bewußtsein. Die Neuern haben gesagt: das sei nur ein Wortstreit. Wir müßten ψυχη nicht Seele nennen, denn darin sei die ganze Lebenskraft mitbegriffen. Aber das ist gar kein Wortstreit, sondern ein wirklicher Streit über die Grenzen von Leib und Seele, und die Alten schreiben etwas der Seele zu, was wir dem Leibe zuschreiben. | Wie steht es aber? Wo empfindest du Hunger und Durst? In der Seele, indem ein Moment des Minus in ihr ist? Nein im Leibe. Wo aber den Appetit? der doch nur das Bewußtsein des Vorgeschmacks ist. Empfindet man den Appetit in der Seele, den Hunger im Leibe, so sage doch einer wo die Differenz steckt. Wir sehen also hieraus wie sich die Grenzen verwischen, und wie die Alten alles für die ψυχη halten, wir aber nichts dafür, was nicht Bewußtsein ist. Die Trennung ist also sehr schwer. Setzen wir die Seele als etwas anderes als den Leib, so müssen wir sagen: wenn wir das Leben ganz nehmen, aber bloß in der Einzelnheit der Person, so steht jedem einzelnen Leben die ganze Welt entgegen. Das ist der einfachste Gegensatz. Setzen wir aber Seele und Leib einander entgegen, so tritt der Leib zwischen die Seele und die Welt, aber offenbar auf zwei entgegengesetzte Arten: nämlich 1), wenn wir uns die Seele als agens denken, so ist der Leib Organ, womit der Geist wirkt, wenn wir aber die Seele auch ein Leidendes nennen müssen, | so ist 2), der Leib das Organ, wodurch die Seele afficirt wird, also ein Organ der Welt auf die Seele. Daraus entstehen zwei verschiedene Systeme von Anziehungen. Ist der Leib Organ der Welt, so ist er mit der Welt der Seele entgegengesetzt; ist er Organ des Geistes, so ist er mit dem Geist zusammen der Welt entgegengesetzt. In der einen Ansicht wird die Neigung sein mehr auf die Seite der Seele, in der andern mehr auf die Seite der Welt zu legen; und so wird es unmöglich sein, den Gegensatz zwischen Leib und Seele in einer Formel so aufzufassen, daß er beiden Beziehungen genügt, vielmehr wird jede Erklärung 4 die] der auf der

9 niedern] mit ? versehen über andern

22 den] der

35 auf die]

1–10 Vgl. Aristoteles: De anima, insbesondere 414a–b, 432a–b, 433b; Opera 1,389, 403–404, 405–406; ed. W. D. Ross 30–32, 77–79, 81–82

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immer die eine oder die andere Ansicht begünstigen. Diese Differenz finden wir gleich im Vergleich der antiken Ansicht mit der modernen. Denn wenn die Alten das erhaltende Princip auch in die Seele setzten, so schreiben sie mehr von dem Leibe der Seele zu. Wir halten die Erhaltung des Leibes für mehr von der Einwirkung der Welt ausgehend; die Alten sagen: das ist schon Thätigkeit des Geistes auf die Welt[,] auf diese entgegengesetzten Ansichten mögten zuletzt alle Differenzen hinauslaufen. – |

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[Inhalt.] Auf welchen Standpunct müssen wir uns stellen? Wir gehen nicht aus von dem einfachen Bewußtsein des Ich sondern vom Leben, dem Ineinandersein von Leib und Seele. – Einem solchen einzelnen Punkt steht die Totalität alles übrigen Daseins entgegen. – Dieser Gegensatz ist bei dem Lebendigen ein anderer als bei dem Leblosen. – Verhältniß der Wechselwirkung zwischen dem Lebendigen und der Totalität. – Das Verhältniß findet in dem Lebendigen selbst statt zwischen der Seele und dem Leibe, der als Vermittler erscheint zwischen der Seele und der Welt. – Es giebt keine Thätigkeit der Seele, wozu der Leib nicht mitwirkte, wenn auch nur als ein Minimum; daher ist der Unterschied der Seelenthätigkeiten in Beziehung hierauf nur ein quantitativer nicht ein qualitativer. Die Thätigkeiten der Seele haben entweder ihren Anfang oder ihr Ende im Leiblichen. – Anfang und Ende tritt aber nicht bei allen gleich deutlich heraus; nämlich bei denen nicht, welche innere genannt werden, und welche sich nicht auf die Welt beziehen. Wie wir uns in Beziehung hierauf zu stellen haben. Indem wir uns nun ein Feld abstecken, wollen wir nicht sagen: das sei das ganze Gebiet der Seele, sondern wir wollen dadurch erst weiter fortschreiten. In den verschiedenen Functionen wollen wir die Grenzen zwischen Seele und Leib aufsuchen; und wenn das erst das Ende unserer Untersuchung sein kann, so bleibt uns nichts übrig, als anfangs nur solche Thätigkeiten zu wählen, die auf unzweideutige Weise der Seele angehören, und von dieser Seite aus diejenigen zu betrachten, wo schon zweideutig wird, was der Seele und was dem Leibe 7 Ansichten] Ansichten, 6–8 Vgl. z. B. Aristoteles: De anima, insbesondere 414b; Opera 1,389; ed. W. D. Ross 31–32

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angehören kann. Eine jede Wissenschaft wie die unsrige kann nur dadurch weiter gebracht werden, daß man auf diese hypothetische Weise anfängt, nur muß man den richtigen Standpunct finden, von dem man ausgehen kann. Das Anthropologische ist uns gegeben. Daraus wollen wir das Psychologische finden; wir müssen also immer auf das leibliche Ende sehen, um zu sehen, wie weit das Psychische geht. Es ist eine Täuschung, der man sich oft ausgesetzt hat, daß man von dem einfachen Bewußtsein, dem Ich ausgegangen ist, es gespalten hat, und geglaubt, man habe eben dadurch einen einfachen geistigen Faden, weil das Bewußtsein des Ich aller Erfahrung vorausgehe. | Diese Täuschung ist schon aufgedeckt, wir können also hievon nicht ausgehen, sondern vorläufig wollen wir das Leben oder das Ineinander von Leib und Seele als Subject setzen; alsdann werden wir sagen müssen jedes einzelne Leben, eine jede an solchem Punct, den man sich [ ] setzt haftende Reihe von Lebensthätigkeiten, können wir doch nicht anders construiren, als wir müssen uns einen Gegensatz davon denken. Es steht ihm aber entgegen alles Übrige. Dasselbe findet sich aber auch bei dem Leblosen. Wie wird sich nun der Gegensatz bei dem Lebendigen zeigen? Offenbar sehen wir das Leben an als ein inneres Verhältniß, und es giebt kein Leben, ohne das Bestreben sich im Gegensatz gegen alles Übrige zu erhalten. Dem Leblosen schreiben wir das nicht zu. Aber der Gegensatz bei dem Lebendigen kann nichts sein als eine Wechselwirkung, weil alles in Gemeinschaft ist; aber diese Wechselwirkung bei allem Lebendigen ist eine solche, daß niemals ein rein absolut leidender Zustand auf dasselbe existirt. Thätigkeiten die auf das Lebendige gerichtet sind und Gegenwirkung des Lebendigen, und Thätigkeit | des Lebendigen auf die Totalität dessen was entgegengesetzt wird, und Gegenwirkungen dessen worauf die Thätigkeit gerichtet wird, sofern es ein Lebendiges ist, oder Hemmungen des Leblosen, dies wird die Form aller Thätigkeit sein also auch der menschlichen. Einwirkungen der Welt werden erst etwas durch Gegenwirkung von uns, und Einwirkungen auf die Welt werden auch 14 solchem] solchen

15 sich] es folgt ein Spatium für ein Wort

11–18 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 26–27: „Es ist schon gesagt, es sei Täuschung der | man sich ausgesetzt, daß man vom einfachen Bewußtseyn des Ichs ausgegangen, und dieses gespalten hat und nun geglaubt man habe so ein Verfahren, das von der Erfahrung unabhängig sey: wie ferns aber einfach ist, kanns ja – wie wir sahen [–] nicht gespalten werden, sondern wenn das geschieht, so muß etwas anderes noch vorhergehen. – Wir nun wollen stattdessen, statt der Seele allein[,] das Ineinander von beiden[,] von Seele und Leib uns vorstellen – das Leben. Wir müssen sagen, jedes einzelne Leben, jede solche an einem bestimmten Punkt haftende Reihe von Lebensthätigkeit können wir uns im Gegensatz denken, jedes einzelne Leben steht aber der Gesammtheit alles übrigen entgegen, das thut freilich auch jedes einzelne lebendige Daseyn.“

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erst etwas durch Gegenwirkung oder Hemmung. Jemehr man nun den Gegensatz zwischen Seele und Leib annimmt, desto mehr wird man unterscheiden müssen Thätigkeiten welche überwiegend dem Leibe, andere welche beiden, andere welche überwiegend der Seele angehören; denn wenn wir den Gegensatz annehmen, müssen wir ihn im Leben selbst annehmen, und der Leib scheint uns ein Lebendiges und die Seele ein Lebendiges, deren jedes auf das andere wirken kann. Sobald aber der Mensch auf die Welt wirkt, so wirkt beides zusammen, nur wird man unterscheiden können, welcher Theil a parte potiori wirkt. Aber so | hoch können wir nicht steigen, daß die Seele wirken könnte ganz ohne den Leib. Diejenigen, welchen es am meisten Bedürfniß gewesen ist, Leib und Seele auseinander zu halten, haben die Thätigkeiten der Seele so getheilt: in Thätigkeiten, wo die Seele mit dem Leibe zusammen wirkt, und in solche wo sie allein wirkt. In der alten Philosophie hat Platon den Gegensatz zwischen Leib und Seele am meisten ausgebildet, und die Seele zu isoliren gesucht, welcher nachher von allen neuern Schulen, die einen ähnlichen Character haben aufgenommen ist. Aber wir sind nicht berechtigt Thätigkeiten der Seele anzunehmen, wobei der Leib gar keine Rolle spielte; die Erfahrung wenigstens kann sie uns nicht nachweisen. Freilich wenn ich denke, bin ich mir keines Gebrauchs meiner Glieder bewußt, aber das berechtigt mich nicht, dem Leibe gar nichts davon zuzuschreiben, vielmehr werden wir immer auf das Gegentheil zurückgeführt: 1) dadurch, daß wir nichts sinnen und denken können, was nicht durch Thätigkeiten die mit dem Leibe | zusammenhängen, abgeleitet wäre. Zwar ist das Gedachte nicht abhängig davon, aber von den Thätigkeiten ist die Rede, und da geht von dem Leibe die Thätigkeit immer zuerst aus. Im Zurückgehen der Seele auf die Resultate dieser Thätigkeiten ist auch eine Thätigkeit des Leibes mit involvirt. Was machen wir denn wenn wir in uns denken? Wir combiniren Bilder oder Worte. Die Bilder sind aber nichts als die Schatten der Eindrücke, welche durch die Eindrücke des Leibes entstanden, wir können also auch nicht anders sagen, als daß diese Thätigkeiten mit darin sind. Combiniren wir Worte, so ist dies innere Sprechen auch nichts als der Schatten des wirklichen, vollkommenen Sprechens und geht also immer auf jene Thätigkeit zurück. Nur ein Gegenstand schließt alle sinnlichen Anschauungen aus, die Idee des höchsten We10 wirkt] mit (?) versehen über wird 15–17 Vgl. Platon: Phaidon 64c–70c; Opera 1,145–159; Werke 3,27–47; Timaios; Opera 9,277–437; Werke 7,1–210 und Alkibiades I,130a–d; Opera 5,58–60; Werke 1,617–619

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sens, aber deshalb wird auch diese nie vollzogen in der Totalität ihrer Merkmale. Also selbst für die höhern Thätigkeiten der Seele, werden wir doch immer eine leibliche Thätigkeit, wenn gleich als Minimum präsumiren müssen. Wenn also dieser | Unterschied als ein qualitativer ganz wegfällt, und nur bleibt als ein quantitiver, wie sind denn nun alle Thätigkeiten, zu denen die Seele agens ist beschaffen? Entweder haben sie ihren Anfang oder ihr Ende im Leibe. Wenn wir unterscheiden diejenigen Thätigkeiten der Seele, die gewöhnlich angesehen werden als solche, wobei der Leib nicht concurrirt, so sind das offenbar solche, welche auch aus der Seele nicht herausgehen, nicht auf die Welt wirken, die wir innere Thätigkeiten nennen; und betrachten wir diejenigen Thätigkeiten welche sich auf die Welt beziehen, so können wir von letztern Thätigkeiten nur scheiden, ob der Anfang oder das Ende das Physiologische sei; bei den innern Thätigkeiten ist aber die Concurrenz so gering, daß wir nicht unterscheiden können wo der Anfang und wo das Ende. Wenn wir hören, so endigt sich diese Operation damit, daß wir dem Ton einen gewissen Ort anweisen, wo er entstanden ist, und auch einen Gegenstand, wovon er entstanden ist. | Diese Thätigkeit schreiben wir unbedingt der Seele zu, aber der Anfang der Thätigkeit ist offenbar ein physiologischer. So bei allen Sinnen. Wenn wir irgend etwas ausrichten wollen, so ist das Ende der Handlung offenbar in Bewegungen unserer Glieder, ohne die wir nichts in der Außenwelt hervorbringen können, das Ende ist also ein physiologisches, der Anfang im Willen, der der Seele zugeschrieben wird. So haben wir also zwei verschiedene Reihen von Thätigkeiten: 1) mit einem physiologischen Anfang und psychischen Ende und 2) mit einem psychischen Anfang und physiologischen Ende. Wenn wir nun die streitigen Puncte nicht berühren wollen, ehe wir etwas weiter sind, so sehen wir wol, wie das anzufangen ist. Wenn wir auf ein leibliches Ende zurückgehen, so kommen wir auf den ersten Anfang der ersten Bewegung der Gliedmaßen. Dieser liegt offenbar im Übergang, und wir würden uns in Schwierigkeiten einlassen, die wir nicht lösen können, wenn wir fragen wollten, | wo ist der Anfang des Physiologischen und wo das letzte Ende des Psychischen? Diese Frage lassen wir noch fort, und schreiben da alles dem Willen zu. Aber das Physiologische Ende wollen wir immer betrachten, weil es Einfluß hat auf des Psychische; denn wenn jemand eine Vorstellung hat von dem was getan werden soll, und es thut, so ist das ganz eine andere psychische Handlung, als die, welche die Glieder nicht zur Ausführung rührt, welche bloß Wunsch ist, da jenes Wollen ist. Aber über den Anfang des Physiologischen wollen wir nicht urtheilen. Eben so bei den Handlungen, wo das Ende ein psychisches ist. Indem wir etwas hören, und es auf seinen Ort oder auf die Person zurück führen, wo-

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her es kam, so ist das eine psychische Thätigkeit. Den Anfang der Handlung wird uns die Physiologie lehren, sie muß uns das letzte zeigen, was bei dem Sehen u.s.w. in dem Nerv vorgeht. Die Frage: woran knüpft sich der psychische Anfang? wo fängt die Thätigkeit der Seele mit an? lassen wir auch noch fort, weil wir eben so wenig den Anfang des Psychischen als das Ende | des Physiologischen finden können. Was die sogenannten höhern Seelenthätigkeiten betrifft, wobei wir zwar eine Thätigkeit des Lebens bestimmt mitsetzen, von dieser aber nur aus den Folgen ein Bewußtsein haben, so haben wir da freilich größern Spielraum; aber wir müssen doch nicht eher glauben, eine solche Thätigkeit recht gesehen zu haben, als wenn wir uns genöthigt sehen, das Physiologische mit zu betrachten; aber eben so wenig wollen wir uns im Voraus heraus nehmen, dies Physiologische genau zu bestimmen, was nicht einmal hierher gehört, wenn es auch gegeben wäre. Dazu wäre es eben so schwer die Grenze zu finden; denn das bleibt gewiß, daß das Psychische und das Physiologische niemals Null sind; in dem einen ist immer noch ein Minimum des andern. Unsere Aufgabe ist also; das Psychische in der Mitte zu erfassen, und dann wo möglich nach den äußersten Endpuncten hin es zu verfolgen. – |

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Fünfte Vorlesung. [Inhalt.] Wie uns die Aufgabe entsteht: Wie haben wir den Menschen zu stellen in Beziehung auf den Umfang des geistigen Princips, sowohl oberhalb als unterhalb der menschlichen Natur? Im Thierischen ist uns ein Bewußtsein unterhalb des menschlichen. Wie verhält der Mensch sich zum Thier? Da unser Bewußtsein hierüber nichts aussagt, kann nur dem wissenschaftlichen Interesse gemäß hierüber entschieden werden. Wenngleich das Untergeordnete des menschlichen Daseins mit dem thierischen in Analogie steht, so sind dennoch beide auf jedem Punkte ihres Daseins wesentlich verschieden. – Woraus entspringen die Phantasien des Menschen, welche über sein geistiges Dasein hinaus gehen? Sie sind die positiven Ausdrücke für das Negative, daß der Mensch sich nicht als die höchste Entwickelung des geistigen Princips ansehen könne weil die Unterordnung des übrigen Daseins nothwendig auf eine unbekannte Größe führt. – Diese Nothwendigkeit ist jedoch keineswegs dieselbe, mit der wir ein Absolutes gegen das Bedingte setzen. – Eine neue Aufgabe entsteht uns aus dem früher Erwähnten, daß nämlich die Trennung des Geistigen und Leiblichen im Menschen wol kei-

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nen andern Zweck haben könne, als nur eben das geistige Princip auf dieser bestimmten Stufe, die das menschliche Dasein darbietet, zu erfassen, und wo möglich daraus eine Anschauung oder doch wenigstens eine Meinung von seiner Geltung im Allgemeinen zu gewinnen. Wenn wir hievon ausgehen, sei es nach den alten oder nach den neuern Ansichten, so ist beiden gemeinsam, daß das Bewußtsein als das Höchste gesetzt wird. Diese Vollkommenheit des Bewußtseins ist das Höchste, was uns unmittelbar mitgegeben ist auf dem Gebiete des Geistigen. Wir sehen sie hervorwachsen aus einer niederen Stufe, wir können sie in Verbindung bringen mit noch andern Thätigkeiten, wo das Bewußtsein noch unklarer ist, als in den ersten menschlichen Thätigkeiten, und es bildet sich daraus die Aufgabe zu wissen: was steht noch über dem Höchsten, was können wir von unten anfangend noch mehr von der Entwickelung des Bewußtseins feststellen oder ahnen? Dieser Aufgabe können | wir uns nicht ganz entziehen, und selbst diejenigen, welche in der Psychologie bloß das im gewöhnlichen Selbstbewußtsein Gegebene behandelt haben, und am meisten gegen alle Thatsachen zu protestiren pflegen, welche in den Formeln der gewöhnlichen Lebenserfahrung nicht aufgehen wollen, werden unwillkührlich auf dieses Höchste hin getrieben. Wir müssen dagegen den Ort und die Tendenz unserer Disciplin gleich ins Auge fassen. Wenn uns die Erkenntniß des Geistes zur Kenntniß der ganzen geistigen Natur führen soll, so müssen wir eine unterhalb und eine oberhalb des Menschen liegende geistige Natur haben, dann könnte ein Heraufsteigen vom Minimum bis zum Maximum des geistigen Princips sein. So ist es uns aber nicht gegeben. Wir haben in der Erfahrung bloß ein geistiges Princip unterhalb des Menschen; nach oberhalb ist uns nichts gegeben, als die sich manifestirende Richtung der menschlichen Seele dahin. Da uns also dieses Glied fehlt, so müssen wir allerdings wol sehen, daß wir es hier zu einer über den Menschen hinausliegenden Erkenntniß | nicht bringen können. Aber wir müssen uns doch gleich die Frage vorlegen: wie wir den Menschen in Beziehung auf den ganzen Umfang des geistigen Princips zu stellen haben? Die Wichtigkeit dieser Frage wird am besten einleuchten, wenn wir uns im Allgemeinen vor Augen stellen, was uns gegeben ist, nämlich das vom Menschen Herabsteigende. Es ist uns gegeben die thierische Welt, und in dieser offenbar ein Bewußtsein des Geistigen unterhalb des Menschen. Es hat zwar von Zeit zu Zeit nicht gefehlt an der Ansicht, daß dem Thierischen das geistige Princip ganz fehle, welches seinen Grund hat in der Ansicht, daß das Thierische sich rein aus dem Mechanismus erklären lasse, daß es den Grund seiner Existenz nicht in 4 Geltung] mit (?) versehen

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sich trage, sondern immer von einem äußern Motiv abhänge. Aber diese Ansicht kann die Verwandschaft nicht ableugnen mit der, welche überhaupt das Geistige mechanisch erklären will, also noch vielmehr das, was unterhalb des Geistes liegt. Will sie diese Verwandschaft ableugnen so versteht sie sich selbst nicht. Wie die | Ähnlichkeit des Organismus zwischen dem Menschen und dem Thier nicht zu verkennen ist, so ist auch das Vorhandensein psychischer Thätigkeiten im Thier eben so wenig zu verkennen, und die Analogie dringt sich uns von dieser Seite eben so auf, als jene. Wie haben wir also vorläufig den Menschen gegen das Thier zu stellen? Hier sind zweierlei Ansichten möglich: 1) Daß es zwischen dem Menschen und Thier ein Gemeinsames gäbe, und dasjenige was den Menschen unterscheide käme zu jenem hinzu; 2) Daß es allerdings eine Ähnlichkeit gäbe zwischen dem Menschen und dem Thier, daß aber doch in dem Menschen nichts vorkommen könne, auch in seinen untergeordnetsten Thätigkeiten, in welchem nicht seine specifische Menschlichkeit mit enthalten sei. Welcher Ansicht wenden wir uns zu? Wir dürfen hier nichts zu Rathe ziehen, als entweder unser Bewußtsein überhaupt, oder das Interesse, welches uns überhaupt zur Bearbeitung unserer Aufgabe hintreibt, das wissenschaftliche. Was das erste betrifft, so müssen wir wol gestehen, daß unser Bewußtsein | hierüber nichts aussagt, denn die erste Ansicht könnte ja so aufgefaßt werden: was dem Menschen mit dem Thier identisch ist, das liegt unterhalb des Bewußtseins, z. B. das Thier assimilirt eben so fremden Stoff mit sich, pflanzt eben so fort, und vielleicht könnte man sagen: das Sehen und Hören des Thiers, abgesehen vom letzten Resultat, ist in seinen untersten Actionen eben dasselbe wie beim Menschen. Wird die Ansicht so aufgefaßt, so kann unser Bewußtsein nicht darüber entscheiden, denn dies sind Lebensthätigkeiten von welchen wir kein Bewußtsein haben. Ja wenn wir noch weiter gehen wollten und sagen: auch das letzte Resultat bei der Sinnesoperation ist beim Thier wie beim Menschen, so können wir uns freilich darüber wundern, aber wir könnten nicht sagen daß unser Bewußtsein dagegen spräche, denn wenn wir etwas daraus machen, was das Thier nicht daraus macht, so können wir sagen: Hier geht erst die menschliche Thätigkeit an. Wir müssen uns also auf das zweite wenden: was sagt das wissenschaftliche Interesse? Es giebt zwei Ansichten welche die Wissenschaft | zerstören: 1) daß die Gattungen und Stufen des Daseins selbst etwas Fließendes sind, was nicht bestimmt getrennt werden kann; denn wenn wir nun fragen wollen, wie 2–4 Anspielung auf die „mechanische Psychologie“ René Descartes. Zur „mechanischen Psychologie“ von Descartes, siehe auch Carus, Friedrich August: Nachgelassene Werke, Bd. 1–3, Leipzig 1808, hier Bd. 3: Geschichte der Psychologie, S. 489

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es um die Differenz von Thier und Pflanze stehe, so müssen wir dieselbe Antwort geben. Beide haben etwas Identisches, beim Thier kommt nur noch etwas hinzu. Wenn wir noch weiter gehen: was ist die Differenz zwischen dem Vegetativen und Nichtorganischen? so muß die Antwort dieselbe sein. Hier gewinnen wir zwar Abstufungen des Specifischen, aber nicht Abstufungen des Daseins überhaupt, und wir werden auf das zweite getrieben, daß wir nämlich nirgends eine wahre Einheit des Daseins vor uns haben; denn wenn das Thier mit dem Menschen etwas Identisches hat, so ist der Mensch keine Einheit sondern eine Zweiheit, er ist Thier, und außerdem noch Mensch. Eben so mit der Pflanze. Wir sind freilich jetzt sehr gewohnt, die Menschen über die Lebensthätigkeiten so reden zu hören, daß diese Ansicht zum Grunde liegt. Wie oft wird nicht gesprochen von der Vegetation und vom Thier im Menschen? | Aber gewiß liegt nicht diese die Wissenschaft zerstörende Ansicht zum Grunde, sondern sie will nur die menschlichen Lebensthätigkeiten zur Anschauung bringen, und dasjenige was in Analogie mit dem Thierischen und Vegetativen steht, trennen von dem was als rein menschlich hervortritt. Aber nicht kann man damit meinen, daß im Menschen dies ganz dasselbe sei als im Thier und in der Pflanze. Stellt man diese Ansicht auf, so zerstört man ganz das menschliche Dasein; die Einwirkung der Seele auf alles Leibliche, und die Wirkung des Leiblichen auf die Seele, und man begreift nicht, warum man solche Thätigkeit als noch zum Menschen gehörig rechnen kann, und nicht als außer ihm liegend. Im gemeinen Leben ist in der Sprache diese Ansicht häufig heraus getreten, damit geht aber alle Einheit des Wesens verloren, und der Mensch hört auf Ein Gegenstand der Forschung zu sein. Es bliebt uns also, wenn unsere Untersuchung fortgehen soll, nur die entgegengesetzte Ansicht übrig; daß das Untergeordnete des Menschen zwar in Analogie stehe mit den untergeordneten Thätigkeiten des Daseins überhaupt, daß aber immer die Aufgabe bleibe: das ihm Eigenthümliche darin aufzusuchen. Wir müssen | also die Aufgabe so fassen: um das menschliche Gebiet abzustecken, müssen wir die Differenz des Menschlichen und Thierischen soweit verfolgen als wir können, und wo unser Bewußtsein und unsere Analyse nicht weiter reicht, da müssen wir sie wenigstens annehmen, damit wir eine Einheit des Daseins haben. 13–14 Vgl. z. B. Begriff der psychischen Medicin als Wissenschaft, in: Magazin für die psychische Heilkunde, edd. J. Chr. Reil / A. Kayssler, Berlin 1805, S. 59: „Aber der Mensch bleibt Thier, und so müssen wir der bisher bezeichneten thierischen, die bewusste Sphäre entgegensetzen. Der Mensch ist also, als Thier, Vegetation und Sinn mit dem Uebergewicht der ersten – das nenne ich seine physische Sphäre, und er ist, als Mensch, Vegetation und Sinn mit dem Uebergewicht des letztern – das nenne ich seine psychische Sphäre.“

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Von der andern Seite ist uns keine Entwickelung des geistigen Princips über den Menschen hinaus wirklich gegeben, sondern nur Phantasien darüber. Diese Phantasien finden wir aber auf allen Stufen der Cultur unter verschiedenen Gestalten wiederkehren. Sie sind also offenbar Ausgeburten des menschlichen Bewußtseins, und wenn wir sie auch ansehen wie alles Mythische, so muß ihnen doch etwas Wahres und Wesentliches in der menschlichen Seele zum Grunde liegen, sie sind positive Ausdrücke für das bloß Negative im menschlichen Bewußtsein, daß der Mensch sich nicht als die höchste Entwickelung des geistigen Princips ansehen kann; sie sind Producte von dieser angebornen Demuth im Menschen, welche verbunden sind mit dem Höchsten im Menschen, mit dem Streben über | sich selbst hinaus, welches er sich in seinem Erkennen vorhalten muß, welches aber da er nicht hinaustreten kann, und da es kein eigentliches Wissen werden kann, sich in den bleichen und wandelbaren Gestalten der Ahnung offenbart. Dieses zum Grunde Liegende, daß der Mensch ein höheres geistiges Leben als das seinige als möglich setzen muß, können wir nie als rein Negatives in unser Bewußtsein aufnehmen, denn sobald man sich eines Negativen bewußt wird, so muß auch etwas Positives darin gegeben sein. Wo liegt das Positive aber in diesem Negativen? Es ist das Gefühl von der Unterordnung des übrigen Daseins. Dies führt uns nothwendig auf eine unbekannte Größe. Diese Nothwendigkeit muß aber in unserem Dasein selbst begründet sein, und darum sind dies die Endpuncte unserer ganzen Aufgabe: 1). Die Differenz des Menschlichen und Thierischen in sofern als unendlich zu setzen, daß wir sagen: es giebt keinen einzelnen Punct im Dasein wo sie nicht wäre; und 2). in dem Gebiete unseres eigenen Daseins den Grund aufzusuchen, weßhalb wir es als ein untergeordnetes | System setzen, und nothwendig etwas darüber setzen müssen. Diese Nothwendigkeit ist keinesweges dieselbe, mit der wir ein Absolutes gegen das Bedingte setzen, sondern die Nothwendigkeit, daß es im geistigen Gebiet noch eine höhere Stufe als die menschliche gebe, diese Nothwendigkeit müssen wir aufsuchen. Aber wo man das Positive erst aus dem Negativen entwickeln muß, da liegt die Frage sehr nahe: ob man nicht das Entgegengestellte, die Differenz des Menschlichen und Thierischen bis ins Unendliche, und eben so vom Menschen nach oben hin, ob man dies nicht als Eins und dasselbe betrachten könne?

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Sechste Vorlesung. Inhalt: Beides, die Differenz des Menschlichen und Thierischen bis ins Unendliche, und die Differenz des Menschlichen nach

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oben hin, sind nothwendige Voraussetzungen; aber beide sind Eins. Dann wäre im Menschen Menschliches und Thierisches getrennt vorhanden: so könnte die andere Voraussetzung gar nicht entstehen; sind aber die thierischen Funktionen auf besondere Weise im Menschen | modificirt, so kann dies nur daher kommen, daß sein eigenthümliches Dasein auch in diese Funktionen mit eingeht, und dann erklärt sich die Richtung im Menschen sich ein höheres geistiges Princip als das seinige zu denken. Die Seele als eine endliche Größe verliert nämlich soviel an den höhern Funktionen als sie an den niedern zusetzt. Das Gefühl dieses Mangels erzeugt daher eine Vorstellung von einem geistigen Zustande, wo der Geist sich freier entwickeln kann. – Diese Vorstellungen, welche entweder auf höhere Geister oder auf ein höheres Leben des Menschen nach dem jetzigen Zustande hinausgehen, können wir nicht in das Gebiet unserer Erkenntniß aufnehmen. ‒ Ohne eine Ungleichmäßigkeit des Gefühls von dem Gedrücktsein der Seele durch die Theilnahme an den niederen Funktionen würde jene Richtung sich nicht entwickeln. – In Beziehung auf die eigenthümliche Thätigkeit des Menschen befindet sich daher die Seele in einem beständigen Schwanken zwischen freiern und gebundenern Zuständen; und zwar ist dieser Gegensatz nicht derselbe mit der Differenz, | wo die Seele mehr durch den Leib thätig ist oder minder, sondern beide Gegensätze durchkreuzen sich. Dies führt auf den Gegensatz zwischen Gut und Schlecht, der nicht zu verwechseln ist mit dem zwischen gut und böse in der Ethik. In dem Maaß als die freie Thätigkeit steigt, steigt auch der Umfang des Gegensatzes zwischen gut und schlecht, und in demselben Maaß als der Begriff des Dinges in dem einzelnen Dinge nicht vollkommen gesetzt ist, tritt der Gegensatz hervor. In der menschlichen Seele müssen wir daher das Maximum dieses Gegensatzes annehmen, und jede Thätigkeit derselben auch in dieser Beziehung betrachten. Zuerst kann man beide nicht anders setzen, denn als nothwendige Voraussetzungen; denn so wenig wir eine Anschaung haben vom höhern geistigen Wesen, so wenig haben wir eine Anschauung von der Differenz des Menschlichen und Thierischen in ihren unendlichen Verzweigungen. Aber nothwendig sind beide. Wenn wir uns das ganze Universum denken sollen ohne eine höhere geistige Existenz als die menschliche, so fühlen wir eine Lücke, und | wenn jemand sagt: es giebt doch Functionen, die dem Menschen und dem Thier ganz ge34–35 höhern geistigen] mit (?) versehen über höchsten

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mein sind, so muß man, da die Grenze nicht aufzufinden ist den Menschen ganz als Thier setzen, wogegen das Bewußtsein streitet. Daß aber beide Ansichten als Eins betrachtet werden können meint Schleiermacher so: wenn man das Animalische auf bestimmte Weise trennen könnte, dann könnte man gar nicht sagen, daß die menschliche Seele in ihrer Eigenthümlichkeit gesetzt, durch das Animalische in dem Menschen afficirt wird, d. h. wenn wir zurück gehen auf den Unterschied, wo das Bewußtsein dieses Zusammenhanges stärker ist, und wo es schwächer ist, und wir wollten auch sagen: alle animalischen Operationen wären unabhängig von der Seele, so könnte die Seele dies nicht anders ansehen als Hemmung, denn die äußere Darstellung der Handlung wäre ja in etwas ganz außer dem Menschen Gesetztem, und die Seele würde sich nur in ihren eigentlichen Operationen völlig frei fühlen von dem Einfluß der leiblichen Seite des Menschen. Alsdann könnten wir uns auch schon nicht mehr construiren, in der menschlichen Seele sich einen höhern Zustand des geistigen | Princips selbst zu denken, als eben der, der im Menschen ist. Zwar könnte die Seele noch gehemmt werden durch den Leib, aber sie könnte immer nichts Höheres anerkennen als sich selbst ohne die Hemmung. Gehen wir aber davon aus, daß die thierischen Functionen auf besondere Weise im Menschen modificirt sind, eben weil er ein Mensch ist, so kann das nur von seinem eigenthümlichen Dasein ausgehen, und die menschliche Seele muß auch in diese Operationen hineingehen, denn nur durch ihr Hinzutreten kann das Eigenthümliche derselben aufgefaßt werden, und von dieser Voraussetzung aus kann man sich dann erklären, sich ein höheres geistiges Princip selbst zu denken. Steigen wir vom Menschen herab, so müssen wir ja sagen: von den Lebensthätigkeiten müssen wir diejenigen am höchsten halten, in welchen die Differenz des Menschlichen und Thierischen am meisten heraustritt, und diejenigen am niedrigsten, welche die meiste Analogie mit dem Thierischen haben. Dasselbe können wir im Vergleich des Thierischen mit dem Vegetativen und des Vegetativen mit dem Anorganischen sagen. Nehmen wir dies alles wieder | in die Anschauung des menschlichen Lebens auf, so müssen wir sagen: indem die Seele in alle diese Functionen hinabsteigt, und wir sie als endliche Größe setzen müssen so verliert sie an den höhern Functionen soviel, als sie an die niedern zusetzt. Könnte die unterste Reihe, die Analogie mit dem Anorganischen wegfallen, so könnte die Seele schon mehr nach oben gehen; fiele auch die zweite Reihe, die Analogie mit dem Vegetativen noch fort, und auch noch die dritte, die Analogie mit dem Thierischen, so könnte die Seele alle die Kraft, welche sie in diese setzen mußte, auf ihre eigenthümliche Entwickelung legen, und sich freier ausbilden.

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Aber beide Voraussetzungen sind dasselbe. Ist die Seele in den niedern Functionen, so ist sie gehalten durch das Gesetz der Schwere, und es ist dies ein Hinderniß, daß sie sich nicht frei nach der andern Seite entwickeln kann. Indem wir aber diesen Mangel fühlen, fühlen wir auch das Bedürfniß des Bessern, und eben dies Gefühl des Versenktseins in die Materie bringt ein Gefühl hervor von einem geistigen Zustande, wo dies nicht | ist, und der Geist sich freier entwickeln kann. Diese Vorstellung nimmt zwei Gestalten an: 1) die Vorstellung von höhern Geistern, als der Mensch ist, und 2) die Vorstellung von einem höhern Leben des Menschen nach diesem Zustande. Aber wir haben nicht das Recht dies Gebiet in unsere Erkenntniß aufzunehmen. In unserm Bewußtsein haben wir von beidem nichts, sondern beides ist nur ein verschiedener Ausdruck der Gedrücktheit unseres Zustandes, in welchem wir uns der Beschränktheit unseres Geistes bewußt sind. Wir können diese Vorstellungen hier nicht begründen; aber das folgt für unser Gebiet: wenn das Gefühl des Gedrücktseins der Seele durch die Theilnahme an den niedern Functionen ein überall Gleichmäßiges wäre, so würde sich nicht jenes Negative daraus entwickeln lassen, wie es keine Beklemmungen geben könnte, wenn die Luft überall gleich stark wäre. Das kann man von jedem Bedürfniß sagen, und auch dieses Gefühl würde nicht möglich sein, wenn es nicht eine Differenz des Versenktseins | in die niedern Functionen schon in diesem Leben gebe. Diese Differenz ist also der Mittelpunct jener Ansichten, denn da schon ein Mehr und Minder gegeben ist, so entwickelt sich daraus die Vorstellung eines geistigen freien Zustandes über den unsrigen hinaus. Eben so nothwendig also wie wir annehmen müssen, daß alles im Menschen menschlich ist, eben so gewiß müssen wir uns auch in Beziehung auf die eigenthümliche Thätigkeit des Menschen die Seele in einem beständigen Schwanken denken, in einem Wechsel von Herab- und Hinaufsteigen, von freieren und gebundnern Zuständen, und wir werden in allen Zuständen der Seele diese Differenz und das Steigen vom minimum zum maximum aufzufassen haben. Dies ist nicht Eins und dasselbe mit der Differenz, wo die Seele mehr durch den Leib thätig ist und minder, vielmehr durchkreuzen sich die Differenzen. Dieses Mehr und Minder in dem, was wir als freie Thätigkeit der Seele ansehen, findet in der einen Classe der Seelenthätigkeiten so gut statt als | in der andern, es ist dies Mehr oder Minder sowohl in den Operationen, welche die Seele durch den Leib verrichtet, als in den Operationen, wo das Maximum ihrer freien Thätigkeit ist. Dies führt uns von Selbst auf einen andern Punct: nämlich in diesem Schwanken zwischen einem Mehr und Minder, wenn wir die entgegengesetzten Puncte vergleichen, so setzen wir den einen Zustand

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als einen guten, den andern als einen schlechten, und indem wir diesen Unterschied aufstellen, müssen wir wissen, daß er hier auf weit allgemeinere Weise vorkommt; wir müssen ihn vorher abmachen, und ehe wir unsere Beobachtungen anfangen, müssen wir die Frage beantworten: ob es solchen Unterschied giebt? Giebt es einen solchen, und wir wollen uns eine Anschauung von den menschlichen Seelenthätigkeiten erwerben, so wären wir übel dran, wenn wir auf lauter schlechte Thätigkeiten der Seele mit unserer Beobachtung fielen, denn dann würden wir nur den Begriff der schlechten Seele zusammenlesen, und wir würden | glauben, den Begriff der Seele überhaupt zu haben; das Gute würde uns dann schon außerhalb der Seele liegen. Und von der andern Seite, wenn wir bloß auf Gutes in der menschlichen Seele fielen, so würden wir das Schlechte gar nicht mit aufnehmen, und unsere Vorstellung würde eine inadäquate sein. Was haben wir denn der Analogie nach in Beziehung auf diesen Gegensatz vorauszusetzen in Beziehung auf unsere Beobachtungen? Haben wir den Gegensatz nicht anzunehmen, oder ist eine Nothwendigkeit dazu da? Stellen wir uns auf die unterste Stufe des Daseins, und vergleichen ein Paar Cristallisationen gleicher Art, so sagt man doch, dies ist ein gutes Stück und das ein schlechtes. Könnte man aber auf ein einzelnes Stück kommen, worin gar keine eigne Thätigkeit wäre, da ist keine Differenz von Gutem und Schlechtem. Eben so auf der andern Seite: wenn man sich die höchste endliche Vollkommenheit denkt, so muß da wieder die Differenz des Guten und | Schlechten verschwinden. Denken wir uns in einem Endlichen das Maximum der geistigen Freiheit, und in der ganzen Gattung ganz gleich, so sind nicht zwei Exemplare zu finden, auf die man den Gegensatz anwenden könnte. In demselben Maaße aber als die freie Thätigkeit steigt, steigt auch der Umfang des Gegensatzes zwischen gut und schlecht, und in demselben Maaße, als der Begriff des Dinges in dem einzelnen Dinge nicht vollkommen gesetzt ist, tritt der Gegensatz hervor. Wir müssen also in der menschlichen Seele das Maximum des Gegensatzes annehmen. Uns ist kein Gegenstand gegeben, in welchem der Gegensatz einen freiern Spielraum hätte, als die Seele, und der Mensch ist uns so gegeben, daß der Begriff der Gattung nicht von allen auf dieselbe Weise realisirt ist, weshalb uns also der Gegensatz mitgegeben ist. Käme aber die Gattung auf die höchste Stufe, so müßte der Gegensatz verschwinden. So wie uns aber der Mensch gegeben wird, wie er jetzt ist, so ist der Gegensatz am | größten, weil die freie Thätigkeit am größten ist. Es ist dies aber nicht der Gegensatz zwischen gut und böse in der Ehtik, sondern es ist ein ganz allgemeiner, für jede Thätig1 guten] doppelt unterstrichen

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keit passender, und es entsteht uns die Aufgabe, daß wir eine jede Thätigkeit auffassen müssen in ihrem Aufsteigen von der höchsten Unvollkommenheit zur höchsten Vollkommenheit, und in ihrem Herabsteigen von der höchsten Vollkommenheit zur höchsten Unvollkommenheit. Siebente Vorlesung.

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Inhalt. Wir nehmen keine Thätigkeit an ohne die Differenz des Guten und Schlechten, welche auf zwiefache Weise in Beziehung auf Einzelnes und in Beziehung auf das Ganze gefaßt werden muß. – Differenzen welche nicht aus einer Ungleichheit des Werthes hervorgehen und welche als constante Größen gegeben sind. Jede Seele ist eine eigene von der andern verschiedene. – Geschlechtsdifferenz. – Nationale Differenzen und ihr Verhältniß zur persönlichen. Entgegengesetzte Ansichten von der Entstehung dieser Differenzen, über welche hier noch nicht zu entscheiden ist. – Wir müssen keine Art von Thätigkeit annehmen ohne diese Differenz. Die Gründe dazu können wir hier nicht auffinden, wollte man das, so käme man auf die Frage von der Freiheit, deren Begriff man erst genau bestimmen müßte. Diese Frage ist oft zum Grunde gelegt worden. Im Bewußtsein ist aber der Gegensatz eben so gut gegeben, und es ist ein Schwanken desselben zwischen Freiheit und Nothwendigkeit. Überdies ist es gar nicht nöthig diese Frage zum Grunde zu legen, weil sie uns vielleicht hindern würde, alles von allen Seiten zu betrachten. Wenn wir vom Leben ausgehen und sagen: Das lebt, was den | Grund der Veränderungen in sich selbst hat, so giebt das jeder zu, auch der die Freiheit leugnet. Wir werden nun auf eine andere Frage geführt, die unserer Untersuchung eine andere Richtung giebt. Nämlich der Gegensatz des Guten und Schlechten, wenn auch nur ein relativer ist doch immer eine Differenz, eine Ungleichheit, die wir gleich auf zwiefache Weise fassen müssen. 1) In Beziehung auf Einzelnes, daß dasselbe gut und schlecht sein kann, und 2) in Beziehung auf das Ganze, wo ein Theil gut, der andere schlecht ist. Außer der Ungleicheit des Werthes giebt es aber noch eine Ungleichheit der Beschaffenheit, die nicht auf eine Ungleichheit des Werthes zu reduciren ist, wo man nicht von dem einen übergehen kann auf das andere, sondern wo die Differenzen als constante Größen gegeben sind. Es ist die allgemeine [Ansicht], daß jede Seele eine eigene, von der andern verschiedene ist. Hier sind gleich sehr verschiedene Ansichten: 1) Die Ungleichheit sei eine ursprüngliche,

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den verschiedenen Seelen als solche wesentlich, also angeboren; 2) alle einzelnen Seelen seien | angeboren einander gleich, die Ungleichheiten entwickelten sich erst allmählich, ihren Grund also mehr habend in dem, was den Seelen begegnet, als was sie sind. Beide Ansichten haben etwas für sich. Die Gleichheit und die Ungleichheit ist nicht zu leugnen. Wir können nicht einmal vermuthen, daß Gleichheit und Ungleichheit in constantem Verhältniß gegeben wären, und so wie wir eine Differenz annehmen, müssen wir auch beide Ansichten annehmen. Wir müssen also die Entscheidung gleich anderswo hernehmen als aus der Beobachtung. Eine andere Ungleichheit stört unsere Untersuchung, die des Geschlechts. Von den einzelnen Eigenthümlichkeiten kann es keinen Begriff geben, aber alles Bestreben geht darauf hin den Begriff zu bilden, aber wir kommen nie damit zu Stande. Eben so ist es auch mit dieser Differenz. Wir erkennen sie alle an, aber wenn wir sie gleich in einzelnen Zügen kenntlich machen können in Beziehung auf die Thätigkeiten der Seele, so können wir sie doch nie in einen Begriff bringen. | Es sind auch hier entgegengesetzte Ansichten. Die eine Meinung ist: Die Verschiedenheiten, die sich in der Seelenthätigkeit offenbaren, sind bloß in der leiblichen Verschiedenheit gegründet; die andern: die Verschiedenheit in den Seelenthätigkeiten ist für sich, sie ist so ursprünglich als die leibliche. Über diese verschiedenen Ansichten können wir im Voraus auch kein Urteil fällen, sondern wir werden es auch nur daher nehmen können, wenn wir auf den entgegengesetzten Punct merken, auf das Versenktsein der Seele in die mehr animalischen Thätigkeiten und auf ihre eigentlichen Thätigkeiten. Suchen wir die Verschiedenheit in dieser Reihe, so werden wir finden, ob die Verschiedenheit in den entgegengesetzten Puncten oder in demselben Puncte ruht. Nächst diesem ist die Ungleichheit der Seele gegeben in den Völkern. Diese ist nicht zu leugnen, und sie hat eine bestimmte Analogie, was das Verhältniß der Geschlechts-Differenz betrifft und die Eigenthümlichkeit. Um aber die nationale Differenz zu betrachten, müssen wir | mehr in die Ferne treten, und den Einzelnen im Ganzen verschwinden lassen, denn stehen wir zu nah, so sehen wir die Einzelnen und ihre Eigenthümlichkeit. Im Voraus ist also gar nicht zu bestimmen, was wir als das Wichtigere sollen zum Grunde legen. In den meisten psychologischen Darstellungen ist dieser Mangel. Man fühlt wohl, daß man die Nationalverschiedenheit auffassen muß, aber man hält sich dabei so an Einzelne, daß es nur als eine Zugabe, gar nicht zur Sache Gehöriges erscheint. Das ist ausgemacht, daß weit mehr Gewicht auf dieser Differenz liegt, als man gewöhnlich glaubt; denn 11 die des Geschlechts] doppelt unterstrichen

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sieht man auf das Practische, so muß doch, wie die Beobachtungen der Seelenthätigkeiten die Seele selbst erkennen lassen, so das Beobachtete wiederum ins Leben übergehen, und daraus eben muß sich alles Psychologische herleiten. Das Größte aber wird aus den Massen hervorgebracht, deren ganzes Wirken man begreifen muß, und die man nicht ansehen kann, als ganz von dem Geiste Einzelner belebt. Wie sehr man nun dieses auch einsehen möge, so muß doch jede jetzige Behandlung | durch die Fehler der Vorgänger leiden, weil noch nicht die Vorarbeiten dazu gemacht sind. Aber sehr wichtig ist es zu sagen, daß diese Untersuchung weit mehr hervorgehoben werden muß, als bisher geschehen. Die Nothwendigkeit derselben wird auch durch die Sache selbst gegeben, abgesehen von dem Practischen. Man kann sagen: Die Einzelnen bilden die Massen. Hat man die Einzelnen betrachtet, so muß man auch das finden, was allen gemeinsam ist. Das ist wahr, aber was das finden betrifft, so ist dies in der Betrachtung der Einzelnen nicht möglich, weil die Eigenthümlichkeit der Einzelnen zu sehr anzieht. Aber umgekehrt auch die entgegengesetzte Ansicht ist wahr: Die Einzelnen entstehen aus dem Ganzen und die Eigenthümlichkeit der Einzelnen wird durch die Eigenthümlichkeit des Ganzen begrenzt. Die Eigenthümlichkeit der Einzelnen, welche aus der des Ganzen herausgeht ist so unnatürlich, wie eine männliche Seele im Weibe. Das Volksthümliche können wir also ansehen als das Beschränkende der persönlichen Eigenthümlichkeit. Aber dabei braucht man noch nicht stehen zu bleiben, man kann auch sagen: Die Volksthümlichkeit producirt die persönliche Eigenthümlichkeit, | letztere ist nur Modification der erstern. Fassen wir es so, so ist die klare Anschauung des Volksthümlichen eben so wichtig als die der persönlichen Eigenthümlichkeit, welche erst dadurch richtig begriffen werden kann, daß man sie auf die Volksthümlichkeit beziehe. Wir müssen uns also im Voraus gleich gegen beide Ansichten stellen. Nun aber sind die verschiedensten Ansichten über die Entstehung dieser Differenz. Ein Zusammengehören des Geistigen und Leiblichen ist auch hier nicht zu verkennen, nur daß das letztere auch will aus einer gewissen Ferne betrachtet sein, damit nicht die Eigenthümlichkeit des Einzelnen allein aufgefaßt werde. Ist nun das Psychische von dem Leiblichen abhängig? Diese Frage ist weniger interessant. Die entgegengesetzten Ansichten hier sind die: 1) Die psychische Volksthümlichkeit hängt mit der leiblichen zusammen, die leibliche ist aber nur ein Product des Locals, aber nicht eine Modification in Beziehung auf den Begriff des Menschen; 2) die leibliche Differenz wird zurückgeführt auf die psychische, letztere aber nur als durch das Zusammenleben entstanden angesehen, nicht als ursprünglich. | Die Verschiedenheiten entstehen also durch die verschiedenen Sitten, Beschäftigungen, Regierungsformen

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u.s.w. Woher aber alles dies? Man muß es entweder auf etwas Psychisches zurückführen, oder es für etwas Zufälliges halten, was letztere Ansicht thut. Mit der ersten Ansicht ist es auch so, denn die Annahme, daß alles bedingt sei durch logische Verschiedenheiten, ist eben so willkührlich und zufällig, und das Natürliche wäre, einen Naturgrund aufzusuchen. Dieser Gegensatz also ist ein solcher der rein willkührlich ist. Jedoch kann man sagen: die Ansicht ist ja doch gut, die Einheit der menschlichen Seele überhaupt wird dadurch erhalten, daß man die Differenzen als untergeordnet und nicht als wesentlich betrachtet. ‒

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Achte Vorlesung. Inhalt. Die Volksthümlichkeit führt auf die Verschiedenheit der Charactere der Menschenracen zurück. ‒ Von der Vorstellung einer gemeinschaftlichen Abstammung von Einem Menschenpaar. Wer diese leugnet, leugnet keineswegs die Einheit des Geschlechts. Diese Vorstellung ruht nicht auf historischem Grunde, sondern war das Product der gegebenen Differenz, und für uns nicht mehr nöthig. Von der Vorstellung eines ersten Menschenpaars überhaupt welches wir nicht begriffsmäßig aufzufassen im Stande sind. – Von der Differenz der Temperamente. Von der Ungleichheit der Ungleichheiten welche durch alle Differenzen durchgeht. Das Absolute ist nur im | allgemein Menschlichen im Gegensatz gegen das Thierische, das wahre Bild des menschlichen Lebens entsteht nur durch die Betrachtung dieser Gegensätze von ihrer höchsten Abstumpfung an bis zu ihrer höchsten Spannung.

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Wenn die Volksthümlichkeit als etwas Ursprüngliches angesehen wird, so muß dies noch weit mehr von den Characteren der Menschenracen gelten, die allerdings größer sind als die Volksthümlichkeiten. Aber die Verschiedenheiten der Racen sprechen sich erst aus in den Volksthümlichkeiten in einer Race. Offenbar aber führt uns die Volksthümlichkeit auf die Verschiedenheit | der Racen zurück. Man sagt nun: wenn diese Verschiedenheit ursprünglich ist, so wird die Menschheit in mehrere Species getheilt. Schleiermacher sieht aber nicht ein, warum dies die Einheit der Gattung aufheben sollte, wenn sie wirklich in verschiedenen Arten erschiene, und warum dies die Einheit überhaupt stören sollte, denn die Verwandschaft bliebe ja doch, die ja überdies nicht auf der Art der Äußerung, sondern auf dem unmittelbaren Gefühle beruht. Die menschliche Gestalt würde

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uns gleich ansprechen in dem Neger, Amerikaner und so weiter, wenn wir sie auch als verschiedene Arten in der Theorie ansehen. Es schleicht sich aber das hier ein: nimmt man die Verschiedenheit als ursprünglich an, so leugnet man das Abstammen von einem Vater, und man meint nun, daß man damit auch die Verwandschaft leugne. Das ist aber ein Irrthum und kann uns nicht bewegen, schon jetzt über die Sache abzusprechen. Die Vorstellung von einem Stammvater finden wir nicht überall, sondern die meisten Völker schreiben sich einen Ursprung abgesondert | von den übrigen zu. Diese ganze Ansicht war aber nur das Product der gegebenen Differenz, sie beruhte auf keinem historischen Grunde. Läßt man daher alle Sachen aus dem Spiel, so würde sich dies doch immer nach dem Gefühl richten. Sehen wir nun auf die Geschichte im Großen, und sehen wie das Gefühl der Differenz abgenommen und das der Einheit gewachsen ist, wie wir den allgemeinen Frieden als Naturzustand betrachten, so ist dies Gefühl so befestigt, daß wir nicht mehr der Vorstellung eines Stammvaters bedürfen. Auf der andern Seite aber dürfen wir auch nicht gleich auf diese Seite hin absprechen, vielmehr ist hier noch eine eigene Beziehung dieser Ansicht auf alle unsere Untersuchungen. Wir mögen das eine oder das andere annehmen, das allmählige Entstehen der Differenz oder ihre Ursprünglichkeit, so werden wir doch immer auf die Frage von dem Anfange des Menschengeschlechts, auf den Zustand einer geringen Menschenzahl auf der Erde getrieben, und zuletzt auf die Vorstellung es sei nun von Einem | Menschenpaar, oder doch in den verschiedenen Zonen von Einem Paar. Es ist aber Ein Menschenpaar im Anfange etwas Unbegreifliches. Wir können den Unterschied dieses Menschenpaars von den übrigen nicht nachconstruiren. Wir kommen immer auf das Dilemma, daß wir das Enstehen des Menschen anders denken müssen als das Fortbestehen. Das können wir aber nicht. Im ersten Menschen kann aber nicht alles so entstanden sein, als jetzt, weil er nicht als Kind aus andern Menschen entstanden ist; wir können ihn also gar nicht begreifen, und alles was wir von uns auf ihn übertragen wollen, kann nur mythisch sein. Dessenungeachtet haben viele geglaubt, daß man den Menschen nicht ohne den ersten Menschen verstehen könne. Das ist aber völlig unzulässig, weil wir über alles Geschichtliche hinausgetrieben werden, und immer nur auf zweierlei getrieben werden: indem wir alles im ersten Menschen denken müssen entweder auf übernatürliche Weise entstanden, und dann findet keine Vergleichung | mit uns statt; oder wir müssen uns denken das Menschliche in ihm aus Null entstanden, d. h. aus einem Zustande von Bewußtlosigkeit, welcher allerdings mit einem leiblichen Organismus gedacht, vom Thierischen nicht zu unterscheiden ist. Wir müssen da also den Menschen aus dem Thier sich entwickelnd den-

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ken, und da ist auch die Analogie verloren. Es hat also die ganze Frage vom ersten Menschen für uns gar kein Interesse, als nur um darzulegen, daß wir sie völlig aus dem Spiele lassen müssen, um nicht den Begriff aus unserer Untersuchung gleich auszustoßen, den wir doch haben müssen, denn aus einem Mythus lässt sich nur eine Reihe von Bildern, kein System von Begriffen bilden. Unser Interesse an der Frage ist also Null; eben so das moralische. Das speculative Interesse wäre: da jeder erste Mensch unbegreiflich ist, so muß man die Unbegreiflichkeiten nicht vermehren, und so würde man sich für die Abstammung von einem Menschenpaar erklären. Aber auch dadurch kommt eine andere Unbegreiflichkeit; denn nun wäre es unmöglich die constanten Differenzen zu erklären. Wir sind | indifferent gegen beide Ansichten, und müssen nur sagen, daß wir das, was sich ergiebt nicht anwenden wollen auf den ersten Menschen, und noch weniger, daß wir die Vorstellungen des ersten Menschen zur Basis von unserer Untersuchung machen wollen, sondern wir müssen den Menschen nehmen wie er gegeben ist aus dem Zusammensein mit anderen und im Zusammensein. Außer allen diesen Differenzen giebt es noch eine, die eben so an der Vorstellung des ersten Menschen scheitert, aber die wir uns eben so wenig wie alle andern ableugnen können, wenn wir auf die Menschen sehen, wie sie gegeben sind, das ist die Verschiedenheit der Temperamente. Von der Erklärung derselben kann hier nicht die Rede sein, sondern nur, daß wir sie werden als Constantes betrachten müssen. Denken wir uns einen ersten Menschen mit einem Temperament, so müßte dies das normale, die andern Ausartungen sein, aber sie stehen alle im Gleichgewicht, wenn sie rein sind, und Ausartungen giebt es von jedem. Diese Differenz ist durchaus constant. Alle Temperamente finden wir in jedem Volk, in jedem Geschlecht. Sehen wir aber auf | die Einzelnen, so müssen wir auch da sagen: Die Differenz der Temperamente ist auch da etwas anderes, als die Differenz der gewöhnlichen Eigenthümlichkeit. Man hat oft die Sache so angesehen, als wenn die Temperamente nichts wären als abstracte Begriffe, wodurch die Eigenthümlichkeit angedeutet würde, oder als wenn die Eigenthümlichkeit nichts wäre, als ein Temprament oder eine Mischung von mehreren. Aber das Temperament ist nur ein Theil der Eigenthümlichkeit, denn es giebt darin noch vieles, was in den Begriff von Temprament nicht aufgeht. Eben so wenig ist das Temperament ein abstracter Begriff, denn es zeigt sich in jedem Zustande des Menschen von einem Übergange zum andern. Darin ist aber die Eigenthümlichkeit noch nicht ganz aufgefaßt, dies kann erst geschehen, wenn der Mensch todt ist. Wollen wir sie fassen, so kann das immer nur allmäh-

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lig geschehen, und abgeschlossen kann die Anschauung erst werden, wenn kein neuer Stoff mehr geliefert wird. Das Temperament kann aber in allen verschiedenen Zuständen erkannt werden, weil es sich eben in | der Art zeigt, wie ein Zustand auf den andern folgt. Halten wir uns aber alle diese Differenzen vor Augen, so kommt noch hinzu: nämlich um das Gebiet unserer Untersuchungen ganz vor uns zu haben, müssen wir nicht nur auf die Ungleichheit, sondern auch auf die Ungleichheit der Ungleichheiten sehen. Z. B. werden wir sagen müssen: nicht zu allen Zeiten ist die Differenz der persönlichen Eigenthümlichkeit gleich groß, sondern wir müssen Zeiten und Umstände unterscheiden, wo sie Maximum ist, und wo sie Minimum ist, und haben wir das Verhältniß dieser Differenz nicht erkannt, so haben wir das Leben des Menschen nicht erkannt. Dasselbe gilt auch von den Temperamenten. Wir finden sie in allen Zeiten und in allen Völkern, und finden in der Ferne auch ein Nationaltemperament, was aber die Differenz der Temperamente der einzelnen Personen nicht ausschließt, sondern es liegt nur darin, daß das eine Temperament überwiegt. Es liegt aber darin auch, daß die Differenz der | Temperamente wiederum ungleich ist, daß sie nicht nach allen Seiten hin sich gleichmäßig entwickelt, und es kann Zeiten und Zustände geben, wo die Differenz in einem Volke stärker oder schwächer ist. Dasselbe gilt auch von dem Unterschied des Geschlechts, denn wenn auch eine männliche Seele in einem weiblichen Körper Mißgeburt ist, so finden wir doch überall in der Tradition die Sage von einem relativen Aufgehobensein der Geschlechtsdifferenz. Zwar sind das nur Mythen, aber sie beruhen doch auf einer innern Empfindung, in welcher etwas Wahres ist, und findet sich auch das der Dichtung Entsprechende nicht in der Masse, so ist es doch in den Einzelnen und der Gegensatz läßt allerdings eine Abstumpfung und eine Anspannung zu. Dasselbe gilt auch von der Nationaldifferenz. Wie sie sich in der Feindschaft offenbart, so erscheint sie als ein Abnehmendes in der Gemeinschaft der Völker, wiewol sie nie ganz verschwinden kann. Auf der andern Seite subsumiren wir die Völker unter die Racen, so bestätigt sich auch, daß nicht in jeder Race eine gleich große Verschiedenheit der einzelnen Völker hervortritt, | sondern daß in einigen die Differenz weit größer, in andern weit kleiner ist. Diese Betrachtung geht also durch alle Ungleichheiten hindurch, und wir verstehen diese Ungleichheiten nicht, als mit ihrer eigenen Ungleichheit. Gehen wir vom ursprünglichen Bewußtsein aus, so müssen wir es erst in einen Gegensatz versetzen, wenn wir etwas Mannigfaltiges haben wollen. Aber indem sich uns alle großen Differenzen im menschlichen Leben nicht anders zeigen, als unter dem Gegensatz von Anspannung und Abstumpfung, so werden wir dasselbe im Voraus auch von allen menschlichen Zustän-

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den sagen müssen, die wir in einen Begriff bringen. Das Absolute liegt nur im allgemein Menschlichen zum Unterschiede von dem Thierischen. Das wahre Bild des menschlichen Lebens wird uns nur werden in der Betrachtung der Gegensätze von ihrer höchsten Abstumpfung an bis zu ihrer höchsten Spannung. Unsere nächste Frage ist: wenn wir vom ursprünglichen, von aller Differenz entblößten Bewußtsein ausgehen, woher bekommen wir den ersten Gegensatz? |

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Neunte Vorlesung. Inhalt[.] Wie kommen wir zu dem ersten Gegensatz? Begriff des Lebendigen und des Todten. Wie haben wir das Leben zu setzen in Beziehung auf unsere Untersuchung als Eins oder als Vieles? Wir setzen hier die Totalität des menschlichen Lebens der ganzen übrigen Totalität entgegen. Die Totalität des Menschlichen ist aber auch nur in der unendlichen Vielheit der einzelnen Menschen gegeben. Der gegenwärtigen Lage der Disciplin ist es angemessen, daß wir mit der Betrachtung des beschränkten persönlichen Bewußtseins den Anfang machen, und so hinauf steigen zur Idee des allgemeinen menschlichen Lebens.

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Hier ist der eigentliche Anfang unserer Untersuchung, indem wir dadurch vom Einfachen zum Mannigfachen gehen. Es scheint als wäre erst ein Plan nothwendig, aber der Plan kann auch nur nach Beantwortung der Frage gemacht werden. Auf was für eine Differenz stoßen wir zunächst, und ohne daß wir unbewußter Weise psychologische Untersuchungen schon angestellt hätten, wenn wir vom Ich ausgehen? Das bloße Ich ist nie ein abgeschlossenes Bewußtsein, das einen Moment begleitet, sondern in jedem Moment sind wir uns als ein so oder so modificirtes Ich gegeben. Aber indem eine Einheit des Lebens ist, werden wir durch die Abstraction auch die Einheit des Ich finden. Gehen wir von diesem Ich aus, abstrahirt von allen Modificationen, so finden wir gar keine Mannigfaltigkeit. Wir suchen aber einen Gegensatz, der der Grund aller Modificationen ist, und unter den wir sie alle subsumiren können. Im bloßen Ich finden wir ihn nicht, wir müssen also weiter gehen und erst einen andern Begriff suchen, unter den wir die ganze Mannigfaltigkeit der Zustände bringen können. Da werden wir keinen andern | finden als den Begriff des Lebens, denn so wie das kahle Ich in jedem bestimmten Moment selbst gesetzt ist, so ist der Begriff des Lebens nur der Ausdruck für die Art, wie das Ich von einem bestimmten Moment des Daseins in

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den andern übergeht. Im Übergange von einem zum andern, vom Ich zum Leben, sind wir also bloß vom Einzelnen zur Succession gegangen, und haben das Ich unter einen höhern Gattungsbegriff gebracht, unter welchem es mit vielen andern befaßt ist. Nun muß aber der Begriff des Lebens so gefaßt werden, daß nicht zuviel, nicht zu wenig herauskommt; nicht zu wenig, denn wir müssen eine Duplicität haben, nicht zuviel, damit wir nicht eine Beschränkung anticipiren. Der Begriff des Lebens ist uns nur zu geben im Zusammensein mit seinem Gegensatz dem Tode. Denken wir uns das Lebendige und Todte als eine Einheit, so müssen wir fragen: Das Lebendige kennen wir schon als ein solches, worin ein Wechsel durch Succession gesetzt ist, ist es mit dem Todten auch so? Ja, es ist ganz dasselbe. Wenn wir aber nichts weiter als dieses setzten wollen, worin | beruht der Unterschied in Beziehung auf den Wechsel durch Succession? Angenommen wir setzen voraus, daß es nichts absolut Todtes gebe, so muß es doch etwas geben, worin wir den Gegensatz fühlen, er sei absolut oder relativ. Sofern wir etwas als ein Lebendiges setzen, müssen wir doch den Grund des Wechsels der Zustände zum Theil in ihm selbst setzen, sofern wir etwas Todtes setzen, müssen wir den Grund des Wechsels der Zustände außer ihm setzen. Es können Bedenklichkeiten entstehen über das: zum Theil. Allein es giebt, soweit unser Bewußtsein reicht, keines, was wir als ein Einzelnes andern gegenüberstellen, welches nicht den einen Factor seiner Veränderungen außer sich hätte. Gehen wir von unserm eigenen Bewußtsein aus, und messen eben danach alles, was wir zusammenfassen unter den Begriff des Lebens, so reduciren wir die Veränderungen auf zwei Factoren, auf einen innern und einen äußern. Wir werden von außen afficirt, aber wir werden nur so und so afficirt, weil wir in dem und dem innern Zustand waren, und wenn wir uns ebenfalls in einem beständigen | Streben nach Veränderung denken, so würde die Veränderung immer eine andere sein, wenn wir die Welt anders gefunden hätten, als wir sie gefunden haben. Wollen wir uns ein Dasein denken, was von keinem äußern Factor abhängt, so geht das nicht anders, als wenn wir keinen Widerstand annehmen für den innern Factor. Thätigkeit ohne Widerstand ist aber etwas Unendliches, und geht also aus dem Geiste unserer Beobachtung ganz hinaus; und dann wäre noch zu bemerken, daß wir gar keinen Grund haben würden, einen Moment vom andern zu unterscheiden, und einen Wechsel der Zustände anzunehmen. Auf diese Weise also rechtfertigt es sich, was eben gesagt ist, daß dasjenige lebendig ist, was von dem Grunde seiner Veränderungen einen Factor in sich, einen außer sich hat. ‒ Ferner könnte zweifelhaft sein die Erklärung vom Todten, daß es den Grund seiner Veränderungen ganz außer sich habe. Nämlich es könnte das zuviel scheinen; z. B. ein Stoß

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auf einen harten Körper wirkt anders, als auf einen andern. ‒ Das ist wahr, es geht | aber nicht über auf den Wechsel der Zustände, in Beziehung auf welchen jenes nur ein Negatives ist, also eigentlich doch nichts. Jenes bestimmt den Körper, doch nur ist es nie allgemeine Relation gewisser Zustände. Sagen wir ferner: auch das Todte ist von einander verschieden, und wir fragen nach den ersten Ursprüngen, so müssen wir den doch wieder in einem Lebenden suchen, was aber nur in der Vergangenheit liegt. Es giebt nichts, was für uns todter wäre als das absolut Starre, und was wir auf keine Weise als Product der Organisation und des Lebens ansehen können. Sehen wir in diesem selbst Differenzen, und wir fragen: woher diese? so müssen wir auf einen innern Zustand zurück gehen, auf den Zustand wo es einmal wurde, und da den Grund seiner Veränderungen in sich trug. Aus diesem Positiven ist es das Monument eines früher Lebendigen, ein Negatives, ein gewisse Zustände ganz Ausschließendes geworden. ‒ Was liegt aber in der Formel des Lebens für eine Anschauung? Offenbar | die innere Wechselwirkung zwischen den beiden Factoren. Mag nun aber das Unbestimmte, welches der Ort ist wo jeder Factor liegen muß, sein wo es will, wie sollen wir uns denn nun den Begriff des Lebens denken auch in Beziehung auf die unbestimmte Totalität des außer uns Gesetzten, nur als Eins, oder als Vielheit? Von der Beantwortung der Frage hängt die Art des Fortgangs der Untersuchung ab. Wir können sie auf beide Arten beantworten: Wir können sagen: wir können das Leben ganz als Eins betrachten gegen die Totalität des Todten; aber dann wird das Gebiet des Lebens eben so eine unbestimmte Totalität, und wir haben keinen Punkt, worauf wir unsern Standpunkt in Beziehung auf unsere Beobachtung uns stellen sollen und über unser Gebiet müßten wir dann auch ganz hinausgehen. Wir müssen also sagen: wol, wir wollen bloß die Totalität des menschlichen Lebens setzen der ganzen übrigen Totalität entgegen. Das menschliche Leben ist aber nur in der Zerspaltung gegeben in der unendlichen | Vielheit der einzelnen Menschen. Aber hier können wir eben so gut von dem einen Puncte zum andern übergehen, als von dem andern zum einen, denn wenn wir das menschliche Leben nicht als eine Totalität setzen können, so können wir es auch nicht als da 28 Gebiet] Gebiet, 1–5 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 69: „Das ist nun freilich wahr, aber dieser innere Grund geht nicht auf den Wechsel der Zustände über, und ein solcher Körper ist von allen Zuständen ausgeschlossen, die in anderen, welche den Grund ihrer Veränderungen in sich tragen können hervorgebracht werden, und in Beziehung auf den Wechsel ist also jenes, was im Todten auch als innerer Grund gesetzt werden muß, nur ein negatives, es ist nur eine allgemeine Negation gewisser Zustände.“

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setzen, wir müssen die Einzelnen mit dem Allgemeinen verbinden. Daraus gehen aber zwei Wege hervor: wir können den Einzelnen zuerst uns vorstellen, und dann hinaufsteigen zu der Idee des menschlichen Lebens, wie es in die Seele geschlossen ist, und umgekehrt. Zwischen beiden haben wir die Wahl und diese giebt erst das Schema. Was aber die Wahl betrifft so glaubt Schleiermacher daß, wenn wir die ganze Disciplin in ihrer Vollendung denken, es völlig gleichgültig wäre, wovon man anfinge, da wir sie aber erst im Werden denken, so müssen wir anfangen, wo die Anfänge der Untersuchung gegeben sind. Die sind aber nur im beschränkten persönlichen Bewußtsein gegeben. Es ist also natürlich daß wir hievon ausgehen, von diesem Anfang bis zum entgegengesetzten Puncte hin. ‒ |

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Hieraus ergiebt sich folgendes Verfahren. Wir stellen zuerst unsere Untersuchung auf ganz elementarische Weise an, ausgehend von dem im Begriff des Lebens gegebenen Gegensatz, woraus wir alle Momente des Seelenlebens abzuleiten haben. In sofern wir das Leben setzen, und in welchem Umfange, sofern setzen wir ihm alles Übrige entgegen. In diesem Übrigen ist aber auch Leben, aber in der Totalität des Lebens müssen wir irgend einen Gegensatz von Leben und Tod annehmen. Daraus geht hervor zweierlei: 1) Daß wir unterscheiden müssen die Relationen, in welchen das menschliche Leben gegen alles übrige menschliche Leben steht, von denjenigen, in welchen es gegen das Todte steht; aber von dem innern Zusammenhange des Einzelnen mit der Gattung werden wir auf diese Weise nur wenig erhalten, und wir müssen von der andern Seite her es ergänzen. 2) Der Inbegriff alles desjenigen, was dem einzelnen Leben entgegengesetzt wird, wird nur in Beziehung dieses Gegensatzes, nicht an sich selbst, betrachtet; d. h. wir wollen | bloß eine Kenntniß der Seele erhalten, und können auf den andern Punct auf die Kenntniß der Welt hier nicht losgehen und hieraus nichts dafür folgern, indem die Prinzipien zur Erkenntniß der Dinge anderswo liegen. Nächstdem haben wir darauf zu sehen, daß wir wirklich alle Thätigkeiten der Seele aus dem ursprünglichen Gegensatz entwickeln. Hiebei kommt es auf zweierlei an: daß wir irgend woher suchen müssen zu gewinnen die Überzeugung von der Vollständigkeit, daß wirklich alles, was im einzelnen Leben vorkommen kann, 31 Punct] Punct hier

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aus dem ursprünglichen Gegensatz hervorgegangen ist, und es ist immer schwer bei einem empirischen Verfahren zu dieser Überzeugung zu gelangen. Eben so schwierig ist auch das zweite. Überall wo ein Mannigfaltiges gegeben ist, ist ein zwiefacher Unterschied, wir finden einen streng abgeschnittenen durch Gegensätze, aber auch einen durch allmählige Übergänge. Der eine ist so wichtig als der andere, und auf welchem Gebiet der Erkenntnisse man sich auch befinden möge, | so kann man sicher sein, daß wenn man bloß den einen aufgefaßt hat, man das lebendige Bild noch nicht aufgefaßt hat, was man haben soll, denn diese beiden Formen sind überall in einander. Es sind überall Gegensätze gegeben, und wir sollen da die allmähligen Übergänge finden. Eben so ist uns das Sein als Continuum gegeben, und wo das ist, da müssen wir die Gegensätze suchen. Wir gehen vom Gegensatze aus, und da ist es natürlich, daß wir auf lauter Gegensätze kommen, wenn wir nicht die andere Vorstellung hinzunehmen, wodurch uns das Sein als Continuum erscheint. Wir müssen es uns also zum eigenen Geschäft machen, ein Verfahren hinzuzufügen, wodurch uns die zweite Vorstellung kommt. Diese ist uns gegeben: 1) im Zusammensein mannigfaltiger Thätigkeiten in einem Moment; 2) in der unabgesetzten Entwickelung eines Momentes in den anderen. Nachdem wir also den Gegensatz werden entwickelt, und dadurch die Formeln der einzelnen Thätigkeiten werden gefunden haben, so werden wir gar nicht bei diesen todten Formeln stehen bleiben, sondern sie uns in die Continuität des | Daseins hineinrufen, um zu sehen wie sie nebeneinander sind, und wie die eine aus der andern sich entwickelt. – Ferner müssen wir die Differenzen hinzunehmen. Zuerst die des Temperaments, welche wir werden zu beziehen haben auf die Thätigkeiten der Seele und auf die Continuität derselben. So werden wir sie erkennen in Beziehung auf die menschliche Seele, aber noch nicht in ihrem ganzen Zusammenhang. Die Geschlechtsdifferenz hängt zusammen mit der Fortpflanzung, und in der haben wir den Anfang der Seele im Gebiete der Erscheinung; wir werden also dieses, wie es in der Natur verbunden ist, auch mit einander zu verbinden haben, und nachdem wir die Geschlechtsdifferenz an und für sich betrachtet haben, und wieder in Beziehung auf die Differenz und die Continuität des Daseins, werden wir noch die Seele zu betrachten haben auf ihren Anfang und auf ihr Vergehen sehend, und auf den Mittelzustand. Haben wir das, so haben wir das Elementarische vollendet, und dann geht die Construction an, wo wir es | mit dem Gegensatze Einzelner und ganzer Massen zu thun haben. Hier werden wir in Beziehung auf 28 derselben.] am Rand Charakter tern und Bessern

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die entgegengesetzten Puncte so gehen, daß wir anknüpfen an das Elementarische, und sehen, wie weit wir daraus das Einzelne Individuelle in dem Menschen verstehen können. Wenn wir das wieder aus sich selbst verstanden haben, so werden wir die Eigenthümlichkeit zu betrachten haben im Gegensatz gegen die Massen, die wir aber auch erst in ihrer Eigenthümlichkeit müssen kennen lernen. Dann können wir auch von da aus die einzelne Eigenthümlichkeit betrachten, um uns die Aufgabe zu stellen, diese einzelnen Eigenthümlichkeiten nicht als etwas Zufälliges, Fragmentarisches anzusehen, sondern als einen großen Cyclus anzusehen, worin die Eigenthümlichkeit der Masse aufgeht. Je weiter wir uns aber von dem Elementarischen entfernen, desto größer die Aufgabe und desto schwieriger die Lösung, und das Spätere muß uns weniger gelingen als das Frühere, weil wir die selbige Lichtmasse im Größern nur haben wie im Kleineren. Die Größe der | Aufgabe wird auch hemmen, und wir werden uns damit entschuldigen, daß das Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen noch nicht recht der Gegenstand der Bemühungen vieler gewesen ist, wogegen im Elementarischen vielmehr geschehen ist. Eben so müssen aber die verschiedenen Völker und die verschiedenen Menschenracen als Persönlichkeiten angesehen werden mit der Aufgabe, auch diese in ihren Differenzen und Gegensätzen als einen Cyclus zu betrachten, in welchem der Character der Gattung, die Eigenthümlichkeit der Menschheit überhaupt, sich ebenso ausspricht, wie die Eigenthümlichkeit des Volks im Einzelnen. Dies führt uns auf die größeste Ansicht, indem wir das Menschliche als die oberste Einheit auffassen, in der alle übrigen Einzelnheiten des Lebens sind. – Wie hat sich dann der ursprüngliche Gegensatz nun anders gestaltet? Ursprünglich setzten wir die einzelne Seele, und alles andere ihr entgegen, worunter alle übrigen einzelnen Seelen | mit begriffen waren; hier ist uns aber alles was menschliche Seele ist in Eins zusammen getreten, der einzelne Mensch erscheint darin nur als ein Moment, und entgegengesetzt ist ihm alles Nichtmenschliche. Wir müssen also untersuchen, in wiefern in allem Bisherigen eine Annäherung ist zur Betrachtung des Verhältnisses der Seele zum Nichtmenschlichen, was die kosmische Betrachtung ist. Ein anderer Gegensatz dringt sich uns auf. Indem wir am Anfangspunct vom einzelnen Leben ausgingen, so war uns dies dasjenige, woraus wir uns alles entwickelten, es war uns vollkommen Repräsentant der Idee der Seele. Nachdem wir aber die Seele als Einheit der Gattung betrachtet haben, so verliert die einzelne Seele jene Dignität, und dies führt auf zwei Betrachtungen: 1) in wiefern die einzelne Seele der Repräsentant ist von der Idee der Seele selbst, 2) in wiefern sie nur eine flüchtige vorübergehende Erscheinung im Leben der Gattung ist. – |

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Beide Ansichten müssen wir gleich stellen, die eine schließt sich an den einen Punkt von dem wir ausgegangen sind, die andere an den Punct, welchen wir zum Endpunct gemacht haben, mit dem wir auch hätten anfangen können. Wir werden damit schließen müssen zu versuchen, ob wir können aus allem diesen zum Bewußtsein der Unsterblichkeit der Seele kommen.

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Elfte Vorlesung. Erster Theil. Das Elementarische enthaltend. Inhalt: Aufstellung des Fachwerks für den elementarischen Theil. – Abweichung bei der Ausfüllung desselben von dem gewöhnlichen Verfahren der Zerlegung der Seele in verschiedene Vermögen, indem das Reale diesem Verfahren zum Grunde Liegende auch in jener erreicht wird.

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Zuerst haben wir uns nun für den elementarischen Theil das Fachwerk aufzustellen, und das können wir nur, indem wir auf den Begriff des Lebens zurückgehen, nicht um denselben zu erschöpfen, sondern die allgemeinen Verhältnisse aufzusuchen, worin das Einzelne gefaßt werden kann. Ein Lebendiges befindet sich in Wechselwirkung mit allem andern, und trägt den Grund seiner Veränderungen zum Theil in sich. Hieraus folgt dieses, daß das Leben verändert wird durch dasjenige, was ihm gegenübersteht, aber so daß es etwas in sich trage, wodurch es erst etwas wird, | so daß also auch bei den äußern Einwirkungen es sich nie ganz leidend verhalte. Was es alsdann ausübt, wollen wir die Gegenwirkung nennen; also besteht die Veränderung in Einwirkung von außen und Gegenwirkung. Daraus folgt, daß Nichts ein Lebendes sein kann ohne daß dadurch das Gegenüberstehende verändert werde. Es wird also auch ein Einwirkendes sein. Wir bleiben stehen bei zweierlei: die Gegenwirkungen die das Lebende ausübt auf ihm widerfahrende Einwirkungen, und die Einwirkungen die es selbst ausübt. In dem Zusammensein beider beruht das Wesen des Lebens, und wir können Nichts für lebendig halten, worin eines von beiden Null ist. Wir müssen also getrennt halten dasjenige, was im Lebenden ursprüngliche Thätigkeit und was Gegenwirkung ist, aber beide sind wieder durch einander bedingt, und so können wir das Leben festhalten als ein für sich Gesetztes, den Grund der Veränderungen zum Theil in sich Tragendes, und als ein im Zusammensein mit allem |

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andern sich Erhaltendes. Indem wir aber beides getrennt halten, das ursprüngliche Ausströmen und die Gegenwirkung, müssen doch wieder beide dasselbe sein, es ist nur ein verschiedenes Verhältniß der Bestimmbarkeit in Beziehung auf das Gegebene. Wir haben das Leben zu denken als ein Continuum von Thätigkeit, das aber in beständiger Oscillation sich befindet, in einem Wechsel zwischen Expansion und Contraction; denn offenbar ist das freie Ausströmen aus dem Mittelpunct eine größere, die Gegenwirkung eine geringere Thätigkeit, jene eine offensive, diese eine defensive. Es kann also unter dieses Fachwerk eben so gut alles untergeordnete Leben, wie das menschliche selbst betrachtet werden, und das Eigenthümliche des menschlichen Daseins ist nicht mit darin. Wir haben auch hier nichts gesucht als das Schema, worunter wir jenes subsumiren könnten. Wir betrachten jene Thätigkeiten noch näher. Wenn beide nur ein Mehr oder Minder sind, so müssen wir auch alle Thätigkeit als in dem Lebenden anfangend setzen. Das eine ist also eine | Thätigkeit des Lebenden, welche die Einwirkungen von außen sucht und hervorlockt, die andere ist diejenige, welche die Gegenwirkung des ihm Entgegengesetzten sucht. So unterscheiden sich uns beide Thätigkeiten wieder als ein Mehr und als ein Weniger; denn diejenige welche die Einwirkung von außen sucht, vermißt in sich etwas, die aber Hemmungen sucht, die setzt mehr in sich. – Eben so wird es sein, wenn wir die Resultate der Thätigkeiten, den Zustand betrachten. Was hervorgeht aus diesen Thätigkeiten des Lebenden, und aus der Einwirkung und Gegenwirkung des Gegenüberstehenden ist nichts als ein Ausdruck des Verhältnisses beider. Das Lebende sei in einer Thätigkeit, so daß es eine Einwirkung auf sich sucht, es will also die Einwirkung aufnehmen aber mit einer Gegenwirkung. Die Einwirkung ist der Ausdruck dessen, was dem Lebenden in dieser Action gegenüber gestellt ist, die Thätigkeit die von dem Lebenden ausgeht, ist der Ausdruck der Natur des Lebenden selbst. Nehmen wir die andere Thätigkeit, so wird | sie endigen in einem Zustand dessen, was die Gegenwirkung leistet, also in einem Zustand in einem andern, dessen Natur zwar angemessen, aber doch ausgegangen von der Natur des Einwirkenden. Jene Thätigkeit ist das Sein des außer dem Lebenden Gestellen in dem Lebenden, diese das Sein des Lebenden in dem Dinge außer ihm. – Dies führt noch auf eine andere Duplicität. Das Resultat jener Thätigkeiten ist eine der Natur des Lebenden angemessene Thätigkeit, welches das außer ihm Gesetzte auf das Lebende ausübt. Hierin selbst ist schon jene Duplicität, und das eine kann hier das Übergewicht haben über das andere. In dem Resultat kann die Gegenwirkung, welche das Lebende ausgeübt hat, zurücktreten als ein Minimum; und es kann eben so umge-

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kehrt in dem Resultat die Beschaffenheit der Dinge, wodurch sie die Veränderung bewirkt haben als Minimum erscheinen, und bloß der Ausdruck der Gegenwirkung erscheinen, welchen das Lebende ausübt. Eben so auf der andern Seite, wenn wir das Lebende betrachten, | wo die Thätigkeit ursprünglich ausströmend ist, so kann in der Gegenwirkung der Dinge diese ursprüngliche Thätigkeit gleichsam erlöschen, und dann ist das Resultat ganz rein die Veränderung, welche das Lebende in den Dingen hervorgebracht hat; aber es kann umgekehrt diese Veränderung ganz als Minimum in der Erscheinung zurücktreten, und bloß die Thätigkeit hervortreten; und alles wird ganz verschieden sein. Alle diese Formeln sind aber nichts als leere Fächer die erst ausgefüllt werden müssen, und dazu müssen wir die Erfahrung fragen, was wir in diese Fächer zu setzen haben. Inwiefern das ganze erscheinende Leben von jenem Gegensatz ausgeht, muß das Fachwerk vollständig gegeben sein. Wie fangen wir das zweite an, in dieses Fachwerk etwas Wirkliches, aus allen dasselbige, aus dem gemeinsamen Lebensbewußtsein hergenommen, hineinzubringen? Schleiermacher geht hier ab von der gewöhnlichen Art, | in der man überall findet, daß dies Fachwerk ausgefüllt wird durch Aufstellung einer Theorie verschiedener Vermögen der Seele. Wir könnten das vollkommen eben so ausdrücken: was ist das Vermögen der Reaction, und was das Vermögen der ursprünglichen Ausströmung, und was ist dasjenige, wobei die Reaction zurücktritt, und dasjenige wobei die Einwirkung der Dinge zurücktritt? Aber es scheint das Verfahren große Verwirrung hervorgebracht zu haben in der Disciplin selbst und im gesammten Gebiet der Philosophie. Denn es ist auf diese Art kaum zu vermeiden, daß die Seele als eine Vielheit erscheint, und dies [ ] nichts als Verwirrung hervorbringen. – Wenn man sich die Seele so zerlegt in mehrere Vermögen, deren jedes sein Gesetz hat, so gerathen sie in Conflict, wozu der Regulator fehlt, und wenn auch der sein eigenes Gesetz hat, so kommt man gar nicht in Ruhe: Was liegt aber in diesem Begriff von Vermögen? Zweierlei: 1) wir denken uns das Leben als ein zeitliches Ganze der Erscheinung, und wenn wir nun sagen, daß es verschiedene Thätigkeiten giebt, in welchen sich das Leben manifestirt, so müssen diese offenbar auf ungleichmäßige Weise die Zeit erfüllen. | Wenn wir nun die gleichartigen Thätigkeiten zusammensuchen aus den verschiedenen Momenten, so erscheinen die Thätigkeiten in dem Ganzen des Lebens als ein bestimmtes Quantum. 2) Auf der andern Seite, indem jede solche Thätigkeit auch wieder eine verschwindende ist, und jede Reihe von gleichartigen Thätigkeiten nur einen Theil des Lebens erfüllt, so scheinen die Thätigkeiten begrenzt durch einander. Das sind die beiden 27 dies] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl kann

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realen Puncte der Seelenvermögen. Das Reale in dieser Vorstellung wird aber bei uns seinen Platz auch finden; denn wenn wir die Functionen die unter dieses Fachwerk gehören betrachten, so haben wir ja schon gesetzt, daß wir die Seele wollen betrachten in dem Nacheinander, daß eine Thätigkeit der Seele von der andern abgelöst wird, dann in dem Nebeneinander, daß alle Thätigkeiten beisammen sind. So werden wir das Reale jener Art behalten und die Verwirrung vermeiden. Indem wir nun jene Formeln ausfüllen, so wollen wir dabei bloß auf den einzelnen Moment sehen. Wir haben nichts als das Leben von der Seite, wo die Seele Subject ist, wie es in einem Wechsel von Thätigkeiten | besteht, und wir wollen bloß die Thätigkeiten unterscheiden, aber nicht das Subject die Seele zertheilen, sondern nur wie sie einen Moment ausfüllt sie betrachten.

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Inhalt. Wohin gehören die Thätigkeiten die wir den Sinnen zuschreiben und die sich hieraus entwickelnden höhern Combinationen auf der einen Seite, und die bildende, naturbeherrschende Thätigkeit von den flüchtigsten Erscheinungen bis auf die dauerndsten Denkmahle auf der andern Seite? Wohin der Prozeß der Ernährung und der des Athemholens? Von dem untergeordneten Gegensatz der Anschauung und des Gefühls auf der einen Seite und der vollkommen sich ausdrückenden bildenden Thätigkeit und der Begierde auf der andern Seite. Wir haben zuerst entgegengesetzt diejenigen Zustände, wo das Lebende nur in der Gegenwirkung thätig ist, und die ihrer Einwirkung nach nur die Natur der Dinge ausdrücken. Alle diejenigen Thätigkeiten, welche wir den Sinnen zuschreiben sind von dieser Art, und also auch alles was hieraus in der menschlichen Seele gebildet wird, alle Zustände, in welchen sich die Natur der Dinge ausdrückt auf die der Natur der Seele angemessene Art. Wir können sie nicht anders als auf eine ursprüngliche Thätigkeit der Seele zurückführen, denn wir vernehmen nicht durch die Sinne wenn wir nicht wollen, wenn die Thätigkeit der Seele von dieser Seite ganz abgewendet ist. Dies kommt in der Zerstreuung sowohl, als in der einseitigen Richtung auf einen bestimmten Gegenstand vor. Dessen ungeachtet ist aber die Seele bei solchen Thätigkeiten nur thätig unter der Form der Gegenwirkung. | Auf der andern Seite hatten wir diese entgegengesetzten Zustände, in welchen die Seele mit einem Übergewicht von Thätigkeit gesetzt wird, die aber auch nur etwas Bestimmtes werden, in wiefern in den

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Dingen selbst dasjenige Minimum von Gegenwirkung ist, wodurch die Thätigkeit der Seele an sie fixirt wird, und nicht über sie hinausgeht. Diese drückt das Dasein der Seele in den Dingen aus. Dazu gehören alle Thätigkeiten, wodurch wir etwas bilden, die Natur beherrschen, den Gegenständen unsere Formen geben u.s.w. Hier können wir nicht anders, als die ursprüngliche Thätigkeit im Menschen selbst setzen. Je nachdem sich die Dinge dieser oder jener Thätigkeit der Seele mehr hingeben, so wird auch diese oder jene mehr ausgedrückt. Giebt kein Ding sich einer Thätigkeit hin, so würde die Kraft sich in sich selbst verzehren, aber der Factor hiebei ist immer die Seele. In dem Umfange dieses Gegensatzes liegt sehr viel, wenn gleich noch etwas übrig bleibt, was nicht darin aufgeht. Durch die Sinnesanschauung | erhalten wir bloß Bewußtsein von Dingen oder Eigenschaften derselben. Wir finden aber, daß sich Vorstellungen in uns bilden, die die mannigfaltigsten Combinationen enthalten, indem wir über die veränderlichen Zustände hinausgehen und das Bleibende aufsuchen. Alle diese Operationen ruhen aber auf diesen ursprünglichen, sind durch dieselben Einwirkungen der Dinge bedingt. Ursprünglich können wir es also nicht anders fassen: alle Vorstellungen dieses complizirteren materiellen Bewußtseins beruhen doch auf dem Spiel der Einwirkungen der Dinge und der Thätigkeit der Seele. Die Thätigkeiten der Seele sind zwar dabei gesteigert, aber sie schließen sich doch an die Einwirkungen der Dinge an, und sie könnten ohne diese nicht zu Stande kommen. Sehen wir auf den Unterschied der Thätigkeit, in welcher die einfachen Facten der Seele ausgedrückt werden, und zwischen der höhern Verstandesthätigkeit durch welche Urtheile gebildet werden, so müssen wir sagen: in dem einen Fall liegt keine andere Einwirkung der Dinge zum Grunde als in dem andern, der Unterschied liegt nur in der mehr gesteigerten Thätigkeit der Seele. – | Wenn wir nun auf der andern Seite das gegenüberstehende Glied betrachten, so werden wir sagen: alle Mannigfaltigkeit womit wir die Dinge verändern, ist immer dieselbe Thätigkeit der Seele, es ist ein sich selbst Aussprechen, sich selbst Abbilden der Seele, und das können wir von den dauerndsten Denkmählern zurückführen auf die allerflüchtigsten Erscheinungen. Wenn wir den innern Zustand ausdrükken durch Gebehrden, und wir treffen damit ein anderes menschliches Wesen, so drückt sich der Zustand der Seele selbst aus und wird klar. Das ist dasselbe mit dem Constantesten und Größten der menschlichen Bildungsthätigkeit. Wenn wir bemerken wie wir zu Werke gehen bei diesen Thätigkeiten, so müssen wir sagen: daß den Einwirkungen von uns mehr oder weniger ein Gedanke, ein Bild zum Grunde liegt. Wer die Gestalt eines Dinges ändern will, der hat ein Bild davon. Das Bild ist dasselbe, als wenn wir auf ein solches sehen, das durch die

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Sinnesanschauungen entstanden ist, aber es ist anders entstanden, ist ursprüngliches Product der Seele. Mit diesem Bilde | ist schon das Element der Thätigkeit, die Function gegeben. Hier greifen also beide Gegensätze in einander, so daß, was auf der einen Seite Ende ist, und was auf der einen Seite Anfang ist, seinem Inhalte nach nicht zu unterscheiden ist, sondern bloß seiner Entstehungsweise nach. Dasselbe wollen wir betrachten, indem wir mehr auf die andere Seite des Lebens sehen, denn das eben Angeführte ist mehr von der geistigen Seite und von der höhern Stufe hergenommen. Sehen wir auf das rein Animalische, indem schon vorausgesetzt ist, daß wir auch das, was sich bloß auf das körperliche Dasein des Menschen bezieht, nicht befugt sind aus dem Gebiet der Seele auszustoßen so müssen wir fragen: wo ist denn da der Gegensatz? Der niedrigste Punct zwischen dem Menschen und den Dingen ist der, wo er die Dinge selbst verzehrt. Diesen Prozeß müssen wir unter dieselbe Reihe von Thätigkeiten setzen, denn es ist auch das Sein des Menschen in den Dingen. Die Thätigkeit geht rein vom Menschen aus, und sie ist auch bedingt durch die Natur der Dinge, | die mehr oder weniger unfähig sind, dem menschlichen Körper assimilirt zu werden. – Das Athemholen ist eben so nothwendig zum Leben. Dies geht offenbar aus von einer Thätigkeit der Dinge, wobei wir allerdings eine ursprüngliche Thätigkeit des Menschen voraussetzen müssen, die aber nicht zu Stande kommen kann ohne die Einwirkung der Luft, so daß wir nicht sagen können, was der ursprüngliche Anfang ist, der Reiz der Luft, oder die ursprüngliche Thätigkeit. Der Analogie nach müssen wir freilich das letztere voraussetzen; aber eben so bestimmt, als das Ernähren ein Ausdruck ist vom Sein des Menschen in den Dingen, so das Athmen ein Ausdruck vom Sein der Dinge im Menschen. Dieses beides aber sind Hauptprozesse der niedrigsten Lebensfunctionen, und sie stehen unter dem selben Gegensatze wie die höchsten Lebensfunctionen. – Wir hatten aber noch einen untergeordneten Gegensatz aufgestellt. Ein jedes Glied des Gegensatzes besteht aus zwei Gliedern: der aufnehmenden Thätigkeit aus der Einwirkung der Dinge auf die Thätigkeit | der Seele, und dem Ausströmen der Thätigkeit der Seele auf die Gegenwirkung der Dinge. – Denken wir die aufnehmende Thätigkeit, und denken wir daß in ihrem Resultat die Gegenwirkung der Seele auf Null kommt, so haben wir den reinen Prozeß der Anschauung, die Seele geht ganz auf im Bewußtsein der Dinge, es ist das vollkommenste Selbstvergessen; sobald wir wieder auf uns selbst merken, so ist der Zustand der Anschauung nicht mehr rein. Aber eben so auf der andern Seite: wenn die Gegenwirkung der Seele das Maximum wird, und in dem Resultat das Abbild von der Einwirkung der Dinge verschwindet, so haben wir den reinen Zustand des Gefühls. Es geht

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das Bewußtsein der Dinge verloren in der Veränderung welche in der Seele vorgeht. Das Verhältniß wird klar, wenn man sich denkt, wie eines und das andere auf dieselbe Weise entstehen kann. Ein Eindruck auf das Auge z. B. wird eine Gesichtsvorstellung bilden, und wenn diese vollkommen reif wird, so tritt die vollkommene Anschauung ein mit dem vollkommenen Selbstvergessen. | Man denke sich aber diese Gesichtsvorstellung gesteigert bis zum Blenden, so entsteht keine Anschauung, aber man wird sich der Einwirkung auf das Organ bewußt, wovon man in der Anschauung nichts weiß, und darin geht wieder das Selbstbewußtsein auf, denn man hat kein anderes Gefühl als das geblendet zu sein. Hier ist in demselben das Hervortreten des einen Factors und das Verschwinden des andern. Gehen wir auf die andere Seite: wenn die ausströmende Thätigkeit ihr Ziel in den Dingen erreicht, dann entsteht dieses, daß das innere Bild, also der bestimmte Zustand des Menschen sich in den Dingen ausdrückt. Je vollkommener dieses geschieht, desto mehr verschwindet das innere Bild, welches zum Grunde gelegen hat mit dem Bilde, das hervorgebracht ist, und mit dem vollkommensten Verschwinden ist die Aufgabe vollkommen gelöst. Bleibt noch das innere Bild im Bewußtsein, so ist der Zweck noch nicht erreicht. Die Veränderung | in den Dingen ist also das Hervortretende, die ausströmende Thätigkeit der Seele, die mit dem Bilde angefangen, geht auf in dem Hervorgebrachten. – Nun denke man sich die Unvollkommenheit hierin als Maximum, es will einer etwas zu Stande bringen und kann gar nicht, so wird in den Dingen nichts bewirkt, das äußere Resultat ist Null, die ausströmende Thätigkeit tritt als das Einzige hervor, und das ist die Begierde. Hier verlieren sich auch wieder die beiden Reihen, denn Gefühl und Begierde können einander so nahe kommen, daß man beide nicht unterscheiden kann außer in der Entstehungsart. – So wie der Gedanke von innen entstanden nicht zu unterscheiden ist vom Gedanken von außen entstanden dem Inhalte nach, so ist die Begierde in ihrem Anfange nicht zu unterscheiden ihrem Inhalte nach von dem Gefühl, das von außen entstanden. Der Unterschied ist nur zu fassen in der Entstehungsart, und in der ganzen Beschaffenheit. Die Begierde will erst schaffen, das Gefühl ist erst der Ausdruck einer Einwirkung. – |

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Dreizehnte Vorlesung. Inhalt: Fließender Gegensatz des speciellen und des allgemeinen Sinnes. Durch die Sinne nehmen wir ursprünglich nicht das Wesen der Dinge wahr, sondern gewisse Thätigkeiten, die sie aufein6 Selbstvergessen] mit (?) versehen über Selbstbewußtsein

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ander und auf uns ausüben, und gewisse Veränderungen die sie leiden. Das System der Sinne richtet sich daher nach dem System der Veränderungen. – Ein anderer ebenfalls fließender Gegensatz in den Sinnen ist das überwiegende Hinneigen entweder auf die Seite des Gefühls oder auf die Seite der Wahrnehmung. Die höhern Stufen der Thätigkeiten jene Combinationen nannten die Alten schon Thätigkeiten der Seele, wobei sie sich des Leibes nicht bedienen. Aber wir können doch diese Thätigkeiten von ihrem physiologischen Anfange nicht trennen. Die Einwirkung von außen trifft die Organe, das Ende aber ist psychologisch. Wir können uns zwar auf den physiologischen Anfang nicht einlassen, weil er in die Physiologie gehört, aber wir können auch nicht ganz davon abstrahiren, weil die Seele immer mit dem Leibe zusammen ist. Diejenigen Organe, wodurch die Einwirkungen von außen aufgenommen werden, fassen wir zusammen unter dem Namen der Sinne. Es ist am zweckmäßigsten, wenn wir uns auf der einen Seite einen speciellen Sinn, und auf der andern einen allgemeinen Sinn denken. Dieser Gegensatz ist zwar auch noch ein fließender, aber specielle Sinne nennen wir die fünf Sinne, weil jeder von ihnen an ein bestimmtes Organ gebunden ist, und weil es nur bestimmte, sich sondernde und heraushebende Veränderungen | der Dinge sind, die von diesen Sinnen herausgehoben werden; der allgemeine Sinn ist kein specieller, sondern auf der ganzen Körperfläche des Menschen der Athmosphäre zugewendet, dem ganzen allgemeinen Leben um den Menschen hingegeben. Es ist gesagt, dieser Gegensatz sei wieder ein fließender. So ist der Tastsinn zwar in den Fingerspitzen vorzüglich, aber wir können doch mit mehreren Theilen der Haut das Harte und Weiche fühlen, hier ist also schon ein Übergang. So werden wir auch sagen müssen, was durch den Tastsinn wahrgenommen wird, scheint auch nicht mehr einen so speciellen Character zu haben, als was durch die andern Sinne wahrgenommen wird. Was durch das Auge, durch das Ohr wahrgenommen wird, kann man in ein System bringen, die Differenzen aber, welche durch den Tastsinn wahrgenommen werden, haben wir noch nicht in ein System bringen können, und werden es auch wol nicht, weil hier schon eine unbestimmte Mannigfaltigkeit ist, mit der das Allgemeine anfängt. Betrachten wir die speciellen Sinne, | so scheint es ganz zufällig, daß es gerade nur so viele und nicht mehrere sind, und man meint, daß wir die Welt noch weit besser würden auffassen können, wenn wir noch mehrere Sinne hätten. Aber ursprünglich nehmen wir gar 6–8 Vgl. Platon: Theaitetos 185c–185d; Opera 2,194–195; Werke 6,134–135 37– 39 Vermutlich Anspielung auf Sextus Empiricus: Grundriß der phyrrhonischen Skepsis I,97; Opera (1718), S. 26; Opera (1958), S. 26

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nicht durch die Sinne auf irgend eine Art das Wesen der Dinge in uns auf, sondern es sind immer nur gewisse Thätigkeiten die sie ausüben und gewisse Veränderungen die sie leiden. Es ist also auch gar nicht nöthig, daß sich die Sinne nach dem System der Dinge, sondern nur nach dem System ihrer Veränderungen richten. Letzteres ist aber nur auf etwas viel Einfacheres zurückzuführen. Dies hat man auch versucht, und wenn gleich es noch nicht vollendet ist, so hat man dadurch doch ein weit besseres System der Sinne bekommen. Es kommt darauf an die Media zu finden, wodurch die Dinge in ihrem abgesonderten Dasein auf einander und auch auf uns wirken. Die Dinge wirken auf einander und auf uns durch Licht und Luft; Licht das Medium für die Augen, Luft für das Ohr. | Außer diesen giebt es doch nur noch drei Formen der Veränderungen und Thätigkeiten in den Dingen: der magnetische, electrische und chemische Prozeß. Unter dem magnetischen versteht Schleiermacher, was die Cohäsionsdifferenz bestimmt, die specielle Anziehung, wodurch eben ein Ding eins ist, und als Eins kann bewegt werden. Wir können nicht leugnen daß dies in besonderem Verhältniß zum Tastsinn steht, durch den wir den Umfang der specifischen Cohäsion wahrnehmen, wodurch ein Ding ein Ganzes ist, und dann das Besondere eines jeden Sinnes, was sich auch auf die Cohäsionsdifferenzen bezieht, theils auf das Rauhe und Glatte, theils auf die Härte und Weiche. Das zweite ist der electrische Prozeß, eine Naturerscheinung, von der man nicht sagen kann, daß sie schon ganz verstanden ist. Das schadet aber hier nichts. Man hat gesagt, daß der electrische Prozeß durch den Geruch wahrgenommen werde. Davon kann man sich nicht sogleich überzeugen, aber das kommt wol von der unrichtigen Ansicht des electrischen Prozesses her. | Das wird man nicht einwenden, daß man das Electrische auch durch das Gefühl selbst wahrnehme, denn der electrische Schlag ist nicht der electrische Prozeß. Das ist aber ein Einwurf, daß wir nicht alle Thätigkeiten des Geruchs unter das Electrische subsumiren können. Diejenigen Thätigkeiten der riechenden Substanzen, die den Geruch hervorbringen, sind im Hydrogenisationsprozeß, der sehr verwandt ist mit dem electrischen. Der Occygenisationsprozeß ist in den Dingen die den Geschmack erregen; das Schmecken ist also im Verhältniß mit dem chemischen Prozeß. Wie Geschmack und Geruch, so stehen also auch electrischer und chemischer Prozeß in enger Verwandschaft. Diese ganze Aufstellung hat viel für sich und ist nur von den Physiologen im Vorbeigehen betrachtet. Nimmt man sie an, so erscheinen die Sinne nicht mehr als etwas Fragmentarisches, sondern als ein vollkommenes System. Stellen wir diese Mannigfaltigkeit des speciellen, und den allgemeinen Sinn zusammen in der | Abstufung, daß das Gesicht als der reinste specielle Sinn erscheint, dann das Gehör, Geschmack, Geruch,

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Tastsinn, so finden wir noch eine andere Differenz. Wir haben gesehen wie die Thätigkeiten der Seele, in welcher sie die Einwirkungen von außen aufsucht und sich ihnen so hingiebt, daß sie dann gegenwirkt, ein zwiefaches Resultat gewinnt in Beziehung auf das letzte Ende: 1) vermöge welches im letzten Ende nur ein Resultat der Seele ausgedrückt wird, was wir Gefühl nennen; 2) wenn im letzten psychischen Resultat nicht der Zustand der Seele zum Vorschein kommt, sondern die Einwirkung der Dinge, also das letzte psychische Resultat eine Aussage über den Zustand der Dinge ist, was wir Wahrnehmung nennen. Die Thätigkeit ist ganz dieselbe, die Differenz entwickelt sich aus verschiedenen Relationen. Von den verschiedenen organischen Veranstaltungen, von den 5 speciellen und dem allgemeinen Organ sind nun einige mehr dem Wahrnehmen, andere dem Gefühl zugewendet. Aber dieser Gegensatz ist auch nur ein fließender. Der Gesichtssinn ist am meisten der Wahrnehmung zugewendet; | mit dem Gehör ist es schon anders. Es ist überwiegend der Wahrnehmung zugewendet, aber mehr wenn wir seine Thätigkeiten einzeln betrachten, als wenn sie auf einander folgen. Ein einzelner Ton ist immer Wahrnehmung; eine Reihe von Tönen in einem Continuo zieht von der Wahrnehmung ab, und versetzt in einen Gefühlszustand. Man hat das auf das Auge übertragen wollen durch das sogenannte Farbenclavier, um durch eine bestimmte Reihe von Gesichtseindrücken das Gefühl hervorzubringen; es sind aber Spielereien geblieben. Der Tastsinn an und für sich, ist überwiegend der Wahrnehmung zugewendet, denn was wir betasten, führen wir gleich auf den Gegenstand zurück, das Gefühl wird davon nicht afficirt, aber indem dies eine unmittelbare Berührung des Organs mit dem einwirkenden Gegenstande ist, so kann das Gefühl weit eher herbeigeführt werden; z. B. durch alle Verletzungen die dem Tastsinn angehören, und wo die Wahrnehmung zurücktritt. Die andern beiden Sinne Geschmack und Geruch und der allgemeine Sinn sind überwiegend auf der Seite des Gefühls. Wenn Wahrnehmungen darin | entstehen, so entstehen sie erst nachher, ursprünglich afficiren sie bloß das Gefühl und führen wir die Eindrücke auf den Gegenstand zurück, so ist das innere mit vieler Unsicherheit verbunden im Vergleich z. B. mit dem Gesicht. – 20–23 Die Idee eines Farbenklaviers (Clavecin oculaire) geht auf Louis-Bertrand Castel zurück. In ähnlicher Weise, wie das musikalische Instrument einen Eindruck durch die Melodie auf das Gehör macht, sollte das Farbenklavier durch das Spielen von Farben auf das Gesicht wirken. Vgl. Castel, Louis-Bertrand: Clavecin pour les yeux, avec l’art de peindre les sons, et toutes sortes de pièces de musique. Lettre écrit de Paris le 20 Février 1925 par le R. P. Castel, Jesuite, à M. Decourt, à Amiens, in: Marcur de France, Paris 1725, S. 2552–2577

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Man hat hiernach die Sinne zu ordnen gesucht, und dem einen oder dem andern einen Vorzug gegeben in Beziehung gleichsam auf das Interesse der Seele. –

Vierzehnte Vorlesung. Inhalt. Welcher Unterschied der Dignität findet unter den Sinnen statt? – Von der Differenz des Menschlichen und Thierischen in Beziehung auf den Sinn. –

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Es ist eine alte und sehr weit verbreitete Ansicht, daß man dem Gesicht und dem Gehör einen bedeutenden Vorzug einräumt. Schleiermacher hat nichts dagegen, sofern es aus Gründen geschieht, die in unser Gebiet nicht eingreifen. Wenn man z. B. sagt: durch das Gesicht allein erhalten wir eine Kenntniß von den Körpern außer der Erde, und durch das Gehör theilen wir uns einander mit, so ist das recht gut, wenn man nur nicht glaubt, dies komme durch das Gesicht und das Gehör allein, durch die organischen Functionen. Ferner sagt man: das Gesicht hat noch den besondern Vorzug, daß es uns die Gegenstände darstellt. Das Gehör thut dies zwar nicht, aber es macht doch, daß | die Eindrücke auf den Gegenstand zurückgeworfen werden. So gut wie wir nicht im Auge sehen, sondern am Orte des Dinges, was wir sehen, so hören wir auch nicht im Ohr, sondern der Eindruck wird auch auf den Gegenstand zurückgeworfen. Nun ist aber auch gar nicht wahr, daß wir durch das Gesicht die Gegenstände bekommen; denn wir sehen immer nur auf einen Fleck, und bekommen durch das Gesicht unmittelbar nicht den Zusammenhang und die Beschaffenheit des Dinges, sondern die bekommen wir erst durch Vergleichen und Combinationen. Der Tastsinn allein ist im Stande uns die Umrisse eines Dinges zu geben, nur daß manche Täuschung dabei vorkommt. Vergleichen wir die andern Sinne in dieser Hinsicht, so können wir nur vom allgemeinen Sinn sagen, daß er uns keinen Gegenstand kund thue, ausgenommen die ganze Athmosphäre. Der Geschmack und der Geruch werfen die Eindrücke nicht auf den Gegenstand zurück, und haben das mit dem Hautsinn (allgemeiner Sinn) gemein. Das Fühlen ist aber für die | Seele von gleichem Interesse wie das Wahrnehmen. Eins ist durch das andere bedingt, indem wir uns keinen Übergang denken können vom Wahrnehmen zum Handeln, 32 Hautsinn] Hauptsinn 1–3 Bereits Aristoteles hatte eine solche Hierarchie der Sinne aufgestellt. Vgl. Aristoteles: De anima 424b–425b; Opera 1,379–398; ed. W. D. Ross 57–61

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ohne daß das Gefühl erst dazwischen trete. Welcher Unterschied der Dignität findet nun statt unter den Sinnen? Wir werden Unrecht thun wenn wir ihnen nicht gleiche Dignität zuschreiben. Die Unterscheidung in dieser Hinsicht bringt auch viel Unheil, weil man dadurch die Sinne vernachläßigt. Diejenigen, welche sich mit der Naturforschung beschäftigen, wissen es sehr wohl, was oft der Geschmack oder der Geruch thun kann das innere Wesen der Dinge zu enthüllen, und offenbar sind alle Sinne noch der Perfectibilität fähig. Wie weit es darin gebracht werden kann, das sieht man bei den Thieren, deren meiste Vorstellungen am Geruch haften. Wenn man dies für die Differenz zwischen Menschen und Thier halten will, so ist das ganz falsch. Der Geruch ist zwar nicht in das Interesse des Verstandes hineinzuziehen auf dem Gebiete des gemeinen Lebens, | aber auf dem noch höhern Gebiete der Naturforschung kann er wie auch der Geschmack sehr viel helfen, da beide die flüssige Auflösung der Körper herausbringen. Das Wahre ist, daß diese Sinne als specielle Sinne weniger sind, weil sie uns einzelne Gegenstände nur kund thun, wenn sie im Verschwinden begriffen sind, in dem Übergehen aus dem abgesonderten Dasein in das allgemeine Leben. Aber damit ist es wie mit Gefühl und Wahrmehmung, denn das Übergehen der Dinge in das allgemeine Dasein ist uns eben so wichtig, als die einzelnen Gegenstände unter und im allgemeinen Dasein. Das ist aber wahr, daß einige Sinne für uns fruchtbarer sind wie andere. Das müssen wir uns Andeutung sein lassen, wohin wir im Allgemeinen unser Streben zu richten haben. Daß aber Gesicht und Tasten uns mehr Kenntniß von den Dingen verschafft hat als Geruch und Geschmack, das hängt davon ab, daß wir noch nicht so weit gekommen sind, eben soviel Kraft auf das Allgemeine zu richten, als auf einzelne Gegenstände; wenn ersteres mehr geschieht, dann wird man finden, daß auch jene Sinne viel vermögen. – | Worin ist denn nun die Differenz zwischen dem Menschlichen und Thierischen in Beziehung auf die Sinne? Alle bisherigen Vergleiche unter den Sinnen selbst gehen auf das eigenthümlich Menschliche zurück, auf den Beitrag den die Sinne zum Erkennen geben. Dieses schreiben wir den Thieren nicht zu, weil wir in ihrem Thun nichts bemerken, was ein eigentliches Erkennen voraussetzt. Wenn wir das Verhältniß der Sinne zu den Thätigkeiten die auf gleicher Stufe stehen erkennen wollen, so müssen wir uns der Differenz zwischen dem Menschlichen und Thierischen in Beziehung auf den Sinn bewußt werden, um vom niedrigsten Standpunct zum Höchsten zu kommen. Wenn wir das aber auf eine vollkommene Weise thun wollen, so müß25–26 verschafft] verschaft

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ten wir zu sehr in das Physiologische gehen. Wir müssen die Differenz in demjenigen aufsuchen, was wir schon als das Psychische ansehen. Worin kann sie liegen? Der Sinn der Thiere, wenn wir auf das Ganze sehen, ist bei weitem weniger geöffnet, als der Sinn der Menschen. Der Sinn der Menschen hat eine Universalität, welche der Sinn der Thiere nicht hat. | Der Gegenstand für die menschlichen Sinne ist die Totalität der Dinge; es ist also auch nichts, was nicht in den Sinn der Menschen im Ganzen einginge. Bei den Thieren scheint das nicht zu sein. Man bekommt schon eine Ahnung davon durch die allmählige und langsame Entwickelung der Sinne, wenn wir von den unvollkommenen Thieren zu den vollkommenen hinaufgehen. Aber auch bei letztern müssen wir sagen, daß vieles, was äußerlich angesehen in ihren Sinn hineingehen könnte, nicht hineingeht, für sie so gut als nicht da ist. Die ausströmende Thätigkeit ist durchaus beschränkter, und die Sinne scheinen in genauem Zusammenhange mit dem Umfange ihres Triebes zu stehen. Was nicht in Relation mit diesem steht, scheint in ihren Sinn nicht einzugehen. Man kann dies daraus sehen, daß es eine so große Menge von Gegenständen giebt, die dem Thiere durchaus gleichgültig ist. Nur das erregt ihre Zuneigung, was ihrem Zustand förderlich ist und ihren Widerwillen, was ihrem Instinct hinderlich ist. | Das ist aber nur wenig, und was darüber hinausgeht, können wir nur annehmen als nicht für sie da. Das Physiologische der Sinnenwahrnehmung muß zwar vor sich gehen, aber es geht nicht in sie ein, die Sinnesoperation wird nicht vollzogen, wiewol die Dinge dazu Anlaß geben; Bewußtsein erhalten sie nur von dem, was ihren Instinct erregt. Dies geht auch aus dem Gesagten hervor, daß wir eine ursprüngliche Thätigkeit durchaus in der Seele voraussetzen müssen, selbst wo sie bloß gegenwirkt, daß aber dies dieselbe Thätigkeit sei mit der ausströmenden; dies auf die Thiere angewandt, so ist auch ihr Sinn nicht größer als ihr Instinct. Ein anderer Unterschied ist der, daß die Sinne beim Thiere weit unvollkommener sind. Dies hängt mit dem Bewußtsein zusammen. Weil das Thier eine beschränktere Welt hat, so setzt es sich auch nicht entgegen der Totalität der Dinge. Wir können in ihnen Wahrnehmung und Gefühl nicht unterscheiden. Wir können nicht messen in wiefern sie wahrnehmen, und schreiben wir ihnen zu, | daß sie Gegenstände trennen und unterscheiden, so tragen wir mehr auf sie über als wir Recht haben. Die Dunkelheit ihres Bewußtseins besteht in dem noch nicht Auseinandertreten der Wahrnehmung und des Gefühls. So wenig wir ihnen das Bewußtsein des Ich zuschreiben, so wenig können wir ihnen ein Bewußtsein der Dinge zuschreiben. Ersteres hat niemand gethan; niemand hat ihnen das Bewußtsein des Ich, der Identität des Daseins in den verschiedenen Zuständen

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beigelegt, aber letzteres hat man oft getan, man hat ihnen oft ein Bewußtsein der Dinge zugeschrieben; aber dabei hat man sehr geirrt, denn man hat den Zusammenhang des Gefühls und der Wahrnehmung, die beide durch einander bedingt sind, dabei ganz übersehen. Betrachten wir im Menschen selbst den Sinn als ein sich Entwickelndes, so müssen wir diesen ganzen Prozeß in diese beiden Formeln bringen. 1) daß Gefühl und Wahrnehmung immer mehr auseinander tritt; 2) daß die | Welt sich immer mehr erweitert. Aber auch in den ersten Lebensäußerungen des Menschen müssen wir schon die Differenz vom Thierischen annehmen und sagen: zugegeben, daß für den Menschen bei seiner Geburt Gefühl und Wahrnehmung nach einander sind, und die Welt noch sehr beschränkt ist, so ist dieser Zustand doch ein weit höherer als der thierische; denn im Menschen liegt doch der Keim zur Ausbildung, der im Thier nicht liegt. Der Mensch ist also nicht erst ein Thier und wird dann ein Mensch, sondern er ist gleich bei seiner Geburt ein Mensch, aber mit dem Minimum der Ausbildung.

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Inhalt: Es ist durchaus nicht zu bestimmen, wo das Organische aufhört und das psychische anfängt; wir werden uns nur der äußersten Enden bewußt. Ist der äußere Sinn als Ein Ganzes anzusehen, wozu jeder einzelne Sinn eine Fraction ist? Verwandschaft der Sinne untereinander. Leitende und folgende Sinne. Gegensatz des Thierischen und Menschlichen hierin. Hat der Irrthum in der Sinnes oder der Verstandesthätigkeit seinen Sitz? Wir können also zwar nicht den Unterschied zwischen dem Menschlichen und Thierischen in seinem Anfange auffassen, aber wir dürfen ihn nie aus den Augen lassen. Diese Schwierigkeit ist nicht die einzige. Wenn wir fragen: wo sollen wir nun eigentlich das Psychische der Sinnesthätigkeit anfangen lassen? so ist das eben so schwer, denn alle solche Thätigkeiten gehen durch das Organ hindurch. | Aber auf jeden Fall müssen wir die Thätigkeit des Bewußtseins scheiden von der physiologischen Thätigkeit der Sinnesorgane, weil letztere sein kann ohne erstere. Es ist also ein Dazwischentreten, wovon wir aber nicht wissen, wo es ist. Das Auge verführt uns sehr oft; weil wir das Bild des gesehenen Gegenstandes im Auge wirklich sehen können, so glauben wir, wir haben die letzte Thätigkeit des Organs, weil das Bild, was wir im Auge sehen, dem Bilde des Gegenstandes vollkommen ähnlich ist. Man denkt sich nun die Production des Bildes im Auge als das physiologische Ende, und

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das Sehen des Bildes als eigentliche Thätigkeit der Seele. Aber das ist eine Verwirrung, denn wir sehen das Bild im Auge nicht anders, als indem wir ins Auge hineinsehen, und wir wissen also gar nicht, ob das eine wirkliche Thätigkeit des Organs ist, oder ob es eine Thätigkeit unserer Seele ist, weil wir es nicht rein als das Physiologische sehen können, sondern nur als unsere That. Dazu kommt noch, | daß wir dabei gleich ins Unendliche hineingetrieben werden. Wir kommen zum Bilde nicht anders, als wir sehen in das Auge eines andern, oder in den Spiegel in das eigene Auge. Wenn man vor dem Spiegel steht, sieht man im eigenen Auge das eigene Bild. Dabei ist aber eine unendliche Betrachtung nothwendig, und so ist auch hier das Ende des Physiologischen und Psychischen nicht von einander zu sondern. Wir haben ein Bestreben die Operationen der Sinne nachzuahmen, ohne daß uns die Gegenstände gegeben sind, und das können wir bis auf einen gewissen Grad vollziehen. Es giebt ein inneres Sehen, und ein inneres Hören. Das Bild, das man sich von einer abwesenden Person machen kann, tritt innerlich ordentlich als Bild hervor, nur ist es außer dem Zusammenhange mit allem andern Gesehenen, und die von außen kommende Erschütterung fehlt, und weil dieses beides ist, so ist das Bild bleicher. So können wir ordentlich Töne innerlich hören, indem wir die Bewegung der Sinnenwerkzeuge hervorbringen, die wir gebrauchen, wenn wir singen. | Das ist ein inneres Hören. Dies ist nun gar nicht eine Operation der Organe, sondern eine Operation, die ganz von der Function des Bewußtseins anfängt, denn dergleichen hat man nicht, wenn man nicht will. Aber hat man es eine Weile versucht, so fühlt man eine Anstrengung in den Organen, vorzüglich beim Auge, das man gewöhnlich beim inneren Sehen schließt. Diese reine Thätigkeit der Seele ist also wirklich zugleich ein Organisches, und weder das innere Bild, noch der innere Schattenton, kann vollzogen werden ohne das Organ. – Daraus wird klar, daß durchaus nicht zu bestimmen ist, wo das Organische aufhört, und das Psychische anfängt. Wir werden uns bloß der äußersten Enden bewußt. Was ist das äußerste Ende der Thätigkeit der Organe? Das Zurückwerfen des Hervorgebrachten auf die Gegenstände. Das Bewußtsein davon, das Sehen und Hören selbst ist eine Wirkung von Combinationen, die ganz klar auf dem psychischen Gebiet liegen, die uns aber so zur Gewohnheit geworden sind, daß sie gar nicht mehr besonders in unserm Bewußtsein hervortreten. Das Kind | hat noch kein Bewußtsein von Entfernung und von Differenz der Entfernungen, was man erst durch Combination erhält. Eben so ist es mit allen Wahrnehmungen, die auf den Gegenstand zurückgeworfen werden. Was nur aus der Combination der Sinnesthätigkeiten hervorgeht, das kann nicht mehr auf dem Gebiet des Physiologischen liegen.

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Weil alle unsere Sinnesvorstellungen, wenn wir sie im eigenen Bewußtsein finden, nur aus der Combination mehrerer Sinnesthätigkeiten entstehen, so ist die Ansicht entstanden, daß in diesem System des äußern Sinnes jeder einzelne nur eine Fraction wäre, und man müßte den äußern Sinn als ein Ganzes setzen. Das ist aber nicht richtig, denn es giebt keine Erklärung die für alle paßte. Ein Sinn ist das Zusammensein einer psychischen Thätigkeit mit einem receptiven Organ. Jeder einzelne Sinn ist uns aber als ein besonderes receptives Organ gegeben, und wir haben keinen organischen Vereinigungspunct aller Sinne. Könnten wir einen solchen im Gehirn z. B. wahrnehmen, dann wäre jeder Sinn | nur die Fraction des organischen Vereinigungspunctes. Wenn man das System der fünf äußern Sinne als ein rein Fragmentarisches ansieht, dann kommt man darauf eine solche Einheit anzunehmen, und thut auf der einen Seite zu wenig, auf der andern zu viel. Wenn aber der Zweck des Auges z. B. ist, die Lichtpuncte aufzufassen, so ist das Sehen etwas für sich und es ist nicht möglich, diesen Sinn als eine Fraction anzusehen. So zeigt uns der Tastsinn das Magnetische ganz allein, er ist also etwas für sich und keine Fraction. Die Combination mehrerer Sinnesthätigkeiten erfordert schon die tiefste Seelenthätigkeit, und man würde Unrecht thun, dies der Einheit der Sinne zuzuschreiben. Was hiezu verleitet ist ein Verhältniß, in welchem die Sinne zu einander stehen, sich gegenseitig erregen, und allerdings der eine mit dem andern eine nähere Verwandschaft hat als mit den übrigen, und dazu verschiedene Verhältnisse, wodurch der eine Sinn ein leitender der andere ein folgender zu sein scheint. Z. B. wenn wir uns fragen, wie wir unsere Erfahrung | zu Stande bringen, unser empirisches Bewußtsein, so werden wir sagen müssen: es gibt einige Sinne die uns mehr veranlassen in solche Forschung zu gehen als andere, und das sind die leitenden Sinne. Der erste leitende Sinn ist das Auge, der erste folgende Sinn der Tastsinn; hernach ist das Gehör ein leitender Sinn, wo das ist, da ist das Auge der erste folgende Sinn; aber das Gehör wird nie der folgende Sinn sein für das Auge. Wir können dies nicht bloß ansehen als Resultat der Erfahrung über die größere Allgemeinheit des einen oder des andern Sinnes, weil es bei den Kindern auch schon ist, sondern es beruht auf der ursprünglichen Verwandtschaft der Sinne und auf ihrer natürlichen Thätigkeit. Hier ist der bestimmteste Gegensatz zwischen dem Menschlichen und 1–5 Schleiermacher könnte hier an Carl August Eschenmayer denken; vgl. Eschenmayer (1817): „Der Organismus ist gleichsam das Prisma für den Gemeinsinn der Seele, der die Einheit jener Fractionen enthält. Das Ohr, das Aug, der Geruch ist eine verschiedene Fraction, wie im Prisma das Roth, Blau, Gelb u. s. w. Der Gemeinsinn ist mithin das Identische von allen diesen Differenzen und dadurch können wir der Natur der Empfindung näher kommen.“ (S. 38)

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Thierischen. Der Geruch ist für den Menschen nie leitender Sinn, sondern immer ein folgender, denn im Geruch ist eine gewisse Indifferenz des Gefühls und der Wahrnehmung. Gerade weil dies beides bei den Thieren ganz ineinander ist, so ist der Geruch der sie leitende Sinn; für den Menschen kann er es nicht sein, bei dem der leitende Sinn immer von der stärksten Wahrnehmung ausgeht. Folgende Frage führt uns an die Grenze | der Sinnesthätigkeit, und der weitern Reihe, die sich daraus entwickelt. Wenn dies Verwandschaftssystem der Sinne, die Art wie wir sie combiniren darauf berechnet ist das Objective in den Sinnen mehr hervorzuheben und die Einwirkungen mehrerer Sinne zu der Vorstellung eines Gegenstandes zu vereinigen, wenn wir dies der Richtung auf das Wahre zuschreiben müssen, der Richtung der Seele in sich selbst das Sein abzubilden, so entsteht die Frage, indem wir uns bewußt sind, daß in unsern Wahrnehmungen vieles vorkommt, was wir später als Irrthum erkennen: hat der Irrthum seinen Sitz in den Sinnesthätigkeiten selbst, oder in der darauf folgenden Verstandesthätigkeit? Man hat beides behauptet, aber man kann wol das eine eben so wenig annehmen als das andre weil man so alles in Bausch und Bogen nimmt. Es kommt an auf die verschiedene Beschaffenheit der Sinne, die zu verschiedenen Zeiten verschieden ist. So lange man das nicht unterschieden hat können beide Ansichten nebeneinander stehen. – |

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Inhalt. Von den Irrthümern welche im Sinn gegründet sind. Woher kommt es, daß man den Irrthum nur der Verstandesthätigkeit zuschreibt? Von den Differenzen im Sinn der Menschen. Skepticismus der sich hieran knüpft. – Betrachtung der Sinne in Beziehung auf das Gefühl. Betrachtung des allgemeinen Sinnes in dieser Beziehung. Wenn man sagt die Verstandesthätigkeit irrt, so ist das nur wahr, wenn die Sinnesthätigkeiten ein Gefühl hervorbringen; bei der Wahrnehmung ist es nicht so. Der Irrthum kann aber immer nur an der Wahrheit sein, also wo wol Wahrheit, da ist wol Irrthum, wo wenig Wahrheit ist, da ist auch wenig Irrthum. In den Sinnesthätigkeiten der ersten Periode des Menschen ist wenig Wahrheit, also auch wenig bestimmt hervortretender Irrthum, der ganze Zustand ist ein noch chaotischer, woraus Wahrheit und Irrthum werden kann. Die Wahr19 Bausch] Pausch

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heit ist nur darin, sofern man es auf das Gefühl bezieht; Objectives ist nur Irriges darin, wenn man überhaupt bei dem Mangel an Urtheilskraft so sagen darf. Wenn nun dieses ganze Gebiet im Menschen schon ausgebildet ist, so finden wir eine Differenz in der Thätigkeit der Organe. Ein kurzsichtiges Auge hat einen engern Gesichtskreis, das bessere Auge sieht weiter und klarer. Vergleichen wir nun, wie sich die Gegenstände darstellen dem Kurzsichtigen und dem Weitsichtigen, so kommt die Wahrheit durch den Verstand erst hinein, wenn der Kurzsichtige sagt: | ich wage nicht zu entscheiden weil mein Auge schlecht ist. Wenn aber der Verstand nicht dazu kommt, so ist der Irrthum bloß im Sinne, der Verstand kann nur den Irrthum verificiren. Der Sinn kann also wol täuschen. Wir sagen nun: vom Gegenstande kann der Irrthum nicht ausgehen, aber zwischen ihm und dem Sinn liegt noch das Medium, und wenn uns dieses die Sinneseindrücke verfälscht, können wir nun sagen: wenn wir das nicht reduciren, so ist das Irrthum des Verstandes? Nein, im Verstande ist bloß die Möglichkeit den Irrthum aufzuheben, aber der Irrthum ist im Sinn. Nun freilich giebt es außerdem Irrthümer welche man der Verstandesthätigkeit zuschreiben kann. Was wir bis jetzt nachgewiesen haben, müssen wir als Irrhtum des Sinnes denken, wozu noch der Verstand hinzukommen muß, um den Irrthum auszugleichen; wenn aber das Hinzukommen des Verstandes schon Gewohnheit ist, und durch die Erfahrung schon bestimmt, so ist sein Ausbleiben ein Fehler, und der Irrhtum kann von dieser Seite dem | Verstande zugeschrieben werden, aber ursprünglich liegt er immer in den Sinnen. Ein anderer Irrthum ist, wenn das äußere und innere Sehen, das äußere und innere Hören sich widersprechen. Wenn jemand auf mich zukommt, so construire ich mir schon ein Bild in der Erwartung. Dieses Bild nun, wenn es nicht mit dem Gegenstand übereinstimmt, macht den Irrthum, der aber auch hier ursprünglich in den Sinnen liegt, obgleich er durch etwas anderes veranlaßt wurde, und wiewol ihn der Verstand verificiren kann. Woher kommt die Neigung, den Sinn von allem Irrthum frei zu sprechen? Davon daß wir die Natur frei sprechen wollen, daß wir ihr zuschreiben wollen, sie habe alle Menschen in gleiche Verhältnisse gesetzt zu der Aufgabe die Welt zu construiren; wenn also Differenzen in ihnen entstehen über die Dinge, so sei das gegründet in der That des Menschen, nicht in der That der Sinne. Das ist etwas Löbliches in der Voraussetzung, hält aber nicht Stich; denn 1) läßt sich die That der Natur und unsere That nicht trennen, und durch jene Ansicht hält man die Sinne für bloße Passivität. Aber die Seele | ist schon in allen Momenten mitgegeben, wenn aber die Seelenthätigkeiten nicht in allen gleich sind, so kann man es auch von den Sinnen nicht sagen. 2) Wenn es wirklich so wäre, so hätte uns die Natur betrogen, denn sie

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hätte uns die Differenzen im Menschen selbst verdeckt. So wie die Menschen verschieden sind in ihren Eigenthümlichkeiten, und ganze Massen von Menschen, so steht die Verschiedenheit der Sinne nothwendig damit in Verbindung. Diese Differenz müssen wir immer suchen, und so müssen wir die Anlage zum Irrthum gleich anerkennen. Es giebt merkwürdige Resultate, wenn man auf diese Differenzen im Sinnesgebiet achtet. Z. B. wenn wir vergleichen, was für Benennung von Farben die Alten uns bekannten Gegenständen gegeben haben, so müssen sie nothwendig eine ganz andere Farbenscala gehabt haben; unsere Ausdrücke von den Farben sind ganz allgemeine Begriffe, was bei den Alten gar nicht war. Woraus sollen wir das herleiten? Doch nur aus der Differenz | des Sinnes. Wir müssen sagen es ist immer nicht die Farbe allein, was unmittelbar im Gesichtseindruck liegt, sondern es ist in jeder Farbennüance selbst die verschiedene Intensität des Lichtes das [ ] der Glänzenden, was zwei ganz verschiedene Factoren sind. Wenn nun ein Organ mehr dazu gebaut ist den Glanz aufzufassen, ein anderes umgekehrt, so wird daraus eine ganz andere Classification entstehen. Auch im Ton ist nicht nur die Differenz der Höhe und Tiefe, der Langsamkeit und Schnelligkeit, sondern in der gleichen Höhe und Tiefe giebt es eine unendliche Differenz der Qualität des Tons, und auch hier kann aus der Art wie die Differenzen untergeordnet werden, eine andere Auffassung entstehen. Da sich aber die qualitativen Differenzen mehr verlieren, so bleibt hier immer die Differenz der Höhe und Tiefe Hauptsache. Auf der andern Seite hat man die Wahrheit dieser Differenz so ausgedehnt, daß man gesagt hat; man könne gar nicht gewiß sein darüber, daß ein anderer eben so sehe und höre wie wir, und daß er dasselbe sehe unter dem selben Namen. | Diesen Skepticismus kann man nun nicht austreiben, weil man nicht in der Haut des andern steckt, aber es ist eben ein Skepticismus zu dem man keinen Grund hat; der Grund findet sich nur in einzelnen Fällen die jedesmal untersucht und als Abnormitäten betrachtet werden müssen. Diese Ausnahmen hat man aber nicht nöthig vorauszusetzen. Der Skepticismus ist das Verachten der Regel, das Nichtwissenwollen. Indem wir hier sehen, es muß sich nothwendig an die Sinnesthätigkeit eine andere anschließen, jeder einzelne Eindruck bekommt erst seine volle Wahrheit dadurch, daß er in ein System aufgenommen, daß er mit bestimmtem Bewußtsein in die Totalität gesetzt, dazu in 15 das] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl Getrübtere (vgl. Berliner Nachschrift, S. 123), am Rand: Betrübte? 7–9 Vgl. Platon: Timaios 67c–68d; Opera 9,383–384; Werke 7,138–141

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einem bestimmten Verhältniß erscheint, so sind wir hier auf dem Punct gesetzt, wo wir zu der andern Reihe übergehen, aber wir wollen erst dasjenige was gefühlt sein will auf denselben Punct bringen. Den Sitz davon haben wir im allgemeinen Sinn gefunden, der der ganzen Oberfläche zugekehrt ist, und wir sind davon ausgegangen, daß seine Eindrücke | immer nur auf das Gefühl gehen; dann sind die Eindrücke anderer Sinne, des Geruchs und Geschmacks in gewisser Indifferenz gegen die Wahrnehmung, und gegen das Gefühl, gewöhnlich sich doch aber letzterem zuneigend; wiederum sind der Tastsinn, das Gehör und das Gesicht in der Regel rein der Wahrnehmung zugewendet. Wenn wir dies näher betrachten wollen, müssen wir zunächst ausgehen von demjenigen, wo das Entstehen des Gefühls in der größten Masse ist, wo es am reinsten ist, so wie wir bei der Wahrnehmung vom Gesicht ausgegangen sind. Den allgemeinen Sinn hat man sonst auch den innern Sinn, aber ohne Recht dazu zu haben genannt. Er ist der Athmosphäre zugewendet. Das führt uns auf die Respiration, die sehr viel Ähnlichkeit mit dieser Thätigkeit des allgemeinen Sinnes hat. Man kann sowohl sagen, daß die Thätigkeit der Lunge das concentrirte Einathmen ist, als auch daß die ganze Haut eben so einathmet, aber in ganz kleinen Theilen. So wie die Respiration für | die Erhaltung des physischen Lebens am nothwendigsten ist, so ist auch das Einathmen der Haut nichts, als das Verhältniß des Leibes zu den äußern Potenzen, wodurch das Angenehme wie das Unangenehme kommt. Alles Objective verschwindet dabei. Das Subjective ist der unmittelbare Eindruck, der sich immer in diesen Gegensätzen bewegt. Wenn er aber keine Abwechslung hervorbringt, so ist er Null; wenn kein Wechsel ist zwischen beiden, so ist Gleichgültigkeit. Geht dann in dieser der Verkehr mit der Athmosphäre nicht fort? Allerdings, aber es wird nichts Psychisches, es bleibt bloße animalische Function. Die Eindrücke also die ein wirkliches Gefühl hervorbringen, sind nicht zu reduciren auf den Verkehr der Athmosphäre mit der äußeren Oberfläche, sondern auf den Verkehr der Veränderungen. Diese Veränderungen sind die alten elementarischen Gegensätze von Warm und Kalt, Trocken und Feucht. Was ist die Wirkungsart dieser Potenzen? Sie liegt wieder im Physiologischen, | denn es ist eine Veränderung in den Dimensionen der organischen Thätigkeiten; sie ändern ihre Pulsation und Intensität, und das allgemeine Bewußtsein von diesen Veränderungen, wenn sie entstehen, nennen wir das allgemeine Lebensgefühl,was wir in uns als ein Physisches darstellen, und was sich eben deswegen weil keine strenge Scheidung da ist zwischen dem Psychologischen und Physiologischen auch als Physiologisches darstellt. Das allgemeine angenehme Gefühl hat den Character der Heiterkeit und Freiheit, das allgemeine unangenehme Gefühl den Character der Be-

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drübtheit und Hemmung. Aber so wie auf dem Gebiete der Wahrnehmung zu unterscheiden war eine von innen und eine von außen erregte Thätigkeit, so müssen wir auch hier unterscheiden die von außen und die von innen erregte Thätigkeit; – und darum mag man ihn auch wol den innern Sinn genannt haben. –

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Siebzehnte Vorlesung. Inhalt. Fortsetzung. Betrachtung des Gesichts, des Tastsinns und des Geschmacks in Beziehung auf die Erregung des Gefühls.

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Gehen wir hiebei von der Einheit des Lebens aus, so erscheint das erhöhte oder verminderte Leben nur als erhöhte oder verminderte Thätigkeit. Hiemit hängt nun zusammen eine erhöhte oder verminderte | Wahrnehmung und Gefühl. Die Veränderlichkeit der Lebensthätigkeit selbst nennen wir Stimmung. Dies führt wieder auf den Gegensatz von Gut und Schlecht, den wir hier noch nicht erörtern können. Soll der Mensch ein in sich Abgeschlossenes sein, so scheint es am besten dem Gefühl sich zu ergeben, soll er eine Vielfachheit darstellen, so ist die Wahrnehmung vorherrschend. Wir müssen sagen, daß die größte Empfänglichkeit auch die größte Vortrefflichkeit ist, und auf der andern Seite, daß die größte Reactionsfähigkeit im Menschen auch die größte Vortrefflichkeit ist. Dies verträgt sich auch zusammen sehr gut, und es ist dem Menschen ganz angemessen, daß dem Gefühl ein bestimmter Einfluß auf die Wahrnehmung eingeräumt wird, und daß mit der stärksten Einwirkung auch die stärkste Reaction verbunden ist. Wie steht es in dieser Hinsicht mit den Thieren? Es ist kein Grund da anzunehmen, daß in ihnen ein Zustand sei unsern Stimmungen gleich. Ihre Welt wird durch erhöhte oder verminderte Thätigkeit nicht verändert, | und eine solche Differenz finden wir bei ihnen nicht. Zwar ist ihr Leben nicht immer ein gleicher Zustand, und hängt von der Beschaffenheit der Umgebungen ab; aber es ist hier nur die Differenz in der geringern Reactionsfähigkeit, nicht aber in einem deprimirten Gefühl; es ist nur das reine Hervortreten des allgemeinen Lebens unter dessen Potenz sie stehen, und wogegen keine Reaction statt findet. Wir finden bei Thieren nur ein deprimirendes Gefühl bei speciellen Anlässen, die in der Gattung liegen, z. B. wenn sie ein der Gattung feindliches Thier bemerken. Dies geht durchaus nicht von der Wahrnehmung aus sondern vom Gefühl, und von einem ganz speciellen, da die Furcht bei jedem neuen Anlaß wiederkehrt und sich nicht durch die Erfahrung abstumpft. Hiemit nähern wir uns auch in dem Menschen den speciellern Gefühlen. Die allgemeinen Zustände gehen aus vom allgemeinen Sinn,

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und deßhalb können sie nur im Centrum als etwas Allgemeines aufgenommen werden. Fühlen wir uns deprimirt, so ist es auf allgemeine Weise, fühlen wir uns erhaben, so ist es auch auf dieselbe allgemeine Weise. Diese allgemeinen Einwirkungen | haben überhaupt genommen einen chronischen Character. Wenn sie einmal eingetreten sind, so wirken sie fort, aber eben im Verhältniß ihres Fortwirkens sind sie auch in gewisse Grenzen eingeschlossen. Halten wir uns die allgemeinen Einwirkungen aus der Athmosphäre vor, so sind sie dauernder aber nicht so stark, als die welche aus einzelnen äußern Eindrücken hervorgehen. Es giebt Differenzen in der menschlichen Gattung die mit dem Klima zusammenhängen; es giebt eine höhere allgemeine Erregtheit des ganzen Wesens die mit der Temperatur und der äußern Natur zusammen hängt, und eben so eine genauere Erregtheit, die mit der geringern Beschaffenheit der Natur zusammenhängt. Dies ist constant und bildet die Unterschiede der Racen. Wir können dies ansehen als constante Variation, aber auch als fortwährende Wirkung der äußern Verhältnisse. Wir können also annehmen ein Lappländer wird mit dem selben Geist geboren wie jeder andere, aber von Anfang an wird er in eine trübe Lage gesetzt durch die Natur, was | angesehen werden kann als eine chronische Krankheit die eben erblich ist. Hierin liegt das Maximum der Veränderungen die wir Stimmung nennen. – Die besondern Sinne haben wir gleich so unterschieden, daß wir gesagt haben: einige liegen stärker auf der Seite der Wahrnehmung, andere mehr in Indifferenz gegen Wahrnehmung und Gefühl. – Wenn Gesichtseindrücke und Eindrücke durch den Tastsinn keine Wahrnehmung, sondern ein Gefühl hervorbringen, so ist das bloß, wenn das Organ überströmt wird, oder nichts wahrzunehmen hat. Beim Negiren der Wahrnehmung tritt das Gefühl heraus. Deßhalb eben muß es auch einen Punct geben, wo Wahrnehmung und Gefühl Maximum sind. Der Glanz blendet und läßt nichts wahrnehmen; aber es giebt einen Grad von Glanz, wo man vollkommen wahrnimmt, und doch schon auf das Gefühl gewirkt wird. Ein herrlich erleuchtetes Zimmer macht alle Gegenstände besser wahrnehmen, aber weil vieles zum Vorschein kommt, was sonst nicht gekommen wäre, so wird das Gefühl der unendlichen | Aufgabe entstehen, auch der Lebensfülle. Dieser Zustand kann sich aber nur sehr selten erzeugen, weil es auf eine Kleinigkeit ankommt, ob man weiter wahrnehmen kann oder nicht. Die Wahrnehmungen durch den Tastsinn werden Gefühl, wenn auf den allgemeinen Sinn mitgewirkt wird. Die unmittelbare Berührung eines Körpers durch diesen Sinn führt immer Wahrnehmung mit sich, aber gewisse Betastungen werden Einzelnen unangenehm sein, doch ist das nichts Allgemeines; sondern es sind Idiosyncrasien. Bei dem Ge-

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fühlssinn beruht das Umschlagen des Objectiven in das Subjective auf etwas Allgemeinem, beim Tastsinn aber auf etwas Besonderem. – Der Geschmack und Geruch sind am bestimmtesten in der Indifferenz zwischen Wahrnehmung und Gefühl, so daß sie in der Regel immer beides zugleich sind. Es gibt keinen Geschmackseindruck, der nicht angenehme oder unangenehme Empfindung wäre und der nicht objectiv würde, den man nicht auf den Gegenstand zurückführte. Die Gefühlsseite des Geschmackssinnes fällt mit dem Tastsinn zusammen. – Es liegt in dem Angenehmen und Unangenehmen | des Geschmacks nichts Objectives, natürlich in einem gewissen Grade verstanden. Hier müssen wir die Gewalt betrachten die der Geschmackssinn auf die Menschen hat. Die Erfahrung bestätigt es, daß er nicht bei allen Menschen gleich ausgebildet ist, sondern jemehr die Menschen eigenthümlich ausgebildet sind, desto mehr ist auch der Geschmackssinn herausgebildet. Die mehr in der Masse stecken haben das Feinere des Sinnes nicht. Wenn wir also sagen, er hat eine Gewalt über den Menschen und ist gefährlich für die Sittlichkeit, so können wir das aus keinem andern Gesichtspunct betrachten, als wie er sich seiner Eigenthümlichkeit bewußt wird. In den Thieren ist wenig oder gar keine Ausbildung des Geschmackssinns. Das Thier erkennt seine Gegenstände durch den Geruch, und es ist schwer wahrzunehmen, ob ein wirklicher Geschmackssinn, sowohl von der Seite des Gefühls als der Wahrnehmung anzunehmen ist bei den Thieren. Wo sich ein Analogon davon findet, da scheint sich das nur zu finden bei den Thieren, die mit dem Menschen zusammenleben. – |

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Achtzehnte Vorlesung. Inhalt: Fortsetzung. Betrachtung des Geruchs und Gehörs in Beziehung auf das Gefühl. Durch den Geschmack kommt man zum Bewußtsein der Eigenthümlichkeit, und es ist die erste Probe, daß die Kinder alles schmecken wollen; daß es nicht bloßer Instinct ist, beweist, daß die Kinder alles schmecken wollen, wenn es auch keinen Geschmack hat; der Instinct würde sich aber nicht irren. Wenn nachher die andern Sinne mehr ausgebildet werden, so tritt der Geschmack wieder zurück. In den unangenehmen Geschmacksempfindungen, auf den höchsten Grad gesteigert, liegt der Ekel mit, der sich zum Erbrechen neigt, und auch damit endigt. Die angenehmen Geschmacksempfindungen erregen Lüsternheit. Dieses Leidenschaftliche finden wir in den bisher betrachteten Sinnen gar nicht. Woher hat es wol seinen specifischen Grund?

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Man kann wol nur auf die Schnelligkeit zurückgehen, mit der die Geschmacksempfindungen vorübergehen, und auf das relative Unvermögen des innern Sinnes auf diesem Gebiet, denn ein inneres Schmekken zu dem äußern gibt es fast gar nicht, und es ist in Vergleich | mit den übrigen Sinnen ein Minimum auf diesem Gebiet; zwar erinnert man sich der Geschmackseindrücke, aber nur auf abstracte Weise, und nicht indem man sich das Analogon des Eindrucks reproducirte. Hierin liegt nun das Verlangen zur Wiederholung des Eindrucks wodurch man ihn allein festhält. Diese Lüsternheit hat durchaus nichts gemein mit dem Hunger und Durst, und mit dem Bedürfniß, sondern sie dehnt sich über das Bedürfniß hinaus. Das Fortsetzen ist die Scala, woran wir die revolutionäre Gewalt dieses Sinnes messen können. – Noch stärker findet sich dies bei dem Geruch. Er gehört der Wahrnehmung und dem Gefühl an, allein mit der Eigenthümlichkeit, daß die Wahrnehmung immer unvollständig bleibt, als unmittelbar sinnliche zwar nicht, aber auf die Fortsetzung der sinnlichen Thätigkeit gesehen, lassen sich die Geruchsthätigkeiten weit weniger classificiren als die Thätigkeiten der andern Sinne. – Da wir keine Grenze gezogen haben zwischen den organischen Thätigkeiten und den Verstandesthätigkeiten, | so müssen wir sagen: weil sich die Thätigkeit nicht fortsetzen läßt, wie eine andere, so ist sie unvollkommen. Es ist eine Analogie des Geruchs mit dem allgemeinen Sinn nicht zu verkennen, denn es kommt der Geruch nur durch die Athmosphäre und mit dem Einathmen zugleich. Allein indem wir auf diesen Zusammenhang achten, giebt sich doch auch gleich die Differenz zu erkennen, denn indem wir stark riechen wollen, athmen wir nicht in gleichem Verhältniß stark, und so wie das allgemeine 9–12 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 135–136: „Die akuten Gefühle des Geschmacks des Unangenehmen gespannt, erregen Ekel und Erbrechen: aber die des Angenehmen erregen das Bestreben, den Geschmackssinn fortzusetzen, sie erregen Lüsternheit. Diese ist rein ein Zustand des Gefühls, den man aber nicht als | einen ursprünglichen sehen kann, sondern er geht nur von der Erfahrung des Angenehmen aus. Dieß Revolutionäre oder Leidenschaftliche haben wir in den anderen Sinnen bisher nicht gefunden und es trit uns hier zuerst entgegen, Man kann es bei den Geschmackseindrücken nicht anders als aus der Schnelligkeit, mit der die Geschmackseindrücke vorüber gehen und dem relativen Unvermögen des inneren Sinnes, heraus zu wirken nach außen erklären. Wir sahen nämlich früher, es giebt ein inneres und äußeres Hören und Sehen, was mit dem von außen angeregten Eins ist, ein solches inneres Schmecken aber giebt es gar nicht, wenigstens trits im Vergleich mit den anderen Sinnen die ein solches inneres Korrelat haben, als ein minimum zurück, man kann sich den Geschmackseindruck nur allgemein als angenehm oder unangenehm reproduciren. In dieser Unfähigkeit liegts Bestreben, den Genuß selbst zu wiederholen, um den permanenten Zustand festzuhalten. Dieser Zustand der Lüsternheit hat gar nichts zu schaffen mit dem körperlichen Bedürfniß denn sie kann ohne das Bedürfniß entstehen, und sich fortsetzen auch nachdem dieß schon befriedigt ist.“

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Material des Athmens in die Brust geht, so geht das des Riechens in die Kopfhöhle. So sind die starken Wirkungen der Gerüche zu erklären. Der Mensch kann durch anhaltend starke Gerüche dahin gebracht werden, daß er für alle optischen und acustischen Künste mehr als sonst geneigt ist. Man kann aber dahin es noch nicht bringen, daß man solchen Zustand hervorbringt, wenn man will, was eben seinen Grund darin hat, daß die Thätigkeiten des Geruchs noch nicht haben classificirt werden können. Woher entstehen diese Einwirkungen? Mit der Wahrnehmungsseite | kann man hier gar nichts anfangen, viel mehr liegen alle auf der Seite des Gefühls. Auch ist der ganze Gegensatz der des Angenehmen und Unangenehmen. Merkwürdig ist, daß viele angenehme Gerüche, wenn sie sehr gesteigert werden unangenehm werden, und daß unangenehme, nur gemäßigt, angenehm werden, wie z. B. beim Moschus. Jene Wirkungen entstehen besonders bei narcotischen Gegenständen, bleiben uns aber im Ganzen ein Räthsel. Durch die Verbreitung der Geruchseindrücke in das Gehirn scheint eine besondere Leichtigkeit zu entstehen die innern Organe des andern Endes aufzuregen, die Nerven des Gesichts und Gehörs, wodurch die Neigung für die optischen und acustischen Täuschungen hervorgebracht wird. Hier sehen wir ein Umkehren auf die Wahrnehmungsseite, die innere Seite des Organs gewinnt die Oberhand über die äußere. Beim Gehör ist die Sache sehr schwierig und complicirt. Es ist schon gesagt, daß die einzelnen Eindrücke rein der Wahrnehmungsseite anzugehören scheinen, | aber in der Dauer der Eindrücke die Gefühlsseite hervorzutreten scheint. Das ist aber nur in dem Maaße zu verstehen, wie es bei andern Sinnen auch statt findet, und hier tritt ein Analogon ein des Gehörs mit dem Tastsinn, wo die Gefühlseindrücke nur durch Idiosyncrasien entstehen konnten, nie etwas Objectives sind. Eben so mit dem Gehör. Was die Höhe und Tiefe, das Leise und Starke betrifft, so ist Analogie mit dem Gesicht, mit der Blendung und dem Nichtsehenkönnen. Sehen wir aber auf das Qualitative, so bringt auch jeder Ton ein Gefühl mit sich, was aber wieder auf der Seite der Idiosyncrasie liegt. Bei dem Aufeinanderfolgen mehrerer Töne gewinnt aber das Gefühl die Oberhand über die Wahrnehmung. Das Organ erleidet eine Erschütterung durch die Luftschwingungen, woraus ein Tönen entsteht. Dies Tönen ist schon die psychologische Seite, und wird auf den Gegenstand zurückgeworfen; hierdurch wird die Operation Wahrnehmung. Die Wahrnehmung von der äußern Differenz der verschiedenen Töne verschwindet allmählig mit der Stärke des Eindrucks | und es tritt das Gefühl ein deprimirend. Dies kann so stark werden, daß die heftigsten Gemüthsbewegungen daraus entstehen können, und dies war die Berechnung von dem Effect der Musik

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der Alten, die viel einfacher war, als die unsrige. Wie ist aber dies Umschlagen in die Gefühlsseite, wenn jedes einzelne Element eben so eine Wahrnehmung ist, zu erklären? Schleiermacher kann dies nur als ein Räthsel aufstellen, muß aber warnen, es nicht für gelöst zu betrachten aus der mathematischen Berechnung der Töne. Man hat die Töne zurückgebracht auf die Theorie der Schwingungen. Das mag ganz richtig sein; aber wenn man nun die Wirkung der Töne auf die Gefühlsseite auch erklären will aus dem Monochord, so ist das ganz unmöglich. Die arithmetische Differenz der Schwingungen ist nicht abzuleugnen, aber auch nicht einmal die Wahrnehmung entsteht dadurch, sondern sie ist nur die Scala der Wahrnehmung. Soll diese arithmetische Differenz der Grund des Gefühls sein, so soll das beruhen auf den Consonanzen und Dissonanzen. | Man denkt sich dabei die Seele die Schwingungen zählend, und weil sie die Consonanzen besser zählen kann als die Dissonanzen, so entsteht das Angenehme und Unangenehme. Aber um das wahrzunehmen braucht man ein absolutes Minimum von Zeit. Das Angenehme und Unangenehme beruht auch gar nicht auf den Consonanzen und Dissonanzen, denn beide beruhen doch auf dem Zusammensein von Tönen, aber eine bloße Melodie bringt schon das Angenehme und Unangenehme hervor. Dem gegenüber hat man eine rein geistige Erklärung jener Wirkung versucht, sagend: Der Ton ist die unmittelbare Äußerung des unmittelbaren Selbstbewußtseins von Freude und Leid, wenn es erregt ist, und wenn jedes Folgen von Tönen auf solches Selbstbewußtsein zurückgeführt wird, und eine Personification des Menschen ist, so entstehe das Bedürfniß durch die Töne den Zustand nachzubilden. Aber wir sind uns gar nicht einer so beständigen Personification bewußt, vielmehr ist solche Personification erst Folge des Gefühls und allein schon durch ein Geräusch, worin die Per|sonification noch gar nicht sein kann, entsteht das Gefühl. Etwas Ähnliches findet sich auch im Thier, daher sind wir schon deswegen genöthigt, auf einen physiologischen Anfang zurückzugehen. –

Neunzehnte Vorlesung. 35

Inhalt. Fortsetzung in der Betrachtung des Gehörs. Von der fortgesetzten Thätigkeit. Wie kommt in die gleichartigen Eindrücke Zusammenhang, so daß sie ein Ganzes bilden und auf einander 3–5 Vermutlich Anspielung auf Eschenmayer (1817), S. 51–59 13–16 Anspielung auf Leibniz (1768), Bd. 3, S. 437; Monadologie und andere metaphysische Schriften, ed. U. J. Schneider, 2. Aufl., Hamburg 2014, S. 170–173

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bezogen werden? Von den entgegengesetzten Ansichten, von denen man bei der Beantwortung dieser Frage ausgeht, der Verknüpfung und der Sonderung. Unzulänglichkeit jeder derselben für sich genommen.

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Bei den Elementen des Gehörs kommen wir auf den Rythmus und die Höhe und Tiefe, als das Quantitative. Wenn wir uns in Gedanken Höhe und Tiefe und von der andern Seite den Rythmus sondern, so muß eine Einwirkung auf das Gefühl aufhören, wenn der Rythmus ganz aufhört, umgekehrt aber nicht. Wir finden nun einen Rythmus in uns selbst, der sich am einfachsten im Puls in den Functionen des Blutumlaufs zeigt. Daher ist es natürlich, daß ein von außen sich mittheilender Rythmus in unsere ganze Lebenskraft einen Einfluß haben muß, je nachdem beide in Conflict gerathen. Die Wirkungen sind leichter wenn wir uns in einem ruhigen Zustand befinden, sie werden aber gehemmt, oder gehen ganz an uns vorbei, wenn wir schon in einer bestimmten Regung sind, wo der innere Rythmus vollkommen bestimmt ist und nicht von außen afficirt werden kann. – | Hievon können wir noch eine analoge Ansicht fassen über den Einfluß des Wechsels der Höhe und Tiefe auf das Gefühl, den wir uns größtentheils sehr hervorragend denken, was daher kommt, daß wir was von der Wahrnehmung und was vom Gefühl kommt nicht unterscheiden. Wenn wir also auch die rein arithmetische Erklärung ungenügend finden, so ist doch nicht zu leugnen, daß schon der Wechsel der Höhe und Tiefe eine Oscillation in sich trägt, einen Wechsel der Spannung, die das Medium des Tons ist und auf das rythmische Gefühl in uns einwirkt. Aus beiden zusammen kann also erst die große Wirkung entspringen. Dies stimmt auch zusammen mit der Differenz, die sehr leicht wahrzunehmen ist, zwischen den stärksten Eindrücken des Geruchs und des Gehörs auf das Gefühl. Erstere nämlich bringen keine Veränderung hervor in der Spontaneität, wogegen die Eindrücke des Gehörs auf das Gefühl offenbar gemüthserregend sind, worin die eigenthümliche Stärke sich zeigt, dagegen auf die Receptivität wenig gewirkt wird. Das Rythmische ist die mathematische Function der Bewegung. | Diese Untersuchung kann hier nicht weiter verfolgt werden, weil man entweder in das Physiologische eingehen müßte, oder in die fortgesetzte geistige Thätigkeit, mit der wir es hier noch nicht zu thun haben. Das ist freililch nicht zu leugnen, daß der Ton ein Abdruck des unmittelbaren Selbstbewußtseins ist, und das eben fällt in jene höhere Betrachtung. Das eben Betrachtete führt uns auf eine höhere Betrachtung, nämlich wie das Menschliche außer uns wieder auf uns wirkt, da wir bisher den Menschen nur als eine Einheit betrachtet haben; das gehört aber nicht hierher.

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Bisher haben wir die aufnehmende Thätigkeit des Menschen in ihren beiden Functionen, Wahrnehmung und Gefühl betrachtet und deren gegenseitiges Spiel mit einander. Vergleichen wir das mit dem was wir als das ganze Resultat der aufnehmenden Thätigkeit kennen, so ist das nur ein minimum, was wir bis jetzt gesehen haben. Das Meiste entsteht also aus der fortgesetzten Thätigkeit. Worin besteht denn diese Fortsetzung eigentlich? Wir haben zwar mancherlei Übergänge gefunden | auf die ausströmende Thätigkeit, die wir auch construiren müssen, aber wir müssen doch jenes erst zum Ende führen, die aufnehmende Thätigkeit in ihrem ganzen Umfange zu begreifen. Bisher haben wir nur von den einzelnen Eindrücken geredet, von dem Spiel zwischen den auf den Organismus einwirkenden Potenzen und demjenigen, was aus der psychischen Seite des Daseins dadurch entsteht. Alle Fortsetzung der aufnehmenden Thätigkeit beruht auf der Combination; dies muß zunächst unsere Betrachtung sein, doch mit der Einschränkung, daß wir uns für jetzt nur an das Gleichartige halten, nur sehen, wie die gleichartigen Eindrücke in einander sind, und auf einander wirken. Wir haben es also bis jetzt nur mit der Frage zu thun: wie kommt in die gleichartigen Eindrücke Zusammenhang, so daß sie unter sich ein Ganzes bilden, und auf einander bezogen werden können? und indem wir die aufnehmende Thätigkeit betrachten wollen, haben wir es bloß mit der Wahrnehmung zu thun, mit der allein wir einen | Zusammenhang objectiver Eindrücke erhalten. Um diese Frage zu beantworten, kann man von zwei ganz entgegengesetzten Voraussetzungen ausgehen: 1) der Zusammenhang entsteht durch Verknüpfung; 2) er entsteht durch Sonderung. So wie dies auszusprechen ist, liegt nahe genug, daß beide combinirt werden müssen. Wir legen einige bestimmte Erfahrungen zum Grunde. Wir sagen: nachdem man einen und denselben Gegenstand oder mehrere Gegenstände der Art öfter hintereinander gesehen hat, so entsteht ein Wiedererkennen, d. h. wir beziehen den Eindruck der uns jetzt entsteht auf den früheren und setzen sie identisch, entweder indem wir sie ganz als denselben setzen, oder doch unter denselben Begriff subsumiren. So sagt man nun: der erste Eindruck vom ersten Gegenstande war ja ganz verschwunden, es muß also eine eigene Thätigkeit in der Seele sein, diesen Eindruck wieder hervorzurufen auf Veranlassung eines spätern Eindrucks, und das ist Verknüpfung. Aber das geht rein im Kreise herum, | denn man setzt ja voraus, daß die Seele schon weiß, der Eindruck sei derselbe, mithin braucht sie den Eindruck nicht zu erneuern, und es bleibt zu fragen wie die Seele doch immer denselben Eindruck und keinen andern zurückruft. 6 fortgesetzten Thätigkeit] doppelt unterstrichen

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Man kann also auf diese Weise nicht erklären, wie die Seele dazu kommt bei einem Eindruck gerade den gleichen hervorzurufen, wodurch der Gegenstand als derselbe wiedererkannt wird. Noch viel weniger ist nachher hieraus die höhere Thätigkeit zu begreifen, den Gegenstand als zum Begriff gehörig zu fassen. Daher sieht man sich genöthigt, es von der Seele weg auf die Dinge zu schieben, indem man sagt: der Eindruck erfolge auf das Organ mit der besonderen Gewalt, gerade diesen und keinen andern Eindruck hervorzurufen. Hiebei ist die Thätigkeit der Seele Null. Auf mechanische Weise läßt sich dies durchaus nicht begreifen, denn dann müßten alle dazwischen liegende Eindrücke getrübt werden, weil eine Spur von einem andern Eindruck noch da sein müßte, und sie müßten sehr klar sein um das Trübe zu überwinden. Dieser Widerspruch ist nicht zu lösen. Auf eine dynamische Weise ist das auch nicht zu begreifen. Wenn wir das Mechanische ganz wegnehmen und sagen, daß | von einer Spur, die vom Eindruck zurückgeblieben wäre nicht die Rede sei, so bliebe, in dem Wesen des Organs läge die Fähigkeit, früher da gewesene analoge Eindrücke wieder zu erregen. Der Eindruck eines Gegenstandes auf das Gefühl ist durch die Form und die Farbe des Gegenstandes bedingt; beides hat seine verschiedene Analogie, also müßte sich das dynamische Vermögen gleich in diese beiden Dinge spalten, und es ist nicht einzusehen, wie die gleiche Farbe nicht bloß den Eindruck sollte erregen von der gleichen Farbe ohne die Begrenzung und umgekehrt. Die Combination wird also hier nicht erklärt, sondern nur um ein Glied hinausgeschoben. So rufen wir aber gar nicht zurück, aber wir müßten so zurückrufen, wenn die Thätigkeit bloß im Organ läge. Gehen wir auf den Anfangspunct, so nehmen wir dasselbe wahr. Diese Voraussetzung setzt eben das Gegebensein der Gegenstände schon voraus. Das ist aber nur da, wenn die Sonderung schon geschehen ist, und wenn die Sonderung | erst da ist, so bedarf es der Combination nicht mehr, denn so wie eine Masse gesondert ist in bestimmte Gegenstände, so sind ja die Begriffe schon mitgegeben, denn indem man ein Besonderes für sich setzt aus der chaotischen Masse, so ist der Begriff des Gegenstandes schon da in der Sonderung, und man darf dann nur bei ähnlichen Fällen wieder eben so sondern. Das gilt eben so sehr von allen andern Eindrücken, als vom Sehen. So wie die ursprüngliche Affection des Organs ist, daß es mir eine sichtbare Halbkugel vorstellt, und in dieser sondere ich nun, so kann man dasselbe vom Gehör sagen, denn in jedem Augenblick ist doch ein Unendliches zu hören, und nur durch stärkere Eindrücke, wird das Organ angeregt, und in dieser Stärke des Eindrucks verschwindet der eine gegen den andern, und dadurch bekommt das Organ seine Richtung. Indem wir aber auch uns auf einen bestimmten Gegenstand richten, so ist auch da eine Sonderung,

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und ist die Sonderung da so ist auch die Combination überflüssig. Es ist ein Sonderungsgesetz | und bei ähnlichen Fällen sondern wir wieder so. Fragen wir nun was ist denn das Sonderungsgesetz? so müssen wir auch hier wieder voraussetzen, was erklärt werden soll; denn wie wir sondern, wenn die Dinge schon in uns sind, das ist klar, aber wie wir sondern ehe die Dinge in unser Bewußtsein gekommen sind, das ist eben so wenig zu begreifen, als bei der Verknüpfung, das was verknüpft werden soll. Das Wiedererkennen der Dinge durch Sonderung und Verknüpfung hängt zusammen mit zwei verschiedenen metaphysischen Theorien; ersteres schließt sich an die Voraussetzung der angebornen Begriffe, letzteres an die Bildung der Begriffe durch Abstraction. Wenn nun die eine Voraussetzung eben so wenig reicht als die andere, so würden wir Unrecht haben, wenn wir uns gleich an eine von beiden Theorien wenden wollten. Wir müssen um diese Operation zu begreifen einen andern Weg gehen. –

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Zwanzigste Vorlesung Inhalt. Wie ist das Festhalten und Zusammenhalten der primitiven Eindrücke zu erklären? 20

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Wie ist das Festhalten und Zusammenhalten der primitiven Eindrücke zu erklären? Kann man nicht, statt der Frage nach dem Behalten, fragen: wie ist das Vergessen zu begreifen? | Das allgemeine Leben macht diese Frage natürlich, denn wenn wir etwas behalten haben, so wundern wir uns nicht. Wir können die Frage nur so stellen, wenn irgend etwas dabei herauskommen soll. Nämlich die entgegengesetzte Frage setzt schon eine bestimmte Masse von Eindrücken als Einheit voraus, und fragt nicht: woher die Masse und die Einheit gekommen. Man denke sich einen Gegenstand von einem gewissen Umfange, man hat einen Eindruck von ihm gehabt, andere Eindrücke sind dazwischen gekommen, man sieht ihn wieder und erinnert sich seiner: wie das? Diese Frage setzt die Eindrücke und ihre Einheit, das erste Erkennen des Dinges doch voraus und den Totaleindruck davon. Es wird ein Ton gegeben, der eine Zeitlang wächst, anschwillt und abnimmt, so wird dieser Eindruck als Einer angesehen, und bekommt man ein 30–31 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 151: „Diese Frage setzt voraus, daß dieser Totaleindruck abgeschieden von den übrigen entstanden ist, er hat aber nur durch Partialeindrücke entstehen können, Man kann den Eindruck von einem Gegenstand nur successiv erhalten und wäre das verschwinden das ursprüngliche, so kämen wir nie auf einen Totaleindruck denn die früheren Partialeindrücke wären immer schon wieder verschwunden ehe der Totaleindruck zu Stande kommt.“

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ander Mal einen andern ähnlichen Eindruck, so vergleicht man, welcher Künstler den Ton besser herausgebracht. Fragt man: wie kann ich den ersten Eindruck reproduciren? | so muß ich doch durchaus den Eindruck ganz davon haben, und doch habe ich den Eindruck nicht mit einem Mal erhalten, sondern nur nach und nach. Wir setzen also das Festhalten dessen was vorübergeht immer voraus, und das ist es nicht, was wir zu erklären suchen. Das Fundament aller Urtheile ist das Wahrnehmen von Veränderungen. Die einfachste Veränderung ist die Bewegung eines Dinges von einem Ort zum andern. Wie nimmt man die Bewegung wahr? Wie kommt man dazu den verschwundenen Gegenstand an dem einen Ort am andern zu sehen? Ja sagt man, man folgt dem Gegenstande, aber man muß doch immer auch den Gegenstand an seinem Orte sehen, und so was vorübergeht und verschwindet festhalten. Das Festhalten ist das mit der Seele gleich Gesetzte, was man nicht erst zu erklären braucht. Dazu dies: Die höchste Vollkommenheit der sinnlichen Wahrnehmung ist, wenn die Seele ganz darin aufgeht, d. h. sie ist in diesem Augenblick nichts als diese Wahrnehmung, alles andere | ist Minimum in ihr, und betrachten wir die Seele in solchen Augenblicken in ihrem wirklichen Sein, so ist sie nichts gewesen als die Production der Wahrnehmung, das Festhalten der Wahrnehmung ist also nichts als das Selbstsetzen der Seele, und es ist ohne das kein Ich, keine Identität des Daseins zu denken. Wie ist es denn zugegangen, daß man die Seele ganz umgekehrt angesehen hat? Wie bleibt uns das Erinnerungsvermögen, das Gedächtniß? Das verlieren wir alles, und darum müssen wir uns die Sache bedenken. Dies liegt darin, daß man, indem man den Gegensatz von Leib und Seele setzt, von dem bestimmten Maaß der Trennung zwischen diesen beiden Enden der Thätigkeit ausgeht, und sieht so die Bewegung des Organs, die man allerdings als etwas Verschwindendes ansehen muß, und das Wahrnehmen der Seele als zwei ganz verschiedene Dinge an. Daß man sich die Seele aber auf solche Weise vom Organ getrennt denkt in solcher Thätigkeit ist aber gar nicht zu begreifen. | Das Verführende dabei ist das Bild im Auge gewesen. Da hat man sich gedacht, die Seele sehe erst das Bild im Auge, man hat also doch der Seele wieder noch ein anderes Auge geben müssen. Sehen wir aber die Bewegung des Organs, und die Wahrnehmung nur als zwei Enden an, als das physiologische und psychische, so müssen wir jetzt sagen, daß wir den Verlauf beider nicht kennen. Hier wollen wir aber das Psychische erkennen, wobei wir die Seele als Subject setzen für das innere 10–11 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 152: „und wie ist der verschwundene Eindruck vom Gegenstand am Einen Ort mit Eindruck vom Seyn des Gegenstandes am anderen Orte zu erklären?“

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Ende der Wahrnehmung, aber damit ist schon das Festhalten mitgesetzt. Jene Voraussetzung dagegen ist ein a priori Vernichten der Seele, die ohne das Festhalten nicht gedacht werden kann. – Wer eine Unendlichkeit von Eindrücken setzt, die der Zeit nach auf einander folgen, wo aber zwischen jedem ein Nullpunct ist, der darf die Seele nicht mitsetzen. Wie sollte dem Menschen auch die Zeit werden unter dieser Voraussetzung? Die Zeit wird doch nur, indem | Vergangenheit und Gegenwart als Eins gesetzt wird, und erstere in letztere hinübergezogen wird. Für jeden Menschen ist nun die Zeit; also hört wieder alles Erklären auf, von jener Voraussetzung. Wir müssen also sagen: weil also unter jener Voraussetzung schon jeder einzelne Eindruck müßte angesehen werden als nicht zu Stande zu bringender Eindruck von einem Theil einer Unendlichkeit von Theilen, und weil die Zeit und Continuität des Lebens verloren gehen müßte, so müssen wir die Sache umkehren, und als das Ursprüngliche setzen das Herübernehmen der Vergangenheit in die Gegenwart, das Festhalten, und hieraus muß das Vergessen erklärt werden nicht umgekehrt. Wenn wir nun sagen: was einmal in der Seele ist als Wahrnehmung, das bleibt auch, so müssen wir nun fragen: wie verschwindet dann Einiges wieder? Wollen wir jener Voraussetzung gemäß dies erklären, so gibt es ein ursprüngliches Herüberziehen der Vergangenheit in die Gegenwart und | in dem Verwachsen beider liegt das Behalten, welches das mit der Seele nothwendig verbundene sich Herüberziehen der Vergangenheit in die Gegenwart ist. Das Festhalten ist ein ganz allgemeines und es giebt gar kein vollkommenes Vergessen, sondern immer nur ein relatives, aber das Behalten selbst ist gemessen durch den Zusammenhang des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen. Nicht die ganze Vergangenheit hängt mit dem Gegenwärtigen auf gleiche Weise zusammen. Was am meisten mit dem Gegenwärtigen zusammenhängt, tritt hervor, was am meisten davon ab ist, wird überschattet, und so entsteht ein relatives Vergessen. Das Behalten beruht also auf der absoluten Continuität des Lebens, aber da ist die wahrnehmende Thätigkeit nicht isoliert, sondern mit der Spontaneität der Seele verbunden, und jeder Moment ist nur ein Identisches von beiden. Also kann es dann eben so gut sein, daß sich ein Act aus der Vergangenheit in die Zukunft hinüberzieht, indem er mit der That dieser Gegenwart und Zukunft ein Continuum bildet, nicht mit der Wahrnehmung in der Gegenwart. | Weil wir uns zu sehr im Abstrahiren gefallen haben, ist hier wieder Vorschub gewonnen für die andere Ansicht. Wenn man sich in der Gegenwart an etwas erinnert, was in gar keiner Continuität mit der Wahrnehmung steht, so sieht man das als etwas ganz Wunderliches an. Die Wahrnehmung füllt aber nie die Seele ganz aus, sondern die ganze That der Seele und die Anknüpfung

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darin bildet die Continuität. Wenn ich einen Menschen sehe, der sich ganz verändert hat, den ich aber doch wiedererkenne, so kann dies nicht angesehen werden als eine Continuität der Wahrnehmung, sondern die That der Seele macht es, das continuirliche sich selbst Setzen der Seele durch die That. – Man sagt: ja wenn man das auch begreift, so muß man doch immer sagen, es ist ein Unterschied zwischen dem Festhalten eines Eindrucks, wozu der Gegenstand selbst in der Zeit gegenwärtig bleibt, und wozu der Gegenstand verschwindet, und auch dies müßte dann doch erst erklärt werden. Die Frage wird wieder nur | dadurch veranlaßt, daß wir auf zu enge Weise das psychische Ende an den physiologischen Anfang anknüpfen, indem man voraussetzt, daß die Zeit für das psychische Ende dieselbe sein muß als für den physiologischen Anfang; vielmehr ist dieser ein Verschwindendes, jenes ein Beharrendes, was eben den Unterschied macht, die relative Trennung, die doch durch ein verschiedenes Maaß bedingt sein muß. Hier ist aber kein anderes Maaß als die Zeit. Also, die Aufgabe liegt nicht darin, das Beharren des psychischen Resultats ungeachtet des Verschwundenseins des physiologischen Anfangs zu erklären, sondern das Verschwinden des Psychischen zu erklären an und für sich selbst und verglichen mit dem Beharren in der Seele. Daher müssen wir dann sagen: es giebt kein absolutes Verschwinden, sondern nur ein relatives, das bedingt wird durch den Grad des Zusammenhanges der Vergangenheit mit der Gegenwart. Es bedarf also auch keiner besondern Erklärung das Festhalten zu begreifen nach dem Verschwinden des Gegenstandes, | denn das Verschwinden des Gegenstandes und das Abziehen der Aufmerksamkeit davon ist dasselbe, und begreifen wir, daß bei vorhandenen Gegenständen keine Wahrnehmung zu Stande kommt aus Mangel an Interesse, so müssen wir auch betrachten, daß alles, was in der Seele je gewesen, auch nur gerade lebendig ist, wenn es mit dem gegenwärtigen Interesse zusammenhängt. Wollen wir dies dem physiologischen Anfang näher bringen, so müssen wir sagen: das Festhalten der Seele hängt zunächst an der innern Seite des Organs, und das Festhalten ist nichts anderes, als die innere Reproduction durch das innere Sehen und Hören, diese ist aber nichts, als das Fortwähren der Wahrnehmung in der Seele.

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Ein und zwanzigste Vorlesung. Inhalt. Fortsetzung des Vorigen. Wie entsteht die Wahrnehmung eines einzelnen Gegenstandes? Von der Differenz des Guten und Schlechten bei dem Gedächtniß.

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Das Festhalten der Eindrücke mit dem Auffassen ist eigentlich Eins und dasselbe, daher es ursprünglich mit der Thätigkeit der Seele gesetzt werden muß. Das Vergessen ist nie ein vollkommenes Verschwinden der Eindrücke aus der | Seele, denn in dem völligen Verschwinden müßte die Unmöglichkeit der Reproduktion liegen. Es giebt also nur Abstufungen des Behaltens von dem Maximum an, von der klaren Wahrnehmung ungeachtet der Abwesenheit des Gegenstandes, bis zum Minimum, wo der Inhalt der Wahrnehmung fast verschwindet. Wie geht denn der eine Zustand aus dem andern hervor? Hier können wir den Verwickelungen nicht entgehen, wenn wir nicht auf dem gegenüberstehenden Gebiet eine Analogie suchen. Man denke die Bewegungen die durch den Willen vom Körper ausgehen. Weiß jemand etwas davon wie er es macht, wenn er seinen Fuß in die Höhe heben will? Dessenungeachtet producirt er willkührlich diese Bewegung auf dieselbe Weise, nachdem er einmal ihrer Herr geworden. Wenn man nun durch jene Frage will, daß materielle Spuren sollen im Organ geblieben sein, so verschwindet ja hier in der Bewegung auch die Spur von der ersten Thätigkeit, und doch reproducirt sich die Thätigkeit, aber nicht | kann man sagen, daß eine materielle Spur davon zurückgeblieben sei. Daß wir nicht wissen, wie wir diese oder jene Wahrnehmung gerade reproduciren, ist eben so wie auf dem andern Gebieth, wo wir auch nicht wissen wie wir es machen ein Glied zu bewegen. Nimmt man an, daß von dem Eindruck gewisse Spuren in dem Organ zurückbleiben, und diese zur Reproduction nothwendig sein würden, so wäre eben so anzunehmen, daß von den Thätigkeiten der Seele ebenfalls eine Spur in den Organen zurückgeblieben sein müßte. Da wir nun aber das innere Hören und Sehen nicht ableugnen können ohne Bewegung der Organe, so ist nicht einzusehen, warum die Seelenthätigkeiten eine Spur in den Organen zurücklassen sollten. Die psychische Seite der Thätigkeiten, und die Bewegungen der Organe reproduciren sich also gegenseitig. – Nun bleibt noch der Unterschied zwischen dem Zustande, wo die Wahrnehmung wirklich im Bewußtsein ist, und dem wo sie nicht ist. – Diesen Unter|schied kann man ausdrücken, wie man will. Indem man eine Gradation annimmt von klaren und dunkeln Vorstellungen, hat man auch bewußtlose angenommen, worin eigentlich ein Widerspruch liegt, womit man aber doch gemeint hat, daß es Vorstellungen seien, die nie recht klar würden. Wir können aber diese contradictio in adjecto leicht vermeiden. Wir müssen sagen, daß mit der innern Bewegung der Organe die Wiederholbarkeit der Eindrücke durch den Willen gesetzt ist. Wenn ein Gegenstand aufgenommen ist, und andere dazwischen treten, so behält man doch noch lange ein Bewußtsein von dem Ein-

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druck des Gegenstandes, indem man bloß am Bilde [ ], also ist es noch vorhanden, nachdem diese Organe schon auf ganz andere Dinge gerichtet sind. Nun verliert sich dies Bewußtsein allmählig, und dann tritt der Zustand des Minimum ein; aber, sobald die Bedingungen eintreten, unter denen eine Vergangenheit wieder hervortritt, so erhöht sich das Minimum | des Bewußtseins bis zu dem Grade, der den Erfordernissen des Moments entspricht. Es ist also ein wirkliches Vorhandensein der Wahrnehmung immer da gewesen, nur war sie in Schatten gestellt. Das Verhältniß der Klarheit der verschiedenen Wahrnehmungen wechselt, je nachdem man in dem Zustande ist, wo diese oder jene angeregt wird. Die Kraft des Willens kann aber jede in Schatten gestellte Vorstellung mit größerer oder geringerer Mühe hervorrufen. – Wir haben die Frage aufgestellt, von welchem Punct man den Wechsel der Vorstellungen wodurch sie sich reproduciren, zurückführen müßte, von der Formel der Verknüpfung oder der Sonderung aus, wo wir aber mit beiden, jede einzeln genommen nicht auskommen. Wir sagten: Die Festhaltung und die ursprüngliche Auffassung ist dasselbe, und so werden wir auf diesem Punct zurückgewiesen zu der Frage: Wie entsteht das Auffassen eines einzelnen Gegenstandes? Ursprünglich ist es | immer auf eine der beiden entgegensetzten Arten, durch Sonderung oder durch Verknüpfung zu begreifen, und es fragt sich nur: ob eine von beiden hinreicht, oder ob, und wie wir beide zusammennehmen müssen? Wenn wir auf den physiologischen Anfang des Wahrnehmens sehen, so müssen wir immer davon ausgehen, das Organ wenn es geöffnet ist, wird mit einem Mal afficirt von allem, wovon es afficirt werden kann. Das Organ des Gesichts z. B. wenn es vollständig geöffnet ist, wird afficirt von einer sichtbaren halben Hohlkugel, wo aber alles nur auf einer Fläche gesehen wird. So wie das Organ gleichzeitig von dieser Totalität afficirt wird, so entsteht nicht gleichzeitig die psychische Wahrnehmung, die um vollkommen zu sein successiv sein muß, die Seele muß theilweise, das eine nach dem andern in sich aufnehmen. Wenn nun das ursprüngliche Auffassen bestimmter Wahrnehmungen und die Art des Behaltens dasselbe ist, so können wir auch kein verschiedenes Gesetz auffinden; das Gesetz und | die Art und Weise, wie die Seele aus diesem Unendlichen der organischen Affection Einzelnes heraushebt ist dieselbe, mit welcher sie nachher Vorstellungen hervorholt und zurücktreten läßt. Wie geschieht das aber? Wenn der Seele ursprünglich nichts gegeben ist als ein Chaotisches durch die organische Affection, und sie soll etwas herausheben, so kann, in wiefern das Psychische mit dem Organischen 1 Bilde] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl festhält

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Eins ist, die Seele nur gereizt werden durch die Differenzen im Organischen selbst. Die Kinder richten ihre Aufmerksamkeit immer auf den hellsten Punct, weil der das Organ am meisten afficirt. Hierin liegt aber noch nicht das Auffassen eines Gegenstandes. Gesetzt wir sagten: der helle Punct ist doch nie ein Punct, sondern die Auffassung geht auf die am meisten erleuchteten Gegenstände, so können wir doch nicht sagen: daß uns dies dadurch zum Gegenstande würde. Damit es das wird gehört außer der Operation der Sonderung noch ein anderes. Eben so wenig kommen wir zu einer Vorstellung | von der Combination aus, von dem Aneinanderfügen des unendlich Kleinen aus. Die Seele greift heraus, was das Organ am meisten afficirt. Aber von der Combination aus fängt die Seele von einem unendlich Kleinen an, von einem einzelnen Punct, und geht von da aus weiter. Das kann man annehmen rein vom Psychischen ausgegangen. Aber wenn die Seele von einem einzelnen Punct ausgeht, und einen andern daran knüpft, kann das zu einer Wahrnehmung des Gegenstandes werden? Eben so wenig, denn es ist kein Grund der bestimmten Begrenzung und der Absonderung durch Begrenzung gegeben. Das Auffassen setzt vielmehr voraus, daß das Verhältniß des einen Theils zur Masse sich ändert, und in der Änderung als ein Selbstständiges erscheint. Daher offenbar, wenn wir auf den Prozeß achten, wie er in den Kindern ist, so ist die zweite Aufmerksamkeit auf das Bewegliche gerichtet, und wenn das, was das Organ am meisten afficirt, zugleich beweglich ist, dann erst ist das Auffassen da. Sonderung und Combination, der Weg vom unendlich Gegebenen zum | Bestimmten, und der Weg vom unendlich Kleinen zur Masse müssen immer zusammenkommen. Eine wirkliche Sonderung aber und eine Wahrnehmung, die in das Denken übergehen kann, entsteht nicht durch die gleichartigen Vorstellungen, sondern durch das Wahrgenommene mehrerer Sinne. Doch davon später. – Als vom Festhalten der Eindrücke allein noch die Rede war, mußten wir schon sagen, daß die ganze Vergangenheit in dem Maaße vor uns ist, als der Zusammenhang der Gegenwart und der Vergangenheit da ist, als Interesse der erstern an der letztern ist. Wir mögen nun die ursprüngliche Thätigkeit der Seele beim Auffassen uns vorstellen, wie wir wollen, so läßt sich dasselbe anwenden auf das primitive Auffassen, es ist das Interesse, das da sondert, das aber durch das Organ gegeben ist. Aber indem das Bestreben gerichtet ist auf das Wahrnehmenwollen so ist es auch gerichtet auf das Bestimmenwollen, was das Ineinander ist des Sonderns und Combinirens, denn ohne beides ist keine Wahrnehmung. Hiezu kann | die Seele auch nur durch den Zustand des Organs geleitet werden, wiefern die Leitung der Bestimmung darin ist; die kann aber nur von einer Veränderung in der organischen Affection,

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und also auch von einer Veränderung in den afficirenden Gegenständen ausgehen. Es ist also hier ganz anschaulich, daß die ursprüngliche Gelangung zur Wahrnehmung und das Festhalten des dadurch Gesetzten auf dieselbe Weise geschieht. Auf diese Weise ist aber ein gutes und ein schlechtes Gedächtniß keine besondere Eigenschaft, die Differenz wäre bloß im Wahnehmenwollen. Dem scheint die Erfahrung geradezu zu widersprechen, wir finden bei den recht wahrnehmungsbegierigen Seelen einen Mangel des Festhaltens und umgekehrt. Man hat also gemeint: Gedächtniß und Verstand wären im umgekehrten Verhältniß. Das wäre aber auch sehr gegen die Erfahrung, wir müssen also auch jene Abweichung zu erklären suchen. – |

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Zwei und zwanzigste Vorlesung. [Inhalt.] Fortsetzung über das Gedächtniß. Von der Combination ungleichartiger Eindrücke und deren Beziehung auf Einen Gegenstand. Von dem Bezeichnungsvermögen.

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Zu bemerken ist, daß wir hier nur reden können von dem Gedächtniß für die Sinneseindrücke. Nun ist gesagt: das ursprüngliche Wahrnehmen sei durch ein Interesse bestimmt, und dadurch werde der verschiedene Grad des Festhaltens und des Wiederhervortretens auch bestimmt. Dieses Festhalten aber hatten wir geknüpft an die innere Seite des Sinnes, die zwar von der äußern abhängt, die sich aber nachher doch selbstständig in Verbindung mit der psychischen Seite das Bild wiederholen muß. In der Abhängigkeit des innern Sehens und Hörens vom äußern liegt, daß je vollständiger dieses gewesen ist, desto länger sich jenes erhalten kann, daß also das Gedächtniß abhängig ist von der Beschaffenheit des Sinnes selbst. Einer dessen Gesicht schwach ist, der wird nicht leicht die Gesichtseindrücke lebendig und unfehlbar erhalten, sondern er wird oft verwechseln. Das Maaß des Festhaltens ist also bedingt: 1) durch die Tüchtigkeit des Sinnes selbst; 2) dadurch, wie die Gegenstände, die aufgenommen sind, in das Interesse des | Wahrnehmenden fallen. – Wir bemerken im Gedächtniß zweierlei Scalen. Die erste haftet am Sinn. Der eine hat ein ausgezeichnetes Gedächtniß für das Gesehene; der andere für das Gehörte. Die zweite Scala haftet am Interesse, die um so schwerer aufzulösen ist, da sie am Character haftet, und nur aus der Totalität des Menschen heraus zu verstehen ist. Weil dies schwer ist, so hat man es mehr von der negativen Seite zu fassen gesucht, und da bieten sich dann solche Erscheinungen dar, daß viele großes Gedächtniß, wenig Urtheil haben. Darin liegt, daß das Interesse für das äußerlich Gegebene, das Inter-

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esse an der Combination überwiegt, welches aber das Interesse am Wahrgenommenen nicht ausschließt; und daher kann man dagegen stellen, daß Menschen von großer Virtuosität in dem Gebiet einer Combination auch großes Gedächtniß haben in Beziehung auf das, was in das Gebiet ihrer Combination fällt; z. B. Heerführer und Fürsten haben gewöhnlich | ein ungeheures Gedächtniß für Personen. Das hat seinen Grund in dem bestimmten Verhältniß; sonst braucht ihr Gedächtniß gar nicht ausgezeichnet zu sein. Dies war alles nur in Beziehung auf die gleichartigen Eindrücke, wie wir durch sie die Gegegstände fixiren und festhalten. Zum wirklichen Fixiren eines Gegenstandes gehörten ursprünglich schon zwei Reize: 1) der den Punct findet, der ausgesondert wird; 2) der, welcher diesen Punct in seinem Verhältniß zu dem Übrigen zeigt. Allein dasjenige Wahrnehmen, welches Substrat des Denkens ist, ist hier noch nicht beendet, und kann es erst werden durch die Combination mehrerer Eindrücke auf einen Gegenstand. Dies ist unser jetziges Pensum. Die Sinne haben nicht alle ein gleiches Feld, und die ursprüngliche Combination der Sinneseindrücke, wodurch sich unsere Wahrnehmung vervollständigt, ist die Combination des Sinnes, der das weiteste Feld hat, und des Sinnes, | der das engste hat, des Gesichtes und des Tastsinnes. Das Gesicht kann einen Gegenstand heraussuchen, aber die Wahrnehmung eines Körpers bilden kann ursprünglich nur der Tastsinn, und erst wenn wir uns an das Combiniren gewöhnt haben, können wir gleich mit dem Gesicht den Tastsinn ergänzen. Dieser ursprünglichen Combination folgt dann die Combination des Gesichtes und des Gehörs, welche größtentheils auf das Lebendige gerichtet ist, und die Wahrnehmung des Lebendigen giebt, was allein tönt, denn die Natur rauscht nur. Hierin liegt schon der erste Anfang von dem was wir Beobachten nennen, wenn ein Gegenstand durch den einen Sinn fixirt ist, als dann die andern Sinne absichtlich auf ihn gerichtet werden. Jemehr das Feld der Sinne verschieden ist, desto mehr bedürfen wir dazu der Bewegung. So kann man dann, wenn ein Gegenstand durch das Gesicht fixirt ist, ihn einem andern Sinne nahe bringen. Wieviel Zufälliges ursprünglich liegt in der Art, wie wir | das Verhältniß zwischen Prädicat und Subject aufnehmen, ist klar, denn was wir zuerst auffassen, das wird uns auch das Festhalten des Gegenstandes, und alles andere, was wir nachher allmählig wahrnehmen, das setzen wir als zufällig, weil es erst zu dem ursprünglich Wahrgenommenen hinzukommt. Nun ist aber unser Fixiren der Gegenstände rein das Resultat des Zustandes, worin sie sich befunden haben und wir uns befunden ha39 hinzukommt] hinzukommen

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ben, aber keineswegs gerade mit sich bringend die Auffassung des Wesentlichen. Aber erst wenn sich neben der sinnlichen Seite der Wahrnehmung die speculative gebildet hat, und wenn beide in einander aufgegangen sind, dann kann die vorläufige Auffassung des Wesentlichen berichtigt werden. Ehe das Speculative und das Empirische völlig in einander aufgehen, ist immer noch viel Zufälliges in dem Verhältniß zwischen Subject und Prädicat. Die Geschichte unserer Naturwissenschaft ist der Beweis, daß das Erkennen diesen Gang des Übergehens vom Zufälligen | und Empirischen in das Speculative immer gewandelt ist. Sobald diese Thätigkeiten sich in einem gewissen Maße wiederholt haben, aus dem Chaotischen die Gegenstände zu fixiren, und die Wahrnehmungen der verschiedenen Sinne zu combiniren, so muß das Bewußtsein sich mit einer Unendlichkeit von Vorstellungen und Wahrnehmungen füllen, die mit seiner Endlichkeit nicht stimmen. Es entsteht das Bedürfniß, die Unendlichkeit in die Endlichkeit zu verwandeln, und das ist das Bezeichnungsvermögen. Das Bezeichnen der Gegenstände ist freilich ein Festhaltenwollen, aber auch ein Vergessenwollen. Nämlich die unmittelbare ursprüngliche sinnliche Wahrnehmung ist das schlechthin Besondere, aber auch das absolut Momentane, in der Art, wie etwas ursprünglich unsere Sinne afficirt, ist die Einwirkung allein gesetzt, also schlechthin das Momentane, alles Beharrliche ist dabei problematisch gelassen. In der Combination mehrerer Sinneseindrücke ist das absolut Besondere des Moments schon aufgehoben, | aber das absolut Eine des Gegenstandes ist noch da. Der Gegenstand wird als ein Beharrliches gesetzt, das absolut Momentane aufgehoben, welches letztere hernach durch das Urtheil wieder hervorgebracht werden kann, aber in der Wahrnehmung aufgehoben ist. In der Bezeichnung ist schon ein Schwanken zwischen dem Besondern und Allgemeinen. Das Wort ist ursprünglich Name, aber nicht Name des einzelnen Dinges allein, sondern es entsteht erst, nachdem schon die Ähnlichkeit geworden ist. Das eigentliche Fixiren eines Gegenstandes ist erst vollendet, sofern er uns in veränderlichem Verhältniß gegen die Totalität des Wahrnehmbaren gesetzt ist, d. h. wenn er in örtlicher Bewegung ist. Der Gegenstand bleibt fixirt, wenn wir, indem er sich bewegt, die Identität desjenigen in ihm setzen, was ursprünglich unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen, dann aber auch indem wir, was sich in ihm ändert, wahrnehmen durch Combination der andern Sinne, und auf die Identität beziehen. Wo nicht die Beziehung ist | auf die Identität desselben Gegenstandes, da ist die Ähnlichkeit, die gleich nach der Bezeichnung, nach dem Wort strebt. 12 zu] zur

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Das Wort ist also der Name des Subjects, auf der einen Seite bestimmt durch gewisse Prädicate, auf der andern Seite aber auch noch für unendliche Prädicate offen, dann ist es auch das Vergessenwollen, denn das Wort giebt immer nur das allgemeine Bild des Gegenstandes, und es hängt davon ab, was wir als das Wesentliche in die Dinge setzen, denn das ist die ursprüngliche Bezeichnung, wo das Beharrliche am Gegenstande benannt ist. Das Rectificationsmittel liegt aber darin, daß indem sich dieselben Erscheinungen an differenten Gegenständen wiederholen, auch diese zu bezeichnen. In dem Wort und dem allgemeinen Bilde, wollen wir uns einer unendlichen Menge von Eindrücken entladen, die wir nun nicht mehr festzuhalten brauchen, weil das Allgemeine im Wort gegeben ist. Hier entsteht uns nun eine andere Untersuchung: | was das Wesen der Sprache sei, und wie die Seele dazu kommt? Damit zurückzugehen auf den ersten Menschen wird nichts helfen; denn wir können nur durch Beobachtungen etwas finden, indem wir die Sprache nehmen, wie wir sie finden. Wir fragen also nicht: wie ist die Sprache entstanden? sondern: wie ist sie im Menschen? und wie verhält sie als ausströmende Thätigkeit sich zu den aufnehmenden Thätigkeiten? Das rein Physiologische ist hier wieder ausgeschlossen.

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Drei und zwanzigste Vorlesung. Inhalt. Was ist das Wesen der Sprache und wie kommt die Seele dazu?

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Wir gehen hiebei von der Analogie mit dem Thierischen aus. Das Tönen ist eine Eigenschaft des Lebendigen von einem gewissen Entwickelungspuncte an. Bei den höhern Thieren ist schon ein mehr oder weniger ausgebreitetes System von Tönen. Wo nur Ein Ton beständig wiederholt wird, da schließen wir auf eine niedere Stufe. Gehen wir nun zu dem Menschlichen über, so fallen uns folgende Unterschiede ein: 1) den ersten nimmt man zwar in gewissen Verhältnissen wahr, er geht aber nicht allgemein | durch, nämlich daß der Mensch sich durch die Sprache immer mittheilt, das Thier nicht. Selbst wenn der Mensch mit sich selbst spricht und innerlich hört, so giebt es doch eine Mittheilung des gegenwärtigen Zustandes in die Zukunft. Durchgehend ist aber dieser Gegensatz nicht, weil wir den Thieren eine gewisse Verständigung untereinander durch die Stimme nicht absprechen können. Wir können dies also ansehen als eine Fortschreitung von einem unendlich kleinen Puncte an, aber eine specifische Differenz ist nicht da. Die werden wir aber gleich finden in der Articulation, in dem Gegensatz von Selbstlautern und Mitlautern. Dies ist

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freilich ein Gegensatz, den wir im Elementarischen aufzeigen können, denn im Thier findet sich dies nicht, und die Nachahmung von Selbstlauter und Mitlauter von Thieren ist immer nur Schein. Dadurch ist bedingt der unendliche Umfang der menschlichen Sprache gegen die thierischen Töne gehalten. Da aber die Töne der Thiere doch auch abwechseln, so scheint hier wieder keine specifische Differenz zu sein. | Wir müssen also wol mehr auf das Innere gehen. Wenn wir das Ganze der menschlichen Töne mit dem thierischen vergleichen, so finden wir im Menschen den größern Gegensatz zwischen Sprache und Gesang, wie er unabhängig von der Sprache producirt wird. Wann singt der Mensch, und wann spricht er? Er singt wenn er fühlt; er spricht wenn er wahrnimmt. An das Singen knüpfen sich noch: Seufzen, Lachen u.s.w. der specifische Unterschied der menschlichen Sprache zu den thierischen Tönen verhält sich also wie das Auseinandersein des Gefühls und der Wahrnehmung im Menschen zu dem Ineinandersein beider in den Thieren. – So wenig der Gesang der Vögel ein Gesang ist, so wenig ist auch das Tönen der Thiere eine Sprache; nur kann sich das eine mehr dem Singen, das andere mehr dem Sprechen nähern. Also das noch nicht Auseinandergetretensein von Gefühl und Wahrnehmung ist verschieden in verschiedenen Thieren, aber es tritt nie ganz auseinander. Die Sprache bezieht sich ursprünglich auf die Wahrnehmung. Das finden wir auf der einen Seite, | wenn wir es rein elementarisch betrachten, und auf der andern Seite, wenn wir die Geschichte des einzelnen Menschen betrachten. [ ] Nennwort und Zeitwort knüpfen sich doch an einen Gegenstand. Das Nennwort bezeichnet den aufgefaßten Gegenstand, das Zeitwort grenzt die Unendlichkeit der Wahrnehmung ab. Beschreiben wir unsern Zustand durch Sprache, so muß der Zustand erst Wahrnehmung geworden sein. Sehen wir auf die Geschichte des einzelnen Menschen, so ist da dasselbe. Das Kind lacht und weint. Das gehört nicht zur Sprache, sondern liegt mehr auf dem Gebiet des Singens; es thut dies in Beziehung auf seine wechselnden Zustände, ehe es selbst vollständig wahrnehmen kann. 24 betrachten.] es folgt ein Spatium von ca. 3 cm Länge 24–27 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 176: „Die Hauptelemente der Sprache sind Zeitwort und Nennwort. Das Nennwort sahen wir gehörte dem System der Bezeichnung in sofern an, als es Bestimmtes aus dem Chaotischen aussondert. Das Zeitwort sagt die wechselnden Zustände aus und hat die Bestimmung der Verwirrung vorzubeugen und Grenzen zu bestimmen und die Momente der Wahrnehmung auseinanderzuhalten. Beides steht also in ausschließlicher Beziehung auf die Wahrnehmung, und wenn wir unsere Gefühle auch durch die Sprache darstellen, so sind sie doch immer erst Wahrnehmung geworden und das unmittelbare der Aeußerung fürs Gefühl wäre eigentlich Gesang.“

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Daß das Kind wirklich nicht singt, wird man nicht einwenden, denn das wirkliche Singen kann erst nach Bildung der Stimme geschehen. Sobald aber die Wahrnehmung ihren Anfang nimmt, fängt das Kind an zu sprechen, und zwar wenn es bloß im Spiel mit den Gegenständen ist. Es ist gesagt: Wenn der Mensch durch Wahrnehmung überladen sei, so werde er | durch ein bewegendes, überströmendes Gefühl getrieben, die unordentlich zusammen geworfenen Wahrnehmungen in ein Wort zu bringen. Also nur ihrem Inhalte nach bezieht sich die Sprache rein auf die Wahrnehmung, aber in diesem Gefühl von der Fülle der Sinneseindrücke muß sich wol die Nothwendigkeit der Bezeichnung des Allgemeinen finden, aber es ist nicht indicirt, daß dies unter der Form der Sprache geschehen müßte. Hier ist nun allerdings das Geheimnißvolle, das nicht enträthselt werden kann und auf der psychologischen Seite liegt. Es ist ein tiefer Zusammenhang des Innern mit dem Organ. Auch das Gefühl hat ursprünglich zwei Äußerungen: Geberde und Ton. Oft finden wir beide verbunden oft jede einzeln. So finden wir schon in den menschlichen Zuständen ein doppeltes Bezeichnungssystem durch Geberde und durch den Ton, und zwar die Seite des Tons, welche Sprache wird. Daß erstere Art völlig untergeordnet wird, die zweite allein dominirt, können wir daraus finden, daß das Sprachorgan gar keine andere Bestimmung hat, als diese, die | Organe aber welche die Bewegung machen noch zu etwas anderem sind. Wollen wir noch etwas aufzeigen gegen die Beschränkung der Sprache auf die Wahrnehmung, so werden wir den Gegensatz zwischen Prosa und Poesie anführen können. Aller Poesie liegt zum Grunde: Gefühle mitzutheilen, und durch die Mittheilung wieder zu erregen; aller Prosa liegt zum Grunde: Wahrnehmungen und das Denken darüber mitzutheilen und dadurch in andern zu erregen. Das ist der innere Gegensatz. Der äußere ist, daß in der Poesie das Tonmaaß und Zeitmaaß bestimmt wird; in der Prosa beides unbestimmt wird. Daraus geht hervor, daß wir diesen Gegensatz anknüpfen müssen an das vorher Gesagte, daß wir unsere Gefühle auch durch die Sprache bezeichnen, aber nur nachdem sie Gedanken geworden. Die verschiedenen Sprachen unterscheiden sich auch dadurch, daß in einigen der Gegensatz zwischen Prosa und Poesie mehr heraustritt; und wir werden immer sagen müssen, daß das Nichtheraustreten des Unterschieds in einem Mangel des Erkennens liegt, | in einem Nichtauseinandergetretensein des Gefühls und der Wahrnehmung. Aus all diesem stellen 21–23 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 177–178: „das System der anderen Organe für die Gebährde und Bewegungen aber noch andere, so daß also die Versuche sie statt Sprache zu gebrauchen immer untergehen, dann finden wir auch den Schlüssel darin, das Gefühl, was den Menschen drängt, sich zu äußern, ist in stärkerer Analogie | mit den Tönen überhaupt als mit der Bewegung.“

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wir unsere Behauptung fest und sagen: so wie es eine ursprüngliche Anlage in dem entwickelten Lebendigen nach Maaßgabe seiner Entwickelung ist, daß sie die verschiedenen Zustände durch den Ton äußern, so ist es eine ursprüngliche Analogie des Menschen, daß wenn Wahrnehmung und Gefühl auseinandertritt, das Wahrnehmen in die Sprache übergeht, so daß mit dem Wahrnehmen das Denken entsteht. Was wir als die Verknüpfungspuncte ansehen müssen zwischen dem, was Ursach ist, d. i. die Fülle der Wahrnehmung, und dem was Wirkung ist, d. i. die Sprache, das ist der innere Zusammenhang derjenigen Organe, wodurch die Wahrnehmung bedingt ist, und der uns in dieser von Entwickelung eigenthümlichen Art von Sprachorganen, so daß das Wort eben so aus demjenigen allgemeinen Bilde, das die Production der innern Seite des Organs ist, hervorgeht, wie der Ton der auf der Seite des Gesanges | liegt, aus dem Gefühl hervorgeht. Das liegt aber im Physiologischen. Man hat gesagt, die Sprache sei entstanden aus dem Ton, sofern er Äußerung des Gefühls ist, aber das ist sehr unvollkommen und einseitig, und auf diesem Wege kann die psychologische Forschung ihr Ziel nicht erreichen. Vielmehr scheint es nothwendig, beide Gegensätze auseinander zu halten.

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Vier und zwanzigste Vorlesung.

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Inhalt: Fortsetzung von der Entstehung der Sprache. Von der Fortpflanzung der Sprache. Verhältniß des Sprechens zum Denken.

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Welches Gebiet in der Sprache hängt am nächsten mit der Stimme des Gefühls zusammen? Die Interjectionen, welche objectiv nichts von der Wahrnehmung an sich tragen, sondern sie sind der Ausdruck des Gefühls dessen der sie braucht. Sie sind aber auch so isolirt von allem Übrigen in der Sprache, daß einem gleich aller Versuch zur Construction unmöglich wird. Man hat einen andern Weg eingeschlagen sich die Sprache zu erklären, nämlich als Nachahmung der Töne die die Dinge selbst von sich geben. Darauf wird Einiges allerdings sich zurückführen lassen; aber wenn man daran alles Übrige reihen will, und daher ableiten, so ist das ein leerer Versuch. | Es kommt einem gleich entgegen, daß es in allen Sprachen dergleichen giebt, aber von denselben Gegenständen in verschiedenen Sprachen ganz verschieden. So viel ist deutlich, wenn derselbe Laut auf verschiedene Weise nachgebildet wird, so ist entweder der Laut selbst auf verschiedene Weise gehört, oder die Nachbildung wird verschieden gehört, oder in dem einen ist genau Nachahmung, in dem andern konnte sie nicht sein, 11 dieser] dieser Art

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wegen Verschiedenheit des Organs. Die beiden ersten führen uns auf den Zusammenhang des Gesichts und Gehörs, wir finden daß dieser weit größer ist, als der Zusammenhang der Naturtöne mit der Nachbildung. Das dritte führt darauf, daß es überhaupt eine nationale Differenz in der Ausbildung der Sprachorgane giebt, weshalb es in der einen Sprache Töne giebt, die in der andern ganz fehlen, oder in der einen ein Ton leicht wird, welcher der andern sehr schwer fällt. Wenn man eine durchgreifende Untersuchung machen wollte, müßte man vom Differenten ausgehen, und der | specifischen Differenzen der Sprachen Herr zu werden suchen, dann könnte man auf die Wurzelwörter mehrerer Sprachen kommen, und der ursprünglichen Bedeutsamkeit der Töne auf die Spur zu kommen, wobei nicht zu übersehen ist das umgekehrte Verhältniß der Selbstlauter und Mitlauter in den verschiedenen Sprachen. Dies liegt aber ganz an den Grenzen unserer Untersuchung. Näher liegt die Frage: wie pflanzt sich die Sprache fort? Hier kann Schleiermacher die gewöhnliche Erklärung auch nur einseitig finden. Die Sprache ist nicht in dem ausgedehnten Sinne als man es glaubt ein Werk der Nachahmung und eben so ist die Fortpflanzung der Sprache nicht zu erklären als bloße Nachahmung. Man hat dies überhaupt übertrieben, und im Ganzen mögen wir wol sagen, daß das Nachahmen nicht ein so großer Characterzug der Menschen ist, als man glaubt. Wir finden in den Kindern Versuche zu sprechen ganz unabhängig von dem, was die Kinder hören. Oft sind sie bloß Übung der Organe, die aber | gar nicht auf der Nachahmung beruht, in dem gar nicht die Absicht ist das Gehörte zu wiederholen, denn das Kind lebt noch zu sehr im Gegenwärtigen, als daß es schon das etwas ausgebildet haben sollte, was man Gedächtniß nennt; es ist schon schwer auf dieser Stufe sie zum Nachsprechen zu bringen. Wenn sie in einem durch Sinneseindrücke erregten Zustande sind, so wollen sie überhaupt auch bezeichnen. Aber diese ersten Bezeichnungsversuche sind eben so unabhängig von dem Gehörten, sondern es ist beides zusammen der Versuch sich die Sprache als Vermögen anzubilden, das Bezeichnenwollen ist reines Product des Bedürfnisses. So würde sich die Sprache doch von selbst bilden, wenn man auch dem Kinde durch die Sprache nicht zu Hülfe käme. Wenn man dagegen mit Geschichten kommt von Kindern aus der Wildniß, so muß man nie einen unnatürlichen Zustand gegen einen natürlichen halten. Wenn im unnatürlichen Zustand etwas nicht ist, was im natürlichen ist, so folgt nicht, daß es nur ist durch Nachahmung. Es ist aber ein Character einer Periode | des Philosophirens gewesen, daß man überall dem Natürlichen das Unnatürliche entgegengestellt hat, indem man das Unnatürliche für das Natürliche, das Natürliche für das Erkünstelte hielt. Daß die Kinder nicht jedes für sich eine eigene Sprache

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haben und bekommen, das ist freilich durch das Nachahmen bedingt, sie machen aber erst nach, nachdem man ihnen eine Zeitlang nachgemacht hat, denn zuerst erfinden die Kinder Einiges, die Aeltern machen es ihnen mit ausgebildeten Organen nach, und so lernen die Kinder es besser. Wie beide Factoren sich aber verhalten, das ist nicht zu sagen. Nur das steht fest: eine jede Sprache besteht im Zusammensein der Tradition und der ursprünglich auf die Sprache gerichteten Thätigkeit. In der erstern besteht die Identität der Sprache, in der letzteren das Leben der Sprache. In jeder lebendigen Sprache ist daher eine unendlich fortgehende Verzweigung, verschiedene Dialecte, Idiotismen, so daß man jeden Menschen an dem lebendigen Bewegen | der Sprache unterscheidet; die persönliche Eigenthümlichkeit bildet sich lebendig in die Sprache hinein. Ohne das würde jede Sprache so nachgesprochen werden wie die Töne der todten Sprache. Eine andere am meisten im Mittelpunct unserer Untersuchung liegende Frage ist die: über das Verhältniß des Sprechens zum Denken. Es sammelt sich allmählig eine Fülle von Wahrnehmungen, und die muß am Ende eine Reaction hervorbringen, welche die Sprache ist. Derjenigen Thätigkeit, die wir das Denken nennen, liegt nun die Sprache zum Grunde, worin dieses liegt, daß sich das Denken erst an der Sprache entwickelt. Aber auf der andern Seite liegt es uns eben so nah das ganze Verhältniß umzukehren, und zu sagen: Die Sprache entwickelt sich am Denken. In dem Maaße als der Mensch denkt, fühlt er erst das Bedürfniß zu sprechen, und das Denken hat die Sprache erst ausgebildet. Giebt es nun hier eine Priorität? Wir müssen hier ganz genau gehen, und wenn wir die Frage scharf fassen wollen, so müssen wir einmal die Sprache aus | dem Spiele lassen, und fragen: worin unterschieden wir Wahrnehmen und Denken? Man fängt an von dem Chaotischen, was den Sinnen gegeben wird. Daraus sondern sich einzelne Puncte, und sie werden fest gefaßt. Andere Eindrücke werden auf den Punct bezogen. Haben wir das Denken oder Wahrnehmen genannt? Das Wahrnehmen haftet am Bilde, und ist das Sein des Bildes in uns, und alle Verknüpfung und alle Succession die darin ist, ist nichts als die Succession der Bilder, sofern sie als eine partielle und aneinanderknüpfende gedacht wird, und soll das Wahrnehmen ohne Denken sein, so ist es das Aufgehen der Seele in die Succession von Bildern, Tönen und Betastungen. Liegen darin Begriffe und Urtheile? Dem Wesen nach wol, aber nicht der Form nach; denn wenn die Bilder mit ihrer Ähnlichkeit und Differenz gesetzt werden, so sind die Begriffe gesetzt, aber wir nennen sie nicht so, weil eben die Form fehlt. Was ist die Form? Die Form ist eben das Losreißen vom Bilde; 37 Tönen] darüber (?)

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die Form des Denkens ist so, daß im Denken die Dinge nicht durch den ursprünglichen Sinneseindruck in uns sind. | Außer den ursprünglichen Sinneseindrücken giebt es nun andere, die Wiederholbarkeit des Eindrucks von der innern Seite des Organs aus. Diese ist aber auch nicht das Denken für sich allein, sondern erst das Übergehen von dem einen zum andern. Alles Zusammensein daher in unserm Innern von Bildern und Tönen, die von außen angeregt werden und die wir mit ihnen aus früherer Zeit in Verbindung setzen, ist noch kein Denken, denn der Form nach hat es noch die niedere Stufe. Soll aus einer Form die andere hervorgehen, so muß die eine verschwinden. Das Denken ist also negativ das Losreißen des Seins der Dinge in uns von den Bildern. Ist es das allein, so kommen wir auf Null. Wir müssen also eine andre organische Form substituiren, und so ist es statt der Bewegung der Sinnesorgane die Bewegung der Sprachorgane, wodurch die Dinge in uns sind, und es ist unmöglich Denken und Sprechen zu trennen. In welchem Sinn kann man sagen: Das Denken ist vor dem Sprechen, und in welchem Sinne | das Umgekehrte? Das erste scheint uns ganz natürlich, aber nur deßhalb, weil wir das innere Sprechen für Nichts rechnen. Aber kein Mensch kann einen Gedanken produciren ohne das innere Sprechen. Meinen wir also, das Denken sei vor dem Sprechen, so können wir nur das negative Denken meinen, das Losreißen von den Bildern, was aber noch kein Denken ist, denn losgerissen haben wir uns erst von den Sinneseindrücken, wenn wir das Wort haben. Wir müssen also das Denkenwollen als das Ursprüngliche in der Seele ansehen, woraus von der psychischen Seite das Sprechenwollen hervorgeht. In der Ausführung wird aber beides erst, und dann als ganz dasselbe. In welcher Rücksicht ist das Sprechen vor dem Denken? Sehen wir ganz ab vom ursprünglichen Werden der Sprache, so kommen wir im geselligen Leben in den Besitz von Sprachelementen, ehe wir die Gedanken gefunden haben, aber dann hat auch in uns der Ton noch nicht die Dignität des Wortes, welches mit dem Gedanken Eins ist, sondern es ist ein Sprachelement, das wir uns erst aneignen wollen. Sehen wir | aber auf das ursprüngliche Entstehen, indem wir von der organischen Seite ausgehen, so müssen wir allerdings sagen: auf der organischen Seite ist das Sprechenwollen vor dem Denkenwollen, und ist schon articulirter Ton ohne bestimmte Beziehung auf das Denken. Das Denkenwollen, welches das erste ist auf der psychischen Seite, braucht das Sprechenwollen, welches das erste ist auf der physischen Seite als Mittel der Darstellung. Beides ist also wirklich erst in seinem Zusammentreffen, also ist es wirklich identisch und gleichzeitig. – 5 von] von von

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Fünf und zwanzigste Vorlesung. Inhalt. Ueber den Inhalt der Sprache der zugleich Inhalt des Denkens ist.

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Ist also Denken und Sprechen genau genommen dasselbe, und müssen wir alles Denken an das Wahrnehmen und die Combinationen der ursprünglichen Sinneseindrücke anschließen, wie kommen wir nun zum Inhalt der Sprache, der zugleich Inhalt des Denkens ist? So wie wir im Wahrnehmen selbst dem Wesen nach, aber nicht der Form nach die Sonderung der Gegenstände, d. h. das Setzen des Subjects für das Denken, und eben das Beziehen auf die Gegenstände | d. h. das Setzen der Prädicate gefunden haben, so haben wir auch keinen Grund, das Denken über das Wahrnehmen hinaus auszudehnen. Die Sprache spricht also die Summe aller Beobachtungen über die Gegenstände aus, und indem sie sich mittheilt, gewinnt jeder über seine eigene Erfahrung hinaus die Erfahrung der andern und auf diese Weise müßte in der Sprache enthalten sein die ganze Masse von Gegenständen, welche diejenigen wahrgenommen haben, die sie mittheilen, und die Summe aller Beobachtungen über die Gegenstände. Aber geht denn die Sprache nicht weit darüber hinaus? Der Begriff der Causalität ist so vielfach in der Sprache bezeichnet, und das geht über jenes hinaus, was bloß den Schatz von Hauptwörtern und Zeitwörtern gab und von Adjectiven, die nichts sind, als in den Begriff des Subjects aufgelöste Urtheile. Woher kommen aber die Partikeln? Einige haben ganz und gar den Character der Adjective, ausdrückend das Verhältniß zweier Gegenstände, wiefern sie auf einander bezogen werden. | Aber alles, was einen innern Zusammenhang ausdrückt, kann nicht angesehen werden, als abgeleitet aus der Wahrnehmung. Auf jene Art gewinnen wir wol einen Schatz von Begriffen und Unterordnungen derselben, aber es giebt doch auch eine Nebenordnung, für die es wieder keinen Anknüpfungspunct giebt von der Wahrnehmung aus. Das Gegebensein des Zusammenhanges des Gedachten, und das Aufgesuchtwerden der Totaliät des Gedachten im Denken (denn durch die Wahrnehmung erhält man bloß allgemeine und besondere Begriffe, die erst zur Totalität werden, wenn etwas anderes hinzukommt, was in der Wahrnehmung nicht gesetzt ist) ist also dasjenige was aus der Wahrnehmung nicht hervorgeht. Bleibt man bei dem einen stehen, beim Begriff des Dinges, so ist dies an das bleichste Bild geknüpft, das Fürsichgesetztsein eines Einzelnen. Wenn von der Wahrnehmung nur auf irgend einem Gebiet das Verhältniß des Einzelnen, und die Art gegeben ist, so kann man durch | diesen Prozeß hinaufsteigen, bis zum Begriff des Dinges. Weil aber alles darunter befaßt ist, könnte

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man meinen, man könne so durch die Wahrnehmung zum Begriff der Totaliät, zur Welt kommen. Aber beim Begriff des Dinges ist keine Verbindung mit den nächsten Stufen, und der Ausdruck Ding, der allerabstracteste, worin das Minimum der Wahrnehmung ist, kann keine Totalität sein. Der Ausdruck Welt ist aber allerdings eine Totalität. Ein jeder Gegenstand, der uns gegeben sein kann, ist auch eine Welt im Kleinen, eine Totalität, Mannigfaltigkeit und Nothwendigkeit des Zusammenhanges in seinem Fürsichgesetztsein. Aber kommen wir dazu durch die Wahrnehmungen? Wenn wir auch alle Veränderungen auf den Gegenstand beziehen, und annehmen, wir könnten alles angeben, was vom Gegenstand gesagt werden könnte, so hätten wir zwar die Mannigfaltigkeit, aber nicht die Nothwendigkeit, denn diese beruht auf dem Begriff der Causalität, der durch die Wahrnehmung nicht kommt. | Gehen wir noch weiter und sagen: wir finden die Sprache und das Denken selbst über den Begriff der Welt hinausgehen in dem Begriff der Gottheit, so ist noch deutlicher, daß die Wahrnehmung nichts dabei thun kann. Was haben wir nun zu thun, das Denken in Beziehung auf diesen Inhalt zu erklären? Was bis jetzt gesagt ist, ist nicht ein allgemein Anerkanntes. Einige wollen diesen speculativen Inhalt des Denkens aus der Wahrnehmung ableiten, andere geben dies auf, und sehen ihn an, als vor aller Wahrnehmung in der Seele selbst gegeben. Wenn wir uns die Sache so stellen wollen, wie erscheinen uns dann die beiden Ansichten? Wenn die erste wahr ist dann ist die andere Methode ein voreiliges Aufgeben der Untersuchung. Wenn es nicht möglich ist, den Inhalt des Denkens aus der Wahrnehmung abzuleiten, so ist das Beharren bei diesem Versuch offenbar eine Gefahr in die Skepsis hineinzugerathen, denn wenn man aus der Wahrnehmung ableiten will, | was man nicht daraus ableiten kann, so wird man auch mißtrauisch gegen dasjenige, was daraus abgeleitet ist, und daraus abgeleitet werden kann. Und nehmen wir als Axiom an, daß der speculative Inhalt des Denkens a priori in uns liegt, so können wir uns auf die Wahrnehmungen derer, die der andern Meinung sind, gar nicht verlassen, und umgekehrt wird dasselbe sein. Es sind also dies zwei entgegengesetzte Ansichten, die sich gegenseitig vernichten. Nimmt man die eine an, so erscheint der ganze Erkennungsprozeß der andern verdächtig. Aber eine muß jeder annehmen. Die Entscheidung aber wirklich zu fassen gehört nicht in unsere Untersuchung, denn indem wir die Entscheidung hervorbringen, bringen wir ein vollständiges philosophisches System zu Tage. Hier haben wir nur dies zu thun, die Hauptfrage unentschieden zu lassen, und zu fragen: welches Resultat 13 dem] den

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bekommen wir in Hinsicht auf die Betrachtung der Seele, wenn wir sie unentschieden lassen? Wir gehen von beiden entgegengesetzten Puncten aus. Einer behauptet: bei diesen Gegenständen verlasse uns | der Zusammenhang des Wortes mit dem Bilde, welches aus der Wahrnehmung entstanden ist, und wir müssen eine andere Entstehungsart des Wortes und des Begriffs aufsuchen, wir müssen eine Richtung in der Seele, diese Begriffe zu produciren an und für sich annehmen. Was folgt daraus für die Seele? Es ist gesagt: Das Wahrnehmen ist zwar allerdings etwas von der Einwirkung äußerer Gegenstände auf die Seele nothwendig Abhängiges, aber schon von manchen Puncten aus haben wir es gesehen, und auch aus der ursprünglichen Anschauung des Lebens es gefunden, daß eine ursprüngliche Thätigkeit der Seele doch dabei zum Grunde liegen müsse. Diese Thätigkeit haben wir damals nicht bestimmt, sondern bloß gesagt: sie sei schon zur ausströmenden Thätigkeit zu rechnen. Wir sagten also: das Wahrnehmen fällt überwiegend ins Aufnehmen, es entsteht dadurch ein Sein der Dinge in der Seele, aber das Wahrnehmenwollen ist die ursprüngliche freie Thätigkeit der Seele, ohne die kein Wahrnehmen zu Stande kommt. Von jener Voraussetzung | aus würden wir also zu fragen haben: ist diese ursprüngliche Richtung etwas anderes als das Wahrnehmenwollen, oder dieselbe? Wer diese Voraussetzung macht kann nur consequent sein, wenn er sagt: es ist dieselbe Richtung in der Seele, das Wahrnehmenwollen ist nichts, als das Wollen, daß eine Welt in der Seele für die Seele werde, und in ihren ersten Anfängen ist sie schon ganz dieselbe, denn wenn das Wahrnehmenwollen und Speculirenwollen nicht Eins ist, so müßte, wenn das eine anfangen wollte das andere aufhören. Das Resultat wäre also: daß wir die Seele setzen müßten in allen Wahrnehmungen vom ersten Anbeginn an als ein Wesen, das die Welt in sich abbilden will, und ihr Wesen besteht in nichts anderem als in diesem Erkennenwollen, wozu das Wahrnehmenwollen die ersten Elemente enthält, und betrachten wir, wie die ganze Entwickelung des Denkens in jedem ein Continuum ist, vom Kleinsten an bis zum Maximum, so ist diese Auslegung der Voraussetzung nicht nur die einzig consequente, sondern auch die einzig anschauliche. | Wie setzt aber der die Seele, der den speculativen Inhalt des Denkens auch aus der Wahrnehmung ableiten will, und aus denjenigen Verknüpfungen herleiten, die in der Wahrnehmung selbst schon gegeben sind?

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Sechs und zwanzigste Vorlesung. Inhalt. Fortsetzung über die entgegengesetzten Ansichten, darüber worin der speculative Inhalt des Denkens seinen Grund habe. Worin liegt die psychologische Differenz zwischen beiden

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Elementarischer Teil, 25. bis 26. Stunde

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Ansichten? Wie kommt dasjenige in das Denken und in die Sprache, was sich auf die Idee der Gottheit bezieht? Wie verhält sich hier die Duplicität der Ansichten zu jener über den speculativen Inhalt der Sprache? – 5

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Die Wahrnehmungen sind bedingt durch die Einwirkungen der Gegenstände, also liegt in dieser Ansicht, daß das Denken des Zusammenhanges, also die Verknüpfung im höhern Sinne auch durch die Einwirkung der Dinge bedingt sei. Wir wollen einmal abstrahiren davon, daß wir gar nicht wissen, wie dies durch eine Wahrnehmung geschehen kann, denn auch das Gegentheil würde nicht bewirken die Annahme, daß alles ausgehe von der ursprünglichen Thätigkeit. Aber ist hier nicht auch eine solche Duplicität wie in der vorigen Ansicht? Wenn gesagt werden kann: das speculative Denken ist bedingt durch das Wahrnehmen der Dinge, so kann auch gesagt werden: die ausströmende Thätigkeit auf die Dinge und die Einwirkung der Dinge auf uns ist dasselbe. Was kommt für die Seele heraus? Diejenige Form der Voraussetzung, die | eine wahre Duplicität in der Einwirkung der Dinge setzt, und welche sagt: es sei eine verschiedene Einwirkung auf die Organe, wodurch wir auf die Wahrnehmung der Dinge kommen, und wodurch wir auf das Causalitätsverhältniß kommen. Das ist aber falsch, denn die Einwirkung der Dinge ist immer dieselbe, und nur die Wahl der Seele macht sie zu dem einen oder zu dem andern. Diese Voraussetzung geht also in die andere über. Es bleibt also nur die andere Form, [ ] Worin liegt nun noch für das, was sich auf die Natur der Seele bezieht, die Differenz zwischen beiden Ansichten, die uns so groß erschien, daß wenn man die eine als wahr setzt, man Bedenken tragen muß, das von den andern aufzunehmen? In Beziehung auf unsere Untersuchung verschwindet sie. Wenn man sagt: die Wahrnehmungen sind bedingt durch die Einwirkungen der Dinge, so muß man doch eine ursprüngliche Thätigkeit der Seele auf die Dinge gerichtet annehmen, wenn man die Idee des Lebens nicht aufgeben will. | Sagt die Voraussetzung, sie meine bloß ein Streben, das für sich nichts könne: was folgt daraus? Die Einwirkung der Dinge ist dieselbe in Beziehung auf die Wahrnehmung des einzelnen Gegenstandes und auf die Verknüpfung. Eine ursprüngliche Thätigkeit der Seele wird vorausgesetzt. Sagt man, diese Thätigkeit sei bloß auf die Sinneswahrnehmung ge24 Form,] es folgt ein Spatium von etwa 2 ½ Zeilen 23–24 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 195: „Es bleibt also nur die andere Form übrig daß Einwirkung der Dinge als Wahrnehmung hervorbringend und die Einwirkung der Dinge, wie fern sies spekulatives Denken begründen, Eins und dasselbe sind.“

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richtet, so ist das ein Irrthum, der durch die Erfahrung widerlegt wird, denn wäre das wahr, wie sollte eine falsche Vorstellung vom Causalzusammenhang entstehen? In den Einwirkungen der Dinge könnte die Duplicität des Wahren und Falschen nicht sein. Der Irrthum ist nur daraus erklärlich, daß in der Thätigkeit der Seele sowohl die Richtung auf das eine als auf das andere gesetzt ist, daß also von der Seele die Verwechselung ausgeht. Neben dieser Voraussetzung, daß das speculative Denken selbst durch die Einwirkung der Dinge bedingt ist, und daß die Einwirkung der Dinge immer dieselbe ist, muß noch die Annahme der ursprünglichen Thätigkeit der Seele auf die Sinneswahrnehmungen | kommen. In der einen Voraussetzung wird also die Seele mehr auf positive Weise in der andern mehr auf negative Weise vorausgesetzt, und dieses ist eine bloße Differenz des Mehr und Minder. Wenn sich diese Voraussetzung also selbst versteht, so kommt sie auf die nämliche Vorstellung zurück in Beziehung auf den Zusammenhang des speculativen und empirischen Denkens, daß sie sagen muß: in der Seele ist eine ursprüngliche Richtung, nicht nur das Einzelne abzubilden, sondern es auch in einem durchgehenden Zusammenhange aufzunehmen. Es bleibt nur die Differenz übrig, welches dem andern kann untergeordnet werden, und da wird sich von selbst fügen, daß diejenige Annahme die das Positive setzt, die ursprüngliche Thätigkeit der Seele als den Zweck, das andere als die Mittel setzt; die andere aber, die die Einwirkung der Dinge oben anstellt, weil wir nur davon klar uns bewußt sind, setzt dieses Klarste obenan, und sagt: Das Verknüpfen ist nur da, jenes noch klarer zu machen. – Worauf kommt uns diese Differenz zurück? | Darauf, daß wir sagen müssen: es ist allerdings dieselbe Thätigkeit der Seele, welche das Einzelne aufnehmen will, und welche die Welt in sich aufnehmen will, aber es sind doch die Resultate als different im Bewußtsein gesetzt; es ist also nichts als eine Differenz der Seele, daß die eine immer wieder auf das Einzelne, die andere immer wieder auf den Zusammenhang und auf die Totalität zurückgetrieben wird, daß alles dies beruht auf der verschiedenen Eigenthümlichkeit der Menschen. Wir haben nun gesagt: wir finden in unserm Denken, wie es uns überall in der Sprache selbst gegeben ist, nicht nur dasjenige, was sich auf den Zusammenhang der Thatsachen unter sich, und auf die Unterordnung des Einzelnen unter die Totalität bezieht, wir finden nicht nur dasjenige, was die Idee der Welt bildet, sondern auch was die Idee der Gottheit bildet. Wie kommt die Seele dazu? Wollen wir streng verfahren, so müssen wir die Frage so stellen, daß wir über die Wahrheit oder die | Nichtigkeit der Idee gar nicht entscheiden, sondern wenn die Idee ein Irrthum ist, so fragt sich: wie hat sie sich gebildet; eben wie, wenn man die Wahrheit der Idee annimmt, die

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Art, wie sie zum Bewußtsein kommt, noch nicht bestimmt ist. Das Schwierigste ist, daß wenn man sagt: wir finden im Denken die Idee der Gottheit, wir gar nicht wissen, ob wir damit dasselbe meinen, oder etwas anderes. Bei sinnlichen Wahrnehmungen kann man das leicht untersuchen, und wenn wir über das speculative Denken, sofern es im Gebiet der Welt liegt, uneinig sind, so giebt es eine Menge von Formeln, durch deren Zusammenstellung man finden kann, ob man ein anderes hat oder dasselbe. Aber hier ist nichts davon, eine Gottheit kann weder aufgezeigt werden, noch kann es eine Menge von Formeln des über sie Aufgestellten geben, wodurch man wissen könnte, ob sie dasselbe ist oder nicht. Das Einzige worüber man einig sein kann, ist dies, daß es gar keine Mannigfaltigkeit von Formeln darüber giebt, außer wiefern man zugestehen muß, daß jede etwas | Unadäquates hat, weßhalb man mit keiner operiren kann, ohne daß man das Maaß und die Art des Unadäquaten gefunden hat, was aber eine unendliche Untersuchung voraussetzt. Wollen wir hier etwas ausmachen, so müssen wir uns fragen: worauf es uns hier ankommt. In dem Gange den wir genommen haben, indem wir die Entstehung des Bewußtseins von unten auf verfolgt haben, haben wir auf die Gottheit erst kommen können im Verfolge der Idee der Welt. Wenn wir nun sagen könnten, daß dies ein Realzusammenhang wäre, dann würden wir weiter schließen können: wir kommen auf demselben Wege zur Idee der Gottheit, auf welchem wir zu der Idee der Welt gekommen sind, und wir müssen dann davon ausgehen, daß sich von beiden Voraussetzungen aus auf die Idee der Gottheit kommen läßt, oder es ist nur diejenige die richtige, die da erklärt, wie man zu der Idee der Gottheit kommt. Das können wir aber nur unter der Voraussetzung des Realzusammenhanges | der Gottheit und der Welt, daß beide gleich nothwendig sind, und also nothwendig zusammengehören. Wir müssen uns also die Frage so stellen: ist ein Realzusammenhang zwischen der Idee der Gottheit und der Welt oder nicht? Wie sollen wir dieses ausmachen? Wenn wir nicht eine ganze Philosophie construiren wollen, so können wir uns nur an das Factische halten und fragen: was geht aus der Art, wie wir beide Ideen gesetzt finden, über die Verbindung derselben in der Seele hervor? Finden wir, wo wir die Idee der Welt finden auch die Idee der Gottheit, und umgekehrt? So wie wir uns die Frage so stellen, so kommen wir gleich darauf zurück, daß wir die Idee der Gottheit auf sehr mannigfaltige Art finden, und auf die Frage: ob dies dasselbe ist, nur von verschiedenen Entwickelungsstufen ausgehend, oder ob es nicht dasselbe ist. Hier kommen wir wieder in so differente Ansichten, daß es scheint, als könnten wir hier auch nichts anfangen. Wollen wir also nicht in etwas ganz transcendent Philosophisches fallen, so müssen wir die Frage noch enger stellen, | so daß

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wir in ein Gebiet kommen, das in unserem Bereiche liegt. Hier kommen wir auf Folgendes: wie werden sich die Vertheidiger der beiden entgegengesetzten Voraussetzungen über das Entstehen des speculativen Denkens verhalten in Beziehung auf die Idee der Gottheit? und hier werden wir die Wahrnehmung nicht leugnen, daß diejenigen, welche die Idee der Gottheit für ein selbsterdichtetes Element der Speculation halten, immer auf der Seite derer gewesen sind, die das speculative Denken aus der Einwirkung der Dinge ableiten. Diejenigen aber, die das speculative Denken als ursprünglich setzen, haben immer einen realen Zusammenhang angenommen zwischen der Idee der Welt und der Gottheit. Dieser reale Zusammenhang in der Seele selbst ist der, daß durch dieselbe Nothwendigkeit, wodurch die Seele auf die Idee der Welt getrieben wird, [sie] auch auf die Idee der Gottheit getrieben wird. Woher mag es kommen, daß jene die Gottheit für erdichtet halten? Es erscheint als ein | nothwendiges Verzweifeln an der Durchsetzung ihrer Hypothese bis auf diesen Punct; denn wenn man auch sagen kann, in der Einwirkung der Dinge ist nichts schlechthin Einfaches, sondern immer eine Verknüpfung gegeben, so läßt sich doch nicht sagen, daß in der Einwirkung der Dinge die Idee der Gottheit entstehe, welche über die Idee der Totalität der Welt hinausgeht, und nicht mit ihr identisch sein will. Fragen wir auf der andern Seite: was erleichtert denen, die von der entgegengesetzten Voraussetzung ausgehen, ihre Annahme der Gottheit? so müssen wir sagen: wenn sie die ursprüngliche Thätigkeit der Seele so setzen, daß sie in allen ihren Äußerungen bedingt ist durch dasjenige, was durch die Einwirkung der Dinge gegeben ist, so müssen sie auch bei der Idee der Welt stehen bleiben. Die Idee der Gottheit muß durch eine andere Thätigkeit kommen können, und nur sofern es eine Thätigkeit giebt, welche das Bewußtsein Gottes schlechthin in sich schließt, und die mit der Erfahrung nichts zu thun hat, nur in sofern ist | die Idee der Gottheit zu setzen. Da scheint es denn nun, als ob beide unbefugt zu Werke gingen, denn jede Voraussetzung von einer ursprünglichen Thätigkeit der Seele ist uns doch durch das Aufnehmen bedingt, und wir können uns nicht denken, wie uns das leiseste Element von der Idee der Welt und ihrem Zusammenhange sein sollte, ohne das Aufnehmen der einzelnen Dinge, und darin liegt dann doch kein Grund von der Idee der Welt zu der Idee der Gottheit zu gehen, wir würden also doch wieder alles zerreißen müssen von dem realen Zusammenhang der Welt und der Gottheit. Es scheint also wir kommen auf unserm Gebiet zu nichts anderem als: in einigen ist die Gottheit mit dem Gefühl der Wahrheit gesetzt, in anderen nicht, die sie also nur erhalten haben durch jene. Dann müssen wir also fragen: wie ist denn die Seele zu dieser Duplicität gekommen, und wie können wir sie erklären, so daß die Seele

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dieselbe bleibt? Das ist die engste Frage die wir uns hier stellen müssen; kommen wir damit nicht aus, | so müssen wir sagen: es ist hier nichts auszumachen, sondern es ist lediglich der reinen Philosophie zu überlassen.

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Sieben und zwanzigste Vorlesung. Inhalt: Wie ist die Seele zu dieser Duplicität der Ansichten gekommen, und wie können wir sie uns erklären, so daß die Seele dieselbe bleibt? – Wie verhält sich die Idee der Gottheit zu dem Erkennungsprozeß? Worauf beruhen diejenigen Gefühle, welche das menschliche Dasein in uns erregt? Parallele des Gefühls und des Erkennens. – Identität der höhern und niedern Gefühle. – Verhältniß der Idee der Gottheit zum Gefühl. – Wir müssen sehen, wie sich jede der Ansichten zur entgegengesetzten verhält. Diejenigen welche die Idee der Gottheit leugnen, meinen sie sei erst entstanden aus dem Polytheismus, aus der dichterischen Vorstellung einer Mannigfaltigkeit höherer Wesen, die streng genommen dieser Idee nicht adäquat sind, und jene Vorstellungen seien entstanden aus dem Bestreben, dasjenige, was als Grund der Veränderungen gesetzt wird, unter der Idee des Lebens zu subsumiren und zu personificiren. Dies sei natürlich, und als man nachher bemerkte, sie seien unter sich in Widerspruch, sei man zur Einheit hinaufgestiegen. So entstände die Idee der Gottheit aus dem Polytheismus, und sei auch nichts als ein Gebilde des Menschen. Hierin liegt das Anerkennen, daß diese Idee entstanden sei aus einem innern Bedürfniß, die Idee des Lebens bis zu einer Einheit zu potenziren. Von der andern Seite: Diejenigen welche die Idee der Gottheit als dem Menschen | Einheimisches ansehen, sind diejenigen, welche es für dieselbe Thätigkeit der Seele halten, wodurch sie die Dinge wahrnehmen und zum Begriff der Welt kommen. Diese haben es leicht zu sagen, daß die Idee der Gottheit auf demselben Wege komme, die ganze Thätigkeit sei zuletzt nichts als die Gottheit zu suchen. Verwerfen die andern dies, so erklären diese dies Verwerfen für einen Mißverstand, daß die Polemik bloß gegen gewisse Auffassungsarten gerichtet sei. Fange man an, alles mehr von der negativen Seite zu betrachten, alles abzuleiten aus der Einwirkung der Gegenstände, so sei jenes eben eine Fortsetzung von diesem Irrthum. Betrachten wir dieses so liegt hierin ebendasselbe Anerkenntniß wie auf jener Seite; nämlich die Idee des Lebens als das Dominirende anzusehen, also die ganze aufnehmende Thätigkeit der Seele auf die ausströmende zurückzuführen, und auf ein Suchen des

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Lebens außer sich hinzuführen, und daß die Idee der Gottheit nichts sei, als die dem Menschen angeborne Richtung, zu allem Mannigfaltigen die | Einheit eines unendlichen Lebensprincips aufzusuchen, und dann kommt jede Art, die gegen die Idee der Gottheit protestirt immer nur darauf zurück, daß man sie entweder als Mißverstand ansieht, oder als Protestation gegen die Idee des Lebens selbst. Das letztere ist das, was wir mit dem Namen des Materialismus zu bezeichnen pflegen. Schon wenn die Totalität des Einzelnen wegen gesetzt wird, so ist jene Vorstellung schon bleicher, und wenn der Zusammenhang der Idee der Welt und der Gottheit noch dunkler ist, so ist die Idee der Gottheit noch bleicher in Beziehung auf das, was unmittelbar mit den Sinnen wahrgenommen wird. Das Leugnen der Gottheit ist das Verkennen dieser bleichen Idee, und so können wir wol dieser milden Ansicht Recht geben. Sehen wir auf das Gebiet des Erkennens so hatten wir vorher noch nicht das Element der Erfahrung, noch das Element der Wissenschaft, sondern beides ist erst mit dem Denken gesetzt. Nämlich wenn wir Erfahrung sagen, so liegt offenbar darin das Wiederholen und die Wiederholbarkeit bestimmter Eindrücke. | Aber wenn nun daraus ein Wissen werden soll, so muß es als ein Gesetz hingestellt sein, also giebt es keine Erfahrung ohne das Zurückführen des Wahrgenommenen auf ein Gesetz, im innern Wesen der erscheinenden Dinge gegründet. Alle diese Vorstellungen sind aber nur unter der Form der Sprache unter der überwiegend psychischen Gestalt des Denkens. Nun verhalten sich Erfahrung und Wissenschaft, wiefern letztere sich auf Gegenstände der erstern bezieht, wie das Ungeordnete zu dem Geordneten. Hier finden wir also nichts anderes, als ein beständiges Theilen und Ausbreiten des Prozesses in dem Wiederholbaren die Gesetze zu finden, und sie als Grund anzunehmen für das, was auf dem Gebiet der Wahrnehmung zur wirklichen Erscheinung kommt. Dieses alles liegt uns nun innerhalb der einen Idee der Welt, und es ist nichts anderes, als das beständige Realisirenwollen dieser Idee, darin ist alle Erfahrung und alle Wissenschaft eingeschlossen, und in wiefern alles Wahrnehmen auf das Denken führt und der Mensch auf der Wahrnehmung | selbst nicht stehen bleiben kann, so ist die ganze aufnehmende Thätigkeit von dieser Seite regulirt durch die ihr innewohnende Idee der Welt. Hiemit soll nicht gesagt werden, daß diese Idee in der Seele sei als bestimmtes Bewußtsein, sondern bloß auf practische Weise woraus alle ihre Thätigkeiten nach dieser Seite hin begriffen werden können. Kommt nun noch etwas hinzu, wenn wir auf die Idee der Gottheit sehen? Entsteht dadurch ein neues Erkennen, wenn es ent20 Wissen] mit ? versehen über Werden

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stand durch die Idee der Welt? Nein, durch die Idee der Gottheit kommt nichts zu unserm Erkennen hinzu, denn wir können nichts anderes, als die Idee der Welt auf die Idee der Gottheit beziehen. Indem wir aber noch darin begriffen sind die Idee der Welt zu realisiren, so ist die Idee der Gottheit eine diese Realisirung beständig begleitende, ein diesen ganzen Prozeß begleitendes Selbstbewußtsein, daß wir die Totaliät des Endlichen nicht finden können ohne die absolute Einheit, so daß, wenn auch die Totaliät des Endlichen gefunden wäre, jene Idee der Gottheit doch nichts anderes uns wäre, als jetzt. Hieraus geht hervor, daß die Idee | der Gottheit für das Erkennen unentbehrlich ist, als eine das Bestreben, die Idee der Welt zu realisiren, beständig begleitende Vorstellung, als das beständige Supplement zu dem Bewußtsein der Unvollständigkeit dessen, was auf diesem Gebiet schon geschehen ist, aber daß die eigentliche Wirkung der Idee der Gottheit weit mehr auf der Seite des Gefühls liegt, als auf der Seite der Wahrnehmung. – Wo haben wir das Gefühl verlassen, als wir vom Wahrnehmen auf das Denken gingen? Wir wußten damals bloß von dem Selbstbewußtsein, welches sich auf das Verhältniß des Menschen zu den äußern Naturpotenzen bezog. Wir hatten gar nicht aufnehmen können diejenigen Erregungen, die dem Menschen kommen aus dem Zusammensein mit andern Menschen, wir haben bloß von der Lust und Unlust geredet, wie die Naturkräfte das eigne Leben im Menschen erregen oder hemmen. Warum ist nicht gleich Rücksicht genommen auf die Welt von Gefühlen, die sich auf das Verhältniß zu andern Menschen bezieht? Allerdings wenn wir danach fragen | was erregt denn die menschliche Seele auf specifische Weise, wenn ihr der Mensch vortritt, so beruht dies auf dem Anerkennen der Identität. Dieses ist aber nicht der äußern Erscheinung, der Gestalt, allein zuzuschreiben, denn wir würden in große Verlegenheit kommen mit den Thieren, die der Gestalt des Menschen am nächsten kommen. Der Mensch erkennt sich und sein Wesen nur wieder in der Thätigkeit. Diese muß nun heraustreten, wenn er sie anerkennen soll. Sie tritt aber heraus durch ihre Wirkungen, sofern sie Zeichen sind. Was als Zeichen uns entgegentritt, ist bedingt durch die Production dessen, was uns selbst Zeichen ist; das wahre Anerkennen des Menschlichen ist also bedingt durch die Stufe, wo das Denken und die Sprache zu dominiren anfängt, denn die Sprache ist nichts als das System der Zeichen, das Denken nichts als ein Anknüpfen an ein Zeichen. Freilich erkennt der Mensch die Zeichen an ehe die Sprache in ihm ist, also beginnt schon die ganze Welt von Gefühlen in ihm, ohne daß die Sprache da ist, 26 bezieht?] bezieht.

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aber wir müssen doch das ansehen als | die Wirkung der Sprache vor der Sprache. Es liegt schon im Gebiet des Sprechenwollens, und hängt zusammen mit der Art, wie sich das Selbstbewußtsein des Kindes bildet, innerhalb dieses Gebietes in seinem Leben ein Inneres und Äußeres zu werden beginnt. Das Äußere im Verhältniß zum Innern ist eben Zeichen. Auf die Wahrnehmung der Gestalt ist dies nicht zurückzuführen, denn das Kind liebt eher und stößt eher zurück, ehe es die Gestalt erkennt. Aber ehe sind die Bewegungen der Liebe nicht bestimmt, ehe es dieselben in Verbindung sieht, ehe die Verbindung da ist zwischen dem Innern und Äußern. Halten wir dieses fest und wollen uns der Parallele bemächtigen, so müssen wir ursprünglich in der menschlichen Seele ein Bestreben annehmen mit dem Gefühl und für das Gefühl das Leben zu suchen, eben so wie wir ein Bestreben annehmen, mit den Sinnen und für die Sinne die Welt aufzusuchen. Gehen wir nun weiter, daß von dieser psychischen Seite die Idee der Gottheit nichts ist, als das letzte und höchste | Product des Lebenssuchens, des Suchens der Einheit zu jeder Masse also auch des Suchens der productiven Lebenskraft zur Totalität des Endlichen, so werden wir sagen müssen: auch diejenigen Gefühle, die wir dem Thierischen am meisten nahe stellen, und die höchsten Gefühle sind Eins, sie sind bloß das Suchen der Kraft zu den äußern Erscheinungen. Wenn wir sagen: jeder ursprüngliche Lebensmoment wird dem Menschen nur in verschiedenem Maaße Anschauung und Gefühl, und ein Gefühl, dem auch eine ursprüngliche Thätigkeit zum Grunde liegt, ein Fühlenwollen, welches auf ein Wissenwollen des Lebens gerichtet ist, ist das Bewußtsein auf die Stimmungen und Erregungen des Lebens gerichtet, so haben wir auch hier zwei entgegengesetzte Richtungen, wie auf der andern Seite, aber sie erscheinen auch nur als verschiedene Arten der Unterordnung: das Suchen des Ich und das Suchen der Totalität um uns her. Ob wir sagen: wenn der Mensch fühlen will, so fühlt er nur sich selbst, oder ob wir sagen wollen: er fühlt alles andere auch, nur zuerst sich, | darauf kommt es an, ob der Mensch alles auf sein persönliches Leben bezieht, oder ob er sein persönliches Leben selbst bezieht auf die ihm aufgegangene Idee des menschlichen Lebens über26 Bewußtsein] über Gefühl 6–10 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 207–208: „Freilich werden auch Kinder schon vom Menschlichen auf specifische Weise angezogen, mehr als von den Gegenständen, aber wir müssen doch dieß als eine Wirkung der Sprache vor der Sprache ansehen, und schon zusammenhängend mit dem Sprechenwollen. Auf die Wahrnehmung der Identität der Gestalt läßt sich | dieß gar nicht zurückführen, ein Kind liebt viel eher andere Gegenstände als es sein eigenes Bild im Spiegel erkennt, und mit einem sich selbst Anerkennen muß doch das Anerkennen des Menschlichen anfangen.“

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haupt. Dies ist dasselbe, ob der Mensch das Einzelne der Welt unterordnet, oder die Welt nur sucht des Einzelnen wegen. Daher die Streitfrage: ob der Mensch von Natur eigensüchtig oder liebend sei. Wie jene Differenz bis auf die Idee der Gottheit führt, so geht es auch auf diesem Gebiet. Wie es dort bis zum Leugnen der Gottheit kam, aber nie ein absolutes werden konnte, so auch hier. Jemehr jemand die eigensüchtige Ansicht hat, desto mehr wird er abgezogen von der Gottheit, aber nie ganz, jemehr er sich dem Ganzen unterordnet, desto gewaltiger wird die Idee der Gottheit sich ihm aufdringen. Die erste Richtung des Gefühls im Menschen ist also auch schon das Suchen der Idee des Lebens, und so wie im Gebiet des Wahrnehmens die Idee der Welt liegt, so nur, daß die Idee der Gottheit nothwendige Begleitung ist, | so auch findet der Mensch, der die ganze Welt von Gefühlen in sich aufnimmt, die aus dem Zusammenleben mit den Menschen entstehen, sich auch nothwendig zu der Idee der Gottheit, als auch hier begleitende, hingezogen, etwas Neues kommt ihm aber auch nicht hinzu. Es bleibt uns nun noch zu fragen: was nun also hinzugekommen ist?

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Inhalt: Zusammenfassung dessen, was auf der objectiven Seite hinzugekommen ist. Von der Differenz zwischen Erfahrung und Wissenschaft, und in dieser zwischen speculativer und empirischer Wissenschaft. Von der Entwickelung des Gefühls wenn dem Menschen das Menschliche entgegentritt. Differenz dieses Gefühls von dem durch die allgemeinen Naturpotenzen erregten. Was also die objective Seite des Denkens und Erkennens betrifft, ist, daß die erste Operation des Wahrnehmens in ihrer Tendenz nichts sei als das Construirenwollen der Welt, daß alles Einzelne in Beziehung auf den Zusammenhang und die Totalität angestrebt wird, der allmählig mehr heraustritt, daß aber ein Evolutionspunct dieses Heraustretens da ist, wo die Sprache sich bildet, weil da das Einzelne fahren gelassen wird gegen das Allgemeine. Von diesem Punct aus entsteht erst Erfahrung und Wissenschaft, die ohne Sprache nicht denkbar sind. Hier kann nicht die Rede davon sein, wie es mit denen stehe, die nicht sprechen können, denn für die vicarirt nur ein anderes Bezeichnungssystem. | Hier ist noch besonders herauszuheben, daß das Bilden der Erfahrung und der Wissenschaft durchaus Eins und das15–17 sich auch ... hinzu.] am Rand versehen mit ?

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selbe ist, da eben gewöhnlich die Ansicht anders genommen wird, und gesagt: die Wissenschaft ist etwas anderes, oder gar auf einer andern Potenz der Thätigkeit der Seele ruhend. Letzteres ist aber gar nicht anzunehmen, da die Seele in allen Thätigkeiten dieselbe ist und Eine, und es kommt nur durch den Fortschritt der Zeit ein deutliches Bewußtsein. Die Differenz beruht darauf, daß man die Erfahrung ansieht, als von der Sinnesthätigkeit ausgehend, die Wissenschaft als von den innern Gesetzen des Geistes ausgehend. Es ist auch hier eine Differenz zwischen einem Maximum und Minimum der verschiedenen Ansichten. Das Maximum ist, daß die Wissenschaft auf einer ganz andern Potenz der Seele ruht, das Minimum ist, daß beides Eins und dasselbe sei. Nun könnte es scheinen, als läge die Wahrheit in der Mitte, aber hier liegt gar nichts in der Mitte, was man festhalten könnte. So ist solche Mittelstufe, daß die Erfahrung von unten hinaufsteige, | die Wissenschaft von oben herab. Das ist wahr wenn man es rein genetisch betrachtet, und dabei schon von einem gegebenen Punct ausgeht; aber es ist nicht wahr, wenn man vom Ganzen ausgeht. In denjenigen Verknüpfungen, wo wir den Zusammenhang der Dinge unter den Begriff der Coordination und der Subordination auffassen, ist immer viel Falsches. Dies ist auch in der Wissenschaft, denn wieviel Umwandlungen sind nicht in jedem Gebiet. Woher ist dies Falsche gekommen? Die Wissenschaft hat angeknüpft an das in der Erfahrung vor der Wissenschaft Gegebene. Wenn die Wissenschaft aber so abweicht, kann man sie dann für eine andere Potenz halten? Aber wie kommt das Falsche in die Erfahrung? Legen wir uns diese Frage vor, so müssen wir sagen: man hätte mit dem Urtheil aus einer analogen Reihe von Eindrücken inne halten sollen, ehe man sie unter den Begriff der Causalität und der Coordination subsumirte. Das ist recht gut, aber warum hat man nicht inne gehalten? Es ist dadurch hervorgebracht, | daß man nicht von unten, sondern von oben [da]mit angefangen. In den bloßen Erfahrungen sind niemals Urtheile über die Causalität, sondern immer bloß Data dazu. Jedes solches Urtheil ist aber immer ein a priori, also ist dieser Prozeß in der Erfahrung auch. Was ist also der Unterschied? Die Erfahrung ist das Chaotische nicht durchgebildete, die Wissenschaft das Geordnete. Beides ist so zu verstehen. Zwei Menschen können in sich tragen dasselbe Aggregat von Vorstellungen über die Eigenschaften und den Zusammenhang der Dinge. Wenn es dem einen nur gesetzt ist durch die Geschichte seiner Eindrücke, so ist das Erfahrung; wenn es in dem andern untergeordnet ist den combinatorischen Begriffen, so ist es in diesem als Wissenschaft gesetzt. Die Art dieses Bewußtseins zu sein in dem einen ist untergeordnet den äußern Potenzen, die Art des Bewußtseins zu sein in dem andern ist untergeordnet seiner ihm einwohnenden Seelenthä-

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tigkeit. Wenn gesagt ist, das, was Wissenschaft ist, und was Erfahrung ist, verhält sich wie das | Geordnete zum Chaotischen, so ist dies gemeint: in dem Erfahrungsmäßigen ist die ursprüngliche Richtung der Seele, die auf die Idee der Welt geht, auf die Einwirkungen, welche auf die Organe von außen ausgehen, in einer ungleichmäßigen Thätigkeit. Es sind hier immer zwei zu verknüpfende Thätigkeiten, das Aufnehmen der Eindrücke, und das Auffassen derselben unter eine Combinationsform. Auch in dem erstern ist die ursprüngliche Richtung das Wahrnehmenwollen, und dies ist nichts als das Weltsetzenwollen selbst, aber dieses ist, wenn wir auf den ersten Moment sehen, wo das sinnliche Wahrnehmen anfängt, ein Minimum, das Zulassen des Eindrucks von außen; aber ein Produciren der Combinationsformel, in diesem Moment ist es ein Maximum, was sich des Eindrucks bemächtigt. Wenn diese Thätigkeit also ungleichmäßig ist, in den einzelnen Elementen bald mehr, bald weniger hervortritt, so entsteht | daraus die Mischung von Wahrheit und Irrthum, ohne daß man beides unterscheidet. Ist aber diese Thätigkeit eine gleichmäßige, wie dies bei der Wissenschaft immer sein muß, so wird auch dieselbe Mischung sein, aber sie wird nie das Gemüth so beherrschen, daß sie durch uns gar nicht erkannt würde. Hier tritt alsdann eine Gradation von Überzeugung ein, die zur Seele die Art hat, wie die Operation von innen sich gestaltet hat; die Erfahrung nimmt zur Scala die Art, wie das Wahrgenommene zum Leben steht. Wenn das eine das rein durchgebildete, das andere das Ungebildete genannt ist, so beruht das darauf, daß in der einen Production immer die selbe Richtung ist, die Production der Erfahrung aber immer auf das Leben geht, und die ruhige Durchbildung nach dem ersten stört. Das ist die psychologische Grundverschiedenheit zwischen Erfahrung und Wissenschaft. Man könnte aber sagen: wir nehmen ja in der Wissenschaft selbst ein von unten aufsteigendes Verfahren, Erfahrungswissenschaft, und ein von oben | anfangendes Verfahren, reine Wissenschaft. Giebt es aber eine Wissenschaft a priori, die einen andern Gegenstand habe, als die a posteriori? Nein, denn alle Wissenschaft ist das Bestreben die Idee der Welt zu construiren, und das ist für alle dasselbe. Für jede einzelne giebt es ein Verfahren, das wir das von unten aufsteigende, und das von oben absteigende nennen. Wenn aber schon in der bloßen Erfahrung das von oben absteigende ist, so kann der Unterschied nur sehr relativ sein, und als solchen werden wir ihn auch bald vergegenwärtigen können. Er entsteht uns so, daß uns unser ursprüngliches Verfahren in dem Bilden der Erfahrung und der wissenschaftlichen Elemente ein Gegenstand der Betrachtung wird, in welcher wir die Thätigkeit der Seele von dem äußerlich Gegebenen sondern. In dieser entsteht uns ein isolirtes Bewußtsein von dem Verfahren selbst, von dem For-

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mellen unseres Bewußtseins, und das sind die combinatorischen Begriffe, und dann ist es möglich mit Bewußtsein das umgekehrte | Verfahren anzustellen, das aber immer mit dem andern zusammen sein muß. Eins kann gar nicht zu Stande kommen ohne daß das andere wenigstens unbewußt dabei ist. Die ganze Differenz ist also daß bloß bewußt geschieht, was früher unbewußt geschah, und es ist nur die Differenz dessen, was gerade ins Bewußtsein tritt. Hier gelangen wir nun an die Entwickelung des Gefühls, von dem Punct an, wo der Mensch dem Menschlichen entgegentritt, wo er auf eigenthümliche Weise davon afficirt wird. Wir finden diese Affection zwar früher als die Entwickelung der Sprache, sie ist aber abhängig von der schon begonnenen Entwickelung, also von dem instinctartig zusammengesetzten Bewußtsein des Zusammenhanges zwischen dem Innern und dem Äußern. Ehe wir in die Auseinandersetzung dieser verschiedenen Affectionen hineingehen, ist noch zu rechtfertigen das früher Gesagte über die verschiedenen hier stattfindenden Ansichten, und zwar Ansichten die auf die Verschiedenheit des Entstehens gehen. | Diese Verschiedenheit ruht darin: auf der ersten Stufe ist kein anderes Selbstbewußtsein im Menschen als das einer erhöheten oder gehemmten Lebensthätigkeit, und das kann nur auf sein persönliches Dasein sich erstrecken. Wenn wir nun sagen: es erscheint der Mensch dem Menschen außer ihm, indem er sich durch die Thätigkeit zu erkennen giebt, so ist diese zu erkennengebende Thätigkeit das Äußere eines Innern, irgend einer andern menschlichen Lebensthätigkeit, so können wir nun sagen: der Mensch kann alle Lebensthätigkeit die ihm außer ihm gegeben wird, auch nur ins Bewußtsein nehmen, sofern sie seine eigene Lebensthätigkeit fördert oder hemmt. In sofern diese Art des Aufnehmens ins Bewußtsein die einzige wäre, so könnte kein Unterschied sein zwischen der Art, wie das Menschliche auf den Menschen einwirkt, oder etwas anderes. Das Besondere aber ist, daß das Menschliche ihm gleich identisch wird, daß er es ganz in sich aufnimmt, ohne Gegensatz, so daß jenes und sein Dasein Eins ist in diesem Moment. Nur von dieser Voraussetzung aus entsteht uns ein specifisches Gefühl für das Menschliche. – | 5–7 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 214–215: „Die ganze Differenz zwischen dem Bilden einer Wissenschaft a priori und dem Bilden einer Wissenschaft a posteriori ist nur die, daß in Einem auf bewußte Weise ist was im anderen auf unbewußte Weise zugleich war. Überall aber sind also beide Weisen in und mit einander, das Eine latitirt immer | wo das andere der leitende Typus ist – es ist immer nur ein überwiegendes Hervortreten des Einen und anderen, immer aber muß eine nothwendige Beziehung des Einen aufs andere seyn, keine Erfahrungswissenschaft ohne Beziehung auf ein von oben herabsteigendes Verfahren, auf eine Wissenschaft a priori, und umgekehrt. Es giebt also zwischen Erfahrung und Wissenschaft keine andere Differenz als das größere Durch gebildetseyn und Geordnetseyn im Einem als im Anderen.“

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Inhalt. Von dem Specifischen desjenigen Gefühls, das durch ein menschliches Dasein in uns angeregt wird. Erklärung der gemischten Empfindungen. 5

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Daß das Menschliche in einem ganz anderen Verhältniß zu uns steht als das Dingliche, bedarf keines Beweises. Auch wenn wir bloß von einem natürlichen Gegenstand erhaben oder niederdrückend afficirt werden, so werfen wir das Gefühl auf den Gegenstand zurück, und die Thätigkeit richtet sich nach dem Verhältniß des Gegenstandes zu unserm Gefühl. Eben so ist es mit dem Menschlichen. Es entsteht eine Zu- oder Abneigung, je nachdem wir in gewissen Relationen mit dem Menschlichen sind, und ein niederdrückendes oder erhebendes Gefühl haben. Ist nun jenes und dieses dasselbe? Das Specifische ist hier nicht zu verkennen, aber nur zu erklären durch das Setzen des menschlichen Lebens außer uns mit dem unsrigen als Eins. Hierauf beruht das Mitgefühl oder das Übergehen der Zustände des anderen in uns. Die einen erklären es daraus, daß wirklich ein Aufnehmen des fremden Zustandes in uns statt finde, die anderen aus der Beziehung auf unsere eigenen persönlichen Zustände, also Erinnerung an | ähnliche und Vorbildung künftiger Zustände. Dafür kann nur dies sprechen, daß, wenn wir das Mitgefühl noch so stark setzen, es nie das eigentliche Gefühl erreicht. Kann aber dies daraus geschlossen werden? Es ist große Analogie zwischen der Differenz dessen, was wir mitfühlen, und was wir unmittelbar fühlen, und der Differenz auf der Seite der Wahrnehmung zwischen Bildern die von außen und Bildern die von innen entstehen. Indem man nun die innern Bilder erklärt als das Wiederhervorrufen eines gänzlich verschwundenen äußern Bildes, so ist auch in der Erklärung selbst eine große Analogie. Aber diese Analogie führt uns auf etwas anderes. Nämlich so wie jene Erklärung falsch war, so auch diese. Gehen wir davon aus, daß jedes Gefühl nach Maaßgabe seiner Intensität in eine Thätigkeit ausgeht, in welche Thätigkeit geht das Mitgefühl aus? Den Zustand in dem andern aufzuheben. Kann man aber nun sagen: es sei das Mitgefühl bloße Vorbildung oder Erinnerung? | Vorbildung und Erinnerung gehen auf das persönliche Dasein, also müßte auch die Thätigkeit aus dem Mitgefühl auf das persönliche Dasein gehen. Das Resultat des Mitgefühls bezieht sich aber auf einen andern. Sagt man nun: die Vorbildung ist doch ausgegangen von der Wahrnehmung des Zustandes im andern, also indem wir in jenem den Zustand wegschaffen, schaffen wir ihn auch in uns fort. Diese Erklärung genügt aber nicht, denn warum hebt man nicht gleich den Zustand in sich selbst auf, und bekümmert sich um den andern nicht,

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und ist der Zustand erst völlig in uns, so wird er dadurch nicht hinweggeschafft, daß er aus einem andern [hervor]gebracht wird. Wenn wir die Differenz selbst durch die aufgestellte Analogie begreifen, so erscheint auch die zum Grunde gelegte Erklärung nicht zu groß für das, was erklärt werden soll, und das Bestreben den Zustand in einem andern aufzuheben steht doch in der größten Analogie mit unserm Verfahren gegen uns selbst. Man sucht also den Zustand des anderen in sich aufzuheben, und als seinen | Zustand zu entfernen. Es giebt noch etwas in der Empfindung selbst, was die Erklärung bestätigt. Das ist die Betrachtung der Empfindungen die man gemischte zu nennen pflegt, weil sie das Angenehme und Unangenehme zusammenschmelzen. Diese sind von jeher eine Art von Räthsel gewesen, und eine große Menge von Erklärungen wollten es nicht auflösen, weil man den Punct nicht ins Auge gefaßt hat, sondern immer herum gegangen ist. Das Factum ist keinem Zweifel unterworfen; eben so ist klar, daß diese gemischten Empfindungen immer in den Affectionen von menschlichen Zuständen sind. Bei denjenigen Empfindungen die von den bloßen Sinnen ausgehen, kommt ein solcher Zustand nicht vor, sondern da ist der Gegensatz immer scharf zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen, es ist immer nur nacheinander, entweder gesondert oder durch plötzlichen Conflict auf einander folgend; ein unendlich kleiner Moment muß zwar immer sein, wo beides in einander ist, aber eine gemischte Empfindung entsteht nicht daraus, sondern eine verzehrt die andere, | und sie finden nicht in einander statt. Wie ist aber auf diesem Gebiet ein solches Zusammensein von Angenehm und Unangenehm möglich? Aus dem, was wir zum Grunde gelegt haben geht das Ineinandersein hervor. Wenn wir sagen: so oft ein menschlicher Zustand uns entgegentritt, so nehmen wir ihn auf in unser Bewußtsein als identisch, so ist das eine Erhöhung des Lebens, eine Verdoppelung der Kraft, eine Steigerung des eigenen Lebensbewußtseins. Sehen wir es so an, so müssen wir sagen: jedes Gefühl von einem menschlichen Dasein außer uns ist ein erregendes; aber wenn der andere, indem er mir seinem ganzen Dasein nach diese erhebende Empfindung erregt, zugleich im partiellen Sinne leidend erscheint, so wird die Empfindung auch unangenehm, aber beides ist ganz in einander, letzteres ist an das Grundgefühl gebunden, welches angenehm ist. Wie diese Erklärung das Factum begreiflich macht, so können wir auch darthun, daß eine andere Erklärung nicht möglich ist. Denn Angenehmes und Unangenehmes kann nicht in | einander sein, wenn es nicht in verschiedener Beziehung gesetzt ist. Es können nun verschiedene Eindrücke in uns einströmen durch verschiedene Sinne, aber sie 1–2 hinweggeschafft] hinweggeschaft

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werden nicht Eins, sondern das können sie nur werden, wenn sie auf denselben Gegenstand bezogen werden. Wie kann man sich also das Zusammensein des Angenehmen und Unangenehmen anders denken, als im Verhältniß zu einander, wie das Allgemeine zum Besonderen. Das Angenehme ist das Allgemeine. In jedem andern Sinne ist kein Zusammensein und Einssein möglich; wenn auch ein Zusammensein sein kann, so wird es doch kein Ineinandersein, sondern beide suchten dann sich zu zerstören und der Überschuß des einen bliebe. Aber man könnte sagen: jene Erklärung, daß das menschliche Dasein außer mir eine Verdoppelung des Lebens hervorbringt, ist ja rein aus der Luft gegriffen, denn im Gefühl trägt man doch das nicht unmittelbar. Darauf ist zu antworten: [„]wir sind immer im Zusammenleben, die Verdoppelung ist also immer da in der Gesellschaft. Aber wenn dieser Zustand ein permanenter ist, | so erregt er auch kein besonderes Gefühl mehr.“ Schleiermacher erklärt das daraus, daß in dem Augenblicke, wo uns das Gefühl eines andern afficirt, jenes eben ins Bewußtsein tritt. Der Nerv der Erklärung wird allerdings nur dadurch ergriffen, daß man das eine zugibt, das andere festhält, und daß das Allgemeine und Besondere zusammen aufgenommen und in gegenseitiger Erregung gestellt werden. Es wird auch jeder zugeben, daß er sich nicht in den Zustand denken kann, wo er in gar keiner Beziehung mit anderen wäre, aber doch müssen wir sagen: wenn es einen solchen gäbe, und er sähe mit einmal einen Menschen in einem bestimmten Zustande, so müßte sein Dasein verdoppelt werden. Afficirt uns nun der Zustand als ein angenehmer, so müßte doch eigentlich ein doppelt angenehmes Gefühl sein, eins das hervorgeht aus dem Allgemeinen, eins aus dem Besonderen. So ist es auch wirklich. Empfindet man eine Freude mit jemandem, so ist es nicht allein die über das Besondere, was den jemand erfüllt, sondern es ist noch eine andere | Freude, die entsteht aus der Mittheilung des Daseins, die uns wieder ins Bewußtsein tritt. Alle geselligen Empfindungen setzen also eine Mittheilung voraus, die angenehmen wie die unangenehmen. Daß die Grade verschieden sind, versteht sich ganz von selbst; eben so als es besondere Arten und Verhältnisse zeigt.

Dreißigste Vorlesung. Inhalt: Character der geselligen Gefühle. Differenz des persönlichen und allgemeinen. Bedingung welche zu ihrer Entwickelung erforderlich ist. Von dem Verhältniß der Einzelnen zum Subject des geselligen Gefühls. – Theilnahme – Mitleid – Mitfreude – Freundschaft – Antipathie. – Natürliche oder persönliche Ungleichheit – Ehrfurcht – herabsteigende Liebe. –

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Das Hemmende geht nun nicht aus dem einzelnen Menschen, sondern aus dem gemeinschaftlichen Dasein des Empfindenden und Hemmenden hervor. – Wenn wir das gesellige Gefühl vergleichen mit der frühern Stufe der bloßen Lebensaffection, so wird ein Auseinanderhalten des persönlichen Bewußtseins und des allgemeinen gesetzt. Wenn in den Thieren ein Analogon von Geselligkeit ist, so ist eben in ihnen kein Auseinandersein beider [Formen des] Bewußtseins. In diesem Auseinandersein giebt es Abstufungen vom Minimum bis zum Maximum. Im Minimum liegt die Unmöglichkeit einer Entgegensetzung des Persönlichen und Geselligen, in der Mitte liegt das ganze Spiel des Gegensatzes, und das Maximum ist das Aufgehobensein des Streites verbunden mit dem | beständigen Bewußtsein von der Trennung des Persönlichen und Geselligen. – Wenn wir auf den ungebildeten Zustand des Menschen in Beziehung auf die Geselligkeit sehen, so finden wir, daß er einen Unterschied macht, und daß nicht überall das Menschliche in sein Bewußtsein aufgenommen wird. Das Maximum davon ist, wenn alles Fremde feindlich ist. Hier kann eine Antipathie zu sein scheinen gegen die Geselligkeit; aber es findet sich der absolute Mangel an Gastfreundschaft und die Menschenfresserei nur in einem höchst isolirten Zustande. Auf der andern Seite das Maximum des Unterschiedes in Beziehung auf einzelne Menschen, daß einer den andern sehr liebt, einen andern auch sehr haßt, findet sich nur in gebildeten Zuständen. Wer eine starke persönliche Antipathie gegen einen andern hat, der setzt gar nicht voraus, daß das Dasein dieses Einzelnen sich zum geselligen Bewußtsein so verhalte, daß es a parte potiori als lebenshemmend | angesehen werden müsse, er hält ihn nicht für einen Feind aller, und bezieht jenes nur auf sein persönliches Bewußtsein. Nur in einem complicirten geselligen Zustande ist dies möglich; in dem einfachen Zustande ist jeder Einzelne der Repräsentant des geselligen Zusammenhanges, und je weniger das persönliche Bewußtsein stark heraustritt, um desto mehr ist jeder nichts als ein bestimmter Theil des geselligen Verhältnisses. Je mehr das persönliche Bewußtsein ausgebildet ist, desto mehr Veranlassung zu einem speciellen Verhältniß, je complicirter der Zustand, desto unklarer wird das Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen, desto mehr stumpft es sich ab und das Persönliche tritt heraus. Das Erhöhen des Subjects im Gefühl ist die Basis davon. Wenn in Beziehung auf das Gesellige der Einzelne dem Einzelnen sich gleich 27–28 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 225: „er legt die Antipathie also ins persönliche Verhalten hinein. Dieß kann aber nur in dem Maaße seyn als persönliches und geselliges Bewußtsein bestimmt auseinander treten und das gesellige Bewußtsein sich nicht nur in dem Einzelnen ausspricht, sondern wo auch das Einzelne unter der Masse verschwindet.“

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setzt oder ungleich, so entsteht eine große Differenz. Offenbar sind die geselligen Empfindungen sehr ungleich im Menschen, so wie Ehrfurcht nicht ein gleiches Verhältniß, Freundschaft nicht ein ungleiches leidet oder verschwinden muß. | Fragen wir nach dem Grunde dieser Differenz, so liegt dabei ein Messen zum Grunde. Das aber setzt eine Scala voraus, und diese ein Minimum und Maximum, d. h. es setzt voraus ein Bewußtsein von dem Umfange der menschlichen Entwickelung, und nur in dem Maaße als die Fortschreitung der aufnehmenden und ausströmenden Thätigkeit, das Bewußtsein einer großen Mannigfaltigkeit menschlicher Zustände sich entwickelt, und das Minimum und Maximum immer mehr auseinander treten, entwickelt sich das Bewußtsein der Ungleichheit. Je größer das Bewußtsein, desto bestimmter kann beides, Gleichheit und Ungleichheit im geselligen Bewußtsein auseinandertreten. In dem Maaße als ich zwischen mir und einem Einzelnen die gesellige Gleichheit setze, sehe ich mein und sein Verhältniß zum zusammengesetzten Dasein als gleich an. Tritt mir einer entgegen, den ich mir ungleich setze, so geschieht dies in Beziehung auf unser Verhältniß zum zusammenge|setzten Dasein. Das Verhältniß der Einzelnen zum Subject des geselligen Gefühls ist entweder das Verhältniß der Gleichheit oder Ungleichheit, so daß der Fühlende der Leitende ist für das Verhältniß des anderen, oder daß der dem Fühlenden Entgegentretende der Leitende ist für sein Verhältniß. Das Subject des geselligen Gefühls ist das zusammengesetzte Dasein. Das Gefühl der Gleichheit ist das der Theilnahme, die Unlust des andern wird als Mitleid, die Lust als (Mitfreude) Freude aufgenommen. Je größer die Ungleichheit gesetzt wird, desto mehr verschwindet die eigentliche Theilnahme. Wenn einer sehr hoch über mir steht, so kann ich an seinen Zuständen nicht recht Theil nehmen, denn was für mich groß ist kann für ihn klein sein, und umgekehrt. Das Maximum der Theilnahme ist nur im Zustande der Gleichheit. So wie ich die Relation der Gleichheit zwischen zweien setze, so setze ich auch dieselbe Theilnahme in ihnen, und ich setze zugleich die Befriedigung dieser Theilnahme, | ich setze also auch in ihm die Theilnahme an meinem Zustande. Das Maxi34–2 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 227–228: „das maximum der Theilnahme ist immer nur in der Gleichheit. Aber im Gebiet der Gleichheit selbst ist diese Theilnahme nurs minimum auf der Seite der Receptivität[,] nur gehört dazu noch eben solch minimum auf der Seite der Spontaneität, eben so gewiß ich eines Anderen Daseyn in mir aufnehme setze ich auch eine eigene Hemmung oder Förderung. Befriedigung der eigenen Lust oder Unlust. Der Mitfreude und [dem] Mitleide entspricht also die Befriedigung der Lust oder Unlust in mir | und dieß ist jenes andere minimum auf der Seite der Spontaneität. Das maximum, das sich auf der Seite der Mitfreude hieraus entwickeln kann, ists Gefühl der Unentbehrlichkeit. Freundschaft“

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mum was sich hieraus entwickeln kann, ist das Gefühl der Unentbehrlichkeit zweier Einzelner für einander, und das ist Freundschaft. Darin liegt: daß meine Lebenserregungen für mich allein ihren Werth verloren haben in Vergleich mit denen die mir im Zusammensein mit dem Freunde werden, d. h. in der fortgesetzten Theilnahme. Zwischen beiden liegt die Entwickelung aller persönlichen Relationen, auch die Antipathie, die sich eben daher entwickelt; denn indem ein Einzelner mir entgegentritt, so macht er auch einen Eindruck auf mich, und der Eindruck ist um so bestimmter, je ausgebildeter das ganze gesellige Leben ist, und das persönliche Dasein heraustritt. Das Überwiegende im ersten Zusammentreten muß aber immer die Möglichkeit der gegenseitigen Theilnahme sein, also auch die Aufforderung das erhöhte Bewußtsein durch die Theilnahme zu befriedigen. Das | kann aber seine Hemmungen finden, wenn zwei finden, daß sie gegen sich incommensurabel sind, daß die Theilnahme beider nicht gehörig erregt wird. Eine bloße Verschiedenheit macht keine Antipathie, und eine bloße Gleichheit keine Freundschaft. Hieraus können wir auch sehen, in welchem Umfange der Gegensatz eingeschlossen ist. Je größere Empfänglichkeit ein Einzelner hat, desto weniger Antipathie wird er haben können, desto leichter wird er alles in sich aufnehmen und nachbilden können; je geringer die Empfänglichkeit, desto mehr Antipathien. Je größer ferner die ausströmende Kraft, desto leichter ein Verhältniß von Unentbehrlichkeit, aber desto leichter auch, wenn geringere Receptivität da ist, Antipathie. Das Minimum ist Gleichgültigkeit gegen beides. – Die Ungleichheit ist von der einen Seite natürlich, da sie bedingt ist durch die Erfahrung, wie die Ungleichheit zwischen Jung und Alt; die andere ist eine persönliche, welche eintritt nach Maaßgabe der Verschiedenheit der Kräfte, und entweder eine intellectuelle, oder eine aus den geselligen Relationen hervorgegangene sein kann. – | In dem einen ist ein Gefühl von Bedürftigkeit, das ihm entsteht, wenn ihm ein anderer entgegentritt, und also der Zustand eintritt, wo er das erhöhte Subject hervorbringen soll. Tritt der Mensch einem entgegen der viel höher steht, so entsteht das Gefühl der Bedürftigkeit, das sonst nicht da ist. In dem Vollkommenern entsteht das Gefühl des Überschusses der Kraft, daß er vermag das Leben des ihm Entgegentretenden zu steigern. Daraus entwickelt sich dann eine Relation, die eben dadurch begrenzt ist, daß der Ungleichheit immer eine Gleichheit zum Grunde liegt, nämlich die Gleichheit liegt in dem Vermögen des einen, von der Vollkommenheit des andern afficirt zu werden, der andere hat aber die Vollkommenheit in seinem Bewußtsein, wird also 2 Einzelner] Einzelnen

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auch davon beständig afficirt, und das ist die Gleichheit. Es kann also eine Abstufung der Ungleichheit geben nur in dem Maaße, als die Menschen in einem und demselben geselligen Kreise leben oder nicht; je größer dieser Kreis wird, desto bleicher das Gefühl, je kleiner die Kreise, desto größer die Relationen der Ungleichheit. – Das Gefühl des Unvollkommeneren gegen den, welchen er für vollkommener hält, für einen solchen, der sein Dasein steigern kann zu der Idee des | menschlichen Daseins, ist das Gefühl der Ehrfurcht. Umgekehrt, das Gefühl des Vollkommeneren gegen den Unvollkommeneren ist die herabsteigende Liebe, das Gefühl zu schützen und zu fördern und leitendes Princip zu sein; es ist ein Bestreben, die Ungleichheit aufhören zu machen, welches in dem correspondirenden Gefühl der Ehrfurcht nicht gesetzt ist, und daher die Ungleichheit potenzirt. Nach diesem Maaße unterscheiden [wir] Reinheit und Unreinheit des Verhältnisses.

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Ein und dreißigste Vorlesung. Inhalt: Wie das Constante sich erst aus dem Momentanen herausbildet. – Von dem Ehrgefühl. Von dem Streit des persönlichen und des gemeinsamen Bewußtseins. – Auflösung dieses Streits in einen weichlichen oder selbstsüchtigen Gegensatz, wenn das gemeinschaftliche Maaß für die Beziehung des für beide Persönlichen auf das Gemeinsame in ihrem Bewußtsein fehlt. Gehört aber dies alles in das Gefühl? Es ist von Freundschaft geredet, und darin liegt doch schon ein Handeln. Es ist in der That schwer diese [aufnehmende und ausströmende Thätigkeit] ganz aus einander zu halten. Das Gefühl geht in eine Thätigkeit aus, diese ist die Reaction desselben, und ist dasjenige woran wir das Gefühl messen können. Es ist daher besonders festzuhalten, was gesagt ist, wie sich das Constante erst aus dem Momentanen herausbildet, worin liegt, daß die Handlung | erst Resultat des Gefühls ist. Dasselbe ist beim Verhältniß der Ungleichheit eben so, wenn wir nämlich von allem specifischen abstrahiren. Das Verhältniß der Aeltern und Kinder ist z. B. kein momentanes; aber abstrahirt man von allem Specifischen, und denkt eine Ungleichheit, so wird das Gefühl der Ehrfurcht selbst ein momentanes, ein wirkliches Lebensverhältniß entsteht erst, wenn die Lebenskreise so zusammenfallen, daß das Gefühl öfter wiederholt werden kann. Wir werden noch auf das Ehrgefühl geführt. Es hat eine Seite, von welcher betrachtet es dem Specifischen angehört. Wenn wir sagen: es 14 unterscheiden] unterscheiden nach diesem Maaßstabe

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ist die Art wie unser erhöhetes Dasein von andern aufgefaßt wird, so hat es eine gewisse Grenze und scheint specifisch zu sein. Wir sehen in der Regel diejenigen allein als solche an, die uns beurtheilen können, die mit uns eines Volkes sind. Von dieser Seite her würde es nicht hierher gehören. Wir legen hier das Fragmentarische des gemeinsamen Lebens zum | Grunde. Aber dieser Gegensatz zwischen Allgemeinem und Specifischem ist im Grunde auch nur fließend, denn jenes indem es hervorgebracht wird knüpft sich immer an dieses an; und so gehört dies Gefühl demnach hierher, weil von ihm aus sich ein constantes Verhältniß bildet, und weil es dasjenige ist, worauf die Bestimmung der Lebensweise der Menschen beruht. Von allem Specifischen abgesehen, müssen wir sagen: wo uns Menschliches außer uns entgegentritt, wird das ganze Bewußtsein über dem Persönlichen zu dem gemeinsamen erhoben, und das setzen wir als etwas Momentanes. Solange wir uns das Zusammentreffen des menschlichen Daseins und Wirkens in Raum und Zeit als zufällig denken, wird uns das Ehrgefühl nicht entstehen. Daher wenn sich die Menschen aus dem großen Kreise der Gesellschaft zurückziehen verliert sich das Ehrgefühl. Sobald wir uns aber denken, daß sich das Zusammentreffen mit andern Menschen wiederholt, so daß es im Allgemeinen angesehen etwas | Constantes wird, dann bildet sich das Ehrgefühl. Was ist es also eigentlich? Man hat es immer zu sehr auf das eigentliche Urtheil bezogen. Es ist aber gar nichts so Besonnenes, von der Reflexion Ausgehendes, daß es darin seinen Sitz hätte. Schon die Alten haben es so aufgefaßt: es sei ein Streben nach dem Beifall der andern, nach ihrem Urtheil, unser eigenes zu gestalten. Das ist es aber nicht, sondern das Ehrgefühl geht auf die Art, wie von andern unser höheres Dasein angesehen wird, als das Gemeinsame fördernd oder hemmend, und es ist also die beständige Vergegenwärtigung unseres Zusammenseins und Zusammengehörens mit den Menschen. – Ist es wohl möglich, daß von diesem Punct aus angesehen, das Ehrgefühl etwas Allgemeines werden könnte, d. h. daß wir auf alle Menschen in dieser Hinsicht unsern Zustand beziehen? Gehen wir dabei zurück auf das Gesagte, daß sich eben so gut im Fortgange des Lebens einzelne Antipathien entwickeln | als Sympathien, so wird das Ehrgefühl seine Grenze haben im Kreise der Sympathie, und wird sich nicht auf diejenigen beziehen wollen, welche in einem Verhältniß der Antipathie stehen. Je fremder uns des andern Ansicht ist, desto größer die Schwierigkeit zwischen uns ein gemeinsames Urtheil zu errichten. Nimmt ein solcher unser Dasein als hemmend für das gemeinsame Dasein, so ist es für 24–26 Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1159b–1160a; Opera 2,81; ed. Bywater 168–169

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uns kein Regulativ, es betrübt uns nicht. Anders ist es wenn ein specifisches Verhältniß gegeben wird, aber da geräth auch das persönliche Gefühl und das Gemeingefühl in Streit. Abstrahirt aber von den specifischen Verhältnissen hat das Ehrgefühl nur Bezug auf sympathetische Verhältnisse. Das Ehrgefühl hat aber zwei Seiten, eine positive und eine negative. Die negative ist die bloß abfallende, die warnende, das Gefühl, welches sich entwickelt, wenn ein Zustand oder eine Handlung vorgebildet ist als eine, die wir begehen wollen, in der Betrachtung der Art, wie sie von andern wird in das | allgemeine Bewußtsein aufgenommen werden; die positive ist die Voraussetzung, daß im gemeinsamen Bewußtsein Handlungen aufgegeben sind, denen auch wir uns unterziehen müssen, diese ist also die mehr bewegende Seite, aber dessen ungeachtet Gefühl, der Unlust über die Unlust im gemeinsamen Dasein in Beziehung auf die künftige Handlung, und der Lust über die Lust, die im gemeinsamen Dasein über dies oder jenes sein wird; das Gefühl ist also das Wesentliche dabei. Hier ist noch gar nicht von dem eigentlich Sittlichen im strengen Sinne des Wortes, sondern nur vom Geselligen überhaupt die Rede, welches darauf beruht, daß wir uns das gemeinsame Bewußtsein nur denken als bestehend in dem Zusammentreffen mit den Einzelnen, und also sich daraus entwikkelnd und daran anschließend, daß wir von einem Gefühl, und nicht von einem Princip des Handelns reden. Hier ist etwas allgemeines bezeichnet, was wir unmittelbar auch aus dem Sittlichen | ausschließen. Nämlich wenn wir von allem Specifischen abstrahiren, und nur sehen auf das Zusammentreffen eines andern mit uns, so wird dieser nicht in einer rein sittlichen Beziehung in unser Bewußtsein aufgenommen, sondern nur in Beziehung auf den Punct, auf welchem er in unsern Lebenskreis eintritt. – Es wird nun noch etwas zu sagen sein über die Art, wie in dem Auseinandertreten des persönlichen Bewußtseins und des allgemeinen beides in Streit gerathen kann. Dies ist das Gebiet aller Affectionen, denen wir in ihrer Wiederkehr einen leidenschaftlichen Character zuschreiben. So wie uns ein menschliches Dasein außer uns erscheint, so wird es von dieser Seite in die Identität unseres Daseins aufgenommen, wodurch ein erhöhendes Bewußtsein entsteht, weil das Lebensgefühl sich verdoppelt. In einzelnen Fällen kann das Gegentheil entstehen, aber dann ist es erst aus etwas Besonderem zu erklären, warum das Zusammentreffen mit einem andern stört. | Das Grundgefühl ist ein angenehmes. Das Gefühl aber ist nur in dem Erhöhen der Lebensfunction oder im Herabstimmen derselben, aber nicht in dem ruhigen Fortgange weder der erhöhten noch der herabgestimmten. Also dieses Grundgefühl ist zwar etwas, was jedesmal entstehen wird bei einem Zusammentreffen mit dem andern, aber es wird verringert in demsel-

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ben Maaße, als wir das Zusammensein mit andern schon als etwas Constantes setzen, und nun tritt das Gefühl ein, je nachdem wir im constanten Verhältniß eine Erhöhung oder eine Herabstimmung erwarten. Hier ist zu unterscheiden: derjenige der uns erscheint, wird in unser Bewußtsein mit aufgenommen mit dem Zustande in dem er erscheint, welches Bewußtsein allmählig entsteht durch Mittheilung. Ist der Zustand ein angenehmer, so wird er es auch uns und wir empfinden Freude, ist er ein unangenehmer, so kommt in uns Mitleid, und es bewirkt mit dem angenehmen Grundgefühl ein | unangenehmes. Wenn nun mein eigener persönlicher Zustand in der Aufforderung zur Theilnahme an seiner Freude ein unangenehmer ist, so entsteht Zwiespalt, und eben so, wenn mein Zustand ein angenehmer ist, wenn der andere mit dem Anspruch auf Mitleid kommt, so entsteht Streit. Diese beiden können sich nicht so einigen, wie das allgemeine Grundgefühl gegen das specielle, sondern müssen in Conflict mit einander gerathen. Dieser Conflict an sich ist nicht Unrecht, sondern etwas Natürliches und Nothwendiges. Die Theilnahme aber ist nie einseitig, sondern eine gegenseitige, indem also in mir der Conflict entsteht, muß er auch in dem andern entstehen. Indem in beiden Beides entsteht, so muß eine Auflösung in das allgemeine entstehen, und ein gemeinsames Bestreben. Da ist aber ein zwiefacher Gegensatz möglich: 1) der weichliche, der sentimentale, wenn jeder sein Persönliches unterordnen, und dem Persönlichen des andern den Vorrang geben will; 2) der selbstsüchtige, wenn jeder verlangt, daß der andere sein Persönliches unterordnen soll. | In beiden vernichtet sich das gemeinsame Bewußtsein (ein Theil davon bleibt übrig), und in beiden ist ein Conflict des persönlichen Bewußtseins mit dem Gemeinsamen. Damit der Conflict nicht entstehe wird erfordert ein gemeinsames Maaß für die Beziehung des für beide Persönlichen auf das Identische in ihrem Bewußtsein. Ist das gemeinsame Maaß in beiden nicht, so entsteht ein leidenschaftlicher Zustand, wenn der selbstsüchtige, und ein gänzlich aufgelöster Zustand, wenn der weichliche Conflict dominirt.

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Zwei und dreißigste Vorlesung. Inhalt. Stufen in dem Streit der geselligen Gefühle. Neid und Schadenfreude. Zorn. – Unwille. – Einfluß des Körperlichen auf die geselligen Gefühle. Erste Stufe. Wenn einer auf beharrliche Weise Mitleid verlangt, der andere aber auf beharrliche Weise es nicht empfindet, so entsteht im 26 (ein Theil davon bleibt übrig)] am Rand markiert mit ?

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erstern der Neid. Wird aber der zweite selbst des Mitleids bedürftig, so entsteht in dem andern Schadenfreude. Die zweite Stufe sind diejenigen Gefühle, wo ein gemeinsames Bewußtsein dem persönlichen untergeordnet wird. Hierher gehört der Zorn, welchem immer ein | gemeinsames Bewußtsein zum Grunde liegt, die Voraussetzung, es sei eine Relation zwischen dem einen und dem andern, aber die persönliche Dignität sei nicht recht aufgenommen. Ein Zustand, wo ein constantes Verhältniß zwischen dem erhöhten und dem persönlichen Bewußtsein statt findet und dieses jenem untergeordnet wird, ist eine dritte Stufe des Gefühls, und geschieht in dieser dasselbe, so ist es kein Zorn sondern Unwille. Welcher Unterschied ist zwischen beiden? Der Unwille wird ganz derselbe sein, wenn das Unrecht einem andern begegnet, der auch in die Sphäre des erhöheten Bewußtseins aufgenommen ist. Im Zorn liegt das Bewußtsein der Persönlichkeit. So entsteht also das erhöhete Bewußtsein erst allmählig. Zuerst ist bloß das Schema dazu; dann ist es zwar da, wird aber bloß da realisirt, wo etwas sich auf das Persönliche bezieht, zuletzt ordnet es selbst das Persönliche unter. Das letzte bezeichnet einen Zustand, der immerfort im Construiren | der geselligen Verhältnisse begriffen ist, nicht im Begriff, sondern im unmittelbaren Selbstbewußtsein, welches immer darin begriffen ist, ein gemeinsames Bewußtsein hervorzubringen. Dies ist nur das Resultat des Festhaltens des erhöheten Bewußtseins. Dieser Zustand kann also erst die Frucht von vielfältig in einander verschlungenen geselligen Relationen sein, und muß erst die früheren Stufen durchlaufen haben. Einige aber meinen: der Unterschied zwischen diesem und dem persönlichen sei bloß erkünstelt; andere: natürlich. Nimmt man ursprünglich Einen Menschen an, so muß man freilich die Seele des Einzelnen isoliren, und alles auf die Persönlichkeit beziehen. Aber das Gesellige ist jedem gegeben, und darauf beruht die Voraussetzung, daß das Gesellige das Ursprüngliche ist im Menschen, und daß auch da, wo es auf das persönliche Selbstbewußtsein ankommt, jeder Mensch sich doch nur als Fragment des erhöhten Bewußtseins in sein eigenes Bewußtsein aufnimmt. – | Das Körperliche, was sich auch allem Geselligen mehr oder weniger mit einmischt, und am meisten, was zwischen zwei Personen entsteht in allen Verhältnissen von Sympathie und Antipathie, ist noch ein Räthsel. Auf dem Gebiet des Spezifischen haben wir in der Geschlechtsverschiedenheit es leicht, die körperliche Einmischung in das geistige Gebiet zu begreifen, aber auf dem allgemeinen Gebiet ist es schwer zu erklären; aber es ist doch unleugbar. Der eine ist freilich mehr, der andere weniger diesen körperlichen Eindrücken hingegeben, aber keiner wird sein, der nicht schon durch die bloße körperliche Persönlichkeit eingenommen oder abgestoßen wäre, ohne eine geistige

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Berührung gehabt zu haben. Mit dem Physiognomischen ist es nicht zu erklären, denn was rein instinctartig ist, erklärt man da als geistige Operation, die nicht da sein könnte ohne Bewußtsein. Man sagt das Bewußtsein verschwindet wegen der Schnelligkeit der Operation, allein es ist mit dieser Erklärungsart auch nichts, denn wenn einem Aufmerksamkeit auf das innere | Thun meiner Seele abgezogen wird durch die äußern Verhältnisse, so müßte im Resultat dasselbe sein, es müßte auch zurücktreten, es tritt aber hervor. Dasselbe äußert sich schon bei Kindern. Kinder die allgemeinere Empfänglichkeit haben, haben bestimmte Sympathien und Antipathien, und man kann nicht anders als von einem körperlichen Einfluß dabei ausgehen, nur ist er schwer zu erklären. Als wir von dem Gefühl sprachen in seinen ersten rein physischen Operationen, so sahen wir dieses Selbstbewußtsein an als die Einwirkung der Athmosphäre. Das findet sich auch immer bestätigt. Wir fanden Zusammenhang zwischen dem Aufnehmen der Atmosphäre durch die Haut und der Respiration. Jene Gefühle nun knüpfen sich an diese an, da sie auch durch Respiration entstehen; es muß dabei jedesmal eine erhöhte oder bedrängte Respiration sein. Die eigentliche Respiration hat einen Puls, die allgemeine nicht. Näher betrachtet ist das aber nur ein Unterschied des Grades. Dazu ist man veranlaßt durch eine Menge physischer Phänomene dem | Menschen eine eigentliche sensible Atmosphäre zuzuschreiben, d. h. einen Kreis, in welchem dies eigentliche Spiel zwischen der Atmosphäre und seinem Organ fixirt ist, so daß je näher man jemand ist, desto mehr Berührung mit seiner eigentlichen sensiblen Atmosphäre. Hiemit allein werden wir aber schwerlich ausreichen. Ein anderes Phänomen ist, daß das Auge des Menschen, das weiter reicht als die sensible Atmosphäre eine physische Einwirkung macht auf einen andern, welches die von dem Auge ausströmende Lichtthätigkeit ist, worauf die Alten soviel Werth legten, daß sie das Sehen allein als Wirkung der ausströmenden Lichtthätigkeit ansahen. Aus diesen beiden muß man die plötzlichen Eindrücke des Wohlgefallens oder Mißfallens erklären. Verkehrt würde es aber sein, wenn wir dies isoliren und es vom Geistigen trennen wollten. Es muß hier etwas geben, was als physisches Moment angesehen ein Minimum ist, was aber nicht Minimum ist, wenn man auf seinen geistigen Gehalt sieht, sondern was ganz vom Psychischen ausgeht, und | darum auch unmittelbar auf das Psychische zurückwirkt. Das Ganze scheint also zurück zu gehen auf das 1 Physiognomischen] Physionomischen 26–31 Vgl. z. B. Platon: Timaios, insbesondere 45b–d; Opera 9,333–335; Werke 7,76–79

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Verhältniß oder Mißverhältniß im Quantitativen oder Qualitativen zwischen den Einwirkungen desjenigen der uns erscheint und den unsrigen; daher die Eindrücke immer gegenseitig sind. Entgegengesetzte Eindrücke sind unnatürliche Ausnahmen; natürlich ist nur ein ganz gegenseitiger Eindruck; oder der eine hat einen, der andere nicht, welcher so beschaffen sein müßte, daß er mehr Empfindung für seine ausströmende Thätigkeit, weniger für die fremde ausströmende besäße. Schleiermacher giebt dies nicht für eine vollkommene Erklärung des Phänomens aus, sondern nur für einen Leitfaden dazu zu gelangen. Der Eindruck muß der nämliche sein als der anderer äußerer Potenzen, er muß einen physischen Gehalt haben, und psychisch zurückwirken. Dagegen warnt er, daß man es nicht löse dadurch, daß man ein comparatives Verfahren der Seele annimmt, was niemals unbewußt sein kann. – |

Drei und dreißigste Vorlesung.

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Inhalt. Parallele der Entwickelung des Gefühls mit der der Wahrnehmung. – Wie verhalten sich die in der Erfahrung gegebenen Gemüthszustände, die auf die Idee der Gottheit gehen, zu dem bisher Aufgezeigten? Wir knüpfen wieder an von wo wir abgeschweift sind. Dieser Punct konnte erst nach Darlegung aller geselligen Verhältnisse kommen. Das gesellige höhere Bewußtsein ist überall das dominirende, und wo es dies auch ganz ist, da ist doch noch solcher augenblicklicher Eindruck häufig. Denken wir uns auch die reinsten Affectionen, und jemanden, der seine Persönlichkeit ganz in seiner Gewalt hat, so wird er doch immer geneigt sein, diesem Eindruck Einfluß zu verschaffen. Dies hebt die verschiedenen Abstufungen die wir gemacht haben nicht auf, weil es völlig bewußtlos ist und an das Unwillkührliche grenzt, und erst, nachdem die That da ist, ins Bewußtsein tritt. – Wenn wir nun den aufgestellten Umriß der geselligen Gefühle betrachten, und davon ausgehen, daß das gesellige Fühlenwollen dieselbe Thätigkeit der Seele ist wie das ursprüngliche sinnliche Fühlenwollen, daß die höhern Gefühle schon in den niedern impliciter mit darin sind, daß schon immer die | dunkle Gesammtsphäre des Bewußtseins auch auf der niedrigsten Stufe ist, daß also die Seele angesehen werden muß, als in dem Aufsuchen des Menschlichen begriffen, um jede Richtung auf ein geselliges 11 äußerer] äußeren

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Bewußtsein zu realisiren, so ist dies ganz parallel mit dem von der Wahrnehmung Gesagten. Der Punct, den wir als neue Evolution auf der Seite der Wahrnehmung annahmen, war die Sprache, hier auf der Seite des Gefühls ist dieser Evolutionspunct die Entgegensetzung des Ich allem Übrigen. Sowie jener aber auch nicht als eine Form des Bewußtseins erscheint, sondern bloß als Fortsetzung der frühern Operation, ebenso müssen wir sagen, daß auch hier dieser Punct keineswegs als eine neue Form des Gefühls anfängt, sondern sich an den vorigen ganz genau anschließt, daß in dem ersten persönlichen Gefühl auch das Mitsetzen des Geselligen schon dunkel liegt. Auf der Seite des Erkennens gewinnen hernach alle Operationen, die an der Sprache hängen, | so die Oberhand, daß auch alle Wahrnehmungen nur in sofern ins Bewußtsein übergehen, als dabei auch gedacht wird, das Wahrgenommene in die allgemeinen Bilder aufgenommen wird. So auch hier. Das gesellige Gefühl gewinnt bald so sehr die Oberhand, daß auch jenes aus den Erregungen der Natur ausgehende Bewußtsein, nicht anders ins Bewußtsein aufgenommen wird, als daß es den Ton der geselligen Empfindungen entweder hebt oder senkt, so daß das gesellige Gefühl jedes andere hebt und der Maaßstab davon ist. Dies ist aus der Erfahrung klar. – Wir müssen nun noch eine Stufe weiter gehen. Es ist schon gesagt: Auf der Seite des Erkennens erscheint der aufsteigende Prozeß, wodurch sich das Allgemeine aus dem Besondern bildet, als der ursprüngliche, und ihm gegenüber stand der wissenschaftliche Prozeß, der sich von jenem da unterscheidet, wo er den umgekehrten Prozeß anhebt, das Herabsteigen vom Allgemeinen zum Besonderen. Es ist nachgewiesen, | daß beides immer in einander sein muß, wo wir ursprünglich etwas erkennen wollen, daher kein anderer Unterschied war zwischen dem Erfahrungsgebiet und dem Wissenschaftsgebiet, als die Ordnung die in dem einen liegt, und in dem andern nicht liegen kann; die Seele sei aber in beiden im Realisiren des Begriffs der Welt begriffen. Nun sagten wir: es kommt in der Seele die Idee der Gottheit mit vor, wodurch aber zu unserem Erkennen nichts hinzukommt, und wurden dadurch veranlaßt, diese ursprünglich mehr auf das Gefühl zu verweisen. Wir müssen also hier fragen: wie die in der Erfahrung gegebenen Gemüthszustände, die auf die Idee der Gottheit gehen, sich zu dem bisher Aufgezeigten verhalten? Wir setzen den angefangenen analytischen Prozeß weiter fort. Wo wir uns im Zusammensein mit andern Menschen finden, erhöht sich das Selbstbewußtsein, das abgesondert hievon rein persönlich ist, zu einem gemeinsamen. Beides ist dann immer in einander. Das Gemeinsame | wird die Basis des ganzen Zustandes, das Bestimmte des einzelnen Momentes ist die Persönlichkeit des einen und des andern. Indem wir die verschiedenen Abstufun-

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gen des geselligen Gefühls, und die Beziehung des geselligen Bewußtseins auf das persönliche wahrgenommen haben, so mußten wir als das Höchste setzen, wo kein Streit zwischen beiden mehr ist, wo das Selbstbewußtsein erhöht ist, nicht zu einem zufälligen gemeinsamen Bewußtsein, sondern zu einem gemeinsamen Bewußtsein, welches eine Totalität umfaßt, worin alle gemeinsamen Verhältnisse mit allen Menschen gleich gemessen werden, d. h. es entsteht das Bewußtsein der ganzen menschlichen Natur, der ganzen geselligen Welt. Indem wir den einzelnen Menschen dachten im Zustand des Gefühls, hatten wir nichts anderes ihm gegenüber zu stellen, als die äußere Natur, sofern sie ihn nicht zum Erkennen bestimmte. Denken wir uns nun das Selbstbewußtsein erhöht zum Bewußtsein der menschlichen Natur, so können wir damit wieder den Menschen der Natur | gegenüberstellen, und dann wird sich finden, daß alle Gefühle, die das Resultat von Natureinwirkungen sind, nur vermittelst des geselligen Gefühls auf das persönliche Selbstbewußtsein bezogen werden. Dann ist aller Gegensatz zwischen dem einzelnen Menschen und andern ganz aufgehoben. Es besteht nun aber immer noch der Gegensatz zwischen dem Selbstbewußtsein der ganzen menschlichen Natur, und der äußern, und da bleibt also immer möglich, daß die letztere eben sowol die Veranlassung zur Förderung des Lebensprozesses als zur Hemmung sein kann. Es muß nun aber nothwendig die Aufgabe kommen, in dem Selbstbewußtsein die Möglichkeit des Streites zwischen uns und der uns umgebenden Natur aufzuheben. Dies muß uns bis auf diesen Punct gekommen leichter werden, als den Unterschied des persönlichen Bewußtseins aufzuheben. Worin liegt die Aufhebung? Im Bewußtsein der Gottheit, denn in diesem ist die menschliche und äußere | Natur, die intelligente und reale Seite des Daseins, als absolut Eins und dasselbe gesetzt, und das ist die Forderung die wir aufstellen, daß in demjenigen, dessen Selbstbewußtsein mit dem Bewußtsein der Gottheit durchdrungen ist, alle Wechsel des Angenehmen und Unangenehmen sich eben dadurch ausgleichen. Diesen Zustand bezeichnet der Ausdruck Seligkeit, das Sichgleicherhebenkönnen über jeden Wechsel des Angenehmen und Unangenehmen. – Indem wir uns die Sache auf diesem Wege dargestellt haben, der aber erst durch die Entwickelung der Totalität aller geselligen Relationen gefunden ist, nun auch hier erst die Aufhebung des Streites zwischen dem Menschen und der Natur aufgehoben werde, so entsteht wieder der Schein, als ob die Idee der Gottheit, und alles was davon abhängt nur eine hinzukommende sei. Deßhalb müssen wir sagen: Die Seele ist eben so ursprünglich schon in dem Realisirenwollen der Gottheit in ihrem unmittelbaren | Selbstbewußtsein begriffen, wie sie im Wahrnehmen im Realisirenwollen der Welt begriffen ist. An jenem

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Schein bleibt soviel Wahres, daß, wie ja das die beständige Erfahrung lehrt, allerdings diese höchste Entwickelung des Selbstbewußtseins, worin die absolute Einheit alles Lebens mitgesetzt war, daß diese als bestimmter Inhalt immer erst nach dem Geselligen sich entwickelt und aus ihm hervorgeht. Die Analogie aber und die Zusammengehörigkeit dieser verschiedenen Formen des Gefühls, des persönlichen Bewußtseins, des geselligen und des religiösen ist so ganz unmittlebar deutlich; denn wenn wir uns den Menschen denken in einem solchen Wechsel des erhöhten und verminderten Lebensprozesses, in welchem immer ein Streit seines Daseins mit den Potenzen außer ihm liegt (denn indem eine Natureinwirkung eine Verminderung eines Lebens hervorbringt, so ist Streit da) wenn wir also dieses hier und auf dem geselligen Gebiet denken, so kann dieser Zustand zwei Ausgänge haben: | die Wiederherstellung des Gleichgewichts, und das Hervorbrechen des Streites. Was ist nun in allem Wechsel der Zustände der Grund der Wiederherstellung des Gleichgewichts? Es ist überall das latitirende religiöse Element, das erst zum Bewußtsein kommen kann in der allmähligen Stufenleiter. Wenn wir diesen innern Zusammenhang im Bewußtsein aufstellen, wird wol keine Frage mehr sein, ob das Gefühl der Gottheit ein natürliches oder ein erkünsteltes sei.

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Vier und dreißigste Vorlesung. Inhalt: Das religiöse Gefühl steht mit dem geselligen immer auf gleicher Stufe. Durchgehende Analogie zwischen dem Gebiet des Gefühls und dem des Denkens. – Von den Gefühlen des Schönen und Erhabenen.

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Wir haben eine untere Stufe des geselligen Gefühls angenommen, und dieser entspricht das dumpfeste religiöse Gefühl in seiner untersten Stufe, wo die Idee des höchsten Wesens in ein einzelnes Ding hineingebannt ist. Im complicirteren Verhältniß des Menschen wird häufig die Ausgleichung, die im Bewußtsein der absoluten Einheit zu suchen ist [ ] und nur erst wo wir ein Bestreben finden, den Streit aufzulösen zwischen dem erhöhten Bewußtsein und dem persönlichen auf eine vollkommene Weise, da ist | das religiöse Gefühl in seiner Vollkommenheit da. Das religiöse Gefühl steht also mit dem geselligen immer auf gleicher Stufe. Bei den Alten hat das Gefühl keinen andern Namen als die Entwickelung des geselligen Bewußtseins, die Richtung des Ge30 ist] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl gegeben (vgl. Berliner Nachschrift, S. 249)

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müthes das persönliche Bewußtsein dem gemeinsamen unterzuordnen, Pietät, und beides ward als identisch angesehen. Das Gegentheil davon war der Übermuth, das Sichauflehnenwollen des Einzelnen gegen die Macht der Natur. Gehen wir recht in den Mittelpunct der Sache, so ist dasselbe auch von der andern Seite zu finden. Im persönlichen Gefühl ist der Gegensatz der Lust und Unlust. Im geselligen Gefühl wird dieser Gegensatz untergeordnet dem erhöheten Bewußtsein. Das erhöhte Bewußtsein wird aber selbst persönlich, und so ist der Gegensatz wieder da nur auf andere Weise. Im religiösen Gefühl ist die höchste Stufe das vollkommene Unterwerfen unter die Gottheit, das vollkommene Mitgesetztsein der Gottheit mit dem Selbstbewußtsein. Von der untersten Stufe an aber muß | schon das Bestreben sein die Ungleichheit und den Streit aufzuheben, welches aber erst im vollkommenen Zustande vollkommen geschehen kann. Die Idee der Welt wird durch Constituirung des Erfahrungsgebietes erst chaotisch construirt. Erst die Wissenschaft bringt Ordnung in den Stoff nach den combinatorischen Ideen, deren Bewußtsein allmählig durch die Sprache entsteht. Am bestimmtesten tritt dies heraus im Gegensatz des Speculativen und der Erfahrung, im Gegensatz des Verfahrens aus dem Allgemeinen das Besondere, und aus dem Besonderen das Allgemeine zu finden. Dies war nun keine neue Potenz des Bewußtseins, weil die gewöhnlichen Acte sie in sich fassen als Regulator des Entgegengesetzten. Auf dieselbe Weise verhält es sich auf dem Gebiete des Gefühls. Auf der einen Seite ist gesagt: es zeigt sich wie wesentlich der menschlichen Seele sei die Beziehung aller Lebenszustände im Einzelnen auf die Idee einer absoluten Einheit des Lebens. Das zeige sich von Anfang an in dem Bestreben den Einzelnen gegen die andern auszugleichen, was aber geschehen kann, ohne daß die Gottheit ins Bewußtsein kommt, und ohne daß die Anbetung [und] die Unterwerfung entsteht. | Das ist freilich die niedrigste Stufe. Das besondere Hervortreten des religiösen Gefühls und das Bewußtsein der Gottheit steht in Analogie mit dem speculativen Verfahren auf dem Gebiete des Denkens. (Aber das häufige Hervortreten im Bewußtsein, Frömmigkeit, ist nicht in allen in gleichem Maaße vorhanden, sondern nach Maaßgabe der Größe ihres geschichtlichen Erfahrens.) Diese durchaus fortgehende Analogie ist der sicherste Beweis, daß das Ganze hier richtig aufgefaßt ist. Man kann aber leicht fragen: wenn es so ist, wie es gesagt ist, so steht die Idee der Welt auf der Seite des objectiven Bewußtseins eben da, wo die Idee der Gottheit auf der Seite des sub20–21 und aus dem Besonderen das Allgemeine] so Berliner Nachschrift, S. 250; Ms.: und aus dem Allgemeinen das Besondere 33–35 (Aber … Erfahrens)] am Rand markiert mit ?

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jectiven Bewußtseins steht; ist nun das aber auch das rein wissenschaftliche Verhältniß? Ist gar keine Unterordnung, sondern bloß Coordination? Die Frage entsteht hier, man muß sie aber, als für dies Gebiet nicht gehörig abweisen. Der Anknüpfungspunct ist der, daß die Idee der Welt auf der Seite des objectiven Bewußtseins ursprünglich entsteht. Haben | wir ein Gefühl der Welt, so ist es erst aus der Reflexion entstanden über das Wahrgenommene. Wo das Gefühl aber ursprünglich ist, da entsteht es nicht aus der Reflexion, sondern es ist als das erste da, und die Idee der Gottheit ist darin mitgesetzt. Damit ist aber nicht benommen, ob nicht die Idee der Gottheit durchaus für die Wissenschaft auch voraus gesetzt werden muß, wenn die Idee der Welt richtig construirt werden soll. Schleiermacher enthält sich nun auch eine weitere Auseinandersetzung der verschiedenen religiösen Formen zu geben. Das eigentliche religiöse Grundgefühl ist das der Anbetung, wo aller Gegensatz zwischen Lust und Unlust auf dem höhern und niederen Gebiet verschwindet. Dagegen werden wir sagen: es kommt ja das religiöse Gefühl auch unter der Form dieses Gegensatzes vor, aber das ist nur auf abgeleitete Weise, indem unser Zustand einem Maaß unterworfen wird; indem wir eine Idee haben, in welchem Maaße das religiöse Gefühl permanent sein und jede sinnliche Erregung gleich von dem höheren religiösen verschlungen werden kann, und in welchem Maaße vorübergehend. | Je nachdem Hemmung oder Erhöhung auf diese Weise kommt, ist auch der Gegensatz auf abgeleitete Weise da. – Indem unser Erkennen uns Gegenstand der Betrachtung wird, und ein Gefühl daraus entsteht, so entsteht etwas ganz Neues, das sich nicht auf etwas unmittelbar Gegebenes, sondern auf unser Auffassen bezieht. Hierher gehört alles, was wir mit dem Worte Geschmack im höhern Sinne zusammenfassen. Man pflegt es zu theilen in das Gefühl des Erhabenen und des Schönen. Alle Empfindungen dieser Art sind nicht die unmittelbaren, die das Dasein der Gegenstände als solcher hervorbringt, sondern das Gefühl bezieht sich nur auf das Aufnehmen in das Erkennen. Die ersten Thatsachen des Gefühls betreffen, wie auf unmittelbare Weise jeder Gegenstand erhöhend oder hemmend auf unsern Lebensprozeß einwirkt. Vergleicht man damit das Gefühl, was eine romantische Gegend hervorbringt, so wird beides sehr bestimmt unterschieden sein, und nicht das eine angesehen werden können als eine Steigerung des andern, als bloß höherer Grad. Wenn man in einer sehr | schönen Gegend ist, und es dabei sehr regnet, so erweckt letzteres ein unangenehmes Gefühl, während ersteres ein sehr angenehmes gewährt. Beide Gefühle vermischen sich aber nicht, sondern sind ganz 33 Gefühls] Gefühls,

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auseinander. Das erstere hängt aber von der Wahrnehmung ab. Der Eindruck den eine schöne Natur hervorbringt ist ein ganz anderer als der Eindruck von Sympathie und Antipathie, und beides kann auf entgegengesetzte Weise verbunden sein. Dies Gefühl hängt ebenfalls ab von der Art wie der Gegenstand ist wahrgenommen, und was sich nachher an die Wahrnehmung angeschlossen hat. Die Kunstproducte machen auch nur Eindruck, sofern sie in das Erkennen aufgenommen worden sind. Man sagt: Das Gefühl des Schönen trete gewöhnlich zurück, wenn man auf critische Weise dem Kunstwerk entgegentritt, das Gefühl trete nur hervor im unmittelbaren Eindruck. Das ist aber gar nicht dagegen, denn das ist eine ganz andere Betrachtung wie wir meinen, denn wir meinen nicht das anatomische, und [ ] Erkennen, welches das Gefühl des Schönen zerstört, weil es nicht mehr auf die Einheit des Gegenstandes geht, | sondern ihn zerlegt, aber deßhalb wird niemand den Eindruck einer schönen Gestalt herleiten vom ursprünglichen Gefühl, sondern das Gefühl muß doch erst aus dem Bilde entstehen. Was ist es denn, was sich an unser Wahrnehmen erst anschließen muß, damit jener Eindruck entstehe? Dies Hinzukommende ist erst das Fundament dieser Gefühle. Hierüber sind die verschiedensten Ansichten, die den verschiedenen ästethischen Systemen zum Grunde liegen. Welche Stufe des objectiven Bewußtseins ist es, worauf die Geschmacksgefühle beruhen?

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Alle eigentlichen Wirkungen der Kunst gehören in unsere Betrachtung nicht, denn die Kunst ist selbst eine Production des Menschen, gehört also in die ausströmenden Thätigkeiten, und die Wirkung in der Anschauung davon ist nur durch diese Production. Zwar ist die Wirkung zusammen mit dem Gefühl des Schönen und Erhabenen, und ohne letzteres wäre gewiß die Production nicht, aber es ist doch bestimmt geschieden das Gefühl vor und nach der Production. Dieses Gefühl ist ein solches, welches durch das Erkennen durchgegangen ist, und sich darauf bezieht, | also dadurch vom organischen Gefühl geschieden. Was ist es denn für ein Erkennen, worauf sich alle diese Gefühle beziehen? Hierüber sind viele verschiedene Ansichten auf gestellt, auf die wir uns nicht einlassen können, sondern wir müssen an dem selbstgesponnenen Faden anknüpfen. Wir haben die erkennende Thä12 und] es folgt ein Spatium für ein Wort

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tigkeit von Anfang an als dieselbe angesehen, als die Richtung die Idee der Welt zu construiren. Unsere Frage kann hier nur zeigen, ob diese Gefühle auf einem bestimmten Gebiete haften, d. h. an den Gegenständen, oder ob sie an einer gewissen Entwickelungsstufe des Erkennens selbst haften. Was das letzte anbetrifft, so ist offenbar, daß diese Gefühle erst auf einer gewissen Entwickelungsstufe entwickelt werden. Nun haben wir nichts anderes, als die allmählige Entwickelung der Idee der Welt, woran wir den Fortgang des Erkennungsprozesses gehaftet haben. Also muß erst die Idee der Welt bis auf einen gewissen Grad entwickelt sein, wenn der Mensch etwas anmuthig schön, erhaben finden soll; daher betrachten die Menschen aus unteren Ständen die schönsten Naturerscheinungen mit Indifferenz. | Diese Gefühle werden aber doch immer durch einzelne Gegenstände bewirkt, und zwar nicht durch alle, sondern nur durch einige. In den Kreis dieses Gefühls gehört auch, was das analoge Mißfallen erregt. Das Gleichgültige ist nur davon ausgeschlossen. Aber auch darin ist zu unterscheiden, denn wenn ein Gegenstand uns gleichgültig läßt, aber ihm analoge Gegenstände doch das Gefühl erregen können, so ist dieser zu unterscheiden von den Dingen die gar kein Gefühl erregen können. Wo liegt also die Grenzlinie, sowohl in dem Entwickelungsgrade als in den Gegenständen? Sehen wir auf den Entwickelungsgrad, so mußte nun eine gewisse Leichtigkeit sein von Einzelnen zur Idee der Welt überzugehen. Hier liegt die Differenz der Bildung. Nur erst da, wo der Mensch nicht mehr bloß mit dem sinnlichen Dasein zu thun hat, ist dies Gefühl möglich. Was hat denn ursprünglich die Idee der Welt zu thun mit dem Gefühl des Schönen und Erhabenen? Das scheint nicht viel zu sein. Es giebt durchaus nichts, was so ausgeschlossen wäre dieses Gefühl zu erregen, als das Mathematische. | Es hat mit der Größe zu thun, und es ist auch die allgemeine Meinung, daß das Gefühl des Erhabenen es mit der Größe zu thun hat. Aber dies ist nicht der Fall, sofern sie ein ruhendes Räumliches ist. Die Größe für sich erregt gewiß kein Gefühl des Erhabenen. Das Mathematische kann es darum nicht erregen, weil keine Anschauung dabei ist, sondern bloße Abstraction. Die Anschauung beruht aber auf dem Spiel der Kräfte, und das eben ist es was zum Grunde liegt. Wo kein Spiel der Kräfte uns lebendig wird, da ist weder das Gefühl des Anmuthigen noch des Erhabenen. Hieraus scheint hervorzugehen, daß das Todte diesen Eindruck nie machen kann. Dagegen wird niemand etwas haben, denn wenn die Natur das eine oder das andere Gefühl giebt, so kann sie dies nur, sofern wir sie als lebendig setzen. Im Spiel der Kräfte ist allemal auch das Gebiet des Gegensatzes, und in die 26 Erhabenen?] Erhabenen.

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Kräfte selbst ist allerdings die Quantität gesetzt; und dies sind die Puncte wo beide Gefühle aus einander gehen. Wenn ein Mensch mit Leichtigkeit von einem Gegenstande zur Idee der Welt übergehen kann, | so wird man sagen müssen: wenn etwas an und für sich ein solches Bild der Welt ist, daß der Gegensatz darin aufgegeben erscheint, daß es als ein in sich Abgeschlossenes und Vollendetes erscheint, so wird der Eindruck des Schönen sein. Entsteht ein Gegensatz, der aus dem Gegenstande herausgeht, so führt die Betrachtung der Welt uns vom Gegenstande weg, der in dieser Beziehung an und für sich werthlos erscheint. Das Gefühl des Schönen erregen entweder Naturgegenstände oder ethische. Wenn man nun einen Naturgegenstand hat, und darin hat, was einem das System der Kräfte vergegenwärtigt, oder worin wir die Beziehung der Natur auf den Menschen in gewisser Vollendung sehen, so werden wir das Gefühl des Schönen erhalten. Bedürfen aber Gegenstände eines Supplements, so haben sie nur einen Theil des Gegensatzes in sich, und erregen das Gefühl des Schönen nicht. Wenn man eine ausgezeichnet häßliche Gestalt sieht: was ist das für ein Eindruck? Es liegt dabei die plastische Kraft der menschlichen Natur im Gemüth. Diese sieht man zerstört, | und im Streit mit den übrigen Naturkräften, es erscheint also solche Gestalt als ein unaufgelöster Gegensatz. – Dasselbe gilt analog von allen lebenden Gestalten, nur daß der Eindruck des Lebens das Maaß bestimmt. Sieht man einen Menschen, der nichts Ausgezeichnetes hat, so sieht man keine Störung der bildenden Naturkraft, warum erregt diese Gestalt nicht das Wohlgefallen? Weil sie unendlich viele eben solche Gestalten geschaffen, wodurch die Gleichgültigkeit erklärt ist. Sieht man aber einen, in dem die Idee des Menschlichen in einer gewissen Vollkommenheit ausgeprägt ist, so wird die Betrachtung des Gegenstandes fest gehalten, und man betrachtet die plastische Kraft der menschlichen Natur in ihrer Vollkommenheit, und eben so alle Kräfte die an seiner Bildung Theil gehabt, es ist also ein aufgelöster Gegensatz im Spiel der Kräfte. Dasselbe findet bei allen ethischen Gegenständen statt, bei allen menschlichen Handlungen die das Gefühl des Schönen erregen. Sie müssen ein Ganzes sein, sonst weilt die Betrachtung nicht darauf. | Schön wird das erscheinen, wo ein lebendiges Spiel der Kräfte ist, das nichts außer sich zur Auflösung bedarf, sondern in sich selbst aufgelöst ist. Eine Handlung erscheint uns schön, wenn die ganze menschliche Natur darin aufgeht. Darin liegt aber eben die Beziehung des einzelnen Gegenstandes auf die Idee der Welt, in der wir doch bloß die Auflösung aller Gegensätze suchen. Unser Erkennenwollen geht darauf hin, die Idee der Welt zu realisiren; wo uns etwas Bild der Welt ist, wo die Gegensätze uns aufgelöst erscheinen, da ist das Gefühl des Schönen. Das Characteristische des-

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selben ist, daß das Erkennenwollen darin untergeht, und diese Befriedigung erregt das Gefühl des Wohlgefallens. Wie ist es mit dem Mißfallen? Da liegt immer das Verhältniß des Besonderen zum Allgemeinen zum Grunde. In dem Maaß als wir an einen Gegenstand seiner Art nach den Anspruch machen, daß er das Gefühl des Schönen erwecke, und er es nicht thut, so ist das Gefühl des Mißfallens. Wo wir gar keine Nöthigung zum Verweilen fühlen, | da kann auch kein Mißfallen sein. Das Allgemeine wird also zurückgehen auf das Insichabgeschlossensein, was das Verweilen hervorbringt; das Nichtaufgelöstsein der Gegensätze wird aber das Mißfallen herbeiführen. Was das Erhabene betrifft, so hat es damit eine andere Bewandniß. Die Differenz ist so groß, daß die Schwierigkeit gerade die ist, das nothwendige Zusammengehören und die wesentliche Differenz klar aufzufassen. Alles, was das Gefühl des Erhabenen erregt, hat eben so bestimmte Verwandtschaft mit dem Unendlichen, als das Gefühl der Schönheit mit dem Insichabgeschlossensein. In der Idee der Welt liegt beides, das Insichabgeschlossensein und das Unendliche. Sofern wir in einem Einzelnen das Unendliche auffassen, können wir nicht das Insichabgeschlossensein auffassen; denn beides zusammen ist nur aufzufassen in der Idee der Welt, weil die nie ganz construirt werden kann. Beim Gefühl des Erhabenen muß also der Gegenstand das lebendige Spiel der Kräfte vergegenwärtigen, und auf das Unendliche in der Idee der Welt bezogen werden. Eben so bei Handlungen. Es muß eine lebendige Kraft sein, und das Gefühl, daß wir sie nicht erreichen können. |

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Sechs und dreißigste Vorlesung. Inhalt[.] Fortsetzung über das Schöne und Erhabene. Resultate und Beschluß der ganzen Betrachtung über die aufnehmende Thätigkeit. Das Schöne muß also im engern Sinne ein Bild der Welt sein, in Beziehung auf die Aufhebung der Gegensätze; das Erhabene muß in Beziehung auf die unendliche Fülle der Kräfte ein Bild der Welt sein. Das Gefühl des Schönen hält sich vorzüglich am Individuellen; das Gefühl des Erhabenen wird mehr durch die allgemeinen Potenzen erregt; so daß das Schema des Gefühls des Schönen immer bleibt das Wohlgefallen an schönen Gestalten, das Schema des Erhabenen vorübergehende Erscheinungen im Gebiet des allgemeinen Lebens. Was erregt im Naturgebiet am meisten das Gefühl des Erhabenen? Wir finden dies nur in großen Erregungen der Natur, Ungewittern, Orcanen u.s.w. Die

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Basis des Gefühls ist auch in einem abgeschlossenen Ganzen die darin nicht zu berechnende Kraft. Wenn wir ein Ungewitter ganz genau berechnen könnten, so würde in diesem Erkennen des Gegenstandes das Gefühl des Erhabenen nicht sein können. Sehen wir auf das ethische Gebiet, so erregt ein Mensch als solcher, wenn er auch im eminenten Sinne ein großer ist, nicht leicht das Gefühl des Erhabenen. | Er ist ein individuelles Wesen, und wir suchen also immer nur in ihm ein Gleichgewicht des Wesens, wozu wir die Formel suchen. Das giebt aber das Gefühl des Schönen. Aber einzelne Handlungen, in welchen sich die Unendlichkeit allgemeiner Motive abspiegelt, alle Selbstaufopferung des Menschen, wo das rein Unendliche des völlig allgemeinen Bewußtseins hervorragt, diese Handlungen geben das Gefühl des Erhabenen, und zwar um so mehr, jemehr das Individuelle zurücktritt. Es muß sich jedoch in der einzelnen Handlung das Spiel aller Kräfte offenbaren, sonst würde die einzelne Handlung ganz isolirt sein. Wenn ein einzelner Mensch seinem ganzen Dasein nach das Gefühl der Erhabenheit erregen soll, dann müssen wir eben ihn das Maaß der Menschheit überschreiten sehen. Das Individuelle erregt das Gefühl der Erhabenen nicht, weil eben mit demselben immer ein gewisses Maaß gegeben ist. In allen allgemeinen Erscheinungen aber, die nicht an das Individuelle gebunden sind, da sind immer solche Zustände | wo das allgemeine Leben angeschaut wird, die Einzelnen aber untergeordnet bleiben, in den Einzelnen erscheint das allgemeine Leben concentrirt, und so entsteht das Gefühl des Erhabenen. Betrachten wir den einzelnen Menschen als solchen, so wird zwar das Gefühl der Bewunderung erregt, aber das Gefühl der Erhabenheit entsteht nicht. Die allgemeine Bedingung dieser Gefühle ist also: 1) Das Dasein eines Gegenstandes, welcher das Erkennenwollen durch das Gefühl aufhebt für die Zeit, wo das Gefühl dauert. Die ursprüngliche Tendenz des Erkennenwollens, die immer auf die Totalität der Welt bezogen wird, wird auf relative Weise so lange zur Ruhe gebracht, in dem einen Fall durch Aufhebung der Gegensätze, im andern Fall weil wir das Unendliche anschauen, und durch das Gefühl das Bestreben aufgehoben ist, es nach und nach zu begreifen. 2) So wie wir aber in die Idee der Welt das Leben setzen, so ist auch für beide Gefühle das Lebendige Grundbedingung. – | 34–36 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 264: „Aber eben so wie wir in der Idee der Welt über alles Leben die Kraft, aus sich selbst hervorzubringen die Erscheinungen, setzen, so ist alles, wieferns unter Begründung der Lebens subsumirt wird Gegenstand fürs Schöne und Erhabene; wenns Gefühl zum Gegenstand etwas aus dem relativ todten Gebiet hat, so wird dieß Gefühl doch immer das Leben hineintragen – so beim Anblick großer Gebirgsmassen, die wir im Gefühl uns als lebendig-sich selbst erhaltend denken, und in sofern hierin eine Anschauung unendlicher Kräfte liegt, so trit uns dann eben das Gefühl des Erhabenen entgegen.“

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Hiemit beschließen wir den ersten Hauptpunct den der aufnehmenden Thätigkeit. Wie weit sind wir gekommen? Wir werden nicht leugnen, daß unsere ganze Betrachtung einen fragmentarischen Character hatte; denn indem wir die aufnehmenden Thätigkeiten isolirten, so sind wir im Zustande der Abstraction gewesen, in welchem man nie etwas vollenden kann, sondern nur zum Zusammenfassen einzelner Elemente, welche durch verschiedene Ganze hindurchgehen, kann man durch Abstraction gelangen. Es hat eine Menge von Puncten gegeben, wo wir die andere noch zu betrachtende Thätigkeit haben voraussetzen müssen, und dies geht auf den ersten Anfang zurück. Wir haben damit angefangen, daß wir uns das Leben dachten als ein Erregtwerdendes durch die einzelnen Gegenstände, und darauf beruhete schon der Character der Abstraction, darin lag schon das Einseitige. Wir mußten aber gleich die andere Thätigkeit, von der wir vorläufig abstrahirten, voraussetzen als das Erregtwerdenwollen, das Erkennenwollen und Empfindenwollen. Eben so haben wir andere Puncte gefunden, | wo wir zurückkehren mußten zur ausströmenden Thätigkeit, indem wir an den Punct des Lebens kamen, der nicht von der Rede, der ausströmenden Thätigkeit zu trennen war, und indem wir im Empfinden an den Punct kamen, wo es sich nicht mehr trennen läßt von dem Sichäußernwollen. So haben wir denn mit etwas ganz Analogem geendigt, dem Zurückführen der beiden Arten der Thätigkeiten auf einander. Angefangen haben wir damit, daß wir die beiden Arten der aufnehmenden Thätigkeit sonderten, das Denken und das Empfinden, und das Specifische des Menschen haben wir im bestimmten Auseinandertreten beider gefunden. Womit haben wir geendigt? Indem wir auf ein Gefühl kamen, welches schlechthin durch ein Erkennenwollen bedingt ist, und in dem Act der Reflexion beide Thätigkeiten wieder vereinigt; denn alle Gefühle von denen zuletzt geredet ist, entstehen nicht durch sich selbst, sondern durch die Veranlassung eines Erkennens. Dann haben wir auch damit geschlossen ein Erkennen zu finden, wovon wir zwar sagten, daß ein Anfang auf dem objectiven Gebiet ursprünglich sein könne, aber | eben so auch durch das Gefühl erst, dadurch daß das Gefühl in die Reflexion aufgenommen wird, entstehen könne, denn das haben wir von der Idee der Gottheit gesagt. Im allerhöchsten Puncte des menschlichen Bewußtseins ist also das Ineinanderfließen beider Formen des Bewußtseins, und weil das Gedachte und Gefühlte gar nicht auf äußerliche Weise gegeben ist, so sind auch hier die aufnehmende und ausströmende Thätigkeit vollkommen zusammen. Es ist uns also klar geworden, daß, was wir in der Abstraction trennen können und müssen, in der Wirklichkeit nie getrennt wird. Dies ist besonders daraus klar, daß nichts in dem Bisherigen so deutlich kann geworden sein, als der Anfangs und der End-

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punct, wo beides vereinigt ist. In dem aesthetischen und religiösen Gefühl sind beide Thätigkeiten vereinigt, denn das religiöse Gefühl ist nur ein solches, wenn die Reflexion es beständig begleitet; und indem wir uns das Leben als ein Erregtwerden dachten, so konnten wir in keiner Vorstellung ruhen, sondern | der Unterschied des Lebendigen und des Todten mußte verschwinden, weil Nichts absolut todt ist und alles erregen kann. Aber klar wurde dies erst, als wir fanden, daß wir das Erregtwerden nicht denken könnten ohne das Erregtwerdenwollen. – Wir reden noch über das Verhältniß beider aufnehmenden Thätigkeiten wie es uns jetzt erscheinen muß. Es ist offenbar, das Menschliche in der aufnehmenden Thätigkeit ist nur das Auseinandertreten beider Formen. Je abgestumpfter das Auseinandertreten, je verworrener das ganze Dasein. Der trübeste Zutsand ist der möglichst geringste Gegensatz beider. Aber eben so ist beides nur in beständiger Beziehung auf einander, und wir haben eigentlich kein Abgeschlossenes des Erkennens vor uns, wenn nicht das Erkennenwollen sistirt wird durch Erregung eines Gefühls, und ein Lebensmoment ist nur abgeschlossen, sofern beides zusammenkommt. – | Eben so auf der Seite des Gefühls, denn es kommt nicht zu seiner Vollendung ohne Hinzukommen der Reflexion; es ist nur erst ein menschliches, wenn wir es auf einen Gegenstand zurückwerfen, und sagen: dies und das hat mich erregt; es muß sich also erst in das Denken auflösen. Was ist dieses in seiner Allgemeinheit? Der Mensch ist der Einzige, für den es eine Welt und ein Ich giebt; das unmittelbar zu seinem Ich Gelangenwollen ist das Empfindenwollen, die subjective Seite; das unmittelbar zur Welt Gelangenwollen ist das Erkennenwollen, die objective Seite. Wenn nicht beides gesondert ist, so ist kein Mensch zu denken; aber auch Nichts kommt zur Anschauung, wenn nicht beides in einander ist. Der Mensch kommt nur zu seiner Welt, sofern er zu seinem Ich kommt, und er kommt nur zu seinem Ich, wenn er zu seiner Welt kommt. Jedes ist nur in seiner Identität mit dem andern. | Einen großen Unterschied finden wir: auf der Seite des objectiven Bewußtseins durften wir das Wahrnehmenwollen und das Festhalten des Wahrgenommenen nicht trennen, das Gefühl aber unter seinen beiden Formen der Lust und Unlust besteht nur durch beständige Steigerung, wenn diese nicht da ist, so hört das Gefühl auf. Es will nun jeder immer wieder zum Gleichgewicht kommen in sich, er will also, daß das Gefühl aufhöre. Dieses wird denn auch nur bleibend, nicht an und für sich, sondern nur indem es in die Erinnerung des Erkennens aufgenommen ist, nicht sofern es ursprünglich da ist. So kommen wir also erst zu unserm Ich durch das Ineinandersein beider. Ende des ersten Theils. |

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Ausströmende Thätigkeit. Sieben und dreißigste Vorlesung. Inhalt. Uebergang zur ausströmenden Thätigkeit. – Von dem Ueberzeugungsgefühl und dem Triebe der Fortschreitung im Erkennungsprozeß. – Theoretische und practische Richtung der ausströmenden Thätigkeit. –

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Wir gehen über zu der andern Seite der Seelenthätigkeit, die ein Außersichheraustreten im Gegensatz vom Aufnehmen ist. Um den ganzen Umfang ins Auge zu fassen, müssen wir nicht allein bei denjenigen Thätigkeiten stehen bleiben, wodurch die Seele mittelst der Organe etwas außer sich hervorbringt, sondern auch dazu nehmen die Art, wie die Seele die Organe selbst afficirt, denn davon muß die eigentliche Seelenthätigkeit anfangen; und weil wir das Ende der organischen Thätigkeit nach innen nicht genau bestimmen können, so werden wir auch den Anfang der Seelenthätigkeit eben so wenig genau bestimmen können, sondern es ist wie dort zu behandeln: Wenn wir gesagt haben: Durch die aufnehmende Thätigkeit entstehen die Vorstellungen von den Dingen und die Gefühle des eigenen Zustandes, so werden wir nun sagen müssen: es giebt ein inneres Spiel von Vorstellungen und | Zuständen der Dinge, welches wir nicht auf die aufnehmende Thätigkeit zurückführen, sondern als erste Äußerung der freien Thätigkeit selbst ansehen müssen. Von diesem am nächsten liegenden Puncte werden wir ausgehen, und dann die nach außen strömende Thätigkeit betrachten. Auf dem zuletzt abgeschlossenen Gebiet hätte auch ein Gegenstand betrachtet werden sollen, welcher in der innigsten Verbindung mit der freien Thätigkeit besteht. Schleiermacher hat ihn als den Anfangspunct von diesem aufgespürt. Als wir von dem Erkenntnißvermögen sprachen, fanden wir den relativen Gegensatz zwischen dem Erfahrungsgebiet und dem Gebiet der Wissenschaft, und setzten diese in ein Ordnen des Gefundenen nach den bestimmten combinatorischen Begriffen, welche in der Seele entstehen, und was damit zusammenhängt in das Umkehren des Prozesses, daß man statt vom Besondern zum Allgemeinen fortzuschreiten, umgekehrt vom Allgemeinen anfängt, und unter ihm das Besondere zusammenstellt. Diese Thätigkeit des Ordnens | ist etwas von der aufnehmenden Thätigkeit Unabhängiges, sie ist freilich gegründet in dem Erkennenwollen, aber sie ist nicht mehr in den Eindrücken sich hingeben, sondern es liegt dabei eine Erneuerung zum Grunde. Wir haben zuletzt darauf aufmerksam gemacht, wie sich die objective und subjective Seite wieder vereinigen

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in der Reflexion auf zwiefache Weise, indem das Gefühl auf den Gegenstand zurückgeworfen wird, und indem das Erkennen wieder gefühlt wird, und sich das Bewußtsein der Gegenstände mit dem Bewußtsein der eigenen Zustände verknüpft. Dies war das aestethische Gefühl. Daneben gehört ein anderes eben so aus der Reflexion entstehendes Gefühl, welches den Erkennungsprozeß in seinem Fortschreiten begleitet. Dies Gefühl nennen wir Überzeugung. Es ist nichts anderes als Gefühl, aber es ist zugleich das, und darum ist es Anfangspunct der ausströmenden Thätigkeit, was allem Fortschreiten eines Erkennungsprozessses zum Grunde liegt. Verlieren wir die Überzeugung, so ist der ganze Erkennungsprozeß turbirt. | Indem nun dies Gefühl die erste Bestimmung ist, so ist es das dem Bisherigen am nächsten Liegende. Wir finden dies in drei verschiedenen Abstufungen. Wenn wir in einem Prozeß des Erkennenwollens begriffen sind, so haben wir bei jedem Gliede entweder das Gefühl der Überzeugung, oder des Zweifels, oder der Falschheit. Man kann nicht sagen, daß dieses sich etwa so verhält, wie Lust, Gleichgültigkeit und Unlust. Es kann sein, daß die Überzeugung mit Unlust verbunden ist, und das Gefühl der Falschheit mit Lust, und der Zweifel kann peinlich sein. Es fragt sich: worauf beruhen diese Zustände? Wie haben wir sie uns zu erklären? Es kann oft zweifelhaft sein, ob dieser Zustand wirklich ein Gefühl zu nennen sei. Es ist dies einer der pathematischen Gegenstände. Das ist gegründet in der Duplicität, daß dieser Zustand eben so gut Folge eines vorherigen ist, Folge der aufnehmenden Thätigkeit, als er Grund und Bedingung eines künftigen wird, der ausströmenden Thätigkeit. | Man sieht gewöhnlich die Ueberzeugung als eine gewisse Art der Vorstellungen an. Es ist die Überzeugung weder die Lebendigkeit noch Dunkelheit. Da die Überzeugung von diesen beiden gar nicht abhängt, so ist sie gar nicht als eine Eigenschaft der Vorstellungen anzusehen, sondern sie ist eine Reflexion über den Zustand, indem man sich beim Erkennen befindet. So hat sie doch immer ihren Platz im Gefühl. Daß sie nicht eine Vorstellung ist wird dadurch klar, daß ich nie meine Überzeugung als etwas Besonderes in Worten wiedergeben kann, ich kann sie bloß so aussprechen wie das Gefühl, nämlich den Grad. Von diesem Punct aus wollen wir nun sehen, wie wir diese Zustände verstehen können. Wenn wir die Thätigkeit der Seele, welche allem Aufnehmen zum Grunde liegt, das Erkennenwollen als Eins setzen und das Realisirenwollen der Welt als eine Formel ansehen, und die wahre Idee der Welt als das letzte Ziel derselben, so giebt es in jeder einzelnen Vorstellung ein Verhältniß zu diesem letzten Ziel. Das kann nicht anders beurtheilt werden | als von einem bestimmten Puncte aus, und eben das Bewußt-

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sein von diesem Verhältniß, in wiefern man das letzte Ziel als einen Gegenstand des Verlangens setzt, das ist Überzeugung. Das Gefühl des partiellen Mißlingens ist das Gegentheil. Das Gefühl des Unbestimmten ist der Zweifel. Auf diese Weise erklärt es sich wol, wie das Gefühl in so mannigfachem Grade vorhanden ist, und wie es sich nicht auf einerlei Weise verhält zu der Wahrheit der Vorstellungen selbst, sondern in der Zukunft das auch wieder falsch erscheinen kann, wovon wir vorher eine Überzeugung hatten. Dieses finden wir auf dem Gebiet der Erfahrung und dem wissenschaftlichen Gebiet. Wieviel Urtheile nehmen wir nicht zurück? Wie oft wird nicht in der Wissenschaft das ganze System der Begriffe verrichtet, und ein anderes an seine Stelle gesetzt? Worin kann das liegen? Darin, daß wir uns vorgebildet hatten die Methode, um in einem gewissen Gebiet die Idee des Erkennens zu erschöpfen. So erklärt sich auch der Unterschied der Überzeugung | auf dem wissenschaftlichen und dem Erfahrungsgebiet. Auf dem wissenschaftlichen Gebiet kann nichts vorkommen, was nicht eins von jenen Gefühlen erregt, entweder wir müssen es anerkennen, oder verwerfen, oder es muß eine εποχη statt finden. (Ein Mensch der erfahren will ist auf niedrigem Gebiete zu vergleichen einem Menschen der aus Hunger ißt; der Mensch, der Wissenschaft betreibt, einem solchen, der aus Appetit Schanklust ißt.) Die Erfahrungserkenntnisse werden bloß aufgenommen, und von einem wird zum andern fortgeschritten. Dies hat offenbar seinen Grund in der Natur der Überzeugung. Indem wir die Erfahrungsmasse aufnehmen sind wir in demselben Streben die Idee der Welt zu vervollständigen, allein die Erfahrungserkenntnisse als solche leisten nur ihren Nutzen in der Masse, oder geben nur durch ihre Masse eine Überzeugung. – Im Einzelnen irrt die Erfahrungserkenntniß nicht, wenn man aber einer Vorstellung zugleich einen wissenschaftlichen Gehalt unterschiebt, ohne sich des Übertragens des Erfahrungsgebietes in das wissenschaftliche bewußt zu werden, | so sind das Erschleichungen, die nachher Ursach von Irrthümern werden. Sagt man es kann doch ein Subjectives für ein Objectives gehalten werden, so thut das nichts, die Erfahrung ist doch richtig, denn das Objective und Subjective zu sondern gehört schon in das wissenschaftliche Gebiet. Jemehr Überzeugung wir haben, desto geringer ist das Verlangen im Erkennen fortzuschreiten, und wir erwarten dann wieder die Eindrücke. Wir setzen den Fall, daß der Mensch lauter solche Vorstellungen hätte, und sie machten vollkommen seine Überzeugung aus. Wenn nun derselbe könnte etwas durch den äußern Weg finden, was sein ganzes System umwirft, so muß auch sein Verlangen ein unendliches werden, um alles nach dem neuen Schema umzuarbeiten. Andere gehen einen entgegengesetzten Weg. Bei dem sich das Gefühl der Überzeugung sehr sparsam einstellt,

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der wird immer denken, es könne sich noch anders verhalten, wie er jetzt meint. Dieses Spiel der zwei verschiedenen Thä|tigkeiten bestimmt sich darnach, wie sich das Gefühl der Überzeugung verhält. Nun kann man sagen: Dies ist zurückgeworfen auf die Art, wie die ursprüngliche Thätigkeit des Erkennenwollens in dem Menschen ist, die Art und Weise des Gefühls, und die Art und Weise des Triebes. Beides ist immer constant verbunden, die verschiedene Überzeugung und die vollkommene Befriedigung eines Schemas, und dann auch der entgegengesetzte Drang nach dem Umgestalten aller bisherigen Schemata, und die Art und Weise solcher Menschen, welche sich langsam überzeugen, und welche eben deßwegen auch keine bestimmte vorhergebildete Erkenntniß der Methode haben, und eben deßwegen auch nicht so oft genöthigt sind ihr System umzuwerfen und ihre Überzeugung zu widerrufen. Hier ist eben der Trieb und das Gefühl rein identisch. Hier können wir anknüpfen an die vorliegende Untersuchung. – Aller aufnehmenden Thätigkeit liegt ein Erkennen- und ein Fühlenwollen zum Grunde, die Welt und das Ich. | Indem wir beides Wollen nennen, haben wir diese Thätigkeit reducirt auf das Minimum der ausströmenden Thätigkeit. Durch dies Erkennen- und Fühlenwollen kommen wir allmählig in den Besitz einer großen Menge von Vorstellungen, bei denen das Aufnehmenwollen und das Festhaltenwollen dasselbe ist. Was erkennen wir zunächst als eigentlich freie Thätigkeit der Seele mit dem, was sie aufgenommen hat? Hier spaltet sich uns gleich das ganze Gebiet in zwei Theile. Dies beruht auf dem Verhältniß welches wir gesetzt haben zwischen dem Erfahrungsgebiet und dem wissenschaftlichen. Es ist das eine das, was von der freien Thätigkeit ausgeht, daß alles was ursprünglich von der Erfahrung kommt, durch den erhöhten Erkennungsprozeß durchgebildet wird. Wir haben gesagt: dieses Wissen ruhe in jedem Menschen, nur das Maaß sei sehr verschieden, es gebe ein Minimum und ein Maximum. Wenn wir also annehmen, es giebt ein Minimum der Übertragung des Erfahrens in das Wissen, und es giebt Menschen, | bei denen das wissenschaftliche Haben der Vorstellungen ein Geringes ist, so müssen wir sagen: hier tritt dieses ein: die Beziehung der Vorstellungen auf das, was der Mensch hervorbringen kann, das ist die Benutzung des Erfahrungsgebietes für die eigentlich verändernde Weltthätigkeit des Menschen. Das ist die practische Richtung, die wir an diesen Punct anknüpfen können, die wir aber nicht so erklären können, daß sie entsteht durch den Überfluß von Vorstellungen. Die andere ist, wenn wir sagen: es giebt andere Menschen, in denen giebt es ein Maximum vom Erfahrungsgebiet im wissenschaftlichen, und das ist die theoretische Richtung. So gut wir diese Neigung als ein Minimum bei dem einen setzen, so müssen wir auch immer bei dem andern

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die practische Richtung setzen, wenn auch nur als ein Minimum; und die theoretische Richtung ist so wenig Folge practischer Unfähigkeit, als die practische ist theoretischer Unfähigkeit. Beide Ansichten aber sind sehr häufig, daß die speculative Richtung entstanden ist aus einer practischen Unfähigkeit, eben so wie das | Verarbeiten der Vorstellungen in dem Gebiet des Nutzens entstanden ist aus einer theoretischen Unfähigkeit. –

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Acht und dreißigste Vorlesung. Inhalt. Eintheilung der ausströmenden Thätigkeit in die ideale und reale. – Von den drei Formen unter welchen die ideale Thätigkeit vorkommt: der Wissenschaft, der Kunst und dem chaotischen Spiel der Einbildungskraft. Von dem Verhältniß dieser drei untereinander.

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Fragen wir: Was ist der Inbegriff der Resultate aller Thätigkeiten, die wir jetzt betrachten wollen, so ist zu sagen: wenn wir von dem absehen, was durch die specifischen Verhältnisse modificirt ist, so ist es alles, was der Mensch in seinem Gemüthe und durch dasselbe in der Welt hervorbringt; denn alles Hervorbringen geht in die beiden Seiten dieser Thätigkeiten auf, in die ideale und reale Seite. Offenbar steht die ideale Seite am sichtbarsten unserm bisherigen Gegenstande nach, und es wird am leichtesten sein, dies zuerst zu behandeln. – Wir werfen die Frage auf: wenn wir davon ausgehen, es giebt in dem Aufnehmen von außen ein freies Verarbeiten der Vorstellungen, und so auch des Bewußtseins der eigenen Zustände, was ist dann nun das Gesammtresultat? Es ist schwer diese Frage in Eins zu beantworten. Es sind hier drei große Massen zu unterscheiden: 1) ist das freie Resultat | dieses freien Verarbeitens der Vorstellungen die Wissenschaft. Diese haben wir vorher schon angesehen, aber nur in ihrem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Aufnehmen der Vorstellungen. Hier tritt schon die freie Thätigkeit auf eine überwiegende Weise ein. Indem wir von Anfang unterscheiden aufnehmende Thätigkeit auch als Thätigkeit und zwar durch ausströmende Thätigkeit, so scheint es, daß die Wissenschaft dazu nicht gehört, weil sie innerhalb des Menschen bleibt. Aber das ist nur ein Schein; denn würde der Mensch das Verlangen nach wissenschaftlicher Thätigkeit im isolirten Zustande haben? Nein, denn die Wissenschaft läßt sich nicht denken ohne Sprache; diese ist aber eine ausströmende Thätigkeit. Das Denken oder das innere Sprechen ist nur ein Schatten des äußern Sprechens, und das innere Sprechen läßt sich nur denken in Zusammenhang mit dem

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äußern. Alles äußere Sprechen ist aber eine ausströmende Thätigkeit und wird Gegenstand der Wahrnehmung durch eine Thätigkeit des Menschen. Betrachten wir die Sache in ihrem | ganzen Umfange. Wenn wir auf das letzte Ende sehen, auf das Ausgleichen der Wissenschaft durch die Sprache, so können und müssen wir die Wissenschaft in dieses Gebiet ziehen. – 2) Die andere große Masse, die durch diese freie Thätigkeit der Seele entsteht ist die Kunst. Auch dies könnte man streitig finden. Nämlich auf der einen Seite müßten wir uns schon ausdrücklich bewußt werden die Kunst abzusondern als ein rein aestetisches Gefühl, und sagen: wir hätten es nur zu betrachten, wie es der Kunst vorangeht, und nur in sofern kann die Kunst erscheinen als ein Product des ästethischen Gefühls selbst. Auf der andern Seite könnte man sagen: die Kunst gehöre zu den realen Thätigkeiten. Was kann der Mensch durch das bloße Spiel mit den Vorstellungen für Kunstwerke produciren? Da kommen wir bloß auf Poesie, Gesang und Mimik, und die ganze bildende Kunst gehört weit mehr der realen Seite an. Hier ist zu scheiden, daß die Kunst nicht als ein Product des ästethischen Gefühls anzusehen ist, weil dieses in gleicher Stärke gefunden | wird bei denen, die als Künstler produciren, und die nicht produciren. Es muß hier offenbar etwas anderes dazwischen treten, was als ein eigenes Maaß und als eine differente Thätigkeit angesehen werden muß. Was nun das andere betrifft, den Zusammenhang der Kunst mit der realen Seite der Thätigkeit, so müssen wir hier sagen: daß genau genommen alles, was wir Kunst nennen in das Gebiet der idealen Thätigkeit hineingehört; denn die äußere Seite läßt sich ganz von der Kunst sondern, und ist nur ihre mechanische Seite. Denken wir uns den Bildhauer. Er muß das Modell zu seinem Werke selbst machen, eher ist die Idee auf keine Weise realisirt; er kann die Ausführung aber einem andern überlassen. Aber dieses hängt mit dem innern Vorbilde des Urbildes so zusammen, daß es sich nicht davon trennen läßt. Von dem Maler können wir nicht sagen, daß, wenn er eine Skizze angelegt hat, das innere Bild schon vollständig geworden ist, wie das Bild des Bildhauers durch das Modell, denn der Maler will nicht durch Umrisse sondern durch Farben | sein Bild darstellen; aber wir können uns doch recht gut denken, daß die weitere Ausführung andern überlassen wird, indem der Maler nur die Idee leitet und die Farbenmischung. Also die bloße äußere Seite der Kunstproduction können wir als ein rein Mechanisches und in die reale Seite Gehörendes aussondern. Aber darin liegt nun kein Grund, die Kunst ganz aus unserem Gebiete auszuschließen, die Idee und die Auffindung ist ja doch immer die Hauptsache dabei; und die gehört eben der idealen Seite an. Das Hervorbringen eines Urbildes aber ist offenbar das Product der ausströmenden Thätigkeit.

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3) Die dritte Masse ist schwer zu beschreiben. Es ist die chaotische, welche aus dem freien scheinbar zwecklosen Spiel der Vorstellungen entsteht und welche wir auf die Thätigkeit der Einbildungskraft beziehen. Hierher gehört alles, was wir Einfall nennen, alles Zusammenstellen von Vorstellungen, die wir einmal gehabt haben, alles die aufnehmende Thätigkeit begleitende Spiel von Erinnerungen. Es ist hier zwar überall | eine Verbindung mit dem, was wir als das Ursprüngliche festhalten wollen, aber es ist doch etwas anderes als dieses selbst. Man hat viel darüber gestritten, ob und in wiefern wir wirklich Vorstellungen produciren, oder ob wir nur Vorstellungen von außen bekommen. Dieser Streit ist ganz leer, und man würde eher zur Entscheidung gekommen sein, wenn man sich selbst über die Procedur im Streit verständigte, denn es kommt alles darauf an, was man als die Einheit ansieht. Neue Elemente könne die Einbildungskraft nicht produciren, sondern sie müssen ihr gegeben sein, aber man kann auf die ursprünglichen Elemente zurückgehen und sagen, daß die Einbildungskraft aus demselben etwas Neues bilden kann. Dieses neue Combiniren von Elementen ist eben das Unterscheidende, das ist dasjenige, weßhalb die Thätigkeit hierher gehört. Wir können nicht eher zu einem richtigen Überblick dieser Thätigkeit kommen, ehe wir nicht die Frage beantworten, wie sich diese drei unter sich verhalten[.] | Wir suchen nämlich das, was uns als ein Geordnetes vorschwebt, nicht aus dem Chaotischen zu erklären, sondern das Chaotische auf jenes zu reduciren. – Man hat sich wirklich bemüht, Gesetze für die Einbildungskraft zu finden, und man hat das ganze Wesen der Einbildungskraft aus dieser chaotischen Masse erforschen wollen. Diese Bemühungen, die von den ausgezeichnetsten Köpfen sind angestellt worden, haben zu keinem glücklichen Resultat geführt, weil die Untersuchung nicht fest stehen kann. Wenn man sagt: es giebt verschiedene Gesetze, nach denen die Einbildungskraft die Vorstellungen reproducirt, so ist da z. B. das Gesetz der Ähnlichkeit; ferner das Gesetz der Partialität, d. i. wenn etwas in einer aufnehmenden Thätigkeit jetzt vorkommt, aber in einer andern Verbindung, was früher in einer andern Vorstellung vorkam, so reproducire ich die ganze andere Vorstellung. Z. B. wenn ich einen Menschen wiedersehe, den ich früher gesehen, so fallen mir die begleitenden Umstände unter denen ich ihn sah, bei. | Mit diesem Gesetz ist aber wenig ausgerichtet. Wenn in einer aufnehmenden Thätigkeit etwas vorkommt, wozu schon in einer frühern ein Ähnliches gegeben ist, so muß ich darnach mein ganzes Bewußtsein reproduciren. Aber dieses Gesetz verstehe ich gar nicht, warum mir einiges hervortritt, anderes nicht; das Gesetz der Auswahl wird mir 20 Überblick] Überberblick

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nicht klar. Eben so mit dem andern Gesetz; denn wenn ich es mit dem ersten verbinde, so wird nie etwas in der aufnehmenden Thätigkeit sein, was nicht in einer frühern Vorstellung gekommen war. Nach diesem Gesetz müßte ihr ganzes ehemaliges Bewußtsein sich reproduciren; aber doch bleibt uns dann noch immer das Gesetz der Auswahl zu finden übrig, und so sind alle diese Gesetze, jemehr man ihrer aufstellt, gleichsam nur eine Multiplication von Brüchen, die immer mehr Einzelnes hinstellen, aber nie eine vollständige Erklärung geben. Sie gehen alle in der Formel auf: wie das ganze ehemalige Bewußtsein sich zu dem gegenwirkenden verhält. Da das ehemalige | ein unendliches ist, und auch eben so das gegenwärtige, so muß auch eine Unendlichkeit von Relationen darin liegen. Nun könnte man sagen: es muß noch einen andern Weg geben, wenn man diese chaotische Masse für sich betrachtet; allein diese Masse ist viel zu ungeordnet unter einander, als daß es recht sein könnte sie in einer wissenschaftlichen Untersuchung für sich zu betrachten, und darum muß man sie auflösen in ihre Relationen zu den übrigen und fragen: in welcher Beziehung steht diese Masse zu den andern beiden und vielleicht auch zu der realen Thätigkeit? Darin wird erst die ganze Masse ihrer Natur nach klar werden.

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Neun und dreißigste Vorlesung. Inhalt: Von dem Verhältniß der Wissenschaft zur Kunst und zu dem chaotischen Spiel der Einbildungskraft. Von der Neigung.

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Sehen wir nun wie die Wissenschaft sich zu den beiden andern verhält, so wird man wol sagen: es verhält sich die Wissenschaft zur Kunst, wie Vernunft und Phantasie. Bei der Wissenschaft soll die Nothwendigkeit des Zusammenhanges sein. Bei der Kunst wird diese Anforderung nicht gemacht. | Betrachten wir die Sache näher, so verhält sie sich anders. Wir können durchaus nirgends Vernunft und Phantasie so strenge abgrenzen. Wenn wir ein Kunstwerk ansehen, und wir gehen in Gedanken auf seine Entstehung zurück, so können wir diese Entstehung nicht unterscheiden von den einzelnen Momenten die in das chaotische Spiel der Phantasie hineingehören. Das Bild, was entstanden ist, ist rein eben so entstanden, wie eine vorübergehende Menge von Bildern und Einfällen, die zu keinem Kunstwerk gelangen. Ist es mit der wissenschaftlichen Entdeckung anders? Denken wir, wie zuerst ein wissenschaftliches Element entstanden ist, so ist es eben 2 nie] mit ? versehen über mir keit)

4 ihr] darüber (nämlich der aufnehmenden Thätig-

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das gewesen, was man Einfall nennt. In dieser gleichen Entstehung verschwindet der Unterschied. Das wird noch deutlicher werden, wenn wir fragen: welches sind die Wege wodurch die Wissenschaft erweitert wird? Dies geschieht durch Versuch und Beobachtung. Dies scheint nur von der empirischen Wissenschaft zu gelten; bei näherer Betrachtung aber gilt es | von allen. Wie kommt dann einer dazu einen Versuch zu machen? In dem Versuch liegt gerade die Ungewißheit; das Versuchmachenwollen setzt den Zusammenhang ganz problematisch. Es ist dies ein freies Spiel der Vorstellungen. Dasselbe auf der Seite der Beobachtung. Diese setzt auch einen bestimmten Willen voraus; es ist nur eine Beobachtung, wenn man beobachten will, sonst ist nur ein Wahrnehmen. Das Beobachtenwollen setzt eine Vermutung voraus, daß wol in dem Gegenstand etwas sein könne, wodurch sich ein nothwendiger Zusammenhang auf schließen kann. Fragen wir nun: wie kommt es, daß eine Vermehrung der Wissenschaft entsteht? Sind in ihrer Entstehung im Gemüth diejenigen Vorstellungen, die ein Resultat gebracht, und die keines gebracht, zu unterscheiden? Nein, bloß durch ihren Erfolg. Wenden wir dasselbe an auf die Erkenntnisse, die nicht so vollkommen empirischer Art sind, so müssen wir wol dasselbe sagen. Wieviel Combinationen sind nicht gemacht, woraus nachher nichts geworden ist! Die Geschichte aller | speculativen Wissenschaften läßt sich am Ende auf den Versuch und die Beobachtung der Gedanken zurückführen. Hier müssen wir sagen: wollen wir einen bestimmten Unterschied machen zwischen Production der Vernunft und Production der Phantasie, so können wir das erst, nachdem Zusammenhang in sie gebracht ist; aber alles was vorher geschehen ist, ist kein Unterschied in Beziehung auf den ersten Ursprung. Es geht alles durch diese Differenz von Versuch und Beobachtung hindurch, wovon dann einiges immer als eine wissenschaftliche Entdeckung gilt. Sehen wir auf das letzte, wie vorher auf das Entstehen, so ist dasselbe Resultat. Das letzte ist die wissenschaftliche Darstellung. Betrachten wir ein wissenschaftliches Werk. Trägt das den Character des Chaotischen, dem wir einen Gegensatz mit der Vernunft zuschreiben? Nein. Nehmen wir die Mathematik, so sind auch da auf dem beschriebenen Wege Entdeckungen gemacht. Eben weil sie so entdeckt sind, so muß es verschiedene Arten geben, sie in ihren Zusammenhang zusammen zu stellen. Hier habe ich wieder nicht | die objective Nothwendigkeit, sondern das Resultat einer eigenthümlichen Thätigkeit. Jedes wissenschaftliche Werk beruht auf einer eigenen Art, wie die gegebenen Sätze zusammengereiht sind, um ein Ganzes zu bilden. Wenn nun die ersten Vorstellungen nicht zu scheiden sind vom Spiel der Phantasie, so ist die wissenschaftliche Darstellung nicht zu unterscheiden von der künstlerischen, denn die Eigenthümlichkeit der wissenschaftlichen hat

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denselben Character, den die künstlerische hat. Wir müssen auch den Künstler ansehen als einen, dem schon eine Menge von Elementen gegeben ist, und er setzt nur so oder so zusammen, und da können wir auch keinen bestimmten Unterschied der Vernunftthätigkeit unterscheiden. Das Verhältniß der Wissenschaft zur Kunst und zur Einbildungskraft ist dieses, daß im Entstehen die Wissenschaft nicht von dem Letzten, das Letzte (in der Wissenschaft) nicht von dem ersten zu unterscheiden ist. Die wissenschaftliche Vollkommenheit eines Einzelnen kann nicht anders gemessen werden als in diesen beiden Gleichsetzungen. Wenn wir nun wieder | auf den Anfangspunct zurückgehen und sagen: die Wissenschaft wird vermehrt durch Versuch und Beobachtung, so ist die Frage: wovon hängt es ab, daß der eine Mensch diese Beobachtung der andere jene macht? Der unendliche Stoff in seinem Umfange liegt eigentlich jedem gleich nahe. Daß nun einer in einer wissenschaftlichen Richtung auf das eine fällt, und nicht auf das andere, das können wir nicht als Zufall ansehen, sonst sprechen wir es schon der Eigenthümlichkeit ab. Wir werden hier wieder auf dasselbe geführt, daß also die Gedankenverbindungen eben so für die Wissenschaft passen, wie für das chaotische freie Spiel, und nun werden wir von dieser Seite auf ein solches inneres Princip getrieben, welches den Weg der Seele bestimmt, indem eine unendliche Möglichkeit von Richtungen auf gleiche Weise vor ihr liegen. Hier sind wir noch nicht weit genug zurückgegangen, denn indem wir fragen: wie geht es zu, daß der Eine diesen Versuch gemacht, der andere jenen, so setzen | wir voraus, daß sich beide auf demselben wissenschaftlichen Gebiet befinden. Aber da muß man fragen: wie der Mensch auf dies wissenschaftliche Gebiet gekommen ist, und das andere hat fahren lassen? Sagen wir das ist ein reiner Entschluß, so können wir das nicht durchführen. Es ist hier nicht ein solcher Calculus möglich, sondern indem er das thut, so wird ihm schon die Eine lebendiger werden als die andere. Aber eben das Lebendigwerden ruht schon auf jenem Princip. Wenn wir nun nach dem innern Princip fragen, so finden wir das in der Neigung. Was ist diese? Am besten ist es wir gehen darauf zurück, daß die rein organischen und psychischen Thätigkeiten ein Ganzes bilden, und nicht von einander getrennt werden können. Betrachten wir den ganzen Organismus, so liegt in der verschiedenen Gestaltung eine Prädetermination zu der einen oder der andern Art der Thätigkeit, eine Verwandschaft. Indem ich diese auf die beständig sich erneuernde Thätigkeit der Seele selbst zurückführe, | so nenne ich sie eben Neigung. Ein Mensch von stumpfen Sinnen kann unmöglich eine solche Verwandschaft haben, als einer mit scharfen Sinnen; 13 macht?] macht.

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er wird entweder überhaupt ein leeres Leben haben, oder er wird mit demselben Grad von Lebendigkeit, womit er die Natur ergriffen hätte, etwas anderes ergreifen müssen. Ein Mensch dem es am Gehör fehlt, wie soll dem die Neigung zur Musik entstehen? Die lebendige Thätigkeit ist so sehr an den Sinn geknüpft, daß wir nicht glauben, sie könne hervortreten, wenn nicht der Sinn auf eine vorzügliche Weise da ist; wenn auch das Rythmische noch so stark ist, so thut es noch nichts. Also alle Neigung hängt ab von der organischen Beschaffenheit. Denken wir einen Widerspruch, so denken wir eine Art von Verkehrtheit. Wieweit können wir im Einzelnen kommen, die Gesetze der Ideenassociation zu finden, wenn wir bloß dem Begriff der Neigung folgen? |

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Vierzigste Vorlesung. Inhalt. Ursprüngliche wechselseitige Beziehung des Psychischen und Organischen. – Die Eigenthümlichkeit eines jeden ist nur aus ihm selbst durch unmittelbare Anschauung zu begreifen, nicht aus allgemeinen Regeln. – Das Prinzip der eigenthümlichen Gedankenverbindung ist der Wille, d. i. das Maaß aller Richtungen die wir uns in der Seele denken. – Neigung, Wille, Talent, Regel der Bewegung im Denken ist Eins. Alles, wodurch sich eine Seele von der andern unterscheidet, ist zurückzuführen auf das eigenthümliche Verhältniß zwischen der Seele und der Welt. – Von dem Denken als Hervorbringen allgemeiner Bilder.

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Schleiermacher will nicht sagen, daß die Organisation das erste ist, sondern er hat nur von demjenigen ausgehen wollen, was am meisten anschaulich ist. Fragt jemand: wo kömmt die Bestimmtheit der Organe her? so weiß er nichts zu antworten, als daß eben die Seele sich die Organe bildet. Wir können hier sehr schwer unterscheiden, wo das Gebiet des Angeborenen aufhört, und das des Erworbenen anfängt. Mit dem Leben selbst bilden sich schon die Neigungen, und mit dem Leben selbst bildet sich die Seele die Organe. Beides ist immer ineinander, und die wechselseitige Beziehung beider ist ursprünglich. Wenn wir nun sagen: die Neigung, wodurch jemand zu diesem oder jenem Gebiet hingezogen wird, ist etwas Ursprüngliches, so kommen wir auf das zurück, wovon wir ausgegangen sind, daß es keinen Unterschied giebt zwischen der Thätigkeit des Einzelnen und des Ganzen, Phantasie- und Vernunftthätigkeit. Die Neigung constituirt das eigenthümliche Dasein des Einzelnen, und er hat die und die Neigung, weil er die und die Eigenthümlichkeit hat. Eine Formel ist also dafür nicht aufzustellen. – | Wenn man es aus allgemeinen Regeln herleiten will, so unterdrückt man die Eigenthümlichkeit; und wenn man eine Masse von

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allgemeinen Regeln hat, und fragt nun: warum ist er der Regel gefolgt und nicht der? so sieht man sich genöthigt äußere Bestimmungsgründe anzunehmen. Man muß ganz den umgekehrten Weg einschlagen, und die Eigenthümlichkeit eines jeden aus ihm selbst zu begreifen suchen. Wenn man fragt: wie wird dem oder dem dieses oder jenes Werk gefallen? so geht das Urtheil von einem Gefühl aus, nicht von Formeln. Das Gefühl hat seinen Grund in dem freilich nie abgeschlossenen Bilde von seiner eigenthümlichen Art und Weise. So verfahren wir immer. Wir können es dahin bringen vorherzubestimmen, wie ein Mensch in einem gegebenen Falle combinirt. Das weiß man aber nicht aus allgemeinen Formeln, sondern nur aus der Anschauung seiner Eigenthümlichkeit. Das Allgemeine darf man also hier nicht zum Grunde legen, sondern das Eigenthümliche. Auf dem Gebiet der Wissenschaft ist es hier völlig wie auf dem Gebiet des Lebens. | Die ausgezeichnetsten Denker haben gewisse Methoden, eine vorherrschende Art und Weise zu combiniren. Von jedem Punct aus im Gebiete des Combinirens giebt es unendliche Übergänge zum andern, und daß der eine von demselben Puncte dahin geht, der andere dorthin, wenn man das so erklären will: beide folgen eigentlich denselben Gesetzen der Ideenassociation, den einen hat aber der Punct in einem andern Zustande angetroffen, so schiebt man die Erklärung immer zurück auf die Hauptfrage: soll die Verschiedenheit auf äußere oder auf innere Weise erklärt werden? Die eine Erklärung sagt: alle Menschen sind ganz gleich geboren, nach den äußern Umständen werden sie anders. Die andere ist die innere: die Menschen sind schon ursprünglich verschieden, es ist in dem einen eine andere Neigung gesetzt als in dem andern. Wollte man nun sagen: Hiedurch geht nicht nur der äußere Einfluß in den Hintergrund zurück, sondern auch der Einfluß des Willens, und der Mensch erscheint ganz vorherbestimmt zu dem, was er sein soll, so sagt Schleiermacher: Das ist gar nicht die Meinung. | Der Einfluß der äußern Umstände ist nur der wechselnde, die Seele der bleibende Factor; und indem gesagt ist, daß die Entwickelung von der Neigung ausgeht, so geht sie vom Willen aus. Die Neigung ist die überall wiederkehrende Formel, wie sich der Wille ausspricht. Die aber alles auf ein paar allgemeine Formeln im Gebiet des Denkens zurückführen wollen, die mögten noch darlegen, wie sich der Mensch den Willen bildet. Das geht aber nicht in das Denken hinein; der Mensch macht nicht den Willen, der Wille nicht den Menschen, sondern es ist beides dasselbe, wo der Wille ist, da ist der Mensch, und wo der Mensch ist, da ist der Wille, und der Mensch kann nie in einer absoluten Passivität gedacht werden, sei es auch in seinem ursprünglichsten Anfange. Ist denn alle Thätigkeit bloß das Resultat der Einwirkungen, oder sind auch die Einwirkungen schon im Voraus durch

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seine eigene Thätigkeit bestimmt? Giebt man die Abhängigkeit der Thätigkeit von den Einwirkungen zu, so lohnt es nicht der Mühe Neigungen | im Menschen zu setzen, denn alles ist dann durchaus wandelbar, was fest wird, wird durch die Gewöhnung fest, und der Mensch wird von Anfang an ein Spiel dessen, was auf ihn einwirkt. Sagen wir im entgegengesetzten Sinne: die Einwirkungen von außen auf den Menschen kommen schon in ihm an durch seine eigenthümliche Thätigkeit bestimmt, dann giebt es eine Neigung, einen Willen, der dann auch ursprünglich gesetzt werden muß. Das Princip also der eigenthümlichen Gedankenverbindung ist der Wille. Der Wille ist nichts anderes, als das Maaß aller verschiedenen Richtungen, die wir uns in der Seele zu denken haben; er ist die Bestimmung der eigenthümlichen Welt für den Menschen. Dies können und müssen wir ganz allgemein sagen: so wie ein Mensch als eigenthümliches Wesen gesetzt ist, so ist auch die eigenthümliche Welt für ihn mitgesetzt, und seine Entwickelung ist die Entwickelung dieses eigenthümlichen Daseins zu allem übrigen Dasein. So müssen wir es auch insbesondere auf dem Gebiet des Denkens sagen: es giebt kein anderes Princip hier als den Willen. Nun aber muß man nicht sagen: ich will die | Gedanken des Menschen aus seinem Willen erklären, sondern umgekehrt: ich will die Combinationen des Menschen betrachten, um seinen Willen zu betrachten. – Wir wenden dies auf alles an worauf es im Denken ankommt. Wenn ein Mensch sich ein bestimmtes Gebiet des Denkens herausgreift, so verschließt er sich nicht für alles andere, aber daß er gerade das besonders heraushebt, ist Wirkung seines Willens. Was seine Vorstellungen für einen Inhalt haben werden, das hängt, als das Untergeordnete, von den äußern Einwirkungen ab. Fragt man aber: wie verarbeitet er das Gegebene, und welche Combinationen greift er heraus aus dem unendlichen Gebiet? so geht diese große zweite Operation wieder vom Willen aus. Neigung und Wille, Talent und Wille ist Eins, die Regel der Bewegung im Denken und der Wille ist Eins. Das eigenthümliche Verhältniß zwischen der Seele und der Welt, wodurch sich die eine Seele von der andern unterscheidet, ist das, worauf alles zurückzuführen ist. Betrachten | wir die Seele der Art nach, so ist jede Seele der Ort für alle möglichen Gedanken; in ihrem eigenthümlichen Dasein betrachtet besteht sie darin, daß nun ein eigenthümliches Verhältniß gesetzt ist der Seele zu jedem Gedanken. Warum drücken wir dies durch Neigung aus? Weil wir uns das ganze Leben des Menschen auf diesem Gebiet des Denkens auflösen in die Vorstellung, daß er angezogen wird von Gegenständen und abgestoßen. Wunderlich ist nur, daß wir es passiv ausdrücken, denn es ist seine Action, seine Liebe, die ihn nach den Gegenständen hinzieht. Betrachten wir das

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Denken des einzelnen Menschen im Ganzen, und vergleichen es mit dem eines andern Einzelnen, und zwar wo die eigenthümliche Verschiedenheit möglichst groß ist, dann haben wir in dem, was in ihrem Denken identisch ist, bloß die Wirkung des Äußern, in dem was in ihrem Denken verschieden ist, die Wirkung des Talentes, der Neigung, des Willens. Wenn man sagt: auf dem Gebiet des Wissens | tritt dies anders hervor, als anderswo, so ist zwar wahr, daß auf dem Gebiet ein Calculus ist, aber die Eigenthümlichkeit selbst calculirt sich der Mensch nicht hieraus, sondern die Eigenthümlichkeit ist die eigene Art die Welt zu berechnen; aber sie ist nicht gemacht, nicht erfunden, sondern sie tritt aus der Fülle seines eigenthümlichen Daseins ursprünglich heraus. Die Differenz des Maaßes ist hier nur eines jeden eigenthümliche Art zu sein; ein Maximum und Minimum in den einzelnen Erscheinungen findet sich allerdings, läßt sich aber auch nur in der Eigenthümlichkeit des Lebens begreifen. Das Denken als Hervorbringen allgemeiner Bilder, geht aus und ist Eins und dasselbe mit der innern Bewegung der Organe, der Gegensatz von der äußern Bewegung derselben. Wie nun das Verhältniß beider in dem physischen Princip ist, so werden alle übrige Verhältnisse der Wissenschaft und des speciellen Denkens zur Erfahrung und zum einzelnen Willen sein. Beides aber ist nicht passiv geworden sondern identisch gebildet in dem eigenthümlichen Leben und mit allen Richtungen des Willens. | Ein und vierzigste Vorlesung.

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Inhalt. Von der Gedankenproduction die wir im Gegensatz der Phantasie dem Verstande zuschreiben. – Was läßt sich antworten auf die Frage: wie differirt die Eigenthümlichkeit der einzelnen Menschen und wodurch unterscheidet sich die eine eigenthümliche Natur qualitativ von der andern? – Von der Kunst. – Von der Aeußerung des Gefühls durch Ton und Gebehrde. – Mimik und Musik. – Wodurch unterscheidet sich die zur Kunst gewordene Aeußerung des Gefühls von der natürlichen? Es fragt sich: wir haben doch eine allgemeine Meinung, ja auch eine allgemeine Erfahrung von einer Gedankenproduction, welche wir dem Verstande zuschreiben, sollen nun diese Vorstellungen gar keine Realität haben, oder soll diese Gedankenproduction gar nicht in das wissenschaftliche Gebiet hineingehören? Die Gedankenproduction, die wir im Gegensatz der Phantasie dem Verstande zuschreiben, ist die, welche sich auf einen schon vorhandenen Schematismus bezieht, der dem Verstande besonders eigen ist; aber eben das deutet darauf,

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daß es eine zerlegende Kraft einer schon erfolgten Production ist. Der Gedanke, der so betrachtet wird, kann auf gleiche Weise sein ein Gedanke, der durch die freie Thätigkeit, oder ein Gedanke, der durch die aufnehmende Thätigkeit entstanden ist. Es verhält sich diese Thätigkeit wie die Analysis zur Synthesis. Durch eine Analysis kommt man nicht weiter, sondern man löst nur den Gegenstand mehr auf. Am Ende geht die Analysis auf den Syllogismus zurück, und der ist | durchaus bloß analytischer Natur. Frage ich wie diese entstanden sind, so beziehen sie sich auf ein allgemeines Urtheil, worauf sie zurückgeführt werden. Also aus der analytischen Natur geht hervor, daß jenes Verfahren kein ursprüngliches sein kann, weil es schon ein Gegebenes voraussetzt. Ob es nun einer selbst producirt, oder durch Mittheilung es erworben hat, das macht keinen Unterschied. Wir werden also diese als eine complementarische Thätigkeit zu jener ansehen, welche aber auf jener, der synthetischen ruht; diese aber folgt den Gesetzen der eigenthümlichen Natur. – Ferner könnte jemand fragen: wenn nun bloß gesagt ist, die Gedankenfortschreitung geht aus der innersten Eigenthümlichkeit eines jeden hervor, so ist noch nicht erklärt, was erklärt werden soll, und es läßt sich fragen: wie differirt die Eigenthümlichkeit der einzelnen Menschen? und da scheint es, als käme es darauf an, solche Formel zu suchen, derjenigen ähnlich, welche wir verschmäht haben. Aber auf das Aufsuchen solcher | Formel führt diese Ansicht gar nicht. Ein jedes solches ist ein Unendliches. So wie wir sagen: etwas, was wir setzen, ist ein Eigenthümliches, ein schlechthin Besonderes, so heben wir gerade diejenige Seite heraus, die dem Universellen entgegengesetzt ist. Das schlechthin besondere können wir nur durch Anschauung haben, und wir können nicht sagen, wir kennen seine eigenthümliche Natur, bis er nicht sein ganzes Wesen abgespiegelt hat. Was sich hierüber noch sagen läßt, müssen wir an das Gesagte anknüpfen. Die ganze allmählige Entwickelung des Denkens in der Zeit ist nichts anderes als das sich Ineinanderhineinbilden der eigenthümlichen Natur und der Idee der Welt. Halten wir dieses fest, so müssen wir sagen: es läßt sich nichts hinzusetzen als dieses zweifache: Eine jede Seele, als ein ahnendes Wesen, greift in jedem Moment nach demjenigen, wodurch sie in diesem Moment am meisten von der sie umgebenden Welt ergriffen wird, natürlich nach Maaßgabe des Zustandes in welchem sie sich befindet; | und in dieser Hinsicht können wir keine andere Differenz finden, als daß wir sagen: diejenige Seele die durch ihre Combinationen den schnellsten Fortschritt macht in der Auffassung der Welt, und diejenige, die die langsamsten macht, unterscheiden sich so, daß die erstere sich immer als das Größere und die letztere sich

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immer als das Geringere zeigt, die eigenthümliche Natur wird nicht so heraustreten und man kann die erstere die bessere die andere die schlechtere nennen. – Wenn nun die Frage aufgeworfen wird: wodurch unterscheidet sich die eine eigenthümliche Natur qualitativ von der andern? so kommen wir auf den vorigen Begriff zurück, d. i. durch die Differenz der Neigung und des Interesses, welches die eine Seele vorzüglich an diesem Gebiet der gemeinsamen Welt hat, und wir können nicht anders sagen: die menschliche Natur ist ein Eigenthümliches und die Welt ist ein Unendliches, das für jeden nach dem Maaß seiner Neigungen ein anderes wird, und wir können die Aufgabe diese Differenz zu finden niemals anders stellen als eine unendliche. – | Wollen wir auf diesem Wege die Eigenthümlichkeit kennen lernen, so können wir es nur durch vergleichende Zusammenstellung der Ähnlichkeit im Kleinen und Großen. Das aber ist das Anschließen an das Gebiet der Sprache, oder vielmehr Eins und dasselbe mit ihm; denn jede Sprache ist ein System von Gedankencombinationen, welche der Gesammtheit der so Sprechenden eigen ist, und sich eben in jedem Einzelnen besonders bildet. Unter Combination ist hier eben die Allgemeinheit des Begriffs in jedem Worte verstanden; die Art der Combination ist eben das System, ein abgeschlossenes und vollendetes Ganze unter sich. So ist das Combinationssystem jedes Einzelnen der Schatten der eigenthümlichen Welt des Einzelnen, und die Sprache der Schatten der einer Gesammtheit angehörigen eigenthümlichen Welt. Indem wir nun jede Seelenthätigkeit als – Eigenthümlichkeit der – Welt ansehen, so liegt ein Gesetz zum Grunde, das sich nun wieder in den größern Kreisen der Nationen wiederholt, jedoch können wir dies noch nicht in unsere Untersuchung hineinziehen. | Wir gehen nun zur zweiten Thätigkeit, welche wir in die freie ideale Richtung setzen, nämlich die Kunst. Dies ist es woran sich alles schließt, was wir Kunstproduction nennen. Das Gebiet ist ein so großes und mannigfaltiges, daß es auf den ersten Blick scheint, als ob es nicht in Eins zusammengehen würde. Betrachten wir einiges, so kommen wir sehr leicht darauf zu sagen: alle Kunst schließt sich an die ursprüngliche Äußerung, welche mit dem Gefühl zusammenhängt. Ein jedes bestimmte Gefühl, es sei nun ein angenehmes oder ein unangenehmes, ist nicht eher in einem bestimmten Moment abgeschlossen, bis eine Rückwirkung von innen hierauf erfolgt ist. Das ist eben die Aeußerung des Gefühls. Wir können dies auf zwei Schemata zurückführen, auf den Ton und die Gebehrde, und wir können eine ganze Abstufung solcher natürlichen Aeußerungen unter beide Formen zusammenstellen, die den Abstufungen des Gefühls selbst entsprechen werden; und nachdem wir uns selbst in dem Wechsel des Gefühls betrachtet haben, finden wir auch das Gefühl, welches dazu gehört. |

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Das ist das ursprüngliche Aeußerlichwerden des Gefühls. Wenn wir nun auf die Kunstgebiete sehen, so finden wir diesen beiden Formen entsprechend, auch die ursprünglichen Kunstgebiete, die wir mehr oder weniger entwickelt auf einer jeden Stufe finden. Das ist die Mimik und die Musik. Es giebt kein Volk, das diese nicht hätte. Ein anderes großes Kunstgebiet haben wir noch, welches sich am mannigfaltigsten entwickelt. Das ist das Gebiet der bildenden Kunst. Das ist eine Gestaltung der Production, und da entsteht nun die Frage: läßt sich das auf jenes zurückführen oder nicht? Um uns dies zu beantworten, müssen wir erst fragen: wie und wodurch unterscheidet sich die zur Kunst gewordene Aeußerung von der natürlichen? Schleiermacher weiß den Unterschied nicht anders anzugeben, als zu sagen: wenn in einer solchen Aeußerung durch den Ton oder durch die Bewegung zwischen dem Gefühl und der Aeußerung selbst ein Bewußtsein tritt von der Aeußerung, wie sie sein soll, dann ist sie Kunst; wo das ganz | fehlt, und sie nicht aus einem vorherigen bestimmten Bewußtsein aus dem Gefühl hervorgeht, da ist sie nicht Kunst sondern natürlich, wie z. B. alle leidenschaftliche Aeußerungen denen kein Bewußtsein der Abbildung vorhergeht. So ist z. B. im Tanz die Bewegung in der Musik der Gesang vorhergebildet. Wenn dies auch nicht in jedem Einzelnen vorkommt, so können wir sagen, daß es auch in diesem Menschen nicht Kunst, sondern Wiederholung dieser frühern Zustände ist. Ursprünglich war es gewiß so. Das Zusammengesetztere beruht aber auf einer primitiven Vorbildung im Bewußtsein, und in dieser Beziehung ist das Einfache und Einzelne im vorgebildeten Bewußtsein ein Element der Kunst. Der Materie nach ist also Kunst auf diesem Gebiete Aeußerung des natürlichen Gefühls, der Form nach aber ist das Eintreten des Bewußtseins nothwendig, ohne welches keine Kunst ist. Jemehr leidenschaftlicher Zustand da ist, desto weniger wird Kunst sein, zu der Besonnenheit und Bewußtsein erforderlich ist. Die leidenschaftlichen Zustände fordern noch | eine andere Rückwirkung als die bloße Aeußerung, welche nur Nebensache dabei ist, nämlich das Bestreben des Entfernens und Festhaltens der Dinge. Tritt aber der Nullpunct der Gemüthsbewegung oder Leidenschaft ein, so wird die Besonderheit, die Reflexion über den Zustand sich einstellen, und dann wird die Aeußerung die Hauptsache, und dieses geschieht vermittelst der im Bewußtsein vorgebildeten Aeußerungen. Und dies ist das Verhältniß der Kunst zu den Gemüthszuständen deren Dasein ihr immer erforderlich ist. Auf diesem Punkte bewußter Aeußerungen und festgehaltener Gemüthszustände bildet sich eben die Kunst. Hier kommen wir zu der Frage über das Verhältniß der bildenden Kunst zu der andern.

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Zwei und vierzigste Vorlesung. Inhalt: Character der Kunstthätigkeit. Verhältniß der Mimik und Musik zu den bildenden Künsten. – 5

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Wir fanden, es müsse erst ein Zustand der Besinnung eingetreten sein nach der ersten Affection, ehe die Kunst da sein kann. Der Künstler muß erst das Bild in sich getragen haben. Ganz genau zwar in seinen kleinsten Zügen mag es wol nicht in ihm gewesen sein, | aber vor der wirklichen Vollendung ist es doch innerlich da gewesen. Ebenfalls wahr ist, daß das Entstehen solcher Urbilder im Gemüth nicht aus einem leidenschaftlich bewegten Zustande hervorgeht, sondern aus dem Zustande der Besinnung; denn im leidenschaftlich bewegten Zustande kann niemand ein Urbild auffassen, und so festhalten, daß es hervortreten kann, weil die Bilder zu leise sind, als daß sie in einem leidenschaftlich bewegten Zustande entstehen könnten. In der Begeisterung entstehen sie zwar, aber auch die Begeisterung kann nicht aus einer heftigen Affection von außen erregt hervorgehen. Wenn der leidenschaftliche Zustand erst durch die Besinnung muß gemäßigt werden, damit die Aeußerung Kunst werden kann, so muß die Besinnung erst zur Begeisterung werden wenn ein höheres Kunstwerk daraus entstehen soll. Welcher Unterschied bleibt nun noch zwischen diesem Kunstgebiet und dem vorher betrachteten? Wir fingen damit an, daß wir die ganze Kunstthätigkeit | an die natürliche Rückwirkung eines bewegten Zustandes anknüpften. Das konnten wir da unmittelbar thun, hier nicht. Da redeten wir aber bloß von der Tonkunst und von der Mimik, und bei diesem fragt man: welcher bewegte Zustand dadurch dargestellt werden soll. Dies fragt man nicht bei einem Bildwerk. Dieser Unterschied ist sehr bedeutend, wenn er in diesem Maaße ist. Aber es ist doch auch gesagt: das Gemüth müsse erst durch den Nullpunct des Leidenschaftlichen hindurch gehen, ehe die Besinnung positiv wirksam könne werden und in eine urbildliche Thätigkeit ausschlagen. Hier ist also doch ein Begriff, der aus verschiedenen Größen zu betrachten ist. Die urbildliche Thätigkeit der Besinnung ist eine ganz andere, als wo sie im Kampf ist mit einer leidenschaftlichen Erregtheit des Gemüths. Jenes war der Übergang aus dem Zustande der natürlichen Gefühlsäußerung in die besonnene. Aber in den Kunstgebilden selbst ist das noch nicht der Fall. Das freilich bleibt, daß beim | Gebilde der Übergang nicht nöthig ist. Bei den andern Künsten ist der Übergang von der natürlichen Gefühlsäußerung in die Kunstthätigkeit zwar die äußere Form, aber der innere Gehalt kann noch mit jener derselbe sein. Haben wir nun zwar einen Übergang vom natürlichen zum Kunstgefühl gefunden, so haben wir doch die

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Kunstthätigkeit an und für sich noch nicht gefunden in ihrem Begriff. Wir sind hier in einer Analogie mit der Untersuchung der Wirkung des organischen Erregtseins auf die Seele. Dem Wahrnehmen lag auch schon ein Wahrnehmenwollen eine ursprüngliche Thätigkeit der Seele zum Grunde. Dieselbe Analogie hier. Jedes Gefühl, das Affect ist und in eine Begierde ausschlägt geht aus auf eine thätige Rückwirkung, und das Sichäußern ist dabei nur eine Nebensache von der realen innern Erregung. Die Hauptsache wird es erst, wenn jenes abgemacht ist, wenn der Zustand ganz aufgehoben, oder das Leidenschaftliche aufgehoben ist, und die Besinnung positiv werden kann. Es muß also | jenem sein Gefühl Aeußernwollen eine positive innere Thätigkeit zum Grunde liegen, welche nur die heftig bewegten Gemüthszustände zum Gegenstand nimmt. Sie kann aber erst durchdringen, wenn die Heftigkeit der Bewegung vorüber ist. Die Thätigkeit erscheint also hier allerdings als eine ursprüngliche, die nur die äußere Erregung zum Durchgangspunct braucht, der bloß ihre Richtung bestimmt. Dieses Sichäußernwollen ist also ursprüngliche Thätigkeit. Gehen wir hievon aus, so verschwindet der Unterschied zwischen beiden Kunstgebieten; denn ist es eine ursprüngliche Thätigkeit, so bedarf es keines heftig bewegten Zustandes sie ihren Gang gehen zu machen, sondern ein heftig bewegter Zustand bringt sie nur hervor, regt sie an. Es scheint auch in der Natur der Sache zu liegen, daß Musik und Mimik in der menschlichen Gesellschaft überall eher sind als die bildenden Künste, weil sie den Zustand der Thätigkeit bezeichnen, wo er noch äußerer Anstöße bedarf. Die bildende Kunst geht erst aus der Ruhe und Besonnenheit hervor. | Es ist dies zwar nicht geschichtlich ganz zu beweisen, weil wir kein Volk bis in die frühesten Zeiten verfolgen können, aber dahin kommen wir, daß Musik und Mimik schon ausgebildet sind, wenn die bildenden Künste erst anfangen. Besteht denn aber nun, auch wenn eine ursprüngliche Thätigkeit zum Grunde liegt, der Unterschied noch so stark, daß die Werke der bildenden Kunst aus einem ruhigen Zustande hervorgegangen sind, die der Musik und Mimik aus dem heftig bewegten? Nein, denn die Ruhe mußte doch immer erst da sein. Nicht der leidenschaftliche Zustand wird dargestellt, sondern der durch die Besinnung aufgehobene leidenschaftliche Zustand. Hier kommen wir auf das früher beim ästethischen Gefühl Gesagte zurück, daß es überall beruhe auf dem Bewußtsein des aufgehobenen Gegensatzes, auf einer solchen Verknüpfung, in der sich auf eminente Weise die Idee der Welt ausspricht. In dem leidenschaftlichen Zustande ist auch eine Fülle von Gegensätzen. In der Stellung desselben ist aber der Gegensatz zwischen den verschiedenen | Seiten des Daseins aufgehoben. Im Aufgehobensein ist die Ruhe, und daraus geht die Darstellung hervor. In dem Maaß aber als die innere Thätig-

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keit groß ist, wird das Kunstwerk groß, je größer die Fülle von Gegensätzen ist, die zur Ruhe gebracht sind, desto eher kann sich der bewegte Gegenstand zur Begeisterung entwickeln. Bei der bildenden Kunst sehen wir eine urbildliche Thätigkeit, die auf keinen bestimmten Moment einer leidenschaftlichen Bewegtheit zurückzuführen ist. Wir können dabei auf nichts anderes als auf die Totalität des Lebens zurückgehen. Jeder ruhige Zustand ist auf das Ganze des Lebens zu beziehen. Die Thätigkeit ist ein sich selbst in die Welt hineinbildenwollen, und das drückt sich am bestimmtesten in der bildenden Kunst aus. Sie bedarf aber einer Veranlassung die sich auf die Totalität des ganzen Lebens bezieht. Jeder der sich darstellen will, will immer dasselbe, das reine Bild seines Daseins darstellen. Bei dem einen liegt es auf diesem, bei dem andern auf jenem Gebiet | nach dem Maaße seines Interesses. Was bleibt nun als der eigentliche Unterschied übrig zwischen beiden Kunstgebieten? Dieses: daß das eine sich mehr eignet, das unmittelbare Aufgelöstsein der Gegensätze in den Erregungen des Gemüthes darzustellen, und daß eben deßhalb die Darstellung sich anschließt an die vorherigen Bewegungen; daß das andere sich mehr eignet, das ganze Dasein darzustellen ohne Beziehung auf vorherige Bewegungen. Das besondere Gebiet, das einer ergreift hängt mit seiner Eigenthümlichkeit zusammen. Es ist selten einer Maler und Bildhauer zugleich auf gleiche Weise. Zeichner und Bildhauer kann wol einer sein, denn das geistige Vorbilden ist auch ein Zeichnen. Die Malerei ist aber etwas anderes als die Zeichenkunst, denn sie beruht auf den Farben. Wenn die Alten mehr geneigt gewesen sind zur bildenden Kunst, so liegt das in ihrem innersten Dasein, weil alle ihre starken Erregungen auf dem Gebiete des bürgerlichen Lebens lagen. Das Eigenthümliche der | Malerei lag ganz im Schatten bei ihnen, die Landschaftsmalerei fehlte ganz, weil es keine starken Erregungen auf diesem Gebiet gab. Bei uns ist die Plastik nur Schatten der alten. Weil die Plastik sich bloß bezieht auf die Darstellung des Lebens in der todten Masse, weil sie nur dahin strebt, den Marmor lebendig zu machen, so faßt das Gesicht sie nur mittelbar auf, der eigentliche Sinn dafür ist der Tastsinn, so wie für die Malerei das Gesicht. – Jetzt kommen wir zur Poesie, die noch weiter abliegt von Musik und Mimik als die Plastik.

Drei und vierzigste Vorlesung.

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Inhalt: Von der Poesie. Betrachtung über die Kunstthätigkeit, über die Entstehung des Zustandes der Begeisterung und über die Ausführung des Kunstwerks.

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Das zuerst gefundene Kunstgebiet bringt Bewegungen und Töne hervor, die sich auf den unmittelbaren Ausdruck des Gefühls zurückführen lassen; die bildende Kunst bildet Bilder vor, geht also auf eine innere Thätigkeit zurück, die aber doch jedes mal der Abglanz einer Gemüthsstimmung ist, wenn auch keiner Einzelnen und auf Einzelnes sich beziehenden. Die Differenz der Poesie davon kann nicht in den Bestrebungen liegen, denn die sind in der Poesie wie | in der bildenden Kunst dieselben. Der Unterschied liegt wiederum nur in dem Mittel. Da könnte man freilich sagen, wenn man jene Aehnlichkeit nicht bemerkt hat: die Poesie stellt ja durch Gedanken dar, und das ist doch viel weiter entfernt von der unmittelbaren Aeußerung des Gefühls, als das Bild. Der Gedanke äußert sich um sich mitzutheilen; er theilt aber Anschauungen mit. Die Poesie scheint also die Anschauungen mitzutheilen, Erfahrung und Wissenschaft allgemein zu machen. Dies wird aber jeder gleich für Irrthum erklären, weil die Gedanken, welche die Poesie ausdrückt niemals Anschauungen enthalten. Was innerlich vorgebildet wird, ist freilich ein Aggregat von Vorstellungen, aber sie werden nicht mitgetheilt um die Anschauung hervorzubringen, weder eine erfahrungsmäßige noch eine wissenschaftliche. Eine offenbare Analogie ist zwischen den Gedankenreihen, welche die Poesie als Vorstellungsmittel gebraucht, und den Bildern, wodurch die bildende Kunst [sie] darstellt. Es giebt poetische Darstellungen die nichts sind als eine zusammenhängende Reihe von Bildern. | Nun muß man sich klar machen, daß der Unterschied von Bild und Begriff kein wesentlicher ist, daß letzterer bloß das Bild durch die Sprache festhält, und zu einem allgemeinen macht. Jedes Bild, wenn es als solches organisch dargestellt wird, will doch immer ein besonderes sein, und deßwegen ist es auch ein erstarrtes. Aber eine Vorstellung wenn die auch eine besondere ist, unterscheidet sich vom Bilde darin, daß in ihr eine Mannigfaltigkeit, welche unter ein Allgemeines subsumirt ist, gesetzt ist. Das kann aber nur geschehen, wenn sie Begriff ist, d. h. wenn sie im Gebiet der Sprache versirt. Das Bild kann nur einen Moment der Auffassung darstellen, die Vorstellung kann durch eine Reihe von Momenten hindurchgeführt werden, und bleibt immer ungetrennte Einheit. Ein Gedicht läßt sich auflösen in eine Reihe von Bildwerken. Die Reihe von Bildwerken ist aber immer nur ein Aggregat von getrennten Dingen. Das Gedicht hat aber innern Zusammenhang. Ein Bildwerk kann in ein Gedicht nicht übersetzt | werden. Das Dichtwerk hat als eigenthümliche Seite das Rythmische; das Eigenthümliche des Bildwerkes besteht im Licht und in der Form. Wer in dieser Mischung nicht ein Bild der Welt sieht, der versteht sich nicht auf die Anschauung eines Bildes. In der Kunst ist also das Bestreben der Seele ihre auffassende Thätigkeit in die Welt zurückzuwerfen. Das kann sie aber

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nur, wenn die auffassende Thätigkeit zur Ruhe gekommen ist. In der bildenden Kunst könnte nichts construirt werden, wenn im Menschen nicht die Fähigkeit wäre innerlich ein Bild zu construiren. Soviele Mittel wir haben die auffassende Thätigkeit von innen zu construiren, soviel verschiedene Kunstgebiete giebt es. Die Kunst kann nur wiedergeben, was mit dem Gefühl der Befriedigung, der Ruhe ist aufgefaßt. Dabei ist das leitende Princip die Idee der Welt. Wo sich diese Idee an und für sich darstellt, da ist der Trieb zur Kunst. Wem sich diese Idee nicht so darstellt, der kann weder ein Kunstwerk produciren noch genießen. Alle Kunst geht aus von der in Ruhe sich selbst betrachtenden Seele, | welcher Zustand bis zur Begeisterung gesteigert werden kann. Das Minimum der Seele in ihrer idealen Richtung ist das Auffassenwollen, ohne welches es kein Gefühl und kein Erkennen gäbe. In dem Maaße als das Auffassenwollen in allen verschieden ist, ist die ganze Richtung des Menschen verschieden. Das Minimum ist aber die Hingebung an das, was von außen kommt. Nun entwickelt sich das Auffassenwollen immer stärker, denn das ursprüngliche Minimum ist im beständigen Steigen, worin sich die ganze Fähigkeit des Menschen entwickelt[,] sich ein Erfahrungs und ein Erkenntnißgebiet zu bilden. Darin liegt aber der Zustand der Begeisterung nicht. Wir haben alle Kunst an das Gefühl angeknüpft, an das Bewußtsein des Menschen von seinen Zuständen, also auch von seinen erkennenden Zuständen. Sofern das Gefühl in der Beförderung und Hemmung des Lebens besteht, so geht zwar eine Darstellung davon aus, aber keine Kunst, sondern die geht erst von der Ruhe, vom Selbstbewußtsein aus, und so schlägt | die Sache um, und der Mensch producirt selbst. Wenn dem Menschen in dem Selbstbildenwollen das Auffassenwollen untergeht, wenn also jenes Minimum des Selbstbildenwollens zum Maximum gesteigert ist, dann ist der Zustand der Begeisterung da. Damit er aber zu dem Maximum komme, muß er in dem Bestreben sein, die Idee der Welt zu realisiren, es muß sich etwas in ihm erzeugt haben, worin er die Aufhebung der Gegensätze auf eminente Weise in sich selbst realisirt hat. Je höher das gesteigert ist, desto mehr tritt das auffassende Vermögen zurück. Null wird es nicht, denn dann wäre der Tod da, aber es wird Minimum. Solange der Zustand der innern Conception dauert, solange dauert der Zustand der Begeisterung. Die Ausbildung ist die Entwickelung des Moments in die äußere Erscheinung. So wie also die eigentliche Ausführung angeht, ist die Begeisterung selbst nicht mehr da, sondern bloß eine Nachwirkung davon. Die Ausführung hängt dann vom organischen Talent ab. Das organische Talent leitet aber schon die innere Conception, und es ist hier dasselbe, wie auf dem Gebiet der Erfahrung und des Wissens, wozu der Mensch das beste Organ hat, dazu hat er auch die eigentliche Prädetermination. – |

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Vier und vierzigste Vorlesung. Inhalt: Wie verhalten sich Wissenschaft und Kunst gegeneinander? – Von der Harmonie in dem Wechsel alles Daseins. – Betrachtung des freien Spieles der Einbildungskraft und seines Verhältnisses zur Kunst und Wissenschaft. –

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Nachdem wir dieses gesehen haben, wie sich aus dem Chaotischen die innere und äußere Erfahrung, die Gebiete des Wissens und der Kunst bilden, haben wir auch Zeit zu betrachten, was man gewöhnlich voranstellt, was sich zu diesem verhält wie das Chaotische zum Organischen, das Spiel der Phantasie. Zuerst wollen wir aber sehen, wie die beiden bisher betrachteten Gebiete sich verhalten. Das eine ist mehr das Bestreben die Idee der Welt zu realisiren, das andere das, sein eigenes Ich hineinzubilden. Sehen wir auf das Gebiet des Wissens, so frägt sich: ob es nicht ein Selbstbewußtsein da giebt, wo wir uns in dem Bestreben finden die Idee der Welt zu construiren, in der productiven Thätigkeit, und von der andern Seite darin ruhend, als ob die Construction vollendet wäre. Alle Mittheilung, sofern sie ausgebildet ist, müssen wir ja unter das Gebiet der Kunst subsumiren, und es kann einer nur zur Mittheilung sich getrieben fühlen, wenn eine Seite der Idee der Welt vollkommen ergriffen ist. Dasselbe liegt | jeder andern Kunstthätigkeit auch zum Grunde. Die Gestaltung der Mittheilung hat auch wieder denselben Character. Wo wir mittheilen von einem zum andern gehend, da ist es gleichsam zufällig, wo aber eine systematische Mittheilung ist, da soll sie ein Ganzes[,] in sich abgeschlossen sein. Hier haben wir eine Kunstdarstellung rein durch Gedanken, was uns anfangs die Poesie zu sein schien. Die Wissenschaft wird also hier, wenn das Selbstbewußtsein der Thätigkeit eine relative Befriedigung wird, zu einer Darstellung getrieben, die ganz den Character der Kunst hat. Indem wir im Forschen begriffen sind, fühlen wir uns selbst in einem bewegten Zustande der Begierde, die diese ideale Richtung hat. So lange wir in diesem Zustande sind, ist die Mittheilung etwas Untergeordnetes. So wie diese Begierde auf den Sättigungspunct gestiegen ist, tritt im Bewußtsein der Zustand der Befriedigung ein und die Mittheilung des Ich. Jemehr dieser Zustand gesteigert wird, desto mehr tritt eine Begeisterung ein. Wir wollen nun zusammenfassend | betrachten, was wir von Thätigkeiten der Seele uns vorgebildet haben. Wir haben kein vollkommenes Bild der Thätigkeit der Seele, weil die reale Seite der productiven Thätigkeit noch fehlt. Aber angenommen, sie sei schon ausgebildet, so sind diese Thätigkeiten immer ineinander. Die Seele wechselt darin, sie ergreift jedesmal das, wozu sie gerade getrieben wird. Dieser Wechsel ist eine Be-

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wegung, in welcher sie von außen erregt, reagirt und von innen erregt hinaustritt. Dieser Wechsel ist eine Begierde, in der jeder Moment für sich unvollkommen erscheint. Jemehr die Erregung von außen ist, desto mehr fühlt sie sich gehemmt, jemehr im zusammenschmelzenden Selbstbewußtsein die ausströmende Thätigkeit hervortritt, desto mehr fühlt sie den Lebensprozeß erhöht und gesteigert. Jemehr sie nun auf die ihr eigenthümliche Art diese beiden entgegengesetzten Zustände in einander verschmilzt und ins Gleichgewicht kommt, desto mehr fühlt sie eine Befriedigung in der allgemeinen Form ihres | Daseins überhaupt. Wenn hier das Gefühl des Gleichgewichts dominirend wird, so muß dies auf dieselbe Weise productiv werden. Worin ist aber die Aeußerung dieser Productivität? Wie kann die Seele abbilden, daß sie zur Harmonie im Wechsel alles Daseins gekommen ist? Das kann im Einzelnen nicht mehr abgebildet werden, sondern im Ganzen. Die Totalität des Lebens muß also die Form der Kunst hier annehmen, jeder Einzelne erscheint darin nicht für sich, sondern in seiner Beziehung auf das Ganze die Harmonie des Wechsels darstellend. Könnte dies in einem Einzelnen gedacht werden, so wäre dies der absolut vollendete Mensch. In diesem Sinne sprechen wir aus, daß das ganze Leben Kunst sein muß, daß alles Hemmende und Befördernde gleich muß in die Harmonie des ganzen Daseins aufgenommen werden. In solchem Zustande müßte alles, was irgend die Form der Begierde annehmen kann, als Minimum verschwinden. Indem dies hier anticipirt ist, ist es nicht | geschehen um dieses selbst darzustellen, sondern es ist geschehen zum Behuf der Betrachtung desjenigen Gebietes in der idealen Richtung, das uns noch fehlt. – Dies ist das durch das Chaotische Bezeichnete, wozu man sich so viele Mühe gegeben hat die Gesetze zu finden, die man aber nicht finden kann ohne das Organische abgeschlossen zu haben. Wie verhält sich nun das Gebiet zum Gebiet der Wissenschaft und der Kunst? Sehen wir auf den ersten Keim, wie irgend eine wissenschaftliche Thätigkeit anfängt, oder wie etwas im Bewußtsein aufsteigt, was Kunstdarstellung sein soll, so ist es in der Form von dem Chaotischen nicht zu unterscheiden. Wir können nicht entscheiden, ob die Seele selbstthätig ist oder getrieben. Wir finden dies am meisten in der freien Mittheilung zwischen dem einen und dem andern. Da wird man von dem einen Gedanken auf den andern getrieben, so daß der Zusammenhang schwer aufzuweisen ist. Dasselbe finden wir auch in dem einzelnen | Menschen in der Zeit, wo er nicht in einer regelmäßigen Thätigkeit ist, wenn er sich gehen läßt; es entsteht ein ähnlicher Wechsel von Vorstellungen, die bald Gedanken, bald Bilder sind. Das Characteristische kann also nicht in der gegenseitigen Erregung liegen, denn die Seele an und für sich erfährt das ebenfalls. Aber was noch mehr ist, selbst in der regelmäßigen

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Thätigkeit findet dasselbe Statt. Vorstellungen und Bilder gehen wie Schatten im Menschen umher, während die hellern Vorstellungen bestimmt hervortreten. Fragen wir nun: wie entstehen denn in uns ursprünglich neue Combinationen des Denkens, und wie entstehen jedem die Urbilder zu den einzelnen Kunstwerken? An und für sich betrachtet sind sie eben so, sie gehen aus dem Zustande hervor, in welchem dies freie Spiel entsteht. Tausende gehen darin auf und verschwinden, und Eins wird ergriffen mit ausgezeichneter Kraft und wird Anfangspunct einer ganz neuen Reihe. Was den Augenblick wieder verschwindet, und was sich so in eine bedeutende Zukunft hineinbildet, ist an und für sich betrachtet | nicht zu unterscheiden. Aber alles was so entsteht ist mehr Bild oder Gedanke. Ist es mehr Bild, so liegt es mehr auf der Seite der Kunst, ist es mehr Gedanke, so liegt es mehr auf der Seite des wissenschaftlichen und des Erfahrungsgebietes. Denken wir uns in den Zustande der aufnehmenden Thätigkeit. Jemehr uns diese darbietet, desto mehr tritt das freie Spiel der Seele zurück; es ist also nur eben soviel da, daß die Seele von dem dominirenden Zustande nicht ausgefüllt wird. Dasselbe finden wir auch, wenn wir uns die Seele in einem andern Zustande denken. Es kann ein Mensch begriffen sein in einer angestrengten Thätigkeit; jemehr diese dominirende Thätigkeit den Menschen ganz und gar einnimmt, desto mehr verschwindet alles freie Spiel, je weniger sie den Menschen einnimmt, desto mehr tritt alles freie Spiel hervor. In dem Maaß, als es das Resultat der dominirenden Thätigkeit hemmt, wird das freie Spiel ein Mangel, es wird eine gewisse Unfähigkeit in einem Einzelnen aufzugehen. | Je größer diese Unfähigkeit ist, desto weniger wird der Mensch es dahin bringen, auf einem einzelnen Gebiet es zu etwas Großem zu bringen. Der Grund kann aber auch in der Unangemessenheit des Gebietes zu der Kraft des Menschen sein, und dann wird das Spiel versiren in dem Gebiet, worin das Interesse des Menschen vorzüglich liegt. Viele haben ein practisches Interesse, aber nicht die Gelegenheit es geltend zu machen. In diesen sind beständig Bilder von allen nur möglichen Zuständen. Da sie in der Realität dazu keinen Vorschub finden, bilden sie dieselben auf diese ideale Weise. Dasselbe finden wir überall in dem Maaße als der Fall statt finden kann, daß die Kraft der Seele gehemmt wird durch die Umgebungen. Demjenigen, der eine entschieden speculative Richtung hat, kann das gar nicht begegnen, denn dem ist der Stoff seiner dominirenden Thätigkeit beständig gegeben. Aber wenn es auch dem Menschen niemals fehlt am Maximum des Stoffes für die dominirende Thätigkeit, | so ist doch klar, daß er niemals eine einzelne Form des Daseins allein ausfüllen 15 den] dem

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kann, sondern in jedem Moment müssen alle Formen des Daseins sein. Überwiegt eine Richtung, so sind alle andern in diesen Schattenbildern da. Dieses chaotische Gebiet ist also das beständige Complement zur Vollständigkeit des Lebens. Wenn man auf der andern Seite sagen könnte, die hier aufgestellte Idee ginge über die Wirklichkeit hinaus, so tritt hier der Fall ein wo man sagen kann: ja es geschieht manches in uns, was zu keinem bestimmten Bewußtsein kommt, weil wir nicht dazu kommen, es dazu erheben zu wollen, obgleich wir es können. Jemehr die dominirende Anstrengung da ist, desto weniger treten diese Vorstellungen ins Bewußtsein. Aber aus der Anstrengung selbst treten diese begleitenden Vorstellungen hervor, und verhindern die Fortsetzung der Anstrengung; aber aus dem chaotischen entwikkelt sich wieder eine neue Anstrengung | und so muß man den Übergang von einem Gebiet in das andere erklären. Das ist das Wahre, was in dem Ausdruck von bewußtlosen Vorstellungen liegt. Eine absolute Bewußtlosigkeit ist nicht da, sondern nur im Zurücktreten. Wir sehen aber, daß dies freie Spiel wirklich das Chaos ist, aus dem alles hervorgeht, die Oscillation von Anstrengung und Ruhe. Die Ruhe kann aber keine Unthätigkeit sein, sondern nur freier Wechsel des Spiels, worin sich die Richtungen mit einem Minimum von Zeit abwechseln. Für dieses chaotische Gebiet nun giebt es kein anderes Gesetz, als die Eigenthümlichkeit des Characters eines jeden, denn nie können wir einen Menschen in seinem innersten Dasein ergreifen, wenn wir dies unbeachtet lassen.

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Fünf und vierzigste Vorlesung. Inhalt. Von der realen ausströmenden Thätigkeit. Vergleichung derselben mit der Kunstthätigkeit. Verhältniß des Leibes in dieser Thätigkeit. Von der Nahrungsbedürftigkeit und der Schutzbedürftigkeit gegen die üblen Eindrücke der Atmosphäre | als den beiden Puncten von denen die Thätigkeit der Seele auf die Dinge ursprünglich ausgeht. – Von der Abstufung zwischen beiden. – Von dem ursprünglichen Triebe des Menschen die Natur beherrschen zu wollen. Jetzt betrachten wir die Thätigkeit, wo es auf Production von Veränderungen ankommt in den Verhältnissen der Dinge zu dem Menschen und der Menschen zu einander, nicht mehr wo es auf Production der Bilder ankommt. Eine | jede wirkliche Darstellung eines Kunstwerkes ist auch nur entstanden durch Veränderungen in den Verhältnissen der Dinge zu dem Menschen, allein es ist hier nur das Untergeordnete,

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die Hauptsache war immer die innere Production des Bildes, die Darstellung war bloß Verbindung zwischen der Production des Bildes und dem äußern Organ. Eben so ist es auf der andern Seite, wenn wir das Gebiet betrachten zu dem wir jetzt gehen, denn da finden wir größtentheils auch eine innere Vorbildung, und alle Veränderungen in den Dingen werden um so vollkommener sein, jemehr sie vorgebildet sind. Ohne das sind sie bloß instinctmäßig und darum unentwickelbar und unregelmäßiger. Hier haben wir also wieder die Elemente des vorigen Gebietes. Der Unterschied besteht darin, daß das innere Vorbilden und äußere Ausführen in [einem] umgekehrten Verhältniß stehen; in der Kunst ist das innere Vorbilden die Hauptsache, in dem Gebiet der realen Thätigkeit ist das Vorbilden das Mittel. | Woran haben wir es zunächst zu knüpfen, um die eigentliche Natur dieser Thätigkeit zur Anschauung zu bringen? Wir müssen davon ausgehen, daß dem Menschen die äußere Welt gegeben ist und zu gleicher Zeit sein Ich. Beides trifft zuerst zusammen in dem Ort, wo die Seele die Lebensthätigkeit erkennt, und alles Wahrgenommene auf die Gegenstände zurückführt. Der erste Anfangspunct ist also auch hier das Bedürfniß und das Verlangen, das Bedürfniß, eine hemmende Einwirkung auf die Lebensthätigkeit aufzuwehren, ein Verlangen, die Beförderung der Lebensthätigkeit zu erhalten. Wozu sollen wir aber den Leib rechnen? zu den Dingen die auf die Seele einwirken oder als identisch damit? Wir müssen hier wieder offenbar beides verbinden. Die Anfangs- und Endpuncte der Thätigkeiten der Seele liegen auch hier im Organismus. Von der andern Seite läßt sich der Leib ansehen, als auf die Seele einwirkend, denn die animalischen Verrichtungen des Leibes sind selbst eine hemmende oder fördernde Potenz, | denn wenn der Leib gesund ist, so fühlt sich auch die Seele gefördert, wenn dagegen der Leib in einem bedürftigen Zustande ist, so werden dadurch auch die Seelenthätigkeiten gehemmt, und die nachtheilige Einwirkung des Leibes auf die Seelenthätigkeit muß erst weggeschafft werden. Diese doppelte Ansicht müssen wir hier festhalten. Aber beide müssen wir vereinigen und sagen: es ist ein Maximum und Minimum der Vereinigung der Seele und des Leibes; wo das Maximum ist, erscheint der Leib als der Anfangs und Endpunct der Seelenthätigkeit, wo das Minimum ist, da erscheint der Leib als der Seele gegeben. Alles was zum Nervensystem gehört, fällt auf die Seite des Maximum; alles was bloß auf der vegetabilischen Seite liegt, gehört zum Minimum. Ganz in einander auflösen können wir beides nicht, so daß wir die Einwirkung des Leibes auf die Seele von dieser Seite rein auf eine Einwirkung der Dinge zurückführen. Man denke sich den Hunger. Der Leib wirkt da | auf hemmende Weise auf die Seelenthätigkeit zurück. Die Hemmung kann so groß werden, daß sie jede Thätigkeit

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des Willens übersteigt. Das können wir aber bloß auf die Einwirkung des Leibes, nicht auf die Einwirkung der Dinge zurück führen. Das Ganze können wir nur ansehen als Spiel dieser beiden Thätigkeiten. Wenn ein großes Bedürfniß entsteht, so muß die Seele in das Organische gleichsam aufgehen; wenn das Bedürfniß gestillt ist, so tritt das Intellectuelle wieder hervor. Der Mensch allein erscheint in dieser Oscillation. Betrachten wir den Menschen in der Gesellschaft, so wird durch das Bedürfniß der Mensch geweckt zu einer Thätigkeit auf die äußern Dinge, worin er seine Kraft manifestiren soll. Diese Nahrungsbedürftigkeit ist das erste Schema. Das andere ist das Verhältniß des Menschen zu dem allgemeinen Leben außer ihm, das Verhältniß des Menschen zur Athmosphäre und seine Schutzbedürftigkeit gegen deren üble Eindrücke. Hier ist eine Einwirkung der Naturpotenzen auf den Leib, welche nur | durch Rückwirkung von der Seele aus gehemmt werden kann, eine Aufforderung die aber nur aus dem Bedürfniß entsteht. Hier knüpft sich also der ganze Prozeß an die aufnehmende Thätigkeit an, er knüpft sich ganz an das Gefühl. Von jenen beiden Puncten geht ursprünglich alle Thätigkeit der Seele auf die äußern Dinge aus. Zwischen beiden bemerken wir aber schon eine Abstufung. Das eine ist offenbar weit mehr instinctartig, und es liegt ihm weniger Bewußtsein zum Grunde; das andere ist ein bewußteres, ein mannigfaltigeres, ein willkührlicheres. Sehen wir auf die Bedürfnisse die durch die Thätigkeit des Leibes selbst entstehen, so müssen wir sagen: wenn der Hunger entsteht, entsteht das Verlangen nach Nahrung. Wenn wir fragen: warum ißt der Mensch gerade dies und nichts anderes? so ist diese Frage ganz unwillkührlich, denn je größer das Bedürfniß ist, desto weniger ist der Mensch einer Auswahl fähig, er ißt, was ihm am nächsten ist. Wenn der Mensch Schutz sucht gegen die Atmosphäre, so hat die Sache schon eine | andere Gestalt. Der Mensch erscheint hier sparsamer ausgerüstet, denn das Thier bringt seinen Schutz mit, die Haut des Menschen ist aber bloß aufnehmend nicht abwehrend. Vergleichen wir aber die ganze Mannigfaltigkeit von Hilfsmitteln der Menschen gegen diese Eindrücke, so erscheint uns weit mehr willkührliche Thätigkeit auf dieser ganzen Seite, und schon vom ersten Anfang an müssen wir uns eine freie Wahl denken, denn man kann dem Ungemach schon von Anfang an zu entgehen suchen, und so auf negative Weise sich dagegen schützen, oder er kann sich auf positive Weise dagegen sichern. Im letzten Fall ist schon solche Mannigfaltigkeit, daß gleich eine ursprüngliche Thätigkeit dabei statt finden muß. Von der Nahrungsbedürftigkeit aus finden wir das nicht. Die Mannigfaltigkeit ist da entstanden durch eine Menge von Versuchen, indem der Mensch ergriff, was ihm jedes mal am nächsten war. Das ist der erste Anfang. Dagegen wenn wir von dem

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andern Puncte ausgehen, so finden wir schon darin, daß der | Mensch es vorzieht sich einen positiven Schutz gegen die Einwirkungen von außen zu bereiten, eine ursprüngliche Thätigkeit. Diese ist die Wurzel der ganzen Thätigkeit nach dieser Seite. So wie der Leib des Menschen auf eine doppelte Weise erscheint, als Anfangs und Endpunct seiner Thätigkeit, und als Einwirkung auf die Seele, so will die Seele dies auf alles Übrige übertragen. Alles was auf sie einwirkend erscheint von der einen Seite, das will sie von der andern Seite auch zum Anfangs und Endpunct ihrer Thätigkeit machen, das will sie zu ihrem Organ machen, und sich eben so zum Centrum desselben setzen und es beherrschen, wie sie den Leib sich zum Centrum gemacht und ihn beherrscht. Es ist also im Menschen ein ursprünglicher Trieb die Natur beherrschen zu wollen, der in dem ersten Stadium geweckt werden muß durch das Bedürfniß. So kann also niemand sagen, daß alle Thätigkeit des Menschen auf die äußern Dinge nur sich auf das Bedürfniß bezieht. Sagt man es, so wäre gar nicht zu erklären, wie der Mensch über das Bedürfniß herausgehen könnte. |

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Sechs und vierzigste Vorlesung. Inhalt: Womit hängt die Differenz der Ansichten über den Trieb des Menschen die Natur beherrschen zu wollen zusammen? Ziel der naturbeherrschenden Thätigkeit. Mit der Entstehung des Bewußtseins der menschlichen Natur als Gattung wird auch die Naturbildung als eine gemeinschaftliche gesetzt. Differenz der Ansichten hierüber. – Die weitere Ausführung dieses Punctes gehört in die Ethik. Die Differenz der Ansichten hängt aber zusammen mit dem Verhältniß welches in die Seele gesetzt wird, der Erregbarkeit und der Kraft, womit die Seele die innere Seite der Organe in Bewegung zu setzen weiß. Je mehr 13 dem ersten Stadium] der ersten Stadio

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16–17 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 320: „wir können dann nicht begreifen, wie der Mensch jemals über den Punkt hinaus kommen werde wos Bedürfniß befriedigt ist, und der ganze Reichthum den der Mensch gebildet zwischen seinen Kräften [und] den äußeren Dingen wäre durchaus unerklärlich. Gehen wir hingegen von jener Ansicht aus, so erscheint uns die Aufgabe sich der Natur zu unterwerfen als eine unendliche und das ists auch was uns die Erfahrung giebt, der Mensch bleibt nie stillstehen, Anders kann man die ganze weitere Ausbildung des Verhaltens des Menschen zur Natur nur als Korruption ansehen, ohne aber den Grund angeben zu können, woher diese Korruption im Menschen entstehen kann.

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erstere dominirt, desto mehr wird Reiz zum Genuß sein; jemehr letztere, desto mehr wird der Genuß zurücktreten. Wenn man sich den einzelnen Menschen isolirt denkt, seine reale Thätigkeit anfangend von dem Naturbedürfniß aus, aber, so daß in ihm gewirkt ist das Bewußtsein seiner Herrschaft über die Natur, so wird nun eine Steigerung angehen, deren Ende man im Einzelnen nicht absehen kann. Das letzte Ende soll sein, die Dinge dem Leibe gleich zu handhaben. Das setzt aber eine Herrschaft über den Leib voraus; der Leib wird also das erste sein, worauf sich die Thätigkeit richtet, damit durch Übung die organischen | Fertigkeiten erhöht werden. Das Maaß ist die eigenthümliche Natur einer jeden Seele selbst, der Grad des Interesses, den sie auf dieses Verhältniß legt. Mit diesem zugleich geht die äußere Thätigkeit auf die Welt an, wobei sich die Seele des Leibes in seinen verschiedenen Functionen als Werkzeug bedient. Diese kann nur zunehmen nach Maaßgabe als die Erkenntniß zunimmt, und jemehr er hierauf gerichtet ist, wird er alle Erkenntniß beziehen auf die Art, wie der Mensch die Natur beherrschen kann. Haben wir diesen Punct ins Auge gefaßt, und gesehen, daß jemehr die Erkenntniß wächst, desto weiter das Gebiet ist, so ist klar, daß die Thätigkeit nicht beschränkt ist durch das Bedürfniß, sondern daß sie eine unendliche ist. Die Extension der ganzen Aufgabe ist mit der ursprünglichen Thätigkeit gleich mitgesetzt. Aber was entsteht, wenn nun dem Menschen das Menschliche außer ihm erscheint? | Dann muß sich wesentlich ein gemeinsames Bewußtsein im Menschen bilden, dann muß er mit der Erscheinung des Menschlichen zugleich ein Bewußtsein der menschlichen Natur als Gattung erhalten, und dies muß in jedem irgendwie sein. Ist nun dieses Bewußtsein entstanden, und es entsteht durch die von dem Menschen ausgehende Thätigkeit, in der er das Schema seiner eigenen Thätigkeit wiedererkennt, so setzt die Seele dasselbe überall fort. Dies ist auch das ursprüngliche Schema, in welchem sich die menschliche Thätigkeit offenbart in der Gestaltung der Dinge. Das Bewußtsein, daß auch diese Thätigkeit sich nicht auf die Einzelnen, sondern daß sie sich auf die Einheit der menschlichen Natur bezieht, bildet sich natürlich. Hier finden wir nun wieder die verschiedene Wirkung der verschiedenen Grundansichten; denn wer diese Thätigkeit bloß von der negativen Seite ansieht als Selbsterhaltung, | der kann das Bewußtsein des Gemeinsamen nicht als ein Natürliches, sondern als ein Erkünsteltes betrachten, und muß dann sich sehr abquälen, doch das Ganze wieder auf die Selbsterhaltung zurückführen. Alle Vereinigung der Menschen erscheint so als 18–19 jemehr die Erkenntniß wächst] doppelt unterstrichen doppelt unterstrichen

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ein Erkünsteltes, das einzelne Dasein ist zum Centrum [geworden], und der Friede unter den Menschen wird erst gedacht als hervorgehend aus der Erfahrung, daß im Kriege jedes gegen alle für das einzelne Dasein doch nicht recht gesorgt sei. Nach unserer Ansicht aber wird zugleich mit dem Bewußtsein der allgemeinen Menschennatur auch die Naturbildung als eine gemeinschaftliche gesetzt. Mit dem Erscheinen des Menschlichen und dem Anerkennen desselben gestaltet sich die ganze Aufgabe um, nicht der Extension nach, denn da ist sie gleich als ein Unendliches da, aber dadurch, daß sie gleich auf das erwachte erhöhte Bewußtsein der Menschheit bezogen wird, dann dadurch, daß jede | einzelne menschliche Existenz dem allgemeinen menschlichen Bewußtsein untergeordnet wird. Alle einzelnen Menschen müssen in Wechselwirkung gedacht werden in Beziehung auf den in der allgemeinen menschlichen Natur liegenden Trieb der Naturbildung. In wiefern im Schematismus der menschlichen Thätigkeit das Bewußtsein der Identität überwiegend ist über das Bewußtsein der Differenz, so wird auch hier ein verschiedenes Maaß sein. Eine ursprünglich gegebene Mannigfaltigkeit müssen wir auch hier gleich setzen, und so wird in dem einen eine größere Verwandtschaft sich für uns offenbaren als in dem andern. In dem Maaß der Identität des Schematismus wird die Gemeinschaft und die persönliche Zuneigung gesetzt. Hier also auch eine unendliche Reihe der Zuneigung und Gemeinschaft. Völlig verschieden kann die Idee der Gemeinschaft aller nie [sein]. Das Minimum ist das Anerkennen | der Thätigkeit als einer menschlichen auf dem Gebiet, das die sich setzen; doch muß die Anerkennung der Trennung der Gebiete da sein, wenn das Anerkennen ein Minimum sein soll. Von unserer Ansicht aus finden wir es also auch natürlich den Widerstand anzunehmen, aber nur bedingt durch das Minimum des gemeinsamen Bewußtseins und Überschreitung des natürlichen Bewußtseins. Die entgegengesetzte Ansicht setzt die Trennung als ursprünglich, die Gemeinschaft allmählig entstehend aus dem Gefühl des Nachtheils, welchen die Trennung dem Einzelnen bringt, setzt also voraus, daß ein Widerstand, wo der andere eine Gemeinschaft setzen will, ehe er das Bewußtsein hat, daß er selbst dadurch bewegt werde. Hier ist ein völliger Gegensatz. Wir lösen ihn darin auf, daß ein relativer Gegensatz umgekehrt wird; denn ein Bewußtsein der Identität der menschlichen Natur muß auch auf diese Weise angenommen werden, wenn ein Minimum von Gemeinschaft entstehen soll. – |

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Sieben und vierzigste Vorlesung. Inhalt. Das bürgerliche Leben[.] – Gegensatz zwischen überwiegender Receptivität und überwiegender Spontaneität auf dem Ge-

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biete des bürgerlichen Lebens[.] Gesetzgebung[.] – Von der Anhänglichkeit an das Alte und der Liebe zum Neuen.

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Es war das ein großes Feld, von der Befriedigung der einfachen Naturbedürfnisse anfangend, was als Minimum der Quantität und Qualität nach angesehen werden kann, und von hier bezieht sich alle Vereinigung der Menschen auf den Willen, gemeinsam die Natur beherrschen zu wollen, d. h. von hier aus entwickelt sich das ganze bürgerliche Leben. – Jetzt sehen wir noch auf eine Differenz die auch schon impliciter in dem Gesagten liegt, nämlich in den verschiedenen Verhältnissen, welche zwischen den Einzelnen sind in Beziehung auf die Constitution eines allgemeinen Bewußtseins. Wir können hier nie eine absolute Gleichheit annehmen, es ist auch hier immer ein relativer Gegensatz von Spontaneität und Receptivität, und der eine wird mehr dies, der andere jenes repräsentiren. Wo die Receptivität repräsentirt ist, da ist die Nachbildung vorherrschend, derjenige Typus der Naturbeherrschung, | der ursprünglich ein Typus anderer gewesen ist. Dagegen, wo wir die Spontaneität überwiegend setzen, da setzen wir das durch den Ausdruck Erfindung Bezeichnete, den Anfang einer eigenen Erscheinung auf dem Naturgebiet, entweder nur der Form nach oder der Motive oder in Beziehung auf beides. Aber wir können hier noch einen großen Unterschied machen, ob einer bloß etwas für sich erfindet, oder nicht. Ist ersteres, so bezieht es sich bloß auf seine Persönlichkeit; und eine Nachbildung entsteht, so entsteht sie von selbst ohne den Willen des Erfinders. Aber wenn die Erfindung nicht in die Persönlichkeit, sondern an die Sphäre des gemeinsamen Bewußtseins, und der gemeinsamen Thätigkeit geknüpft ist, dann giebt es der Erfinder mit der Anmuthung, daß es der Anfang einer gemeinsamen Thätigkeit werden soll, und postulirt in den andern die überwiegende Receptivität. – | Aber er postulirt sie auch nicht so, daß er es als persönliches Verhältniß ansieht zwischen sich und einem andern Einzelnen, und er constituirt ihre Annahmen auch nicht als etwas Persönliches, sondern er verlangt: sie sollen es auf ein allgemeines Bewußtsein und auf eine allgemeine Thätigkeit beziehen. Das bezeichnen wir mit dem Namen der Gesetzgebung. Dazu muß aber eine Identität sein zwischen der Art, wie diejenigen die Thätigkeit construiren, die überwiegend receptiv sein sollen, und der Art, wie der Erfinder sie construirt. Dies gilt nicht nur vom bürgerlichen Gebiet, sondern von jedem andern, wo die Naturbeherrschung hervortritt, indem in Einzelnen ursprünglich die gemeinsame Thätigkeit sich ausspricht. –

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Hier ist wiederum ein großer Umfang, wo vorzüglich die Fähigkeit, das Gemeinsame zu construiren, von der einen Seite als Minimum erscheint, unter der Form der Receptivität, auf der andern Seite als Maximum unter | der Form der Spontaneität, alle unter der Form der Receptivität Lebende mit sich fortreißend, mit dem Übergewicht des positiven Bewußtseins sie ergreifend, um ihre Receptivität an seine ausströmende Thätigkeit anzuknüpfen. Wo das nicht ist, da ist keine Gesetzgebung. Dies führt uns noch auf eine andere Betrachtung, die in diesem Gebiet ihren vorzüglichsten Sitz hat, wenngleich sie auch durch die andern Gebiete geht. Wenn wir uns versetzen in den Zustand, wo ein Einzelner eines andern Empfindung nachbildet, oder wo mehrere die Gesetzgebung eines Menschen annehmen, so wird in ihr Gebiet etwas Neues gesetzt, durch die Thätigkeit eines andern. Indem wir nun das Annehmen der fremden Thätigkeit unter diesen Begriff bringen, und dabei bemerken, daß dies auch in verschiedenen als ein verschiedenes Quantum erscheint, so setzen wir eine geringere oder größere Neigung das Neue anzunehmen, und diesem gegenüber | müssen wir setzen eine größere oder geringere Neigung das Alter festzuhalten. Worauf beruht diese Differenz? Es ist dieses eine merkwürdige Erscheinung, welche oft von Kleinigkeiten ausgehend große Resultate hervorbringt, aber sie gehört auch mit zu dem geheimnißvollen in dem Gebiet der psychischen Verhältnisse und es ist schwer, den eigentlichen innern Grund davon zu finden. Wir müssen sehr bestimmt unterscheiden. Wir müssen uns zuerst den Menschen isolirt denken und fragen: ob da auch ein Analogon dieser Differenz ist, und dann müssen wir dasselbe thun in den geselligen Verhältnissen. Denken wir uns den Menschen isolirt, so werden wir die Differenz auch finden. Der eine zeigt überall ein Sichgenügenlassen mit dem, was er hat, der andere wirft immer das Alte fort, und hascht nach dem Neuen. Dem einen wird das Wiederholen der Eindrücke langweilig, in dem andern ist eine gewisse Scheu vor neuen Eindrücken. Das zeigt sich in den | allerkleinsten und allerpersönlichsten Dingen, z. B. giebt es Leute, die sich durchaus nicht von ihrem alten Rocke trennen können, und eben so ist es auf der andern Seite. Den Erklärungsgrund werden wir wol in einer allgemeinen Anschauung finden. Wir haben gesagt, daß alles, was im Gefühl als Erhöhung der Lebensthätigkeit erscheint, früher oder später aufhört Sensation zu machen; der Gegenstand bleibt, die Sensation hört auf, weil das Gefühl bloß in der Steigerung [ ]. Setzen wir nun das Erwerben des Menschen mit in das Gefühl, so wird das, was der Mensch schon eine Weile gehabt hat, 1 wo] wo sich 21 dem] den 39 wir] wir wir

38–39 Steigerung] es folgt ein Spatium für ein Wort

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keine Sensation mehr hervorbringen, und in dem Maaß er seinen Naturerwerb auf das Gefühl bezieht, d. h. auf den Genuß, in dem Maaß wird er nach Neuem streben. Dies Verlangen nach dem Neuen rein als Neuem ist vorzüglich in den genußbegierigen Menschen, was so weit gehen kann, daß ihm jedes Neue gleich | etwas Altes wird. Wo wir dies nicht finden, da werden wir auch Ursach finden zu glauben, daß der Mensch nicht seinen Erwerb auf das Gefühl, auf den Genuß bezieht, sondern daß es ihm auf die Thätigkeit selbst ankommt. Nun müssen wir ein Verhältniß aufsuchen zwischen beiden Richtungen. – Die Wiederholung, die auf dem Gebiet des Gefühls Überdruß hervorbringt, ist auf dem Gebiet der Thätigkeit das Erleichternde, und sofern alles auf die Thätigkeit und ihre Erweiterung bezogen wird, muß die Anhänglichkeit an dem Alten vorherrschen. Wer gern wechselt, betrachtet die Gegenstände als Gegenstände des Gemüthes; wer gern behält, betrachtet sie als Organ. – Nun erscheinen uns beide Neigungen jede als einseitig. Die eine, die Freude am Wechsel, erscheint uns offenbar als das Fehlerhaftere, weil die Beziehung auf den bloßen Genuß darin dominirt, die andern als das Bessere, weil die Beziehung auf die Thätigkeit darin dominirt. | Aber wir müssen die Sache aus einem andern Gesichtspunct betrachten, wo sie uns höher erscheint. Nämlich wenn wir uns auf den Punct einer neuen Evolution in der Naturbeherrschung stellen, daß irgendwo eine Erfindung hervortritt, oder ein Act mit dem Anspruch der Gesetzgebung, der das Alte wegwerfen und das Neue annehmen machen will, so hindert die Anhänglichkeit an das Alte, wenn sie absolut ist, den Fortschritt einer neuen Evolution, und was uns vorher als das Bessere erschien, erscheint hier als das Schlechtere. Das Entgegengesetzte erscheint auch nicht gerade zu als das Bessere, denn wenn die Genußsüchtigkeit dominirt, so kommt viel darauf an, in welcher Hände sie kommt. Alle Gräuel in der französischen Revolution haben in nichts anderem ihren Grund, als in demjenigen, worin auch der Wechsel der Moden seinen Grund hat, in der Liebe zum Wechsel. Sie hatten sich | am Alten satt getragen, und die ganze Nation ergriff das Neue in einem Zustande des Schwindels, der immer Steigerung suchte um nicht herabzusinken. An und für sich ist dies nichts Besseres, aber es kann etwas Besseres daraus werden, als wenn absolutes Kleben am Alten ist. Es war eine Gesetzgebung darin beabsichtigt, aber indem die Einzelnen nicht das Verhältniß des Persönlichen und Allgemeinen in sich trugen, kehrten sie das wahre Verhältniß der Gesetzgebung um, und statt receptiv zu sein, betrachteten sie sich als Erfinder. Wenn aber die Anhänglichkeit an das Alte überwiegend ist, so tritt die Anhänglichkeit an das Alte als Fehler hervor, es liegt das Verkennen darin, daß eine neue Form entstehen soll, die den ganzen menschli-

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chen Zustand höher bringen soll, und um derentwillen eine Beschwerlichkeit in die neue Form zu treten überwunden werden muß. Je verbreiteter die | neue Evolution eintritt, jemehr Versuche vorher gewesen sind, die aber scheiterten, um desto mehr wird auch die Vergleichung schon geworden sein, und die Unvollkommenheit des Alten wird klar sein. Je weniger dies der Fall ist, desto weniger kann die Anhänglichkeit an das Alte getadelt werden.

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Acht und vierzigste Vorlesung. Inhalt. Von dem Aberglauben.

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Schwer zu erklären ist noch der Aberglaube. Er ist freilich ein allgegenwärtiges Ding, aber er versirt doch vorzüglich auf dem Gebiet der Naturbeherrschung. Mit den gewöhnlichen Erklärungen ist nicht viel zu machen. Bei den entgegengesetzten Ansichten scheint eine Überzeugung von den Grenzen der Naturbeherrschung des Menschen zum Grunde zu liegen, von den Grenzen des Zusammenhanges alles desjenigen, was der Mensch schon unter seine Bothmäßigkeit hat, mit demjenigen, was er noch darunter bringen soll. Hätten wir diese Grenzen, und es würden dann Versuche gemacht oder Voraussetzungen, die über die Grenzen hinausgingen, | so wäre das Aberglaube. Nun sind aber keine Grenzen. Doch giebt es verschiedene Ansichten. Dominirt die, daß die Naturbeherrschung ein Unendliches ist, so ist jenes noch nicht Aberglaube zu nennen. Geht man davon aus, daß uns die Formel des Zusammenhanges auf irgend eine Weise vollständig gegeben ist, wenigstens so, daß wir jedes Einzelne prüfen können, ob es unter die Formel subsumirt werden kann, so giebt es Aberglauben, und ist die Formel eng, so ist fast alles Aberglaube. Es ist auch noch nicht lange her, daß man alles für Aberglauben ausschrie, was nicht im Gebiet der täglichen Erfahrung lag, und jetzt scheint sich das Gebiet der Natur so weit zu stellen, daß wir nahe daran sind, gar keinen Aberglauben anzunehmen. Von welchem dieser Extreme wir aber auch ausgehen mögen, so giebt es einen Fortschritt in Beziehung auf die Erweiterung und die Beengung des Begriffs der menschlichen Naturbeherrschung, | und wo man keine Analogie sieht mit der schon feststehenden Naturgewalt, da nennen wir es auch Aberglaube. Wir nennen das Aberglaube, wovon wir den Grund nicht finden können von dem Punct aus, worauf wir jetzt stehen. Aber wir nennen nicht nur das Aberglaube, wenn einer sich einbildet, etwas Ungewöhnliches auf dem Gebiet der Natur zu vermögen auf geheimnißvollem Wege, sondern auch das, wenn einer sich fürchtet vor der Natur, daß sie ihm auf geheimem

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Wege beikommen werde. Der eine ist der heroische Aberglaube, der andere der feigherzige. Beide sind immer zusammen, denn einer lockt den andern hervor. Es ist dies ein so natürlicher Zusammenhang, und er ist so constant, daß ziemlich häufig es schon bemerkt ist, daß gerade solche Menschen, die eine ausgezeichnete Geistesgewalt haben, d. h. durch welche sich das Gebiet der Naturbeherrschung erweitert, auch abergläubisch sind, desto mehr sich dem Menschen auf ungeregelte Weise das | Gebiet der Naturbeherrschung erweitert, desto leichter glaubt er auch an entgegengesetzte Erweiterungen, und nehmen wir dies mit dem vorher Gesagten zusammen, so werden wir der Sache etwas auf die Spur kommen; nämlich gerade aus diesem Zusammenhange sieht man, daß eben doch eine Regel zum Grunde liegt, die der Idee der absoluten Gegenseitigkeit zwischen der Thätigkeit der Natur auf die Menschen und der Menschen auf die Natur. Dasselbe finden wir auch da, wo aller Schein von Aberglauben verschwunden ist. Wenn eine solche geringfügige Vorstellung in einem ist, daß ihm alles Außergewöhnliche als Aberglaube erscheint, der hat auch eine geringfügige Vorstellung von der Einwirkung der Natur auf den Menschen. Von hier aus können wir an das zuletzt Abgehandelte anknüpfen. Wir sind da auch darauf gekommen, daß es in diesem Gebiet wie in jedem andern gewisse Evolutionspuncte giebt, | die aber mehr ihren Grund in der Natur, als in der Thätigkeit der Seele haben, also hier nicht betrachtet werden können. Was nun in dem Gebiet einer und derselben Evolution liegt, das kann unter eine bestimmte Analogie gebracht werden, denn es ist das unter sich vollständig Verwandte. Wenn wir nun annehmen, daß dem Menschen auf irgend einem Puncte ein neues Licht über die Natur aufgeht, woraus sich ein neues System entwickelt und Aufgaben entstehen auf die Natur einzuwirken, und Vorstellungen von der Einwirkung der Natur, die früher nicht sein konnten, so giebt es zwei Ansichten. Der Mensch trägt ein Gefühl in sich von der Unendlichkeit des Begriffs der Natur, er erwartet also immer, daß etwas Neues komme. Jemehr er dies Gefühl in sich trägt, desto lebhafter nimmt er das Neue auf. Es wird also das Einzelne durch Analogie und Deduction erworben, wenn man abstrahirt von der in uns ruhenden Idee der Welt, und wo man alles erst in die Analogie | hineinbringen will, da nimmt man schwer das Neue auf, sondern nimmt es für Aberglauben. Nun aber ist Leichtgläubigkeit von Aberglauben verschieden; Leichtgläubigkeit geht auf das Einzelne, der Aberglaube niemals, sondern immer auf ein Gesetz. Was er annimmt, nimmt er als Gesetz an, und wenn er scheint auf ein einzelnes Factum zu gehen, so liegt die Ahnung des Gesetzes darin. Der 33–35 Es wird ... Welt,] am Rand markiert mit ?

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Aberglaube kann überall einen Sprung machen, und wir haben nur Recht etwas Aberglauben zu nennen, sofern es einen Sprung enthält. Es kann nun ganz dasselbe in dem einen Menschen Aberglauben sein, in dem andern nicht. Hört es deswegen auf, weil es später erkannt ist, Aberglauben gewesen zu sein? Wir brauchen so wenig hier eine reale Entscheidung zu fassen, daß der Inhalt ganz gleichgültig sein kann. Früher sind aber Einwirkungen des Menschen auf die Natur und umgekehrt angenommen, die nicht erkannt waren, und auf nichts Erkanntes zurück gebracht werden konnten. | Damals war die Annahme desselben Aberglauben. Später nun werden die Lücken ausgefüllt, eine Analogie kann formirt werden, und von dem Augenblick an ist es kein Aberglaube mehr, sondern ein Factum, das in die Untersuchung hineingehört. Man kann dann noch sagen, daß es ein Gebiet ist, in dem die Leichtgläubigkeit versiren kann, indem sie viel Einzelnes aufnimmt, aber Aberglauben ist es nicht. Früher aber ist es allerdings Aberglaube gewesen. Das müssen wir statuiren, wenn der Begriff Realität haben soll. Was ist denn nun eigentlich der Aberglaube? Die Grenzen verschwinden uns. Es ist nichts anderes als ein Verhältniß zwischen dem Gebiet der Erfahrung, und der dem Menschen wirklich einwohnenden Idee von einer Unendlichkeit von Evolutionen, die folgen können, um dem Menschen das Innere der Natur weiter aufzuschließen, und wir werden immer sagen müssen: die Neigung hierin in allmähliger Fortschreitung zu | bleiben ist die Neigung, welche dem Aberglauben entgegen ist. Die Neigung sich über die Fortschreitung zu erheben, sich zwei Gebiete zu schaffen die von einander getrennt sind, führt zum Aberglauben. Nun werden wir uns auch sagen müssen: dies steht in relativem Widerspruch. Denken wir uns rasche Fortschreitung, dann können wir nur den Aberglauben als nicht bestehend denken, wenn wir den Exponenten der Fortschreitung ins Unendliche vergrößert denken. Denken wir uns den Exponenten der Fortschreitung ins Unendliche verkleinert, dabei aber die Idee der Unendlichkeit des Begriffs der Naturbildung, da ist der Aberglaube fast nothwendiges Supplement. In den Zeiten, wo die Fortschreitung in der Naturbildung Minimum ist, da ist auch der meiste Aberglaube, denn der langsame Fortschritt genügt nicht, und die menschliche Seele springt dann umher. Je rascher die Fortschreitung ist, und das ganze Erfahrungsgebiet speculativ behandelt wird, | d. h. reducirt auf die Idee der Welt, desto weniger kann es Aberglauben geben. Es ist eine Naturnothwendigkeit, daß es auf diesem Gebiet keinen Aberglauben geben kann, und wer absolut wissenschaftlich ist, kann nicht abergläubisch sein, denn da ist das bestimmte Bestreben, alles in Zusam1 kann] ist

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menhang zu bringen, und wo es noch nicht geht, es als problematisch aufzustellen. Ein absolut unwissenschaftlicher Mensch, der nicht abergläubisch wäre, wäre zu verachten, denn wenn für einen das ganze Erfahrungsgebiet rein mechanisch ist, und er macht sich keinen Aberglauben, so giebt er zu erkennen, daß er die Idee der Welt nicht in sich hat, und seine Seele im Mechanismus ganz aufgeht. Als Bestreben also ist hier der Aberglaube etwas Gutes. Was nun vorher gesagt ist von ausgezeichneten Menschen, das wird hier zu erklären sein. Worin steckt das, daß sie gewöhnlich abergläubisch sind? Es entwikkelt sich in solchen | eine erweiterte Kenntniß der Natur, eine Beschleunigung in dem Exponenten der Fortschreitung, die vorher nicht existirte. In ihm muß aber nun die Vorstellung von einem neuen Erfahrungsgebiet liegen, das mit dem vorigen in Widerspruch steht, und das Bewußtsein des eigenen Zustandes, und das Bewußtsein von diesem ist dasselbe. Wenn er sein neues Bewußtsein an das vorige anschließt, so setzt er auch keine neue Reihe. Er muß sich als Anfangspunct eines Neuen setzen, und es ist dann eine unwillkührliche Demuth, daß er abergläubisch ist, denn er setzt bloß eine Möglichkeit unendlicher Puncte, woraus sich ein Neues entwickeln kann, und da kann es nicht fehlen, daß nicht auch das vorkommen sollte, was im Gebiet des Aberglaubens liegt. – Was also dem Inhalt nach Aberglauben ist, das können wir nie bestimmen, der Form nach entsteht er durch ein Mißverhältniß zwischen | der dem Menschen einwohnenden Grundidee über sein Verhältniß zur Natur und zwischen demjenigen, was ihm als Erfahrung gegeben ist. Jemehr das Mißverhältniß steigt, desto mehr steigt der Aberglaube, jemehr er verschwindet, desto mehr verschwindet der Aberglaube. Diese ganze Untersuchung gehörte nur hierher, als eine Art und Weise der Vorbildung des Fortschreitens in der Naturbeherrschung. Seine abnormen Erscheinungen werden weiter unten wieder in Anregung kommen.

Von der Eintheilung in verschiedene Seelenvermögen. Neun und vierzigste Vorlesung. 35

Jetzt sind wir nun die einzelnen Thätigkeiten im Allgemeinen durchgegangen nach unserm Schema. Es ist bekannt, daß man die verschiedenen Seelenvermögen gewöhnlich zu theilen pflegt in niedere und höhere, und davon ist bei uns gar nichts vorgekommen. Wie verhält sich 32 Von der Eintheilung in verschiedene Seelenvermögen.] am Rand

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dies? Wir werden gleich auch die andere Eintheilung müssen mitnehmen, die diese durchkreuzt, die Eintheilung in das Erkenntniß- und Begehrungsvermögen, welche wir | auch im gewöhnlichen Sinne nicht mit aufgenommen haben. Über diese Differenz müssen wir uns noch erklären. Wenn man diese gewöhnlichen Eintheilungen etwas dialectisch ansieht, so kann man Erkenntniß und Begehrungsvermögen in der Realität gar nicht trennen; denn ich kann nicht erkennen ohne zu wollen. Will man beide trennen so muß man sagen: zum Erkennen liegt das Vermögen im Begehren, zum Begehren im Erkennen; jedes wird vom andern begleitet, und wenn es Zustände giebt, wo das eine als constant heraustritt, so ist dies im Zustande noch nicht geschehener Entwickelung. Das Empfinden müßte man dann unter das Erkenntnißvermögen subsumiren. Nun könnte man sagen: es versteht sich ja von selbst, daß diese Sonderung nur in der Abstraction ist, daß aber in jedem erfüllten Lebensmoment beides verbunden ist, und man trennt es nur zum Behuf der Betrachtung. | Aber welche Betrachtung kann aus der Trennung hervorgehen? Wenn man von verschiedenen Vermögen der Seele redet, so denkt man auch gleich an verschiedene Gesetze der Vermögen. Darauf geht dann auch diese Eintheilung aus, oder sie müßte bloß classificiren wollen. In einer psychologischen Darstellung aber scheint sie, statt zu fördern, das Ganze zu verderben. Man will beide sondern, um das Gleichartige in der Seele besser zusammenzufassen, und das ist eine Richtung auf die Resultate, nicht auf die That. Die Psychologie hat es aber mit der That zu thun, sie will die Seele als lebendigen Keim anschauen, mit den Resultaten hat sie gar nichts zu thun. Die Trennung führt wohl dazu, den relativen größern Werth der Vermögen zu betrachten, aber nicht die That selbst. Aber man muß auch verschiedene Gesetze dafür zu finden suchen, und auf welche Gesetze kann diese Trennung führen? Bloß auf technische, | und damit hat die Psychologie nichts zu thun. Es kann aus der Eintheilung Folgendes kommen: wenn dir ein unvollkommener Begriff gegeben ist, so mußt du das Bessere hinzuthun, um das Bessere zu gewinnen; wenn du nach dem Höhern strebst, so mußt du das Höhere Vermögen anwenden. Das ist also bloß technisch, und hätte nicht sollen in das Psychologische übertragen werden, wo es bloß Verwirrung hervorbringt, nämlich dadurch: wenn man über das Technische hinauswill, so muß man auf die Genesis der Erkenntniß sehen; will man nun da die Trennung noch festhalten, so muß Verwirrung eintreten. Ferner muß man bei der Trennung für jedes Vermögen besondere Gesetze aufstellen, und setzt so die Seele in einen innern Conflict, den man entweder ganz unaufgelöst läßt, oder man sucht 40 einen] einem

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ihn aufzulösen, und dann geschieht es doch nur, indem man die Trennung vernichtet. Dieser Conflict ist ein bloßes Phantom von jener Abstraction aus, der im Leben gar nicht ist, und so kömmt | man auf ganz falsche Ansichten von der Seele. Bei der Trennung ist der Seele in jedem Punct gleich möglich, eine Thätigkeit von der einen und von der andern Seite zu betrachten, sie kann sich ins Erkenntniß und ins Begehrungsvermögen werfen. Wohin sie sich werfen soll, dessen Gesetze muß sie befolgen. Aber nach welchem Gesetze wählt denn die Seele zwischen beiden? Da bleibt nun entweder ein hohler Begriff von Freiheit, wo von einer Wahl der Seele die Rede ist, die gar nicht da ist, denn die Vorstellung selbst kann als etwas Wahres aufgelöst werden, aber auf den Zustand von Wahl bezogen ist es ein hohler Begriff; oder man weicht so aus, daß man sagt: die Seele wird durch Reize bestimmt; die Reize liegen aber doch im Begehrungsvermögen, wenn nicht die Seele in bloßer Passivität sein soll. – Es ist gesagt: der Zustand der Wahl existirt nicht. Wir befinden uns doch aber oft in diesem Zustande, überlegen doch oft, | und darin ist doch eine Wahl. Das kann nicht geleugnet werden, aber eben so oft finden wir uns auch nicht in solchem Zustande, indem wir ganz ohne Wahl von einem zum andern gehen. Wäre aber die Theilung eine reale, so müßte dieser Zustand in jedem Moment gesetzt sein. „Aber, sagt man, er ist auch da, aber er bleibt größtentheils im Hintergrunde, und tritt selten in der Überlegung heraus. Je schlechter der Wechsel der Vorstellungen ist, desto weniger tritt die Überlegung hervor, je langsamer, desto mehr.“ So erklärt man sich dies. Aber das ist eine ganz falsche Ansicht. Es ist immer sehr übel, wenn eine Erklärung aufgestellt wird, wo das wirklich Erklärte ein Minimum, das Angenommene ein Maximum ist, denn das ist hier der Fall. Es ist also nach dieser Ansicht eine Unvollkommenheit, wenn wir ohne Überlegung von einem Zustande in den andern übergehen; und so ist die Sache oft vorgestellt, daß man sagt: die höchste Vollkommenheit ist die, daß alle möglichen | Vorstellungen klar im Bewußtsein sind. Das ist aber noch verkehrter, und hat überall um sich gegriffen, am festesten aber hat es sich in die Moral gesetzt. Das ist aber das Erbärmlichste, wenn der Mensch sich immer durch Gründe hindurchwinden soll. Die höchsten Gefühle werden dadurch ganz heruntergewürdigt. Das Größte geschieht doch in der Begeisterung, und das muß nach dieser Ansicht immer das Unvollkommenere sein. Und sehen wir auf das Kunstgebiet, so sagt man auch: die höchste Kunstproduction fände erst da statt, wenn der Künstler genau mit dem Verstande zu sagen wüßte, warum er so oder so gehandelt. Und was wir früher als das Höchste aufgestellt haben, daß das ganze Leben des Menschen Kunst sei, das erscheint nach dieser Ansicht als das Niedrigste. Um aber zu überlegen, muß man jede Vorstellung

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mit allen möglichen vergleichen. Alle möglichen Vorstellungen sind aber ein Unendliches, womit die einzelne Vorstellung | nicht verglichen werden kann. Also, sagt man, muß man alle zusammenfassen im allgemeinen Begriff, und das sind die Principien. Diese sollen herrschen. Mit ihnen aber herrscht das Todte über das Lebendige. – Angenommen nun, es giebt Zustände und Übergänge, wo man nicht gewählt hat, so giebt es doch einige wo man gewählt hat. Davon haben wir nichts gesagt, obgleich die schönste Gelegenheit dazu dagewesen wäre. Wir drängten aber alles kurz zusammen, und sagten: Die Aufeinanderfolge der Thätigkeiten geht hervor aus der persönlichen Eigenthümlichkeit; und die allgemeine Formel war: jede Seele greift nach dem in jedem Augenblicke, welches sie am meisten ergreift nach der ihr einwohnenden Idee der Welt. Die Wahl ist uns dabei zurückgetreten. Aber es ist damit auch wirklich die Indifferenz beider Zustände, der Wahl und Nichtwahl, gegeben. Die Möglichkeit der Wahl ist doch darin gesetzt; wir haben nur die Differenz nicht ins Auge gefaßt. | Aber liegt darin die Nothwendigkeit jener Eintheilung? Nein, es hätte nur die Überlagerung noch erklärt werden müssen. Es liegt aber die Erklärung schon in etwas Früherem. Als wir von dem Chaotischen der Gedanken redeten, da sagten wir, daß dies theils bei einem Übergange von einem Zustande in den andern vorkomme, theils begleitend einen höhern Zustande der Production. Wenn wir also wählen, so muß der chaotische Zustand eingetreten sein. Er kann zwar da sein, ohne daß wir wählen, aber wir können nicht wählen, ohne daß er da ist. Woher kommt es aber, daß, in dem ein Mensch überlegt, was er thun soll, ein anderer es recht gut weiß? Wären wir in dem selben Augenblick der andere, so würden wir es auch wissen. Es fehlt uns also nur eine Betrachtung, die der andere hat und wir nicht. – Warum haben wir sie nicht? Weil unsere Seele in einem deprimirten Zustande ist, der in dem Maaße größer ist, als das chaotische sie überströmt, die Seele des andern | aber nicht; der kann also gleich sagen was wir thun sollen. In dem deprimirten Zustande reden wir uns ein, daß uns mehrere Vorstellungen gleich nahe lägen. Das ist aber eigentlich nicht wahr. Ja sieht man auf die Resultate, so ist ein Resultat, durch wahren Calculus hervorgebracht, immer das Untergeordnete. Aus dem Zustande der Überlegung geht der Impuls zur Handlung gar nicht hervor, denn dieser Zustand entsteht gerade indem die Seele sich frei macht von dem Impulse. Und so kann sich die Seele nicht zwischen verschiedenen zu wählenden Gesetzen befinden in den verschiedenen Vermögen; sondern das Anknüpfen eines Momentes an den andern ist nur die Art, wie die Thätigkeit bald mehr steigt, bald mehr sinkt, und immer nur hat sie Eine Handlungsweise ohne Differenz von Gesetzen und eigenen Schattenbildern. – |

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Wir können die Sache noch von einer andern Seite ansehen. Wir können zurücksehen: 1) auf eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen deren jede eine besondere Reaction fordert; 2) in wiefern das Handeln nach irgend einer Seite hin gehemmt wird durch das Streiten der Vorstellungen. Was das erste betrifft, so müssen wir nur bedenken, daß die Mannigfaltigkeit nicht in der Seele, sondern in den auf sie einwirkenden Dingen ist, und der Unterschied liegt hier nur darin, wie der Weg der Sensation von dem Organ an bis zum innersten Punkt wo die Sensation angeht, gehemmt oder beschleunigt ist. Der Zustand selbst ist nicht eher beendigt, als bis die Reaction beginnt. Ein Moment, ein Gefühl, setzt sich hier also bloß zusammen aus einer Mannigfaltigkeit von Elementen, und deßwegen ist das Werden der Reaction langsamer. Ein Streit von verschiedenen Kräften ist das aber so wenig, als anzunehmen ist, daß verschiedene Sensationen auf eine Kraft fallen könnten. Was das zweite betrifft, so können wir das noch so ansehen: | Alle Vorstellungen, welche einem Handeln vorangehen, gehören zu dem Vorbilden der Handlung, das nach den verschiedenen Graden der Klarheit immer da ist. Der Art nach konnten wir aber nicht unterscheiden das ursprüngliche Entstehen eines Vorbildes von dem ursprünglichen Entstehen der einzelnen Elemente eines chaotischen Zustandes. Den chaotischen Zustand fanden wir immer als das Unbestimmte zwischen dem Bestimmten. Es fällt also dieses Gegeneinanderstreiten der Vorstellungen in das Entstehen des Vorbildes der Handlung hinein, und es ist nur die Art, wie aus dem Unbestimmten ein Bestimmtes sich bildet. Diese Oscillation aber zwischen dem Bestimmten und Unbestimmten finden wir doch, wenn wir auch die Seele ganz in ihrer Einheit betrachten, denn es ist die Form jedes endlichen Daseins. Wenn wir nun auf die Handlung selbst sehen, worauf sich die Vorstellungen beziehen, so geht entweder die Handlung erst an, nachdem das Vorbild entstanden ist, und dann hat der Streit der | Vorstellungen mit der Handlung gar nichts zu schaffen; oder wir setzen Streit jenseits der Handlung, und dann ist sie unvollkommener Art, weil sie kein Bestimmtes in sich trägt. Wenn nun in diesen Zuständen keine Nöthigung liegt, eine solche Mannigfaltigkeit zu setzen, so können wir die Verirrung desto mehr ins Auge fassen. Die Trennung, wodurch die Vorstellungen auf ein bestimmtes Vermögen bezogen werden, ist gut für das Critische und Technische, um zu sagen, in dieser oder jener Seele ist dies oder jenes Vermögen stärker oder schwächer, d. h. in ihr kommen diese oder jene Thätigkeiten mehr oder weniger vor. Psychologisch braucht man dies aber nicht auf ein besonderes Vermögen zurückzuführen, sondern daß dies oder jenes in

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ihr vorherrscht oder zurücktritt, ist durch ihre eigenthümliche Natur bedingt. Bringt man die Theilung in die Psychologie, so werden alle Vermögen personificirt, und die Seele wird angesehen als eine Gesellschaft von Personen, die mit einander sprechen. – | Die ganze Seele wird angesehen als eine moralische Person, und die physische Einheit geht immer mehr verloren, denn jede Selbstbetrachtung geht in die Mannigfaltigkeit auf. Jedes wirkliche Resultat erscheint dann für die Einheit der Seele als ein zufälliges, weil es immer nur auf ein Verhältniß, und zwar ein momentanes der einzelnen Person zurückgeführt wird. Die Klarheit des Bewußtseins muß nothwendig dadurch leiden, und eine naturgemäße Betrachtung der Seele kann nicht statt haben. Das Äußerste hievon hat Herbart in seiner Psychologie gethan. Er sagt: die Vermögen sind nicht die Kräfte, sondern die einzelnen Vorstellungen, und jeden Zustand betrachtet er als Resultat ihres Conflicts. Die Seele ist nun der Tummelplatz, wo sie sich bewegen, und die Einheit der Seele geht ganz verloren. Die Ansicht ist aber nicht jener Theilung in die Vermögen entgegengesetzt, sondern sie ist nur der höchste Punct davon. Sie geht auch auf dasselbe zurück, daß die Seele als Ganzes eine bloße Passivität sei, und weil bei dieser | aufnehmenden Thätigkeit keine ursprüngliche Kraft der Seele vorausgesetzt wird, kann die Einheit der Seele nie angenommen werden. Geht man in diese psychologische Ansicht ein, so ist es nothwendig, daß man schwindlicht wird, es entsteht eine Unfähigkeit daraus einen Gegenstand festzuhalten. Eine gesunde Betrachtung geht aber nur aus dem Festhalten hervor, und diese hängt zusammen mit der Zurückführung alles Einzelnen auf ein Ganzes. Wie sieht es denn aus mit der Theilung der Vermögen in niedere und höhere? Was ist hier die Differenz zwischen uns, und denen die die Theilung setzen? Haben wir in unserer Ansicht gar keinen Ort gefunden für diese Theilung, für den Unterschied eines Höheren und Niederen in der Seele? Wir haben auch zwei entgegengesetzte Enden gefunden: 1) die organische Thätigkeit; 2) die intellectuelle, wo die der Seele eingeborene Idee der Welt das Thätige ist, und vergleichen wir beides, so können wir freilich sagen: das Eine ist das Niedere, das andere das Höhere – | Wenn eine ausströmende Thätigkeit nur in den Organen ist, so wird das dem niedern Seelenvermögen beigeschrieben; will aber die Seele die Idee der Welt den Dingen einbilden, so wird dies dem höhern Seelenvermögen beigeschrieben. Haben wir also bloß die Worte vermieden? Nein, denn in dem Ausdruck Vermögen liegt doch dies involvirt, daß in den einzelnen Thätigkeiten das eine sein kann ohne das 12–15 Vgl. Herbart (1816), S. 101–117

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andere, und nimmt man dies an, so ist wesentlich Streit in die Seele gesetzt. So wie man sagt: es giebt Thätigkeiten, die bloß von der organischen Thätigkeit der Seele, und andere, die bloß von ihrer intellectuellen Seite ausgehen, so müssen beide gleich in Streit gedacht werden. Unsere Ansicht hat dies gleich geleugnet, und das Identische in beiden immer aufzufinden gesucht. Die Indication dazu lag darin, daß das eine nicht ohne das andere besteht, und daß keine Thätigkeit aufgezeigt werden kann, wo die eine negirt wäre. Das Menschliche ist immer nur im Zusammensein des Intellectuellen und des Organischen, | und das Zusammensein bleibt dasselbe, wenn auch das eine Maximum, das andere Minimum ist, und ein Höheres und Niederes giebt es da nicht. Die moralischen Erscheinungen, scheinen hier einen solchen Gegensatz nothwendig zu machen. Der Streit zwischen dem, was sich auf die einzelne Person bezieht, und dem, was sich auf ihren geselligen Zustand bezieht, kommt wirklich nur unter der Form einer Wahl, und nun sagt man: da sieht man ja, daß die Seele zwischen beiden wählt, und beide sind entgegengesetzt. In dem Geselligen und Menschlichen scheint uns nun das Menschliche erst in seiner Entwikkelung, also ist dies das Höhere, jenes das Niedere. Wir haben wir dies betrachtet, und liegt der Unterschied bloß in den Worten? Wir haben uns das eine gedacht als die Bildung eines erweiterten Ich im Menschen, als eine andere Evolution des Selbstbewußtseins. Wir haben gesagt, sie ist nothwendig gebunden an die Erscheinung des Menschlichen außer der eigenen Person. In der Betrachtung kam sie uns später, weil wir von der einzelnen Seele ausgingen, | aber wir sagten doch gleich, es sei in der Seele das ursprüngliche Voraussetzen des Menschlichen, und sie trage das erhöhte Selbstbewußtsein, wo die einzelne Seele nur als Theil der ganzen menschlichen Natur gesetzt wird, ursprünglich in sich. Keine Empfindung, keine Handlung kann es auf diese Weise geben, wo nicht das erhöhte Selbstbewußtsein mitgesetzt wäre. Das Menschliche ist hier wieder im Zusammensein des persönlichen Ich mit dem allgemeinern, und die größere Vollkommenheit liegt gar nicht immer darin, daß das Persönliche verschwinden muß, denn das erhöhte Selbstbewußtsein kann ja selbst die Berücksichtigung des persönlichen Ich verlangen; also ist hier gar nicht nothwendig, daß in dem Maaße als das Persönliche zurücktritt, das Allgemeine stärker wird. Aber wie ist denn der Streit zu erklären im moralischen Gebiet? Dieser fällt ganz und gar auch wieder in die allgemeine Form der Oscillation hinein. Wir müssen es darauf zurückschieben, daß wir im ganzen Leben der Seele diesen Wechsel fühlen: zwischen dem Versenktsein derselben ins Organische, | und zwischen dem Erhabensein derselben über das Organische. Das Maaß dieses Wechsels ist die Indication für den Zustand der einzelnen Seelen,

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wenn wir sie mit der menschlichen Entwickelung vergleichen. Aber es ist kein Streit der verschiedenen Kräfte gesetzt, denn in jeder Seele ist doch ein reines Continuum; sie zeigt sich immer als dieselbe, mit Ausnahme der allmähligen Fortschreitung. Finden wir nun die Seele als sich selbst gleich, warum soll ich mir den Streit denken? In der Seele ist der Streit gar nicht, er entsteht erst, wenn man beide auseinander hält. Was sind aber Mahnungen des Gewissens bei einer Handlung, die ich begehen will? Es sind die begleitenden Vorstellungen, die neben der eigentlichen Hauptreihe vorhanden sind. Eine andere Differenz ist hier nicht gesetzt; denn jemehr die Seele in einer Handlung aufgeht, sie mag sein, welche sie wolle, desto weniger sind solche Vorstellungen da. Wo gar keine solche Vorstellungen mehr sind, da, sagen wir, sei der Zustand der Verworfenheit, indem | das allgemein Menschliche als Minimum zurücktritt, und nicht einmal in den Vorstellungen heraustritt. Aber auch wo das Persönliche ganz dem Allgemeinen untergeordnet wird, sind bei einer Handlung, worin die Seele ganz aufgeht keine begleitenden Vorstellungen. Für das Psychologische an und für sich sind alle diese Trennungen der unmittelbaren lebendigen Anschauung entgegen, und sie verhalten sich zu ihr wie das Chaotische, Unbestimmte zu dem Einen Feststehenden. Die Trennung ist anderer Absichten wegen gemacht, des Logischen, Dialectischen und Moralischen wegen; und da ist die gut. –

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Einige ziehen in der Psychologie eine Dichotomie, andere einer Trichotomie vor; erstere theilen in Erkenntniß und Begehrungsvermögen, letztere setzen zwischen beide noch das Gefühlsvermögen. Wohin gehört nun dies bei den erstern? Dem einen ins Erkenntniß, dem andern ins Begehrungsvermögen. Daraus sehen wir, daß hier zwei Getrennte durch ein drittes vermittelt sind. | Wenn wir nun dabei uns an das von uns Gesagte erinnern, und nach dem Ort des Gefühls fragen, so finden wir ihn dann überall; und indem man das Erkenntnißvermögen als das erste setzt, das Gefühl als das zweite und das Begehrungsvermögen als das dritte, und sagt: ich erkenne zuerst durch Wahrnehmung, dann empfinde ich und dann reagire ich, so muß man einsehen, daß dies ein vollkommener Cyclus ist, und man eben so sagen muß: erst begehre ich, dann nehme ich wahr und dann fühle ich; und damit ist die ganze Eintheilung nichtig. Wenn man in niederes und höheres Vermögen eintheilt, so ist das die Dichotomie von dieser Seite; die Trichotomie ist: Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Mann macht einen Unterschied zwischen Begriff und Idee, der aber nicht festhalten will, und auch ursprünglich nicht

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gewesen ist, denn im Griechischen ist Idee und Gattungsbegriff einerlei. Man mag nun diesen Unterschied setzen wie man will, man mag die Idee setzen als ein Unendliches, den | Begriff als ein Endliches, so ist der Begriff doch auch wieder unendlich. Ein strenger Unterschied zwischen der mittlern und höhern Stufe ist also gar nicht da. Auch kann man die Sinnlichkeit vom Verstande nicht trennen, denn keine sinnliche Wahrnehmung ist verstandlos. Eine sinnliche Wahrnehmung die nicht in die Verstandesthätigkeit überginge, ist eben so unmöglich, als eine Verstandesthätigkeit, die ihren Anfang nicht in einer sinnlichen Wahrnehmung hat. Der Unterschied besteht nur wenn man das Sinnliche für ein rein Animalisches hält. So wie also eine Triplicität gemacht wird, verschwindet der ganze relative Gegensatz. Diejenigen, welche das Gesichtsvermögen als ein besonderes setzen, theilen es auch in ein höheres und niederes; andere setzen noch ein drittes dazwischen. Das andere ist bloß auf der organischen Stufe, das höhere ist das sittliche und religieuse. Woher kommt denn nun das Gefühl für das Schöne? | Es geht weder ins angenehme noch unangenehme, noch in das sittliche und religieuse, man setzt es also dazwischen. Hier ist es wieder eben so, denn das Höchste geht auch wieder auf das Organische zurück. Im sittlichen und religieusen Gefühl, finden wir, wie im organischen, das Angenehme und Unangenehme. Was ist also der wesentliche Unterschied zwischen beiden Sphären des Gefühls? Er bezieht sich auf die Erweiterung des Ich. Diese ist aber nichts anderes, als die natürliche Entwickelung der Seele vom ersten Anfang an. Das Minimum des ganzen Fortschrittes, das Minimum der Differenz vom ersten Anfang bis zur Vollendung, muß im ersten Fortschritt selbst schon sein. Sehen wir wie alle menschliche Erkenntniß durch Voraussetzung des Göttlichen bedingt ist, so müssen wir dieses auch als Minimum schon im ersten Anfang ursprünglich setzen. Eben so ist ein Minimum des Sittlichen im Menschen von Anfang an, und wenn Menschen auch ganz im Persönlichen | versiren, andere ganz im Sittlichen, so ist dies immer nur ein Mehr und Minder, und es ist kein Gegensatz, wo das eine da wäre und das andere verschwunden, und nirgends ist die Negation des einen gesetzt. Das Gefühl des Erhabenen und Schönen sieht auch aus als das Angenehme und Unangenehme; denn mit dem Wohlgefallen ist immer ein Angenehmes, mit dem Mißfallen ein Unangenehmes gesetzt. Wenn man dies nun zwischen den beiden Enden setzt, und dann die Enden selbst umkehrt, so kann die Trennung nichts Reales haben. 38 umkehrt] umkehren 1–2 Schleiermacher denkt an die griechischen Begriffe 5δε´ α und ε1δος (Idee und Gattung), die insbesondere in Platons Ideenlehre de facto synonym sind.

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Sehen wir auf das Begehrungsvermögen; wie heißt das niedere? Das sinnliche. Wie heißt das höhere? Das vernünftige. Ja eine Schule hat ja das Höhere des Erkenntnißvermögens und das Höhere des Begehrungsvermögens auf ein Vermögen geworfen, auf die Vernunft, und geschieden in die practische und theoretische Vernunft. So ist der Unterschied entweder ganz sinnlos, oder die Differenz zwischen Erkenntniß- und | Begehrungsvermögen ist aufgehoben. Eben so bei der Sinnlichkeit, in welche man dies niedere Erkenntniß- und niedere Begehrungsvermögen, und somit auch eine practische und theoretische Sinnlichkeit gesetzt hat; und also dasselbe Resultat. Mithin ist die Identität beider einmal in der Vernunft und einmal in der Sinnlichkeit gesetzt. Man beginnt also mit der Trennung, und hört auf damit, sie wieder aufzuheben. Sagt man nun im Verstande sei beides theoretisch, in dem Gefühl für das Schöne practisch vermittelt, so ist die Trennung auf alle Weise zerstört, und der Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft bezieht sich nun auf den allgemeinen Gegensatz des Organischen und Leiblichen, und der einwohnenden Idee der Welt, welche aber nie getrennt hervortreten; und so sind wir durch die Eintheilung selbst auf unsere Ansicht zurückgeführt worden. Aber wie, sollen denn alle diese Begriffe, | und die Bemühungen sie aufzufinden vergeblich und leer gewesen sein? Sofern man hier hat bestimmte Grenzen ziehen wollen und die Begriffe sondern, hat man etwas Leeres unternommen, denn die Begriffe lassen sich so nicht sondern. Aber sofern dadurch jede einzelne Thätigkeit als ein Fragment gesetzt, und ihre Beziehung auf die Totalität ins Licht gesetzt werden soll, ist man nicht im Leeren gewesen, und ist auch Gewinn dabei gewesen. Aber indem man sich hierin immer weiter verirrt, und die Einheit der Seele ganz verliert, ist es Zeit, daß man umkehrt, und sich weiter orientirt. Was ist denn nun, wenn man sich orientirt, die bleibende Anschauung? Die von der aufnehmenden und ausströmenden Thätigkeit. Neben dem Aufnehmen muß aber die ursprüngliche Thätigkeit anerkannt werden. Jemehr die Psychologie diese ableugnet, desto mehr geht alles auf Null aus. Die ursprüngliche Thätigkeit | ist aber dasjenige, was wir ins Auge fassen müssen; und dann setzen wir auch überall die Einheit der Seele zum Grunde, und sie kann sich uns spalten in Beziehung auf den Stoff; dann ist von verschiedenen Vermögen gar nicht mehr die Rede, sondern nur von verschiedenen Resultaten, indem dieselbe Thätigkeit der Seele auf diesen oder jenen Stoff, oder durch dieses oder jenes Me2–5 Vgl. Kant (1799); Ak 3 und 4,1–252; Critic der practischen Vernunft, Riga 1788 [SB 1017]; Ak 5,1–164; sowie Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 3. Aufl., Riga 1792 [SB 1019], insbesondere S. XII–XIII; Ak 4,385–464, 391

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dium wirkt. Wir haben wollen zur Anschauung darüber kommen, wie diese ursprüngliche Thätigkeit sich in jedem Menschen anders modificirt, und das ist für die Seele selbst und die lebendige Anschauung derselben das Wichtigere. – Da es für die verschiedenen Arten, von einem Moment zum andern überzugehen, keine andere Erklärung giebt, als die Art, wie die einzelne Seele nach ihrer Eigenthümlichkeit in Beziehung auf die ihr gegebenen media und den ihr gegebenen Stoff modificirt ist, so haben wir hieraus diese Anschauung | gefunden. Diese Anschauung müssen wir aber weiter fortsetzen. Wir haben bis jetzt nichts andres, als auf der einen Seite das Elementarische, welches so elementarisch angesehen, in allen dasselbe ist, und in diesem Einen ist die unendliche Mannigfaltigkeit möglich. So kommt man aber zu keiner lebendigen Anschauung ohne ein Mittelglied und das ist die bestimmte Vielheit, ein von der Identität und dem Elementarischen ausgehendes Princip, die unendliche Mannigfaltigkeit der eigenthümlichen Naturen zu classificiren. In dieser Classification haben wir dann eine bestimmte Vielheit, wo die allgemeinen Arten aufgestellt werden, und in jeder Art ein Princip der Modification. Die einzelnen Eigenthümlichkeiten müssen dann erfahren werden. Aber die bestimmte Vielheit haben wir in der Verschiedenheit der Temperamente, und durch sie werden uns schon die Arten der verschiedenen Eigenthümlichkeiten bezeichnet. – |

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Eine Betrachtung der Temperamente von der organischen Seite liegt nicht in unserm Plan. Die Namen, die aus der griechischen Physiologie genommen sind, werden aber auch wirklich auf das Psychische übertragen. Sind nun die Temperamente auch etwas Constantes? Die erste Frage wäre eigentlich: ob mit dem Organischen, das durch den Namen bezeichnet wird auch etwas Psychisches zusammensteht? Soweit es hier geht, wollen wir dies beantworten[:] Die psychischen Vermögen scheinen immer mit körperlichen Anlagen verbunden zu sein, aber gleichmäßig wird dies nie sein. Aber eben diese Ungleichmäßigkeit kann nun dazu dienen, daß wir die Sache gleich richtig und besser ins Auge fassen. Es ist etwas Psychisches und etwas Organisches im Temperamente, bald tritt das Psychische, bald das Organische mehr hervor. Die Duplicität ist hier wieder das Beste. Die gewöhnliche An23 Von den Temperamenten.] als Wiederholung am Rand: Von den Temperamenten.

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sicht ist: daß so | wie die Namen von der organischen Seite hergenommen sind, so auch die psychische von der organischen Seite abhängige, also das Temperament, als Bestimmtsein der Seele von dem Bestimmtsein des Leibes abhänge, so daß die physische Seite das Maaß wäre für die psychische. Das Umgekehrte zu sagen hätte dieselbe Dignität. Wir haben zwar eine größere Geneigtheit die Seele vom Leibe bestimmt zu halten, aber wir haben dazu gar keinen größern Grund, als zur umgekehrten Behauptung. Was ist also das Wahre davon? Nur die Identität zwischen beiden. Wir müssen die gegenseitige Bestimmtheit auflösen in eine Differenz. Das Wahre ist dieses, daß eine gewisse Bestimmtheit der Seele und eine gewisse Bestimmtheit des Leibes dasselbige sind; und will man das auf die Causalität zurückführen, so ist eine Wechselwirkung da, mit der immer eine Identität verbunden sein muß. Dieselbe Bestimmtheit kann nun bei dem einen Menschen mehr in die leibliche Seite, bei dem andern mehr in die psychische ausschlagen. | Wo die physische Seite dominirt, da ist eine Bestimmtheit der Seele durch den Leib, dessen Bestimmtheit stärker hervortritt, wo die psychische Seite hervortritt ist es umgekehrt. Den Zusammenhang zwischen beiden können wir nicht übersehen. Es fehlt uns ein Feld, das noch nicht erforscht ist. Wenn man den Gegensatz von Seele und Leib annimmt, so müssen wir sagen, daß ein unmittelbarer Zusammenhang der psychischen Thätigkeit mit diesen von aller Willkühr abgesonderten organischen Functionen sich gar nicht absehen läßt; denn soweit jetzt unsere Kenntniß geht, können wir uns dies nur vermittelt denken. Wie es also zugeht, daß die Seele mit einigen organischen Functionen leichter, mit andern schwerer zusammenhängt, das Wie wissen wir nicht. Aber das Zusammensein wissen wir allerdings. – In unsere Untersuchung gehört die psychische Differenz weiter zu verfolgen. Die älteste und verbreitetste Ansicht stellt eine Quadruplicität auf; aber | auch von diesem Puncte gehen wieder die größten Differenzen aus. Einige sagen: es giebt nur die einfachen Temperamente, aber eine Mischung anzunehmen wäre ganz verkehrt, weil das Temperament selbst eine Mischung ist, aber kein zusammengesetztes Verhältniß, denn ein solches ist immer kein realer Gedanke, sondern nur ein formaler ein Calculus. Andere sagen: alle Temperamente müssen in jedem sein; Eins wird aber immer hervortretend sein. Fehlte aber einem Eins, so hätte er eine unvollständige Existenz; und wenn ein Temperament das andere vertriebe, so könnte man sich dies nicht anders als bis zum Wahnsinn gesteigert denken. Dies sind entgegengesetzte Vorstellungen, denen nicht derselbe Begriff von Temperament zum Grunde liegt. Die Begriffe sind auch noch nicht wissenschaftlich

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durchforscht, sondern aus dem gemeinen Leben herübergenommen. Das Nächste, was wir zu thun haben, ist die Ableitung der Differenz aus unserer Ansicht, | die wir von der Seele zum Grunde gelegt haben. Haben wir die aus unserer Ansicht fließende Differenz gewonnen, so brauchen wir die andere nicht erst zu critisiren. Wir haben in unserer Grundanschauung eine Duplicität, die Bezug zu haben scheint auf die Quadruplicität. Diese Duplicität ist die von aufnehmender und ausströmender Thätigkeit, und diese scheint sich auf die Quadruplicität zu beziehen; denn in der Vorstellung vom colerischen Temperament ist mehr eine gewisse Art und Weise zu handeln und gedrückt in der Vorstellung vom sanguinischen mehr eine gewisse Art vorzustellen, und dieselbe Differenz ist zwischen dem phlegmatischen und melancholischen. Es läßt sich beides gar nicht streng trennen, aber die Duplicität selbst ist auch wieder in einander. Wenn aber der Mensch in nichts anderem begriffen ist als in der Aufeinanderfolge der Vorstellungen, so kann ich daraus wohl sehen, ob er melancholisch oder sanguinisch ist, aber ob er cholerisch oder phlegma|tisch ist, kann ich nur aus seinen Handlungen sehen. Bei demjenigen, der colerisch ist, kann eben sowohl eine Empfindung zum Grunde liegen, die melancholisch ist, als auch die, welche sanguinisch ist. Auf diesem Wege ist schon Kant gewesen. Wenn wir nun dieses voraussetzen, daß ein solcher Zusammenhang besteht zwischen dieser Quadruplicität und unserer Duplicität, für welche Ansicht müssen wir uns erklären? Dafür, daß die Temperamente nur einfach sind, oder dafür, daß alle in einander sind? Sagen wir sie seien bloß einfach, so sagen wir, daß in einem Menschen die Receptivität vor der Spontaneität, und umgekehrt, gänzlich bestimmt sei, und je nachdem das eine oder das andere wäre, wäre der Mensch entweder colerisch oder phlegmatisch, oder sanguinisch oder melancholisch. Aber können wir sagen: es sei in jedem von allen Temperamenten etwas? Nein. Unsere Vorstellung ist nicht gebunden an die eben ausgeführte Art, denn wir können sagen: | es ist in einem Menschen die Spontaneität und die Receptivität jede auf ihre Weise. Also ein colerischer Mensch kann dabei sanguinisch oder 1 Zusatz Berliner Nachschrift, S. 356: „Man hat zwar die Theorie der Temperamente als etwas Wissenschaftliches zu behandeln gesucht aber da ists falsch eine bestimmte Ansicht aufzustellen sondern man muß die Eine Ansicht mit der ursprünglichen vergleichen, oder man muß die Theorie in einer allgemeinen Wurzel nachweisen, die sie in der allgemeinen Konstruction der Seele selbst hat. Und hierauf muß es nun wirklich immer bei Betrachtung der Temperamentsverschiedenheiten ankommen.“ 20– 21 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 357: „Das Phlegmatische und Kolerische nennt daher Kant Temperament des Handelns, das Sanguinische und Melancholische des Gefühls.“ Vgl. Kants Unterscheidung in die Temperamente des Gefühls und die Temperamente der Tätigkeit; Kant (1798), S. 257–265; Ak 7,286–289

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melancholisch sein, aber phlegmatisch kann er nicht sein, denn das phlegmatische schließt das colerische aus. Alle Temperamente sind also bloß einfach, oder es kann zwar das Temperament der einen Art mit jedem der andern Art zusammen sein, aber nicht mit dem ihm coordinirten auf demselben Gebiet. Diese Vorstellung wird die populärste sein. –

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Können wir aber an den Grenzen und als Ausnahmen jene beide Extreme finden? Eine Mischung der Temperamente mußten wir annehmen, weil wir Spontaneität und Receptivität unterschieden. Was ist dann aber der Unterschied zwischen dem sanguinischen und melancholischen? Er liegt weniger in den Vorstellungen als im Gefühl, in den Vorstellungen nur, sofern das Gefühl darauf wirkt. Die Vorstellungen gehen aber auf die ausströmende Thätigkeit, auf die Construction der Idee der Welt, das Gefühl geht auf die Construction des Ich. | Es wird also deutlicher, wenn wir das melancholische und sanguinische Temperament auf das Gefühl beziehen. So auch schon Kant, der in Temperamente der Thätigkeit und des Gefühls scheidet. Es kann aber in einem Menschen die Thätigkeit so überwiegen, daß das Gefühl zurücktritt, und solche einseitige Abwendung vom Gefühl können wir uns in solchem Maximum denken, daß die Wahrnehmung einer bestimmten Temperatur des Gefühls nicht möglich ist. Hiemit stimmt überein, daß man dem colerischen und phlegmatischen Temperamente den Vorwurf der Gefühllosigkeit macht. Eine solche Einseitigkeit eines Menschen aber, daß die Gefühlsseite bis zu diesem Punct verschwindet, ist schon ein Aufgehobensein des Gleichgewichtes, und man kann ihn nicht als Norm, sondern nur als Ausnahme setzen. Wir haben gesagt: jedes Temperament der einen Classe kann verbunden sein mit jedem Temperament der andern Classe, aber die coordinirten Temperamente müssen verschwinden. Dadurch können wir jeden Menschen festhalten als eine | bestimmte Einheit, denn wir können sagen: die relativ entgegengesetzten Temperaturen des Gefühls sowohl als der Thätigkeit können nicht in einander sein. Nun aber kann es Ausnahmen geben, die ihre Temperatur durch äußere Umstände erhalten, und jeder Mensch, der auch wirklich eine Einheit des Daseins ist, ist doch allgemeinen Einflüssen, und denen Einzelner unterworfen, und es kann dadurch in ihm etwas gesetzt sein, was rein von selbst nicht in ihm wäre. So kann durch Ansteckung ein Zustand ent17–18 Vgl. Kant (1798), S. 259–261; Ak 7,287–288

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stehen, der von der ursprünglichen Temperatur der Seele abweicht; so kann dann die Temperatur in die ihr coordinirte und relativ entgegengesetzte übergehen, aber man muß das nicht für das Temperament des Menschen halten, denn auf den Zusammenhang des ganzen Lebens gesehen, müssen dies immer nur einzelne Momente sein, die dadurch entstehen, daß niemand ein für sich abgeschlossenes Dasein hat. Wenn wir also auf der einen Seite sagen mußten, wir können von unserer Ansicht aus die entgegengesetzten Ansichten | daß immer nur Ein Temperament im Menschen sei, und daß immer alle in einander wären, nicht theilen, sondern wir müßten uns in der Mitte halten, so müssen wir doch diese Extreme an den Grenzen anerkennen. Daß nun aber der Gegensatz des Colerischen und Phlegmatischen mehr in die ausströmende Thätigkeit falle, der Gegensatz des Sanguinischen und Melancholischen mehr in die Art wie man sich selbst setzt, das muß klar gemacht werden, und es kann am besten geschehen, wenn wir das Entgegengesetzte daneben stellen. Der Colerische und der Phlegmatische im Extrem erscheinen als gefühllos, und dann kommt in ihnen das Sanguinische und Melancholische nicht zum Vorschein. Es scheint aber in jedem Temperamente die Kraft zu sein auf das Gefühl zu wirken, und so scheinen auch diese eben so gut auf der Seite des Gefühls als auf der Seite der Vorstellung zu liegen. Wegen einer abweichenden Art zu empfinden, schreiben wir oft einem Menschen das phlegmatische Temperament zu, und wenn der Colerische aufgeregt ist, so ist er auch so versessen, | daß er weder hört noch sieht. Und so scheinen sich dann die Temperamente der Thätigkeit auch auf das Gefühl zu beziehen. Mit dem Gefühl ist aber die Reaction verbunden, und aus dem Mangel an Reaction erkennen wir das Gefühl und schließen darauf. Je stärker aber das eine oder das andere von beiden Temperamenten wirkt, desto weniger kann die Reaction hervortreten. Es ist also dies nur ein Schein, und genau genommen bestätigt sich unsere Ansicht, daß diese die Formen der ausströmenden Thätigkeit sind. Wenn das Gefühl, das Bestreben des Menschen, sein Ich für sich selbst zu setzen, einseitig dominirt, so kann alle ausströmende Thätigkeit so zurücktreten, daß keine besondere Temperatur derselben wahrgenommen wird. Das sind die Extreme des Sanguinischen und Melancholischen. Gehen wir etwas zurück von den Extremen, und wir sehen einen Menschen handeln, aber so daß er immer daraus zurückgeworfen wird, so geschieht das zwar im sanguinischen und melancholischen | anders, aber wir thun doch Unrecht, dies auf ein Temperament zu schieben, sondern es kommt dies vom Dominiren des 17 gefühllos] so Berliner Nachschrift, S. 360; Ms.: gefühltes über Thätigkeit

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Gefühls. Wird man eine Thätigkeit bemerken, so wird man auch unterscheiden können das Colerische oder Phlegmatische. Nun ist damit aber nichts ausgerichtet, daß wir sagen: diese Temperamente beziehen sich auf diese, jene auf jene Seite, sondern wir müssen fragen: wie denn die Temperamente zu einander stehen in ihren Gegensätzen? Ist das Colerische dem Phlegmatischen entgegengesetzt auf dieselbe Art, wie das Sanguinische dem Melancholischen? Wäre das, so müßte das auch schon auf etwas Früheres in unserer Grundansicht zurückgeführt werden können. Aber wir wollen diese Frage noch zurücklassen. Worin liegt auf der Gefühlsseite die Differenz des Sanguinischen und Melancholischen? Soviel wird wol in der allgemeinen Ansicht liegen, daß dem Sanguinischen eine größere Beweglichkeit, dem Melancholischen eine größere Zähigkeit oder Tiefe des Gefühls zugeschrieben wird. | Der Sanguinische hat ein Bedürfniß eher die Zustände zu wechseln, er giebt sich dem hin, was ihn afficirt; diese Hingebung setzt aber nichts Beharrliches. Dem Melancholischen schreiben wir das Entgegengesetzte zu. Wenn er sich in einer Stimmung befindet, so will er nicht heraus. Er giebt sich nicht den Gegenständen, sondern nimmt sie in seine Stimmung auf. Was springt uns daraus entgegen? Offenbar, daß das Dasein des Einen aus kleinen Einheiten zusammengesetzt ist, das Dasein des andern aus großen; denn kleine Einheiten und Wechsel der Zustände ist dasselbe, große Einheiten und beständiges Bestreben, das was einen afficirt, in die gesetzte Einheit aufzulösen, ist auch dasselbe. So werden wir also den entgegengesetzten Hauptcharacter so angeben können, daß der Puls des Gefühls in dem einen klein ist und schnell, in dem andern langsam und voll. Auf diese Weise erscheint dies nun als ein relativer Gegensatz, auf eine solche Art, daß beides in einander übergehen kann, und dies kann man als Einwendung | aufstellen, daß wenn die Differenz darin bestände, es Menschen geben könne, von denen man nicht sagen kann, auf welche Seite sie gehören. Das ist nicht zu leugnen. Aber welche werden es sein? Bloß solche, bei denen die Gefühlsseite die untergeordnete ist. Nun könnte man aber sagen: ja auch Menschen, bei denen das Gefühl nicht zurücktritt, können in der Mitte schweben, weil die Entgegensetzung nur auf ein Mehr oder Minder ankommt. Aber so ist es nicht, denn es ist nicht gleich, wie man Einheit und Vielheit begründet, sondern es ist ein bestimmtes Maaß dazu da, und der Punct wo weder viel noch wenig ist, der in der Mitte schwebt, wird sich gar nicht finden. Aber das ist gewiß, daß bei Vielen es sich sehr schwer wird entscheiden lassen. Wenn wir den Menschen auf 12 wird] ist

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einer untergeordneten Stufe der Bildung denken, dann scheint uns das persönliche Temperament mehr zu verschwinden, und es tritt nur das nationale heraus. Jemehr aber die Verhältnisse verwickelt werden, desto mehr tritt es heraus, damit aber auch das Maaß, nach denen die kleinen oder die großen Einheiten gemessen werden. – | Nun fragt man: der Melancholische ist also derjenige, der große Einheiten für sein Gefühl hat, er sucht seinen Zustand zu erhalten, aber das muß doch seine Grenzen haben, denn wenn derselbe Zustand sich immer erweitert, so müßte er zum Wahnsinn führen. Aber denken wir uns das Extrem des Gefühls, so ist auch die Angrenzung an den Wahnsinn da, ist das aber nicht gesetzt, so tritt auch die Thätigkeit hervor; und in der Oscillation zwischen der Thätigkeit und dem Gefühl ist die Erhaltung des Gefühls in seinen Grenzen auch in der Messung der großen Einheiten. So kann also auch dieser Gegensatz zurückgeführt werden auf einen allgemeinen Gegensatz, denn im ganzen Dasein, im ganzen Leben ist er überall.

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Gewöhnlich sagt man die sanguinischen Menschen sind lustig die melancholischen traurig. Das ist aber kein constantes Verhältniß, denn wenn die melancholischen einmal lustig sind, so können sie auch gar nicht wieder heraus. Wenn also bei ihnen das Trübe überwiegt, so liegt | das in Folgendem: die großen Einheiten im Gefühl führen schon das Trübe mit sich, und das Bewußtsein von den Gegenständen abzuhängen. Im Wechsel liegt das Gegengewicht gegen die Abhängigkeit, und das ist der Character des Sanguinischen, dessen Fröhlichkeit die Negation der Abhängigkeit in sich trägt. Wenn man daher von einer andern Ansicht das Verhältniß beider so gestellt hat, wie das Verhältniß von der Lust oder Genuß zur Sehnsucht oder Verlangen, so muß man auch hier sagen: der Wechsel von Lust und Verlangen ist dem Sanguinischen eben so nothwendig und auf dieselbe Weise als im Melancholischen. Im Melancholischen kann man sich auch nicht die Sehnsucht permanent denken, denn es giebt keine Sehnsucht die nicht ihre Befriedigung finden, oder sich doch verlieren müsse; und so wie im Sanguinischen die Sehnsucht vorkommt, so auch im Melancholischen die Befriedigung. Sehen wir auf die Seite der Thätigkeit, so fragt sich, ob hier nicht eine Parallele sei? Man setzt das Phlegmatische überhaupt als einen Mangel, und es steht unter allen im schlechtesten Credit. Das | ist 26–28 Vgl. Steffens (1806), S. 195

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aber eine ganz falsche Ansicht, denn es ist schon für sich klar, daß keines schlechter sein kann als das andere. Wir haben gesehen, daß jedes in seiner Einseitigkeit das Gleichgewicht bedrohen kann, nur jedes unter einer andern Form. Eben so kann aber auch jedes in seiner Form eine große Vollkommenheit des Daseins entwickeln. Im Gegensatz gegen diese Ansicht haben andere das Phlegmatische am höchsten gestellt, weil darin der Mensch seiner am meisten Herr sei. Das ist positiv genommen auch falsch, weil im Phlegmatischen, da es sich nicht auf das Gefühl bezieht, die Beweglichkeit des Menschen gar nicht angeschaut werden kann. Wenn wir nun keinem einen Vorzug zugestehen und fragen: worin besteht der Unterschied zwischen dem Colerischen und Phlegmatischen? so müssen wir sagen, daß jeder dem Colerischen eine gewisse Heftigkeit, dem Phlegmatischen eine gewisse Gelassenheit zuschreibt. Eben so schreibt jeder dem Colerischen ein mehr Eingreifenwollen in die Welt, dem Phlegmatischen ein mehr Kommenlassen; dem ersten ein mehr | die Schwierigkeiten suchen, dem andern mehr ein ihnen entgegenwirken auf negative Weise. Vergleichen wir beide von diesem Punct aus, so kommt uns von selbst jenes Verhältniß wieder, das wir bei dem Gefühl gefunden. – Dem Colerischen hat deswegen alles Einzelne eine größere Wichtigkeit, weil er es als eine Einheit für sich setzt; der Phlegmatische dagegen betrachtet alles als Theil eines größeren Ganzen. Der Colerische lebt in einer großen Masse von kleinen Einheiten auf dem Gebiet des Handelns, der Phlegmatische mehr in einer kleinen Masse großer Einheiten. Das colerische Temperament ist also mehr das empirische, das phlegmatische mehr das speculative, das alles Einzelne auf eine höhere Idee beziehende. Der Colerische ist deshalb in seinem thätigen Leben nicht ideenleer, und der Phlegmatische ist deshalb nicht unfähig zum Empirischen; vielmehr kann dem Colerischen eine große Idee vor Augen liegen, aber im Handeln tritt sie bei ihm nicht hervor, sondern bloß in der Speculation; | im Handeln geht er ganz in das Einzelne auf. Eben so kann der Phlegmatische die Schwierigkeiten des Einzelnen durch sein Temperament überwinden durch Hingehenlassen; das ist aber nur zufällig und sein Wesen ist immer alles Einzelne auf etwas Größeres zu beziehen. Das Einzelne geht so mehr an ihm vorüber. Auf diese Weise erklären sich hier auch die Anlagen, durch die man am einfachsten die Temperamente zu characterisiren glaubt. Wenn wir von colerisch hören, so denken wir gleich an den Zorn. Der Zorn ist nun nicht geradezu im Temperament. Den Phlegmatischen characterisirt man durch die Gleichgültigkeit, und man spricht ihm die Fähigkeit ab, in einem gewissen Grade bewegt zu werden. Das kommt daher, weil sein Bewegtsein in einem gewissen Moment nicht zum Vorschein kommt. Es wäre aber übel wenn wir das Temperament

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nicht erkennen könnten in dem Innern selbst, dort die Bewegung wahrnehmen, und die Thätigkeit, sich der Welt einzubilden, eben so stark, nur in anderer Form erscheinend. Was | die characteristische Basis ist von der Leichtigkeit in den Zorn überzugehen für den Colerischen, ist der unmittelbare Verkehr mit dem Einzelnen. Zorn ist dabei nur eine zufällige Erscheinung. Das Wesentlichste ist also wieder in Analogie mit jenem. Daraus entsteht aber ein Schein. Die Sache stellt sich nun so, daß die Temperamente, die sich auf die Thätigkeit beziehen, durch denselben Gegensatz getheilt sind, als die, welche sich auf das Gefühl beziehen. Daher sollte man schließen, daß der Colerische bloß könne sanguinisch sein, und der Phlegmatische bloß melancholisch. Aber so ist es nicht, weil wir beide Reihen als gleich ursprünglich gesetzt haben, und damit ist klar, daß nicht gerade von beiden Seiten dasselbe sein muß. Wenn der Colerische sanguinisch ist, und der phlegmatische melancholisch und also die Gefühlsseite in ihnen auf dieselbe Weise bestimmt ist, als die Thätigkeitsseite, so sind beide in größerer Einseitigkeit und größerer Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, und es ist eine glücklichere Temperatur melancholisch colerisch, oder sanguinisch phlegmatisch zu sein. | Man könnte nun wieder die Einwendung machen, daß, da doch kleine und große Einheiten nicht absolute Gegensätze wären, es Menschen geben könne, die zwischen dem Colerischen und Phlegmatischen in der Mitte ständen. Es ist aber ein gewisses Maaß da. Wo man nicht bestimmt unterscheiden kann, da ist überhaupt die Seite, auf der das Temperament liegt nicht hervortretend. Im natürlichen Maaß der menschlichen Dinge beruht es, ob wir die Einheiten, die sich der Mensch setzt, klein oder groß nennen. Es beruht auch dies nicht in der Größe der Gegenstände, sondern in der Größe der Handlung. Also wird auch die Ungewißheit, ob einer colerisch oder phlegmatisch ist, wenn einer nicht angesteckt wird durch andere, auch nur heraustreten, wo die Gefühlsseite heraustritt, die Thätigkeitsseite aber zurücktritt, so daß es uns an Merkmalen fehlt zu unterscheiden. Wo die Thätigkeitsseite hervortritt, da wird auch beides leicht zu unterscheiden sein. Das Temperament selbst muß temperirt sein, wenn es nicht | ins Extrem gehen soll. Das beste Gegengewicht dagegen aber ist das Hervortreten der andern Seite. Wenn einer in Gefahr ist, im Colerischen oder Phlegmatischen unterzugehen, so ist der wahre Rath dagegen, die Gefühlsseite hervorzuheben, dadurch würde die Temperatur der Thätigkeit von selbst sich temperiren, und so umgekehrt. Dies Temperirtsein der Temperatur ist also der Vorzug, aber es ist nur in einem gewissen Gleichgewicht des Gefühls mit der Thätigkeitsseite. Dem Menschen, als Naturwerk betrachtet, ist aber weniger Gefahr, ins Extrem zu kommen, wenn auf der entgegengesetzten Seite auch die entgegengesetzte Rich-

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tung vorherrscht. Im Leben aber ist beides, man findet sanguinisch colerische und melancholisch colerische, sanguinisch phlegmatische und melancholisch phlegmatische.

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Carus geht auch davon aus, daß die Temperamente nur verschiedene Modificationen wären, und es gäbe deren unendlich viele, denn jeder habe sein eigenes Temperament. Aus unserer Ansicht | geht nun eine Classification hervor, die dann wieder aus Unterabtheilungen besteht. Dann haben wir die Extreme eines Temperaments aufgestellt, und in Verbindung mit anderen, und darin liegt die ganze Unendlichkeit. Nun aber sagt Herr Carus: jedes einzelne Temperament solle unter eine einzige Abtheilung. Die Quadruplicität, heißt dies, beruhe auf keiner Dichotomie, und das verräth schon, daß die Sache nicht recht aufgefaßt ist. Die Temperamente werden auch bloß auf den Sinn bezogen, nicht auch auf den Trieb. Jeder wirkliche Zustand, wenn er auch durch äußere Einwirkungen veranlaßt ist, besteht doch aus dieser Einwirkung und einer Rückwirkung, und das Verhältniß zwischen Einwirkung und Rückwirkung ist ihm das Temperament. Dadurch setzt man doch die Rückwirkung unabhängig von der Einwirkung, denn sonst wäre die Rückwirkung gemessen nach der Einwirkung. Aber dann muß doch die Rückwirkung die ursprüngliche Thätigkeit sein, und dann ist nicht einzusehen, | wie das Temperament von der Beziehung auf den Trieb könne getrennt werden. Aber indem die Beziehung der Temperamente nicht klar ausgesprochen ist, so kann das Ganze nicht genügen. Ist denn die ursprüngliche Thätigkeit des Menschen vom Temperamente ausgeschlossen? Das wird niemand behaupten. Man führt aber die dort sich findenden Verschiedenheiten auf etwas anderes zurück. Es stehen bei Carus diese drei Verschiedenheiten zusammen: Naturell, Temperament und Character. Naturell ist die besondere Art und Weise, wie jede Seele als solche gesetzt ist. Wir setzten auf eine solche besondere Art und Weise der Seele zu sein voraus, aber wir können sie nicht außerhalb des Temperamentes setzen und sagen: vermöge des Naturells muß schon jeder Mensch sein eigenes Temperament haben. Dadurch allein wird aber nicht das Naturell 5 Vgl. Carus (1808), Bd. 2: „Nicht blos mehr als vier, sondern sogar unzählige Temperamente könnte man annehmen, weil die Menschen unzählig heissen können und Jeder sein eignes Temperament hat (wie schon Haller bemerkte).“ (S. 95) 11–12 Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 97–101 14–15 Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 94–96 28– 29 Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 93–96

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constituirt, sondern durch die Verschiedenheit der Neigungen und des Temperamentes zusammen wird das Naturell constituirt, aber außer dem Temperament kann es nicht liegen. | Wir haben gleich das Temperament auf das, was Herr Carus den Sinn, und auf das, was er den Trieb nennt, bezogen, auf die Receptivität und Spontaneität, und unser Theilungsgrund war die Art wie Einheit und Vielheit auf einander bezogen sind. Dies ist nun das Umfassendste, was wir denken können; das ganze Leben des Menschen ist nichts als das Produciren der Einheit aus der Vielheit und umgekehrt. Nur dadurch wird das Innere zugleich ein Äußeres, und das Leben wird dadurch ein verschiedenes; nur dadurch wird das Unbestimmte ein Bestimmtes, und das Leben wird ein Zeiterfüllendes. Den Gegensatz, der dadurch entsteht, wenn wir uns in einem Menschen die Einheit mehr ruhend, die Production der Mannigfaltigkeit stark hervortretend denken, und in einem andern die Beziehung auf die Einheit mehr hervortretend, die Beziehung auf die Mannigfaltigkeit mehr zurücktretend, diesen Gegensatz können wir nie größer fassen. Der Gegensatz zwischen dem | bloß sich den Eindrücken hingeben und der Reaction kann nur auf dem Gegensatz von stark und schwach beruhen, und so construiren sich die Temperamente nach jener Theorie so: stark und stark und schwach und schwach, und stark und schwach etc. verknüpft. Hieraus manifestirt sich nun gleich ein wesentlicher Unterschied der Ansichten, denn hier ist ein verschiedener Grad der Temperamente gesetzt, und man muß nach jener Ansicht sagen: der colerische Mensch ist der beste, der phlegmatische der schlechteste, die andern beiden stehen in der Mitte. Nach unserer Ansicht ist es anders. Herr Carus sucht nun zwar auf, daß jedes Temperament seine besonderen Vortheile und seine besonderen Nachtheile hat, aber wenn das phlegmatische Temperament schwach ist, so mag es sonst noch soviel Vortheile haben, es ist immer nur das schwache Temperament, und sagt man: dies bezieht sich ja nach dieser Ansicht nicht auf das ganze Leben, und so könnte der Phlegmatische gerade mit der ausströmenden Thätigkeit in näherer Verwandschaft stehen, | und sie sich mehr aneignen können. Aber was nicht auf das Temperament sich bezieht, das bezieht sich nach jener Ansicht auf den Willen, der vom Temperamente ausgenommen ist. Hat nun der Colerische einen eben so starken Willen als der Phlegmatische, so kommt er als der Starke auf jedem Gebiet weiter als jener[,] der Schwache. Der Phlegmatische bezieht alles auf größere Einheiten, das Zufällige und Willkührliche will er nicht produciren, sondern bloß das Nothwendige. Er handelt unter dem Begriff der Pflicht, er thut das Einzelne nur, sofern es ausgeht von seinem ursprünglichen Willen. Der Coleri26–28 Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 102–119

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sche handelt mehr von der Conception des Einzelnen aus, er thut, wozu ihn der innere Reiz treibt, und was sich erzeugt hat in ihm im Spiel der Vorstellungen, das setzt er durch. Man kann nun nicht sagen: das eine sei besser als das andere; sondern der Welt sind beide gleich nothwendig. Nach jener Ansicht aber ist eins besser als das andere. Damit hängt noch eine andere Differenz zusammen. | Wir nach unserer Ansicht müssen das Temperament als das Bleibende im Menschen setzen, Herr Carus dagegen läßt es so bestehen, als wenn eins in das andere überginge. Das sanguinische ist ihm das kindliche, das colerische das Jugendliche, das melancholische das männliche, das phlegmatische das alternde. Eine solche Verwandlung ist aber gar nicht zuzugeben. Woher aber entsteht der Schein? Wenn man sagt: das sanguinische Temperament ist das kindliche, so liegt darin: das Kind ist noch weit mehr im Auffassen, als in der ursprünglichen Thätigkeit, der Trieb ist noch beschränkt auf die animalische Seite der Thätigkeit, und erst muß etwas aufgefaßt sein, ehe es auf der intellectuellen Seite etwas producirt. Also die größte intellectuelle Lebensmasse des Kindes ist auf das Auffassen bezogen. Das Sanguinische ist aber auf das Auffassen bezogen. Dessenungeachtet aber kann die andere Seite doch da sein. Das Kind folgt dem Reiz und ist in größerer Abhängigkeit von den Dingen. Sieht man dies an als aus dem Temperament entsprungen, | ja dann ist es das sanguinische[,] das ist aber bloßer Schein, denn der Grund liegt darin, daß, wenn das Temperament des Kindes das melancholische ist, es schwer sein wird dies zu entdecken; im einzelnen Moment betrachtet wird immer das Kind sanguinisch erscheinen, wenn man indeß combinirt, und auf die Folge der einzelnen Momente sieht, so kann man das melancholische Temperament wol entdecken. Im höchsten Alter wird der Organismus schwächer, und das wird dort als das Phlegmatische aufgestellt. Aber dies Schwächerwerden des Organismus hat mit dem Temperament nichts zu thun, und daß die Temperamente mit den verschiedenen Altern verbunden werden, beweißt, daß ihr inneres Wesen gar nicht aufgefaßt ist. Nun müssen wir fragen: wie hängt denn die Art, wie sich das Leben an Temperamente eines jeden gestaltet, vom Menschen selbst ab, und in wiefern hängt das zusammen mit dem, was wir Character nennen, und was ist überhaupt das Verhältniß des Temperamentes zum Character? | 8–11 Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 100–119 37 Zusatz Berliner Nachschrift, S. 375– 376: „Wir sagten von jedem Temperament es habe sein Extrem, wo das Gleichgewicht der Seele gefährdet sey. Hier fragt sich, worauf beruhts daß eine Seele auf diesem Extrem des Temperaments sich befinde oder nicht, gehörts mit zur angeblichen Bestimmtheit, oder giebts eine Bewegung nach Extremen hin und davon zurück und worauf beruht sie. Wir nähern uns hier der | Frage was zusammengenommen die Güte und Schlechtheit der Seele sey, die hier nur zum theil erst kann beantwortet werden.“

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Vorher noch dies: wenn wir sagen, daß das Temperament überhaupt eine Bestimmtheit ist, daß diese durch die beiden Formen der Thätigkeit durchgeht, so muß es uns sehr schwer sein, wenn wir uns denken, es steht der Mensch am Extrem seines Temperamentes, nachzuweisen was der Mensch thun soll, davon zurückzukommen; denn alle seine Actionen gehen von diesem Temperament aus, und nichts kann geschehen was nicht durch das Temperament begründet werde. Wenn man sagt, hier fängt der Wille an zu herrschen, so geht das wol von jener Ansicht aus, wo man das Temperament bloß auf den Sinn nicht auf den Trieb bezieht, aber was wird man damit gewinnen? Denn gesetzt der Trieb steht nicht unter dem Temperament, so hat er doch eben solche Differenzen als der Sinn, und wir müßten doch immer eine Bestimmtheit desselben annehmen, darin sich niemand entziehen könnte. Hat es aber überhaupt einen Sinn, wenn man nach einem die Grenzen der Natur überwältigenden Handeln frägt? Wenn man einen Begriff von | der Natur aufstellen könnte; so könnte man sagen, was darüber hinausginge und was nicht; und so giebt es auch kein Handeln des Menschen auf seine Natur, wodurch er sie verändern könnte, sondern immer nur ein Handeln des Menschen mit seiner Natur, wodurch er also seine Natur entwickelt. In dieser Entwickelung seiner Natur besteht die Freiheit des Menschen. Betrachten wir, wie wir gewöhnlich im Leben darüber zu reden pflegen, und suchen wir nach ethischen Begriffen die Schuld eines solchen Extrems auf, so gehen wir dabei immer auf das Bewußtsein zurück, und von dessen Einwirkung auf das Bewußtsein, und sagen: wenn der Mensch jeden Zustand genau vorgebildet, ihn dann durch die Reflexion hätte gehen lassen, und dann erst die Handlung hätte folgen lassen, so würde er nicht ins Extrem gerathen sein. Aber da muß man doch fragen: warum hat er denn den Zustand nicht erst vorgebildet? Weil der Trieb stärker war als die Reflexion. Aber warum war der Trieb stärker? Da fehlt es an Antwort, | man mögte dann sagen: der Wille war schwach. Wodurch soll aber der schwache Wille stärker werden? Wenn wir also dem Menschen eine Schuld beimessen, so vergleichen wir nur die allgemeine menschliche Natur mit ihren Äußerungen. Das Bewußtsein soll alles durchdringen im Menschen mit seiner Kraft. In jedem Menschen ist dieses ein gewisses Quantum, und sagen wir von einem Menschen, er solle noch anders werden; so muß sein Bewußtsein sich noch weiter entwickeln. Was ist aber diese Entwickelung des Menschen? Die, welche wir das erhöhte Bewußtsein genannt haben, das Bewußtsein von der menschlichen Natur im Allgemeinen. Das Fortschreiten hierher

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muß alle einseitigen Richtungen bändigen und mildern, und den Menschen von den Extremen nach der Mitte treiben. Wenn wir die Einseitigkeiten der Temperamente betrachten, so haben sie ja in dem Einzelnen ihren Sitz, und schon die häufige Berührung der Menschen von entgegengesetzter Bestimmtheit trägt dazu bei, nach der andern Seite hinzuwirken und klar zu machen, | daß das Extrem nicht das Wesen der menschlichen Natur, sondern bloß seine Persönlichkeit sei, und indem er die menschliche Natur über der Persönlichkeit anerkennt, hat er eine Kraft in sich vom Extrem zurück zu kommen.

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Was heißt nun Character in Beziehung und in Vergleich mit dem Temperament? Der Gebrauch des Wortes ist eben so verschieden als beim Ausdruck Temperament. Wenn wir fragen: haben alle Menschen einen Character, oder nicht? so wird es gleich viele geben die da sagen: leider haben ihn nur die wenigsten. Fragen wir: ob es einen guten und einen schlechten Character gebe? so treten uns gleich entgegengesetzte Antworten entgegen. Setzen wir nun einen Character und fragen: ob es Differenzen desselben giebt, so giebt es nach dem gemeinen Leben allerdings solche Differenzen, nach den Systemen ist wieder die höchste Verschiedenheit. Was machen wir mit diesen entgegengesetzten Meinungen? Wenn alle unter dem Worte dasselbe gedacht hätten, so würden sie auch nicht so uneinig | gewesen sein. Der Fehler liegt also darin, daß der Inhalt des Wortes noch nicht bestimmt ist. Die Etymologie kann uns nicht leiten, denn [ ] heißt das Gepräge, und so könnten wir recht gut das Temperament nennen, ja wir könnten eben so gut das allgemein Menschliche damit bezeichnen, als das jedem Besondere. Wir müssen also fragen: was giebt es für ein Besonderes, wozu wir es brauchen könnten, worin das meiste von dem, was im gemeinen Leben gebraucht wird, in der Ansicht davon aufgeht? Man sagt oft: der hat einen schlechten Character; ein anderer sagt: einen schlechten Character giebt es nicht. Letzterer meint offenbar, daß dasjenige, was man so nenne an der Güte des Menschen haftet. Demjenigen, der das erste aber behauptet, mögte man fragen: giebt es ein gutes und schlechtes Temperament? Er wird sagen: nein; aber einen guten und schlechten Character giebt es. Der Character läßt eine Combination zu auf dieser Seite, aber auch eben so gut auf der entgegengesetz10 Von dem Charakter.] als Wiederholung am Rand: Von dem Charakter. 24 denn] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl χαρακτήρ 28 was] worin

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ten. Den Thieren schreiben wir gar nicht einen Gegensatz zu zwischen gut und böse, in dem Menschen | setzen wir diesen Gegensatz, also beruht er auf der höhern Stufe des Bewußtseins, die den Menschen vom Thier unterscheidet. Fragen wir nach der Region des Bewußtseins, worauf die Unterscheidung beruht? so ist es das Zusammensein des erhöhten und des persönlichen Bewußtseins, und darauf, daß beides im Bewußtsein selbst gesondert und klar werde. Wenn nun auf dieser Entwickelung der Gegensatz beruht, so werden wir in der Entwickelung auch das suchen müssen, was wir Character nennen. Von hieraus wird man leicht dahin kommen: wenn wir vom Character eines Menschen reden, so reden wir von etwas Constantem. Wir geben zwar zu, daß er sich nicht in allen entwickele, aber wenn er einmal da ist, so setzen wir ihn auch als constant. Ist der Mensch einmal aus seinem Character herausgefallen, so setzen wir jedesmal einen ungeheuren Impuls von außen her; damit zugleich setzen wir aber einen Rückfall in den Character, weil der Impuls nur ein momentaner ist. Was haben wir denn hier Constantes? Offenbar wenn das erhöhte Bewußtsein sich im Menschen entwickelt, so muß sich zu gleicher Zeit | entwickeln, und mit der Entwickelung zugleich in Ruhe kommen, das Verhältniß des gemeinsamen und des persönlichen Bewußtseins, und das versteht man unter Character. Giebt es nun einen guten und schlechten Character? In einem Sinne: ja, in dem andern, nein. Denn wenn sich im Menschen das erhöhte Bewußtsein entwickelt hat, und es ist eine Kraft geworden in Beziehung auf sein persönliches Bewußtsein, so sagen wir sein Character ist gut; und in dem Maaße als wir das Verhältniß kennen, werden wir sagen können, was wir von ihm zu erwarten haben; und indem die Richtung des erhöhten Bewußtseins zugleich mitgegeben ist, wird auch die Differenz anerkannt. Aber wie ist ein schlechter Character? Nur so, daß das erhöhte Bewußtsein sich entwickelt hat, der Mensch aber auf constante Weise es nicht aufkommen läßt. In diesem Sinne wird es einen schlechten Character geben; und in ihm werden dieselben Differenzen sein wie im guten. | Wie kann aber das erhöhte Bewußtsein sein, ohne daß es lebendige Kraft ist? Der Mensch von schlechtem Character freilich kann es nicht als das höchste aufstellen, sondern er negirt dies beständig; oder wenn das erhöhte Bewußtsein da ist, aber nicht auf constante Weise, wenn der Mensch nicht alles darauf bezieht, so ist auch noch keine lebendige Kraft, und wenn wir letztere allein Character nennen, so ist jenes beides auch Characterlosigkeit. Jener Zustand aber ist nothwendiger Durchgangspunct zur Erlangung eines Characters. –

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Kant macht einen Unterschied darin, ob man sagt: ein Mensch habe den und den Character oder er habe Character. Er meint ein Mensch habe schon einen Character, wenn man nur wisse, wessen man sich zu ihm zu versehen habe, es sei nun gut oder schlecht. Das beruht aber erst auf den geselligen Verhältnissen, wenn sich die Sphären zweier Menschen berühren, und sich also ein gemeinsames Bewußtsein zwischen ihnen bilden muß. Dies sei aber nur der untergeordnete Gebrauch des Characters. Habe ein Mensch Character, so stehe das über dem allen | und das sei unveränderlich. Dies kann nun der Gegensatz der Characterlosigkeit sein, worin keine Differenz zwischen Gutem und Schlechtem erfragt werden kann. Dies ist aus dem Leben in die Wissenschaft genommen, denn man sagt: das ist ein Mann von Character; aber auch hieraus folgt nicht jenes unmittelbar. Kant sagt nun: wenn man das Wort Character im weitern Sinne nehme, so bezeichnet es die Sinnesart, wenn im höhern und engern Sinne, so bezeichnet es die Denkungsart. Die Sinnesart gehe vom Gefühl aus, die Denkungsart von der Reflexion. Kant sagt aber: unter Denkungsart verstehe er, wie jemand nach Maximen handle, die aus seiner practischen Vernunft hervorgegangen; wer aber aus der Sinnesart handelt, aus dem Gefühl, der handelt ohne Maximen. Kant sagt aber von der Denkungsart, daß die Maximen aus der practischen Vernunft hervorgegangen. Sind sie das, so sind sie allgemein gültig, und das will er doch auch nicht. Wenn man ihn also berichtigen will, so muß man sagen: | daß es zwei Stufen giebt, die eine ohne die andere mit Reflexion, aber beide subjectiv. Kant ist es immer so gegangen, daß er über dem Allgemeingültigen das Individuelle vergessen hat. Was giebt es denn für 14–17 Kant (1798), S. 266–267; Ak 7,291–292 25–27 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 382–383: „es giebt 2 Stufen des Charakters[,] die des Reflectirens, und die von Gefühlen aus, die letzten sind bloß subjektiv – Wir hatten in unserer Betrachtung eine solche Abstufung nicht gefunden. Gehen wir davon aus daß es bei uns darauf vorzüglich aufs Verhältniß des erhöhten Bewußtseins wos ein größeres Ganzes setzt, zu dem einzelnen ankomme. Wir können uns | dieß Verhältniß in 2 Glieder theilen, das Eine wird etwas enthalten was auf allen Punkten gleich beurtheilt werden muß – so wie Einer Ein Gemeinsames setzt muß er Treue und Liebe mitsetzen sonst widerspricht er sich, und dieß ist hier das allgemeine was nothwendig für alle Punkte gefordert wird: fragt man obs ganze Leben nur auf diesem Gebiet spielen könne, so nein – sondern dieß umfaßt auch gar nicht alles, wo jenes allgemein gültige gar nicht hinreicht: allein es läßt sich erklären und begreifen, daß wenn [man] auf dieß allgemein gültige seine Aufmerksamkeit richtet Einem das andere verschwindet, Und dieß ist dem Kant oft begegnet, daß ers Besondere im Allgemeinen übersehen hat, das Individuelle im Persönlichen.“

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Maximen, die die practische Vernunft vorgeschrieben hat? Er sagt: die erste Maxime ist die der reinen Wahrheit; die zweite, daß man niemals heucheln müsse. Das ist schon einerlei, denn das Heucheln ist unter der Lüge begriffen. Ist denn das eine so allgemeingültige Maxime? Auf den ersten Anblick sieht es so aus, und darin ist Kant geleitet, aber auf der andern Seite kann man nicht sagen: ein Mensch habe keinen Character, wenn er sich Grenzen setzt und sagt: Die nehmen meine Wahrheit mehr, die andern weniger in Anspruch. Man thut ja einem Menschen schon ganz andres an, der uns verstehen kann, und der uns nicht verstehen kann, und nach dem Maaß giebt man ihm die Wahrheit. Daß Kant dies übersehen hat, liegt wieder darin, daß wo er auf ein Allgemeines kommt, | er gar keinen Sinn mehr für das Individuelle hat. Eine andere Maxime ist: man soll jedem sein Wort halten, und als Fall führt er an, daß man dies auch thun müsse, wenn auch eine Freundschaft auseinanderginge. Aber dem eine Freundschaft auseinandergeht, der hat schon keinen Character, denn da die Freundschaft das allgemein Menschliche in sich trägt, so kann sich in den andern niemand irren, ohne sich in sich selbst zu irren, und das ist nicht das Zeichen von Character. Eine andere Maxime ist: laß dich nicht mit schlechten Leuten ein. Aber diese Vorsicht kann nicht einer auf constante Weise beobachten, der auch keinen Character hat. Der Character überhaupt zeigt sich nicht in den Maximen, sondern in der Ausführung, und es kann einer letztere Maxime haben, und irrt sich alle Tage. Der wahre Character ist, wenn die Persönlichkeit des Menschen gegen das erhöhte Bewußtsein so fest steht, daß alles außer ihr gleich in das richtige Verhältniß mit ihr tritt in Beziehung auf das

1–3 Vgl. Kant (1798): „Man thut also am besten, wenn man die Grundsätze, welche den Character betreffen, negativ vorträgt. Sie sind: a. Nicht vorsetzlich unwahr zu reden; daher auch behutsam zu sprechen, damit man nicht den Schimpf des Widerrufens auf sich ziehe. b. Nicht heucheln; vor den Augen gut gesinnt scheinen, hinter dem Rücken aber feindselig sein.“ (S. 269–270; Ak 7,294) 13–15 Kant (1798): „c. Sein (erlaubtes) Versprechen nicht brechen; wozu auch gehört: selbst das Andenken einer Freundschaft, die nun gebrochen ist, noch zu ehren und die ehemalige Vertraulichkeit und Offenherzigkeit des Anderen nicht nachher zu mißbrauchen.“ (S. 270; Ak 7,294) 19–20 Kant: (1798): „d. Sich nicht mir schlechtdenkenden Menschen in einen Geschmacksumgang einzulassen und des noscitur ex socio etc. eingedenk, den Umgang nur auf Geschäfte einzuschränken.“ (S. 270; Ak 7,294) 21–1 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 384: „Es ist auch von sich selbst eine Maxime die mir die praktische Vernunft zwar vorschreiben kann, aber die Bestimmung in der Ausführung die muß von etwas anderem ausgehen und da hat die praktische Vernunft nichts zu thun, dieß geht vom lebendigen unmittelbaren Gefühle aus. Weil dieses aber ein anderes ist, so müssen wir zugeben, daß es verschiedene Verfahrungsweisen giebt[,] die Eine schickt sich für die Eine, die andere für die Andere.“

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erhöhte Bewußtsein. | Eine andere Maxime Kants ist: Kehre dich nicht um das was die Leute sagen. Dies geht auf das zurück, daß der Character constant ist. Was ist das Gerede der Leute? Etwa die öffentliche Meinung? Die Sitte? Das gehört nicht zum Character, daß man beide verhöhne, denn beide muß man in sich tragen, wie sie durchaus etwas Innerliches sind. Das hat also Kant nicht gemeint, aber er hat die subjectiven Ansichten Einzelner damit gemeint. Darin ist aber immer noch wieder eine Differenz. Wir können also sagen: Kants Meinung müsse gerade wegen der Individualität des Characters umgekehrt werden, und einen Character zu haben sei das Höhere, nicht aber allgemein Character zu haben. Character ist Selbständigkeit, ein Character das Product der innersten Eigenthümlichkeit. Aber aus allem diesem geht hervor, daß uns ganz und gar der Unterschied verschwindet, den er aufgestellt. Wodurch ist denn Kant aber vorzüglich hiezu bewogen worden? Offenbar, weil er bei dem, was er auf die niedere | Stufe setzt, Maximen setzen konnte, und keine, bei dem andern aber sie durchaus setzen mußte. Wir setzen nun auch ein durchgehendes Selbstbewußtsein des Menschen, das aber nicht an die Maximen gebunden ist. Ist es aber für den Character von entschiedenem Werth, und ist einer besser als der andere, weil er sich alles in Maximen aufgelöst hat? Er ist besser weil er etwas dazu hat, was der andere nicht hat; er hat nicht nur seine Handlungsweise, sondern auch die Reflexion darüber. Aber zu glauben, daß die Maximen es sind welche die Handlungen leiten, das ist falsch; denn die Maximen gehen nie einem Handeln voraus, sondern immer nur hintennach oder nebenbei. Gehen sie nebenbei, so erinnern sie den Menschen: geh nicht von deinen Maximen ab. Aber 8–12 Wir ... Eigenthümlichkeit.] am Rand durch geschweifte Klammer markiert mit 1 10 einen] doppelt unterstrichen 11 Character] doppelt unterstrichen 12–14 Aber ... aufgestellt.] am Rand durch geschweifte Klammer markiert mit 2 1–8 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 384–385: „Eine andere Maxime ist die man solle sich nicht an die Meinung der Leute kehren. Dieß geht darauf zurück, was wir auch zugegeben, daß in dem Charakter etwas Bestimmtes und Konstantes liege. Unter dem Gerede der Leute hat Kant hier die Meinungen der Einzelnen verstanden, und soll dieß Einfluß auf mich haben, so steht dieß gegen mein erhöhtes Bewußtsein nicht fest. Aber dieß tilgt die Verschiedenheiten | des Charakters gar nicht aus: es giebt eine sehr verschiedene Art wie man die öffentliche Meinung und Sitte in sich aufnimt, Einer verhält sich passiv dagegen [nimmt] sie bloß auf, der andere wirkt wieder darauf zurück[.] – Das sich nicht kehren an dem Gerede der Leute ist abhängig an das sich kehren der Sitte und ist im ersten Differenz so muß es auch in diesem seyn. – So verschwindet uns also die aufgestellte Differenz zwischen einen Charakter haben, und Charakter haben, wie sie Kant aufgestellt.“ 1–2 Kant (1798): „e. Sich an die Nachrede aus dem seichten und boshaften Urtheil anderer nicht zu kehren; denn das Gegentheil verräth schon Schwäche“ (S. 270; Ak 7,294)

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dasselbe ist auch bei dem, der keine Maximen hat; denn jedes Warum ist nicht bloß Folge der Maxime, es setzt dies voraus, daß eine Hemmung des Gefühls eintritt um das Selbstbewußtsein vollständig zu machen, indem der Antrieb zu irgend etwas nicht ganz vollkommen ist. – Dies bedarf, streng genommen nicht der Reflexion, oder diese ist nur die Resumtion | seiner sonstigen Handlungen, also nie das Primitive. Mithin für den Character ist das Bewußtsein der practischen Vernunft gar nicht nothwendig, wohl aber für das vollständige Bewußtsein.

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Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob diese Verschiedenheiten sich nur auf die Einzelnen als solche beziehen, oder ob sie nicht auch bei den einzelnen Massen, die doch das Subject des erhöhten Bewußtseins sind, statt finden; ob nicht auch jedes Volk sein Temperament und seinen Character habe? Und wenn man das nicht leugnen kann: muß jeder Einzelne den Character des Volkes haben? Diese Fragen können wir aber hier noch nicht beantworten, sondern da, wo wir von der Nationalität reden.

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Eine andere Verschiedenheit theilt das ganze menschliche Geschlecht in zwei Theile, in das männliche und weibliche Geschlecht. Es ist allgemein angenommen, | daß der Unterschied kein bloß physiologischer sei, daß aber das Physiologische auch nicht bloß verschieden sei bei der Zeugung, sondern daß das ganze Wesen verschieden sei. – Aber der Unterschied ist auch psychologisch. Aber wie? Da ist großer Streit. Es hat Zeiten gegeben, wo man die Weiber ganz als dienstbare Wesen betrachtet hat, und andere, wo man seine Ehre und seinen Ruhm darin gesetzt hat, das weibliche Geschlecht auf intellectuelle, sentimentale Weise zu verehren. Zwischen diesen Endpuncten liegt unendlich viel. Diese ganze Sache führt uns wieder auf die schon immer von uns übergangene Frage über die Güte und Schlechtigkeit der Seele. Aber hier können wir diese Frage nicht beantworten, und wir können glauben, daß jene Verschiedenheiten nur verschiedene Ansichten sind. Physiologisch sind gar keine größern Vollkommenheiten weder von der einen noch von der andern Seite zu entdecken, und auf die Geschlechtstheile allein gesehen, so sind dies völlig coordinirte 18 Von der Geschlechtsdifferenz.] als Wiederholung am Rand: Von der Geschlechtsdifferenz.

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Factoren. Scheint nun auch im weiblichen Körper eine größere Zartheit und Schwäche zu sein, so ist auch eine größere Zähigkeit und Kraft des Widerstandes gegen den Schmerz in ihm, was dem männlichen nicht so eigen ist. Dies ist ein gegenseitiges Compensiren, welches sich immerwährend in dieser Differenz findet. – | Aber welches ist die psychologische Differenz der Geschlechter? Wir müssen uns hier über eine Maxime verständigen. Es ist eine fast bei allen Völkern durchgehende Differenz, daß die Weiber nicht Theil nehmen dürfen an den öffentlichen Geschäften. Dadurch muß nothwendig die ganze psychische Differenz verändert werden. Aber nimmt man an daß diese Differenz bloß angenommen ist, so kann auch die psychische Differenz bloß angebildet sein; nimmt man an, daß jene Differenz auf einer psychischen Differenz beruht, dann ist sie nothwendig. Dieser natürliche Grund ist nun: wenn wir die Geschichte der menschlichen Verbindungen betrachten, so hat deren Ursprung immer eine defensive oder offensive Gestalt gehabt. Die Vertheidigung, das Kriegerische erscheint da als Basis aller Thätigkeit. Die Weiber wegen ihrer natürlichen Bestimmung können nicht auf constante Weise Theil nehmen, und darum können sie auch nicht mit berathen, und so giebt es auch keinen Punct, dies Verhältniß zu ändern. Wäre | dies der ganze Grund der Differenz, so wäre eine psychische Gleichheit da. Aber wenn auch dieser Grund seinen Theil daran hat, so ist er doch nicht der einzige. Wenn dieser Grund da wäre, so müßte er doch abnehmen, je länger Friede wäre. Wir finden aber nirgends ein Abnehmen. Wir werden also darauf geführt, daß der Grund noch in etwas anderem liegen muß. Wenn wir nun uns zur Anschauung der Differenz anschicken wollen, vorausgesetzt, sie sei psychisch, so müssen wir sehen, ob wir irgend eine solche finden. Sehen wir auf die auffassende Thätigkeit, so können wir uns nicht bergen, daß eine Seite derselben, und zwar die höchste auf der Seite der Speculation ihnen fehlt; diese Thätigkeit zieht sie gar nicht an. Dagegen finden wir in ihnen das gegenüberstehende Element, die höchste Entwickelung der auffassenden Thätigkeit auf der Seite des Gefühls, d. h. die religieuse Entwickelung. Das erste wird man zugeben, das zweite nicht sogleich. Man kann sagen: es giebt ja Völker, wo die Weiber gar nicht so am Cultus Theil nehmen als die Männer. | Dies bei den Alten und vorzüglich bei den Juden. Aber das beweist gar nichts, denn in demselben Maaße als die Religionen politisch sind, müssen die Weiber davon zurückgedrängt sein, wenn sie politisch zurückgedrängt sind. Wenn nun also das Religieuse in ihnen hervortritt, das Speculative zurücktritt, und bei den Männern es umgekehrt ist, und wir beides zusammenhalten, so muß uns hier erscheinen ein Übergewicht des objectiven

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auf der männlichen Seite, und ein Übergewicht des Subjectiven auf der weiblichen. Von hier werden wir nun gleich einen Übergang finden. Im Gefühl setzt das Ich sich selbst, im Gedanken wird die Welt gesetzt, und die Objectivität der auffassenden Thätigkeit hängt an der Seite der ursprünglichen Thätigkeit, daß die Idee der Welt realisirt werden soll. Wenn wir von hier zur ausströmenden Thätigkeit übergehen, welche Differenz werden wir da finden? Sehen wir auf das Gebiet der Naturbeherrschung, so kann nicht geleugnet | werden, daß die Weiber darin auch etwas thun, aber sehen wir auf die Dinge, so ist die Thätigkeit der Weiber die kleinste. In alten Zeiten trieben die Weiber etwas, was jetzt die Männer treiben. Das kommt daher, weil damals diese Arbeiten bloß im häuslichen Leben vollbracht wurden, jetzt aber mit in den allgemeinen Weltverkehr gekommen sind. Die Thätigkeit im kleinen Stil geht offenbar mehr auf das sich selbstsetzen zurück, es ist nur die Verbreitung des Ich in der unmittelbaren Umgebung, und es hängt mehr an dem Selbstsetzen, als am Realisiren der Weltidee. Darin liegt, daß die Weiber die Idee der Welt auch weit mehr im Gefühl haben. Im männlichen Geschlecht ist überwiegende Neigung, das Ich nur zu setzen in der Beschäftigung mit der Realisirung der Idee der Welt. Es findet hier durchaus ein umgekehrtes Verhältniß statt. Im Erkennen und Bilden ist bei dem Mann das Realisiren der Idee der Welt; das Gefühl tritt seltener hervor und nimmt nicht die größere Masse des Lebens ein. Bei dem | Weibe hingegen nimmt das Gefühl die größte Masse ein, und die andere Seite tritt weit mehr in die kleinen Zwischenräume. Haben wir diese Anschauung nun gewonnen, und sehen auf jenen Punct zurück, so müßten wir doch sagen, wenn auch die Weiber keine periodischen Krankheiten hätten, und nicht schwanger werden müßten um zu gebären, so würden sie sich doch in das stille häusliche Leben zurückziehen, und an dem Politischen nicht Theil nehmen, sondern die Gestaltung desselben den Männern überlassen. Nun könnte man sagen: dann muß ja bei den Weibern das erhöhte Bewußtsein zurücktreten. Das ist aber so offenbar falsch, als jenes richtig ist. Der bürgerliche Zustand hängt bloß an dem Triebe die Natur zu beherrschen. Dies ist aber nur die eine Form des erhöhten Bewußtseins und nicht das Ganze. Es giebt doch eine Verbindung unter den Menschen die in den bürgerlichen Zustand nicht aufgeht, das freie gesellige Leben, das desto vollkommener ist, jemehr man von allen bürgerlichen Formen | absieht, und wir fragen: was ist das Prinzip hievon? Es ist die Sitte. Hier stehen nun die Weiber oben an. Aber ist auch wiederum die Constitution des gemeinsamen Ich vorherrschend, worin die Weiber excelliren. –

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Wie unterscheiden sich beide Geschlechter auf dem Gebiete der Kunst? Die bestimmte producirende Kunst in allen Gattungen ist weit weniger durch die Weiber gefördert als durch die Männer. Ihr Kunstsinn offenbart sich mehr in dem unbestimmten Gebiet der schönen Anordnung um sich her, worin keine bestimmte Idee vorherrscht. Sie wollen nur die sie umgebenden Gegenstände mit sich in Übereinstimmung bringen, und so ist auch hier das Vorherrschen des Gefühls. Sie beschäftigen sich zwar viel mit Musik und Mahlerei, aber sie können große Virtuosen sein auf dem Instrument und mit der Stimme, und sie können große Technik haben auf dem Gebiet der Mahlerei, so ist doch ihre Production immer arm, immer mehr nachbildend. Dies hängt damit zusammen, daß überhaupt ihr eigentliches Produciren mehr mechanischer Art ist, die | eingeborne Idee ist nicht kräftig genug, sich darzustellen, und giebt sich so nur wieder die Technik übend. Was die Poesie betrifft, so haben wir leider eine große Menge von Frauen, die sich damit abgeben. Dies hängt zusammen mit einem andern Vorzug, den man ihnen nicht absprechen kann. Sie haben nämlich eine sehr schnelle Menschenkenntniß, und entwerfen sich leicht ein Bild, das in seinen kleinsten Theilen oft merkwürdig übereinstimmt; sie haben ein leichtes Vorgefühl von dem, wie einer sich zeigen wird. Sollen sie dies mittheilen, so geht es nicht vorzüglich, sie haben es bloß im Gefühl und mit dem Gefühl, vorzüglich durch die ihnen allgemein einwohnende Fertigkeit des Nachahmens; es ist bei ihnen der bloße Eindruck einer gegenwärtigen Eigenthümlichkeit. Fehlt die unmittelbare Gegenwart, so werden die Männer den Frauen vorangehen in der richtigen Construction eines Mannes. Ihre practischen Productionen sind nun solche Bilder, die ihnen im Leben gekommen sind. Im Drama aber, was schon auf etwas anderes ankommt, wo schon eine schärfere Einheit sein muß, wo die | Persönlichkeit des Characters nur untergeordnet ist, aber die Einheit des Ganzen und das Zusammenwirken ethischer Kräfte, also die Auffassung des Allgemeinen Hauptsache ist, da vermögen sie nichts mehr. Die Auffassung des Allgemeinen steht ihnen, und das sieht man auch in ihrer Anschauung der Natur. Bei den Pflanzen, die sie sehr lieben, finden sie merkwürdige Ähnlichkeiten, die wir gar nicht bemerken, weil wir viel zu sehr gewahrt sind, alles gleich zu classificiren. Wir sehen also, daß in ihnen die Idee der Construction der Welt zurücktritt, und sie immer nur darin begriffen sind ihr Ich zu setzen, und gesetzt zu verhalten, und in allen ihren Productionen wollen sie nur ihr Gefühl wiederfinden.

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Dies wird sich auch finden, wenn wir die Temperamentsverschiedenheit mit der Geschlechtsverschiedenheit vergleichen. Wir werden sagen es ist ein allgemeines Gefühl, daß in dem Mann mehr die Temperamentseite der Thätigkeit hervortreten soll. Wenn wir uns solche Mischungen des Temperaments denken, | wie wir sie angenommen haben, und wir sagen: es sei ein Mann colerisch und sanguinisch, so setzen wir gleich, daß das Colerische vorzüglich hervortritt, das Sanguinische nur begleitend ist. Ist es umgekehrt, so finden wir darin schon etwas Weibisches. Umgekehrt ist es mit den Weibern. Wenn ein Weib characterisirt wird durch das Colerische, so finden wir dies gleich als unnatürlich und unweiblich. Daher auch eine Frau selbst mit dem Extrem des Sanguinischen und Melancholischen höchst interessant sein kann, erscheint sie aber mit dem Extrem des Colerischen und Phlegmatischen, so ist sie unerträglich. Ist der Mann im Extrem des Colerischen und Phlegmatischen, so sagen wir zwar, daß er sich mäßigen müsse, aber wir finden es so unnatürlich nicht. Hier offenbart sich also auch, daß in den Weibern das Gefühl das Hervortretende ist, bei den Männern das Objective. Der Character beruht weit weniger als man es gewöhnlich darstellt auf der Reflexion, sondern es kann das Ver|hältniß zwischen dem höhern und dem persönlichen Bewußtsein ohne Reflexion sein. Aber allerdings finden wir den Character vorzüglich in der Handlungsweise, und wenn wir fragen: bei wem machen wir denn die Forderung des Characters im engern Sinne mehr, bei den Weibern oder bei den Männern? Offenbar bei den Männern. Einer Frau verzeihen wir weit eher, wenn sie vom Moment fortgerissen wird, aber wir verlangen durchaus, sie soll in den Grenzen der Sitte dabei bleiben. Stellen wir das nun gegenüber: was am Character fehlen kann, soll sich durch die Sitte ergänzen, so kommen wir auf das Vorige zurück, denn die Sitte versirt nur im Gefühl der höhern Potenz, und dazu gehört doch die unmittelbare Aeußerung mit. Der Character besteht in einer Handlungsweise, die aber eben so das Verhältniß ausdrückt zwischen dem persönlichen und allgemeinen Gefühl. Die Characterlosigkeit tadeln wir am Mann, wir tadeln es, wenn einmal das Verhältniß sich so, ein andermal so darstellt. Hat der Mann | Character, so fordern wir auch, daß das Gemeinsame das Erste sei, und sich das Persönliche untergeordnet habe. Bei der Frau verlangen wir auch, daß das Gemeinsame das Constante sein soll, das Persönliche das Untergeordnete, es soll nur eine eigenthümliche Art sein das Gemeinsame in sich zu haben und auszudrücken, das ist die Sitte. Wenn eine Frau aus der Sitte herausgeht, auch in ihrem Gefühl eine große Individualität offenbart, so kann sie an und für sich uns sehr interessant sein, aber im Vergleich mit dem Gemeinsamen entsteht immer ein Widerspruch,

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denn das Gemeinsame soll auf diesem Gebiet sich immer das Persönliche unterordnen. Fällt uns eine große Originalität der Frauen nicht auf, so liegt das darin, wenn keine Sitte in dem Ganzen ist, dem sie angehören. Beim Mann ist das Gegentheil. Wir postuliren die größte Freiheit, wenn sie ihr Gefühl äußern, weil das nur die dazwischentretenden Momente, die [ ] des Lebens sind. Das | Eigenthümliche des Daseins, das im Handeln gebunden ist, soll hier frei heraustreten, und was die Männer sich als Sitte denken für sich, ist nichts als die vollkommenste Freiheit. So machen wir bei den Frauen weit mehr Anspruch auf Sitten als auf Character. Vom Hause abgesehen, denken wir sie gar nicht gern in constanter Thätigkeit, sondern wir schränken ihre Thätigkeit in dieses Gebiet ein. Müssen sie aus diesem Gebiet hervortreten, so muß der Mann ihnen zur Seite stehen, und wenn sie in solchen Fällen sich vom Moment hinreißen lassen, so nehmen wir ihnen das nicht so fort an, als Männern. Das Sichhinreißenlassen vom Moment ist aber Aufhebung des Characters. Nun ist von keinem Vorzug die Rede, vielmehr beide Arten sind nothwendig. Es würde eben so viel fehlen, wenn die Art der Auffassung der Welt in dem Ich, die wirkliche Art fehlte, als wenn die objective Art der Auffassung, die männliche fehlte. Unrecht ist es aber auch, wenn man den Frauen einen Vorzug zuschreibt. Man sagt: sie sind religieuser | sie schweifen nicht so ins Extrem aus, und sprechen dies in einem gehaltenen Schönheitssinn aus. Sehen wir aber, was dem gegenübersteht, so hebt sich auch das wieder auf. Denn dem Religieusen steht die Speculation gegenüber, und dem Gehaltensein auf einem Puncte steht das sich Expandiren nach allen Seiten hin gegenüber. Das eine ist das productive Princip aller Wissenschaft, das andere aller Naturbeherrschung. Sagt man nun: der einzelne Mensch hat doch nicht solche Haltung an der Wissenschaft als an der Religion, so ist das wahr; und wenn man sagt: der Mensch, der eine Haltung in seinem Selbstbewußtsein hat, und nicht ausgesetzt ist, sich nach allen Seiten hin in großen Linien zu bewegen, kann weit weniger Störungen von außen empfangen, so ist das auch wahr. Die Frau zeigt aber dadurch bloß mehr, was der Mensch allein ist, der Mann, was der Mensch in Gemeinschaft ist. Die Frauen haben auch ihre Geltung nur für sich allein, weßhalb keine Verbindung der Frauen unter | sich nöthig ist. Mit dem Mann ist es umgekehrt. Der Einzelne in der Wissenschaft ist freilich nichts, aber es ist eben das Zusammentreten aller; und das ganze Thun des Mannes will nicht für sich allein, sondern in Verbindung mit allem andern Thun betrachtet werden. Also auch von dieser Seite sind es nur die verschiedenen Seiten, die beider Geschlechter hier wieder repräsenti6 die] es folgt ein Spatium für ein Wort

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ren, der Mann mehr das Allgemeine, die Frau mehr das Gefühl. An einen Vorzug ist nicht zu denken. In der öffentlichen Meinung ist zwar hierin immer ein Schwanken gewesen, und wenn jetzt wieder die Ansicht hervortritt, daß die Productivität des Mannes den Mann vorzüglicher mache, so liegt das wol darin, daß man jetzt eine große Sehnsucht hat nach dem öffentlichen Leben, worüber man aber ja nicht das häusliche Leben vernachläßigen möge. |

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Nun kommen wir auf den fließenden Gegensatz des Schlechtern und Bessern, und wir fragen: was ist denn in unserm Gebiet das natürlich Vollkommenste und das natürlich Unvollkommenste? Das natürlich Vollkommenste und Unvollkommenste, denn wir müssen hier von dem Unterschied abstrahiren, zwischen dem von Natur in die menschliche Seele Gelegten und dem mit Freiheit nachher Gewollten: Hier haben wir auf zweierlei zu sehen: 1) auf die verschiedenen Thätigkeiten, wie die gesondert oder vereinigt sind; 2) obgleich wir es nur mit den einzelnen Seelen zu thun haben, so können wir nicht von dem Zusammensein ganz abstrahiren, wir müssen also sehen, wie sie sich in ihrem Zusammensein mit den übrigen verhält. Wir fragen zuerst: Was ist denn das Vortrefflichste, was die einzelne Seele leisten kann im Zusammensein mit den übrigen? Jede ist mit der Fähigkeit begabt, sich zu entwickeln; aber da wir durch die Natur des ganzen Daseins genöthigt sind eine Verschiedenheit des Mehr und Minder, und eine Einwirkung | des einen auf alle, und umgekehrt, anzunehmen, so treffen wir hier doch schon auf den Gegensatz des Gebens und Empfangens, und daraus construiren sich hier von selbst die beiden äußersten Puncte. Diejenige Seele ist in dieser Hinsicht die vortrefflichste, welche die meiste Wirkung ausübt auf die Entwickelung aller übrigen. Die geringste Form des Daseins ist diejenige, wenn die Seele bei der schwächsten Einwirkung auf andere, auch die schwächste Fähigkeit zu empfangen hat. Was wir als das vortrefflichste aufgestellt haben, zerfällt in zweierlei: in das Genialische und Heroische; und welcher Seele einer dieser Namen mit dem größten Recht zukommt, die ist die vortrefflichste. Sehen wir auf die Art wie diese Ausdrücke im gemeinen Leben gebraucht werden, so brauchen wir den Ausdruck des He8 Von dem Gegensatz des Schlechtern und Bessern.] als Wiederholung am Rand: Von dem Gegensatz des Besseren und des Schlechteren. 11 natürlich] doppelt unterstrichen 12 das natürlich] natürlich doppelt unterstrichen

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roischen vorzüglich auf dem Gebiet der Naturbeherrschung, das Genialische auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst. Wir müssen den Punct finden, wo beide Gebiete in einander laufen; können wir die beide unterscheiden, dann können wir es überall. Das Heroische also zeigt sich auf | dem Gebiet der Naturbeherrschung. Jede Kunst ist aber auch eine Naturbeherrschung, die Gestaltung eines Stoffes nach Ideen, oder die Bildung des eigenen Naturvermögens unter die Idee; durch die Wissenschaft vermehren sich die Gedanken zur Naturbeherrschung, und doch braucht man da für die allergrößte Leistung nur den Ausdruck des Genialischen. Das rührt aber daher, weil die Naturbeherrschung hier nur das Untergeordnete ist. Eben so ist es in der Kunst, denn da ist die Erfindung das Wesentliche. Die Naturbeherrschung in der Kunst, die Technik, ist auch bloß im Einzelnen, und sofern sie sich mittheilen läßt, kann es immer nur auf mechanische Weise geschehen, was wir immer schon sehr in den Hintergrund stellen. Die Hauptsache ist jedesmal die Entwickelung einer vorstellenden Kraft, und so steht sich beides gegenüber; denn das Heroische geht doch auch wieder von der Vorstellung aus, sie sei entwickelt oder dunkel, aber das Produciren der Vorstellung ist ganz untergeordnet, die Hauptsache ist ganz die Kraft, mit welcher der Mensch die Natur beherrscht. Beides sagen wir doch aber immer nur von dem, der nicht | nur selbst etwas ist auf diesem Gebiet, sondern die andern mit fortreißt. Fragen wir: worauf es hier vorzüglich ankommt; so ist das Heroische das Maximum des Characters. Dieses liegt in der Fähigkeit auf die andern zu wirken auf dem Gebiet, wo der Mensch die Welt bestimmend auftreten soll. Der Character besteht darin, daß sich das erhöhte Bewußtsein gegen das persönliche auf constante Weise stelle, und der vortreffliche Character besteht darin, daß dies Verhältniß richtig sei. Wenn das einer für sich selbst auf constante Weise durchführt, so ist das ein großer Character, aber das Heroische ist darin noch nicht, sondern das ist nur darin, wenn einer nicht nur für sich, sondern auch für andere dies Verhältniß des allgemeinen und einzelnen Bewußtseins auf constante Weise bestehen macht. Es ist also das Heroische auf diesem Gebiet die Gesetzgebung. Nun aber wenn wir auf den Sprachgebrauch sehen, finden wir den Ausdruck im kriegerischen Gebiet, wo auch einer auf viele wirkt, das Gesetzgebende liegt aber nicht darin. Aber das Heroische besteht doch immer darin, daß eine Gesetzgebung | geschlossen, oder verbessert, oder erhalten werde. Das Erhalten der Idee ist aber auch ein Schaffen, und so kommt dies auf jenes zurück. Ja das Heroische ist ohne Kampf gar nicht denkbar, aber in einem Kampf ohne die Idee kann nichts Heroisches sein. Nun ist klar, daß das Heroische auf der Seite der Naturbeherrschung liegt. Diese besteht aber nur in der Gemeinschaft und der

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besten Vereinigung der Kräfte in Beziehung auf diesen Prozeß. Mit allem diesem stimmt der Sprachgebrauch zusammen. Ein heroisches Zeitalter ist dasjenige, wo diese Kraft sich ungemein entwickelt. Wenn wir sagen: das heroische Zeitalter für ein Volk ist vorüber, so meinen wir 1) daß der gesellige Zustand auf so feste Weise geordnet ist, daß nur das Gewöhnliche dazu gehört ihn in Ordnung zu erhalten, und von außen so fest begründet, daß er nichts zu fürchten hat; 2) Oder daß ihr Verfall so groß ist, daß gar nicht zu erwarten ist, es werde einer noch solche Gewalt über die Gemüther haben. Es läßt sich noch ein dritter Fall denken, daß die Bildung im Ganzen so groß ist und so gleich, | daß alle zugleich im Stande sind, sich auf gleiche Weise zu erhalten; indem jeder auf einer größern Stufe der Characterfestigkeit steht, kann solches Übergewicht des Einzelnen nicht mehr bestehen. – Mit dem Ausdruck genialisch ist es sehr übel. Für den andern haben wir einen vaterländischen Ausdruck, der eben so gut ist als der ausländische, das Heldenartige, und der Ausdruck heroisch ist nur der Gleichmäßigkeit wegen gewählt. Mit dem Genie ist es aber schlimm. Wir haben kein dafür bestimmtes Wort; doch können wir uns darüber trösten, denn wir haben es zu einem höhern Gebrauch gestempelt, als es in der Sprache besteht, aus der es genommen; aber weil es ein fremdes ist, so sind auch die Vorstellungen sehr verschieden. Wenn wir an den Gebrauch des Ausdrucks zunächst anknüpfen, so ist das Heroische durchaus seiner Natur nach politisch, und außer dem Politischen und Religieusen, und zwar wenn es auf das Zusammenbringen der Menschen zu einer Gemeinschaft ankommt, brauchen wir den Ausdruck nicht. – | Aber was würde denn ein politisches Genie sein, und wie unterschieden vom politischen Helden? Beim politischen Genie ist die Hauptsache das Ordnen der Vorstellungen. Das Ausgezeichnete ist aber bloß in der Productivität der vorstellenden Kräfte. Führt er es auch aus, so wird er uns heroisch erscheinen, und das Heroische wird gewiß das Genialische überschatten, weil die Kraft, worauf es ankommt das Vorzüglichste ist. So bestätigt sich also auch hier jene Differenz.

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Das Wesentliche in beiden ist die Productivität, und darin kann auch nur der höchste Grad gesetzt sein. Der höchste Grad des Lebens als solches ist das beste Verhältniß der einzelnen Theile zum Ganzen. Das 8 ist,] ist;

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Höchste im Einzelnen ist, wenn in ihm die Idee der Gattung aufs vollständigste gegeben ist, und das kann nur als Einzelnes durch Einzelnes erscheinen, was aber nicht anders gefaßt werden kann, als eine Productivität die für andere normal wird. Das Genialische ist die Productivität in Beziehung auf die Vorstellungen, | das Heroische in Beziehung auf die That. Man könnte aber sagen: unter diesen beiden Ausdrücken nicht nur, sondern auch in dem was darauf ruht, sei nicht etwas gemeint, was ein Inneres sei, sondern ein Äußeres, und wir hätten doch die innere Güte oder Schlechtigkeit der Seele finden wollen. Überhaupt aber hätte ja auch jemand in einer Zeit leben können, wo die Gemüther nicht recht fortzureißen waren, aber doch hätte er dasselbe innerlich sein können, dieselbe Kraft gehabt haben, wodurch er zu einer andern Zeit als Heros oder Genie wäre anerkannt worden. Da aber nach unserer Ansicht nur die so genannt werden, die auch wirklich andere mit fortreißen, so sei unsere Erklärung von äußern Umständen abhängig. Darum pflegt man denn auch für ein Genie festzustellen, daß es alles durch sich selbst geworden sei. Damit kann man nicht meinen, daß er dasjenige, weßhalb wir ihn genialisch nennen müsse ohne Anleitung geworden sein. Das kommt aber auf dasselbe hinaus. Nun könnte man sagen: es kann ja unglücklicher | Weise dieselbe Stufe der Wissenschaft und der Kunst da sein, und doch könnte in jemanden die Kraft sein, daß er sie ursprünglich hätte entwickeln können, wenn sie noch nicht dagewesen. Ein solcher wird sich immer auszeichnen durch schnelle Fassung des Vorhandenen, und eigenthümliche Gestaltung desselben vor denen die es nur traditionell haben, aber ihm werden doch jene Namen nicht beigelegt. Die Sicherheit mit der wir den Menschen jene Namen beizulegen pflegen, leiten wir davon ab, daß die Individuen in der Lage sein müssen, wo sie so hervortreten können; sonst sind wir nie vor Irrthum sicher. Wie ist nicht der Name Genie gemißbraucht worden? Selbst was gar nicht höher war aber von den alten Formen nur abwich, hielt man für genialisch. Das ist aber kein Zeichen höherer Kraft. Ja immer wird ein Genie sich bald manifestiren als ein Außergewöhnliches, und wol läßt es sich erklären, daß bei einer gewissen eigenthümlichen Art der Äußerung man oft irre geworden | ist an Einzelnen, in denen wir Genialität glaubten, und doch nur mehr Eigendünkel wahrnehmen. Die höchste Ausbildung der Eigenthümlichkeit auf der Seite der Productivität ist dem Genie eigen, daher es oft mit Originalität verwechselt wird. Eine Gewährleistung des Daseins eines Genies haben wir nur da, wo es sich wirklich productiv äußern kann; und wir müssen gestehen, daß in dem Maaße als diese Bedingung steht, wir auch keine Ursach haben das Genialische und Heroische vorauszusetzen, denn wir haben nur das starke Concentriren der ganzen Kraft in Einem zu suchen,

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wenn alle übrigen schwach sind. Allmählig muß eine größere Gleichheit entstehen. Dieselbe Kraft ist jetzt in dieser Gleichheit, die früher in der Ungleichheit war. Je höher und allgemeiner also die Kraft einer Gemeinschaft ist, desto weniger haben wir Ursach das Genialische und Heroische zu erwarten und vorauszusetzen. Ja sagt man: die Gemeinschaft kann sich zu der Stufe entwickeln, daß alle Einzelnen dem Heroen der sie | gestiftet hat, gleich sind, und doch werden sie nicht Heroen genannt. Allerdings können sie auch nicht so genannt werden, denn sie selbst haben ja nicht das Gefühl davon, denn zum Heroen gehört das Selbstbewußtsein der Kraft und der Einwirkung auf andere. Es ist also in unserer Betrachtung den äußern Umständen nichts beigelegt, sondern es ist auf das Innere in seinem ganzen Umfange gesehen. – Es läßt sich nun das ganze Gebiet der menschlichen Thätigkeit, der idealen und realen ins Unendliche theilen. Aber auch das unendlich Kleine hat seine verschiedenen Stufen. Wollten wir nun einen ein Genie oder einen Heros nennen, der jene Kraft auf der kleinsten Stufe ausübt? Das Gefühl ist dagegen. Man pflegt das Genie zu classificiren in Beziehung auf die verschiedenen Gebiete der menschlichen Thätigkeit. Mit dem Heroischen zusammenhängend, ist die Benennung des politischen Genies. Wenn eine neue Staatsform, mit | politischer Begeisterung entstanden, als Kunstwerk von einem hervorgeht, so ist der ein politisches Genie. – Man redet von philosophischen oder speculativen Genies, und wir haben nichts dagegen. Wenn man nun aber von einem ethischen, physiologischen oder chemischen Genie reden wollte, so will das nicht mehr gehen, sondern wir fühlen, daß wir da müssen stehen bleiben, wo die Keime dieser verschiedenen Zweige sich concentriren. Es kann ein Genie seine Productivität vermöge seiner organischen Constitution auf dieses oder jenes Einzelne werfen, aber wir beziehen die Benennung des Genies nicht auf das Einzelne, sondern auf die wesentliche Function der menschlichen Natur in einem Gebiet. Dies ist von der Kunst und von der Wissenschaft zu sagen. Wo irgendwo eine einzelne Seite nur hervortritt in einem Genie, da müssen wir sagen können, daß er in jedem andern Einzelnen derselben Gattung eben so ausgezeichnet sein würde, und daß er auf dieses oder jenes sich wirft, hängt bloß mit seiner organischen Constitution zusammen; | wo wir dies nicht sagen können, da ist bloß ein Talent. Die künstlerische Thätigkeit ist aber in genauerem Zusammenhange mit dem Organismus. Auf dem Gebiet der Kunst können wir nicht wie auf dem der Wissenschaft sagen: es würde einer eben so gut in dem einen Gebiet etwas Geniales geleistet haben, als in dem andern. Wir können nicht sagen: ein guter Poet hätte auch ein guter Musiker werden können, und umgekehrt. Auf dem Gebiet der Wissenschaft

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kann man das. Darum ist es auch schwer auf dem Gebiet der Kunst das Genie zu unterscheiden vom Talent. Das Talent aber erkennt man daran, daß es Nachahmer erwirkt. Das Genie soll keine Nachahmer bilden, sondern eine Pflanzstätte für die höhere Stufe der Productivität, die einer erreicht hat, wo aber keiner Nachahmer ist, sondern wo die höhere Productivität eines jeden Eigenthum wird. Eben so mit dem Heroischen. Derjenige nur ist ein Heros, der eine eigene Thatkraft in den Menschen anregt, daß sie selbstständig da stehen, nicht daß er bloß eine | Masse um sich versammle, und ihr einen Stoß gebe, daß sie sich mechanisch fortbewege. Darum kann das Genialische und das Heroische auch nur auf dem höchsten Gebiet angewandt werden. Ein genialer Tonkünstler ist durchaus ein Komponist. Die Ausübung ist nur ein Talent, und alles Producirte, was nur als Nachahmung erscheint und nicht höher steigt, als alles Vorherige, ist nicht genial. Ein mechanisches Genie aber ist ein falscher Ausdruck, und man muß ihn vermischen, wenn man den Begriff festhalten will; denn das Mechanische ist seiner Natur nach immer nur die Aneignung dessen, was schon da ist, ein Produciren, das vom Aufnehmen abhängt, was also gar nicht auf dem Gebiet der Genialität liegt.

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Zwei und sechzigste Vorlesung.

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Wenn nun das Genialische auf der einen Seite, das Heroische auf der andern Seite das beste ist, wäre nicht beides zusammen das Vortrefflichste? Das kann man nur bejahen, aber nicht leicht wird beides zusammen sein; womit aber nicht gesagt ist, daß wer das eine als Maximum hat, | das andere als Minimum haben müsse, nur das Höchste von beiden Seiten wird sich nicht zusammen finden, und die Geschichte liefert uns davon kein einziges Beispiel. Wir machen auch die Forderung nicht einmal daran, was seinen Grund in dem allgemeinen Gesetz der menschlichen Entwickelung im Großen hat, in der Oscillation, daß eins vorherrschend das andere zurücktreten macht, bis der Wechsel eintritt. Eine und dieselbe Masse kann gar nicht zu einer und derselben Zeit von zwei verschiedenen Seiten gleich bewegt werden. Jemehr wir aber von der höchsten Stufe herabsteigen, fordern wir auch das Gleichgewicht beider. Jede Virtuosität ist immer auf einer Seite einseitig. Die allgemeine Bildung schließt gewöhnlich die Virtuosität aus. Kann es nun nicht ein anderes höchstes geben, wo zwar die Virtuosität fehlt, aber dafür die vollkommene Harmonie ist? Ein solches Ideal hat man größtentheils aufgestellt. Von unserer Ansicht aus können wir dem schwerlich beistimmen, | denn wir schreiben doch dem Genie

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noch soviel Empfänglichkeit für die reale Seite zu, als der immer haben kann, der die allgemeine Harmonie hat. Daß man diese gleichmäßige harmonische Bildung aber als das Höchste angesehen hat, das liegt darin, daß man den Menschen bloß für sich allein betrachtet hat; denn wirken kann doch solcher Mensch so sehr viel nicht, nicht mehr als ein anderer, empfänglich wird er auch sein, aber immer nur abspiegelnd die Productivität außer ihm. Ein solches Dasein macht einen leichten und schönen Eindruck, und wer sich daran genügen läßt, der mag es als Ideal aufstellen. Aber vom Begriff der menschlichen Gattung ausgegangen, ist dies ein relativer Tod, denn da ist nur Leben in der Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen. So wie die Virtuosität, die eine neue Entwickelungsstufe bringt einseitig ist, so ist auch die zunächst untergeordnete, die nicht eine neue Entwickelungsstufe bringt, aber die bestehende auf ganz eigenthümliche Weise entwickelt, | ist auch noch einseitig, und hier wird auch immer der Einzelne noch einseitig sein. Nach dieser Stufe folgt erst die der allgemeinen Harmonie, ein Gleichgewicht des Idealen und Realen, und der Productivität und der Empfänglichkeit. Auf der untergeordneten Stufe wird die Productivität zurücktreten, und es werden auf ihr die Seelen stehen, die da fähig sind vom Genie und vom Heros ergriffen zu werden, und die Schwingungen, die sie erhalten haben fortzusetzen. Hier in dieser vollkommenen Empfänglichkeit ist doch das völlige Zusammenstimmen des Einzelnen mit dem Ganzen gesetzt. Was ist die bestimmt unterste Stufe? Wo die Einwirkung selbst in dem Einzelnen gehemmt wird, wo ein Einzelner ist, der sich den Einwirkungen widersetzt, die von der Productivität der Einzelnen ausgehen, die die Gattung repräsentiren. Worin liegt das? Beim Aufnehmen des Genialischen liegt es gewiß an der Trägheit, oder Abgestumpftheit der Organe. Wir | können uns aber denken an den Grenzen zweier Evolutionen, überall wo wir einen Zusammenstoß zweier Zeiten annehmen, und finden auch wirklich da Menschen, die gar nicht im Stande sind die Impulse des einen Lebens lebendig aufzufassen, wol aber sind sie empfänglich für das Alte. Diese müssen aber noch von jenen unterschieden werden, denn sie sind nicht durchaus unempfänglich, sondern ihr ganzes höheres Leben ist nur in einer gewissen Form ganz aufgegangen, und gleichsam versteinert. Solche Menschen stellen die Grenze dar zwischen einer Periode und der andern; sie sind lebendig wenn ihr Dasein auf die eine bezogen wird, sie sind todt, wenn man es auf die andere bezieht. Wenn es solche Menschen nicht gäbe, so würden wir gar nicht wissen, daß es eine stoßweise Entwickelung der Menschen im Großen gäbe. Einige sind in ihrer Empfänglichkeit reicher, nehmen leichter das Neue an, und geben eher die gewöhnliche Form der Thätigkeit auf, ohne daß sie darum kräftiger sind und besser

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als diejenigen, die aus der gewohnten | Thätigkeit durchaus nicht heraus wollen. Ein anderes ist es mit der Stufe des Daseins, die die niedrigste ist, wo der Widerstand aus wirklicher Unfähigkeit kommt, wo die Empfänglichkeit ganz gering ist. Das Extrem dieser Stumpfsinnigkeit geht in den Blödsinn über, und die Grenze zwischen dem, was das Niedrigste ist, aber doch noch natürlich, und dem was das Widernatürliche ist, ist schwer zu finden. Dies galt nun nur für die Seite des Idealen, denn nur da endet das Minimum in Stumpfsinn. Wie ist es aber auf der realen Seite? Wenn das Heroische darin sein Wesen hat, daß von einem Einzelnen aus die Thätigkeit auf die Natur gerichtet, das gemeinsame Dasein höher entwickelt wird, so besteht das Maximum der Empfänglichkeit darin, wenn jeder seinen Willen diesem Ganzen unterordnet, die vollkommenste Empfänglichkeit ist die vollkommenste Gesetzlichkeit. Die niedrigste Stufe ist da die vollkommenste Wildheit, es ist eine Unfähigkeit | das Persönliche in sich zu bezähmen, und es dem Allgemeinen unterzuordnen. Wenn man will, kann man auch dies eine Stumpfheit nennen, weil diese Erregungen [ ] sind; aber in der Reaction entsteht hier Leidenschaftlichkeit, welche immer Mangel an Empfänglichkeit für das Allgemeine ist, aber in der Erscheinung den Gegensatz macht zu jenem Stumpfsinn, die vollkommene Wildheit, welche in ihrem Extrem in den Wahnsinn übergeht. Jemehr sie hervortritt in einem Leben, wo schon die Leidenschaftlichkeit sollte gebändigt sein, desto leichter geht sie in den Wahnsinn über. In dem Thier spricht sich die Gattung ganz aus, und in allen Thieren auf gleiche Weise. Im Menschen ist eine Differenz gesetzt, und damit ein lebendiges Spiel der Kräfte. Wer dieses Spiel gänzlich von sich zurückweist, der steht dem Thier am nächsten, von den beiden Seiten, der des Blödsinns und der Wildheit angesehen. |

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Drei und sechzigste Vorlesung. Wenn wir nun diese ganze Stufenreihe übersehen, so nimmt jeder Mensch eine darin ein, und sehen wir die ganze Menschheit an, so können wir auch den Schlechtesten vom Besten unterscheiden. Aber worin ist dieser Unterschied motivirt? Diese Frage setzt immer in Verlegenheit, weil wir theils nicht tief genug eindringen können in das Innere der Natur, theils weil dieses Nichteindringenkönnen uns immer wegen des Urtheils in Verlegenheit setzt. Wir können hier kaum anders als die verschiedenen möglichen Ansichten gegeneinander halten. 17 Erregungen] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl παθηματα (vgl. Berliner Nachschrift, S. 413) 35 Innere der Natur] am Rand markiert mit ?

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Liegt der Grund warum der Mensch ein solcher ist in dieser Beziehung in seiner eigenen Entwickelung, oder ist er vorher da gewesen? Die erste Frage, wenn wir sie bejahen, nimmt den Menschen selbst mit unter die Ursachen auf, daß er so und kein anderer geworden ist. Aber wenn wir sagen: die Gründe, warum der eine ein Genie ist der andere fast blödsinnig, liegen in seiner Entwickelung; so kann das heißen: es liegt | in ihm oder in den Umständen seiner Entwickelung. Empirisch genommen finden wir, daß Genies sich gebildet haben unter den dürftigsten Umständen. Ja, sagt man, diese Umstände haben eben gereizt, und die üppigsten Umstände verschlossen. Das ist aber auch gegen alle Erfahrung. Die Einwirkung der Umstände ist also in keine Erkenntniß zu bringen, weil man das Gegentheil mit setzen müßte. Drückt man das positiv aus, so sagt man: es sei Zufall; denn der Begriff des Zufalls drückt positiv das Nichterkennen aus, ist darum auf dem Gebiet der Wissenschaft nicht zuzulassen. Aber wir können doch die günstigen und ungünstigen Umstände nicht ganz leugnen. Wenn wir fragen: unter den unzähligen Menschen, die in den Jahren der Kindheit sterben, sind da keine gewesen, die hätten Genies oder Heroen werden können? Das wird niemand verneinen. Setzen wir nun einmal Leib und Seele relativ entgegen, dann müssen wir auch sagen: der Leib und was ihn angeht ist relativ etwas | Äußerliches für die Seele, und wenn wir auch sagen wollten: der Grund der Kurzlebigkeit liegt schon im Menschen bei seiner Geburt; so müssen wir doch sagen: die äußern Umstände haben gehindert. Können diese nun das Größere so können die auch das Kleinere. So müssen wir dann auch sagen: viele Menschen hätten unter andern Umständen eine höhere Entwikkelungsstufe erreicht. Sollen wir nun alle Menschen beim Anfange ihres Lebens gleich setzen und sagen: die ganze Differenz rührt von den äußern Umständen her? Hier müssen wir gestehen: 1) können wir weiter zurückgehen, und fragen: giebt es nicht schon äußere Umstände vor der Geburt? Das wird keiner leugnen, und es hat noch keiner gesagt: die Seele erschien erst bei der Geburt, sondern mit dem Anfange des Leibes setzt man den der Seele auch. So ist aber die Seele auch schon in relativem Gegensatz mit dem Leibe gewesen, und vor der Geburt hat es schon äußere Umstände gegeben. Aber sehen wir von der andern Seite, wieviel Kraft der eine | anwendet, und wieviel der andere, so müssen wir auch sagen: daß sie diese Kraft von Natur haben; denn weil wir sie für jeden Moment setzen, so müssen wir sie auch von Anfang an setzen. (Die Art der Einwirkung muß nun früher gesetzt werden als das Resultat, sonst würde der Anknüpfungspunct fehlen.) Wir werden also von allen Seiten darauf getrieben: es giebt 39–40 Die ... Resultat,] am Rand markiert mit ?

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eine ursprüngliche Ungleichheit der Menschen, und wir können nicht die Regel aufstellen, daß das Schicksal die Ungleichheit wieder ausgleicht. Dennoch können wir allein in dem Resultat nicht die Differenz der Kraft, welche bei der Geburt mitgebracht wurde, zum Grunde legen, weil hier noch die Zeit und Art der Entwickelung eintritt. Angenommen nun, über die Einwirkung der äußern Umstände wäre keine Erkenntniß zu erlangen, so fragen wir: wiefern wir nun eine ursprüngliche Ungleichheit annehmen, giebt es denn für diese ein Gesetz? | Entweder weisen wir dies auf dasselbe Chaotische zurück, und dann giebt es keine andere Antwort; denn wenn wir das Entstehen des Menschen wieder auf das Dasein anderer Menschen zurückführen, so kommen wir auf das Chaotische, daß es abhänge von der Kraft der Eltern, von ihrer Erhebung oder Depression beim Act der Zeugung, von ihrer geistigen Zusammenstimmung u.s.w. und dann ist dies auch rein zufällig für uns. Oder wir führen es auf die Gattung zurück, und dann ist die Willkühr abgeschnitten, denn was wir dem einzelnen Menschen zuschreiben, das setzen wir in seine Willkühr. Gerade aber indem die Menschen hier unter einem viel freieren Naturgesetz stehen, da sie keine bestimmte Zeit der Begattung haben, durch keinen bloß blinden physischen Trieb geleitet werden, ist auch dasjenige mitgesetzt, was wir als Zufall ansehen müssen, wenn wir es auf den Einzelnen beziehen, und wir können keinen Zusammenhang einsehen zwischen dem Resultat und dem Einzelnen, und wir können nicht sagen, | dieser Gegenstand sei bloß noch unbekannt, sondern wir finden eine bestimmte Abneigung dagegen, daß der Mensch sollte bestimmen können, ob durch den Beischlaf eine Befruchtung erfolge oder nicht; denn auf diese Weise wäre das Verhältniß des Ganzen zum Einzelnen ganz alterirt, weil der Einzelne etwas in seiner Gewalt hätte, was nur auf das Ganze zu beziehen ist. Dem Zufall also stellt sich entgegen, daß wir den ganzen Prozeß nicht auf den Einzelnen, sondern auf die Gattung zurückführen müssen. Bringt uns nun dies in der Erkenntniß weiter, wenn wir sagen: es ist in der Gattung begründet, daß es ein Verhältniß giebt zwischen dem Ausgezeichneten und Gewöhnlichen, und daß der Mensch ein solcher ist, oder ein solcher? Dies giebt uns eine Idee, aber eine bestimmte Erkenntniß kann daraus nicht hervorgehen. Wir können nur sagen: die Gattung ist in diesem Prozeß derselben Oscillation unterworfen, als alles Einzelne. Denken wir | sie uns in der Expansion, so bringt sie die Masse des Gewöhnlichen hervor, denken wir sie uns in der Construction, so haftet sie das zusammen, was sie in jener zerstreut, und so ist die ganze Ungleichheit begründet. Bis zu dieser Idee können wir es bringen, zu der bestimmten Erkenntniß würde gehören, die Gesetze zu kennen, welchen die Expansion und Construction unterworfen sind, und aus diesen jedes

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Einzelne zu erklären. Dahin bringen wir es aber nie. Es eröffnet sich zwar von dieser Ansicht aus ein Feld von Beobachtungen, aber es ist kaum zu fassen, daß sie zu einem Resultat führen werden. Es giebt Völker und Zeiten, in denen die Differenz der Ausgezeichneten und Geringeren groß oder unbedeutend ist; aber eine Regel läßt sich in dieser Beobachtung schwerlich finden, weil die Einwirkung der äußern Umstände physiologisch und psychologisch zu erklären ist, und wir immer wieder auf Umgebungen kommen, die wieder zu erklären sein würden. | Mit dieser Ansicht müssen wir aber auch zur andern Ansicht zurückgehen, und sehen, ob wir nicht auch etwas Reales finden. Die Einwirkung der äußern Umstände ist theils mehr physiologisch, theils mehr psychologisch. Fassen wir sie psychologisch auf, so ist die Einwirkung von dieser Seite die menschliche Umgebung. In dieser haben wir aber neben und über dem Einzelnen die höhere, lebendige Einheit der Gattung, und diese wirkt also in der Fortentwikkelung des Menschen mit, wie sie in seiner Anlage mitwirkte. Denn die Differenz der einzelnen Menschen ist ja eben so gut auf die Gattung zurückzuführen, als die Differenz der ursprünglichen Anlage. Die Einzelnen drücken nur einen bestimmten Lebensmoment der Gattung aus, und so setzt sich jene Kraft fort in das Leben des Menschen hinein, und bildet auch hier eine Aufgabe, die wir wol zu lösen versuchen müssen, aber wir sehen wol ein, daß es bis ins Einzelne hinein nicht gehen wird. | Worin löst sich uns aber die physische Einwirkung auf? Ist es nicht auch das Verhältniß, in welchem das Menschliche im Allgemeinen zu den Naturkräften außer dem Menschen steht? Hierher gehören alle physiologischen Einwirkungen. Dies alles zusammen können wir nicht als Complex von Einzelnen ansehen, sondern es ist hier das äußere Verhältniß der Gattung mit den Naturkräften, mit welchen sie in Conflict ist. Auch hier werden wir die Beobachtung im Großen anstellen, aber schwerlich sie bis ins Einzelne verfolgen können, so daß wir die Regeln des Verlaufs finden. Was heißt das nun? Dieses, daß wir nicht finden werden, was im Menschen ursprünglich ist, und was Einwirkung; und daß wir erlöst werden vom Zufall, und alles zurückführen auf die Gattung; daß es uns aber wol nicht möglich sein wird, dies Große und das Mikroskopische des Einzelnen zurückzuführen.

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Soviel aber muß das immer darbieten, daß wir von der Vorstellung des Zufalls befreit werden. Schwerlich mögte | es etwas Betrübteres geben, als die Gleichheit der Menschen. Die Ungleichheit ist nothwendig, um das ganze geistige Leben, das die menschliche Gattung cha-

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racterisirt, hervorzubringen. Es erscheint also dies Gesetz der Ungleichheit, auch wenn es einen Einzelnen an einen andern Platz stellt als einen andern, durchaus nothwendig, und jeder muß zum Gefühl desselben kommen. Es erhebt jeden über sich selbst, lehrt ihn die Idee der Menschheit finden, und diese als Subject setzen, nicht sich. Dadurch eignet er sich das Fremde als das Seinige an, wenn er es auch nicht producirt hat.

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Von der Erscheinung der menschlichen Seele in Beziehung auf die Zeit.

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Noch ein anderes ist allen Menschen gemeinsam, aber in jedem mit wechselnder Differenz, nämlich die Erscheinung der menschlichen Seele in Beziehung auf die Zeit. Es ist auch hier der Anfang und das Ende etwas schlechthin Dunkles. Das Klare, worüber wir zur Erkenntniß kommen können, ist das in der Mitte Liegende. Die Frage, wie die Seele sich mittheilt oder | entsteht, oder vor aller Zeugung da ist, ist gar nicht auszumachen. Die Seele als etwas Präexistirendes zu setzen führt uns völlig über den Zusammenhang unseres Erkennens hinaus, wofür wir gar keine Analogie haben, und was uns bei demjenigen, was wir erforschen können mehr schadet, als sonst nützt; denn nimmt man einmal so etwas an, so ist man sehr geneigt bei schwierigen Fällen, wo man aber noch untersuchen könnte, mit eben demselben Gedanken dazwischen zu fahren und alle Untersuchung abzuschneiden. Das ist also ein Gedanke, den wir dahin gestellt sein lassen, vor dem wir uns aber in Acht nehmen, damit er uns nicht beschränke; wenn der Gedanke auch richtig ist, so ist er doch wenig brauchbar die Erscheinungen des gegenwärtigen Lebens zu erklären. So vergessen wir ja auch alle kindlichen Zustände, und eine Region des Lebens ist für uns rein Null, eine zweite hat nur einzelne Vorstellungen zurückgelassen, und doch haben beide auf uns viel Einfluß gehabt. Eben so kommen wir nicht weiter, wenn wir | uns etwas Bestimmtes denken von der Mittheilung der Seele. Das organische Leben hängt vom organischen Act der Aeltern ab, in welchem die verschiedenen Geschlechter momentan wieder Eins werden, und davon hängt das Entstehen eines neuen Individuums ab. Aber von einer eigentlichen Mittheilung der Seele können wir durchaus gar nichts sagen, und wir erreichen durch die Annahme dieser Hypothese nichts. Sie hat zwar eine gewisse Analogie denn bei der organischen Zeugung ist auch das Entstehen des organischen Lebens dunkel und 8–9 Von ... Zeit.] als Wiederholung am Rand: Von der menschlichen Seele in Beziehung auf den zeitlichen Verlauf ihrer Erscheinung.

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unerklärt, aber wir sehen doch das Einswerden der Geschlechter. Sagt man nun, daß bei demselben Act auch die Seelen vollkommen Eins werden, so läßt sich dies doch gar nicht construiren, ja es giebt gar keine Spuren in den einzelnen Seelen selbst, die darauf hinführten. Die geistigen Thätigkeiten dabei sind auch sehr verschieden, vom geistigsten Zusammenschmelzen an bis fast auf Null der geistigen Thätigkeit, und die zu schaffende Seele | ist ganz unabhängig davon. Das Einzelne tritt soweit als möglich zurück, und es scheint, als ob die Natur sich von aller Einwirkung der Einzelnen losmachte, und als ob ihre Kraft allein wirkte. Es giebt einen sehr bestimmten Einfluß der Aeltern auf die Kinder, allein dieser liegt mehr auf der physiologischen Seite, und hier können wir allerdings sagen, daß es außer der allgemeinen plastischen Kraft der Gattung auch eine specielle giebt, wodurch das einzelne Dasein entsteht, das Dasein der Völker und Racen. Auf das Psychische aber will sich das weniger anwenden lassen. Allerdings jemehr wir ins Große gehen, desto mehr sind auch geistige Differenzen z. B. der Völker, aber jemehr wir in die Geschlechter gehen und ins Einzelne, desto mehr verschwindet die psychische Differenz. Wir gehen aus von dem Punct, wo wir das Zusammensein des Lebens und der Seele annehmen müssen. Wir haben keine Ursach beide nicht zugleich zu setzen. Das Leben des foetus im Mutterleib ist nur ein relatives, von dem Leben der Mutter abhängend, weil seine assimilirende Kraft | noch sehr beschränkt ist, und seine verschiedenen Functionen noch nicht Eins geworden sind. Das organische Leben erscheint uns als ein Getheiltes hier, aber wir haben nicht Ursach dies auch vom Psychischen zu sagen; vielmehr offenbart sich dasselbe schon in den willkührlichen Bewegungen des Kindes. Wir haben aber alle Ursach, das Psychische in Verbindung zu setzen mit der plastischen allgemeinen Kraft, denn mit dem Erscheinen des Kindes ist wenigstens schon die Eigenthümlichkeit angelegt, die aus dem Psychischen und der allgemeinen plastischen Kraft entstanden ist. Die Seele ist grade eine solche, weil sie solchen Leib hat, und der Leib ist ein solcher, weil eine solche Seele in ihm wohnt; und der paradoxeste Satz wäre zu sagen: wenn ich dies oder jenes Organische besser hätte, so würde meine Seele auch viel darin leisten. So können wir denn auch sagen daß die Seele gleich anfängt sich den Körper individuell auszubilden. Beide sind also zusammengesetzt von Anfang an, aber stehen nicht gleich in vollkommener Wechselwirkung, | weil das organische Dasein anfangs ein getheiltes ist. Wenn das Kind geboren ist, ist es immer noch kein ganz eigenes Dasein, weil es noch keine Assimilationskraft hat, und seine Nahrung noch von der Mutter nicht von der Welt nehmen muß. Das ist das Natürliche, die Ausnahmen 36 die] die sie

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bekunden die Freiheit des Menschen, aber sie müssen uns das Natürliche nicht verdunkeln. Die Kindheit geht nun bis zur ersten Entwickelung der Pubertät. Hier ist die ganze ausströmende Kraft der Seele auf die Plastik des Leibes gewendet, und nur die aufnehmende Thätigkeit geht nach außen. Diese war im Mutterleibe Null, weil die Sinne noch nicht geöffnet waren. So wie das Kind aber an das Licht und die Luft kommt, gehen die Sinne auf, und daran schließt sich die aufnehmende Thätigkeit. Die herausströmende Thätigkeit geht erst nach außen, wenn das Geschlechtsverhältniß ausgebildet ist, und damit beginnt auch erst die Freiheit. Das Wesen des Kindes besteht nur in dem freien | Spiel dieser beiden Thätigkeiten. Jemehr die Seele auf den Körper sich wenden muß, desto mehr muß das Kind schlafen. Je weniger jenes wird, jemehr macht das Kind, und desto mehr kann es aufnehmen. Der eigentliche Wille ist noch ganz auf das Plastische, Diätetische und Gymnastische gewendet, und jedes Eingreifenwollen des Kindes ist Abnormität und krankhafter Zustand.

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Es fragt sich, ob die Seele in intellectueller Hinsicht im Anfange des Lebens Null sei, oder ob sie mit angebornen Ideen das Leben anfangen? Es ist dies ein wunderlicher Streit, und jemehr man ihn betrachtet, desto weniger kann man in ihm etwas andres finden, als vollkommene Leerheit von beiden Seiten. Wenn wir die Seele isoliren, so müssen wir sie doch als ideales Princip ansehen, was in ein reales übergeht, und so müssen wir ihr doch ein Wesen ein inneres Gesetz zuschreiben. Versteht man das unter den angebornen Ideen, dieses Gesetz, diese Regeln zur Bildung des Bewußtseins, so müssen ja diese Regeln vor dem Bewußtsein selbst gewesen sein. | Leugnet man dies, so nimmt man bloße Passivität der Seele an, und ist im Materialismus begriffen. Der allgemeine Typus des Bewußtseins ist also, was man unter den angebornen Ideen verstehen muß, und zwar der Typus für die Art, wie die Seele die Welt in sich aufnimmt, und für die Art wie sie sich in der Welt ausdrückt. Aber unter den angebornen Ideen ein vollkommenes Bewußtsein zu verstehen, ist gar nicht zu construiren. Wenn man von der andern Seite sagt, die Seele sei bei der Geburt des Menschen ein unbeschriebenes Blatt, so steht das mit dem Unsrigen noch nicht in Widerspruch. Versteht man aber darunter, daß auch nicht einmal der Typus ihrer Thätigkeit in ihr ist, so geht man in den Materialismus über. Versteht man aber beide Vorstellungen recht, so gehören sie zusammen. Wir werden also sagen müssen: der erste Anfangspunct der Entwickelung ist nichts anderes, als ein Gesetztsein

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der Seele als ein Thätiges und in sich selbst Bestimmtes, und jedes Bewußtsein entwickelt sich aus diesem Anfange der ur|sprünglichen Seelenthätigkeit. Und nun können wir auch den Gegensatz der vegetativen und intellectuellen Seele zusammenfassen; denn wenn die Seele den Leib bildet, so ist das nur, um sich ein Organ zu bilden für die Ausbildung der Welt, und Insichhineinbildung derselben. Nehmen wir nun den ganzen Umfang der Entwickelung, so ist das die größte Thätigkeit der Seele, und alles was sie nachher thut, ist Kleinigkeit hiegegen, und zu allem wird der Keim in dieser Zeit gelegt. Ehe die Sprache da ist kann ja auch niemand bestimmt auf das Kind einwirken, und es bildet die Seele sich also selbst heraus, und schafft sich auch die Sprache selbst, denn die Combination die dazu gehört ist doch ihr eigener Prozeß. Und daß ist ja offenbar, daß sie immer in Begriff sind, sich ihre Sprache selbst zu bilden. Von den Jahren an, wo das Assimilationssystem herausgetreten ist, bildet sich das Kind als freies Werk die Sprache, und ohne diese erfindende Thätigkeit würde es die Sprache nicht aufnehmen können. Fragmentarisch und im Einzelnen erfinden die Kinder auch die Sprache, und es ist nur das Fügen des Einzelnen unter das Vorhandene, welches sich an die vorhandene Sprache anschließen läßt. Wort und Begriff ist nun aber nicht zu trennen, das Werden des Wortes und Begriffes ist | Eins, und so bildet sich mit der Sprache sein Begriffssystem. Alles Folgende ist entweder das genauere Hineingehen in dasselbe, oder das bessere Heraustreten desselben in der Bildung der Welt. Dagegen ist die Gefühlsseite im Kinde weit mehr zurückgedrängt. Die Empfindungen des Kindes sind noch lange nicht in den Gegensatz von Lust und Unlust getreten, wenn ihr Begriffssystem schon längst da ist. Die wechseln ungeheuer schnell mit dem Weinen und Lachen, und wenn man deßhalb gesagt hat, in den Kindern sei das sanguinische Temperament, so ist das ganz falsch. Die erste Liebe des Kindes entwickelt sich zur Mutter, ist aber nichts als das Selbstbewußtsein, das in seinem getheilten Leben ist. Hört das getheilte Leben auf, und fängt das Selbstbewußtsein an, so hört diese Liebe auf. Die wahre Liebe entsteht erst durch das erhöhte Selbstbewußtsein, und die entsteht erst auf dem Grenzpunct zwischen Kindheit und Jugend. Diese plastische Thätigkeit der Seele, und die aufnehmende Thätigkeit machen die psychische Gesundheit des Kindes aus. | Es hat aber auch seine Krankheiten. Wenn ein Mißverhältniß des Plastischen da ist, so ist die dumme Gefräßigkeit da, die man gewöhnlich der falschen Behandlung zuschreibt, die aber immer eine Schwäche der intellectuellen Thätigkeit voraussetzt. Die entgegengesetzte Krankheit, das Übergewicht der 17–20 Fragmentarisch … läßt.] am Rand ohne Einfügungszeichen welches sie

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aufnehmenden Thätigkeit ist die Altklugheit, wobei die Plastik verliert. Das hängt damit zusammen, daß die Seele nicht gehörig Theil nimmt an der Bildung des Körpers; daher diese Kinder immer schwächer sind. Man sieht dies gewöhnlich ausschließend von der physiologischen Seite an, was jetzt auch noch geht, da der Gegensatz zwischen der Seele und dem Leibe auch noch erst im Werden ist. Die Periode der Jugend fängt an mit der physischen Entwickelung der Geschlechtsverhältnisse. Hier fängt erst das vollständige Selbstgefühl an, und darin können wir eben so bestimmt den Character der Jugend knüpfen, als an dem Entstehen des Lebens die Kindheit. Mit der Jugend fängt der Bildungsprozeß an zurückzutreten, und das Gefühl fängt an hervorzutreten. | Wenn es scheint, als ob der Trieb zu erkennen in der Jugend erst recht lebendig wäre, so ist das ein bloßer Schein, denn es ist bloß ein bewußtes Erkennenwollen, die Kraft ist aber durchaus nicht größer, sondern sie nimmt ab. Es scheint auch, als wenn die Kraft sich potenzirte, weil die sich nach innen zurückdrängt, weil das speculative Element erwacht, weil sie die Dinge mit den Gesetzen der Seele in Übereinstimmung bringen will. Das heißt aber bloß, daß das Selbstbewußtsein hinzukommt, und darin besteht eben das Potenziren. Die stärkste Entwickelung ist auf der Seite des Gefühls. Wir finden sie in dem stärkern Auseinandertreten von Lust und Unlust. Sieht man das wieder als Temperament an, und sagt: das Temperament der Jugend sei das Colerische, so ist das wieder falsch, denn es ist nichts als das Fixirtsein eines Gegensatzes. Zu gleicher Zeit entwickelt sich das Verhältniß des Einzelnen zu dem, was außer ihm ist, im Gefühl, es entsteht nun erst das wahre Selbstbewußtsein, | welches Ehrgefühl ist, wenn man es auf den Menschen selbst bezieht, und Liebe, wenn es auf die Gemeinschaft bezogen wird. Damit entsteht auch die Empfänglichkeit für die intellectuelle Harmonie der Einzelnen unter sich, abgesehen von der Geschlechtsdifferenz, die Freundschaft.

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Sechs und sechzigste Vorlesung. Was ist die Grenze dieser Periode? Wenn der Naturbildungsprozeß seine bestimmte Haltung, seinen Typus und seinen Ort findet, d. h. wenn ein bestimmter Beruf eintritt. – Dies soll nun natürlich zusammentreffen mit dem Bilden eines Hauses, weil dann erst das Ganze seine Vollendung hat, wenn die Gattung in dem Einzelnen lebendig wird. Wir müssen nun sagen: wenn der Naturbildungsprozeß seinen bestimmten Typus noch nicht gefunden hat, so muß es daher kommen, weil er innerlich noch nicht bestimmt genug ist. Im kindlichen

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Alter geht die ganze plastische Richtung auf den Leib; in dem männlichen Alter nach außen. Das jugendliche Alter steht in der Mitte. Ein eigentlich organisches Leben findet nicht mehr statt, aber die plastische | Richtung nach außen ist noch im Entstehen, d. h. Neigung und Talente haben sich noch nicht in das richtige Verhältniß gesetzt. Die Jugend ist aber im Suchen dieser Entwickelung. Dieser Entwickelungsprozeß knüpft sich an das früher in der Jugend Geschehene. Aber es muß auch eine Zeit des Versuchs geben, ohne ein bestimmtes System sich der Welt einzubilden, und so die Welt kennen zu lernen. Es ist also diese Entwickelung der ausströmenden Thätigkeit, verbunden mit der Ausbildung der Gefühlsseite, von dieser Seite das Characteristische der Jugend. Die Jugend ist auch die Zeit, wo der Geschlechtstrieb zugleich ein physischer und intellectueller Trieb wird. Dieser findet seine Befriedigung erst in der Ehe, d. h. am Ende der Jugend. Es ist also auch für die Zeit der Entwickelung und des Versuchs die Zeit der Annäherung der Geschlechter, die für die Jugend ganz natürlich ist, für das männliche Alter frivol. – Von der Seite des Gefühls angesehen ist ein natürlicher Uebergang zum | Naturbildungsprozeß[,] alles was ins Gebiet der Kunst fällt; es geht aber nicht von einem practischen Zweck aus, sondern ist nur Reaction des Gefühls. Daher entwickelt sich in der Jugend der Kunstsinn. Später kommt er schwerlich. Jedoch sieht man diese Neigung bald als ein nothwendiges Aussprechen an, und so geschieht es, daß manche sich für die Kunst bestimmt glauben, obgleich es nur natürliche Aeußerung der Jugend ist. Indem sich das Gefühl entwickelt, und im männlichen Alter jeder seine Stelle im Naturbildungsprozeß nur findet in der Gemeinschaft mit anderen, so muß sich in der Jugend auch schon das erhöhte Bewußtsein entwikkeln. Es ist aber hier noch nicht so fixirt als im männlichen Alter; daher in der Jugend die Neigung willkührliche Verbindungen einzugehen von der willkührlichsten Idee aus, was daher auch kommt, daß die Naturtypen der Gemeinschaft noch nicht recht zum Bewußtsein gekommen sind. Es wird freilich auch hier Verschiedenheit herrschen, je nachdem das übrige öffentliche Leben stark oder schwach ist. | So ist das Ritterthum durchaus jugendlicher Art, und konnte auch nur entstehen, als die Sonderung der Elemente in den Völkern noch nicht manifestirt war. – Wenn wir also alles zusammenfassen, so werden wir sagen müssen, wollen wir die Jugend wie die Kindheit characterisiren, so ist die Gefühlsseite die hervortretende, und die plastische Thätigkeit fängt an sich nach außen zu richten. Dies ist die Gesundheit der Jugend, die vollständige Entwickelung des Gefühls, das in allen seinen Formen bestimmt heraustreten muß; auf der plastischen Seite ist dagegen das unbestimmte Versuchen, was noch keine besondere Richtung vorherrschen läßt, bis sich allmählig das Bewußtsein

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bestimmt; und so wie das geschieht, so entsteht auch der Trieb, zu einer bestimmten Lebensordnung und Einwirkung auf das Ganze sich hinzuneigen. Was ist denn nun die natürliche Krankheit der Jugend? In der Kindheit versirte sie zwischen dem Mißverhältniß der organischen und psychischen Seite. Für die Jugend ist aus der organischen | Seite das Bewußtsein der höchsten Entwickelung, aber es ist bedingt durch das Übergehen des Geschlechtstriebes in seine psychische und intellectuelle Seite. Die Krankheit dieses Lebensalters ist die Wollust, das Vorherrschen der organischen Fülle in Beziehung auf diese Seite, wodurch aber ein Übergewicht des Animalischen hervorgebracht wird, und die Entwickelung der wahren Liebe wird nicht gefördert. Das ist auch ganz natürlich. Wenn in dieser Zeit das Umherschweifen der Seele das Characteristische ist, und versäumt wird, daß das Geschlechtsverhältniß sich nach seiner intellectuellen Seite hin entwikkele, so ist nachher im männlichen Alter natürlich, daß die Bildung des häuslichen Lebens nur als mechanischer Anfang ist angesehen worden für den Beruf. Sehen wir nun auf die andere Seite, so sollen sich in ihr alle Talente entwickeln in einem freien Versuchsleben, doch soll in der Freiheit der Entwickelung eine innere Ahnung der Stätigkeit der Entwickelung sein. Das ist das Unbewußte, | was in dieser Zeit doch den Menschen leiten muß. Fehlt dies ganz, so entsteht der Zustand der allgemeinen Zerstreuung, worin das Wechseln und Umherschweifen sich als ein eigentlicher Wille constituirt, und das ist die psychische Krankheit der Jugend, in welcher so viele untergehen. Dies hängt gewöhnlich zusammen mit einer ähnlichen Mißbildung auf der Gefühlsseite. Das Selbstgefühl und das Gemeingefühl sollen in Eins gebildet werden. Daraus muß die Bestimmung einer festen Lebensweise hervorgehen. Fehlt nun die Richtung auf die feste Lebensweise, so muß auch das Bestreben fehlen, das Selbstgefühl und Gemeingefühl in Eins zu bilden. Es bleibt ein tändelndes Schwanken, daß auf die Liebe gerichtet zur Sentimentalität wird, auf das Ehrgefühl gerichtet zur Empfindelei wird. Man sagt gewöhnlich: der Ehrgeiz sei erst im männlichen Alter; und das ist wahr. Der Ehrgeiz in der Jugend ist durchaus negativer Art, im männlichen Alter durchaus positiver Art. Das Ehrgefühl | in der Jugend ist[,] jeden frei sein Dasein führen zu lassen, wie man es selbst will, es ist bloß abwehrend. Das Ehrgefühl des Mannes schließt sich an den Naturbildungsprozeß, und wird dadurch herrschsüchtig. Nun hat man oft gefragt: was ist denn die höchste Stufe des menschlichen Lebens, die Jugend oder das männliche Alter? Die Jugend und das [hohe] Alter hat man immer für unvollkommener gehal3 Jugend?] Jugend.

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ten. Schwerlich wird man im menschlichen Leben Einen Punct als den höchsten ansehen können, da das Leben zu sehr den Character der Duplicität an sich trägt.

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Der Character im männlichen Alter ist nach der physiologischen Seite hin das Erzeugen, nach der psychischen Seite hin das Sichselbsthineinbilden in die Welt, welches auf eine allgemeine und besondere Weise geschieht. Die allgemeine ist nichts als ein quantitativer Theil von dem allgemeinen Bildungsprozeß, den die Menschen auf der Erde ausüben, ohne Rücksicht auf die | besondere Individualität; die besondere Art ist die aus dem besonderen Talent hervorgehende; oder ethisch ausgedrückt: der allgemeine Beruf und der besondere. Beides ist gar nicht zu sondern, aber man unterscheidet doch die große Masse, in der der allgemeine Beruf vorwaltet, von den Einzelnen, in denen sich in der erkennenden Sphäre besondere Talente entwickeln; und aus den besonderen Talenten entwickelt sich der besondere Beruf. Vom allgemeinen Beruf kann in der bürgerlichen Gesellschaft niemand ausgeschlossen sein, denn schon durch das Verhältniß alles Einzelnen zum Ganzen wirkt jeder durch sein Einzelnes auf das Ganze. Von dieser Seite ist die menschliche Gesellschaft das Mittel, daß der allgemeine Beruf nicht durch den speciellen unterdrückt werde. Die weitere Entwickelung hievon liegt aber nicht auf unserm Gebiet. Ueberall im allgemeinen und besondern Beruf ist die ausströmende Thätigkeit die dominirende, und das ist das Eigenthümliche des männlichen | Alters, daß die ausströmende Thätigkeit selbstständig auftritt und dominirt. Von der andern Seite wird in diesem Alter die aufnehmende Seite auf die ausströmende bezogen, und das versteht man darunter, wenn man diesen Theil des Daseins als den practischen nimmt. Die aufnehmende Thätigkeit hatte den größten Umfang im kindlichen Alter. Das eigentliche Wissen kam in der Jugend hinzu. Aber auch das Gefühl wurde in der Jugend aufs höchste ausgebildet. Nun ist aber auch auf dieser Seite nichts Wesentliches mehr zu entwikkeln, und das männliche Alter ist bestimmt die aufnehmende Seite in die ausströmende hineinzubilden. Früher ist alles mehr gesondert. Die plastische Thätigkeit der Seele in der Kindheit scheint ganz gesondert von der aufnehmenden Thätigkeit zu sein, und für das Bewußtsein sind sie ganz geschieden. Im Jünglingsalter ist es auch noch so von einer andern Seite. Die ausströmende Thätigkeit hält sich da noch | an das, was dem Leibe am nächsten ist, von der andern Seite entwikkelt sie sich in zerstreuten Versuchen. Die Entwickelung des Gefühls

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im Jünglingsalter ist aber ein Zusammenhängendes. Dieses Zusammenhängende nun und jenes Fragmentarische geht für die Seele auch noch nicht in Eins zusammen. Im männlichen Alter entwickelt sich also die völlige Einheit des Daseins für das Bewußtsein selbst. Die aufnehmendeThätigkeit wird ganz auf die ausströmende bezogen, was der Mensch weiß und fühlt, soll in die Welt. Das scheint einseitig. Aber dazu ist ein anderes Complement in der Seele, denn der Mensch, indem er Theil nimmt am allgemeinen Beruf der Zeugung und Naturbildung hat das Bewußtsein, daß er wieder Gegenstände für die aufnehmende Thätigkeit schafft. Worin ist denn nun der höchste Culminationspunct des Lebens zu setzen, in der Jugend oder im reiferen Alter? Wir müssen die Duplicität annehmen. In der Jugend ist das Selbstbewußtsein in beständiger Steigerung. | Hat die Jugend ihren ordentlichen Lauf gehabt, so kann der Mensch hierin nachher nichts mehr entdecken, und im männlichen Alter kann hierin keine Steigerung mehr sein. In diesem Alter eben soll es sich auf seiner Höhe erhalten und keiner Oscillation unterworfen sein; sein Selbstbewußtsein soll nicht steigen durch irgend ein Gelingen, und nicht schwinden durch irgend ein Mißlingen, sondern er soll wissen, wieviel auf die äußeren Umstände zu rechnen ist und wieviel er dabei gethan. Das ist nun keine Unvollkommenheit sondern eine Vollkommenheit. Von der andern Seite ist es immer eine Negation, daß das Selbstbewußtsein nicht mehr gesteigert werden kann, und der Beweis, daß der Culminationspunct des einzelnen Daseins vorüber ist. Von der andern Seite ist es gewiß eine höhere Ausbildung, daß das Dasein Eins geworden ist, und die ganze aufnehmende Thätigkeit auf die ausströmende bezogen ist. Die eine Vollkommenheit wird nun sein im Jünglinge, der am meisten an die Mannheit grenzt, und die andere im Mann der am meisten | an das Jünglingsalter grenzt. Die Jugend ist die Zeit der mannigfaltigsten aber unbestimmtesten Relationen. Das männliche Alter fängt mit dem vollendeten Selbstbewußtsein an, folglich müssen alle Relationen bestimmt sein. Daher in der Jugend die Richtung der Seele mehr auf die allgemeine menschliche Natur geht. Im Mann aber hat sich das Bewußtsein von dem eigentlichen Kreise, worin alles dies sein Spiel hat entwickelt, und auch das Nationelle tritt erst recht lebendig ins Bewußtsein beim Übertritt ins Mannesalter und da erst wird sich der Mensch bewußt, was er für das Volksthümliche wirken kann, und für das darüber Hinausgehende. Letzteres wird aber nur das Zufällige sein. So bestimmen sich nun im männlichen Alter alle Verhältnisse schärfer. Was ist denn nun die Grenze des männlichen Alters? Nach der physiologischen Seite da, wo der Organismus anfängt widerspenstig zu werden gegen die von der psychologischen Seite ausgehenden |

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Impulse. Im Allgemeinen wird dies bezeichnet durch das Abnehmen der Productivität nach außen hin, auf bestimmtere Weise ist es das Aufhören des Zeugungsprozesses, der so wie er sich am letzten entwickelt auch am ersten wieder aufhört. Das Abnehmen des Organismus erfolgt auch allmählig, also muß dies auch schon in das reifere Alter zurückgehen, es müssen da schon Veränderungen zum höhern Alter kommen. Worin bestehen die? Offenbar in einem Instinct für die Erhaltung des Organismus zu sorgen. In der Jugend ist völlige Sorglosigkeit hierin, und ein völliges Spiel der Seele mit der organischen Thätigkeit. Im männlichen Alter ist die regelmäßige Thätigkeit vorherrschend, und darum hört dies Spiel auf, wenigstens ist es nur da den Zwischenraum zwischen der angestrengten Thätigkeit auszufüllen; aber auch hier zeigt sich schon die Sorge, denn im fortgeschrittenen männlichen Alter geschieht die Erholung, das Spiel nur zur Erhaltung des Organismus. – |

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Diese Sorge steigt dann bis zur Grenze an das hohe Alter, und damit der Organismus thätig bleibe im Dienst des Geistes, werden Reizmittel angewendet, und so zieht sich das männliche Alter allmählig hinüber in das hohe Alter, was dadurch characterisirt ist, daß es ganz aufgiebt den Organismus in seiner gewohnten Thätigkeit zu erhalten. Die natürlichen Krankheiten sind hier doppelter Art. Nach der organischen Seite hin giebt es eine Krankheit, die das Psychische stört, aber sie ist zwiefach und so auch umgekehrt. Die Krankheit nach der organischen Seite ist zuerst die Hypochondrie, die krankhafte Sorge für den Leib, die das Psychische zerstört. Natürlich sehen wir hier die Krankheit als eine psychische an, wieviel sie auch physiologisch sein kann. In diesem Zustande ist gewöhnlich eine Scheu, den Zustand durch Reizmittel zu haben, daher steht dieser Form als der Sthenischen entgegen eine Gewöhnung, über die man nicht mehr Herr werden kann, bald Getränke, bald aromatische Bestandtheile in den Speisen. | Beides ist eine Ausweichung, die erst in dieser Lebensperiode natürlich ist, früher und später nicht. Wird die Mäßigkeit hierin überschritten, so entsteht der Rausch, über den wir später reden werden. Es ist das Wesen des reiferen Alters, daß alle Verhältnisse sich möglichst genau bestimmen, das Verhältniß des persönlichen Gefühls zum Gemeingefühl möglichst genau fixirt wird. Alle gemeinsame Verhältnisse sind aber einem Wechsel unterworfen, und dieser Wechsel kommt eben so ins Bewußtsein, als das Bewußtsein des Wechsels des Organismus. Die Förderungen und Hemmungen dieses Lebensver28–29 Sthenischen] Stehnischen

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hältnisses sind nun immer vom Einzelnen gegen Einzelne. Wo einer den andern stören will, da ist gesunde Reaction nothwendig. Aber wo die gesunde Reaction fehlt, da sind zwei Krankheiten, die eine sthenisch, die andere asthenisch. Die letztere ist die Neigung die in schwächern Gemüthern zu entstehen pflegt, sich selbt hinzugeben und ihr Leben zu suchen in der Kraft anderer, das ist die Schmeichelei; | Die sthenische dagegen ist die Krankheit, daß sie alle möglichen Störungen im Voraus unterdrücken will durch Heranziehen aller Menschen, und das ist der Ehrgeiz und die Herrschsucht. So wie die Ausweichungen auf der organischen Seite die physischen Functionen stören, so stören die psychischen Ausweichungen die organische Function. Ein anderer Punct ist der: die Krankheitszustände, die wir bis jetzt verfolgt haben, sind solche, die den ganzen Lebenszustand alteriren, die aber doch immer noch gedacht werden müssen als solche, in welchen der Mensch, wie er durch seinen Willen dahin gekommen ist, auch durch seinen Willen darin verharrt. Andere Krankheiten heben in ihrem Verharren den Willen ganz auf. Wenn wir die Erfahrung fragen, so finden wir, daß diese Krankheiten in diesem Alter, wo wir stehen, am gewöhnlichsten sind. In der Kindheit kommen auch eigentliche Geisteszerrüttungen vor, aber diese sind immer rein physiologisch. Es kommen auch im kindlichen Alter nicht die verschiedenen Formen der Geistes|zerrüttungen vor, sondern es ist immer nur eine Art, die in der Gehirnzerrüttung liegt. In der Jugend sind eigentliche Geisteszerrüttungen auch selten, der Hauptpunct, wo sie auszubrechen pflegen, ist allemal das erste Stadium des männlichen Alters. Es ist eine schwierige Aufgabe, dies zu erklären, weil man in einem Dilemma steckt, wo man kaum heraus kann. Wenn die Erscheinung da ist als Wirkung, so muß sie doch eine Ursache haben. Wo sind denn die Ursachen? Entweder in der Seele oder außer der Seele. Suchen wir sie in der Seele, so ist nicht zu begreifen, wie in der Seele eine Thätigkeit sein könnte, womit sie ihr eigenes Dasein zerstört. Suchen wir sie außerhalb der Seele, so ist auch nicht zu begreifen, wie nicht eine Reaction der Seele sollte gegen diese Einwirkung da sein. Daher man auch in der Geisteszerrüttung immer etwas Geheimnißvolles gefunden hat. Geht man hievon aus, so kommt man niemals auf etwas Ordentliches, sondern man muß erst suchen etwas Erkennbares zu finden. | Solches giebt es zweierlei: 1) Die Bemerkung, daß die eigentlichen Geisteszerrüttungen alle in der ersten Hälfte des männlichen Alters vorkommen. Wir müssen die Puncte festhalten, durch die wir diesen Anfang bezeichnet haben. Der eine war, wo das Organische der Zeugungsfähigkeit sich so mit dem Psychischen vereinigt hat, daß eine Liebe daraus entstehen muß. Das Psychische war, daß das Bewußtsein fest geworden. Die Geisteszerrüttungen leitet man gewöhnlich ab von

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mislungener Liebe oder mislungenem Ehrgeiz. Daraus sieht man, daß diese Krankheiten nur die erste Hälfte des männlichen Alters vorzüglich treffen, sonst wäre man nicht auf diese Ursachen gekommen. 2) Der Zusammenhang der Geisteszerrüttungen mit dem Temperament. Wir können vier Arten davon annehmen: 1) Blödsinn, ein solcher Mangel an Interesse, daß die Kraft verloren geht, das Empirische des Lebens festzuhalten. Dies ist die negative Seite des phlegmatischen Temperamentes, wenn die positive herausgezogen | ist. 2) Der eigentliche Wahn, ein unaufhaltsamer, nicht zu übersehender Wechsel von Vorstellungen. Dies ist im Zusammenhang mit dem sanguinischen Temperament, das eine große Leichtigkeit hat, welche, wenn es sein Maaß verliert, zum Wahnsinn führen kann. 3) Die eigentliche Wuth, das reine Ausgehen aller Bewegungen auf das Zerstören. Hier ist der Zusammenhang mit dem colerischen Temperament nicht zu verkennen. Das letzte Natürliche noch vor der Wuth ist der Zorn, und die ersten Anfänge der Wuth gestalten sich in der Form des Zorns. Denken wir uns das Positive des Colerischen hinweg, und die bloße [ ] davon, so ist der Übergang in die Wuth unmerklich. 4) Der Tiefsinn. Dieser hängt offenbar mit dem Melancholischen zusammen, das alles in den einzelnen Eindruck hineinzuziehen sucht. Jemehr dies ausartet, entsteht, daß alle Eindrücke in Zusammenhang mit der fixen Idee gebracht werden. Alles andere geht entweder vorbei, oder wird etwas anders aufgenommen, so ist das die Remission, | die aber nicht lange anhält. Combiniren wir nun beide Puncte, daß die Geisteszerrüttungen vorherrschen im männlichen Alter, und daß sie genau zusammenhängen mit den Temperamenten, so müssen wir wol an der Grenze des Erkennbaren an das Geheimnißvolle kommen, das offenbar darin ist, denn sonst würde man diese Zustände auch besser zu heben wissen.

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Die offenbare Verwandschaft dieser Geisteszerrüttungen mit einzelnen vorübergehenden Zuständen im gesunden Leben, und von der andern Seite die totale Differenz, die Aufhebung des Zusammenhanges mit der ganzen übrigen Welt, diese beiden Puncte machen die Sache sehr schwierig. Wo noch nicht aller Zusammenhang mit der Welt aufgehoben ist, da ist auch natürlich noch Hoffnung zum Gesund werden. Wie ist es aber möglich, daß der Zusammenhang ganz aufgehoben werde? Wir müssen anfangen mit der Bezeichnung derjenigen Zu17 bloße] es folgt ein Spatium für ein Wort, am Rand markiert mit ?, zu ergänzen wohl Äußerung (vgl. Berliner Nachschrift, S. 441)

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stände, die im gesunden Leben Analogie mit dieser Geisteszerrüttung haben. | Der Blödsinn und die Wuth haben weit weniger einzelne Analogien mit dem gewöhnlichen Zustand, wogegen die sanguinische und melancholische Verrücktheit weit mehr haben. Vom Wahnsinn finden wir eine ganze Reihe von Analogien. Zuerst die Art von Combinationen, die als der chaotische Zustand der vorstellenden Kraft ausgezeichnet sind, hat schon Analogie mit dem Wahnsinn. Es entstehen Vorstellungen von denen man nicht weiß, wo sie hergekommen sind. Das ist schon ein Bewußtsein von der Abgebrochenheit dieses Prozesses, daß man sie mit dem Kern des Lebens nicht in Zusammenhang bringen kann. Wenn wir auf das früher Angedeutete zurückgehen, daß auf der einen Seite jede Verrücktheit angesehen werden kann und muß als Verlorensein des Willens, so müssen wir auch in jenem chaotischen Kreise der Vorstellungen nicht ein Verlorengegangensein des Willens, sondern einen Zustand des verminderten Willens sehen. Das Verlorengegangensein desselben ist die correspondirende Verrücktheit. | Wenn wir uns ferner im Übergang befinden vom Wachen zum Schlaf, so finden wir da auch das Analogon von diesem Zustande. Da entstehen Bilder die zuweilen ganz abnorm sind, schon ganz die Form der Träume haben, obgleich man aufwacht. Es ist schon eine völlige Losgerissenheit der Seelenthätigkeit im Wachen. Die ausströmende Thätigkeit ruht, und so ist der Wille verringert. Das Leben eines Wahnsinnigen, der in der Form der Ideenflucht verrückt ist, besteht aus lauter solchen Momenten. Die Aehnlichkeit ist aber nur, wenn wir auf das Innere sehen; wenn wir auf das Aeußere sehen verschwindet sie. Denn im gesunden Zustande sind die Vorstellungen stumm, wogegen der Wahnsinnige mit der größten Intension alles herausspricht. In diesem Sprechen ist auch eine Bewegung der Organe, welche von der Seele ausgeht, also nicht bloß Passivität; und hier kommen wir an das Geheimnißvolle denn wie die Thätigkeit der Seele zusammen sein kann mit dem gänzlichen Losgerissensein von der Welt ist unbegreiflich. Im Übergang | vom Wachen zum Schlaf ist auch der Zusammenhang mit der Welt negirt, aber auch keine Thätigkeit gesetzt, die den Leib als Theil der Welt ansieht. Dies geschieht im Wahnsinn, und doch ist kein Zusammenhang mit der Welt. Was den Tiefsinn betrifft, so kommt es wol jedem vor, daß er manchmal eine Idee nicht wieder loswerden kann. Wir haben es geleugnet, daß eine Reihe von Vorstellungen allein in der Seele sei, sondern mehr oder weniger gebe es immer begleitende Vorstellungen. Diese entständen eben daraus, daß eine einseitige Richtung niemals die ganze Seele einnehmen könne, und was übrig bleibt ist entweder äußern Eindrücken oder 25 auf] auf auf

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dem Spiel chaotischer Vorstellungen Preis gegeben. Dies ist in der That nothwendig für das Erhalten des Zusammenhanges des Lebens. Für den einzelnen Moment wollen wir diesen Zustand nicht, und wir drücken dies aus wenn wir sagen: wir abstrahiren. Wir können aber niemals vollständig abstrahiren. Könnten wir es, so hätten wir uns mit einem Theil der Welt | für einen Moment auf eine vollkommene Weise isolirt, und die Verbindung mit der ganzen Welt wäre aufgehoben. So wäre dann vollkommene Verrücktheit da. Im gesunden Zustande müssen also die begleitenden Vorstellungen, als nothwendige Elemente des Daseins sich finden. Aber so wie nun jenes, wenn wir jemals vollkommen abstrahiren könnten, und die Seele in einer einzelnen Vorstellung jemals vollkommen aufgehen könnte, Verrücktheit wäre, so ist auch das Aufkommen jener Vorstellungen wider unsern Willen auch Verrückung. Es kommen dann Vorstellungen, die wir nicht haben wollen, und das ist die Analogie zur fixen Idee. Es giebt sehr wenige Menschen, die nicht von dieser Seite, dem Lächerlichen eine Blöße geben, daß im freien chaotischen Zustande nicht einzelne Puncte permanent würden, und dadurch eine Art scheinbarer Realität bekommen, wodurch sie das Gemüth beschäftigen, und doch ist nichts dahinter. Wenn das einem Menschen begegnet von gehöriger Seelenkraft, so macht er sich nichts daraus, er scherzt | darüber mit andern und reitet sein Steckenpferd. In dem Maaße aber als der Gedanke immer wieder kommt, ist die Annäherung zu jener Verrücktheit der fixen Idee. Wenn diese wiederkehrenden Gedanken nun falsche irrige Gedanken seiner wirklichen Lebensverhältnisse sind, so ist das schon viel gefährlicher, und es wird je bedenklicher, jemehr es sich dem eigentlichen Kern des Lebens nähert. Je weniger Zusammenhang aber diese Vorstellungen mit dem Leben haben, desto lächerlicher sind sie. Die fixe Idee siegt aber nur durch Verringerung des Willens bis auf Null. Wie aber das Wahrnehmenwollen auch aufhören kann, was doch als Entschluß des Menschen nicht zu denken ist, das ist das Unbegreifliche. Es ist unbegreiflich, daß das Nullgewordensein des Willens zugleich als positiver Wille erscheint. Bei der andern Art der Geisteszerrüttungen, der Ideenflucht, kann man sich dasselbe denken. Jede Vorstellung will dauern. Also das Aufgehobensein der Fortdauer der Vorstellungen in dem beständigen Wechsel, wo gar | kein Zurückrufen der Vorstellungen erfolgt, erscheint wieder als positiver Wille, obgleich sonst vollkommene Passivität ist, und das ist das Unbegreifliche. – Bei den andern Formen fanden sich die Analogien schwerer. Die Analogie vom Blödsinn findet sich allerdings in einem Zustande von völliger Abspannung. Das ist nur ein momentaner Zustand, der freilich je länger er dauert desto gefährlicher ist, da er lebensgefährlich ist, aber es ist nicht leicht denkbar, daß dieser Mangel an Interesse

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sollte bleibend werden, denn die Abspannung nach einer ungeheuren Arbeit nimmt ab, die Einwirkung der Welt aber nimmt immer zu. Der Moment an und für sich ist ein Analogon vom Blödsinn. Was die Wuth betrifft, so ist da am wenigsten Analogie. Wir finden sie nur in den Zuständen der höchsten Leidenschaft. Die Begeisterung der Leidenschaft hat solchen zerstörenden Character, ein Aufheben des Zusammenhanges mit der Totalität der Welt, und das Zusammenraffen aller Kraft auf einen Punct. Das ist aber auch nur mo|mentan, und es ist nicht leicht zu besorgen, daß ein solcher Zustand von Leidenschaftlichkeit sollte permanent werden. Hier ist nun die Analogie weit geringer als dort. Hiemit hängt die Differenz zusammen, daß diese beiden Formen weit mehr mit körperlichen Zuständen zusammenhängen, als die andern beiden. Der Wahnsinn aus einer fixen Idee ist immer rein psychisch. Der Wahnsinn mit der Ideenflucht ist nicht so rein psychisch, denn das Phantasiren im Fieberparoxismus ist das Analogon davon. Man fürchtet aber von diesem Phantasiren nichts. Sobald aber eine Wuth in der Krankheit sich äußert, so fürchtet man weit mehr und gewöhnlich bleibt ein Delirium zurück. Der Blödsinn dagegen erscheint als ein angeborner, wenigstens ist er es im Maximum (der Cretenz und der [ ]), und so muß man dann die Schuld davon wenigstens eben so in der organischen Seite sehen als in der psychischen. Die organische Abnormität ist daher viel häufiger in diesen beiden, dem Blödsinn und der Wuth, als in den andern, daher haben die auch weniger Analogie im gesunden Leben sondern in der Krankheit. |

Siebzigste Vorlesung. (Der Zusammenhang mit körperlichen Zuständen ist hier überwiegend stark, jedoch ist auch ein Zusammenhang mit den psychischen Krankheiten, Blödsinn, Epilepsie und Mißbrauch des Geschlechtstriebes, welcher letztere eigenthümliche Krankheit der Jugend ist.) Das Characteristische in der Geisteszerrüttung ist nicht die Aehnlichkeit mit dem, was sich schon im gesunden Zustande findet, sondern dasjenige was solche Zustände permanent macht. Die Erscheinungen des Rausches haben bei den meisten Menschen die meiste 20 der] es folgt ein Spatium für ein Wort 10–13 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 446: „Daß hier die Analogie geringer ist hängt mit einer anderen Differenz zusammen[,] daß diese beiden Formen weit mehr mit körperlichen Zuständen als jene zusammenhängen, der Blödsinn ist oft selbst ein angeborner Zustand, und so muß man seinen Ursprung eben so sehr auf der organischen als auf der psychischen Seite suchen.“

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Aehnlichkeit mit dem Wahnsinn. Aber wenn wir auch in einem Menschen die Gewöhnung sich zu berauschen noch so stark setzen, so werden wir ihn doch nicht wahnsinnig nennen, weil eben seine Zustände nicht permanent sind, indem sie jedesmal einer besondern Veranlassung bedürfen. Man muß sich vor dem Mißverstand hüten, als sei die Geisteszerrüttung das Maximum eines Temperaments. Wenn wir das Extrem des phlegmatischen Temperamentes betrachten, so ist es in religieuser Hinsicht der vollkommene Indifferentismus, weil er im Allgemeinen | seine Ruhe gefunden hat, und nur im höchsten Nothfalle reagirt. Das ist freilich eine Abnormität, aber keine Geisteszerrüttung. Das Maximum des Melancholischen in dieser Hinsicht ist das immer Wiederkehren der Angst und peinlichen Buße, aber auch das ist keine Geisteszerrüttung. Wenn aber einmal das eigentreten ist, was die Geisteszerrüttung constituirt, dann nimmt diese Zerrüttung nothwendig und natürlich die Form des Temperaments an. Indem wir die Temperamente eingetheilt haben in die des Gefühls und der Thätigkeit, so haben wir gesehen, daß die beiden Temperamente derselben Classe sich nicht vertragen. Dasselbe ist auch in der Geisteszerrüttung. Blödsinn und Wuth sind so wenig beisammen, als phlegmatisches und colerisches Temperament richtig verstanden, und Wahnsinn und Tiefsinn so wenig wie sanguinisches und melancholisches Temperament. Wenn nun das Maximum des Temperaments schon als Geisteszerrüttung erscheint, so ist dies gewöhnlich nur vom entgegengesetzten Standpunct aus. Ein rechter Phlegmatiker sieht gewiß | einen Coleriker wie einen an Wuth Grenzenden an, und der rechte Coleriker denkt sich gewiß den Phlegmatiker als an der Grenze des Blödsinns, und so auch mit den andern Temperamenten. Das kommt daher, weil jeder in dem andern den Tact seines Lebens nicht merkt, und für einen fremden Tact keinen Sinn hat. Hieraus können wir nun sehen, worin das Positive des Wahnsinnes liegt, dasjenige, wodurch die regellosen Zustände, die im gesunden Leben auch einzeln vorkommen, permanent werden. Es ist offenbar dieses: wenn der Mensch das Maaß seines Lebens verloren hat. Wenn der Mensch Character hat so ist gar keine Noth, daß er ja sollte in Geisteszerrüttung gerathen, selbst in Krankheiten ist keine Noth, denn wenn die ja solche delirirende Zustände können, so wären sie doch nur psychisch, und hätten als solche die lucida intervalla, wovon der Mensch von Character immer anknüpfen könnte, und siegen würde die Kraft der psychischen Einheit. Es ist ein alter poetischer Ausspruch: „wer über manche Dinge seinen 28 seines] doppelt unterstrichen 39–1 In dem 1772 uraufgeführten Drama „Emilia Galotti“ ließ Lessing die Gräfin Orsina diesen Satz sagen, als sie im Gespräch mit Odoardo herausfindet, dass Marinelli diesem gesagt habe, sie sei verrückt. Vgl. Lessing: Emilia Galotti, Berlin 1814, S. 137; Werke in Einzelausgaben, ed. E. M. Bauer, Berlin/New York 2015, S. 62

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Verstand nicht verliert, | der hat keinen zu verlieren“, welcher als solcher allerdings seinen Werth hat. Hier können wir ihn aber nicht brauchen, denn wenn einer bloß den Verstand zu verlieren hätte so würde er ihn über solche Dinge verlieren, aber wer auch einen Willen hat, der wird durch dessen Kraft seinen Verstand behalten. – Eben so geheimnißvoll als die Geisteszerrüttung ist der Selbstmord; denn so wenig wir begreifen können, daß von der Seele selbst ausgehe eine Selbstzerrüttung, so wenig können wir begreifen, wie sie ihr eigenes Dasein ganz und gar zerstören kann. Man sagt daher auch: Selbstmord geschieht nur in der Geisteszerrüttung. Aber so ist es nicht, aber es giebt Zustände, wo der eine ganz gewiß sich selbst morden würde, ohne wahnsinnig zu werden, der andere gewiß wahnsinnig werden würde, ohne an den Selbstmord zu denken. Der eigentliche Selbstmord schließt den Wahnsinn ganz aus. Wie hängt wol der Gegensatz dieser Verhältnisse zusammen? Es ist offenbar, der Selbstmord ist eine eigentliche That, und es steckt also der Wille darin. | Die Geisteszerrüttung ist immer der Untergang des Willens; und darin liegt der Gegensatz. Es giebt also Verhältnisse unter denen Eins von beiden geschieht, entweder der Wille richtet sich gegen das Dasein und zerstört es, oder das Dasein gegen den Willen, und dieser geht unter. Der Selbstmord steht auch unter denselben Bedingungen als die Geisteszerrüttung. Es giebt einen höhern Zustand, der den Menschen eben so sehr gegen den Selbstmord sichert, als gegen die Geisteszerrüttung, denn das ist gewiß, daß man immer statt des Selbstmordes etwas Besseres hätte thun können, was man nur nicht thut, weil es das Schwerere ist. Das gilt auch vom heroischen Selbstmord, den wir so sehr bewundern. Denn hätte auch nicht Cato etwas Besseres thun können? Es wird doch gewiß eine Art gegeben haben, wie er hätte in irgend einem Kreise die vorige Art des Daseins fortsetzen können, und aus dem höchsten Gesichtspunct der Gemeinschaft angesehen, kann der Selbstmord nie gerechtfertigt werden. | Er kann von einer schönen Gesinnung ausgegangen sein, aber ein Mangel an Übersicht der Verhältnisse ist immer da gewesen. In vollkommen gesundem reifem Zustande des Daseins ist man also vor Selbstmord sicher. Abstrahiren wir aber von diesem, so ist die Analogie zwischen Selbstmord und Geisteszerrüttung darin, daß dieselben Gründe beide hervorbringen, jedoch aber sind in demjenigen, in welchem diese Gründe Geisteszerrüttung 31 Er] er 27–28 Der römische Senator und Feldherr Marcus Porcius Cato Uticensis (95 v. Chr. – 46 v. Chr.) war ein Gegner Gaius Iulius Caesars. Nach dem Sieg Caesars im Bürgerkrieg beging Cato Selbstmord.

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hervorbringen, ganz entgegengesetzte Verhältnisse als in demjenigen wo sie Selbstmord hervorbringen. Wenn etwas in das Leben des Menschen tritt, was den ganzen Zusammenhang desselben zerstört, darin wird seine Kraft auf die höchste Probe gestellt. Haben wir volles Vertrauen zu ihm, so werden wir sagen, daß er sich durch arbeiten wird, haben wir es nicht, so werden wir uns an sein voriges Leben halten. Finden wir darin die Extremität des Temperaments, oder regellose überspannte Zustände, dann würden wir bange sein daß die Geisteszerrüttung eintreten wird, worin die regellosen Zustände constant werden. | Wenn dergleichen in seinem Leben nicht wahrzunehmen ist, aber doch nicht Stärke genug sich durch zu arbeiten, dann werden wir besorgen, daß er sich selbst morde. Was ist denn nun unter diesen Umständen die Ursach des Wahnsinns? Sind es die schon vorhergegangenen Analogien? Nein, die bestimmen bloß die Form, welche die Verrücktheit nehmen wird. Der Grund liegt in dem das Leben zerstörenden Prinzip; worin aber das besteht, müssen wir finden aus der Zusammenfassung des Zustandes der Verrücktheit und der besonderen Erfahrung, daß sie am häufigsten in der ersten Hälfte des männlichen Alters entsteht. –

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Es ist in allen Menschen in verschiedenem Grade eine Richtung auf regellose Gemüthszustände. Jemehr Energie im Menschen ist, desto mehr treten diese Zustände zurück, können wenigstens mit Leichtigkeit überwunden werden. Je weniger diese Energie im Menschen ist, desto mehr kann ein Schwanken entstehen zwischen diesen regellosen Zuständen und der | Haltung des Daseins. Was ist diese Haltung des Daseins? Das bestimmte Verhältniß des Einzelnen zur Totalität, woraus dann auch eine bestimmte Richtung und ein bestimmtes Verhältniß der aufnehmenden und ausströmenden Thätigkeit entsteht. Die regellosen Zustände sind ein größeres Isolirtsein, womit aber ein größeres Hingeben an die unbestimmte Mannigfaltigkeit verbunden ist. Das Maximum dieses Isolirens ist der Wahnsinn, das vollkommene Heraussetzen des Einzelnen und der Totalität des Lebens. Es nimmt die Form des einzelnen Lebens an, und dieses ist das Temperament. Der Mensch lebt in solchen Zuständen bloß in der Vergangenheit, aber ganz den unbestimmten Vorstellungen hingegeben, von aller regelmäßigen Einwirkung von außen, und von allem regelmäßigen Einfluß der Welt Einbilden ausgeschlossen. Woraus entsteht nun dieser Zustand? Die eigentliche Geisteszerrüttung in allen verschiedenen Formen, in wiefern sie von Grund aus psychisch ist, pflegt nicht | eher einzutreten, als mit dem reifen Alter, wo der Mensch eine feste

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Haltung in der Welt einnimmt in Beziehung auf den Gesammtumfang seiner Thätigkeit. Wenn nun irgendwie der Mensch gehindert wird diese Stellung einzunehmen, oder diese auf gewaltsame Weise zerstört wird, so ist die Möglichkeit solcher Geisteszerrüttung da, und es erscheint uns von diesem Punct aus als gleichgültig, ob der Wille sich gegen das Dasein richtet, oder ob der Wille gleichsam zerfließt, nachdem ihm die Richtung abgeschnitten ist die er sich gesetzt hatte. Jemehr der Mensch dies Gefühl von der Allgemeinheit seiner geistigen Natur hat, desto weniger kann er das Gleichgewicht verlieren. Er wird immer noch ein anderes Verhältniß für sich passend finden. Der Wahnsinn ist mehr entweder eine Zerstörung des Gefühls, wenn die Richtung des Wohlwollens vernichtet wird (Treulosigkeit einer Geliebten oder eines Freundes), oder eine gewaltsame Zerschneidung der Sphäre, die sich der Mensch für seine ausströmende Thätigkeit gemacht hat. Allerdings geschieht die Zerstörung | um so leichter, je höhere Vorstellungen sich der Mensch von der Freundschaft, von der Liebe und von der menschlichen Gesellschaft gemacht hat. Wenn Bonaparte z. B. nicht ein so energischer Mensch gewesen wäre, so würde es kein Wunder gewesen sein, wenn er in Fonteinebleau verrückt geworden wäre. – Wie können wir es uns aber als Thätigkeit der Seele denken, wenn der Wille zerfließt? Dies ist das Räthsel des Wahnsinns. Wir können uns weit eher denken, wie sich die Thätigkeit des Menschen gegen sein Dasein selbst richtet, denn so wie er seine Kraft gegen irgend einen andern Theil der Welt richten kann, so auch gegen den Leib, da doch der relative Gegensatz zwischen Seele und Leib im Bewußtsein zu tief liegt. Aber die Richtung der Seele gegen sich selbst, so daß der Wille zerfließt ist ein Räthsel das noch nicht gelöst ist. Schleiermacher weiß es auch nicht zu lösen, als indem er es auf einen Punct hinführt, wohin er schon öfter gekommen: nämlich daß der Einzelne gar nicht völlig allein für sich zu verstehen ist, daß die Persönlichkeit etwas völlig Bedingtes [ist], und daß | sein Leben nicht aus dem Einzelnen allein verstanden werden kann. Wir müssen zwar von der einen Seite die einzelne Seele als für sich gesetzt ansehen, aber von der andern Seite müssen wir sagen, daß dies nur ein relatives ist, daß sie unmittelbar im Zusammensein mit andern gesetzt ist, und daß sie eben so gut ein Produkt der Gattung ist, als sie für sich gesetzt ist. Es ist gar nicht zu begreifen, wie ein einzelnes Dasein fortdauern und doch sich selbst zerrütten kann. Die organischen Krankheiten erfordern auch, daß wir das einzelne Dasein begreifen im Streit gegen das allgemeine. Die Gesundheit ist die Erhaltung des einzelnen Daseins im Streit gegen die 17–19 Anspielung auf den Vertrag von Fontainebleau, der am 11. April 1814 die Abdankung Napoleons regelte.

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allgemeinen Naturpotenzen. Wenn diese sich aber so in dem Menschen einquartiren, daß er sie nicht auf seine eigenthümliche Weise verarbeiten kann, so ist Krankheit da. – Man muß also auch den Leib in einen größern Zusammenhang aufnehmen. Andere Seelenkrankheiten bezeichneten nur die Grenze der Relationen, die in der | Function der Seele selbst möglich waren. Das waren noch nicht Krankheiten, sondern nur Grenzpuncte der Gesundheit. Die eigentliche wahre Krankheit ist der Wahnsinn. Wenn nun die einzelne Seele auch nur relative Selbstständigkeit hat, und ihr Dasein darin besteht, daß sie zugleich im Gesammtleben aufgenommen ist, so entsteht der Wahnsinn, wenn sie diese Haltung im Gesammtleben verliert. Denn wenn man diese hinwegdenkt, so muß die krankhafte Entgegensetzung geschehen, die Formel des Wahnsinns, auf der einen Seite das völlige Isoliren, auf der andern Seite das völlige Zerfließen. In allen Formen des Wahnsinns wird man niemals finden, daß die Phantasie in dem was sie producirt die Richtung auf ein Gesammtleben hätte, man wird niemals finden, daß ein Wahnsinniger auf ethische Weise phantasirt, sondern es ist immer ein Beziehen von allem auf die Persönlichkeit, die auf bestimmte Weise gesetzt ist; und das Abschließen vor den Einwirkungen der Außenwelt hat seinen Grund darin, daß der Mensch nicht aufnehmen will was vom Menschen kommt, | und diesen feindseligen Character gegen die Außenwelt hat jede Art des Wahnsinns. Ausnahmen giebt es beim Wahnsinn aus unterdrückter Geschlechtsliebe; dies ist aber nur die persönliche Seite, und niemals wird z. B. hiebei die Vorstellung von einem verlorenen Familienglied sein. Dies ist wol ein deutlicher Beweis, daß es so und nicht anders bei Entstehung des Wahnsinns zugeht. Eben so ist höchst wahrscheinlich, daß im classischen Alterhtum der Wahnsinn bei weitem keine so große Rolle gespielt hat als bei uns und im Orient. Woher das? Schleiermacher meint, der Aufschluß dazu liegt in dem größern Antheil am öffentlichen Leben. Darin lag schon von Anfang an die Unmöglichkeit, daß das persönliche Dasein sich so fixiren konnte, daß der lebendige Zusammenhang mit der Gemeinschaft konnte aufgehoben werden. Wenn man dagegen sagt: in England sind aber doch die meisten wahnsinnigen, so ist das wahr. Aber dort hat er doch die Form, in welcher er organischen Zerrüttungen zuzuschreiben ist. Was bei den Engländern | der Art psychisch entsteht, geht in den Selbstmord über, der immer zu Gunsten des Gesammtlebens gegen das einzelne Leben entscheidet. 34–35 Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 331: „So finden sich in England die meisten Wahnsinnigen, und vorzüglich in religiöser Hinsicht, veranlaßt und genährt durch methodische Schwärmerei.“

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Dies führt auf die letzte Frage in dieser Hinsicht. Worin liegt denn nun die eigentliche Schuld des Wahnsinns? Ist er zu heilen und wie? Die Schuld liegt offenbar im Gesammtleben, und man kann nicht anders sagen, als daß es eine gemeinsame Schuld der Menschen ist, daß der Wahnsinn unter ihnen vorkommt, und jedem rein psychischen Wahnsinn hätte das allgemeine Dasein ganz gewiß vorbeugen können. Man kann von jedem ahnen, ob er wahnsinnig werde, aber man wendet die gemeinsame Kraft nicht dagegen, welches, wenn man es thäte, jeden Wahnsinn verhindern würde, der sonst rein psychisch entstanden wäre; denn wenn eine Seele sich vom Ganzen losreißt, so muß offenbar der Einfluß des Ganzen auf sie zu gering gewesen sein. Die Schwäche des Willens, der Mangel an Character, das Nichtgebildetsein eines festen Zusammenhanges zwischen dem höhern und einzelnen Bewußtsein | ist der Grund des Wahnsinns. In einem lebendigen Einbilden des Ganzen in das einzelne Dasein liegt aber, daß der Character jedesmal so stark sein muß, um den Wahnsinn zu verhindern. Dem Wahnsinn geht allemal ein Verschließen gegen die geistige Mittheilung voran. In einem wahren Zusammenleben kann aber solche Abneigung gegen die Mittheilung gar nicht entstehen, und auch kein Wahnsinn. Es ist bekannt, daß sehr oft die Phantasie im Wahnsinn eine ausschließend religiöse Richtung nimmt, welches die verkehrte Ansicht hervorgebracht hat, als ob das religieuse Prinzip jemals die Ursache davon abgeben könnte; denn man reitet auf einem ganz falschen Pferde, wenn man meint aus dem Character des Wahnsinns sein Entstehen zu erklären. Weil der Mensch durchaus abhängig ist von dem menschlichen Dasein überhaupt, und sich von der ganzen Natur eher losreißen kann als von diesem, so flüchtet der Mensch auf eine wahnsinnige Weise in ein Gebiet hinein, und so ist jeder Wahnsinn entweder kindisch, oder religieus oder speculativ. | Kann nun der Wahnsinn geheilt werden? O ja. Wie? Auf dieselbe Weise, als ihm hätte vorgebeugt werden können. Dies kann nun aber nur geschehen in der lucida intervalla. Absolut kann aber der Wahnsinn niemals sein. Sobald er lange anhält führt er oft auch eine organische Zerrüttung herbei, und so geht er entweder in den Tod aus, oder er wird geheilt. Daß die Möglichkeit der Heilung immer noch da ist, wird schon daraus klar, daß viele Wahnsinnige kurz vor dem Tode sich ganz vollkommen selbst wiederfinden. Die Heilung des Wahnsinns muß sich an die ausströmende Thätigkeit wenden, denn das der Mensch nicht wahrnimmt liegt bloß darin, daß ihm das Wahrnehmenwollen fehlt. – 18 wahren] über großen

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Das hohe Alter. Es beginnt mit dem Aufhören der eigenthümlichen Lebensthätigkeit des Geschlechtstriebes. Das Ende desselben ist der natürliche Tod. Das organische System verhärtet und verknöchert, und stockt zuletzt ganz. Was ist hiemit auf der psychischen Seite verbunden? Hierüber finden die verschiedensten Ansichten statt. Einige sehen | das hohe Alter von der psychischen und organischen Seite nur an als Abnehmen der Kräfte, andere wollen auf der psychischen Seite keinen Rückgang zugestehen. Der innere Grund dieser Verschiedenheit liegt in der verschiedenen Ansicht vom Tode, denn die ersten sehen den Tod an als Zerstörung der psychischen und organischen Kräfte des Menschen, die andern wollen eine Fortdauer des Psychischen schon dadurch begründen, daß sie einen Gegensatz des Psychischen und Organischen schon im hohen Alter begründen. Wir haben aber gesehen; daß bisher immer das Psychische und Organische beieinander waren. Nimmt man an, daß beides abnimmt vom Ende des männlichen Alters an, so hat man keinen Grund das Fortbestehen der psychischen Seite anzunehmen; wächst aber von dieser Zeit das Psychische je mehr das Organische abnimmt, so kann man nicht bergreifen wie denn die Seele auf einmal aufhören sollte. Wie stehen wir zu beiden Ansichten? Wir setzen weder das eine noch das andere voraus, weil dies uns in der Betrachtung stören würde. Jede Ansicht hat in der | Erfahrung ihren Grund, und wir müssen nun sehen wie wir den Grund beider erforschen; nehmen wir uns aber dabei schon ein bestimmtes Ziel vor, so kann eine empirische Untersuchung nicht richtig werden, weil man sich nach dem vorgesteckten Ziele die Dinge modelt. Wir können überhaupt nie eine bestimmte Erkenntniß bekommen von der Seele im Tode, denn alle Wahrnehmung und alle Analogie bricht plötzlich ab; und wenn wir sagen: das Psychische und Organische ist nicht mehr beisammen, so ist schon alle Analogie im Tode aufgehoben. Die eine Ansicht sagt also: das Alter ist die Zeit des Abnehmens der Seelenthätigkeit, so wie allmählig das Organische abnimmt; die andere Ansicht: im hohen Alter steigt die Seelenthätigkeit noch zu höherer Vollendung als im männlichen Alter. Wir werden beides nicht leugnen können. Daß psychische Thätigkeiten im Alter abnehmen ist klar, und bedarf es dazu nur einer oberflächlichen Betrachtung. Im männlichen Alter waren die organischen Kräfte am größten, und alle mußten unter dem Willen stehen. Im höhern Alter 8–9 Für Carus beispielsweise ist das hohe Alter nicht durch einen Rückgang, sondern durch eine Intensivierung und Vollendung des geistigen Lebens gekennzeichnet. Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 79–80

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nimmt | beides ab, der Mensch will sich die Idee der Welt construiren durch Hineinbilden derselben in sich und Ausströmen der Idee in seinen Handlungen. Dazu braucht der Mensch den Leib als Organ. Die organischen Kräfte schwinden im Alter, folglich ist der Exponent der Fortschreitung der Erkenntniß im Alter schwächer. Der Greis kann seine Sinne nicht mehr so gebrauchen als der Mann, nicht alles so leicht übersehen. Der Greis kann deshalb nicht mehr soviel thun als der Mann. Zwischen dem Erkennen und dem Handeln liegt nun noch in der Mitte das Gefühl, welches den Übergang von einem zum andern macht. Auch das Gefühl verliert an Intensität im Alter. Je stärkerer Eindrücke freilich der Mensch früher fähig gewesen ist, desto stärker bleiben sie allerdings im Alter, aber im Vergleich mit jener früheren Zeit sind sie doch um vieles schwächer. In wiefern dies mit der organischen Thätigkeit zusammenhängt ist schon mehr ein kritischer Punct, und liegt nicht so unmittelbar da; denn es ist nicht zu leugnen, daß im Alter Schmerz und Freude weniger tief eindringen, und das ist offenbar ein Abnehmen | der psychischen Kraft. Dies hängt aber zusammen mit dem Abnehmen der organischen Kraft. Die Thätigkeit ist im Alter nicht mehr in demselben Grade gesetzt, folglich kann auch eine Störung und eine Erhöhung des Lebens nicht mehr so tief einwirken, weil sie die Thätigkeit selbst nicht so sehr mittrifft. Aber ist es im Alter so, daß das Gefühl nicht nur für die einzelnen Ereignisse, sondern auch für dasjenige schwächer wird, was ihnen zum Grunde liegt? Nimmt auch das Gefühl ab für den Gegensatz des Guten und Bösen? Das ist der Grenzpunct zwischen beiden Ansichten, und das ist die critische Stelle an die man von beiden Puncten aus kommt. Schleiermacher weiß nicht anders zu sagen, als daß ihm die Frage noch nicht einfach genug ist, weil noch ein Doppeltes darin liegt. Denn im Gefühl dieses Gegensatzes giebt es noch etwas mehr Persönliches und dann etwas mehr Allgemeines. Das Persönliche ist das, was auch in dieser 3 den Leib] des Leibes 19–22 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 459: „Wir können im Alter nicht läugnen eine Gleichgültigkeit auch in sittlicher Hinsicht? Wollen wir um dieß von der organischen Thätigkeit abhängig machen zu wollen uns ein System von Organen empfinden womit dieß aufgenommen werde? Es wird mit keinen anderen Organen als alle anderen Eindrücke aufgehen, und es ist nur das höchste Bewußtsein das hinzukommt, und diese höhere psychische Thätigkeit ists also die abnimmt selber. Aber es läßt sich auch dieß erklären aus dem Zusammenhang der psychischen Thätigkeit mit dem Organismus überhaupt: ich muß das stärker empfinden was mich in meiner Thätigkeit stört, dieß findet aber jetzt nicht mehr statt, und so liegt also allerdings der Grund des Abnehmens in der organischen Thätigkeit es hat seinen Grund in dem Abnehmen des Zusammenhangs der organischen Thätigkeit mit dem psychischen Impuls.“

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Function das Temperament ist. Das Allgemeine ist dasjenige, was im ursprünglichen Wesen des Geistes vor seinem Eintauchen in ein besonderes Dasein seinen Grund hat. | Wir haben gesagt, daß jede einzelne Seele ihr eigenes Temperament hat; dies fanden wir in dem Maaß von Einheit und Vielheit in sich selbst. Jedes Temperament hat aber eine physiologische Seite. Die Identität der psychologischen und der physiologischen Seite des Temperaments konnte aber doch nur eine relative sein; denn sie beruht auf dem relativen Gegensatz von Seele und Leib selbst. Im Temperament selbst kann die Seele das Bewußtsein des Gegensatzes nicht haben, sondern wenn sie dies Bewußtsein haben will, ist sie die Seele, die sich aus ihrem Temperament zurück zieht, oder die sich erst wieder in ihr Temperament hineinsteigern will. Die Identität von Seele und Leib ist nur in dieser Oscillation aufzufassen. Das sittliche, das dialectische und das religieuse Gefühl sind analoge Gegensätze, und haben an dieser Oscillation Theil. Betrachte ich dies nun von der physiologischen Seite, so muß auch hier ein Abnehmen sein, betrachte ich es von der psychischen Seite, so ist kein Grund dazu da. Jedes Gefühl hat seine natürliche Aeußerung. Die Seite des | Gefühls, wo es seiner Aeußerung zugewendet ist, ist am meisten in der physiologischen Bestimmtheit des Lebens verflochten. Die bestimmte Aeußerung des Gefühls von dieser Seite über das Religieuse und das Göttliche, das Vernünftige und Unvernünftige muß also nothwendig abnehmen, und es ist dies nicht bloß eine geringere Aeußerung im Wort und in der That, sondern der Impuls zur Aeußerung ist nicht mehr so stark. Wenn wir die andere Seite betrachten und fragen: ist das hohe Alter gegen das Rechte und Unrechte in sofern gleichgültig, daß es leichter könnte in das Böse willigen als vorher, so müssen wir Nein sagen; denn wenn wir dieses finden, so schreiben wir es nicht dem hohen Alter, sondern der Characterschwäche zu, die aber vorher auch schon gewesen ist. Wir sind also davon ausgegangen, wo das hohe Alter das Abnehmen der psychischen Thätigkeiten war, kamen dann auf einen Punct, wo es nicht so klar war, und stehen jetzt auf dem Nullpunct der Abnahme. |

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Die entgegengesetzte Ansicht ist, daß das Alter erst die Vollendung der Seele wäre. Natürlich müssen wir hier vom Entgegengesetzten anfangen, denn wollten wir hier von da ausgehen, wo die Seele am meisten mit dem organischen verbunden ist, so würden [wir] nicht durchkommen. Was ist denn nun in der Seele am meisten unabhängig vom Organischen? Das, was sie aus sich selbst entwickelt, die der Seele

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eingeborne Idee der Welt und die der Seele eingeborne Idee von sich selbst, was ihr nie von außen kömmt, und diese beiden Puncte hängen am wenigsten vom Organischen ab. Die eingeborne Idee der Welt kann zwar zu einem höhern Bewußtsein immer nur kommen durch die organische Thätigkeit, aber sie hat doch nicht aus der organischen Thätigkeit ihren Ursprung. Nun verliert sich zwar im Alter die organische Thätigkeit, aber die Idee der Welt bleibt im Alter, sie ist das Residuum aller Vorstellungen, und von der organischen Thätigkeit am wenigsten abhängig. Fragen wir: erweitert sich im hohen Alter die Idee noch? so müssen wir sagen: Nein. Geschähe es aber, so | hätte das männliche Alter seine Schuldigkeit nicht gethan. Die richtige Beziehung jeder einzelnen Vorstellung auf das ursprüngliche Wesen der Intelligenz ist die Wahrheit, die unrichtige Beziehung oder das Unterlassen ist der Schein und der Irrthum. In dem Kinde entwickelt sich immer erst allmählig vorzüglich aus dem Schein die Wahrheit, denn die ersten Vorstellungen sind nur so schwache Bilder, daß sie nicht im Stande sind die Idee der Welt hervorzurufen. Die Jugend ist characterisirt durch das umschweifende Versuchen, in Beziehung auf den Complex der Talente und der Neigungen. Es ist nicht zu leugnen, daß auch hier der Schein noch sehr herrscht. Die Wahrheit tritt erst recht ein im männlichen Alter, denn auf der Gestaltung des Besonderen zum Allgemeinen beruht erst die richtige Beziehung der Vorstellungen, und so herrscht die Gewalt der Wahrheit nur im männlichen Alter. Die Jugend wird sehr leicht zu weit gehen und einseitig werden. Dies nimmt erst allmählich ab, und so wird auch der Mann noch dem Irrthum unterworfen sein. Im hohen Alter nimmt | die Production des Einzelnen ab, wie seine organischen Kräfte, und was gegen die Gewalt der Wahrheit streitet, nimmt im hohen Alter ab; so wohl was da streitet gegen die objective Wahrheit, wie sie beruht auf der angebornen Idee der Welt, als gegen die subjective Wahrheit, wie sie beruht auf der angebornen Idee von sich selbst. Betrachten wir nun im Einzelnen die Selbsterkenntniß, so werden wir sagen: so fern doch dazu gehört, daß man die vollständige Geschichte seiner selbst in sich trage, wie wol es keine Periode giebt, wo der ganze geschichtliche Lauf des Bewußtseins für den Menschen ein Continuum wäre, so nimmt das gerade im hohen Alter ab, weil die Erinnerung sich mehr verliert, und die leeren Zwischenräume im Bewußtsein nehmen zu mit dem Abnehmen der Organe. Aber betrachten wir die Selbsterkenntniß mehr von der Seite der allgemeinen Formel, abgesehen davon, daß sie ein Aggregat von lauter Einzelnem ist, so ist im hohen Alter die Selbsterkenntniß am besten möglich. In der Jugend 21 denn] denn erst

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ist sie unvollkommen, weil da immer erst ein Versuchen ist, | und der Mann in dem Wechsel des Lebens kann sich weit mehr irren als der Greis. Hier ist also das hohe Alter die Zeit der Vollendung. Ein anderes Beispiel: nicht alle Menschen gelangen zu einem gleichen Bewußtsein der Idee der Welt, sondern es ist in einer erstaunlichen Gradation abwärts. Wir haben früher gesehen, wie der Prozeß der Begriffsbildung zwar immer seinen letzten Grund hat in diesem ursprünglichen geistigen Impuls, in der Art, wie ursprünglich in der Seele alles ideal gesetzt ist, was in der Welt real ist, aber doch immer unvollkommen bleibt und wandelbar. Selbst im männlichen Alter kann man immer noch ein ganz neues System von Begriffsbildung aufstellen, und dies ist grade die Zeit, wo der Mensch eben wie in der Jugend durch einen starken Anstoß sein Begriffssystem kann umstoßen müssen. Diese Zeit, wo man ein System bildet und ändert, ist vorzüglich die erste Hälfte des männlichen Alters. Im hohen Alter findet das nicht mehr statt. Wollte man sagen: das rührt bloß daher, weil das Alter nicht mehr lebendig ergriffen wird, und es ist das Beharren bloß Macht der Gewohnheit, so ist das eine falsche Ansicht, | die das Alter aus dem Standpunct der Jugend ansieht. Wenn man einen Greis annimmt, der von jeher nicht viel mit Geist ist beschäftigt gewesen, so kann der wol der Kraft der Gewohnheit nach leben, aber wer aus sich selbst etwas Bestimmtes hervorgebracht hat, der ist nicht der Macht der Gewohnheit unterworfen, denn er hat gerade die ihm angeborne Idee der Welt und sein Selbstbewußtsein hervorgebracht, und das Beharren darauf ist nicht Gewohnheit, sondern es ist das Aufhören des Schwankens, das in der Jugend gewöhnlich ist, und in dem männlichen Alter einen Differenzpunct bekommt; und sehen wir das hohe Alter von dieser Seite an, so sehen wir von dieser Seite das Selbstständiggewordensein der Seele. Die Festsetzung des Verhältnisses des persönlichen zum erhöhten Bewußtsein in der gehörigen Unterordnung ist Character. In der Kindheit ist das Verhältniß noch nicht da; in der Jugend ist die Zeit des lebhaftesten Schwankens zwischen dem einen und dem andern; das Fixiren ist der Anfang des männlichen Alters, | weil es eben auch dieses ist, daß das Leben, die Kraft der Gattung sich dem Einzelnen einbildet, und dies soll sich in der ganzen Thätigkeit des männlichen Alters offenbaren, in allen Handlungen soll der Character sich aussprechen. Nimmt nun im hohen Alter der Character auch ab? Nein, vielmehr ist der Character einmal fixirt, so bleibt er. Jedoch ist das richtig, daß wenn der Mensch vorher keinen Character hat, im hohen Alter findet er ihn nicht mehr. Ist ein Zunehmen des Characters? Allerdings, sofern das, was im männlichen Alter den Character verdunkelt, aufhört, und das sind die leidenschaftlichen Zustände. Diese

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drücken zwar auch den Character des Menschen aus, aber in ihnen ist doch der Mensch am meisten in Gefahr, aus dem Character herauszufallen. Im hohen Alter nehmen die Leidenschaften ab, folglich muß auch der Character sich weit beständiger darstellen, und eben weil der Character die Verklärung der sinnlichen Natur ist, ist von dieser Seite das hohe Alter die Zeit der Verklärung des Menschen, er säubert sich immer mehr | von den Schlacken der Seele, und wird immer mehr rein und gediegen. Wenn wir an das Verhältniß des Einzelnen zu denjenigen Menschen, mit denen er in unmittelbarem Zusammenhange steht denken, so fängt dies in der Jugend erst an sich zu entwikkeln. Im männlichen Alter wird die ganze Welt der Liebe erst fest, oder umgekehrt, wo diese Festigkeit sich offenbart hat, ist der Anfang des männlichen Alters. Ist hier auch ein Abnehmen im höhern Alter? Wir haben dies früher zugegeben, indem wir den Einzelnen gegen den Einzelnen betrachteten; aber wir haben es nur auf bedingte Weise zugegeben. Wir haben gesagt: der Schmerz werde leichter ertragen, und die Freude mache nicht so tiefen Eindruck. Aber wir müssen doch hinzunehmen, daß der Mensch auch gleichgültiger wird gegen sich selbst, und so also dasselbe Verhältniß bleibt. Die Liebe zu den Einzelnen nimmt also im hohen Alter nicht ab, sie nimmt nur eine andere Gestalt an. Aber wenn sie von der intellectuellen | Seite angesehen sich nun festgesetzt hat, und unverändert ist, so ist auch dies die Verklärung des hohen Alters. Eben so bei der Vaterlandsliebe. Dem Greis liegt das Einzelne nicht mehr so auf, als dem Mann, der noch in der Thätigkeit lebt mit dem Einzelnen. Aber die Theilnahme daran verschwindet nicht, die Vaterlandsliebe nimmt keineswegs ab, sondern gestaltet sich erst recht fest und rein, und ist auch von dieser Seite die Verklärung des Menschen. Gehen wir nun auf das Religieuse, so hat das eine Zeit, wo es zuerst als ein Besonderes heraustritt, und nachher hat es eine Zeit, wo es sich mehr verbirgt und zurückzieht. Wenn man auf die religieusen Affectionen sieht, so sind sie in der Jugend stärker als im männlichen Alter, aber die Gewalt des religieusen Princips nimmt deßhalb im männlichen Altern nicht ab, sondern von jenem Gefühl aus giebt es nur einen doppelten Weg, der eine nach der Aeußerung der andere nach der That. Wo das religieuse Element dem Menschen neu ist, da ist die Richtung auf die Aeußerung | desselben vorherrschend. Wenn aber in der Seele alles schon fixirt ist, wenn alles zu gleicher Zeit auf das Unendliche bezogen wird, so wird die Richtung nach der Aeußerung nicht mehr so stark sein. Der Mensch hat alles in sich, und darum äußert sich im Mann das Religieuse mehr durch die That, als durch ein auseinandergehendes System von Aeußerungen. Wie steht es damit im hohen Alter? Im Abnehmen kann das Religieuse da nicht

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sein in seiner Gewalt über die Seele, sondern es bleibt und steht fest, und ist mehr vom Schein und Irrthum erlöst. Aber indem die Productivität im Einzelnen sich zurückzieht, wird das Religieuse mehr auf die Betrachtung gehen, und im Alter ist das Religieuse in der Identität der Aeußerung und Handlung, und von dieser Seite ist auch hier die größte Vollkommenheit, denn in der Jugend herrscht die Aeußerung des Religieusen vor, im männlichen Alter die Richtung auf das Handeln, und im hohen Alter steht beides im Gleichgewicht. – |

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Einige schreiben jedem Alter ein besonderes Temperament zu, dem hohen Alter das Phlegmatische. Dies ist nur ein Schein, weil auch im Alter die Bewegung des Temperaments von seinem äußersten Ende in die schöne Mitte desselben vor sich geht. So erscheint aber die Mitte eines jeden Temperaments mit seinem Extrem verglichen als ein phlegmatisches, und das hat den Schein begünstigt. Dies gehört auch mit zu dem um dessentwillen man sagen kann, das hohe Alter sei die Vollendung der Seele, denn sie giebt dem Princip der Zerrüttung weniger Blößen und leistet größern Widerstand. Im hohen Alter hört sogar oft der Wahnsinn auf, weil der Mensch nicht mehr mit einem bestimmten productiven Punct Eins ist. Nehmen wir nun dies alles zusammen, so ist das Resultat: als wir von der einen Seite angefangen haben die Sache zu betrachten, so sahen wir es giebt ein Abnehmen der Existenz im hohen Alter, aber das liegt immer im Zusammensein des Psychischen mit dem Organischen, aber wir fanden auch etwas, was im hohen Alter nicht abnahm. | Nun abstrahiren wir von dem Organischen, und sehen was die Seele von Anfang an geworden ist, so können wir nicht anders sagen, als daß die Seele im hohen Alter ihre Vollendung findet, aber vergleichen wir sie mit ihrer frühern Thätigkeit so ist diese in geringerem Maaße da. Beide Ansichten haben also ihren Platz, und beide zusammen geben die kleinste Anschauung vom Zustande im hohen Alter. Wir haben überall Abnormitäten bei den übrigen Altern gefunden: Welche sind die des hohen Alters? Man führt den Geiz auf und den Aberglauben. Das kommt ganz unserer Ansicht entgegen. Jene ängstliche Sorge trat uns schon beim männlichen Alter entgegen. Nimmt das Gefühl zu im hohen Alter, so muß ja der Mensch nothwendig eine Menge von äußern Hülfsmitteln aufsuchen, und seine ganze ängstliche Sorge darauf richten. Den Aberglauben haben wir schon betrachtet, aber nicht als eine Krankheit; in seinen gewöhnlichen Aeußerungen aber ist er doch ein solcher. Er verbreitet sich dann

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in dem Gebiet einer schon ausgemachten | Erfahrung. Worauf kann dieses beruhen? Der Mensch zieht sich dabei aus einem Gebiet zurück, welches mit menschlicher Arbeit bestritten werden kann, und daß er die Mittel etwas auszurichten und zu erforschen in einem Gebiet sucht, welches er sich freilich zugänglich zu machen sucht, welches aber keineswegs ein Erkanntes und Meßbares ist; denn der Umweg den man macht, wenn die Seele sich auf die Dinge richten will, und erst bei höhern Intelligenzen anspricht und dann erst auf die Dinge kommt. Dieser Umweg ist unmeßbar. Woher dies im Alter? Es tritt im Alter ein Auseinandergehen des Persönlichen und Allgemeinen ein. Das erste hält der Mensch fest, das andere schwindet ihm immer mehr, und das innere Bildungsvermögen wird verkleinert. Wenn nun der Mensch zu dem Gefühl kommt, daß er nicht mehr so wirken kann, so entsteht die Neigung auf anderem Wege Wirkungen hervorzubringen, die unmittelbar nicht hervorzubringen sind. Daher Erfindungen dieser Art | immer dem hohen Alter zugeschrieben werden. Es entsteht auch daraus die Neigung, die Abhängigkeit der Dinge von ihren anerkannten Gesetzen zurückzusetzen, die Abhängigkeit von höhern Kräften aber hervorzuheben, weil eben die Alten bei der ersten Ansicht nicht mehr viel thun können. – Wenn wir nun den Nebenzweck vollziehen wollten, was die Ansicht vom hohen Alter für einen Einfluß hat auf die Ansicht vom Tode, so sehen wir, daß wir den Einfluß als Null setzen müssen, oder vielmehr, daß wir auch entgegengesetzte Ansichten aufstellen müssen nach der Stufe auf der wir stehen, aber wir haben keinen Grund für die eine Ansicht mehr zu sagen als für die andere. Wenn einer eine vorgefaßte Meinung hat davon, daß die Seele bloß vorübergehende Erscheinung ist, so hält er sich an die erste Ansicht. Er sagt: das Princip der Seele ist Thätigkeit. Diese nimmt im Alter wirklich ab, und das ist nur zu erklären, wenn die Seele nur eine Kraft der allgemeinen Intelligenz, die vom Kleinsten anfangend auch nachher wieder verschwindet. Wer von der andern | Seite die vorgefaßte Meinung hat, nach dem Tode werde die Seele des Menschen als Einzelne erhalten, so wird er sich an die zweite Ansicht halten. Betrachten wir aber den Tod selbst, so giebt uns dies Factum durchaus keinen Grund zu einem bestimmten Resultat zu kommen.

Nähere Betrachtung des Todes. Das hohe Alter ist die letzte Periode des Lebens, deren Grenze der Tod ist. Können wir nun aus dem Tode den Character einer künftigen

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Periode des Daseins auf irgend eine Weise construiren, wie aus dem Endpunct der früheren Periode den Character der folgenden? Was ist denn eigentlich der Tod? Diese Frage kann man nur im Gegensatz behandeln, denn der Tod ist das Ende des Lebens, dem der Anfang gegenübersteht. So wenig wir aber eine Erkenntniß vom Anfange aufbringen können, eben so wenig vom Ende. Es scheint, als hätten wir beim Ende etwas voraus, weil der Anfang keines Lebens uns vor Augen liegt, und zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden kann. Das Ende geht aber doch vor unsern Augen vor sich. Aber es ist dasselbe. | Kein Mensch kann sich anmaaßen den Punct des Todes zu bestimmen. Athemholen und Circulation können stocken, und doch braucht der Mensch nicht todt zu sein. Der Tod ist ein Factum, wenn schon eine Menge von andern Factis eingetreten ist, wir sehen ihn erst lange hinter seinem Endpunct, wenn die Verwesung eingetreten ist. Von der physiologischen Seite ist wol jetzt allgemein anerkannt, daß alle Kennzeichen des Todes ungewiß sind. Wie sieht es aber mit der psychischen Seite der Sache aus? Wir wollen auf den Uebergang achten, wie der Zustand des Scheintodes ist. Wir haben die Erfahrung von einem Zustande des Bewußtseins, aber völlig abgelöst von jeder Möglichkeit sich zu äußern, so daß die Seele auf der einen Seite zwar in derselben Verbindung war mit dem Leibe, die das Leben noch ausmacht, von der andern Seite auch abgebrochen war. Der Scheintod ist ein partielles Abnehmen beider Seelenthätigkeiten. Der Scheintodte kann gewöhnlich nur hören, nicht sehen, der allgemeine Sinn ist ganz abgestumpft, und die Fähigkeit der Seele auf den Leib zu wirken ist ganz aufgehoben; aber doch wieder kann er Bilder und Vorstellungen | produciren, die doch immer ein Zusammensein des Psychischen und Organischen voraussetzen. Wo sollen wir nun den Uebergang in den wirklichen Tod setzen? Wir haben keinen Punct und können keinen Schluß machen. Bloß negativ können wir ihn construiren: wenn aus dem Scheintod der wirkliche Tod erfolgen soll, so müssen auch die übrigen Functionen still stehen. Aber das letzte Uebergehen, das Minimum von Thätigkeit, bis zum Verschwinden auf Null können wir nicht wahrnehmen. Um eine möglichst positive Vorstellung davon zu haben, fragen wir in welchen Formen können wir ihn denn aufstellen? Die ganze Welt reagirt gegen jede Thätigkeit jedes Einzelnen, und umgekehrt; aber die Reaction construirt nicht das Dasein des Reagirenden, sondern jeder Reaction liegt eine Action zum Grunde. Das Ende des Lebens ist eine Thätigkeit der Welt oder das Lebendige selbst. Ist es eine Thätigkeit der Welt, so müssen wir sagen: was ist denn nun für ein so unendlicher Unterschied der Functionen, welche die Welt ausübte auf den Einzelnen, wo er noch reagirte, und welche sie so

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ausübt | auf den Einzelnen, daß er nicht mehr reagirt? Diesen Unterschied können wir nicht finden, den Tod also auch nicht als Naturthätigkeit begreifen. Wollen wir ihn als Thätigkeit des Lebendigen selbst setzen, so ist das schon im Allgemeinen unbegreiflich, daß eine Thätigkeit soll zugleich das Ende der Thätigkeit sein. Das Ende jeder Thätigkeit bringt eine neue hervor. Wenn dies hier Anwendung findet, so hört die Selbstthätigkeit der Seele beim Sterben entweder niemals auf, oder es erfolgt hinterher noch eine neue Thätigkeit. Hiergegen kann der Selbstmord nicht aufgestellt werden, denn daß der Tod daraus erfolgt ist nicht seine Handlung. Ist es aber Thätigkeit des Lebendigen selbst, ist es dann Thätigkeit der Seele oder des Leibes? Thätigkeit des Leibes kann es nicht sein, denn der Tod ist erst da, nachdem die Thätigkeit des Leibes nicht mehr da ist. Soll es Thätigkeit der Seele sein, und sagt man: die Seele ist nun in der höchsten Vollendung, und von der andern Seite fühlt sie das Abnehmen des Organischen, und so sehnt sie sich nach dem Tode und stirbt. Aber wenn dies eine Thätigkeit der Seele wäre, so | folgte entweder darauf eine neue Thätigkeit, oder es wäre ein ewiges Sterbenwollen, ohne daß der Tod erfolgte. Die Gewalt der Seele über die Respiration und den Blutumlauf ist ein Minimum, und sollte nun die Seele mit einem Mal eine solche Gewalt über die bekommen, daß sie stockte? Das wäre wieder ein unendlicher Unterschied. Nähere Erläuterung scheint der Gegensatz zwischen Wachen und Schlaf zu geben.

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Von dem Gegensatz zwischen Wachen und Schlaf. Fünf und siebzigste Vorlesung.

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Dieser Gegensatz ist bis hierher verspart, nicht nur wegen der Analogie mit dem Tode, sondern weil er hier am besten zu überschauen ist. Fassen wir ihn in seiner Totalität auf, so wird das Leben des Kindes im Mutterleibe weit mehr in der Analogie des Schlafes als des Wachens fallen. Betrachten wir den Menschen von der Geburt an, so tritt der Gegensatz zwischen Wachen und Schlaf heraus. So wie das Kind die Augen aufschlägt ist das Wachen gesetzt. Es ist aber noch ein großes Übergewicht des Schlafs, welches damit zusammenhängt, daß die vegetativen Prozesse im Schlaf am besten von Statten gehen, | und welches darum sein muß, weil noch die wenigste Selbstständigkeit da ist, und immer noch ein Zusammenhang mit der Mutter. Bis zum Jünglingsalter ist immer noch viel Bedürfniß des Schlafs. Erst von jetzt 7 Seele] über Natur

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an gestaltet sich ein festes Verhältniß. Im Alter wird es wieder anders. Es tritt weder der Schlaf noch das Wachen recht hervor, es entsteht eine Träumerei im Wachen, eine periodische Geistesabwesenheit, und im Indifferenzpunct zwischen beiden erfolgt der Tod. So ist also ein vollkommener Cyclus. Wenn die ganze Thätigkeit in den Organismus versenkt ist, und die psychischen Thätigkeiten ruhen, so ist der Schlaf da. Aber im Schlafe träumen wir, und der Unterschied zwischen dem Traum und dem Wachen ist immer nur in der Combination. Wie haben wir denn die Thätigkeit der Seele im Traum anzusehen? Es giebt hier drei Puncte, von denen wir das ganze Gebiet werden umschließen können. 1) die Analogie des Traumes mit dem chaotischen Zustande im Wachen, welcher eigentlich die regelmäßige Thätigkeit der Seele beständig begleitet. | 2) Die Analogie mit dem Wahnsinn. Allerdings sind beide nicht ganz zu trennen, denn wenn wir aneinanderreihen könnten alles Einzelne, was in diesem chaotischen Spiel der Seele liegt, so werden darin immer Analogien sein mit der sanguinischen Form des Wahnsinns. Aber es ist doch eine positive Opposition gegen die Gesetze des wirklichen Daseins das Unterscheidende des Wahnsinns von jenem chaotischen Spiel und jenen phantastischen Character hat auch der Traum. 3) Im Traum scheint oft eine Seelenthätigkeit hervorzutreten, welche die Grenzen der psychischen Gewalt im Wachen überschreitet und das Prophetische scheint am meisten hervorzutreten. Was jetzt vom Traum zur wirklichen Erfahrung gekommen ist, werden wir wol in diese drei Puncte fassen können. Was das erste betrifft, so ist es wol dasjenige, was sich am leichtesten erklärt. Die Seele kann in keinem Zustand genug aufgehen, wenn sie den Faden des Zusammenhanges in der Welt festhalten will. Ist die Seele erschöpft von Anstrengung, so entsteht das freie Spiel der begleitenden | Vorstellungen. Ist der Körper auch ermüdet, so schläft der ein, jenes Spiel bleibt aber; der Traum scheint also ein Zusammensein von beiden zu sein. Daß im Traum kaum andere Seelenthätigkeit sein kann, als dieses chaotische Spiel, ist klar; denn angenommen die Seele könnte sich auch früher wieder erheben, etwas bestimmter zu wollen, so würde doch der Schlaf den Willen zurückhalten. Ist aber der Wille sehr stark, so vermag er sehr wohl den Organismus aus dem Schlaf herauszuziehen. Dies wäre also in soweit zu verstehen, und wir könnten eine andere Frage daraus ziehen und beantworten. Nämlich man ist uneinig, ob der Traum die ganze Zeit des Schlafes einnehme, oder ob er nur beim Übergange statt finde. Hier liegt schon wieder eine Ansicht zum Grunde mit den verschiedenen Ansichten vom Tode zusammenhängend. Ist der Traum bloß in den Übergängen, so stehen 41 bloß] bloß bloß

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zwischen diesen die psychischen Vermögen ganz still, mit vollkommener Negation aller Thätigkeit. Wenn wir den Uebergang | vom Wachen zum Schlaf beobachten, so finden wir, sobald die Neigung einen überfällt ein solches Zuströmen von verworrenen Bildern, das als Analogon des Wahnsinns erscheinen kann, um so mehr als man noch wachen, und in seiner Thätigkeit bleiben will. Da geht der Schlaf von der organischen Seite aus, und hebt das Gleichgewicht der psychischen Seite auf. Der Wille ist aber noch nicht mit befangen in dem Zustande des Schlafs. Denken wir uns aber die Seele aus dem Minimum von Thätigkeit, im Schlaf im Begriff sich zu erheben, den Organismus aber im Schlaf jedoch so, daß sie ihn noch nicht zu wecken vermag, so entsteht weder der Traum, wobei aber die Identität des Ichs nicht immer unversehrt bleibt. Die eigentlichen Träume in welchen Handlungen vorfallen, fallen allerdings in den Übergang vom Schlaf zum Wachen. Aber daraus folgt nicht, daß die Seele ganz ruhe. Das Bewußtsein von den Träumen fehlt nur darum, daß beim Übergang der | letzte Traum alles Vorhergeschehene zurückdrängt. Es scheint hierin ein großer Unterschied zu sein. Einige träumen immer andere selten. Aber das kann man nicht messen, denn es kommt alles darauf an, wie man erwacht, plötzlich oder allmählig. Das plötzliche Erwachen nämlich verdrängt die Erinnerung des Traums, und er fällt einem oft erst wieder bei, wenn im Leben etwas der Art vorkommt. Das langsame Erwachen ist aber ein langsames Übergehen zum Schlaf und Traum in die wirkliche Welt, und der Kampf dabei macht den Traum, und je länger so der Traum festgehalten wird, desto tiefer prägt er sich ein. Die Erfahrung nöthigt also durchaus nicht ein Stillstehn der Seele im Schlaf anzunehmen. Wenn wir das Psychische von dem Organischen ganz trennen wollten, so müßten wir einen partiellen Tod annehmen, was doch seine erstaunlichen Schwierigkeiten hat. Können wir aber einen solchen annehmen, so können wir auch das rein Entgegengesetzte annehmen, das Überschreiten der Seele in ein ganz anderes Gebiet. | Wir haben schon als wir vom Wahnsinn sprachen, ihn zurückgeführt auf seine Ähnlichkeit mit dem Spiel der chaotischen Vorstellungen, und es scheint, als könnte hier die Aehnlichkeit desselben mit dem Traum darauf zurückgeführt werden. Aber das schnelle Wechseln der Träume hat größere Analogie mit der sanguinischen Form des Wahnsinns, die Träume aber die man gar nicht los werden kann, haben größere Analogie mit der melancholischen Form des Wahnsinns. Wie sollen wir uns nun diese Aehnlichkeit mit dem Wahnsinn ansehen? Sie ist ein Fortschritt von der Aehnlichkeit mit den chaotischen Vorstellungen vom Wachen aus, es ist größere Willenlosigkeit dabei, und bloß ein Spiel der Vorstellungen in einem ganz passiven Zustand; denn bei jenen Träumen, die die Form der fixen

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Idee haben, ist gewöhnlich ein unangenehmer Zustand, den sich die Seele durch ihren eigenen Willen nicht schafft, sondern er ist ein Product von der Passivität der Seele, und mehr von der organischen Seite her zu erklären. Daß nun organische Eindrücke auf die Entstehung | von Traumbildern großen Einfluß haben, ist schon genugsam wahrgenommen, denn es werden oft Träume erregt durch einen kleinen Schmerz, durch ein Gemüth etc. Aber sobald der Traum die Gestalt des Wahnsinns annimmt, ist er schwer zu erklären. Der Zusammenhang mit der äußern Welt ist zwar im Schlaf eben so abgebrochen, als er es ist durch die Zurückgezogenheit des Willens im Wahnsinn. Aber wir finden die Zurückgezogenheit des Willens auch in den leichten Träumen, die nicht in die Form des Wahnsinns fallen. Es scheint aber dies zusammenzuhängen mit der Stärke des Temperaments. Jemehr sich dies seiner scharfen Spitze nähert, desto größer und verworrener ist die Thätigkeit der Seele. Jemehr ein Temperament gemäßigt ist, desto mehr tritt das Gegentheil ein.

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Der Traum hat aber auch Analogie mit dem Ahnungsvermögen, mit den prophetischen Zuständen der Seele. Hier fehlt uns nun in der Betrachtung dasjenige, | woran wir anknüpfen könnten. Aber es soll hier von diesem Vermögen gesprochen werden. Es entsteht oft plötzlich in der Seele die Kenntniß einer Begebenheit, von welcher sie durch Zeit und Raum getrennt ist, ohne Vermittelung von Zeit und Raum. Sehen wir solche Erkenntniß an als Product der Combination, so schreiben wir sie nicht dem Ahnungsvermögen zu, denn sie wird ja dann natürlich gebildet von der Lebendigkeit der Vorstellungen selbst, womit ihr zukünftiges Bild sich schon abspiegelt. Alle prophetische Erkenntniß aber leugnen wollen, und für zufällig zu erklären, ist empirisch thöricht, denn es giebt zu reale Beispiele. Wenn wir etwas für zufällig erklären, so verneinen wir, daß wir es als Glied ansehen wollen, woraus eine Induction zu machen ist. Eine solche Maxime ist nirgends anzuwenden, auch da, wo wir in der Erfahrungserkenntniß am weitesten sind, denn das meiste in diesem Gebiet haben wir noch vor uns. Wir müssen also ein | Ahnungsvermögen annehmen, aber es fehlen uns die Data dazu. Wollen wir diesen Vorstellungen einen Ort anweisen, so können wir sie nur in das chaotische Spiel der Seele bringen. In dem Inhalte ist aber ein Unterschied, denn solche Vorstellungen drängen sich mit einer gewissen Gewalt der Ueberzeugung auf, wogegen die gewöhnlichen chaotischen Vorstellungen diese Gewalt gar nicht haben. Wir müssen nun aber, weil die

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Seele oft auch Vorstellungen hat, von denen sie fürchtet, daß sie möchten mehr werden, und vor denen sie erschrickt, und diese sind noch nicht die rechten Ahnungen, sondern es ist bloß die Furcht vor dem Ahnungsvermögen, wir müssen nun begreifen, wie die Vorstellungen sich unterscheiden, die bloß Vorstellungen sind und nicht mehr werden, von denen, die wahr werden. Wenn erstere, die falschen Ahnungen, auch wirklich überwiegend sind, so ist doch gar kein Grund, daß man die wahren ansieht als zufällig. Wir nehmen nun an: ihr innerer Character sei die Überzeugung, | mag sie hernach wahr oder falsch sein. Eine Überzeugung ist aber eine Erkenntniß in der Seele, die rein von innen heraus entstanden ist, und wie können wir dies begreifen? Da giebt es nur zwei Wege nach den verschiedenen Ansichten vom Verhältniß des Leibes und der Seele. Gehen wir von der relativen Identität beider aus, so werden wir sagen müssen: da es keine psychische Thätigkeit giebt, die nicht auch eine organische wäre, so müssen wir auch hier das Organische suchen; und da das Psychische überhaupt nicht zu begreifen ist, so müssen wir das Organische begreifen, und da kommt man dann darauf, daß der Grund im Organismus liegt, wenn auch auf ungewöhnliche Weise entstanden. Die Ansicht, welche vom relativen Gegensatz ausgeht, behauptet: die Seele ist in dem Augenblick solcher Thätigkeit auf die möglichst größte Weise außer ihrem Leibe, und erhält, was so von ihr ausgeht durch einen unmittelbaren Zusammenhang, in welchem sie mit der Welt steht. Diese Ansicht wollen wir einmal so stehen lassen, und fragen: | da es nun solche Vorstellungen giebt, die ihrem Gegenstande wirklich entsprechen, wie könnten wir denn von beiden Ansichten aus die Wahrheit der Vorstellungen begreifen? Gehen wir von dem ersten aus, so müssen wir sagen: was die Seele auf dem gewöhnlichen Wege von Kenntnissen erhält, das ist nur der kleinste Theil von demjenigen, was sie durch den Leib wirklich haben kann. Jeder Sinn ist eine eigene Art und Weise, wie ihr gewisse Vorstellungen von der Welt zugeführt werden. Aber außer diesen muß es noch eine andere Art geben, wie durch den Organismus einzelne Theile der Welt, oder die ganze Welt mitgesetzt sind; und es muß Augenblicke geben, in welchen die Seele auf diesem Wege zur Kenntniß einzelner Ereignisse in der Welt kommen könne. Nimmt man dieses an, so entsteht die Frage: dann setzen wir zu diesen Einzelnheiten eine wirkliche Totalität, ohne das könnten wir zu keiner Einsicht kommen, denn das ist der Gegensatz von dem[,] sie als etwas Zufälliges anzusehen; da nun eine Totalität in ihnen angelegt sein muß: warum kommen der | Vorstellungen der Art so wenige vor? Durch die Gewalt, welche die Sinne ausüben, wird die Art wie inner9 mag] mögen

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lich die Welt gesetzt ist, zurückgesetzt, und wo die Sinne nicht geöffnet sind, da schließt sich dieses Vermögen auf. Dies ist die einzige Art, wie sich von dieser Seite aus die Sache erklären läßt. Wir würden nun fragen müssen, daß dies offenbar auf der Seite des Gefühls liegen müsse, daß es ursprünglich als Gefühl in der Seele liegen müsse, und dazu müsse die Seele erst eine Vorstellung erfinden, und wir müssen sagen: es entstehen vermöge gewisser Veränderungen im Organismus gewisse Gefühle, die selbst von jenen Veränderungen ausgehen, und vermittelst des Zusammenhanges alles Seienden kann es im Einzelnen Erregungen geben, die sich auf ein außerhalb Gesetztes beziehen, und dieses kann von der Seele vernommen werden. Dies muß angesehen werden als eine Form der Thätigkeit der Seele, die in dem einen mehr, in dem andern weniger ist. Einige haben mehr, andere fast gar keine Ahnungen, abgesehen davon, ob sie wahr oder falsch sind. Das Vermögen das Wahre und Falsche zu unterscheiden, kann | sich am meisten entwikkeln in demjenigen, der die meisten Erscheinungen der Art und der das größte Unterscheidungsvermögen hat. In dem Maaß als beides zusammen ist kann das Wahre und Falsche unterschieden werden. Wenn wir nun vom relativen Gegensatz der Seele und des Leibes ausgehen, und sagen: bei dieser Thätigkeit ist die Seele am meisten außer dem Leibe; so müssen wir auch hier eine Totalität setzen und sagen: die Seele müßte auf diese Weise die Anschauung der ganzen Welt bekommen. Dies setzt voraus, daß der Seele, wenn sie nicht im Leibe wäre, die ganze Welt gegenwärtig wäre, und nicht nur die Idee der Welt, die allgemeinen Principien müßten ihr angeboren sein, sondern auch das Einzelne müßte sie klar sich vergegenwärtigen. Warum kann sie aber nur Einzelnes sich vergegenwärtigen und nicht die ganze Welt? Weil sie im Leibe ist, und dadurch verfinstert ist. Hier liegt also die Vorstellung zum Grunde, daß die Seele außer dem Leibe ganz und gar Erkenntniß, und zwar das Maximum davon sei, im Leibe habe sie alles Vergessen, und erhalte erst durch die Sinne Einzelnes wieder. – |

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Worin besteht die Differenz beider Ansichten[?] In beiden wird der Seele eine Möglichkeit, auf einem andern Wege etwas zu erkennen, zugeschrieben, in der einen aber wird es der Seele getrennt vom Leibe, in der andern in ihrem Zusammensein mit dem Leibe zugeschrieben. Welche ist wahrscheinlicher? Haben wir uns eher die Seele zu denken als etwas absolut Erfülltes, sofern sie frei vom Leibe gedacht wird, 28–31 Vgl. z. B. Platon: Phaidon, insbesondere 75e; Opera 1,172; Werke 3,62–63

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oder müssen wir uns die Seele gar nicht ohne den Leib denken, den Leib aber als den höchsten Mikrokosmos, so daß die Sinnesvorstellungen nur einzelne Ausströmungen einer Thätigkeit sind, vermöge derer wir sonst die ganze Welt auffassen könnten, eine solche Realität des Leibes, daß selbst das Kleinste davon mit der Seele in Verbindung stehe? Wir befinden uns hier in einer sehr dunkelen Region, und wir haben nicht im Voraus Ursach zu glauben, daß das Uebergewicht von Wahrscheinlichkeit für die eine oder die andere Seite sehr groß sein werde. Jedoch müssen wir einen Weg zu finden suchen um diese Frage zu entscheiden. Wir können nicht anders als eben die vorgefaßte Meinung hierüber mit in Anschlag | bringen, denn sie hat auf das Gewicht der Gründe den höchsten Einfluß. Wer einmal festgestellt hat: die Seele ist ein Wesen für sich, im Leibe zu sein ist nur ein Stand der Erniedrigung für sie, der wird leicht Gründe dafür finden; und wenn einer sagt: ich kenne die Seele nur in ihrem Zusammenhange mit dem Leibe, der wird für seine Meinung auch leicht Gründe finden. Es gilt hier vor der Hand nichts als die subjective Überzeugung, es kann hier nichts Objectives aufgestellt werden, was das Subjective umzustoßen vermögte, und alles kommt auf die Grundprincipien an, die jeder hat. Die eine Ansicht nun scheint zusammenzuhängen mit dem skeptischen, materialistischen, antiphilosophischen Interesse, die andere aber mit dem religieusen spiritualistischen. Aber so wie wir uns die Ansicht construirt haben, welche keine Seelenthätigkeit, außer die auch eine organische ist, statuiren will, so ist die nichts weniger wie materialistisch, sie setzt gar nicht die geistige Thätigkeit als Product der Materie, sie macht das Subject der geistigen Thätigkeit nicht abhängig von dem Substrat der | bloß realen, räumlichen Thätigkeit, sondern sie sagt: nur wo ein organischer Mikrokosmos construirt ist, ist eine Seele, und alle ihre Thätigkeiten sind an diesen lebendigen Punct auf der realen Seite gebunden. Nun läßt sich das ganz umkehren: es ist nur ein organischer Mikrokosmos, wenn eine Seele ist, folglich sind beide identisch. Aber folgt nun, wenn der organische Mikrokosmos untergeht, daß auch die Seele untergeht? Ja das folgt. Aber eben diese Idee von einem solchen Zusammenhange zwischen dem einzelnen lebendigen Organismus und dem allgemeinen eröffnet uns die Aussicht auf eine über die gewöhnliche Erfahrungsgrenze hinausgehende organische Evolution und Involution, daß wir der nun keine Grenzen setzen können, sondern daß wir sagen müssen: so wie der von der andern Ansicht Ausgehende sagt: der Tod ist nichts als das Freiwerden der Seele, so gut können wir sagen: der Tod ist nichts anderes als das Freiwerden des ganzen Organismus von dem Gröberen der Erfahrung. Wir haben ja auch | gar keinen Grund, was man grade von dem letztern sagen kann auf das Ganze anzuwenden. Von

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einem solchen Interesse ist hier also gar nicht die Rede. Deshalb können wir mit der größten Ruhe zu Werke gehen und fragen: wenn wir nun eine Erkenntniß wollen, woran haben wir uns dann anzuschließen? Dann müssen wir doch immer suchen den Zusammenhang des Realen und Idealen festzuhalten, also auch im Lebendigen das Ineinandersein des Geistigen und Leiblichen, und wir müssen uns nicht durch einen Sprung dazu verleiten lassen, dasjenige als etwas Reales zu setzen, was wir nur als Abstraction genommen haben, denn es ist immer nur Abstraction, wenn man die Seele für sich betrachten will. Kein Setzen der Seele ohne den Leib ist möglich ohne einen Sprung. Der Gang der Untersuchungen über diesen Gegenstand, soll dieser Formel treu bleiben, zu jeder noch unbegriffenen Erscheinung die Identität des Psychischen und Physiologischen zu finden. Von diesem Gesetz können wir uns auch eher nicht losmachen. Nun aber kommt noch dazu, daß wenn wir in der That den immer noch sehr unvollkommenen Erfahrungen nachgehen, darin immer eine Indication liegt, dem organischen | Faden darin nachzugehen. Diese Indication liegt darin, daß alle Ahnungen ihren Ort haben in dem chaotischen Spiel der Seele. Dies haben wir aber immer auf das innere Ende des Organismus beziehen müssen, und dieser Indication müssen wir auch nachgehen. Wir müssen sagen: Dieser Gegensatz verfolgt sich immer weiter, und der innere Organismus geht desto mehr auf; je mehr der äußere sich schließt. Im Traum sowohl als im wachenden Ahnungsvermögen finden wir bald größeren Willen, bald größere Willenlosigkeit. Im ersten ist das äußere System dominirend; das innere kommt nur zum Vorschein, sofern das äußere einen leeren Raum läßt. Wir können nun sagen: wo viele Menschen nichts haben als das Spiel der unbestimmten Vorstellungen, da haben manche eine ganz klare Vorstellung in Beziehung auf etwas durch Zeit und Raum Entferntes und eine feste Ueberzeugung davon. Sie endigen also mit einem Gefühl und beginnen mit einem Gefühl, und das ist schon der Unterschied von den chaotischen Vorstellungen, die kein Gefühl geben. Das Gefühl ist aber immer mit dem Organischen verbunden, und wir können es uns nicht denken wenn wir die Seele vom Leibe trennen. – | Wir wollen jetzt die Sache von einer andern Seite betrachten. Wir wollen zugeben, dies Gebiet sei ein wirkliches, es gäbe Thätigkeiten, die wir dem Ahnungsvermögen zu schreiben, und es gebe eine Uebereinstimmung derselben mit dem allgemeinen Leben der Welt und den einzelnen Thätigkeiten, worauf sie sich beziehen. Wir wollen zugeben, es sei dies Gebiet weit größer, als es durch die gewöhnliche Erfahrung gegeben ist. Wie erscheint nun eigentlich die Seele dabei thätig? Wie sind diese Zustände, wenn sie reine Zustände der Seele sind, ohne auf ihren Werth und ihre Entstehung zu sehen? 1) Es tritt in denselben

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die Eigenthümlichkeit der Seele am meisten zurück. 2) Die Seele ist dabei doch niemals frei von denjenigen Bedingungen und Grenzen ihres Seins, welche in demjenigen Gebiet, welches wir das erhöhte Bewußtsein genannt haben, liegen. In allen diesen Zuständen tritt also die Eigenthümlichkeit der Seele ganz zurück. Wir wollen einmal einen Punct herausgreifen aus dem früher beschriebenen allgemeingültigen Gebiet der Seelenthätigkeit, die mit dieser Aehnlichkeit hat, nämlich die künstlerische Thätigkeit. Die Unwillkührlichkeit ist hier vollkommen eben so groß, | denn der Künstler weiß so wenig, wie er zur Conception eines Kunstwerks kommt, als, der prophetische Ahnungen hat, weiß, wie er dazu gekommen ist. Aber beide müssen vollkommene Repräsentanten seines eigenthümlichen Daseins abgeben. Gehen wir nun darauf zurück, daß sowie man sich das ganze Leben in ein mehr bewußtes aus dem chaotischen gekommen denkt, das ganze Leben mehr ein Kunstwerk ist, so wird man dies immer zugeben müssen. Betrachten wir aber nur die Resultate des Ahnungsvermögens, so ergiebt sich völlig das Gegentheil, und die Eigenthümlichkeit des Menschen ist gar nicht darin. Es giebt zwar verschiedene Formen, wie es sich äußert, diese hängen aber nicht mit der Eigenthümlichkeit des Menschen zusammen. Welcher Ansicht wir nun zugethan sein mögen, so zerfließt uns dabei doch die Seele, weil ihr Eigenthümliches verschwindet, sie ist in einem vollkommen universellen Gebiet, und wird rein ein partielles Organ vom Ewigen. Daher auch von jeher diese Zustände angesehen worden sind als gewissermaßen gewaltsam, wo ein fremdes Wesen von der Seele Besitz nimmt, was von seiner negativen Seite betrachtet, | daß die Seele in diesen Zuständen ihres eigenthümlichen Characters nicht mächtig ist, ganz wahr ist. Von der positiven Seite würde es aber immer mehr verwirren. Was wir nun anfangs am meisten gesucht haben, die eigenthümliche einzelne Seele, das verschwindet uns hier ganz. Daß aber die Seele in dieser Thätigkeit niemals frei ist von den Bestimmtheiten, die im gemeinsamen Leben begründet sind, giebt uns wieder Haltung. Das hat niemand geleugnet, aber man hat auch nicht Werth genug darauf gelegt. Wenn wir die exaltirtesten Zustände betrachten, so finden wir doch die Seele eingeschlossen in ihrer nationalen Denkweise, und aus dieser Form kann die Seele nicht heraus. Wenn wir fragen: Denken wir uns einmal aufgeschlossen einen solchen allgemeinen Zusammenhang, wodurch bestimmt sich nun der einzelne Punct, woran sich der allgemeine Zusammenhang knüpft? Warum ahnet der Mensch dies, und nicht das Entgegengesetzte? Das Interesse geht auch ganz rein von der Sphäre seines erhöhten Bewußtseins aus, und dies ist von dieser eingeschlossen. Entweder es liegt im Gebiet seines religiösen Gefühls, und | dann bleiben auch die Ahnungen in diesem Typus. Beziehen sie sich auf

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einzelne Menschen, so sind sie in dem Freundschaftsverhältniß oder der Familie eingeschlossen, und immer sind es solche an denen der Mensch vermöge seines erhöhten Bewußtseins Interesse nehmen kann; und wenn der Mensch geahnt hat von einem ganz unbekannten Menschen, so wird es nie ein solcher sein, zwischen dem und ihm nicht von der höhern Stufe des Daseins eine Brücke könnte geschlagen werden. Wenn nun dies Erscheinungen sind, wobei die Eigenthümlichkeit der Seele verschwindet, dann verschwindet auch die Persönlichkeit mit, weil jene das Substrat von dieser ist. Das Universelle wird auch wieder begrenzt, denn so wie es nicht aus der einzelnen Persönlichkeit zu begreifen ist, so kann es nur aus dem erhöhten Dasein des Menschen begriffen werden. Jemehr wir also die Seele abgesondert betrachten von dem Allgemeinen, worin sie steht, desto mehr verschwindet sie uns, und gerade wenn wir denken, den eigenthümlichen Begriff der Seele recht ans Licht zu bringen, verschwindet jede Einzelnheit. Das Ganze gewinnt immer nur seine Haltung, wenn | wir es auf dies lebendig Allgemeine, auf das gemeinsame Leben als Eines übertragen. Dies soll uns Übergang sein. Wir haben nun die elementarischen Functionen der Seele alle betrachtet in Beziehung auf ihr einzelnes Dasein, aber wir mußten auch immer das erhöhte Bewußtsein mit dazu nehmen. Hieraus geht eben hervor, daß wir, eben so wie wir Unrecht haben das Band zwischen Seele und Leib auf solche Weise zu lösen, daß wir die Seele von dem Leibe frei denken, eben so Unrecht haben, die einzelne Seele ganz für sich zu betrachten. Die einzelne Seele ist ein für sich Gesetztes aber nur unter dem Allgemeinen und wir müssen den Zusammenhang in das gehörige Verhältniß setzen. Zuerst wollen wir nun noch einmal alles recapituliren, was von der einzelnen Seele gesagt werden kann, und dann auf das Allgemeine übergehen, aus dem die einzelne Seele entstanden ist. Nur wenn dies Verhältniß uns klar geworden ist, werden wir sagen können, daß die einzelne Seele uns klar geworden ist. |

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Zweiter Theil.

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Gegensatz des Einzelnen und des Allgemeinen. Acht und siebzigste Vorlesung. 35

Wir müssen nun die Grenzen unseres Resultats betrachten. Der Tod kann nie Thätigkeit der Seele selbst sein, eben so wie ihre Entstehung. 5 dem und ihm nicht] dem nicht und ihm

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Diese Abhängigkeit dürfen wir keineswegs allein auf diese beiden Puncte beschränken, und daraus entsteht das negative Hauptresultat aus unserer Betrachtung: daß überall die Seele, wo sie uns ansieht, statt eine vollkommene Einheit zu sein, schwindet zwischen dem Vielheit zu sein und Theil einer Einheit. Wenn wir die Entwickelung der Seele vom Anfang ihrer Erscheinung an betrachten, so werden wir sagen müssen, daß in dem engen Raum, den wir als Culmination des Daseins angenommen haben, daß die Seele da am schärfsten als Einheit hier sich erscheint. Wenn sich der Mensch einen Kreis seiner Thätigkeit geschaffen hat, wenn das innere Verhältniß seines Ich völlig bestimmt erschienen ist, so ist dies die Zeit, wo die Seele alles, was sie in sich aufnimmt, ihrer eigenthümlichen Natur gemäß verarbeitet, und wiederum in das Reale hinauswirkt. | Die Seele von diesem Punct aus ist aber nichts anderes als eine Einheit. Betrachten wir sie in ihren ersten Aeußerungen so erscheint sie abhängig von dem, was sie umgiebt. Sie erscheint in den Aehnlichkeiten mit den Aeltern als ein Product von einem andern Dasein, und erst allmählig zieht sich das, was wir als ein Zusammengelesenes von mehreren andern betrachten zu einer Einheit zusammen. Wie steht es denn mit der Eigenthümlichkeit des Menschen? Wir müssen sagen: 1) sie tritt nie ganz vollendet und rein heraus, sie kommt nie zu einer vollkommenen Auffassung, sondern sie bleibt beständig eine nie ganz gelöste Aufgabe, d. h. eine Voraussetzung. 2) Betrachten wir die Sache im Ganzen, so erscheint die Eigenthümlichkeit einer Seele bedingt durch etwas, was nicht sie selbst ist. Wir können die Eigenthümlichkeit jeder einzelnen Seele vorzüglich von zwei Puncten aus construiren. 1) von ihrem Temperament aus, welches vorzüglich darin sich zeigt, wie in ihren verschiedenen Aeußerungen die Einheiten gemessen werden; 2) aus den Verwandschaften, welche sich bilden zwischen der Seele und den verschiedenen Theilen der Welt, die | sie an sich ziehen. Aus diesem beiden construirt sich die Eigenthümlichkeit des Menschen. Fragen wir nun: wieweit wir es in der Erkenntniß dieser Eigenthümlichkeit bringen können; so müssen wir sagen: wir kommen darüber nie zu einer vollkommenen Anschauung. Die verschiedenen Temperamente können paarweise in der Seele zusammen sein. Dessen ungeachtet aber kommen Momente vor, die das Entgegengesetzte manifestiren, und das nennen wir Launen, und ist in dieser Hinsicht die Negation der eigentlichen Temperatur, der Mensch wird so sich selbst untreu. Geht das soweit, daß ein Uebergewicht des Wechsels entsteht, so sagen wir: der Mensch ist aus lauter Launen zusammengesetzt, und wir können ihm keine Selbstständigkeit zuschreiben. Betrachten wir nun solchen Menschen und einen andern, wo ein schönes Maaß von Temperament ausgebildet ist, so müssen wir sagen: der letzte ist in viel höherem Grade eine Einheit

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als der erste; und so finden wir die Einheit der Seele in ihrem innersten Grunde im Schwanken. Je weniger sie aber Einheit | in sich selbst ist, desto mehr ist sie von außen bestimmter und fließt da hinein. Weil aber der Erscheinung nach die eine Seele so gut eine Seele ist als die andere, so schwanken wir hier, woran wir die Einzelnheit der Seele binden sollen, sie schwebt uns von dieser Seite schon zwischen Einheit und Vielheit. – Eben so geht es wenn wir auf den Complexus der Talente sehen. Wir können da niemals zu einem festen Urtheil darüber kommen, was in einem Menschen das Verhältniß seiner verschiedenen Fähigkeiten ist, wenn nicht seine ganze Geschichte gegeben ist, und diese hat immer einen mysterieusen Theil, woraus wir niemals das Resultat ziehen können. Das Quantum von seinem Erworbenen besteht aus zwei Factoren: aus dem ursprünglich in ihm Angelegten und aus den äußern Umständen, und das Verhältniß dieser Factoren ist nie zu bestimmen, denn es ist darin immer ein Mysterieuses, und man kann nicht sagen, daß der Umgang derselben Menschen mit demselben auf die Einzelnen gleich wirkt. Die characterisierende Einheit des Menschen ist also von dieser Seite nicht herauszubringen, und nicht nur kann es keiner vom andern | es kann es auch niemand von sich selbst. In wiefern wir aber nun doch sagen können, es ist von andern Menschen auf einen gewirkt, so erscheint er doch nicht als Einheit. Wenn wir sagen: zwei Dinge stehen in Wechselwirkung; so setzen wir sie eben dadurch als zwei und schließen sie aus. Aber setzen wir diese Ausschließung als absolut, so können wir die Wechselwirkung nicht begreifen, und davon ist alle Skepsis der Causalität ausgegangen, daß man Ursach und Wirkung als absolut verschieden setzt. Wo wir aber solche Wechselwirkung finden, da ist auch immer die höhere Einheit gegeben, und wollen wir die Wechselwirkung begreifen, so müssen wir zu dem höhern Gebiet hinaufsteigen. In demselben Maaß also als die Seele als Resultat der Wechselwirkung erscheint, erscheint sie nicht als Einheit, die für sich rein ausgeschieden werden kann, sondern sie erscheint als Theil eines größeren Ganzen, sie erscheint nur als ein Ort für die Activität des höhern Lebens. Wie wir aber Ursach und Wirkung nicht begreifen, wenn wir die Trennung nicht aufheben, so können wir auch die Einheit des Lebens | nicht begreifen, wenn wir nicht die verschiedenen Systeme, Functionen, organische Elemente wieder als Vielheit setzen aber auf untergeordnete Weise. In wiefern also die einzelne Seele ein Eigenthümliches ist, ist sie Einheit; in wiefern sie Resultat von Wechselwirkung ist, ist sie nur Theil eines größern Ganzen. Von der andern Seite schwankt sie zwischen Einheit und Vielheit. Wir fingen an die einzelne Seele zu betrachten; wir fanden, daß wir abstrahiren mußten von der Art, wie sie zur Erscheinung gekommen

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ist. Nachher aber konnten wir sie auch nicht begreifen ohne die Gemeinschaft der Seele mit den andern Menschen vorauszusetzen und wir sehen es als den Entwickelungspunct an für das Heraustreten des Menschlichen, wo das Bewußtsein für die Gemeinschaft auf bestimmte Weise erweckt ist. Wir wollen nun unterscheiden die Räume diesseits und jenseits dieses Punctes. Vor diesem Puncte von der Kindheit an ist die ganze Seele noch ein Verworrenes; das System der Anregung von außen ist gegeben, aber ihr Inneres erscheint als etwas Fragmentarisches; Zerrissenes. | Das hebt sich erst, wenn der Mensch mit andern sich in Relation setzt. Sehen wir auf die andere Seite dieses Punctes dann erscheint die Seele in einem beständigen Dialog mit sich selbst zu sein, und es ist keine Einheit da, sondern eine Zweiheit, die sich in die größte Vielheit zerschlagen kann, denn von nun geht der Streit an zwischen dem persönlichen Bewußtsein und dem gemeinsamen, und dieser Streit kommt immer nur durch eine Approximation zur Einheit, denn die Vorstellung, daß beides völlig in einander aufgehen könnte, ist eine sich in der Erfahrung niemals völlig realisirende Idee. Dafür ist in niemandem ein vollkommener Character und von der andern Seite in jedem etwas. Wenn das Leben aber nie ganz darin aufgeht, so ist es eine Vielheit; und da bleibt es nun nicht beim Streit zwischen diesen beiden allein, sondern alle Neigungen, die sich jede auf etwas anderes beziehen, scheinen auch gegen einander in Streit zu gerathen, und wenn wir nun vom Streit der Neigungen, der Sinnlichkeit gegen die Vernunft reden, so meinen wir dieses Schwanken zwischen Vielheit und Einheit. Darin ist aber ein absolutes Fürsichgesetztsein der Seele nicht möglich. | Im Wahnsinn geht die Einheit der Seele ganz verloren. In dem Maaße als sie noch durchleuchtet, leugnen wir den Wahnsinn. Wir haben aufgesucht, unter welchen Bedingungen dies Zerschlagenwerden der Seele in der Erscheinung vorkommt, und betrachten wir dies näher, so giebt es wol keinen Menschen von dem man sagen könnte: es gäbe gar keine Umstände unter denen er den Zusammenhang seines Daseins verlieren könnte, wie wol eine große Abstufung ist, wie wir gesehen haben. Eine absolute Widerstandsfähigkeit aber hat kein Mensch, weil auch in jedem Einzelnen die kleinen Analogien des Wahnsinns sich finden. Also sehen wir auch von dieser Seite, wir die einzelne Seele keine absolute Kraft hat, sich selbst zusammenzuhalten, und wie sie nur zusammengehalten wird, nicht in sofern sie Ein Ganzes ist, sondern insofern sie ein Theil eines Ganzen ist. Also auch von dieser Seite erscheint die Seele nicht als etwas vollkommen durch sich selbst Gesetztes. Es geht also durch das ganze Leben hindurch, daß 18 niemandem] niemanden

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die Seele eingeschlossen ist in Puncte die nicht zu ihrer Thätigkeit gehören. | Die Einheit der einzelnen Seele ist also immer nur eine relative. Nun entsteht aber die Aufgabe, dazu das Höhere eben so bestimmt zu suchen, und zu fragen: was ist denn das, wovon die einzelne Seele Theil ist? und was ist das, wodurch sie Vielheit ist? –

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Neun und siebzigste Vorlesung.

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Wenn wir den Anfang des Lebens von der leiblichen Seite betrachten, so können wir nie den Moment wahrnehmen, wo der organische Leib aufhört ein bloßer Theil des mütterlichen zu sein und ein wirklich eigenthümliches Dasein anfängt. Das Factum ist da und wir können nicht leugnen, daß sich dieser frühere Zustand bedeutend in den spätern hineinzieht, wir mögen den Anfang des Lebens setzen, wo wir wollen. Hier haben wir also gleich ein Fürsichsein und ein Abhängigsein. Dies ist vorangeschickt um eine Art von Analogie zu geben. Wie ist es denn mit der Seele? Hier können wir gar nicht soweit zurückgehen, denn betrachten wir die intellectuellen Functionen für sich, so kommen sie weit später zum Vorschein, und selbst von der Geburt an müssen wir sie lange als Minimum ansehen. | Wir wollen nun gleich wieder auf die einzelne Seele in ihrer völligen Reife sehen. Sie ist eine einzelne intellectuelle Erscheinung, worin freilich die ganze Idee des Menschen gesetzt ist, aber auf eigenthümliche Weise, d. h. alles was die Idee des Menschen constituirt ist in ihr gesetzt, aber in bestimmtem gegenseitigen Verhältniß. Haben wir nun genug, wenn wir den Menschen so halten an die allgemeine Idee der menschlichen Natur? Wir müssen offenbar sagen, daß uns noch etwas fehlt, daß wir noch etwas Genaueres sagen können als dieses, daß der Mensch bloß eine bestimmte Art ist, wie die menschliche Natur sich offenbart, denn wir müssen ja gleich sagen: jeder ist die bestimmte Art und Weise, wie die Natur des Volks in einem Einzelnen gesetzt ist. Der Mensch wird mitbestimmt durch seine Aeltern. Die Aeltern sind wieder nicht unabhängig. Auf den ersten Menschen können wir nicht zurückgehen, sondern wir müssen einen wirklichen primitiven Zustand nehmen. Dieser ist das Beieinanderleben mehrerer Menschen, und er ist die Idee des Volks im Kleinen. | Jede einzelne Seele ist da nur ein Minimum von Eigenthümlichkeit. Im vorbürgerlichen Zustande hat jede solche Gesellschaft ihr gemeinschaftliches Temperament, gemeinschaftliche Talente und die Verschiedenheit zwischen den Einzelnen ist eine unendlich kleine. Hier sehen wir also, wie die persönliche Bestimmtheit vom 5 ist?] ist.

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Ursprung an eine gemeinschaftliche ist, und hätten wir nichts zu betrachten als solche Gesellschaften, so würden wir auf nichts anderes kommen können als anzunehmen, die Seele in allen sei eine und dieselbe. Sehen wir aber weiter, so entwickelt sich immer mehr die Eigenthümlichkeit, aber niemals hört das auf, daß der Mensch in den Grenzen der Volksthümlichkeit gehalten ist; ist es einmal nicht, so betrachten wir es als Abnormität. – Dasjenige worin am bestimmtesten sich die Eigenthümlichkeit eines Volkes ausdrückt ist die Sprache. Wie kommt der einzelne Mensch zur Sprache? Es ist eine Function des menschlichen Geistes. Aber daß sich in dem Menschen dieses Begriffssystem und diese Sprache entwickelt, können wir das als seine persönliche That ansehen? Nein, denn er kommt ja zu keiner andern Sprache, als zu der, welche schon vor ihm, in dem Complexus von Menschen, | unter denen er entstanden ist, gewesen ist. Sein Versuchen, sein Selbstbildenwollen ist immer nur fragmentarisch, und diese werden nicht durch eigene That, sondern durch das Zusammensein aneinandergereiht. Zur Sprache kommen ist also nichts anderes, als daß das gemeinsame Volksdasein sich in die einzelne Person einbildet. Der Einzelne wird Organ des Volkes, und er erscheint nur als Theil desselben. So wie wir in dieser Hinsicht sagen müssen, daß in demselben Maaß und von demselben Punct aus, wo der Mensch anfängt ein psychisches Leben zu haben, er auch anfängt, Theil eines gemeinsamen Daseins zu werden, so müssen wir sagen: durch die Entwickelung seiner Temperatur und Neigungen wird er auch wieder zu einem größern Ganzen gehörig, denn dies geht auch nicht aus diesem Ganzen heraus. Ja, das Volk erscheint uns als ein eigenthümliches geistiges Wesen durch seine eigenthümliche Temperatur, und seinen eigenen Complexus von Talenten. Das leugnen zu wollen, wäre vergeblich. Man hat es oft bloß für das Aggregat der Temperamente und Neigungen der Einzelnen angesehen, und gesagt, daß in einer gewissen Form dies als Eins erscheint. Aber wenn wir | nun in einem solchen Raum wie ein Volk ist, alle Differenzen der Neigungen und Talente in gleicher Entfernung wahrnähmen, so würden wir doch nicht im Stande sein ein Volk vom andern zu unterscheiden. Um dies zu können, muß doch ein Uebergewicht dieses oder jenes Temperamentes, dieser oder jener Neigungen sein. Auf die Einzelnen ist dies nicht zu bringen, und wollte man es auch als bloßes Aggregat ansehen von Einzelnen, wie sollten denn alle nach dieser Seite hin gekommen sein? Will man sagen: dies sei zufällig; so negirt man bloß die Forschung, und hinzu kommt noch, daß dann auch der Volkscharacter wechseln müßte, wenn jenes bloß zufällig wäre. Sagen wir nun: ein Volk ist sanguinisch; meinen wir denn, es gebe keine Melancholischen darin? Gewiß nicht, sondern bloß daß eine bestimmte Grenze da ist, in der der Ein-

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zelne sein eigenthümliches Temperament entwickelt. Von der organischen Seite angesehen, ist es auch so. Es entwickelt sich neben dem organischen Typus die einzelne eigenthümliche Gestalt. In dem Typus aber ist die physiologische Seite des herrschenden Temperamentes ausgesprochen, und in diesem wird jeder erzeugt. | Dieser Typus aber ist die größere lebendige Einheit. Ein Volk so betrachtet ist die auf gewisse Weise bestimmte producirende Kraft der menschlichen Natur. Der Einzelne ist die bestimmte productive Kraft des Volkes. Jeder Einzelne ist also so als Product und Theil des Ganzen gefaßt, und nur innerhalb dieser Schranken ist der Einzelne frei. Jemehr er aus der Schranke heraustritt, desto mehr erscheint er als Abnormität, und desto mehr ist er in Gefahr zersprengt zu werden, und jeder einzelne Mensch ist am meisten gesichert vor dem Wahnsinn, jemehr er im Mittelpunct seines Volkscharacters ist. Sehen wir einmal auf den bestimmten Complexus von Neigungen. Auch hier werden wir einem jeden Volke eine bestimmte Individualität zuschreiben müssen. Giebt es nun im Volke gar keine in denen das hervortritt, was im Allgemeinen zurücktritt? Das englische Volk ist nicht poetisch, und doch hat es einen Schakespeares. Hiebei hat er sich nicht losgerissen aus seinem Nationalcharacter, sondern was im Ganzen nicht ist, das muß im Einzelnen desto stärker sein, damit es durch die Receptivität auch in allen sei. | Wir unterscheiden sehr wie Homer und Sophocles aus dem griechischen Volk, und wie Schakesspear aus dem englischen Volk hervorgegangen ist. Erstere sind nur Spitzen eines ganzen poetischen Volkes, letzteren aber macht sein Volk nicht zum poetischen, denn er steht allein da, und fast alle übrigen sind nur receptiv. Im Ganzen aber sind jedem Einzelnen seine Schranken, und er ist nur freigelassen in diesem Gebiet. Wir haben auch die einzelne Seele betrachtet von der Seite der Differenz des Guten und Schlechten. Findet auch hier etwas Ähnliches statt? Das wird niemand wagen zu leugnen. Jedes Volk hat auch hierin sein verschiedenes Maaß; und betrachten wir die Völker in Beziehung auf die Bestimmung des Menschen, so müssen wir die Differenz zwischen den Völkern in dieser Hinsicht zugestehen. Ist nun jeder Einzelne auch hier im Maaß des Ganzen eingeschlossen? Wir können es nicht leugnen. Wir können nicht sagen, daß aus allen Völkern gleich vortreffliche Menschen in derselben Hinsicht könnten gefunden werden. Im Volke selbst sind hierin wieder große Differenzen, die Differenzen der Einzelnen sind | aber eingeschlossen in jenen Grenzen. Wie erscheinen uns so die einzelnen Menschen? Das Volk ist die allgemeine productive Kraft, diese hat ihren Typus nachdem sie die Einzelnen 30 Schlechten] schlechten

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repräsentirt. Diese repräsentiren wieder den Character des Volks auf eigenthümliche Weise, und jenes höhere Leben kommt nicht anders zur Erscheinung als in einer unendlichen Menge von Menschen, welche es producirt. Das ist nicht anders, als wenn ich sage: der einzelne Mensch erscheint nur in einer unendlichen Reihe von Handlungen. Jeder Einzelne ist also nur ein bestimmter Ort und eine bestimmte Art des zum Vorscheinkommens jener höheren Einheit. Will uns dabei die Einheit des Einzelnen verschwinden, so müssen wir bedenken, daß die Kraft des Ganzen im Einzelnen ist, eben weil er durch dasselbe gesetzt ist, und jemehr beides in eineinander ist, das durch das Ganze Gesetzsein und das im Ganzen Gesetztsein, desto vollkommener erscheint das einzelne Dasein. Wenn in einem Einzelnen etwas Vorzügliches allein ist, so daß er die ganze Masse weiter bringt, so ist das auch nur die Kraft des Ganzen, die in ihm ist; und sie ist in ihn gekommen durch die Oscillation | auch dieser höhern Kraft des Ganzen. Das wahre Leben ist erst da, wenn alle diese recht durcheinander sind, auf denen die Kraft des Ganzen vorzüglich ruht, und in denen sie mehr gleichmäßig expandirt ist.

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Achtzigste Vorlesung.

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Wenn wir nun die einzelne Seele vollkommen verstehen wollen, so müssen wir jede solche Masse als ein vollkommenes System auffassen. Wenn wir davon ausgehen: jedes Volk ist eine bestimmte Art des Bestimmtseins der menschlichen Natur, und jeder Einzelne eine bestimmte Art bestimmt zu sein durch das volksthümliche Prinzip, so muß alles, was in der Idee des Volks liegt, in den Einzelnen zusammen zum Vorschein kommen. Wie werden denn die Einzelnen zu einander stehen? Das Verhältniß der Wechselwirkung, in der wir jede einzelne Seele sehen, geht uns dann zunächst darin auf, daß alle andern für sie Organe werden, um alles, was in das Gebiet der Auffassung dieser so bestimmten menschlichen Natur hineinfällt, von allen aus jedem Einzelnen und von den Einzelnen allen mitzutheilen. Dieses so Mitgetheilte muß [sich] aber, um aufgenommen zu werden, durch die Persönlichkeit des Mittheilenden entäußern, um in die Persönlichkeit der andern einzugehen, und diese Mittheilung ist niedergelegt in der Sprache. In der Sprache ist der ganze Volkscyclus, und indem man | darin etwas mittheilt erlöscht gleichsam das Persönliche. Was aber jeder aus der Sprache empfängt, wird ihm durch seinen persönlichen Typus umgestaltet, wird ihm mehr oder weniger Bild, und so entsteht dann eine 32 die] der

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Konstruktiver Teil, 79. bis 80. Stunde

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allen gemeinsame Art und Weise die angeborne Idee der Welt im Einzelnen auszuführen, die doch in jedem Einzelnen wieder so sehr eine besondere wird, als sie in der Sprache als eine relativ universelle erscheint. Jeder einzelnen Seele ist aber auch eingeboren eine Idee von sich selbst, die auch zur Klarheit übergeht durch alle Actionen, worin das Ich zum Vorschein kommt; aber die persönliche Eigenthümlichkeit des Einzelnen ist ein im Bewußtsein vollkommen niemals Erreichbares, und sie muß deßwegen immer zugleich aufgefaßt werden von jedem Einzelnen in ihrem Gegensatz zu den übrigen. Die Auffassung der Einzelnen muß also dadurch geschehen, daß die andern Individuen für ihn Organe werden, damit er im Gegensatz mit ihnen seine Eigenthümlichkeit auffaßt. Hiezu muß kommen daß jeder allmählich durch die Vergleichung einzelner Lebensmomente zum Bewußtsein | dessen kommt, was allen identisch ist, und das Festhaltenwollen der eigenen Lebensmomente und das Eindringenwollen in die Lebensmomente anderer ist bloß ein Sichselbstsetzenwollen. Dieses ganze Dasein des Einzelnen ist also bedingt durch ein solches System. Man könnte sagen: es sei bloß bedingt durch das Zusammensein mit mehreren ohne ein Volk zu sein. Aber dann wäre keine andere Beziehung als zwischen dem Einzelnen der ein unendlich Kleines ist und zwischen dem Unendlichgroßen aller Menschen. Dazwischen würde aber ein wesentliches Mittelglied fehlen, und man kann das Unendlichgroße überhaupt nur in einer unbestimmten Vielheit auffassen, und das ist ein Volk. Die Freiheit des Einzelnen besteht darin, daß er die Idee der Welt, wie sie ihm angeboren ist, nach Anleitung seines persönlichen Typus in sich ausbildet. Daher der zurückstoßende Instinct der kleinen menschlichen Gesellschaften ehe sie zum höhern Bewußtsein gekommen sind. Es ist auch eine Aeußerung der Freiheit, aber in einem beschränkten Dasein. Jemehr das Bewußtsein wächst, | desto mehr sucht der Einzelne auch das unter diesen Schranken Gesetzte in sich aufzunehmen, und das ist die Richtung nach dem allgemeinen Menschlichen. Aber in Beziehung auf das Allgemeine kann sich der Mensch nicht so frei fühlen. Keiner kann mehr werden in Beziehung auf sein Volk, als wozu er bei seiner Geburt angelegt ist. Die Freiheit ist zwischen den Einzelnen unter sich. Wie steht es denn nun mit der Seele in Beziehung auf den Tod, auf die Auflösung der einzelnen Erscheinung? Hier muß Schleiermacher anknüpfen an ein früher Gesetztes, daß, wenn man sich das volksthümliche Princip als die größere lebendige Einheit denkt, jeder Einzelne zu diesem sich verhält, wie in dem Einzelnen die einzelnen Momente seines Bewußtseins zu seinem ganzen Dasein. Wenn wir sagen: die einzelne Seele verschwindet, indem das Band der psychischen und organischen Thätigkeit aufhört, so können wir das nur sagen in dem Sinne, daß die

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einzelnen Momente verschwinden eben wie die Identität der psychischen und organischen Function verschwunden ist; | und es ist dieselbe Ansicht, welche an das Verschwinden der einzelnen Vorstellung in der Seele, und welche an das Verschwinden der einzelnen Seele glaubt, und die Reproduction derselben vom Volk aus auch als eine neue Schöpfung ansieht. Jene Vorstellung aber, daß die einzelnen Vorstellungen nicht verschwinden, und daß ihre Reproduction kein neues Entstehen ist, sondern nur eine Veränderung des Verhältnisses im Bewußtsein; so wird eben diese Ansicht auch von den einzelnen Seelen sagen: sie verschwinden nicht, indem das Band des einzelnen Daseins aufhört, sondern sie sind auf relative ewige Weise in der intelligenten Kraft des Ganzen gesetzt. Dieses ist die Basis der Ansicht von einer Palingenesie der Seele, die wir vernünftiger Weise nur an die höhere Einheit eines Volks anknüpfen können. In dieser ist ein bestimmtes System angelegt, und indem sie ein lebendiges ist, muß dieses System immer wiederkehren, und sehen wir die Geschichte eines Volkes von vorn bis hinten, so ist alles immer aus dem ursprünglichen | eigenthümlichen System des Volkes entstanden. Hier kommen wir nun aber an einen Punct, wo diese Betrachtungsweise nicht mehr genügen kann; denn wenn wir sagen, daß ein Volk seine Entwickelung durchmacht, so setzen wir es als ein Werdendes, Entstehendes, wo es einen Culminationspunct giebt, also auch als ein Vergehendes mit seinem ganzen eigenthümlichen System. Was wir also von der einzelnen Seele gesagt haben, müssen wir auch von dem lebendigen Princip, welches der Keim des Volkslebens ist, sagen. Sehen wir die einzelne Seele als ein schlechthin Verschwindendes an, so müssen wir auch diese höhere Einheit des Lebens als ein Verschwindendes ansehen, und wir müssen dann sagen: wie die Existenz der Seele nur im einzelnen Moment ist, so ist die Existenz des Volkes nur im Vergehen der Einzelnen. Sagen wir, daß die einzelnen Vorstellungen nicht verschwinden, sondern in einem bleibenden Dasein die einzelne Seele constituiren, so verschwindet auch die einzelne Seele nicht, sondern hilft das bleibende Dasein der Volksthümlichkeit constituiren; und dann | verschwindet auch dieses nicht, sondern hilft das Leben der ganzen menschlichen Natur constituiren. So würden wir also auf eine größere Weise zum System einer Palingenesie kommen und sagen: das Geborenwerden und Sterben sind nur Puncte, welche uns die Oscillation, den Puls im geistigen Dasein der Erde bezeichnen. Wir werden dann sagen: jede einzelne Seele ist auf ewige Weise in das Volksthum gewurzelt, und jedes solches wieder auf eine ewige Weise in der gesammten menschlichen Natur. Das Vergehen ist nur die zeitliche Form dieses Ewigen und Unvergänglichen. Wir wollen noch weiter gehen und sagen: wenn wir uns nun so die Einheit des geistigen Lebens in der Idee der menschlichen Natur

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vergegenwärtigen, so muß uns diese erscheinen als dasjenige, wenn die ganze ideale Seite unseres Weltkörpers aufgeht, weil es eine höhere Stufe des intelligenten Daseins nicht giebt als den Menschen. Denken wir uns also die ganze Erde im Gegensatz des Idealen und Realen, so ist die menschliche Natur in | dieser Oscillation die Totalität des geistigen Lebens der Erde. Wenn wir uns die Vorstellung von Geist und Materie in dieser Beziehung vergegenwärtigen, so werden wir doch sagen müssen: sie haben kein anderes Verhältniß und keinen andern Sinn, als: wenn wir Materie sagen, so denken wir uns das Reale abstrahirt von allem Geist, und eben so wenn wir sagen Geist, so denken wir das Ideale, abstrahiren aber von allem Ineinandersein des Idealen und Realen. Nun ist beides aber immer zusammen. Der Geist ist immer als Seele gegeben, d. h. in der Einheit mit dem Realen, die Materie immer als Leib, d. h. zusammen mit einem Idealen. Die menschliche Seele in ihrer absoluten Einheit muß also die höchste Beseelung der Erde selbst sein. Die niedrigste Beseelung der Erde ist das rotirende Prinzip in ihr, was sie in Bewegung setzt. Die zweite Stufe in der Beseelung der Erde ist das organische Princip überhaupt, die lebendige Gestaltung in den Pflanzen und [der] Thierwelt, wo das Ideale heraustreten will, aber in der Unvollkommenheit | der Gestaltung zurückgehalten wird. Der Mensch ist die höchste Spitze der Beseelung der Erde. Da tritt der Geist soweit heraus, als es einem Weltkörper möglich ist, und in allem zusammen, was daraus entsteht, ist das Selbstbewußtsein der Erde. Wir müssen nun sagen, daß in der Idee der Erde selbst, so als ein Begeistetes aufgefaßt, schon alle jene Typen, unter welchen die menschliche Seele zum Vorschein kommt, prädeterminirt sind. Und so können wir uns mit dem Gedanken befreunden, daß diesen ursprünglichen Typen der Seele die ursprünglichen Typen des organischen Leibes vollkommen entsprechen, ohne daß wir die Seele als abhängig vom Leibe setzen, vielmehr von unserer [Ansicht] aus davon ausgehend, daß die Seele erst den Leib bildet. Aber eines ist das Maaß des andern, eins durch das andere bedingt. Fragen wir uns nun aber, ob wir dadurch die Ansprüche, welche der Mensch nun macht erfüllt fühlen? so werden wir allerdings wol sagen müssen: nein. Denn wenn wir fragen: was in dieser | Hinsicht von dem innern Wunsch und Bestreben aus, dem doch immer eine Realität zum Grunde liegen muß, von der poetischen und religieusen Seite hervorgebracht ist, so liegen doch höhere Vorstellungen darin, als daß der Mensch bloß will in der Einheit mit allen Menschen das Selbstbewußtsein der Erde vorstellen. Indem wir aber nichts anderes haben, woraus wir die menschliche Seele erklären können, als nur aus der menschlichen Natur in diesem ihrem irrdischen Leben; so müssen wir den Grund der höhern Anforderung der Seele, ohne darüber ent-

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scheiden zu wollen, denn das können wir nicht, aus ihrer eigenthümlichen Natur begreifen. Wir begreifen aber den Menschen nur auf der Erde und für die Erde. Was kann der Mensch von der Erde und für die Erde anders sein wollen als das vollkommene Selbstbewußtsein der Erde? Daß darin nicht bloß das Irrdische eingeschlossen ist, sondern daß das Bewußtsein des absoluten Grundes auch zum Bewußtsein der Erde gehört, ist nicht erst nöthig zu erklären. Die religieuse Seite des menschlichen Lebens ist von dieser Idee vollkommen | mit eingeschlossen. Von dieser Seite wäre also an der aufgestellten Idee nichts auszusetzen. Was ist es denn nun, worin die Vorstellungen der Menschen über diesen Gesichtskreis hinausgehen? Wenn wir die Masse der poetischen und religieusen Vorstellungen betrachten, so finden wir ein Bestreben darin, den Menschen von der Erde loszureißen. Dies ist nun sogar in den ältesten mythologischen Productionen, denn da schwankt die Seele über ihrem künftigen Wohnsitz; es ist darin nur ein Minimum des Erhebens über das absolute Verschwinden, eben weil die Vorstellung des künftigen Lebens nur ein Schattenleben ist. In den neuern Productionen, besonders von den christlichen ist dies Losreißen von der Erde nicht mehr ein unsicheres, sondern es ist völlig ausgesprochen, aber in der Ausführung ist es ein unsicheres. Denn was liegt in dem Wort Himmel Sicheres? Aber die Vorstellung ist fest und bestimmt geworden. Wir finden also auch hier eine Entwickelung. Worin hat nun dieses seinen Sitz in der menschlichen Natur? Woraus können wir dies Streben begreifen? |

Ein und achtzigste Vorlesung. Hat nun die Seele noch eine höhere Bedeutung außer dieser tellurischen? Wir müssen sagen: die Erde selbst hat kein rein selbstständiges Dasein, und darin liegt die höhere Bedeutung derselben, die über sie selbst hinausgeht. Wir können nur an das Höchste anknüpfen. Die Erde ist nicht für sich allein, sondern in ihrer Gemeinschaft mit der Sonne. Die Sonne ist mitwirkendes Princip zu allem Leben auf der Erde. Schon die Pflanze ist ja gemeinschaftliches Kind der Sonne und der Erde. Ihre Wurzel ist in der Erde und ihre Blüthe streckt sie nach der Sonne, und so wie es eine Sehnsucht nach der Sonne ist, ist es auch eine Wirkung der Sonne. Das Leben unter der Oberfläche der Erde, wo die Einwirkung der Sonne sehr schwach ist, ist am geringsten. Das einzelne Leben ist gestorben und wir finden nur die christallinischen Gestalten, denen aber auch noch das Licht eingeboren ist. 11 hinausgehen?] hinausgehen.

21 Sicheres?] Sicheres.

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Gehen wir so von unten herauf, und finden Licht und Leben zunehmend in dem Maaß, als wir die Gemeinschaft der Sonne und der Erde zunehmend finden, so muß auch von da erst das höhere Leben abgeleitet werden, und so ist es zu erklären, daß für die erste Jugend der Menschheit die Sonne die Gottheit selbst repräsentirt hat, und als solche ist verehrt | worden. Die Erde ist also aufzufassen für sich selbst, und dann in ihrem Zusammensein mit der Sonne. Wenn aber aus dem Zusammensein beider schon das organische Leben ausgeht, wenn, was wir am meisten der Erde allein zuschreiben, das dunkelste und todteste ist, so ist ja klar, daß auch das höhere Leben nicht in dem Alleinsein der Erde bestehen kann, sondern in ihrem Zusammenhange mit etwas anderem, wozu die Sonne das nächste ist. Dies spricht sich im unmittelbaren Bewußtsein des Menschen aus. Das Gefühl ergreift dies am unmittelbarsten, die Anschauung begreift es in seiner Abstufung, und der ganze Kampf der religieusen und speculativen Anschauung in dieser Hinsicht ist bloß der Kampf zwischen dem unmittelbaren Ergreifen im Gefühl und dem stufenweisen Anschauen. Der religieuse Mensch findet nicht eher Ruhe, bis er alles von Gott selbst ableitet; die Speculation sucht dasselbe, aber in den natürlichen Abstufungen und begünstigt darum nicht diesen Flug, sondern verweilt etwas länger im irrdischen Gebiet, | als es jenem Gefühl gut scheint. Wenn sie nun in ihrem Streben das Leben in seinen kosmischen Abstufungen zu verstehen gegen die Religion streitet, so ist das nur ein Mißverstand, aus welchem das Verworrene und Negative auf dem religieusen Gebiet wie auf dem speculativen entsteht. Die negative und verworrene Philosophie, die da meint, den Menschen auf der Erde nicht construiren zu können ohne von allem andern abzubrechen, und das verworrene religieuse Gefühl, das da meint, nur rein bestehen zu können, wenn es alles Gesetzmäßige leugnet, beide sind Verirrungen. Aber in der Wissenschaft ist eben sowohl begründet das Leben nicht in der Erde zu suchen, und im religieusen Gefühl ist eben so wohl begründet, das Gesetzmäßige anzuerkennen. Wenn wir also gar nicht zu demjenigen kommen durch die Erfahrung, was sich in dem religieusen Bestreben unmittelbar ausspricht, so müssen wir das nur richtig verstehen, und uns genügen lassen an dem, was wir finden. Wir müssen es also als nothwendig ansehen, daß der Ursprung und Quell des | Lebens einen überirrdischen Factor nothwendig in sich trägt, aber wie dieser zu vermitteln sei, darüber kann die wissenschaftliche Seite nichts festsetzen, als daß die Abhängigkeit der Erde von dem ursprünglichen Grunde alles Seins, und die Gemeinschaft der Erde mit aller Production des ursprünglichen Grundes, vermittelt ist durch die Abhängigkeit der Erde von der Sonne, und durch die Gemeinschaft der Erde mit allen von der Sonne abhängenden Körpern.

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Jemehr sich also diesem die Erkenntniß hat nähern wollen, hat es hierin den Quell des geistigen Lebens des Menschen und seine überirrdische Bestimmung gesucht. – Was wir kennen von dem Geist ist gerade, daß er der ideale Spiegel der Erde ist. Wie in unsern geistigen Operationen nothwendig gesetzt ist der relative Gegensatz des Besondern und Allgemeinen, worin all unser Thun versirt, haben wir doch keinen Grund, das als allgemeine Form des Geistes anzusehen, sondern nur als die Gestaltung der Erde abbildend. Ob das Dasein anderwärts auch diesen Gegensatz entfaltet, können | wir gar nicht wissen, und wir haben gar kein bestimmtes Recht es voraus zu setzen. So wie dieser Gegensatz auf der unvollkommenen Abstufung verschwindet, denn da giebt es keine Gattung und also auch keinen Gegensatz der Art; und wenn auf der vollkommenen Stufe der Gegensatz auch wieder verschwindet, denn beim Kunstwerk soll das Allgemeine und Besondere Eins werden, so müssen wir also sagen, daß der Gegensatz nur auf der Erde ist, denn wie er vor uns steht, ist er eingeschlossen in diese Grenzpuncte der irrdischen Production. Wenn also die irrdische Seele nur ein relativ für sich Gesetztes ist, so ist das rein aus diesem Gesetz genommen, daß wir nur als immanent für die Erde zu setzen haben, womit auch die tellurische Bedeutung der Erde ausgesprochen ist, und wir müssen es dabei vollkommen freilassen, ob sie noch eine höhere Bedeutung hat, die sich in der religieusen Stimmung ausspricht. Dies müssen wir rein stehen lassen. Wir können es nicht negiren, aber auch auf wissenschaftlichem Wege nicht produciren. Wir müssen | nur anerkennen, daß es im innersten Selbstbewußtsein des Menschen ruht, und daß wir es als Irrthum nicht darlegen können, außer wenn wir alle Erkenntniß auflösen wollen. Denn leugnen wir jenes als einen Irrthum, so lösen wir allen höhern Zusammenhang, und haben bloß ein unendlich kleines Dasein, niemals ein Ganzes, das doch jeder verlangt. Es ist in unserm Selbstbewußtsein und das reicht hin, denn unser Selbstbewußtsein ist die Quelle aller Wahrheit. Wissenschaftlich demonstriren können wir es aber nicht. Die irrdische Bedeutung der Seele können wir zur vollständigen Anschauung bringen; wenn wir die irrdische Welt vollkommen verstehen, und beides geht in einer sich gegenseitig vervollkommnenden Approximation fort. Danach können wir streben, weil wir dazu die Wege haben. Aber die überirrdische Bedeutung der Seele zu verstehen, dazu haben wir den Weg nicht. Wollten wir sie absolut begreifen, so müßten wir die Gottheit selbst begreifen. Aber hier ist die höchste Verständigung, | die wir haben können, daß wir zwar ein Selbstbewußtsein von Gott haben, aber ihn nie absolut begreifen können. Das ist aber nicht zu leugnen, daß jemehr wir die Erde selbst verstehen, desto mehr Elemente sich entwickeln müssen,

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die Erde in ihrer Abhängigkeit von andern Körpern zu erkennen, und damit finden wir auch offenbar Elemente, die überirrdische Bedeutung der Seele zu verstehen. Dadurch entsteht die interessante Frage: worin haben wir denn am meisten die Anleitung zu dem uns möglichen Verständniß der überirrdischen Bedeutung der Seele zu suchen? Jemehr man die überirrdische Bedeutung der Seele nur als ein Mittel ansieht, die irrdische desto vollkommener zu verstehen, desto mehr hält man sich an dasjenige, was das Gesetzmäßige, das Begreifliche in der Seele ist. Jemehr man die irrdische Bedeutung der Seele nur als Minimum ansieht, desto mehr erscheint einem das Gesetzmäßige in der Seele, was die Erde in ihr abbildet als das Unbedeutendste und man forscht nach dem Geheim|nißvollen. Es giebt hier Extreme, von welchen wir schwerlich Fortschritte zu einer höhern Stufe unserer Selbsterkenntniß erhalten werden. Wenn wir immer nur suchen das Mathematische in der Seele zu begreifen, das Quantitative, das Irrdische, die Größenerkenntniß davon, wenn wir die Erscheinung der Seele durchaus dem Calculus unterwerfen wollen, so werden wir auf diesem Wege auch weiter kommen, aber nur sehr wenig, und wenn sich auch auf diesem Wege Elemente aufthun, der überirrdischen Bedeutung der Seele auf die Spur zu kommen, so werden sie denjenigen nicht klar werden, welche die Elemente auffinden. Wenn wir aber diese Seite vernachläßigen, und uns allein auf das Verborgene legen, so werden wir dieses auch nicht ergründen; denn auf diesem Wege wird man niemals zu einer reinen Überzeugung kommen. In diesen Extremen ist also die tiefere Erforschung der Seele nicht zu erwarten, sondern in der Entfernung von ihnen, und die Formel ist: daß wir das Gesetzmäßige in der Seele nur zum Hauptgegenstand | machen, daß man es aber immer soweit verfolge, wo es in die innerste Tiefe eingreift; daß man ferner auch die überirrdische Bedeutung der Seele zum Hauptgegenstand der Forschung mache, aber nie ohne an das Gesetzmäßige anzuknüpfen. Unsere Untersuchung ist nach erster Art gewesen, wir sind von der Anschauung der einfachsten Formen unseres constanten Lebens ausgegangen. Das andere haben wir nur berührt, wo wir es an den Grenzen und an den Übergängen dieser Functionen gefunden haben. Es ist auch in der That hier noch nicht soviel vorhanden, daß man eine regelmäßige Forschung anstellen könnte. –

Zwei und achtzigste Vorlesung.

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Aber das bleibt immer die Hauptsache, daß man die Einheit festhalte, und suche zwischen dem, was in der Erscheinung gegeben ist, und dem, was man noch sucht. Es ist auch hier ein entgegengesetztes Be-

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streben in der Geschichte der neuern Psychologie nicht zu verkennen. Es giebt eine Methode die alles in Gesetze aufzulösen strebt, aber sie muß unter bekannten Namen immer das Unerkannte unterbringen, und das große Wort ist | da die Phantasie. Da steckt man alles hinein, und macht sie zum Ort einer absoluten Verwirrung. – Die andere Theorie ist, daß das ganze gesetzmäßige Verfahren der Seele nur als Minimum angesehen wird, und wo geradezu nur auf das Geheimnißvolle Werth gelegt wird. Diese zeigt ihre Unbrauchbarkeit dadaurch: 1) daß sie den Unterschied zwischen Kleinem und Großem aufhebt, alles Maaß vernichtet, und das Größte der Seele; sobald es die Form der Gesetzmäßigkeit an sich trägt, für das Kleinste ansieht; und 2) daß sie alle Forschung verschwächt und als Minimum ansieht, weßhalb sie auf einem unendlichen Felde umherirrt, bloß geleitet durch eine zügellose Sehnsucht. Unsere Methode begegnet beiden Extremen. Haben wir einmal das bestimmte Gefühl, daß die Seele nicht bloß ein irrdisches Wesen ist, daß sie nicht allein aus der Erde, wenn diese für sich gesetzt ist verstanden werden kann, so müssen wir so wie sich hier ein Gegensatz bildet uns ja hüten, daß er sich nicht zu einem absoluten gestaltet. Das beste Mittel ist, daß man sich darin verständige, daß dieses Gefühl sich gar nicht auf die Seele allein | erstrecken sollte, sondern daß wir es von allem andern auch haben müßten; denn es ist doch eigentlich dieses, daß die Erde auch nicht aus sich selbst verstanden werden kann, daß also die Naturgeschichte auch ihre transcendente Seite haben muß wie die Psychologie. So wie man sich in dieser Betrachtungsweise festsetzt, so kann die freilich sehr große Sprünge herbeiführen in der Naturforschung, wie dies in der sogenannten Naturphilosophie vorgekommen ist, und es ist eine starke Neigung, dies in die Psychologie überzutragen. Wo nun eine gesunde Forschung ist, da wird sich die empirische Seite zugleich festsetzen, um ein Gegengewicht zu bilden; und dadurch fallen sie so auseinander, daß sie nicht zusammengehören und dadurch verräth sich die Unwissenschaftlichkeit. – Wir müssen festhalten, daß wir das in der Erfahrung Gegebene nicht verstanden haben, wenn nicht die Beziehung auf jene die Erfahrung übersteigende Lebensthätigkeit mitgesetzt ist. Wir können uns dies anschaulich machen an zwei Puncten, die in unserer Betrachtung auch vorgekommen sind, und die sich hier berühren. | Der eine ist das chaotische Spiel der Seele, der andere ist der entgegengesetzte Zustand, den wir Begeisterung nennen. Wir wollen diese noch einmal betrachten. Wir haben von dem ersten gesehen, daß er immer in dem Maaß eintritt als eine energische Bewegung der Seele zurücktritt, als 9 Großem] Großen

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sie entweder gar nicht in einem bestimmten Zustand von Auffassen und Darstellen begriffen ist, oder auch eben als etwas in solchem Zustande noch von dem Quantum ihrer Kraft unerfüllt bleibt. Wenn wir von der relativen Einheit von Seele und Leib ausgehen, so giebt sich dieser Zusammenhang erst recht stark zu erkennen im Zustand der energischen Bewegung und daß dieser höchste Grad des Sichselbstsetzens der Seele ebenso gut ein quantitativ als ein qualitativ Bestimmtes ist. Das chaotische Spiel der Seele aber ist weder ein quantitativ noch ein qualitativ Bestimmtes. Es entwickeln sich da oft Vorstellungen, die in gradem Gegensatze sind mit allen, die in dem ganzen Zustande der energischen Thätigkeit den Menschen characterisiren. Man sieht dies an als etwas Fremdes, was mehr in den Menschen hineinkommt als | sich in ihm erzeugt; daher die Phantasie von dem Einwirken fremder Geister sich besonders an dies chaotische Spiel hält. Was ist das nun? Es ist das Aufhören des qualitativen Bestimmtseins, das Zurücktreten des Individuellen und das Hervortreten des Universellen, in welchem Zustande der Einzelne eben so gut jeder andere sein kann als er selbst. Er ist es aber nur in einem Scheinleben, nicht in einem realen, und wenn man ein Schattenbild fremder Leidenschaften in sich spielen sieht, so weiß man doch bestimmt, daß dies nicht in die energische Thätigkeit der Seele hineingehen kann. Dies ist in sofern eine Erscheinung, in welcher das einzelne Fürsichgesetztsein der Seele vermindert erscheint; es ist die allgemeine Seele, die sich in dem Gebiete der einzelnen Seele unter der Form einer bestimmten einzelnen Seele regt. Aller Character und alle Eigenthümlichkeit des Menschen tritt nur völlig heraus in der völlig bestimmten Thätigkeit, und jemehr sich diese zurückzieht, thut sich die Möglichkeit hervor auf jede andere Weise bestimmt zu werden, und das ist die allgemeine | Seele die sich gegen alle Bestimmtheiten gleichgültig verhält. Dies geht aber nicht über die rein irrdische Seite der Seele hinaus. Es knüpft sich aber die Beobachtung daran; daß alles, was über die irrdische Bedeutung der Seele hinauszugehen scheint, zugleich in diesem Gebiete liegt, aber offenbar vermöge einer andern Beziehung. Nämlich die energischen Bewegungen der psychischen Function sind auch die stärksten Aeußerungen von der tellurischen Kraft der Seele, entweder der Welt ihr Selbst einzubilden, oder die eigenthümliche Bestimmtheit des idealen Princips, das Eigenthümliche in der Welt darzustellen. In der Pulsation zwischen beiden ist das irrdische Dasein der Seele gesetzt. Das Zurücktreten hievon ist zugleich das Zurücktreten dieser irrdischen Kraft der Seele. In dem Maaß als diese zurücktritt ist auch möglich, daß einzelne fragmentarische Aeußerungen des Höheren heraustreten kön24 einzelnen Seele] einzelnen Seele sich

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nen. Wenn wir diese Beziehung nicht so gut verstehen als jene, so muß noch vieles im empirischen Gebiet der Seele dunkel bleiben. Wir führen nur Eins an: Warum nimmt denn die religieuse Richtung | so leicht den Abweg, den Menschen aus der gesunden Thätigkeit des irrdischen Lebens herauszureißen, und in ein ruhiges aber immer auch lebloses Brüten hinein zu versenken? Dabei liegt offenbar das Gefühl zum Grunde, daß eben die ursprüngliche höhere Bedeutung der Seele, auf deren Wahrnehmung die Religion gerichtet ist, nur wahrgenommen werden kann in dem Maaß, als das Irrdische zurücktritt; weil der Mensch das Bewußtsein der höhern Bedeutung der Seele nur haben kann als eine Voraussetzung seines Daseins, wie er das Bewußtsein Gottes nur haben kann als eine Voraussetzung seines Wissens und Erkennens. Beides in einem bestimmten Bewußtsein aufzufassen ist irrig. Das eine liegt nun zwar in unserm Bewußtsein, aber doch jenseits unseres Daseins, also kein Bewußtsein einer eigenen That, sondern bloß das Bewußtsein eines Ereignisses, worauf gewartet wird, und darum nennen wir das Leben ein thatenloses. Sehen wir auf den Zustand der Begeisterung. Dieser gehört immer dem Gebiete der Kunst an, nur im weitesten Sinne des Wortes: | das Gestaltenwollen, was, vom Bewußtsein ausgeht, denn das ist der weiteste Sinn des Wortes. So wie nun im chaotischen Spiel das Individuelle am meisten zurücktritt, so daß es in Beziehung auf die Individualität als ein Negatives angesehen werden kann, so ist in dem Zustande der Begeisterung die höchste Individualität; denn was in der Begeisterung von einem producirt wird, würde nicht eben so von andern producirt sein. Aber der Zustand der Begeisterung, eben weil er eine Reihe von energischen Bewegungen anfängt, kann nicht mitten in die energischen Bewegungen hineingesetzt werden, dieser ist also da, wo jene negirt sind, das ist, da tritt das chaotische Spiel hervor, aus welchem die Begeisterung hervortritt. Das Maximum tritt also aus dem Nullpunct hervor, und das ist ein Beweis, wie das Besondere sich aus dem Universellen erzeugt. Wenn die Seele aufgeregt gewesen ist, von einer angestrengten Bewegung, so muß sie in das Universelle zurücktreten, um aufs neue eine eigenthümliche zu werden. Indem wir beide Puncte combiniren, | können wir auf die bestimmteste Weise begreifen, wie wir die Seele nur relativ für sich setzen können. Nun müssen wir sagen: dies geht auch nicht über die irrdische Bedeutung der Seele hinaus, denn was sie in der höchsten Begeisterung anlegt, ist doch immer nur eine irrdische Gestaltung; in der Kunst, im bürgerlichen Leben und in der Wissenschaft. Aber auf der andern Seite werden wir sagen müssen: wie alles das jenige, worin uns als in einer abgerissenen Erscheinung die höhere Bedeutung der Seele hervorstrahlt, allerdings im chaotischen Spiel der Seele seinen Ort hat, so hat es doch seinen

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Theil in der bestimmten Form des Zustandes der Begeisterung, nicht eben daß es unmittelbar productiv wäre, denn in der Productivität kann nur das Irrdische zum Vorschein kommen, sondern so, daß ein neuer Anfang, eine neue Reihe entsteht, welcher Anfang, wenn auch nicht nach außen, doch nach innen productiv ist, indem er die Seele mit einem neuen höheren Bewußtsein sättigt; denn in solchen Zuständen kommt die höhere Bedeutung der Seele am meisten zum Vorschein. Der Zustand geht nun bald vorüber, und nur der Glanz davon bleibt, | der nachher auch in die Productivität übergeht. Der Gegensatz zwischen dem Zustande des chaotischen Spiels, der eine Abspannung ist, und zwischen dem Zustande der Begeisterung, der der Anfang einer neuen Reihe von Thätigkeiten ist, ist noch der, daß hier nur die höhere Natur der Seele zum Vorschein kommt, nachdem die Ruhe des irrdischen Daseins dagewesen. –

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Nun wollen wir noch einmal eine Revision halten über das, was wir für die Grenzsteine einer wissenschaftlichen Betrachtung ansehen mußten, worin das Positive nicht sein kann, als das über das irrdische Dasein Hinausgehende. Was ist nun der Sinn des zweiten Theils der aufgestellten Maxime, daß man nämlich die Spuren der höheren Bedeutung der Seele immer müßte in Zusammenhang zu bringen suchen mit dem Gesetzmäßigen? Der Sinn ist der, daß wir die Grenzsteine der regelmäßigen Erfahrung und des bestimmten Wissens nie absolut setzen müssen, sondern sie immer für wandelbar erklären. So wie wir an solchen Grenzpunct gekommen sind, müssen wir sagen: | was darüber hinausliegt erscheint mir jetzt als unauffaßbar, als ein Transcendentes, es muß aber ein Immanentes darin sein, es muß also das Streben sein das Gesetzmäßige darin zu erspähen; und damit streben wir den Zusammenhang mit dem Irrdischen hervorzubringen. Das findet wiederum auf allen Gebieten statt. In der Naturbetrachtung sind wir darum so weit und so lange zurückgeblieben, weil man absolute Grenzsteine setzte. Was sind denn nun diejenigen Aeußerungen der Seelenthätigkeit, worin uns das Gesetzmäßige des irrdischen Daseins als geleugnet oder überstiegen erscheint? Wir werden sagen müssen: Wenn Vorstellungen in der Seele entstehen, welche ein Dasein aussagen, was eben in der Erde und auf der Erde nicht gesetzt ist; oder wenn Vorstellungen in der Seele entstehen, deren Gegenstand zwar auf der Erde gesetzt ist, 21 müßte] müßten

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aber die Art und Weise, wie die Seele zu den Vorstellungen gekommen ist, ist in der gesetzmäßigen Thätigkeit der Seele gar nicht zu finden. Was man nun aufweisen mag | von übernatürlichen Erscheinungen, das wird immer in eine von diesen Formeln aufgehen. Wir sagen nun: geht denn unsere regelmäßige Seelenthätigkeit gar nicht darauf aus, ein Dasein zu setzen, das auf der Erde gar nicht zu finden ist, also ein Wissen zu bereiten, das über die Erde hinausgeht? Wir können hier von zwei Puncten anfangen. 1) Können wir sagen: allerdings sind wir beständig darin begriffen, unser Wissen über das Gebiet der Erde hinaus zu treiben, aber doch immer nur von der Erde aus und an die Relation der Erde mit den übrigen Weltkörpern anknüpfend. Aber können wir sagen, daß wir bestimmte Grenzen setzen können, worin sich dies halten müßte? Wir sind schon soweit fortgeschritten in der Erkenntniß der übrigen Weltkörper und ihrer Natur, daß wir gar keine Grenze festsetzen können; und jemehr wir die Erde selbst erforschen, erweitert sich auch das Gebiet der Relationen mit den andern Weltkörpern. Dem Inhalte nach ist also jenes nicht zu trennen von dem, was noch hervorgebracht | werden kann zur Klarheit des Erkennens. Der specifische Gegensatz also zwischen dem, was aus der irrdischen Bedeutung der Seele, und was aus der höhern entsteht, geht uns also verloren, und er muß es wenn wir wollen ordentlich betrachten. 2) Können wir es uns gar wol bewußt werden, und das Bewußtsein zu entwickeln ist die Aufgabe aller transcendenten Philosophie, daß das Bewußtsein Gottes, das Setzen des höchsten Wesens, die Basis alles andern Setzens ist; und daß wir nur in dem Maaß eine klare Vorstellung haben, als mit dem Allerbestimmtesten und Kleinsten das höchste Wesen mitgesetzt ist, und das ist die Wurzel aller Thätigkeit von der Seele auf dieser Seite. Was sind denn aber die außerordentlichsten Erscheinungen der Seele, die wir am meisten auf ihre unmittelbare Natur zurückführen, als nur mit ihrem Selbstbewußtsein das Bewußtsein Gottes mitzuhaben, und da muß uns also wieder der specifische Unterschied zwischen beiden verschwinden. Es ist kein specifischer Unterschied des Inhalts zwischen unsern | alltäglichsten Kenntnissen und jenem höchsten Bestreben. Das Höchste ist also zu gleicher Zeit immer nur das tiefste Aufschließen des Irrdischen. Der höchste religieuse Zustand, das tiefste Anschauen Gottes ist bloß das Aufschließen unserer gewöhnlichsten Zustände. Wir dürfen also nicht in der Seele und im Menschen zwei Welten entgegensetzen, sondern wir müssen die Grenzsteine erweitern. Thun wir das nicht, so ist alles, was sich auf das Höhere der Seele bezieht, ein frevelhaftes Spiel, das das Dasein zerreißt, was jedesmal geschieht, wenn man einen absoluten Gegensatz macht zwischen dem Himmlischen und Irrdischen, dem Natürli-

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chen und Uebernatürlichen. Im Einssein ist die wahre Gesundheit der Seele. Jenes Zerreißenwollen ist eben Wahnsinn. Zum Schluß erwähnt Schleiermacher noch einen Gegenstand, den er absichtlich bisher vermieden, die Erscheinungen des Magnetismus. Man hat vor kurzem angefangen, sie in die psychologische Betrachtung mit hineinzuziehen. Herr Eschenmayer hat zuerst davon geredet | in einer Psychologie, aber nicht so wie es sein sollte, nicht so, daß er sich in jenes Spiel verloren hätte, sondern so, daß er sich herausgenommen hat mehr davon zu wissen, als man jetzt weiß. Er hat sich eingebildet ein Maaß der Erscheinungen zu haben, was er nicht haben kann. Es giebt nun auch hier eben die Extreme, die schon öfter dargestellt worden sind. Es giebt noch immer und nicht zu verachtende Menschen, welche überhaupt die Realität dieser Erscheinungen leugnen. Das ist gewiß sehr gut, daß es diese thun, das gehört in den Gang der Wissenschaft hinein. Wo sich eine neue Region plötzlich aufthut, da muß Opposition sein, und Schleiermacher warnt dagegen, solche Leute zu verrathen. Es ist zwar wunderlich Thatsachen geradezu zu leugnen, die mehr begründet sind als alle übrigen, und es ist dies eine Art von Verzweifeln oder Hartnäckigkeit. Aber man muß sie mehr im Einzelnen betrachten als im Allgemeinen. Es ist der Character der empirischen Forschung, also auch der Männer, die sich damit beschäftigen, daß sie sich | an das Einzelne halten. Man muß dies also nicht ansehen als allgemeinen Grundsatz, sondern als eintretend bei jedem einzelnen Fall. In sofern ist diese Skepsis, ob dieser oder jener Fall wirklich in dies Gebiet gehört, höchst nothwendig, und die natürliche Basis aller Critik. Auf der andern Seite ist eine Begierde, alles, was den gewöhnlichen Zusammenhang zu überschreiten scheint, als das Unmittelbare aufzunehmen. Dieses Bestreben erscheint auch als ein Nachtheiliges und höchst Gefährliches für das Fortschreiten des Wissens, und man ist aus einem entgegengesetzten Prinzip geneigt es geringzuschätzen. Aber auch dies hat von einer andern Seite angesehen etwas Rechtes und Wahres. Denn dies ist es ja, woran wir unser Wissen prüfen müssen, um zu erfahren, ob es auch gehörige Tiefe hat. Im irrdischen Dasein sollen wir das Höhere, was das Fürsichgesetztsein der Erde überschreitet, erforschen, und so muß es einen Sinn geben, der sich an den gewöhnlichen Begriffen nicht genügt, und dieser ist die Grundlage aller Speculation, und es ist dies untadelig, wenn es auf allen | Gebieten dasselbe ist. Wer das gewöhnliche Gebiet des Lebens ganz liegen läßt, und ein geheimnißvolles dar3 einen Gegenstand] eines Gegenstandes 6–9 Vgl. Eschenmayer (1816) sowie Eschenmayer (1817), S. 112–113, 232–237

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neben halten will, der ist auf einem Irrwege; aber wer das Allergewöhnlichste mit eben der Sehnsucht, das Unmittelbare zu ergreifen, erfaßt, warum soll der nicht das Ungewöhnliche mit eben der Sehnsucht ergreifen? Das wahre Fortschreiten des Wissens ist aber in keiner von beiden Arten allein, und in keinem Einzelnen, der auf der einen Seite allein steht. Das Wahre ist nur die Combination von beiden. Das eine müssen wir haben auf negative Weise als Critik, das andere auf positive, um uns den Sinn für das Höhere zu erhalten, und dieser Sinn kann sich nur nähren an dem noch Unerkannten. Das eigentlich Physiologische in diesen Gegenständen, die organischen Einwirkungen und Reactionen, die nothwendig zum Grunde liegen, kann hier nicht gegeben werden. Das Allgemeine ist, daß überall der Anfangspunct, wovon ungewöhnliche psychologische Thätigkeiten ausgehen, ein Abgeschlossensein des Organismus gegen die Außenwelt ist. Wie dieses bewirkt | wird, wovon es begründet wird, ist die Aufgabe. Von hieraus gehen gleich die entgegengesetzten Ansichten an. Die eine meint, die Seele sei nun frei, und was man habe, sei rein psychische Function; und die andere, daß es keine Abgeschlossenheit der Seele absolut geben könne, denn das sei der Tod, sondern daß es nur eine Abgeschlossenheit auf der einen Seite sei, auf der andern Seite aber ein Aufgeschlossensein, und dies organische Element müßten wir aufsuchen. Einen specifischen Unterschied zwischen Dasein, und dem, was im gewöhnlichen Leben vorkommt, brauchen wir gar nicht anzunehmen. Jede Function hat auch eine nach innen gewandte Seite, durch welche das, von der nach außen gewandten Seite Aufgenommene in die Seele kommt, und umgekehrt, das von der Seele übergeht in die nach außen gewandte Function. Schließt sich nun die eine zu, so öffnet sich die andere. Dies geht also aus der Analogie gar nicht heraus. Es ist ja allgemeine Erfahrung, daß wer recht tief speculirt nicht hört und nicht sieht, was um ihn vorgeht. Jene Erscheinung hat also ihre vollkommene Analogie. | Aber die psychischen Erscheinungen selbst in diesen Zuständen sind noch ein ganz anderer Gegenstand der Verwunderung, aber die Analogie können wir doch festhalten. Wenn in diesen Zuständen es bisweilen scheint, als ob unmittelbar das Bewußtsein des einen in den andern übergeht, so ist dies eine Erscheinung die sonst eben nicht vorkommt. Aber die Analogie ist da. Nämlich, wenn die Eigenthümlichkeit auch kein absolut Gesetztes ist, sondern wie sie ein Quantum ist, auch ein Oscillirendes, so trägt die Seele auch die Totalität aller Persönlichkeit in sich, wenn gleich nur in einem Schattenbilde, durch das Ruhen des Willens. Ist aber die Seele in dieses Universelle gesetzt, und eine Gemeinschaft zwischen zwei Organisationen gesetzt, so können wir uns ja wol denken, wie durch diese organische Vermittelung gerade in diesen universellen Zu-

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ständen, das Bewußtsein des einen in den andern kann übergehen. Man kann zwar nie das ganze Dasein des Menschen auffassen, aber für einzelne Momente finden wir | doch in der Sympathie, daß wir den ganzen Zustand des Freundes fühlen, als wäre es der unsrige; und ist das nicht die vollkommenste Analogie mit jenem? Es fehlt uns nur die physiologische Einsicht, wie weit die Einwirkung der Organisation gehen kann; und wenn wir dieses auch noch nicht begreifen, so sehen wir doch schon den Weg dazu. Die specifische Differenz verschwindet, und diese Erscheinungen werden einmal mit in das Gebiet des Wissens hineingezogen werden. – Außerdem sind das Prophetische und das Religieuse die ausgezeichnetsten Momente. Was das erste betrifft, so ist im Allgemeinen angedeutet, wie alles, was wir wahrhaft prophetisch nennen darauf hinweist, als ob der Seele gleichsam vor ihrem organischen Leben nicht nur die Idee der Welt im Allgemeinen eingeboren wäre, sondern auch die Totalität des Einzelnen, und als ob sie daraus herausgreifen könnte vor der organischen Thätigkeit. Das ist die allgemeine Formel für das Einzelne. Dies können wir nun nicht begreifen, denn alles wirkliche | Bewußtsein wird uns nur durch die Organe. Aber das Band zwischen der Gegenwart und Zukunft ist kein anderes, als das der Vergangenheit und Gegenwart; und wenn alles immer da ist, das Einzelne nur ein Wechsel des Hervortretens und Zurücktretens ist, so muß nothwendig, wie die Vergangenheit in der Gegenwart mitgesetzt ist, auch die Zukunft darin mitgesetzt sein. Die Analogie dazu ist also allerdings da, indem wir ja hieraus die natürlichen Ahnungen erklären. Eine specifische Differenz ist gewiß nicht da. Wenn einer eine bestimmte Ahnung hat von etwas mit einer Überzeugung verbunden, so trifft sie gewöhnlich ein, und das ist doch nur das Sein der Zukunft in der Gegenwart. Was das Religieuse betrifft, so soll hier noch etwas darüber gesagt werden. Was sind denn vorzüglich die außerordentlichen Erscheinungen der religieusen Richtung überhaupt? Sie kommen zu allen Zeiten so häufig wieder, sind so wenig einer bestimmten religieusen Form unterworfen, daß die flachste Receptivität dazu gehört, wenn man sie ableugnen will. | In diesen theils allgemeinen Erhöhungen des ganzen Lebenszustandes, und theils bestimmten Vorstellungen, welche sich in der Seele bilden von ihrer in den Umkreis des irrdischen Lebens nicht eingeschlossenen Existenz, da ist es am meisten, daß uns in wirklichen psychologischen Functionen das nicht durch die Erde allein bedingte Dasein der Seele zum Vorschein kommt. Das ist die innerste Wurzel unseres Daseins, und wir können es auch begreifen. Denn der ganze Erdkörper hat den einen Factor seiner Begründung außer sich. Dies kann in der Seele sich nur unter der Form der Sehnsucht offenbaren.

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Ihr ganzes Dasein ist in den Umkreis der Erde gebannt mit dem beständigen Streben darüber hinauszugehen, und mit der Nothwendigkeit auf den irrdischen Factor immer wieder zurückzugehn. Daher kann die höhere Bedeutung nur als der dunkelste Trieb, als die innerste Sehnsucht hervortreten. Aber alles was auch nur als Minimum gesetzt ist, aber auf lebendige Weise, das ist auch eines Maximums fähig. Es kann also Augenblicke geben, wo das Allerdunkelste | am meisten hervortritt, und das ist der Begriff der Extase, die wir zugestehen müssen, weil wir sie nicht ableugnen können, die orientalische sowenig als die christliche und als alle übrigen. Das Zurücktreten auf der andern Seite ist damit nothwendig verbunden, weßhalb Paulus, dieser besonnene Mann, sagt: „ich weiß nicht, war ich im Leibe oder außer dem Leibe“. Aber ein völliges Losgerissensein vom Leibe haben wir keinen Grund anzunehmen. Wenn dies nun im Allgemeinen nicht zu leugnen ist, warum wollen wir es leugnen beim magnetischen Prozeß? Daß aber auch hier das Ueberirrdische an das Irrdische gebunden ist, geht ja daraus hervor, daß alle solche Zustände immer die bestimmte Form haben, welche der ganze irrdische Umfang der Seele angenommen hat, denn vor dem Christenthum ist niemandem das Christliche erscheinen, und ein Christ hat nie heidnische religieuse Zustände. Wie wir gesehen haben, daß dies Hervortreten des höhern Bewußtsein ins | wirkliche bedingt ist durch das Zurücktreten der eigenthümlichen Kraft der Seele, und das Universelle erst hervorgetreten sein muß, so erscheint jenes immer im Bilde der Universalität. Was ist denn für ein Unterschied, der im religieusen Bewußtsein gemacht wird zwischen der Vernunft und dem göttlichen Geist, und der gemacht wird zwischen jedem andern Menschen und zwischen dem Sohn Gottes? Im Allgemeinen kommt diese Idee in allen Religionsformen vor. Was ist darin ausgedrückt? Wenn wir den ersten Ausdruck, dessen Schleiermacher sich immer enthalten hat, denn es ist wenig von Vernunft vorgekommen, betrachten, was ist denn damit gemeint? Offenbar meinen wir damit die ganze Seele, aber nur wie sie in ihrem gesetzmäßigen irrdischen Dasein ist, und wenn der Mensch gesetzmäßig handelt, so handelt er vernünftig; und das ist die ganze Fülle der darstellenden Kraft der Seele, wie alle Menschen als identisch gesetzt werden, aber auf den irrdischen Factor | bezogen; und sowie einer ganz und gar durch die Vernunft gebildet ist, so ist in ihm die höchste Vollkommenheit in der irrdischen Vorstellung und Darstellung. Daß 8 Extase] doppelt unterstrichen 11–13 2. Korinther 12,1–5

19 niemandem] niemanden

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aber die überirrdische Bedeutung in diese Vorstellung mit hineingehe, ist nicht damit gesetzt; und wenn nun das Bewußtsein ein Höheres verlangt, was ist es, als das Göttliche selbst; und was meint man mit dem heiligen Geist anderes, als daß das Überirrdische der Seele das leitende Princip in allem sei. Je mehr nun in allen Handlungen die bloße Gesetzmäßigkeit zum Vorschein kommt, desto mehr werden sie der Vernunft zugeschrieben, jemehr das Unmittelbare zum Vorschein kommt, desto mehr wird es dem Göttlichen Geist zugeschreiben. Es ist das Hineintretenwollen des Höhern in das Leben, das Zurückgehen der Seele in ihre innerste Tiefe, die Sehnsucht des Menschen sich mit Gott zu vereinigen; das ist das Wesen des göttlichen Geistes, das darum ein ganz Universelles ist. | Worin finden wir denn den Unterschied zwischen allen Menschen und dem Sohn Gottes? Nur darin, daß das Bewußtsein Gottes überall bei ihm mit zum Vorschein kommt, nicht das Irrdische zurückdrängend, sondern es durchdringend und durchziehend. Je mehr sich dies mit den energischen Bewegungen des Menschen verbindet, desto mehr tritt die Sehnsucht nicht als etwas Getrenntes hervor, sondern sie bildet sich dem Leben ein, und wo dies beständig ist, da ist der Sohn Gottes. Dies entwickelt sich in allen Menschen unter welcher Form es auch sei, und darin zeigt sich auf constante Weise die Nothwendigkeit des Setzens und Seins des Zusammenhanges der irrdischen und überirrdischen Seite. Das Auseinandersetzenwollen ist Zerstörung des Daseins und des Wissens. Das Bewußtsein, wie wenig in der gewöhnlichen flachen Erklärung der psychologischen Functionen des Menschen Wahrheit sein kann; und daß wir jenes beides genau verbinden müssen, dies will Schleiermacher besonders angeregt haben.

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Die Vorlesung im Sommersemester 1821 Nachschrift Eyssenhardt

Anfang der Vorlesung im Sommer 1821. Nachschrift Eyssenhardt, Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Signatur Yc 8° 32, S. 1

Seelenlehre

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nach dem Vortrage des Herrn Prof. Schleiermacher von A. Eyssenhardt. Berlin im Sommerhalbenjahre 1821. |

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Man ist immer in Verlegenheit, wenn man aus dem Ganzen des Wissens einen einzelnen Gegenstand herausgreiffen soll. Das Ganze läßt sich aber nicht voraussetzen, und dies ist eine Schwierigkeit jeder wissenschaftlichen Behandlung. Setzen wir uns in den Fall, wo uns die Voraussetzung nicht fehlte, dann hätte alle wissenschaftliche Mittheilung über das Einzelne gar keine Schwierigkeit; man könnte leicht jedem Gegenstande seinen Ort nachweisen. Daß uns diese Berufung auf einen gewissen realen Begriff der Wissenschaft fehlt, diesen Mangel theilen alle Wissenschaften ohne Ausnahme; nicht einmal die Mathematik ist frei davon, wie isolirt sie auch erscheinen möge, wenigstens da wo sie zusammenhängt mit den übrigen Gegenständen. Es hat nun noch eine ganz eigenthümliche Beschaffenheit mit dem Zweige des Wissens, mit dem wir uns jetzt beschäftigen wollen. Auf der einen Seite müssen wir sagen, daß die Lehre von der Seele bei allen andern Zweigen des Wissens vorausgesetzt wird, auf der andern Seite, daß sie offenbar das Ende derselben sei. Schlimmer als dieser Zirkel ist die Behauptung, daß die Lehre von der Seele nimmer mehr eine Wissenschaft sein könne. Dies beruht darauf, daß man sagen kann, die Seele an und für sich selbst ist nichts, es ist keine Seele an und für sich gegeben, folglich kann auch das Wissen von der Seele nichts sein als eine abgesonderte Erkenntniß. Gesetzt, wir wären alle darüber einig, was Seele sei, so würden wir uns davon keine Vorstellung machen können anders als in der Identität mit dem Leibe. Aber davon will diese Lehre abstrahiren. Dies ist nämlich die Begränzung der Psychologie. Beides zusammen pflegt man Anthropologie jenes Physiologie zu nennen. Von der letzteren gilt dann dasselbe was von der Psychologie gilt. Wir müssen nun vorläufig zugeben, daß in dem 31–32 Vgl. Göttinger Nachschrift, S. 2: „Die Kenntniß des Leibes abstrahirt von der Seele ist die Physiologie, die der Seele abstrahirt von dem Leibe die Psychologie. Wer die Psychologie leugnet, muß auch die Physiologie leugnen.“

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Maaß | wie [wir] von der Identität mit dem Leibe abstrahiren, unser Gegenstand keine Wissenschaft sein könne. Wir lassen dies nun auf sich beruhen, und kehren zurück zu dem Verhältniß unseres Gegenstandes zu den übrigen Wissenschaften. Es giebt in diesen gewisse große Schranken, an die wir uns halten müssen. Wir gehen dabei am besten auf das klassische Alterthum zurück als die Grundform. Die Alten theilten alles Wissen in Dialektik, Physik und Ethik. Die Dialektik war ihnen eine Kunstlehre, d. h. eine Anweisung die Begriffe zu bilden und zu verknüpfen. Eine solche aber kann es offenbar nicht geben, wenn nicht die Kenntniß der Seele vorausgesetzt wird. Ein solches Wissen also wie diese Dialektik worin die Logik mitbegriffen ist, ist nichts als eine gewisse Form von Thätigkeiten, die in der Seele vorkommen. Diese Form aber kann nicht ohne die andern vorkommenden Formen begriffen werden. Die lebendige Erkenntniß ist ja immer nur die, daß ich einen Gegenstand in seiner Bewegung anschaue. Wir können also keine andere lebendige Erkenntniß von Begriffen haben als in wiefern wir ihn in seiner Bewegung anschauen, und das finden wir immer nur, in wiefern wir die Seele anschauen in dem Übergang von einem Begriff zum andern. Die Dialektik würde also ohne die vorausgesetzte Kenntniß der Seele ein todtes Bewegen von Formeln sein. Aber auf der andern Seite, wie sollen wir zur Kenntniß der Seele kommen ohne Dialektik? Wir müssen uns der Thätigkeit in ihrem Geschiedensein zugleich in ihrem nothwendigen Ineinandersein bewußt werden; und wie kann dies ohne die Regeln der Dialektik geschehen? Somit ist dies ein Zirkel, jedes setzt das Andere voraus. Ebenso ist es nun mit den andern Hauptzweigen des Wissens. Wenn wir die Physik betrachten, so ist offenbar, daß wir von der | Natur immer nur wissen durch die Thätigkeit unserer Seele. Wenn wir betrachten, wie auf dem Naturgebiete so verschiedene Systeme auf einander gefolgt sind, so muß man doch sagen, dies hätte nicht geschehen können, wenn man über die Thätigkeiten der Seele einig gewesen wäre. Das Übergehn vom Irrthum zur Wahrheit und umgekehrt kann nur seinen Grund haben in der mangelhaften Kenntniß der Seele. Auf der andern Seite aber ist der Mensch in der Identität von Leib und Seele, in der er nur erkannt werden kann, ein Theil der Natur; und jede Kenntniß der Natur muß mangelhaft sein welche nicht in der Konstruktion des Menschen als des Höchsten in der Natur endigt. 6–7 Vgl. Diogenes Laertius (1761), Bd. 1, S. 10–11; (1692), 1,17–18; Vitae philosophorum 1,13–14 10 Zusatz Göttinger Nachschrift, S. 2–3: „Wir haben die Begriffe doch nur in der Seele, und die Verknüpfungen der Begriffe sind auch nichts als Thatsachen in der Seele: Alles, was in der Form einer Anweisung, wie dieß geschehen muß, ist, | setzt diese Form in der Seele voraus, und daß es auch auf eine unrechte Weise geschehen kann.“

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Denken wir uns, es sei alles Übrige ein Zusammenhang, und den Menschen könnten wir so herausnehmen, so wäre das gar keine Kenntniß, in welcher wir weilen könnten; der Mensch ist ein Theil des Ganzen und zwar die Vollendung desselben. Ohne den Menschen kann man auch alles Übrige nicht begreifen. Der höchste Aufschluß ist nur in der Kenntniß der Seele, und so kommen wir dann hier auf dasselbe zurück; und haben denselben Zirkel. Ebenso ist es nun auch mit der Ethik. Diese hat es zu thun mit dem was von dem Menschen ausgeht, und es muß daher natürlich die Kenntniß der Seele vorausgesetzt werden. Mag man sie mehr unter der Form von Vorschriften oder unter Formeln von dem was der Mensch wirklich thut fassen, so bleibt sich diese gleich. Die ganze Ethik versirt in dem Gegensatz des Vollkommenen und Unvollkommenen im Menschen und sie geht, in dem sie diesen Gegensatz aufheben will, eigentlich darauf aus, den vollkommenen Menschen zu konstruiren. Betrachten wir den Menschen aber in seiner relativen Unvollkommenheit, so kann sein Wissen um sich selbst auch nur ein unvollkommenes sein, das vollkommene ist nur im vollkommenen Menschen gegeben, und so ist denn die Seelenlehre bedingt durch die Ethik, welche uns den vollkommenen Menschen konstruirt. So finden wir also auch hier die Seelenlehre theils als Voraussetzung theils als letztes Resultat. Die Seelenlehre müssen wir also theils als letzte Spitze | theils als allgemeine Basis [ansehen]. Beides aber kann sie nicht auf gleiche Weise sein, und um diese zu unterscheiden, kommen wir wieder zurück auf jene Schwierigkeit, die Seele von der Identität des Leibes zu isoliren. –

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Beide aufgestellte Fragen stehn in genauer Beziehung mit einander. Die Theilung ist offenbar eine bloße Abstraktion, zu welcher wir an den Endpunkten gar nicht aufgefodert sind. Wenn wir auf das Vorhergehende zurücksehn, wie die Anthropologie hier eigentlich vorausgesetzt werden muß, so kann das Wissen kein so strengeres, wissenschaftliches sein. Das Wissen des Menschen um sich selbst als das Resultat aller andern Zweige, kann dagegen unmöglich ein unwissenschaftliches sein. Es ist ferner auch ein und dasselbe mag es Resultat der Dialektik, Physik oder Ethik sein. Wir sehen also ein Wissen des Menschen um sich selbst, welches unter der Stufe des Erkennens steht, 32–33 Zusatz Göttinger Nachschrift, S. 5: „und auch nicht ein 3faches, sondern ein und dasselbe. Dieß ist wohl das, was man sich als die höchste Stufe der Erkenntniß denken kann, wo die organische Erkenntniß wieder eins wird.“

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und eines, welches auf der höchsten Stufe desselben steht. Eins stellen wir in Gedanken vor alle Wissenschaften das Andere an das Ende. Letzteres ist also ein Gewordenes. Nun löst sich der Kreis, in dem wir befangen sind eben dadurch, daß wir uns das Wissen im Werden im Bewegen denken. Jeder der andern Zweige Physik Dialektik Ethik würde für sich auch wieder ein Mannigfaltiges sein, und dasselbe Schema findet sich auf allen Punkten wieder. Was wir also zu Stande bringen können als Wissen des Menschen um sich selbst wird zwischen beiden Punkten liegen, und immer sein ein Zurücksehn auf den einen und ein Hinaussehn auf den anderen. Das vollendete Wissen um sich selbst könnten wir nur darstellen nach der Vollendung aller der verschiedenen Theile, wozu wir aber immer nur noch hinaussehn können. – So macht man z. B. einen Unterschied zwischen einem gemeinen und höhern Bewußtsein. Jenes repräsentirt unsern Anfangspunkt, dies unsern Endpunkt. Hier ist das Wissen des Menschen um sich selbst mit allem andern Wissen identisch geworden. Wir lassen den Gegensatz hier also nur als einen fließenden übrig, indem wir einen Übergang annehmen. Je mehr wir uns im Zurückgehn | dem Nullpunkt nähern, um so mehr nähern wir uns auch der Bewußtlosigkeit, in der wir aber auch nie auf einen absoluten Nullpunkt kommen können. Der Gegensatz zwischen einem niedern und höhern Bewußtsein ist also auch kein strenger, sondern nur ein fließender. Folglich liegen in jedem Wissen des Menschen um sich selbst schon die Anfänge einer wissenschaftlichen Erkenntniß allein eben so wenig können wir auch den Endpunkt als wirklich denken. Hätten wir die Prinzipien der Naturwissenschaft schon ganz rein, so müßte auch darin das Ende schon angedeutet sein. Dies ist aber ein Unendliches, und in dem Maaß immer noch Lücken sind in der Wissenschaft um die Natur in demselben müssen auch immer noch Lücken und Räthsel sein in dem Wissen des Menschen um sich selbst. Letzteres wäre also das Höchste im Gebiete der Spekulation, als alles Andere mitbegreifend. Je mehr unser Wissen um uns selbst nach dem Endpunkt hin liegt, um so mehr muß es ein spekulativer Karakter sein. Das vorausgesetzte Wissen um uns selbst ist dagegen das empirische, welches ein Bewußt3 Vgl. Göttinger Nachschrift, S. 5: „Der Uebergang aus einer Form zur anderen ist das Werden der Wissenschaft selbst.“ 4–5 Zusatz Göttinger Nachschrift, S. 5: „wodurch zugleich alle anderen Wissenschaften mit werden.“ 14–16 Vgl. Göttinger Nachschrift, S. 6: „Nehmen wir dieß vorläufig so an, so müssen wir sagen, das Wissen des Menschen um sich selbst repräsentirt dieß gemeinsame Bewußtsein, in sofern die Wissenschaft hierin negirt ist; in sofern aber das Negative der Erkenntniß darin negirt ist, werden wir einen solchen Act immer dem höheren Bewußtsein zuschreiben müssen. Das Wissen des Menschen um sich selbst als der Endpunkt aller Wissenschaft wird daher die höchste Stufe des höheren Bewußtseins repräsentiren.“

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sein aber des Spekulativen immer schon in sich trägt. Ein solches empirisches Wissen um sich selbst hat jeder Mensch; es ist die Erinnerung gewisser Zustände und ihrer Differenz. Können wir also alles empirische Wissen von sich selbst voraussetzen, als etwas, was wir hinter uns haben? Nein! Auch dies wächst uns immer noch zu. Mit dem Fortschreiten in der Naturherrschung werden z. B. auch immer neue Zustände des Menschen hervorgebracht. Zu dem Annähern an das vollendete Wissen des Menschen um sich selbst gehört daher das Fortschreiten. Hieraus können wir im Allgemeinen beantworten, wie das Wissen um uns selbst gestaltet sein muß in jedem einzelnen Theile. Mit der Entfernung von jedem Punkt müssen wir auch der noch unerfüllten Lücken und Räthsel uns bewußt sein. In dem Maaße dies geschieht, liegt darin zugleich das Prinzip der Fortschreitung. | Nun bleibt uns noch unsere ganze andere Frage, da wir nur von dem Wissen des Menschen um sich selbst, aber noch nicht von der Trennung der Seele vom Leibe gesprochen haben. – Die Physiologie hat auch niemals etwas Sonderliches eingewendet gegen die Trennung, und diese hat also ein zwiefaches Interesse. Wenn in den Thatsachen des Lebens viele sind, welche nur durch das Leibliche und Geistige zusammen konstituirt werden, so giebt es deren doch auch, welche ganz leiblich erscheinen. Alles was die innere Organisation betrifft an dem hat die Seele so gut als keinen Antheil. Der Zweck der Physiologie spricht sich in der Medizin aus, welche nämlich den Unregelmäßigkeiten abhelfen soll. Das Interesse für eine besondere Behandlung der Psychologie können wir dem weniger gegenüber nachweisen. Es giebt auch einen Zusammenhang geistiger Thätigkeiten wo das Leibliche nicht unmittelbar hineingehört. Wir nehmen den Leib an, und supponiren namentlich das Gehirn als das dabei thätige Organ, allein wir finden doch noch gar kein Mittel, diesen Einfluß genau abzuschätzen oder nachzuweisen. In diesem Gebiete giebt es nun auch Abweichungen und es besteht daher ein Interesse der Psychagogie auf dieser Seite. Wenn wir den menschlichen Leib von einer andern Seite betrachten als ein Naturerzeugniß, so ist der Mensch eigentlich die vollendete Organisation und die Physiologie der Schlüssel zur ganzen organischen Kenntniß. So nur gehen die geistigen Thätigkeiten auch hindurch durch alle Abstufungen des Lebens, und die Kenntniß als solche hat daher auch eine viel höhere Dignität, indem sie nach der Totalität strebt, und den Grund überhaupt zur geistigen Erkenntniß legen will, zu welcher der Mensch nur ein Theil ist. Daher auch das Streben, daß man die Seele gern als etwas Unabhängiges vom Leibe setzt. Wenn wir hier die Lücke ergänzen, und das ganze Gebiet des Gegenstands beschreiben könnten, so würde dazu zuerst die Kenntniß der verschiedenen Formen der Ver-

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bindung des Geistigen mit dem Leiblichen ge|hören. In ihrer Vollendung müssen Physiologie und Psychologie wieder Eins werden. Dieses nothwendigen Einswerdens beider müssen wir uns auch immer bei unserer Sonderung auf dem Wege des Forschens bewußt bleiben. Überall muß man den Punkt angeben, wo der Zusammenhang der geistigen Funktionen durch die leiblichen bedingt ist und umgekehrt.

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So könnten wir die Berichtigung einer solchen Trennung auf unserer jetzigen Stufe rechtfertigen. Nun aber kommt der weit schwierigere Theil der Frage: Wie können wir beides gegen einander abmessen? Was gehört in den einen, was in den andern Theil? Was ist Seele? Im Allgemeinen verstehn wir das, aber die Gränzen sind nicht so leicht gezogen. Allgemeine Merkmale bieten sich leicht dar. Alles was in das Gebiet des Bewußtseins fällt, rechnen wir zur Seele, alles wobei sich nur eine materielle Veränderung kundthut zum Leibe. Dies hält aber doch nicht ganz Stich. Was bezeichnen wir durch den Ausdruck Bewußtsein? Es giebt den Punkt, wo wir nicht mehr sagen können, daß es gerade das Bewußtsein sei, warum wir sie zur Seele und nicht zum Leib rechnen. Das Bewußtsein ist immer erst in der Thätigkeit des Denkens; allein das erste Entstehn finden wir im Bewußtsein nicht; diese ist ein Bewußtloses; und so geht das Bewußtsein mit dem Vergehn des Gedankens bei dem Übergang in einen anderen, auch wieder in die Bewußtlosigkeit zurück. Der erste Anfang des Gedankens ist nicht, er wird erst Bewußtsein. Ebenso ist es mit den Thätigkeiten, die wir das Wollen nennen. Wenn ich mir meines Willens bewußt bin, so ist das eine andere Aktion als das Wollen selbst. Wir kommen da an Gränzpunkte, die wir nicht bezeichnen können, denn das Wollen hat dann auch wieder seine leibliche Seite. Ist es der Leib, der den Fuß vorsetzt, oder ist es die Seele? Andere haben daher gemeint, man | müsse nicht die Thätigkeiten sondern, sondern Leib und Seele gleich an der Substanz unterscheiden, und sagen was Seele, was Körper sei. Die Seele sei ein unkörperliches, der Leib aber ein materielles Wesen. Jenes aber ist eine bloße Negation, und daher durchaus nichts Bestimmtes. Man kann dabei immer sagen: Was du denken nennst, ist auch was Materielles. Oder: Sind denn die eigentlichen Kräfte und Thätigkeiten des Körpers etwas Materielles? Diese Schwierigkeit, Leib und Seele zu ein ander zu bestimmen, zeigt sich nun auch darin, daß 24 mir] mich

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es geschichtlich nicht auf gleiche Weise geschieht. Die Alten rechneten den Ernährungsprozeß, το θρεπτικον, mit zur Seele; wobei aber mit zu beachten ist, daß ihnen ψυχη nicht ganz unsre Seele war; allein sie setzten es dem σωμα doch entgegen. Daß der Ernährungsprozeß von statten geht, hängt von willkührlichen Handlungen ab; diese werden bestimmt durch den Hunger. Auf welche Seite gehört dieser? Den Griechen ist er eine επιθυμια folglich zur Seele gehörig, und so ist es eigentlich bei uns auch. Wir müßten dann sagen, in der Seele sei nur die Wahrnehmung des Hungers. Es giebt aber etwas Anderes, was wir Appetit nennen; wir können diesen ohne Hunger, und auch umgekehrt haben. Wohin gehört nur der? Nur das innerste Bewußtsein kann beides genau scheiden, und man kann die Gränze durchaus nicht festhalten. Wir finden also die Berechtigung und den Nutzen der Trennung erkannt, allein wie wir sie voranstellen sollen, das wissen wir noch nicht. Wie wollen wir unser Unternehmen abgränzen, um einen Schematismus zu erhalten? –

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Jede Art der Psychologie stellt also den Übergang dar von dem unwissenschaftlichen zu dem wissenschaftlichen Standpunkt, der freilich nie wirklich erreicht wird; da das bloß Empirische selbst noch immer eines Wachsthums fähig ist. Wir müssen also suchen, die Seele als einen Theil | der gesammten Welt in ihrer Verbindung mit den übrigen Theilen zu erforschen. Zweitens hatten wir betrachtet das Verhältniß der Seele zum Leibe. Die Seele ist uns nicht als eine bestimmte und eigene gegeben, wir können sie nur in ihren Thätigkeiten betrachten, die theils dem Leibe, theils der Seele angehören. Die Scheidung läßt sich so genau nicht machen, wie wir auch schon gesehn haben. Es giebt keine Seelenthätigkeit, von der wir bestimmt sagen können, daß sie von allem Antheil einer leiblichen Thätigkeit frei sei. Es haben schon alte Philosophen den Unterschied gemacht zwischen Thätigkeiten, welche die Seele für sich allein, und welche sie durch den Leib verrichtet. Als jene nimmt man dann das Denken an. Damit aber hängt das Wollen zusammen. Wir können es aber gar nicht behaupten, daß beim Denken die leiblichen Thätigkeiten ganz ausgeschlossen seien. Freilich sind über die Art bloße Hypothesen vorhanden, allein wir können die Sache an und für sich haben. Alle solche Elemente 1–4 Vgl. z. B. Aristoteles: De anima 432a–b, 433b; Opera 1,403–404, 405–406; ed. W. D. Ross 77–79, 81–82 28–31 Vgl. z. B. Platon: Phaidon 65a–e; Opera 1,147– 149; Werke 3,26–29

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der Sprache, worin sich das Denken doch niederlegt, welche einen übersinnlichen Inhalt haben, (nicht durch organische Eindrücke entstanden sind,) sollen doch ein sinnlicher Gehalt sein. Diese ist schon eine viel allgemeinere Ansicht, und läßt sich bei den meisten Wörtern durchführen. Wäre diese, so müßten wir sagen, der Gedanke ist nie ganz abgerissen von der organischen Thätigkeit, die mit dem sinnlichen Eindrucke zusammenhängt. Wir können uns dessen aber auch ohne die besondere Berufung auf die Sprache bewußt werden wenn wir untersuchen, wie sich das unmittelbar und nicht unmittelbar Zusammenhängende unter dem Sinnlichen in solchen Wörtern verhält. Wir unterscheiden dabei den Begriff im engern Sinne von dem sinnlichen Bilde. Wir können nicht sagen, daß jener unabhängig sei von diesem. – Es giebt ja aber Gegenstände, die wir selbst hervorbringen, und von welchen wir dann erst den Begriff bekommen, wie z. B. alles Ethische. Alle menschlichen Verhältnisse, die sich auf das Sittliche beziehn, werden erst durch das Handeln. Allein da kommen wir doch darauf zurück, daß, da es auf das Werden ankommt, wir jede Handlung betrachten müssen als zusammengesetzt aus einem Inneren und einem Äußeren. Dies aber wird immer mehr | oder weniger bedingt durch sinnliche Eindrücke und leibliche Thätigkeiten. Es würde uns nun noch übrig bleiben, zu sagen, es gebe absolut übersinnliche Gegenstände, wie Gott und Welt. Freilich kann uns eben so wenig die Welt wie Gott sinnlich gegeben sein. Allein, wenn wir diese Resultate des Denkens vergleichen mit denjenigen, wo wir den Übergang aus dem Bilde in den Begriff verfolgen können, so finden wir doch auch hier das Bestreben, den Übergang aus dem Bilde in den Begriff hervorzubringen. Wollen wir uns den Begriff recht deutlich machen, so geben wir Bilder davon; und somit wie wir doch gestehen müssen, selbst in diesen von dem Sinnlichen entferntesten Regionen dringt doch eine Thätigkeit des Leiblichen mit ein. So wenig wir also die Gränze bestimmt zu ziehn wissen, so gewiß ist es auch, daß der Antheil des Leiblichen sich auch in die Thätigkeiten mit hineinzieht, welche am meisten davon entfernt zu sein scheinen. Die Physiologie müßte uns hier eigentlich zu Hülfe kommen. – Der Einfluß der Seelenthätigkeit auf das Leibliche ist aber ebensowenig abzuleugnen, sowohl hemmend als fördernd. (So der gute Humor auf die Verdauungsthätigkeit pp.). – Was wird also für unsere Untersuchung hieraus folgen? Wir wissen, es ist hier immer etwas Leibliches mit dabei, um so weniger können wir daher unsern Gegenstand begränzen, und auf eine wissenschaftliche Befriedigung beim Ausgange rechnen. – Sehen wir zurück 12–13 Zusatz Göttinger Nachschrift, S. 12: „Also können wir auch keine Thätigkeit nachweisen, die von dem System des Leibes unabhängig wäre.“

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auf die Aufgabe, die Gesammtheit alles der Seele Angehörigen in seinem durch das Geistige bedingten Zusammenhange zu erforschen, und das geistige Prinzip in seiner Allgemeinheit zu verstehn, so müssen wir nun sagen, der Antheil des Leiblichen an den überwiegend der Seele angehörigen Thätigkeiten wird uns immer als die Gränze unserer Untersuchungen erscheinen, von der die Lücken abhängen und die | Räthsel ausgehn. Das Zweckmäßigste ist also wohl, da anzufangen, wo uns diese nicht sogleich entgegentreten. Wie wir es uns aber auch zum Kanon annehmen müssen, keine Seelenthätigkeit recht verstanden zu haben als bis wir auch das Leibliche darin erkannt haben pp. Der Leib und das Leibliche ist der allgemeine Vermittler des geistigen Prinzips und dessen, was ihm von der Welt gegeben ist. Wir haben nun erst einen allgemeinen Karakter gefunden für das, was am zweckmäßigsten der Anfang unserer Gegenstände sein werde, was nämlich schon am bekanntesten ist. Zuvor aber müssen wir einen Abriß finden von dem Umfange unseres Gegenstandes, wenigstens im Allgemeinen. Wir müssen also sehn, ob wir aus dem Bisherigen schon das Fundament zu einer solchen allgemeinen Übersicht hernehmen können. –

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Die Erscheinung sagt überall einen relativen Gegensatz des Einzelnen gegen das Allgemeine aus. Wir verstehn unter Erscheinung hier den Gegensatz gegen den Tod. Es trägt den Grund seiner Veränderungen nicht selbst in sich. Ein Faktor des Resultats fällt immer auch in das Todte. Leben setzen wir da, wo wir etwas als ein Zentrum setzen, von welchem Einwirkungen auf das übrige Leben ausgehn. Diese Erklärung scheint von der einen Seite zu weit, von der andern schwankend. In der ersten Beziehung haben wir die Alten für uns. Jedes Weltganze müssen wir hiernach als ein Lebendiges ansehen. Das haben die Alten auch schon gethan. Man nimmt sonst nur da Leben an, wo Bewußtsein ist, welches bei der Seele natürlich auch der Fall ist. Allein wir halten uns lieber an den weitern Fall, und ersparen uns dabei die schwierige Untersuchung über das Bewußtsein, wo es sei und wo es nicht sei. In dem der allgemeinen Erklärung zur Folge welche Einwirkungen von dem Lebendigen ausgehn, die ihren Grund in sich selbst haben, so ist uns dadurch die eine Seite schon gegeben und damit 10 Zusatz Göttinger Nachschrift, S. 13: „und so umgekehrt. Um so mehr wird sich auch unsere Untersuchung dem wissenschaftlichen Character nähern, den wir suchen.“ 26–28 Anspielung auf Platon; vgl. Timaios 29e–31a; Opera 9,305–307; Werke 7,36– 41

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zugleich auch die andere. Alle Lebensthätigkeiten nämlich sind lebendig auffassende und lebendig ausströmende. Jedes Lebendige ist nun nichts Anderes | als eine Reihe solcher mit einander wechselnder Thätigkeiten. Bleiben wir bei der allgemeinen Vorstellung, daß wenn wir auf das ganze Subject des Lebens sehn, wo sich Seele und Leib wie ein Inneres und Äußeres verhalten, so trit der Leib zwischen die Seele und die Welt, und zwar auf zwiefache Weise. Einmal ist er das Organ der Seele auf die Welt. Dies giebt uns die Vorstellung von Thätigkeiten, welche in der Seele anfangen und im Leibe endigen. Alle Thätigkeiten, welche wir durch den Ausdruck des Willens bezeichnen, sind von dieser Art. Im zweiten Falle ist es umgekehrt, da ist der Leib Organ der Welt für die Seele; dies ist bei allen eigentlich aufnehmenden Thätigkeiten der Fall. Wir können der Seele nicht einen unmittelbaren Verkehr mit ihr fremden Gegenständen zuschreiben. Hier geht also die Thätigkeit von den Gegenständen aus, deren Organ der Leib ist. Dieser bekommt dabei eine zwiefache Stellung; auf der einen Seite gehört er mehr der Seele an, auf der andern erscheint er mehr als die Fortsetzung der von dem Gegenstand ausgehenden Thätigkeit. Was ist es nun, was übrig bleibt für die Thätigkeit der Seele die sie auf sich selbst verrichten soll? Nichts Anderes als der Übergang des Geistigen auf die Thätigkeit des Leibes. Jede aufnehmende Thätigkeit ist erst vollendet, wenn sie in den Zusammenhang des ganzen Bewußtseins aufgenommen wird. Jedes sogenannte bloße Denken hängt auf der einen Seite an dieser bloßen Form der Thätigkeiten. Immer aber ist ein Leibliches da, welches die ganze Thätigkeit begleitet. So wird uns dann das Verhältniß der Seele zum Leib ein mannigfaltiges und bewegliches. Wir müssen beständig mit auf die integrirenden leiblichen Thätigkeiten Rücksicht nehmen. Wir wollen nun 2) auch auf den andern Theil unserer Erklärung sehn, daß wir nämlich ein vollständiges Wissen um das geistige Prinzip überhaupt durch unsere Thätigkeit erlangen wollen. Das menschliche Wissen ist nur eine bestimmte Form des geistigen Seins überhaupt. | Von der Stufe, auf welcher das geistige Sein in uns steht, steigen wir in Gedanken hinab und hinauf. Letzteres hat keinen Halt, und ist daher bloßer Gegenstand der Phantasie. Allein wir finden dies bei allen Völkern, und erkären es daher als etwas Nothwendiges. Das hinabsteigen findet aber seine Gegenstände in dieser Welt. Wollten wir den ganzen Umfang des geistigen Seins begreifen, so müßte uns wenigstens eine Stufe unter uns und eine Stufe über uns gegeben sein. Letzteres ist gar nicht der Fall, allein die Stufe unter uns ist uns eigent28 Thätigkeiten] Thätigkeiten mit

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lich auch nicht gegeben, sonst könnte schon nicht eine solche zwiefache Ansicht statt finden. Die thierische Natur können wir nicht so durchdringen, daß eine solche Differenz nicht möglich wäre. Wie uns die Animalität als eine untergeordnete Form des Lebens gegeben ist, so ist es die Vegetation noch mehr, wo wir zwar das Leben erkennen, aber am Bewußtsein zweifeln. Dem Menschen selbst kann nur ein gewisser Umfang zukommen zwischen der höheren und niederen Stufe, es muß in ihm etwas sein, was die Gränze auf beiden Seiten repräsentirt, und eben darin liegt, daß wir überhaupt ein Höheres und ein Niederes annehmen. Es liegt nun darin die Aufgabe, das Niedere von dem Höheren in dem Menschen selbst zu unterscheiden, und den ganzen Umfang zwischen den Gränzen auszumessen. –

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Es kommt hierbei auf zweierlei an, einmal, wie die untergeordneten Lebensfunctionen in das menschliche Wesen mit aufgenommen sind, und wie das Menschliche auch in das Thierische mit aufgenommen ist. Die animalischen und vegetativen Lebensfunktionen gehören wohl der Physiologie an; in wiefern ein Analogon unseres höheren Lebens mit in das Thierische aufgenommen, gehört es eben mehr zur Kenntniß des Thierischen überhaupt. Es bleibt aber immer eine bedeutende Frage ob das Animalische und Vegetative so aufgenommen sei in das Menschliche, daß das rein Geistige ein rein Hinzukommendes ist, oder aber ein gegenseitiges | Verändern dadurch besteht. Ebenso ist es auf der andern Seite die Frage, in wiefern ein Analogon der höheren geistigen Natur in sofern sie nicht das Menschliche konstituirt, doch in dasselbe mit aufgenommen sei, können wir nicht unbeachtet lassen. Es hängt genau damit zusammen die Vorstellung von einer Fortdauer nach dem Tode. Der andere Punkt ist das sogenannte Ahnungsvermögen im weiteren Sinne. Es scheint dies zur menschlichen Natur nicht zu gehören, weil es vielen versagt ist. Hieran reiht sich vieles Andere. Allein es sind nun nicht nur die Gränzbestimmungen gegen das Untergeordnete und das Höhere, sondern es wird dadurch auch ein sehr verschiedener Raum für die Betrachtung der Seele gefodert. 26–27 Zusatz Göttinger Nachschrift, S. 17: „Das eine Analogon der höheren Functionen ist eine Ahndung von der Fortdauer des Menschen nach dem Todt, welche offenbar mit einer Voraussetzung höherer Formen des Geistes zusammen hängt. Es ist wohl nicht möglich, daß man sich eine Psychologie denke, ohne daß dieser Punkt entschieden oder das Verhältniß desselben zu uns festgestellt wäre.“

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Wie es eine große Differenz der Funktionen giebt, so muß es eine große Differenz der Seelen selbst geben; einige stehn dem Thierischen, andere dem Gipfel des Menschlichen näher. Dies führt uns überhaupt auf die Differenz in der eigentlichen Erscheinung des menschlichen Daseins. Wir bleiben zuerst bei derjenigen zwischen dem Guten und Schlechten in der menschlichen Seele. Wir sagen Schlechtes, nicht Böses, weil jenes weiter umfassend ist. Wir haben nur dann eine Kenntniß der menschlichen Seele, wenn wir diesen Gegensatz auszumessen verstehen. Es ist hier nicht allein die ganze Mannigfaltigkeit der Erscheinung wozu wir hierbei getrieben werden, sondern zu der Beschaffenheit der menschlichen Natur selbst. Nach den Gränzen hin verschwindet der Unterschied. Der Unterschied zwischen einem guten und schlechten Hausthier ist weit geringer als der zwischen einem guten und schlechten Menschen, noch geringer ist der zwischen zwei Pflanzen gleicher Gattung und so fort in die todte Natur hinein. Wollen wir uns hineinbewegen in die höheren Formen des Gegenstands, so müssen wir wohl sagen: Wenn wir uns eine bestimmte Natur als eine bildende Kraft denken, so wird ihre innere Vortrefflichkeit doch darin bestehn, die ihr entgegentretenden Hindernisse zu überwinden. In diesem | Maaße werden sie die Idee der Gattung vollkommen oder unvollkommen ausdrücken. Denken wir uns also höhere geistige Natur so müssen wir uns den Unterschied des Guten und Schlechten wieder zurückgehend denken. Es liegt hierin auf der einen Seite das Umfassende, aber auch das Begränzte der menschlichen Natur. Wir kennen keinen größeren Spielraum für die Differenz des Guten und Schlechten als die menschliche Natur. Diese Differenz muß man in ihrer Gesetzmäßigkeit zu erkennen suchen, eine der schwersten Aufgaben. Die allgemeine Erkenntniß ist die Aufgabe, nach welchen Gesetzen der Raum zwischen den Gränzen erfüllt sei. Die Aufgabe bis ins Einzelne hinein, wäre die Kenntniß des ganzen Weltlaufs, deren wir uns freilich entschlagen müssen. – Wir gehn zurück zu der Betrachtung des Lebens selbst. Es ist uns darin die Möglichkeit großer Unterschiede in den Verhältnissen der Funktionen gegeben. Nirgend finden wir ein absolutes Gleichgewicht. Wir müssen uns der Gränzen des Gegensatzes bewußt zu werden suchen. Damit hängt zusammen die verschiedene Ordnung und der Wechsel der Lebensthätigkeiten. Hier haben wir wieder eine sehr große Differenz in der Erscheinung der menschlichen Natur. Betrachten wir nun, daß jede von diesen Funktionen sich wieder zerspaltet, so kommt zu der ursprünglichen Differenz noch hinzu die Verschiedenheit, welche in dem Organismus jeder dieser Funktionen liegt und so fort bis ins Unendliche. Die Aufgabe theilt sich dabei in zwei, 1) das bestimmte Leben, wie es wirklich wird, zu erfassen, die zweite Aufgabe geht darauf aus, die Totalität

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der Differenzen aufzufassen. Beides hängt von ganz verschiedenen Bedingungen ab, das Eine bleibt mehr Allgemein, das Andere hängt mehr von Klassifikationen ab. Hierzu gehört z. B. die Differenz der verschiedenen Temperamente und die der Anlagen. Die Aufgabe besteht darin in das | gefundene Dasein jedes andere aufzunehmen. Beide Differenzen stehn unter einer noch anderen, der der Geschlechter. Diese ist in der Psychologie ein streitiger Punkt. Diese Differenz haftet an der Erzeugung, allein die Geschlechtsdifferenz ist auf diesen einzelnen Punkt nicht beschränkt; es ist die Aufgabe der Physiologie die Differenzen der Geschlechter in allen Funktionen aufzufinden. In Psychologischer Hinsicht hat man den Unterschied gleich Null angenommen; allein dieser Ansicht steht eine andere ganz entgegengesetzte gegenüber; nämlich wie auf der leiblichen Seite, so müßten sich auch in allen geistigen Funktionen durchgehende Unterschiede zeigen. – Ein andrer Gegensatz, welcher das ganze Leben theilt, ist der zwischen Schlafen und Wachen; der auch mehr oder minder durch das ganze organische Gebiet hindurchgeht, da man Spuren davon auch bei den Pflanzen findet. Es ist dies eine der interessantesten Aufgaben der Psychologie aber auch unmöglich getrennt von der Physiologie zu behandeln. Ferner gehört hierher die Differenz der Völker im Psychischen. Wir schreiben einem Volk ebensogut besondere Anlagen zu, wie einem einzelnen Menschen. Damit ist freilich nicht gesagt, daß dieser Karakter sich im Einzelnen wiederfände, so daß der Unterschied der Einzelnen dadurch aufgehoben wäre. Es ist dies von der größten Wichtigkeit. Wir schreiben unter den Weltbegebenheiten viele auf Rechnung der Einzelnen, allein fast alle großen Begebenheiten in einem Volk sind immer das Resultat seines Karakters; es kommt immer weit mehr auf die gemeinsame Kraft als auf den Impuls des Einzelnen dabei an. So aber ist es auch in theoretischer Hinsicht eine wichtige Sache. Den Karakter der Völker müssen wir ansehn als die Masse welche das verschiedene einzelne Leben hervorbringt und zusammenhält. Bei einer solchen Betrachtung kommen wir auf ein ganz anderes Resultat, als wenn wir die verworrene Unendlichkeit der Einzelnen vor uns haben. So klar diese Erscheinung zu Tage liegt, so finden sich auf der andern Seite auch wieder viele Data, | woraus man folgern kann, daß 1–5 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 25: „Beydes hängt von verschiedenen Bedingungen ab, das Eine liegt auf Seite des Allgemeinen als Classifikation, das Andere auf Seite des Besondern als Anfang des Einzelnen das sich nicht classifizieren läßt. Unter das erste gehört die Differenz der Temperamente und Anlagen, unter das letzte die Erkenntniß des rein Individuellen, und die Aufgabe ist in unser Daseyn jedes andere mit der möglichen Reinheit und Vollkommenheit aufzunehmen.“

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der Karakter der Völker keine konstante Größe ist. Es entstehn durch Vermischungen ganz neue Individuen. Aber nicht allein die Vermischungen, sondern auch wenn die Völker mit einander in nähere Gemeinschaft treten, wird der Einfluß auf den Volkskarakter nicht leicht zu verkennen sein. Wenn wir nun jedes Volk wiederum in Beziehung auf seine Entwicklung betrachten, so finden wir eine Geschichte der Seele im Großen wie bei dem Einzelnen im Kleinen. Zu Zeiten ist der Unterschied zwischen Einzelnen und der Masse geringer, zu Zeiten größer; zu Zeiten ist die Einseitigkeit in seiner Eigenthümlichkeit größer oder kleiner pp. Es ist auch wieder ein Fehler, wenn man dies auf die Rechnung der Einzelnen schreibt. Aber solche geschichtlichen Ansichten können nur angestellt werden, wenn in Betrachtung der menschlichen Seele an sich alle die Gesichtspunkte schon angeführt sind. Über der Differenz der Völker steht nun noch die der Menschenraßen, welche noch konstanter als jene ist. Wir finden hier alle jene Differenzen wieder. Einige dieser Menschenraßen nennen wir geschichtlich, andere ungeschichtlich, d. h. solche welche auf der Stufe der Passivität, auf derselben Bildungsstufe, stehn bleiben. Fassen wir unter alle diese Gegensätze dann die Einheit der menschlichen Natur auf, dann erst haben wir eigentlich unsere Aufgabe gelöst. Allein es giebt nun über alle diese Gegensätze ganz verschiedene Ansichten. Diesen liegen ganz verschiedene Gesichtspunkte zum Grunde. Theils geht man davon aus, die menschliche Seele sei an und für sich gleich, und alle Differenzen nur in der Organisation und in der Beziehung zur äußeren Natur begründet. Dies können wir uns nun z. B. von den verschiedenen Menschenraßen nicht leicht denken. Andere meinen diese Verschiedenheiten seien nur Produkte der äußeren Natur, der Einwirkung der Verschiedenheit der Erdzonen. Dagegen wendet man ein, es sei nicht bewiesen, daß diese Differenzen unüberwindlich seien, und es folge | auch selbst aus der Unüberwindlichkeit noch nicht die Ursprünglichkeit. Ebenso ist es mit der Verschiedenheit der Völker. Auf der andern Seite geht man davon aus, daß die geistigen Differenzen etwas Gemachtes wären und ihren Grund durchaus nicht in der Natur des Geistes [hätten]. Theils legt man zum Grunde den Karakter der Regierungsform und die Macht der Gewohnheit; allein woher kommt dann die Differenz der geselligen Institutionen als von der des Karakters? Hierbei trit dann noch eine andere Betrachtung ein, welche 1–2 Vgl. Göttinger Nachschrift, S. 20–21: „Nicht nur durch bestimmte Vermischung, sondern auch durch eine größere Verbindung der Völker scheint sich der nationale Typus allmählich zu verlieren. Dieß verleitet uns aber gar nicht unsere Behauptung zu verlassen, sondern man sieht, daß dieß größere Einheiten sind, worüber wieder | die Einheit der menschlichen Natur steht, welche sie veranlaßt die Individualität zu verlassen.“

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die Untersuchung unendlich erschwert, die Frage über die menschliche Freiheit. Es ist noch nicht die Rede davon gewesen, ob der einzelne Mensch nur hervorbringt, ob er auch ebensogut das Entgegengesetzte hätte hervorbringen können. Letzteres ist durch die Annahme der Differenz der Völker pp. schon eigentlich geleugnet. Damit aber ist die Freiheit des Einzelnen nicht geleugnet, denn sein Wille ist nicht beschränkt durch solche Differenz. Wenn freilich die Freiheit des Einzelnen eine unendliche Willkühr ist, dann sind wir mit allen psychologischen Betrachtungen auf den einzelnen Augenblick gewiesen. Kann der Mensch in jedem Augenblick alles aus sich machen was er will so steht sich nichts mehr als das Gewordene und die unendliche Willkühr gegenüber. Damit verschwindet dann der ganze Zusammenhang des Lebens zugleich. Es giebt also hier eine Gränze, die man nicht überschreiten kann, ohne alle Erkenntniß von dieser Stufe aufzuheben. Allein wir müssen ja ehe wir zu dem allen kommen können, eine bestimmte Vorstellung von der menschlichen Freiheit haben; allein wo sollen wir die herbekommen? Wir müssen immer anfangen von der Erkenntniß, die an sich unwissenschaftlich ist, somit nicht ein Allgemeines, sondern für jeden Punkt besonders. – Vollständig können wir unsere Aufgabe nicht lösen, wir müßten sonst die ganze Physik mit aufnehmen. Was den Fortgang unserer Betrachtung | betrifft, so entsteht uns nun zunächst die Frage: Wobei sollen wir anfangen? Diese Frage entscheidet sich nicht für sich allein weil jedes vom Anderen abhängig ist. Der Gegenstand bietet uns kein Gesetz darüber dar, allein in der Betrachtung über das Verhältniß zu allem übrigen Wissen scheint eine nähere Anleitung über die Anordnung zu liegen. Wenn wir bei dem Größten anfangen wollten, so fingen wir damit an was am meisten die Gesammtheit alles übrigen Wissens voraussetzt. Wollten wir mit dem anfangen, was wir am wenigsten in seinem wissenschaftlichen Karakter erschöpfen können, so würden auch die nachfolgenden Untersuchungen denselben Grad der Dunkelheit theilen. Fragen wir rein nach dem vorausgesetzten Wissen um uns selbst, so ist offenbar, daß wir hier eine größere Klarheit haben. Wir müssen von dem Einzelnen anfangen, und können mit dem Großen erst beschließen. Dies aber kann noch auf sehr verschiedene Weise geschehen. Wir können anfangen mit der persönlichen Eigenthümlichkeit und von da hinab- oder hinaufsteigen. Wir haben hier zwei Einzeln24 Gesetz] Gesetzt 22–24 Vgl. Göttinger Nachschrift, S. 22: „Wollten wir die Thätigkeiten des Lebens nach mehr receptiven oder mehr spontanen sondern, so könnten wir bei dem einen so gut anfangen wie bei dem anderen. Dasselbe wäre der Fall wenn wir vom Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen anfangen wollten.“

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heiten die der Funktionen, die elementarische, und die individuelle. Das Hinaufsteigen zum Individuellen haben wir Grund bis zuletzt zu ersparen, und der rechte Anfang scheint der zu sein, daß wir mit der elementarischen Einzelnheit der verschiedenen Lebensthätigkeiten anfangen; daß wir sie betrachten in der Ordnung, daß wir anfangen wo uns die Differenz des Geistigen und Leiblichen eine manigfaltige Schwierigkeit macht, fortgehn zu der Differenz der relativen Gegensätze und dann zu dem Individuellen. Dazwischen aber läge noch eine Kluft. In der Betrachtung der einzelnen Lebensthätigkeit haben wir immer nur Momente, d. h. einen Theil des ganzen Lebens. Es fehlt dann der Übergang zu der Anschauung des wirklichen Lebens. Wir müssen die verschiedenen Lebensthätigkeiten daher erst im Allgemeinen in ihrem Ineinandersein betrachten, d. h. die Seele in der Lebendigkeit des Moments, abstrahirt von der persönlichen Eigenthümlichkeit. Es kann aber in keinem Moment etwas was das Leben konstituiren hilft, nicht thätig sein, und die Einheit besteht aus der Totalität der Momente. Wir werden also die an sich todten Formeln dann erst | auf allgemeine Weise anschauen. Wie auch in dem Übergang alle Lebensthätigkeiten vereint sind bedarf noch der Erläuterung. – So wie man sagen kann, in jedem Augenblick ist die ganze Seele thätig, ebenso kann man sagen, das Leben ist nur ein Kontinuum. Der Anschauung wegen müssen wir aber eine Mannigfaltigkeit von Thätigkeiten und von Momenten unterscheiden. So fassen wir es dann auch auf, daß die verschiedenen Thätigkeiten in Rücksicht des Übergewichts wechseln. In dem Wechsel allein ist das Gleichgewicht beider Funktionen welches in dem Momente selbst nicht da ist, indem alsdann immer die eine Thätigkeit überwiegt. Indem wir nun zu dem eigenthümlichen Sein übergehn werden wir auch der Regel folgen von dem Kleineren zum Größeren, von dem Elementarischen zum Gesammten überzugehn. Zuletzt erst werden wir die Idee von der Einheit des menschlichen Geistes zu konstruiren suchen. So kommen wir dann der Erkenntniß nahe, in der alle übrigen enthalten sein müßten, wenn wir sie wirklich erreicht hätten. – Wir wollen zuerst die Karakteristik des Elementarischen Theiles unseres Gegenstands geben. Dabei haben wir das einzelne Leben des Menschen im Sinne. Dieses steht der Gesammtheit gegenüber. Nun aber finden wir es nur in einer großen Masse; aber indem wir das Einzelne betrachten, ist dieses allem Menschlichen ebensosehr als allem Außermenschlichen entgegengesetzt. Die Menschen die dem Einzelnen gegenüberstehn erscheinen uns sowohl als einwirkend, als Einwirkungen empfangend. Wir werden unterscheiden die empfangenen 6 des] der

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und ausübenden Einwirkungen in Beziehung auf das übrige Menschliche und das Außermenschliche von und auf den Einzelnen. Jeder Zustand, in welchem wir das einzelne Leben betrachten können, hat immer zweierlei in sich, etwas von dem Leben, welches wir betrachten, etwas von dem auf welches es einwirkt. Das Letztere gehört eigentlich gar nicht in unsere Untersuchung, und wir lassen es also dahingestellt sein. Betrachten wir z. B. unsere Sinnesthätigkeit, so entsteht daraus in der Seele ein Eindruck, | welcher immer ein zwiefacher ist, 1) die Veränderung welche dadurch in der Seele vorgeht 2) der einwirkende Faktor. Z. B. die ganze Frage über das Verhältniß unserer durch die Sinneneindrücke entstehenden Vorstellungen zu der Vielheit der Gegenstände selbst fällt ganz aus dem Kreise unserer Untersuchung heraus. Über nichts müssen wir etwas feststellen wollen was außerhalb des menschlichen Lebens selbst gelegen ist. Zunächst haben wir die Aufgabe noch vor uns, in Beziehung auf das menschliche Leben zu fixiren, was wir von den verschiedenen Lebensformen im Allgemeinen schon gesagt haben. Freilich wird dies nur ein Unvollkommenes sein, allein dennoch müssen wir die allgemeine Formel zuvor noch etwas betrachten. Wir haben nicht genug daran, die allgemeine Form des Lebens gefunden zu haben, sondern wir müssen uns danach auch den Umfang des Lebens bestimmen. Dies ist nur auf eine zwiefache Weise möglich, indem wir Gränzen aufsuchen, die sich aus unserer aufgestellten Form ergeben. Dabei kann es ankommen auf die Begränzung des Lebens gegen das relativ Todte, also fragt sich, giebt es im Gebiete des Lebens solche Abstufungen, wo Eins dem Leben, das Andere dem Tode näher ist. Dann kommt es 2) darauf an, die entgegengesetzten Funktionen aus denen das Leben zusammengesetzt ist, gegen einander zu begränzen. Nur beides zusammen kann uns einen allgemeinen Überblick verschaffen über das Geringere und Größere des Lebens. – Wir müssen daher das Maximum und Minimum des Lebens aufsuchen, wozu wir keine andere Anleitung haben, als die ursprüngliche Duplizität von Thätigkeiten. Je mehr zwischen beiden ist, desto größer das Leben. Sind beide Arten so gering gesteigert, daß man sie kaum unterscheiden kann, so ist das Leben beinahe Null. Könnten wir alles als eine Activität ansehn, und gar keine Einwirkung unterscheiden, so fiele die eine Gränze weg, und umgekehrt bleibt die andere, dazwischen folglich nichts. An der bloßen Rezeptivität können wir das Leben nicht messen, denn die finden wir beim Todten auch. Was ist das Minimum der Spontaneität? Das was nur als eine Vorbereitung der Rezeptivität erscheint. Z. B. das Oeffnen unserer Sinne ist eine Selbstthätigkeit aber nur die, welche die Rezeptivität vorbereitet und mög37–38 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 34: „sondern bloß am Verhältniß beyder.“

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lich macht; nur die Aufmerksamkeit die sich auch auf Rezeptivität bezieht; allein zugleich wird bei | dem Aufmerken auf das Eine, alles Andere ausgeschlossen. Das ist eine Thätigkeit, wenngleich eigentlich nur eine negative. Wo die Selbstthätigkeit positiv auftrit, da muß zugleich immer ein Produkt, eine Einwirkung auf Anderes statt finden. Jede Selbstthätigkeit kann nun schon den Keim zu einer ganzen Reihe von Thätigkeiten in sich schließen, und so ist sie das Maximum. Also eine Selbstthätigkeit welche nur die Rezeptivität vorbereitet, und eine Selbstthätigkeit welche die Gegenwirkung schon hervorlockt und darüber hinausgeht, das sind die beiden Gränzen. Je stärker der Gegensatz gespannt ist, desto weiter wird beides auseinander liegen. Der Umfang des Lebens beruht also auf zwei Punkten, dieser Spannung und der Zirkulation, welche darin statt findet. So finden wir z. B. ein Minimum und ein Maximum des Lebens, wenn wir eine Moluske mit einem Säugethiere vergleichen. Aber es gilt dasselbe auch in ein und derselben Form, das Leben in den verschiedenen Formen. Denken wir uns einen Zustand der Betrachtung von einem körperlichen Reize getroffen, so wird eine mechanische Bewegung dagegen erfolgen. Diese ist selbst eine Thätigkeit, allein eine sehr untergeordnete, die gar nicht das Leben durchdringt. Das Gegentheil ist bei der Betrachtung der Fall. Zwischen beiden Punkten aber ist die lebendigste Zirkulation. Weil wir in jedem Leben selbst diesen Unterschied finden, so müssen wir auch wiederum sagen, es ist dies etwas ganz Allgemeines. Wir müssen nun fragen: Was ist das bestimmte Minimum und Maximum in den Erscheinungen des menschlichen Lebens? Darin liegt dann die reale Ausfüllung unseres Themas. Es ist schon gesagt, daß im menschlichen Leben die niedern Stufen als in der höheren mit aufgenommen sind. Wir müssen das vegetabilische und animalische Leben in das menschliche mit aufnehmen, ohne entscheiden zu können, ob nicht die niedern Funktionen doch von dem eigenthümlich Menschlichen mit durchdrungen sind. Der untergeordnete Karakter der Erkenntniß besteht in dem Schwanken zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit; in deren Bestimmtheit aber der Karakter des höheren, wissenschaftlichen Bewußtseins oder | Erkennens. Im Allgemeinen wird nun das Eigenthümliche des menschlichen Lebens im Karakter des Bewußtseins gesucht; dann geht man über auf das was die Rezeptivität bildet und auf das was überwiegend die Spontaneität bildet. Nun nennt man das Eine das Erkenntnißvermögen das Andere das Begehrungsvermögen; weiter macht man dann den Gegensatz zwischen höherem und niederem Vermögen. Bliebe man bei der Form dieser bestimmten Gegen26–28 Vgl. Aristoteles: De anima, insbesondere 432a–b, 433b; Opera 1,403–404, 405–406; ed. W. D. Ross 77–79, 81–82

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sätze, so wäre man auf gutem, richtigem Wege. Allein man kommt bald in das Unbestimmtere, wo die Rede ist von Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft, Einbildungskraft pp. Jedem dieser Vermögen wird dann eine besondere Selbstthätigkeit zugeschrieben, wie alle auf einander einwirken pp. Die Einheit des Menschen geht dabei verloren; das Ganze erscheint beinahe wie ein Raume, in dem so mehrere Personen mit einander spielen. –

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Es kommt uns hier zuerst darauf an, das Verhältniß des menschlichen Lebens zu dem untergeordneten zu begründen, um unser Gebiet dagegen zu begränzen. Wir müssen zu dem Einzelnen das eigenthümlich Menschliche bis in die untergeordnetsten Stufen hinein verfolgen. Da ist es uns nun freilich nicht gegeben. Der zweite Punkt ist, da anzufangen, wo die Sonderung des Physiologischen von dem Psychologischen am wenigsten schwer ist, so kann diese auch nur hypothetisch geschehn. Dies nun ist die Methode, die wir für den Anfang unserer Untersuchung allein anzuwenden wissen. Wir fangen an bei der Thätigkeit, wo das Lebendige in sich aufnimmt; und zwar deshalb: Das eigentliche Leben steht in einem relativen Gegensatz zu der Gesammtheit; darin erscheint es im Vergleich mit der Gesammtheit als Minimum, kann sich nur verhalten wie ein Theil zum Ganzen und muß durch das Ganze selbst konstituirt werden. Nun die beiden Aufgaben in Betracht gezogen, wie wir das Menschliche von dem Untergeordneten sondern und die Trennung des Geistigen und Leiblichen für den Anfang | möglichst ersparen, so scheint es uns am besten zu sein, wenn wir mit dem Gebiete der Sinne anfangen, welche zu den aufnehmenden Thätigkeiten unstreitig gehören, und bei denen das Leibliche und Geistige sich durch Abstraktionen wohl trennen läßt. Wir lassen auf der einen Seite den organischen Eindruck liegen, und betrachten das Bewußtsein davon. In der Wirklichkeit können wir beides nie trennen, allein wir sind es schon gewohnt in der Abstraktion es immer zu thun. Der Grund davon ist der: Alle Operationen dieses Gebiets beruhen auf einer Thätigkeit der andern Seite dem Aufnehmenwollen. Führen wir dieses auf sein Minimum so können wir es theils als ein Vorübergehendes ansehn, das ist die Zerstreuung. Dann sind wir uns bewußt, daß der organische Eindruck erfolgt, allein wenn die Zerstreuung auf den höchsten Grad steigt, so geht der Eindruck vorüber, ohne in das Bewußtsein überzuspringen: Dagewesen ist der Eindruck,

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aber er ist nicht übergegangen ins Bewußtsein. In diesem Gegeneinanderhalten liegt die Möglichkeit der Trennung. Theils haben wir dies aber auch noch in einem gewollten Ausschließen, was freilich immer nur ein partielles sein kann. Dies ist der Zustand der Vertiefung, allein er bringt in Rücksicht unseres Aufnehmens dieselbe Wirkung hervor: Wir wollen den Sinn gegen alles Andere schließen. Dies können wir nicht absolut mit allen Sinnen wie z. B. mit dem Auge; es kommen auch in diesem Zustand organische Eindrücke zu Stande, aber sie kommen nicht zum klaren Bewußtsein. Dies berechtigt uns nun ebenfalls zu der Trennung. Was die organische Einwirkung betrifft, gehört der leiblichen Seite, was die Entwicklung des Bewußtseins betrifft der geistigen. Wie nun der organische Eindruck durch eine Reihe von | Naturthätigkeiten besteht, lassen wir alles liegen, d. h. [wir haben] es nur zu thun mit dem Eindruck des Bewußtseins. Wir wollen diese nun auch nach unserer andern Aufgabe hin betrachten. Das Gebiet des Sinnes kommt auch durchaus in dem untergeordneten Leben vor. Wie wollen wir hier das eigenthümlich Menschliche lösen? Dieses kann vorläufig nur ganz hypothetisch geschehn. Wo die Analogie mit dem Menschlichen zu klar in die Augen trit, da müssen wir es als ein Unbekanntes stehn lassen. Die Analogie ist deutlich genug, allein ebenso auch eine Stufenfolge, welche schließen läßt, daß in der menschlichen Seele etwas Höheres gesetzt sei. Wir können nicht leugnen, daß die Thiere, die uns am nächsten stehn, sehen, hören und riechen. Aber das menschliche Sehen, Hören und Riechen muß doch noch etwas Anderes sein. Wodurch können wir diese Voraussetzung begründen? Dabei müssen wir zurückgehn zu der Untersuchung über das Verhältniß des Geistigen und Leiblichen. Wir können mit den Verstandesthätigkeiten handeln, ohne daß Sinnesthätigkeiten dazwischentreten. Diese schließen sich offenbar den Sinnesthätigkeiten an. Wir setzen uns freilich das Gehirn als das Organ des Denkens, allein wir können zu keiner Erfahrung kommen wie das Gehirn dabei thätig ist, und die Voraussetzung: daß es eine solche leibliche Thätigkeit für das Denken gebe beruht nur auf der Voraussetzung einer durchgehenden Identität des Geistigen und Leiblichen. Wir erkennen das Leibliche darin nicht, und können es ebensowenig mit dem Geistigen bestimmt verbinden als trennen. Wir müssen nun noch Thätigkeiten aufsuchen, wobei das 29 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 41: „Diese Thätigkeiten schließen sich den Sinnesthätigkeiten an: sie gehen auf das Objective derselben zurück; aber indem wir denken, sind wir im Gebieth der Thätigkeiten von denen man sonst sagte, daß sie die Seele ohne den Körper verrichten. Sie sind nur in so fern körperlich als wir uns bewußt sind, daß wir diese Vorstellungen ohne die Sinne nicht hätten: insofern wir sie aber ein Mahl haben, sind diese Thätigkeiten ganz geistig. Wir suchen also ein Anderes Leibliches dazu auf, nämlich die Thätigkeit des Gehirns;“

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Leibliche gegen das Geistige mehr zurücktrit. Als Schema derselben wollen wir die Respiration annehmen. Dabei müssen wir aber doch immer noch etwas Geistiges voraussetzen, schon der Analogie nach, und da überdies der gegenseitige Einfluß auch nicht zu er|kennen ist. Der Mittelpunkt der Reihe, die sich uns hier gezeigt hat, sind also die Sinnesthätigkeiten. Diese zerspalten sich in eine Duplizität. Jeder organische Eindruck kann in ein Objectives oder Subjectives des Bewußtseins übergehn. Könnten wir das Bewußtsein bis auf sein erstes Entstehn verfolgen, so würden wir freilich immer beides zusammen finden; so z. B. bei der Thätigkeit des Auges. Ich sehe einen Gegenstand, es entsteht ein objectives Bewußtsein daraus, so daß das subjective (das Sehn des Gegenstands) ganz dabei verschwindet; oder umgekehrt, wenn ich z. B. in die Sonne sehe. Je mehr das Eine als Bewußtsein hervortrit, desto mehr wird das Andere zurückgedrängt. Bei andern Sinnesthätigkeiten ist das subjective Bewußtsein vorherrschend, wie beim Geruch, doch ist das Objective dabei immer nicht Null. Indem die objective Seite immer ein Bewußtsein von etwas außer uns, die subjective von etwas in uns ist, so finden wir also hier schon z. B. den Gegensatz des Hervor- und Zurücktretens. – Das vollkommen objective Bewußtsein ist das vollkommene Selbstvergessen; und wenn ein Moment des vollkommenen Bewußtseins unserer selbst hervortrit, so liegt darin auf der andern Seite wieder das gänzliche Vergessen der Welt. So finden wir also auch hier wie in dem rein Geistigen diesen Wechsel. – Wir wollen nun auf die andere Seite gehn, und diejenige Thätigkeit betrachten, welche wir angesehn hatten, als unser Sein in dem Andern darstellend, im Gegensatz der eben betrachteten die das Sein der andern Dinge in uns darstellten. Wir wollen also hier das Sein der Seele in einem Anderen wiederfinden. Alles was nun dahin gehört, hat seinen Mittelpunkt in dem was wir bildende Kunst nennen. Alle Produkte derselben haben ihre leibliche Seite, allein zugleich realisirt die leibliche Bewegung immer ein schon vorher Gedachtes. Was ist denn darin nun das eigenthümlich Menschliche? Eine Analogie dieser bil|denden Thätigkeiten liegt auch auf der Seite des thierischen Lebens, nur daß da die Selbsterhaltung immer als einziges Motiv hervortrit. Die Gränzen lassen sich nicht leicht ziehen, allein dessen, was wir im höchsten Sinn des Worts unter Kunst verstehn, sind die Thiere doch immer unfähig. Wir finden unter den Thieren daher auch eine viel größere Masse bewußtloser Thätigkeiten. Wollen wir nun [den] Punkt aufsuchen, wo das Geistige oder Leibliche fast 5–6 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 41: „Wir haben also 3 Punkte, die Sinne in der Mitte – was den innern Eindrücken vorhergeht, das rein-Physiologische, und das ReinGeistige. Aber nie können wir das Geistige und Leibliche als absolut getrennt ansehen.“

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ganz zurücktrit, so ist das Letztere wohl da der Fall, wo ein Moment unseres Innern rein durch die Sprache und Geberde heraustreten soll. Dies geschieht immer des Mittheilens und Hineinbildens wegen; scheint diese Absicht, (wenn keine Andere dabei zugegen ist,) auch zu fehlen, so theilen wir uns dabei gewissermaßen doch immer selbst, indem wir einen früheren Moment in den späteren hineinbilden wollen. – Auch hierbei finden wir allerdings noch eine Analogie in dem thierischen Leben, wobei wir uns aber immer ein großes Übergewicht des physischen Reizes denken müssen, der denn auch denen, die den Thieren die Seele ganz absprechen wollen, zum Vorwande gedient hat. In diesen Thätigkeiten nun unterscheiden wir auch eine solche Duplizität des Objectiven und Subjectiven. Innen haben wir das Bewußtsein des Unterschiedes zwischen Urbild und Werk. Je mehr dieses jenem entspricht, desto mehr realisirt sich das Subjective in dem Werk. Denken wir uns dagegen die ausführende Thätigkeit des Künstlers gehemmt, so hat das Urbild dann ein bloß subjectives Leben, das Objective geht dabei unter. Das Subjective ist das reine Selbstbewußtsein, das Objective das Vergehn in dem Gegenstand, und so haben wir dann hier die vollkommenste Analogie zwischen beiden Seiten. – | Reihen aber, welche wir getrennt haben gehn wieder in einander über. Was in den bildenden Thätigkeiten das Subjective ist, ist gar nicht zu trennen von dem Aufnehmen. Jedes objective Bewußtsein was wir auffassen, kann ein solches Produktives werden. Der ganze Komplex der bildenden Thätigkeit ist ein Werden der Welt, und so umgekehrt. Dasselbe finden wir auch, wenn wir auf das Gebiet des bloßen Ausdruckes sehn. Wir müssen nun hier auch noch dasjenige aufsuchen, wo das Geistige gegen das Leibliche zurücktrit, als Gegenstück zu dem Respirationsprozeß, dies ist der Assimilationsprozeß. Der ist kein Aufnehmen sondern durchaus ein Umbilden, also gehört er hierher, aber ist ein fast ganz Leibliches, Bewußtloses. Die geistigen Thätigkeiten treten dabei bedeutend zurück, allein nicht ganz; so üben Bedürftigkeit und Überfüllung einen bedeutenden Einfluß auf das Geistige aus. – Um die Vollständigkeit unseres Verfahrens zu beweisen, müssen wir die verschiedenen Punkte nicht allein in ihrer Trennung sondern auch in ihrer Vereinigung betrachten. Das wahre Wesen des Lebens liegt in dem Übergange. Dazu bieten sich zwei Punkte dar. Durch die bildende Thätigkeit werden Gegenstände der Betrachtung wiederum erzeugt, die seine Thätigkeiten aller Art erregen. Ebenso wenn auf der andern Seite das Objective zurückgeht, und nur das Verlangen übrig 21–22 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 44: „ist dasselbe was auf der Seite des objectiven Bewußtseyns das Aufgenommene.“

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bleibt, so können wir diese theils als einen Conatus ansehn, theils aber auch als sich verlierend wiederum des bloßen Bewußtseins. So haben wir ein beständiges in einander Übergehn von dem am meisten subjectiven und am meisten objectiven Punkt aus. So schließen sich die Thätigkeiten zu einem Zyklus, so daß das Fürsichgesetztsein des Lebens und der Zusammenhang mit der Totalität darin ist. Dieses war aber eben das aufgestellte Schema | und wir brauchen nur so fortzufahren. Allein es fehlt uns noch das Verhältniß des Einzelnen zu dem, was ihm auf irgend eine Weise angehört, oder das Gegentheil, also alles was wir unter Zuneigung oder Abneigung verstehn. Der Ort dafür ist uns aber auch schon in dem Früheren gegeben. Das Entgegengesetztsein der einzelnen Seele allem Andern kann nicht dasselbe sein. Was ich aber aufhöre, mir entgegenzusetzen, das muß ich zu mir rechnen. Wenn das Menschliche also das Gebiet ist, wo das Eine dem Andern sich entgegensetzt, dem Andern nicht, so können wir hier ein Fortschreiten vom Kleinsten zum Größten annehmen. Es kann der Einzelne den Unterschied gar nicht machen, und alles Menschliche außer ihm völlig gleichstellen; er kann relativ alles Menschliche aufhören sich entgegenzusetzen, und alles zu sich zu rechnen. Wir wollen sehn, in wieweit beide Extreme möglich sind. Es ist unmöglich, daß der Mensch des Unterschiedes des Menschlichen und des Nichtmenschlichen sich gar nicht bewußt werden sollte. – Auf der andern Seite läßt sich nicht denken, daß ein Mensch uns gegeben werden könnte, dessen aufnehmende Thätigkeit nicht auf irgend eine Weise wir als die unsrige annehmen könnten. Diese müssen wir immer bei irgend einer Art der Verständigung annehmen, und wenngleich leichter oder schwieriger, so können wir sie doch nie Null setzen; und auf diesem Wege haben wir die Erweiterung unseres Aufnehmens für die ganze menschliche Natur gesetzt. Für die aufnehmenden Thätigkeiten giebt es eine Totalität die Welt, rechnen wir uns die aufnehmende Thätigkeit aller Andern zu, so dehnen wir unsere aufnehmende Thätigkeit aus. Ganz anders ist es mit der aus sich herausgehenden Thätigkeit. Da giebt es auch eine Totalität der Gegenstände; diese ist wiederum die Welt. Jedes Gebildete ist da aber wieder ein Wirksames, jeder Andere kann diese einschränken, und daher besteht hier das Gefühl oder die Vorstellung von einer völlig | allgemeinen gegenseitigen Annäherung. Die Schranke muß durch das Verständigen aufgehoben werden können. Der eine Punkt scheint uns also unmöglich, ohne eine Trennung vom Menschlichen, wir sind daher über diesen Punkt immer schon hinaus. Der andere Punkt aber ist noch nicht erreicht, und wir sind zu demselben in einer beständigen Annäherung begriffen. Dies ist dann der Grund der wechselnden Erweiterung und Zusammenzie-

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hung des Lebens selbst. In dem einen Punkt ist der Einzelne, im andern die ganze menschliche Natur das Subject. Der Gegensatz von Zuneigung und Abneigung bezieht sich zunächst auf die menschliche Natur. Wo letztere gesetzt ist, da ist ein Widerstreben, die Thätigkeit eines Andern in uns aufzunehmen und umgekehrt. Jede Thätigkeit wird dann in Beziehung auf diesen relativen Gegensatz ihren bestimmten Karakter haben. Die nähere Erörterung gehört nicht mehr in unsere [elementarische] Untersuchung. Es beruhen darauf die verschiedenen Abstufungen des gemeinsamen Lebens. Wir wollen nun zur nähern Betrachtung der einzelnen Formen der Thätigkeiten übergehn und bei dem Punkt anfangen, wo das Psychische von dem Physiologischen leichter zu trennen ist dies war:

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Es ist uns hier eine Einheit und auch eine Mannigfaltigkeit gegeben. Jene liegt in der aufnehmenden Thätigkeit, worin der organische Eindruck verschieden, das Psychische, das Bewußsein ein und dasselbe [scheinen]. Zuerst also kommen wir auf das Organische, auf den Organismus. Da stellt sich uns ein Gegensatz dar, den wir nicht umgehn können. Der Eindruck kann an ein einzelnes Organ gebunden sein oder etwas Allgemeines für den Organismus. Man macht gewöhnlich die Eintheilung in äußeren und inneren Sinn, von welcher letzten | wir noch abstrahiren. Wir denken dabei an Eindrücke die uns theils von außen, theils von innen kommen. Letzterer kann sich nur auf uns beziehn. Bei dem äußeren Sinn können wir einen bestimmten Sitz des organischen Eindrucks nachweisen, bei dem Innern ist der ganze Organismus. Wenn wir nach den äußern Sinnen fragen, so kommen uns da die bekannten fünf entgegen, aber wir werden leicht einen sechsten hinzufügen können den Hautsinn. In diesem aber ist ein Übergang zu dem Allgemeinen. Gleichzeitig können wir noch dabei auf eine andere Differenz sehn, daß jede aufnehmende Thätigkeit eine objective und eine subjective werden kann. Verhalten sich in Beziehung auf diesen Gegensatz die Sinne gleich oder ungleich? Der Gesichtssinn ist wohl der, bei welchem die Eindrücke überwiegend die Reize in das Objective haben. Das Subjective kann nur heraustreten, indem die Thätigkeit des Organs selbst gestört wird. Der innere Sinn, die allgemeine Empfindung für die Athmosphäre dagegen ist überwiegend auf das Subjective gerichtet. Dazwischen giebt es nun Übergangspunkte, wo wir beides nicht so bestimmt von einander scheiden können. – In der

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Gradation verschwindet uns doch nicht die Zufälligkeit. Es ist wohl geäußert worden, daß wir, wenn wir ein Paar Sinne mehr hätten, eine ganz andere [Vorstellung] von der Welt haben würden. Diese Ansicht neigt sehr hin zum Skeptizismus, allein eine Demonstration läßt sich dagegen nicht machen. Jeder Sinn hat offenbar eine Beziehung auf etwas in der uns umgebenden Welt. Allein doch ist dabei wieder manches chaotisch. Das Auge hat nur die Lichtthätigkeiten, das Ohr den Ton in allen seinen Modifikationen. In dem letztern Kreise aber ist schon eine weit größere Differenz wenn wir den gemessenen Ton mit dem bloßen Geräusch vergleichen. Der Ton aber ist gebunden an die Luft. Gehn wir | weiter auf Geruch und Geschmack, so wird die Sache schon verworrener, und gar der Tastsinn scheint für alle Gegenstände zu sein. Da haben wir also eben solche Abstufungen von dem Bestimmtesten zum Unbestimmtesten. Wir müssen uns die streitigen Zwischenpunkte noch mehr deutlich zu machen suchen. Die Physiologen sind ziemlich darüber einig, daß der Geschmack sich mehr auf das Chemische, der Geruch mehr auf das Elektrische bezieht. Jene Organe liegen nämlich mehr in dem Hydrogenisationsprozeß, diese im Oxigenisationsprozeß. Chemischer und elektrischer Prozeß erregen sich aber gegenseitig, und ebenso ist es auch mit Geruch und Geschmack. Wir sagen: Das riecht, wie jenes schmeckt pp. Der Tastsinn nun ist für alles, was einen Widerstand leistet. Dieser aber zerfällt in eine große Menge von Gradationen. Ihm gehört also alles Materielle an. Das durchaus Flüchtige, Imponderabele aber nicht. Er wird mehr bestimmt durch das Starre. Je mehr eine Sache starr ist, desto bestimmter läßt sie sich durch den Tastsinn wahrnehmen. Das Starre aber ist gebunden an das Magnetische. Die Kohäsion ist wohl nichts Anderes als eine dem Gegenstand eingebildete magnetische Thätigkeit. Herr Professor Steffens nimmt die magnetische Thätigkeit für das Gehör an allein er hat sich dabei wohl zu sehr an die Schwingungen des Metalls gehalten, die den Ton doch eigentlich nicht erzeugen. – So gefaßt sehen wir also, das System umfaßt die ganze Natur, 17 Jene] Jenes 1–4 Vermutlich Anspielung auf Sextus Empiricus „Grundriß der phyrrhonischen Skepsis I,97; Opera (1718) S. 26; Opera (1958), 1,26 15–17 Vgl. ebenso Steffens (1821), Bd. 1: „Schon früher ist es bemerkt worden, daß der Geschmack mit den chemischen Verhältnissen zusammenfällt. [...] Der Geruch fällt mit der Elektricität zusammen.“ (S. 156) 29–32 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 49: „Prof. Steffens gibt dem Gehör die Beziehung auf den Magnetischen Prozeß – wohl durch Irrthum – den Tastsinn stellt er dem Auge entgegen und weist ihn an die Schwere; allein ich glaube daß sich die Schwere auf ein magnetisches Verhältniß zurückführen läßt.“ Vgl. Steffens (1821), Bd. 2: „Dem betrachtenden Gemüthe zeigt sich der allgemeine Grund des Tons

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das elementarische Chaos gehört dem Hautsinn. So hört uns dann das System der Seele auf etwas Fragmentarisches oder Zufälliges zu sein. Es scheint der Totalität der Naturtätigkeit zu entsprechen. – | Hierin liegt nun noch ein anderer Gegensatz in Rücksicht des Umfanges. Der Gesichtssinn führt uns alles zu aus der weitesten Entfernung; Tast- und Hautsinn verlangen unmittelbare Berührung; das Gehör steht dem Gesicht näher. Die beiden andern Sinne wirken auch nur indem die Gegenstände das Organ berühren, doch ist dieses ganz unbestimmt weil die Gegenstände immer in Bewegung sind. Hiernach und einem noch zu kommenden Moment hat man die Sinne in höhere und niedere getheilt. Wir müssen aber die Begränzung nicht zu scharf fassen. Auge und Ohr sieht man als die höhern Sinne an. Jenes ist die Mittheilung alles Objectiven, das Gehör ist das Mittel der Mittheilung der Menschen unter einander. Allein es ist falsch, daß unsere Vorstellung von den objectiven Gegenständen auf dem Auge beruhe; es zeigt uns eigentlich nur gesonderte Lichtthätigkeiten. Noch weniger giebt es uns ein Maaß der Entfernung. Dies besteht uns nur erst durch das kombinatorische Vermögen; der Raum wird uns nur erst durch den Tastsinn. Nur nachdem wir uns von der Körperlichkeit eines Gegenstands überzeugt haben, entsteht das Streben, die Operation allgemein zu machen. Wir schreiben also dem Auge zu viel zu; so auch dem Ohr. Diesem ist die menschliche Rede an und für sich kein über andere Töne hinausragender Gegenstand. Die Stimmwerkzeuge sind es, auf denen die besondere Dignität des Ohrs beruht. Es ist gar nicht richtig, wenn wir sagen, daß Geruch und Geschmack uns weniger Gegenstände kund thun. Die Gegenstände als solche sind nur das Todte, und allein die Lichtthätigkeit ist das Lebendige was das Auge uns zeigt. Geruch und Geschmack aber zeigen uns gerade immer die Naturthätigkeit in den | Gegenständen, wenngleich im Verschwinden dieser letzteren durch den chemischen Prozeß. Das geforderte Dasein entsteht uns durchaus nicht durch einen einzelnen Sinn sondern durch die Kombination aller. Jene Ansicht von höhern und niedern Sinnen 15 beruhe] beruhe, ist eigentlich falsch in dem, worin sich Starres und Bewegliches auf der ganzen Erde lebendig begegnen, in den Bewegungen des Magneten nämlich, der die stillklopfende Brust, und den Athemzug der Erde darstellt, aus welcher der lebendige Ton hervorbricht. Denn der Magnet und die Luft begegnen sich auf eine bedeutende Weise, und der harmonischen und lebendigen Gestaltung des Beweglichen durch den Umkreis, und durch das Maaß der Zeiten tritt ein tiefes Pulsiren der erstarrten Erde gegenüber, wie ein Athemzug aus der reifsten Brust. Daher schließt sich das Gehör an den Magnetismus, an die unendliche Bewegung des Starren in dem ganzen Umkreis der Natur, und daher bricht die Stimme selbst organisirt hervor, wo Brust und Gehirn der Erde eine bleibende Stätte des gemeinsamen Lebens fanden.“ (S. 159)

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bedarf also einer großen Rektifikation. Der Vorzug, der noch übrig bleibt, liegt mehr in den ausströmenden Thätigkeiten. So die Dignität des Ohrs in dem Zusammenhang mit der Stimme, des Auges mit den innern Thätigkeiten. – Wenn man sagt das Höhere und Niedere solle durch die Erkenntniß bestimmt werden, so hat man Unrecht das Gehör zu den höhern zu rechnen. – Man hat ferner auch Unrecht die objective Kraft des Geruchs und Geschmacks so geringe anzuschlagen, es ist nur ein unvollkommener Zustand dieser Sinne, daß sie dem Menschen nicht mehr objective Dienste leisten. Wenn aber das auch nicht wäre, so mögten wir fragen, ob denn das subjective Resultat an und für sich etwas Geringeres sei als das objective. Wir haben schon gesagt, daß das objective Resultat eigentlich erst bestehn kann durch die Kombination der Sinne. Betrachtet man den Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen, und sagt, in das Gebiet dieses Gegensatzes, den der Vollkommenheit, Freiheit, entgegen ist wieder der Mensch durch die subjective Seite mehr hineingegangen, so gehört diese mehr in das ethische Gebiet. Wir werden ferner in uns selbst, in unserem eigenen Zustand immer mehr durch das Subjective hineingezogen, und das ist wahrlich nicht weniger wichtig als die objective Erkenntniß. – Es ist also in dem Komplexus der Sinne nichts Mangelndes, aber auch nichts Überflüssiges in Beziehung auf die Erkenntniß der Welt. Man hört im gemeinsamen Leben manche Urtheile, wenn die Rede ist, welchen Sinn wir zunächst entbehren könnten pp[.], die sich aber alle darauf beziehn, daß man einen einzelnen Sinn nicht isoliren könne. Es ist natürlich daß das verschieden sein muß in verschiedenen Menschen. Damit hängt | die Betrachtung zusammen, wie bei den Menschen eine große Verschiedenheit der Virtuosität in Rücksicht der Ausbildung der einzelnen Sinne statt findet. Diese hängt zusammen mit der individuellen Konstitution. Eine gewisse Harmonie der Ausbildung ist das am reinsten Menschliche. Hier kommen wir auf die Frage nach der Gränze zwischen dem Menschlichen und 13–25 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 38v: „Zum objectiven Resultat einiger Sinne muß das subjective Anderer kommen. Daß der Mensch durch das subjective Resultat mehr in der bloßen Empfindung beruht, ist eine Untersuchung, die wir hier gar nicht gebrauchen, da sie in einem ganz anderen psychologischen Gebiet liegt. Die subjectiven Sinne werden durch die Processe, die in uns selbst vorgehen erregt, und gehen auf den Mittelpunkt unseres ganzen Daseins zurück. Es [ist] nicht leicht einzusehen, warum das geringer sein soll, was die Empfindung menschlicher Zustände wirkt, als das, was die Empfindung äusserer Umstände wirkt. Ebenso wenig wie man sagen kann, daß wenn wir mehr Sinne hätten, wir eine ganz andere Erkenntniß von der Welt haben würden, kann zugegeben werden, daß der Complexus der Sinne geringer sein könnte. Man isolirt hier immer eine Seite, welche für sich gar nicht existiren kann, ohne die anderen. Betrachtet man diese Frage im Allgemeinen, so sieht man, daß nicht alle Sinne für alle gleiche Dignität haben.“

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Thierischen der Sinne. Die Sinne sind die Vermittelung zwischen dem Menschen und der übrigen Welt, und diese nach beiden Seiten hin, der objectiven und subjectiven. Wir können den Gegensatz nur als einen fließenden auffassen, so daß wir nur ein Mehr oder weniger unterscheiden. Das Thierische bildet eine sehr zusammengesetzte Gradation; von den untergeordneten Thiersinnen können wir uns schwer eine Vorstellung machen; (Fühlhörner) bei den ausgebildeten thierischen Sinnen können wir einen Vergleich anstellen. Sehn wir das ganze Sinnensystem als eines an, so ist es bei den Thieren weit beschränkter, was damit zusammenhängt, daß die Thiere nicht mit dem Ganzen in einer so unmittelbaren Beziehung stehn. Es geht weit weniger durch die Sinne in die Thiere hinein sowohl auf der objectiven als der subjectiven Seite. Man muß aber Bedenken tragen, dies den Sinnen für sich allein zuzuschreiben. Es geht dies auf den organischen Eindruck im Gegensatz des Bewußtseins. In dem Maaß, in welchem ich den Sinn gleich konstruirt denke, in dem Maaß muß ich auch den organischen Eindruck gleichsetzen. Abgesehn von dem Bewußtsein muß ich z. B. immer einen Unterschied setzen zwischen dem Sehn des Thieres und eines Kindes. Das liegt nicht in dem Sinn allein sondern in der Verschiedenheit des Interesse. Dies ist nämlich in dem Thiere durchaus beschränkt. Es bildet sich das in dem Sinn selbst ab. Wir bemerken das durchaus Unstäte bei allem was nicht unmittelbar in Beziehung auf ihr Leben steht. Niemals | spiegelt sich eine gewisse Gleichmäßigkeit abgesehen von dem unmittelbaren Lebensinteresse, ab. Es kommt ferner 2) auf die Art der Scheidung an. Der Gegensatz zwischen dem Objectiven und Subjectivität bei dem Thiere weit weniger heraus, es ist da durchaus die Spannung nicht. Schlägt der Sinn in das Subjective um beim Menschen, so folgt eine Vergessenheit alles Andern; beim Thiere ist dies nicht, und also der Raum in Beziehung auf diesen Gegensatz viel kleiner. Es ist nicht in dem Thiere ein solches bestimmtes entgegensetzen von Ich und Welt, und der Grund davon liegt schon in seinem sinnlichen Leben selbst. Auch das beginnende menschliche Leben ist immer schon ein menschliches. Die Gegenstände als solche haben keine Beziehungen auf das thierische Leben sondern es sind immer nur gewisse Qualitäten. Der thierische Sinn geht also nicht so auf das rein Objective, d. h. das Subjective und Objective trit nicht beständig aus einander. Für unsere Untersuchung interessirt uns dies besonders in soweit, als wir von jedem Punkt aus das Karakteristische des Menschen aufzufinden und nachzuweisen, 35 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 53: „sondern bloß auf das erkennende Leben. – Die Gegenstände beziehen sich nur durch gewisse Beschaffenheit auf das animalische Leben.“

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und in dem Menschen das Vollkommene von dem Unvollkommenen zu unterscheiden haben. Letzteres geschieht aber auch durch die Vergleichung mit dem Thierischen. – Hiermit hängt zusammen, daß das objective und subjective des Bewußtseyns bei den Thieren durchaus nicht so aus einander trit. Die Verstandesthätigkeiten können sich daher in ihnen nicht fixiren und noch weniger in den Begriff übergehn. Daß die Thätigkeit sich immer unmittelbar beim Thiere auf das Leben bezieht, kann man, wie auf den Verstand, so auch auf die Seite des Willens beziehn. Der Willensakt der Aufmerksamkeit fixirt erst, und darin ist dann die Richtung des menschlichen Geistes schon ausgesprochen, die Gegenstände zu sondern. Einen solchen können wir diesen nur in dem ganz unmittelbaren Sinn zuschreiben. Was der thierischen Aufmerksamkeit vorangeht, wird in Beziehung auf das Bewußtseyn Null. Ein vollständiger Akt des Bewußtseyns, womit | ein neues Erkennen fixirt wird, kommt nicht leicht zu Stande durch einen einzelnen Sinn. Wir sehn zuerst alles nur auf einer bestimmten Fläche. Daß ein Punkt herausgehoben werde, und der Raum fixirt, können wir davon aber nicht trennen. Letzteres setzt die Vorstellung vom Raume schon voraus, und diese als etwas Empirisches können wir nur dem Tastsinn zuschreiben. Wenn wir eine Geruchsempfindung bekommen, so ist das nur die Nachweisung einer Thätigkeit und diese hat gar keinen bestimmten Ort. Den Gegenstand hilft auch da der Tastsinn uns erst fixiren, als solchen, von dem der Geruch ausgeht. – Finden sich nun diese Kombinationen im Thierischen auch? Dies ist schwer zu beantworten, weil das objective und subjective Bewußtseyn nicht heraustrit. Gäbe es eine solche Kombination, so muß es doch ein verworrenes sein, weil das Resultat nicht daraus hervorgeht. Wir können die Sache nun noch allgemeiner fassen. In unserem Bewußtsein ist ein solches gegenseitiges Erregen der Sinne gesetzt, darin ist immer einer der leitende, der andere der folgende. Fragen wir die Geschichte unseres ganzen Bewußtseins so finden wir die Sinne erst allmählig erwacht. Der zuerst erwachende ist der Tastsinn, durch wel11–12 diesen] dieses 11–14 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 39v–40r: „Das Objective reiht sich bei den Thieren nicht so an einander, und daher können die Verstandesthätigkeiten, welche daraus hervor wachsen, sich auch bei ihnen nicht so zeigen. Auf der anderen Seite kann man ebenso die Beschränktheit des Willens bei den Thieren fixiren, wie eben bei der Beschränktheit ihres Verstandes. Aus einem gewissen Fixiren des Verstandes | und der Sonderung des Subjectiven und Objectiven geht eigentlich der Wille hervor. Wir können den Thieren nun aber zuschreiben, daß sie nur dasjenige aufnehmen, was in einer unmittelbaren Beziehung mit ihrem Leben steht, das Bewußtsein kann dadurch nur sehr beschränkt sein, und der Wille wird in Rücksicht des Bewußtseins beinahe null.“

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chen der höhere Gehalt der Sinne sich vorbereitet. Dann öffnet sich das Auge, welches allein uns nicht zur Sonderung der Gegenstände führen würde. Sind Auge und Ohr erwacht, dann ist der Tastsinn nicht mehr das Leitende, sondern jene; die Operationen der niedern Sinne konstituiren kein eigenthümliches Gebiet vom Gegenstand, und werden immer bezogen auf den andern. Bei den Thieren finden wir es aber ganz anders. Bei ihnen ist der Geruch der am meisten leitende, welcher bei uns ganz zurücktrit. Nur bei denen, die für ihre Nahrung auf die Ferne angewiesen sind, scheint das Gesicht leitend, aber doch eigentlich nur als Supplement des Geruchs. Der Geruch ist aber am meisten subjectiv und das ist eben der Grund davon. | Dies bestätigt es, daß die Thätigkeit des menschlichen Bewßtseins mit seiner unmittelbaren Richtung auf das Erkennen zusammenhängt. Die Differenz der ganzen Thätigkeit der Sinne vor der Entwicklung ist das Physiologische. Von ihrer psychischen Seite angesehn ist uns das menschliche also in der bestimmten Scheidung des Objectiven und Subjectiven gegeben. Der bestimmte Anfang ist der Übergang der organischen Eindrücke in das Bewußtsein. Wie dieser Übergang geschieht, ist das Geheimniß der Seele, welches wir nicht durchdringen können, weil es ein wahrer Anfang ist. Allein wir müssen sehn, wie weit unser Beobachten es bringen kann. Dazu müssen wir fragen, ob und in wiefern wir das Eine haben können ohne das Andere. Können wir einen organischen Eindruck haben, welcher nicht in das Bewußtsein übergeht? Denken wir uns einen Zustand des Aufmerkens, in einem Andern diesen nicht, so werden die Eindrücke in jenem nicht alle Bewußtsein werden, wohl aber in dem Letzteren. Der organische Eindruck aber ist doch in beiden gewesen. Erinnert man jenen an bestimmte Eindrücke, so wird sich eine Erinnerung zeigen. Wir können so also ein Minimum des Bewußtseins sehen bei dem organischen Eindruck. Allein wenn wir es näher betrachten, so ist das nur ein Analogon eines Resultats. Ist denn bei einem solchen Null des Bewußtseins der organische Eindruck wirklich in seiner Vollständigkeit da gewesen? Um dies zu beantworten müßten wir den dazu nöthigen Zustand erst zerstören. Nehmen wir andere Beobachtungen zu Hülfe, so sehn wir, daß der organische Eindruck nicht vollständig gewesen sei indem ihm der psychische Antheil gefehlt hat. Dies Unvollkommene ist dasjenige, | welches sich dem Thierischen mehr nähert. Wenn wir nun auf der andern Seite fragen, können wir ein bestimmtes Bewußtsein ohne sinnlichen Eindruck haben, so scheint dies leicht zu beantworten, wenn wir an das denken, was wir Erinnerung nennen; allein es läßt 32 Vollständigkeit] Vorllständigkeit 36 psychische] so Göttinger Nachschrift, Bl. 41v und Züricher Nachschrift, S. 56; Ms.: physische

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sich dies auch noch von einer andern Seite betrachten. Man kann sagen, es sei dies immer nur Folge von einem früheren organischen Eindruck; aber wir können uns auch etwas vorstellen, was wir nie gesehn und gehört haben; wenn wir z. B. an einen Künstler denken. Dasselbe findet sich im Zustande des Traumes und des Phantasirens, welche Fälle in Beziehung auf unsere Frage gleich sind. Nehmen wir es aber genau, und fragen, fehlt der Eindruck ganz, so werden wir wieder zweifelhaft. Um uns ein Gehörtes zu wiederholen, kommt uns ein gewisses inneres Singen zu Hülfe; wollen wir eine Gesichtsvorstellung erneuern, so wird es uns weit leichter bei geschlossenen Augen, und man hat dabei sogar eine gewisse Anstrengung des Organs. Wir sehn dies auch an dem Zustande des Phantasirens. Die Vorstellungen sind nicht unabhängig von der organischen Thätigkeit. Wir müssen also immer eine gewisse Reproduktion der organischen Thätigkeit [annehmen], und wir können die physiologische und psychische Seite der Operation nicht ganz trennen, sondern das Eine immer nur als Fortsetzung des Andern ansehn. Wenn eine bestimmte Sinnesthätigkeit da ist, so ist auch ein bestimmtes Wollen dabei. Wie die Veränderungen der Sinneswerkzeuge in das Bewußtsein umschlagen, das bleibt uns aber immer ein Geheimniß. Deshalb haben wir auch die beständige Neigung das Materielle und Intellektuelle zu trennen. Daß wir dieses nicht vermögen, darüber können wir uns desto weniger wundern, wenn wir zurückgehn auf den Anfang der Sinnesthätigkeit. Es ist damit immer ein Impuls des Willens verbunden, eine bestimmte Vorstellung zu erreichen. Dieser Impuls kann nur auf etwas Früherem beruhn, und wir kommen so am Ende auf den Zustand, | wo alles aus der Bewußtlosigkeit hervorgeht, auf den ersten Lebensmoment zurückgeht. – Es giebt nun solche Operationen, welche sich in der Folge unseres Lebens immer mehr bestätigen, aber auch andere, welche wir herausbringen müssen, weil sie den Irrthum konstituiren. Dies haben wir bei allen Sinnen. Es gilt dieses nicht von der subjectiven, sondern nur von der objectiven Seite. Wo besteht denn nun eigentlich der Irrthum? Hat derselbe seinen Sitz in dem organischen Eindruck oder im Bewußtsein? Gewöhnlich fragt man: Ist der Irrthum in den Sinnen, oder im Verstande? Von dem Letzteren haben wir noch gar nicht gehandelt, sondern nur von der psychischen Seite der Sinnesthätigkeit. Soll die Verstandesthätigkeit hinzukommen, so muß noch etwas Anderes vorgehn. Das Nächste ist die Kombination der Sinnesthätigkeiten, folglich muß jenseits derselben die Verstandesthätigkeit liegen. Wo ist nun der Irrthum? Man sagt, die Sinne irren gar nicht, und auf der andern Seite, der Verstand kann nicht irren, die Sinne sind es, welche uns in Schein und Irrthum verstricken. Es wäre übel, wenn wir Eins von beiden eingestehn müßten. Auf der einen Seite

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könnten wir gar nichts Wahres haben, auf der andern Seite würden wir die Wahrheit desto reiner haben, jemehr wir uns dem chaotischen Zustande des Thierischen näherten. Wenn man sagt, der Verstand erst bringe den Irrthum hinein, so beruht dies darauf, daß auf der subjectiven Seite der Irrthum eigentlich nicht statt findet. In so fern ist der organische Eindruck und das damit zusammenhängende Bewußtsein immer Wahrheit. Wenden wir uns aber auf die objective Seite, so ist es dort anders. Ein Irrthum im Sehen liegt nicht in dem organischen Eindruck; fehlt man z. B. in Rücksicht der Entfernung eines Gegenstandes, so sagt man, dieser liege schon im Verstande, | weil eine vergleichende Thätigkeit dagewesen. Aber diese Operationen sind bloße Fiktionen, wir haben die falsche Vorstellung in ein und demselben Wurf, und somit können wir auch sagen, der Irrthum liege in den Sinnen. Wir müssen zurückgehn, auf das Chaotische. Wenn man das Auge zuerst aufschlägt, sieht man seine ganze Welt, jeder einzelne Moment bildet dann nur einen Fortschrit in der Rektifikation. Dabei kann man nun ebensogut sagen, daß der Verstand es sei, welcher den Irrthum berichtige. So kommen wir an den Punkt, wo beide Thätigkeiten unmittelbar in einander übergehn. –

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[18. Stunde] Es läßt sich noch etwas sagen für die subjective Seite des sinnlichen Bewußtseins. Derjenige Sinn welcher am meisten das Subjective ausbildet ist der allgemeine Sinn, der Hautsinn. Wir empfangen dadurch die Eindrücke der Athmosphäre, und zwar auf zweierlei Weise. Die Athmosphäre geht unmittelbar durch die Respiration in uns über. Wie wir die Luft durch ein einzelnes Organ einziehn und aushauchen, so ist eine organische Thätigkeit auch über den ganzen Körper verbreitet. Ob die Haut dabei gegen die Luft aktiv oder passiv ist, darauf kommt es nicht an; genug es giebt einen Eindruck. Schon in der älteren Naturphilosophie finden wir die Gegensätze warm und kalt, feucht und trocken. Der organische Eindruck hat für uns nicht die Qualität wie die von den bestimmten Sinnesorganen, sondern erscheint uns als ein allgemeiner, ohne daß der Ort, wo er ursprünglich ist, sich kund gebe: Das daraus bestehende Bewußtsein läßt sich nicht spalten; was wir unterscheiden sind nur die Gegensätze, feuchte Kälte, trockene Kälte, die Modifikationen welche mehr das Objective bilden würden, entgeht uns eben. Das Bewußtsein welches sich an diese organische Thätigkeit anschließt können wir nur unter einem Gegensatze fassen, dem des Angenehmen und Unangenehmen. Fragen wir hier, wie sich der

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organische Eindruck zum Bewußtsein verhält, ob wir Eins ohne das Andere haben können, so bekommen wir denselben Gegensatz auch aus einem ganz andern Gebiete her, aus dem Geistigen. Wir müssen hier wohl unterscheiden die Reaktion | von dem Bewußtsein, welches durch jenes zurückgedrängt wird. Durch die Gewohnheit verlieren wir somit das Bewußtsein der Anstrengung in der Reaktion. Was nun auf der einen Seite durch die Reaktion geschieht, geschieht auf der andern Seite von selbst. Hat ein Zustand des Erhebenden oder Niederschlagenden eine Weile gedauert, so verschwindet das Bewußtsein ohne daß doch die Athmosphäre sich ändert. Da haben wir ein bloßes Abstumpfen durch die Zeit. Bleibt dabei der organische Eindruck derselbe? Wird das Bewußtsein oder der organische Eindruck abgestumpft? Dies können wir nur aus der Analogie beurtheilen. Das ist ein bloßer Schein, wenn wir sagen, das Bewußtsein stumpft sich durch die Zeit ab; denn diese ist ja etwas ganz Leeres, und nur erst etwas, wenn sie angefüllt ist. Es geschieht hier eine Reaktion von Seiten der Willensthätigkeiten in dem Maaß als wir den subjectiven Eindrücken uns nicht hingeben. – Aus den subjectiven Eindrücken geht hervor, was wir die Stimmungen des Menschen nennen. Diese wechseln; und da ist es eine sehr gewöhnliche Ansicht, denjenigen für mehr ausgebildet zu halten, bei dem die Stimmungen weniger wechseln. Dies ist im Allgemeinen aber nicht richtig. Es spiegelt sich in der Seele ab das Verhältniß des allgemeinen Lebens was in der Athmosphäre sich ausspricht, zu dem einzelnen. Die Stimmungen sind die Sympathie des Einzelnen mit dem ganzen Leben. Sie sind also nur die Theilnahme an dem allgemeinen Leben. Es würde uns also etwas fehlen, wenn wir nicht Theil daran nähmen. Woher das allgemeine Urtheil, an welchem immer was Wahres ist? Die Zustände erscheinen uns pathematisch; allein es ist immer noch ein Unterschied zwischen dem Ursprünglichen dieser Stimmungen und der Passivität. Ein Hingeben an dieses Gefühl bringt den Zustand der Passivität hervor, welchen wir mit Recht tadeln. Die Selbstthätigkeit muß sich nicht gegen die Sinne richten, sondern diese | in sich aufnehmen. Zwischen dem Weichlichen und Trotzigen unterscheiden wir das freie Spiel der Stimmungen. Das Erste ist das Launenhafte, das Letzte das Humoristische, welches auch auf einem andern Wege, von dem Geistigen her, kommen kann. Daß die Stimmungen nichts den Menschen herabwürdigendes sind, sehen wir daraus, daß wir bei den Thieren gar nicht den Wechsel der Stimmungen finden. Wir finden wohl den Eindruck (Winterschlaf) und zwar weit stärker, allein keine Stimmungen, kein Verhältniß zu dem allgemeinen Leben. Wir können nicht sagen, daß in den gebildetern Nationen der Wechsel geringer sei, sondern es ist gerade umgekehrt. – Betrachten wir die Menschen in den verschiedenen Zonen, so finden wir,

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daß die Thätigkeit in den Polarländern deprimirt ist, und nur auf dem Streifen recht thätig, wo das geschichtliche Leben sich entwickelt. Wir finden hier die Stimmungen im Großen, denn es giebt auch das andere Extrem, die Weichlichkeit. – Es kommt also nicht auf die Stimmungen selbst, sondern auf die Behandlung derselben an, was für einen Werth ihnen der Mensch beilegen soll. –

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Eine überwiegend objective Richtung haben das Gesicht und der Tastsinn. Beim Gesicht ist das Verblendetwerden die subjective Seite. Zwischen dem ganzen Subjectiven und dem Objectiven liegen die verschiedenen Erleuchtungsgrade. In der Dämmerung sind die Bilder nicht mehr so deutlich, und es trit das Subjective dabei hervor. Der Tastsinn ist auch überwiegend objectiv; wir bekommen dann auch eine Vorstellung von dem Zustande der Dinge. Es giebt dabei keine Veranlassung zu dem Subjectiven an und für sich. Hier ist das Subjective in dem Subject zu suchen, nicht im Object wie beim Gesicht. Wir nennen dies Idiosynkrasie. Fast jeder Mensch hat einen eigenen Widerwillen gegen einen durch den Tastsinn erkennbaren Zustand. Können wir hinter den Grund dieser Idiosynkrasie kommen, so läßt sich auf den innersten Zustand des Menschen danach schließen. | Geschmack und Geruch sind am meisten indifferent gegen das Objective und Subjective. Jener beruht auf chemischer Zerlegung dieser auf elektrischen Operationen. Wenn wir früher sagten, es sei falsch, diese Sinne niedere zu nennen, so ist das Wesen darin die Annäherung an das Thierische, indem das Subjective und Objective sich weniger trennen läßt. Wir finden in beiden Sinnesthätigkeiten eine größere Mannigfaltigkeit als in dem Hautsinne, der auf wenige elementarische Operationen eingeschränkt ist. Das Subjective können wir wieder nur unter den Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen bringen. Da finden sich nun große Verschiedenheiten, welche aber das Chaotische anzeigen. In dem Objectiven beim Geschmack, sauer, süß, bitter, stimmt man leicht überein, allein das eigentliche Gefühl scheint auf lauter Idiosynkrasien zu beruhen. Darin finden wir wieder die größte Differenz von dem Thierischen. Jede Gattung von Thieren ist an denselben Kreis gewiesen. Die Hunde werden aus dem natürlichen Zustande durch die Gemeinschaft mit dem Menschen mehr herausgerückt. Das zeigt, daß bei dem Menschen Geschmack und Geruch nichts Instinktartiges hat. Für den Gesunden hat der Geschmack durchaus nichts Instinktar7 überwiegend] Überwiegend

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tiges. Wenn wir den Umfang des Subjectiven in dem Geschmack betrachten, so finden wir die Endpunkte viel weiter auseinander liegend als bei andern Sinnen. Die äußersten Gränzen des Angenehmen und Unangenehmen haben beim Geschmack einen revolutionären Karakter. Das Extrem des Unangenehmen ist der Ekel, das des Angenehmen die Lüsternheit, wobei auch ein revolutionärer Zustand da ist, nur daß er sich mehr nach innen kehrt, indem eine Unempfänglichkeit gegen alles Andere erzeugt wird. Der Geruch steht in genauer Berührung mit dem Geschmack. Die Mannigfaltigkeit ist hier eben so groß, aber es [ist] hier noch weniger möglich zu objectiviren. Alle Sprachen sind gleich arm die besondern Arten des Geruchs | zu bezeichnen. Weil wir keine allgemeine Vorstellung hier fassen können, so ist der Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen durchaus fließend, und es kann sein, daß alle unangenehmen Gerüche durch Schwächung angenehm gemacht werden könnten, wie wir das Umgekehrte finden. Dies deutet wieder sehr hin auf die elektrische Natur des Geruchs. 2) Starke Geruchserfahrungen, die immer etwas Narkotisches haben, haben einen Einfluß auf andere Sinne. Betäubende Gerüche erleichtern sehr die Täuschung des Auges, daher bei allen Beschwörungen pp. Durch die Affektion des Geruchsorgans wird wohl das Sehn von innen heraus erleichtert. Die Erfahrung ist sehr allgemein aber noch ganz unwissenschaftlich. Vergleichen wir die objective und subjective Seite der Sinne noch einmal mit dem Thierischen, so finden wir, daß die menschlichen Sinne weit mehr geöffnet sind. Die Thiere sind mit Geschmack und Geruch an ihren Lebenserhalt gewiesen. Durch das Unterscheidende finden [wir] das, was in ihren Lebenskreis gehört, welches viele Thiere in solcher Freiheit haben, sind ihre Geruchsthätigkeiten gewiß auch darin abgeschlossen, und für die meisten Gegenstände, die bei uns auf den Geruch und Geschmack Eindruck machen, sind die Thiere gewiß unempfindlich.

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Ganz eigenthümlich ist es mit dem Gehör in Beziehung auf die subjective Seite. Bei uns ist das Gehör überwiegend objectiv, auch wenn wir absehn von der Sprache. Der Ton wird uns ein Gegenstand, das Auffassen der Töne ist ein Erkennen. Die subjective Seite ist zugleich ungeheuer reich, und dabei sehr vollkommen organisirt. – Bei gewissen Arten von Geräusch oder Schall finden wir wieder die Idiosynkrasie. Sehen wir auf die Wirkung zusammengesetzter Tonmassen, so fin4 haben] hat

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den wir im höchsten Grade das stark Bewegende, was beim Geruch seltner und mysteriöser war. | Die außerordentliche Gemüthsbewegung welche durch die Musik hervorgebracht wird, ist ein noch nicht gelöstes Problem. An die arithmetische Seite allein kann man sich da nicht halten. Wenn die Seele die Schwingungen zählen sollte, was doch ein großes Kunststück sein mögte, so ist das ganz was Wunderbares. Es kommt auf die Konsonanzen und Dissonanzen und deren gegenseitige Auflösung an. Gestaltet man die Verhältnisse in Figuren um, so mag man noch so viel probiren, der Eindruck kommt nicht, also auf das Arithmetische allein kommt es nicht an. Wenn diese Verhältnisse allein die Basis des Wohlgefallens wären, so müßte eine lange Reihe von lauter Konsonanzen nicht sehr langweilig sein. Die Seele hat kein Bewußtsein von den Schwingungen[,] welches zum Vorschein kommt. Dazu kommt nun noch die nothwendige Abwechselung des Rhytmischen, die man vernachläßigt, ebenso die Qualität des Tones nach der Verschiedenheit der produzirenden Instrumente. Auf der andern Seite hat man die Wirkung ganz geistig erklären wollen, was, wenn es wahr wäre, nicht hierher gehörte. Der Ton soll sein (was freilich sehr wahr ist) der Ausdruck der Gemüthsstimmung. Der Eindruck ist daher durchaus sympathetisch. Daran ist etwas Wahres, allein man darf nicht dabei stehn bleiben. Schwerlich würde die verschiedene Übersetzung einer und derselben Komposition von mehreren Personen gleich ausfallen. Wenn auch der Eindruck, den die Musik macht, eine Gemüthsstimmung ist, so ist doch nie vorauszusetzen, daß der Komponist gerade in derselben Gemüthsstimmung gewesen sei, und dann muß die gleichartige Wirkung wegfallen. Wie wollen wir aber überhaupt | dies auf so rein geistige Weise erklären, wenn wir doch die Einwirkung auf Thiere auch nicht ableugnen können? Wir müssen mehr auf das Physiologische zurückgehn. Der Grund muß in dem organischen Eindrucke gesucht werden. Sehen wir auf den Rhytmus, den harmonischen Wechsel der Töne, so ist der eben so nothwendig als die Harmonie selbst. Nun aber haben wir einen angebornen Rhytmus, die Respiration und den Pulsschlag. In diesem muß man den Grund suchen. Wenn man durch die Musik sehr bewegt wird, fühlt man die Wirkung davon in der Lust und im Herzen, in der Respiration und dem Blutumlauf. Die Wirkung der Musik ist auch weit mehr bedingt durch den Rhytmus als das Mathematische, indem wir hierbei von dem eigentlichen Kenner absehn. – Wir hätten so die Grundlage der organischen Eindrücke auf die menschlichen Sinne betrachtet. Das 6 Wunderbares] Wunderbaren 5–8 Siehe die Sachanmerkung oben, S. 51

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Geheimnißvolle blieb die Einigung desselben mit dem Bewußtsein, eben weil in jedem Moment ein absoluter Anfang ist, den wir nie erreichen. Wenn wir in dieser Basis der Sinnesthätigkeit nur einen kleinen Theil der menschlichen Thätigkeit haben, so machen sie doch die Wurzel aller menschlichen Thätigkeiten aus, und unser ganzes Leben beruht auf der Wahrheit dieses Zusammenhanges. Das Bewußtsein giebt die Gesetze unseres inneren Lebens an, ebenso die Zusammengehörigkeit des Seins, in welchem wir sind (der ganzen Welt) und unseres geistigen Bewußtseins. Die physiologische Seite wird man wohl weiter verfolgen lernen, d. h. in Beziehung auf den Prozeß der Berührung des Organs, allein in Be|ziehung der Einigung mit dem Bewußtsein mögte sich wohl schwerlich ein Weg entdecken lassen. –

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Wenn wir nun das weitere Gebiet der aufnehmenden Thätigkeit durchwandern wollen, so müssen wir doch erst eine Untersuchung noch voranschicken. Wenn unser Leben ein beständiger Wechsel der Eindrücke ist nach subjectiver und objectiver Verschiedenheit, so läßt sich eine Reihe auf einander folgender Thätigkeiten nicht denken, als unter der Bedingung, daß der frühere Moment verschwinde. Wäre aber dieses Verschwinden ein wirklich vollständiges, so könnten sich aus der Sinnesthätigkeit die höheren Funktionen nicht entwickeln. Dies haben wir schon auf dem Gebiete des Sinnlichen selbst. Die Vorstellung von einer Sache beruht erst auf einer Zusammensetzung von Sinnesthätigkeiten. Daß die Thätigkeiten nicht ganz verschwunden sind, sehn wir schon daraus, daß eine Vorstellung auch von abwesenden Gegenständen bleibt. Wir müssen daher das Verhältniß des Verschwindens und Zurückbleibens näher betrachten. – Wie ein Gegenstand verschwindet, kann man sich leicht vorstellen. Es fragt sich, 21–26 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 46r: „Indem wir hier von dem Festhalten der sinnlichen Eindrücke für sich reden abstrahiren wir ganz vom Gedächtniß. Wir unterscheiden gleich ein doppeltes Interesse des geistigen an diesem Festhalten. Es steht in einem Verhältniß zu den allgemeinen Vorstellungen, welche durch das Medium der Sprache in Begriffe übergehen. Die Vorstellungen bleiben nicht ganz so wie sie aufgenommen werden, sondern nur etwas von jeder bleibt, so daß sie identisch sind mit den allgemeinen Vorstellungen. Von den einzelnen Vorstellungen bleibt etwas zurück, was ein Gemeinschaftliches wird für höhere Vorstellungen. Wir sind uns der allgemeinen Vorstellungen bewußt als solcher, welche eine große Zahl von einzelnen unter sich fassen, so daß eine große Differenz zwischen den Einzelnen statt findet. Um diese Differenz festzuhalten muß man auch den ganzen Eindruck festhalten. Es ist ein Zurückgehen der einzelnen Vorstellungen, nachdem sie sich in allgemeine Vorstellungen verwandelten, in sich selbst.“

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worauf das Vermögen beruht, organische Eindrücke wieder zu erwekken. Wenn wir diese zunächst bei der physiologischen Seite anfangen, so lassen sich alle organischen Eindrücke auf Bewegungen zurückführen. Das Wiedererwecken kann dann nur vermöge derselben Bewegung im Organ geschehn, es fragt sich also wie diese wiedererwekkende, nachbildende Bewegung entstehe. Hier hat man versucht, die Aufgabe auf ganz mechanische Weise zu lösen, und hat gesagt, man kann sich das nicht anders denken, als daß von der Bewegung etwas zurückbleibt, sei es im Organ | selbst oder im Gehirn, welches man gleichsam als Depositorium dieser Thätigkeit angesehn hat. Letzteres, wodurch eine gewisse Gestalt im Gehirn solle entstanden sein, hat man materielle Ideen genannt. Es wird nicht schwer sein, uns von dem Ungrunde zu überzeugen. Das Organ bekommt z. B. einen neuen Eindruck, dieser könnte nicht ganz rein sein, wenn etwas Anderes darin mit enthalten wäre, und das Wiedererwecken wäre nur in dem Maaß möglich, als die dazwischen liegenden Thätigkeiten unklar gewesen wären. Das aber ist etwas, dem die Erfahrung gänzlich widerspricht. Je reiner die Sinnesthätigkeit überhaupt ist, desto klarer das Wiedererwecken. Wir können sehr gut unterscheiden ein klares Bewußtsein in dem einen Menschen und ein verworrenes in einem anderen. Ebenso können wir in uns selbst verschiedene Zustände unterscheiden. Wenn wir unvollständig auffassen, so wissen wir schon im voraus, daß die Wiedererweckung nicht so klar sein werde. Wir können weiter gehn und fragen, warum wir dann unser früheres Leben ganz und gar vergessen, so ist davon auch nur Unklarheit die Ursach. – Wenn wir nun betrachten das Geschäft eines einzelnen Eindrucks und des daraus entstehenden Bewußtseins, so ist dies auch eine sukzessive Operation; wir haben den Eindruck nicht gleich vollkommen, sondern erst allmälig. Dies Sukzessive ist die Wiederholung. Es läßt sich dasselbe sagen von den Eindrücken des Gesichts, deutlicher aber ist es bei einem Ton, welcher anschwillt. Im Moment der Stärke 10–12 Vermutlich Anspielung auf Platner (1793–1800), hier Bd. 1, 1793, insbesondere S. 98–91, 128–129, 150 13–17 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 70: „Bey der 2ten Erklärung käme die Sache so zu stehen, ehe der Eindruck A verschwindet, bekommen wir einen Eindruck B, und dieser kommt uns zum Bewußtseyn[,] rein und vollständig bekommen wir ihn aber nur, wenn auch der Prozeß vom Gegenstand zum Organ von Anfang bis Ende rein vorgeht. Je mehr klare und vollständige Vorstellungen zwischen A und dem Reproduzierten (C) vorkommen, desto schwieriger muß die Erweckung werden. Diese Erweckung ist nur in dem Maße möglich als die dazwischen getretenen unklar gewesen sind. Mit der Klarheit der Einzelnen Vorstellungen muß die Wiedererregtbarkeit derselben abnehmen, und die Klarheit des reproduzierten beruht auf der Unklarheit des dazwischen liegenden.“ 25–26 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 71: „Weil die Organe dann noch nicht geübt sind, und erst später die Fertigkeit zu sondern und klar aufzufassen eintritt.“

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ist nicht mehr der erste Anfang, im Verschwinden nicht mehr die Stärke. Wir können das Wiedererwecken aus dem Zurückbleiben eines Minimum nicht erklären. Es ließe sich die Einheit gar nicht erklären beim Eindrucke selbst, diese | könnte erst in der Wiedererwekkung sein. Aus einem Fastverschwinden läßt sich die Wiedererwekkung also nicht erklären; eben so wenig aber aus einem gänzlichen Verschwinden. Die eigentliche organische Thäigkeit hört auf. Die Reihe in unserem Bewußtsein beruht eben darauf. Nun sagt man, es giebt gleichsam ein anderes Organ, in welches alle anderen auslaufen, das ist das Gehirn, worin eine Gestalt erzeugt wird, und diese sei die Möglichkeit der Wiedererweckung. Diese aber ist eine Erklärung die gar nicht erklärt, man schiebt die Sache nur weiter hinaus, denn wir fragen nun, wenn die Verbindung zwischen der Thätigkeit des Organs und der Impression einmal aufgehoben ist, wie dann die Vereinigung wieder möglich sei. –

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Wenn wir uns eine organische Sinnesthätigkeit als den Moment ausfüllend denken, so geht unser Bewußtsein in dem des Gegenstands auf. Setzen wir diesen als verschwindend, so haben wir gar keinen Punkt, woran wir die Identität des Selbstbewußtseins knüpfen könnten. Ist einmal eine organische Sinnesthätigkeit gesetzt, so bleibt nicht diese, aber das Bewußtsein davon. Dies ist die andere Voraussetzung welche wir greifen müssen. Dabei müssen wir auf den ersten Anfang zurückgehn. In dem müssen wir uns jeden Sinn vorstellen als erfüllt, aber auf eine noch ungesonderte Weise. Die bestimmteren Scheidungen sind als Aufgabe mitgesetzt, gleichwie die Totalität der Gegenstände. Dieses ist das ursprüngliche Bewußtsein. Wie verhält sich dazu alles Folgende? Diese Totalität bleibt, alles Folgende ist nur eine weitere Entwickelung dieses ursprünglichen Bewußtseins. Alles wird erst auf diese erste Totalität bezogen. Man könnte dagegen manche Einwände machen. Wenn man einen fortgesetzten Eindruck betrachtet, so verschwindet der Anfang nur | in Beziehung auf die organische Thätigkeit. Man könnte sagen, es sei eine falsche Voraussetzung, daß die ursprüngliche Totalität bleibt; diese könne sich ganz ändern. Das kann man sich denken, aber in allen solchen Fällen brauchen wir eine Vermittelung, um den zweiten Moment an den ersten anzuknüpfen, 8–11 Vgl. Meyer, Johann Carl Heinrich: Grundriß der Physiologie des menschlichen Körpers zum Behuf seiner Vorlesungen entworfen, Berlin 1805, S. 111–116 [SB 1279]

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diese aber findet sich in der Gemeinschaft. Das einzig Wahre ist hier der Schlaf, den wir aber der Kontinuität des Bewußseins immer unterordnen können, indem es ja im Schlaf nie ganz verschwindet, und so die Vermittelung macht. Wie verhält sich diese unsere zweite Voraussetzung zu der ersten von dem Verschwinden? Letztere hält sich mehr an den organischen Eindruck, erstere an das daran geknüpfte Bewußtsein. Letzteres muß bleiben, jener verschwinden. Also sind sie nur in gewisser Beziehung einander entgegengesetzt. Die Identität ist relativ, es läßt sich dahin vereinigen, daß wir sagen, der organische Eindruck verschwindet, das Bewußtsein aber bleibt aber immer in Beziehung auf seinen Anfang, und dieses Bleiben des Bewußtseins ist verbunden mit dem Verschwinden der organischen Thätigkeit. Wenn wir sagen, das Bewußtsein bleibt, so liegt darin keineswegs, daß es immer ein und dasselbe bleibt, es bleibt in einer Oscillation. Das Verschwinden ist nur etwas Scheinbares. In einem einmal gehabten Bewußtsein giebt es nur die Differenz der Stärke und Schwäche. Die eigentliche Formel ist: In jedem Moment haben wir die ganze Vergangenheit nur auf verschiedene Weise. Worin kann dann nun der Grund dieser Verschiedenheit sein? Einen Grund haben wir schon gefunden. Wenn wir zurückgehn auf den ersten Anfang, so sehn wir, daß was dem Nullpunkt am nächsten liegt, das am schwersten Wiedererregbare ist. Ferner haben in | keinem Menschen die Sinne dieselbe Virtuosität wie in dem Andern. Davon hängt die Leichtigkeit der Erregbarkeit ab. Jeder hat ein besseres sinnliches Gedächtniß in dem Maaß als seine Sinnesthätigkeit selbst ausgebildet ist. Die Wiedererregbarkeit des organischen Eindrucks ist nichts Anderes als die Virtuosität der Sinnesthätigkeit selbst aber dieser eine Punkt erklärt die Differenz nicht ganz. Wir müssen also noch ein anderes Element hinzusuchen. Dazu ist uns der Grund schon gegeben, wenn wir uns recht auf den ersten Anfang des Bewußtseins besinnen, und diesen für die Formel der ganzen weitern Entwickelung halten. Die Basis ist eine unbestimmte Totalität. Wodurch ist nun diese in jedem Augenblicke repräsentirt? 1) Durch die unbestimmte Vorstellung des erfüllten Raumes und der erfüllten Zeit, 2) durch unsere Rezeptivität, aber diese als Selbstthätigkeit gesetzt. Das Anknüpfen jedes folgenden Moments an einen früheren ist ein Hineingehn in den unbestimmten Eindruck. Dieser wird bestimmt durch unsere Selbstthätigkeit. Sie geht aber in das Eine hinein in das Andere nicht. Der Grund davon ist dasjenige was wir das Interesse nennen, und darin liegt dann der zweite Punkt der Oscillation. Die Stärke oder Schwäche ist also bedingt durch die Virtuosität des bestimmten Sinnes und durch das gegenwärtige Interesse, d. h. durch das Angezogensein der Seele zu dem Gegenstand. Auf diese Weise verschwindet uns das Gedächtniß ganz und gar als ein besonde-

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res Vermögen, es ist immer nur das Produkt aus den zwei Faktoren, Interesse und Stärke des Sinnes selbst. Das Eine aber kann auf mannigfaltige Weise das Andere bewegen. Das Eine ist ein physiologisches das Andere ein Geistiges Fundament. Aber es giebt doch nur solche große Virtuositäten des Gedächtnisses, wo kein | Interesse zu Grunde liegen kann! Dies liegt schon in einem andern Gebiet; Vorsagen von Namen und Zahlen bezieht sich nicht allein auf die Thätigkeit des Auges oder des Ohrs. Wer die Schärfe des Sinnes ohne das Interesse hat, der hat sein Gedächtniß für Andere und umgekehrt. Auf diese Weise verschwindet also ganz der Schein, daß das Gedächtniß etwas Besonderes ist. –

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Den geistigen Impuls bei einer Erinnerung können wir nicht anders nennen als einen Willensakt, und so ist dann das Festhalten des Bewußtseins ganz auf dasselbe wie das Entstehn zurückgebracht. Wenn wir von hier aus zurücksehn auf die Ansicht, welche etwas materiell Beharrliches annimmt, um das Bewußtsein zu erklären, so geht diese Ansicht davon aus, das Behalten erklären zu müssen, wir aber davon, das Verschwinden erklären zu müssen. Die zum Grunde liegende Differenz ist, daß jene Ansicht das Organische von dem rein Psychischen theils mehr trennt, theils mehr an einander knüpft. Man geht davon aus, beides könne nur dasselbe Maaß haben. Die Verbindung liegt darin, daß man sich die Seele gleichsam hinter dem Organ stehend denkt und die Thätigkeiten des Organs wahrnehmend. Indem wir bei unserer Ansicht davon ausgegangen sind, daß mit dem Anfang des Bewußtseins schon eine Totalität gesetzt sei, welche sich später mehr und mehr entwickelt, so liegt in der sinnlichen Konstruktion schon das tiefste Geistige; das sinnliche Substrat ist das der ganzen Welt, welche darin aufgenommen werden kann. Es entsteht uns hier die Frage, wo wohl die Gränzen des Menschlichen gegen das Thierische hier liegen mögen, damit wir so das Fundament unseres Aufsteigens erhalten. Es findet sich ein Analogon des Gedächtnisses bei den Thieren, welche oft bewundernswürdig. Zugvögel kennen ihre Nester, Hausthiere ihre Herrn wieder. Allein wenn 8–9 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 74: „Wer kein Gedächtniß hat für die Gegenstände für welche er sich interessiert, für den haben Andere das Gedächtniß: wer Gedächtniß hat für Dinge, für die er sich nicht interessiert, hat für Andere sein Gedächtniß. Obgleich, wenn wir uns einen Menschen isoliert denken, dieß bey ihm nicht Statt finden kann, denn für das, wofür er kein Interesse hat, wird sich auch sein Sinn nicht schärfen.“

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wir bei dem letzten Beispiel bleiben, so erfodern alle solche Äußerungen das Wiedererscheinen | des Gegenstandes, dazwischen etwas anzunehmen haben wir gar keine Ursach. Bei dem ersten Beispiel haben wir auch nicht Ursach, anzunehmen, daß bei der instinktartigen Bewegung eine bestimmte Vorstellung, ein bestimmter Willensakt zu Grunde liege. Das Unterscheidende ist die absolute Passivität. Der Hund sucht auch seinen Herrn, aber das beruht nicht auf der Auffrischung der Vorstellung, und eine Reproduktion giebt es also eigentlich nicht. Das Vermögen des Wiedererkennens ist erstaunlich beschränkt. – Wenn wir also das sinnliche Bewußtsein als ein relativ beharrliches aber auch wechselndes ansehn, und daran die höhere Entwickelung knüpfen wollen, so müssen wir zunächst darauf zurückgehn, daß die wirkliche Einheit des Bewußtseins nie durch einen einzigen Sinn sondern immer nur durch die Kombination mehrerer hervorgebracht wird. Wir müssen auf die Kombination nur noch in so fern unsere Aufmerksamkeit richten, in sofern sie der höheren intellektuellen Thätigkeit zu Grunde liegt. Wenn wir einen Akt betrachten, und denken wie das Höhere aus der Kombination entsteht, so entsteht diese durch ein Doppeltes, durch eine Sonderung und durch eine Verknüpfung. Es ist zuerst eine bestimmte Richtung der Aufmerksamkeit aus der verworrenen Totalität heraus nöthig; der zweite Moment ist dann die Verknüpfung der mit einander verbundenen Sinne. Nehmen wir etwas aus dem Gebiete der Gesichtserscheinungen, so schätzen wir es gleich ab nach den früheren Beobachtungen des Tastsinns. – Hier entsteht uns eine Differenz, die aber schon auf der Gränze unseres gegenwärtigen Gebietes liegt. Wir unterscheiden, einen Gegenstand wahrnehmen, und etwas an dem Gegenstand wahr|nehmen. Durch jenes wird uns ein Subject, durch dieses ein Prädikat. Wo diese Funktionen deutlich vorkommen, beruhen sie schon auf der Sprache. Worauf beruht dieser wichtige Unterschied? Die ganze Identität von Sprechen und Denken beruht auf diesem latenten Gegensatz. Ein Gegenstand aus dem Gesichtsfelde bietet uns nichts dar als die den Umriß bestimmende Farbe und die Einheit der Bewegung. Ich kann nun von jedem anfangen, von der Einheit der Bewegung, und dann werden die Farben schon Prädikat, oder auch umgekehrt. Ist die Operation vollendet, so daß die Totalität der Prädikate schon da ist, so ist es einerlei, wann der Prozeß entstanden ist, nicht aber in der Operation selbst. Es ist diese der bestimmte Grund 23–25 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 76: „Sondern wir aus dem Gesichtsfelde einen Gegenstand aus, so geschieht dieß ohne Hülfe des Tastsinns (nach früherer Analogie)[.] Wir schätzen das Körperliche aber schon durch das Gesicht: jeder fixierte Gegenstand ist wieder der Zerlegung fähig: er ist eine Mannigfaltigkeit für jeden Sinn: durch die Sonderung wird uns der Gegenstand Eins: dann geht aber erst die Analyse an.“

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des steten Wechsels von Wahrheit und Irrthum in allem was auf dieser sinnlichen Operation beruht. Gegenstände zu setzen ist also ein Akt der Kombination; in der ursprünglichen Handlungsweise kann etwas Richtiges sein, aber auch eben so leicht das Entgegengesetzte. – So bilden sich die Leiter für die Wahrheit und die für den Irrthum. Nur erst in der Totalität der Erkenntniß liegt die Wahrheit der Erkenntniß, bis dahin ist immer ein Schwanken. In dieser Nothwendigkeit, auf das ursprünglich Gesetzte das Andere zu beziehen finden wir die Anknüpfung zur weitern Fortschreitung. –

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Wenn wir die Totalität der Wahrnehmungen betrachten, so giebt es solche, die wir beharrlich setzen, und solche welche nicht beharrlich sind. Das bestimmte Setzen ist in der Sprache das Namengeben; die Aussage von Zuständen und Thätigkeit umfassen die Zeitwörter, die unpersönlichen Zeitwörter drücken das Flüchtige aus. Durch die Sprache kommt erst Ordnung in das ganze sinnliche Geschäft der Auffassung. Wenn auch einzelne Eindrücke vergessen werden, so werden es doch nie die | Wörter, welche ihren Gegenstand in dem allgemeinen Lebensgebiet haben. Es scheint aber zwischen der größten Fülle des Bewußtseins und der Sprache immer noch eine große Kluft zu sein. Die Sprache aber erleichtert das Streben zu der höchsten Fülle des Bewußtseins unendlich, denn mit dem Namen umfassen wir immer eine ganze Menge von Eindrücken. Nehmen wir den Namen Pferd, so denken wir da nicht an eine bestimmte Farbe, setzen aber doch gleich einen bestimmten Kreis von Farben, welche dabei vorkommen. Es wird nun eine eigene Aufgabe für uns zu betrachten: Die Thätigkeit der Seele in der Hervorbringung der Sprache. Das Entstehn der Sprache zu begreifen liegt nicht in unserem Gebiet. Wir finden den Menschen nicht anders als sprechend. Die Frage, ob der Mensch die Sprache erfunden habe, und warum gerade so, führt immer auf einen ersten Menschen zurück, und wir begraben uns diese Untersuchung ganz. Die Sprache ist eine ausströmende Thätigkeit, hat aber eine genaue Beziehung auf die aufnehmenden, und verwandelt eigentlich die einen in die anderen. So wie ein Gegenstand durch die Totalität der Sinne fixirt wird, so ist die Nothwendigkeit des Festhaltens, der Bezeichnung. Diese bezieht sich auf die Gegenstände zunächst, dann aber auch zugleich auf die Thätigkeiten. Die Bezeichnung ist nun noch gar nicht, was wir die Sprache nennen, worunter 8 Gesetzte] Gesetztes

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wir den ganzen Zusammenhang der artikulirten Töne verstehn. Wir müssen daher das Umschlagen der bezeichnenden Thätigkeit in den Ton betrachten. Bei Taubstummen ist die Bezeichnungsart ganz anders. Ob sie Begriffe haben, ist schwer zu entscheiden, aber Bezeichnungen haben sie; indem sie Bewegungen an die Stelle des Tons setzen. Das bringt uns auf den Gedanken daß wir die Wurzel der Sprache in etwas zu suchen | haben, was der Bewegung und dem Tone gemeinsam ist. Bewegung und Ton sind der natürliche Ausdruck des subjectiven Bewußtseins, als solche nicht willkührlich; werden sie das, so wandeln sie sich aus dem Subjectiven um in das Objective. Halten wir es nun fest, daß diese Bezeichnungen durchaus unwillkührlich sind, so müssen wir uns nun den Übergang von dem Subjectiven in das Objective klar machen. Wir müssen daher erst näher betrachten, was das Unmittelbare, das Unwillkührliche ist, nämlich Bewegung und Ton als Ausdruck des unmittelbaren Gefühls. Die Bewegung hatten wir nun zu Hülfe genommen und bleiben daher besonders beim Tone stehn. Wir wollen nun hier wieder den Unterschied des Menschlichen von dem Thierischen betrachten. Auch in dem thierischen Leben ist die Tonbezeichnung ein sehr verbreitetes Lebensmoment. Wir halten die Thiere, welche keine Töne hervorbringen mit einem viel geringern Bewußtsein begabt. Auch wenn wir auf die verschiedenen Zustände derselben Thiere sehn, so finden wir die Tongebung als das höchste Moment des natürlichen Lebens bezeichnend, (Begattungszeit). Allein wir finden darin doch noch keine rechte Analogie mit der Sprache, welche immer etwas Objectives ist. Alles Subjective ist Gesang, der ohne die Sprache bestehn kann. Alle Töne welche der Ausdruck des subjectiven Gefühls sind, sind eine Annäherung an den Gesang. In diesem ist das Zeit- und Tonmaaß das Dominirende, welches in der Sprache zurücktrit. Hiermit steht nun noch in Verbindung das Artikulirte des Tones. Die Differenz ist hierbei schwer anzugeben; wir können sie wohl fixiren an dem Gegensatze zwischen Selbstlautern und Mitlautern. Wo dieser nicht ist, da verschwindet der artikulirte Ton. Bei den Thieren trit diese Differenz zurück, es ist da ein chaotisches Ineinandersein beider. | Dem Menschen ist der artikulirte Ton wesentlich, aber es ist deutlich, daß die Differenz im Gesange gar nicht die Bedeutung hat, wir können uns eine Melodie auch brummen. Die gesungene Sprache ist die gebundene Rede, wo das bestimmte Zeitmaaß und der Rhitmus eintrit. Wollen wir beide Seiten auseinander halten, so müssen wir von der gesungenen Sprache abstrahiren. In dem Menschlichen ist uns der Unterschied zwischen dem Subjectiven und Objectiven ganz bestimmt gegeben. Die Thiere theilen sich durch ihre Töne auch Wahrnehmungen mit, allein es ist da immer ein chaotisches Ineinandersein beider. Daher trit die objective Seite wie die subjective

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nicht so hervor, selbst im Gesange der Vögel trit der Rhitmus ganz zurück. Die Annäherung an das Eine oder Andere ist verschieden nach den Arten der Thiere. –

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Es kam also darauf an zu zeigen das Entstehn des subjectiven Ausdrucks zugleich mit dem subjectiven Bewußtsein und den objectiven Ausdruck zugleich dem Entstehn der objectiven Bezeichnung. Wir machen nun eins von beiden Gebieten zum Gegenstande unserer besondern Betrachtung. – Wenn wir sagen müßten, daß jede stärkere Erregung des subjectiven Bewußtseins ein Äußerliches wird, und die Bestimmtheit dieses Äußerlichen organisch bedingt sei, so fragt sich, was hierzu die Analogie auf der Seite des objectiven Bewußtseins sei; wie entstehn da die bestimmten Elemente der Sprache? Das Einfachste ist, auf das Entstehn zurückzugehn, auf die Interjectionen. So wie diese bestimmt artikulirt und etwas Gemeinschaftliches werden, gehören sie allerdings der Sprache an. Nun können wir aber weder einen bestimmten Übergang finden aus dem Subjectiven in das Objective noch eine Ableitung von den Interjectionen. Wurzelwörter und Sylben lassen sich davon nicht ableiten; anders ist es mit der Verbindung des objectiven mit dem subjectiven Bewußtsein. Wir haben gesehn, daß die Thätigkeit des einzelnen Sinnes uns eigentlich nie einen Gegenstand fixirt, d. h. einen beharrlichen Punkt auf welchen sich nachher | eine Reihe von Sinnesthätigkeiten bezieht. Wenn wir nun das sich entwickelnde Leben betrachten, so ist die Richtung auf die Entwicklung der Sprache noch ganz zurückgedrängt, so lange wir bei den Sinnen das chaotische Ineinandersein finden, und dabei haben wir dann einen Übergangspunkt aus der bloß subjectiven Tonbildung in die Sprache. Je mehr die Sprache in der rein subjectiven Tonbildung versirt, desto größer ist die Willkühr in der Bezeichnung. Es fragt sich nun, was denn für ein Grund sei, den Gegenstand gerade so, und nicht anders, zu bezeichnen. Da hat man nun gesagt, die Bezeichnung beruhe auf dem Nachahmen. Der Natur in Rücksicht des Tons, Donner, der Be22 nun] nun auf 24–25 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 82: „Erst mit dem Sondern und Fixieren tritt die Sprache ein. Wo Combination eintritt zwischen mehrern Sinnen, ist Befriedigung des Erkenntniß-Triebes, [dies] muß auch die subjective Seite erregen,“

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wegung, Blitz, ganz allein damit kommt man doch immer nicht weit. Wenn wir in den verschiedenen Sprachen die Namen der Thiere betrachten, so sind diese durchaus nicht nach solchen wahrnehmenden Onomatopöien entstanden. Nun scheint auch die Differenz in den Sprachen hierin gar zu groß. Man könnte annehmen, indem man die Verschiedenheit solcher wahrnehmenden Bezeichnungen betrachtet, daß der Eindruck verschieden wäre, allein man gewinnt doch ganz wenig bei dieser Untersuchung. Die artikulirten Töne haben auch solche innern Endpunkte auf die sie zurückgehn, indem sie zurückgehn in die Brusthöhle pp. Man müßte eigentlich die Bedeutsamkeit aller Wurzeltöne in einer Sprache aufsuchen, wenn man einen organischen Zusammenhang finden wollte; allein da fehlen uns noch eine große Menge von Bedingungen und Vorarbeiten. Es liegt dieser Spiegel unsers Daseins noch ganz in dem Gebiete des Bewußtlosen. Eine andere Frage ist nun die, wie die Sprache täglich aufs neue entstehe, wie der Mensch auf der ersten Stufe seines Bewußtseins zum Sprechen komme. Man denkt sich gewöhnlich, daß die Kinder die Sprache lernen durch die Nachahmung. Sie würden | die Sprache nicht lernen, wenn kein Sprechenwollen da wäre. Wie entsteht also dieses? Es ist offenbar daß die Kinder anfangen mit einem freien Spiele der Sprechwerkzeuge; dann aber auch finden wir dabei den Ausruf bei einzelnen Wahrnehmungen, worin sie sich die Bezeichnung selbst erfinden. Dies geht gewiß dem eigentlichen Verstehn der Sprache voran; erst durch die innere Produktion werden sie hingeleitet auf den Zusammenhang der Sprache mit dem Bewußtsein. Man könnte das Entstehn also ebensogut wie aus einem Erlernen, von einer reinen Selbstthätigkeit ableiten. Wir können da mit der Reflexion und Beobachtung nicht erst tief eindringen. –

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[26. Stunde] Wir haben nun gleichsam drei Glieder einer bestimmten Reihe gefunden, den organischen Eindruck, das Kombiniren der Sinne, das Bezeichnen durch die Sprache. Letzteres ist das Fixiren der Begriffe und 5–8 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 82–83: „Woher die Verschiedenheit in der Nachahmung des Gleichen? Der Naturton kann von Verschiedenen verschieden aufgefaßt werden – oder das Bezeichnungssystem eines Volkes schickt sich besser zu dieser oder jener Art der Nachahmung. Auf beyden Seiten kommen wir auf physiologische Unterschiede. – So wenig wir eigentlich sagen können, warum wir die Freude so, die Trauer so ausdrücken, so wenig können wir sagen, | warum wir einen Gegenstand so oder so benahmen. Bey dem Einzelnen bestimmten Volkes ist dieß aber keineswegs willkührlich sondern durch das Innerste seiner Organisation bedingt.“

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das Bilden der Urtheile. Was auf den schon konstituirten Begriff hernach bezogen wird, das ist das Urtheil. Es versteht sich von selbst, daß weder Begriff noch Urtheil immer richtig gebildet sein müssen. Man muß immer unterscheiden den vorläufigen Begriff von dem welcher nach vollendetem Urtheile entsteht. Die drei Glieder also haben wir[:] Aufnahme, Kombination, Bezeichnung. Das Zweite können wir im weitern Sinne Denken nennen, das letztere ist das Sprechen. Beide sind bei uns nicht zu trennen als dem Innern und Äußern nach. Ein Aggregat von artikulirten Tönen ohne den Gedanken und Begriff wäre ein leeres Phantasiren, und mit dem Denken ist wieder immer ein inneres Sprechen verbunden. Es sind also zwei zusammengehörige Seiten ein und derselben Operation. Was ist nun das, wovon das Andere ausgeht? Wir können zweierlei denken, was dem Denken und Sprechen vorangeht als ein conatus. Wenn wir etwas bezeichnet haben, so sind wir in einem gewissen Grade dem überhoben, | daß wir den sinnlichen Eindruck festhalten. Jedes Bild ist seinem Ursprunge nach ein Einzelnes; erst in dem Fortschreiten entsteht uns eine gewisse Identität und Analogie der Gegenstände. In dem Worte entledigen wir uns alles dessen, was bei dem Auffassen das Besondere gewesen ist. Aber wir entledigen uns keineswegs des ganzen Bildes, sondern es bleibt aus dem Besonderen etwas für das Gemeinsame zurück. In dem allgemeinen Bilde ist das unveränderliche Maaß mit seinen Gränzen mitgesetzt. Ebenso mit der Farbe. Wenn für die eine Seite das Bild geringer wird, so werden auch die nachgekommenen Beziehungen wiederum mit aufgenommen und somit die Gränzen. Dieser letzte Theil der Operation ist nothwendig, wenn aus dem unvollständigen Begriff der vollständige werden soll. Der Anfang des Denkens ist also allerdings eine Schwächung von der Gewalt der Bilder. In Beziehung auf unsere aufnehmende Thätigkeit hat es keinen andern Werth mehr, als daß es die Realität des Begriffs bestätigt und dann 2) daß neue Bestimmungen hinzukommen. Wir haben drei verschiedene Arten, wie die Dinge in uns sind, durch den unmittelbaren Eindruck, durch Bilder, durch den Begriff. Es ist offenbar daß das Eine das Andere schwächt; das allgemeine Bild aber wird immer gestärkt, und niemals kann das Fortschreiten durch einen Nullpunkt des Vorhergehenden gehn. Dem Denken geht ein Denkenwollen voran, und das ist freilich ein sich losreißen wollen von dem sinnlichen Bilde. Eben so geht dem Sprechen ein Sprechenwollen voran. Denken und Sprechenwollen ist mehr gesondert in der Seele, erst in dem Akte selbst schlägt es zusammen. Das wirkliche Umschlagen aus dem Einen in das Andere können wir uns aber nicht zur vollkommenen Anschauung bringen. Wir wol7 nennen] so Göttinger Nachschrift, Bl. 52v; Ms.: lernen

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len uns denken, das Umschlagen des sinnlichen Bildes in die Sprache sei geschehn – Was ist nun der Umfang der Sprache? 1) die ganze Masse von Hauptwörtern die Umrisse der denen fehlenden bilden. Indem | aber der Gegenstand uns im Worte gegeben ist, sind die hinzukommenden Veränderungen mitgesetzt; dies Mitsetzen geschieht im Urtheil, und die Veränderung selbst liegt in den Zeitwörtern. Hauptwörter und Zeitwörter sind gleich allgemein; in beiden liegt der ganze Kern der Sprache. Das Verkehr der Sprache in den Haupt- und Zeitwörtern bringt die Adjectiven hervor, welche offenbar nur abgekürzte Urtheile sind, das Residuum derselben. Es wird dadurch ein Urtheil in ein anderes aufgenommen, was eben erst gefällt werden soll. Die Sprache aber will nun noch ganz etwas Anderes, sie will ein Ganzes in sich bilden, und so entstehn dann die vielen anderen Sprachelemente. –

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Wenn wir nur das Alltäglichste im Sprechen nehmen, so finden wir schon das Zusammengesetzte in der Rede wodurch das Verhältniß eines Gegenstandes zum andern ausgedrückt wird, das sind die Präpositionen, und dann die Verbindung der einzelnen Sätze durch die Konjunctionen. Die Präpositionen bestimmen nur Verhältniß der Gegenstände im Raum und der Zeit, die Konjunctionen sagen nicht Verhältniß in Raum und Zeit, sondern Kausalverhältnisse aus, im Allgemeinen. Das in Verhältnisse setzen ist ein zurückkehren wollen in das Ursprüngliche, das Chaotische. Es wird die Kontinuität mit dem früheren Bilde dadurch erhalten. Die Kausalverhältnisse kommen uns nicht durch die Wahrnehmung von außen, wir müssen sie hineinlegen, und es ist nichts Anderes, als das Bewußtsein unseres kombinatorischen Prozesses selbst. Wir sehen also von dem ersten chaotischen Eindrucke an bis hierher ein und denselben Prozeß sich entwickeln. Wir haben nun hierin das Princip des Hineingebildetsein der Welt in uns, zugleich mit dem Prozeß des Gedankens. Was hier hinzukommt ist keine andere Thätigkeit, sondern eine natürliche Fortsetzung des Früheren. Vom ersten Anfange an war es das Bestreben der Seele, die Welt in ihrer Totalität in sich hinein zu bilden, und dies ist erreicht in der | Totalität der Sprache. Wir sehen, daß von hier aus noch ein anderer Prozeß angeht. Durch die Namengebung werden eine Menge 2–3 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 52v: „1) die ganze Masse von Substantiven, deren jedes eine Einheit in dem früheren combinatorischen Verfahren der Sinnesthätigkeiten bezeichnet.“

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Bestimmungen zu einer Einheit verbunden, dasselbe können wir noch weiter fortsetzen; die auf diesem Verhältniß entstandenen allgemeinen Vorstellungen sind so beschaffen, daß das Einzelne zurücktreten kann, das Allgemeine aber in einer höheren Vorstellung zusammengefaßt. So können wir uns ein Hinaufsteigen denken bis zu einer solchen Einheit der allgemeinen Vorstellung, daß diese durch ihre Leerheit fast Null wird. Als Repräsentanten des letzten Gliedes dieses Prozesses können wir den Ausdruck Ding ansehn. Es bedarf von diesem Allgemeinsten wieder eines besonderen Herabsteigens. Die Vorstellung des Dinges ist die vollkommenste Abstraktion, wodurch das Schema für das Umfassen der ganzen Welt gegeben ist. Durch diese Operation will die Seele alles außer einander Gesetzte mit ein und demselben zusammenfassen. Das wollen alle Kausalverbindungen bedeuten. So sind wir zu dem ganzen Gebiete des Denkens gekommen, ohne einen bestimmten Absatz zu machen. – Zu der äußeren Wahrnehmung kommt die Wahrnehmung des Bewußtseins selbst hinzu. Wenn wir nun, was wir in der Sprache haben seinem ganzen Umfange nach betrachten, so haben wir darin alles was Erfahrung ist und was Wissenschaft ist; das ist aber entstanden durch die Eindrücke der Sinne und durch den kombinatorischen Prozeß. Allein es ist ja ein Gegensatz ausgesprochen durch Wissenschaft und Erfahrung, obgleich wir dieselbe Gennesis verfolgt haben? Wie entsteht der Gegensatz? Dem Gegenstande nach ist beides dasselbe; alle Erfahrung soll Wissenschaft werden, und diese soll alle Erfahrung umfassen. Wir scheiden also doch beides bestimmt. Was in den Präpositionen ausgedrückt ist, ist die Gennesis der Erfahrung; was in den Konjunctionen | ausgedrückt ist, die Gennesis der Wissenschaft. Die Präposition ordnet Raum- und Zeitverhältnisse, und was mir so in das Bewußtsein kommt, das ist Erfahrung. Wenn die Konjunctionen nun Kausalverhältnisse angeben, so wäre also die Wissenschaft der Kausalzusammenhang. Dies scheint etwas sehr untergeordnetes. Aber die Wissenschaft ist eben die Bestimmung des Ortes für das Bewußtsein. Es sind hier zwei verschie8–13 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 87: „Hier ist das Maximum der geistigen Freyheit[,] das Minimum des Bildlichen. Wir können uns die Bilder dadurch zurückrufen, allein es bedarf dazu einer besondern Operation, das Herabsteigen. Wenn aber der andere neuerliche Prozeß ebenso fortgehe, daß die Vorstellungen immer mehr zugleich bestimmter, schärfer begränzt werden, so wird diesem Ausleeren der Vorstellungen, wenn sie allgemein werden, wieder vorgebeugt. In dieser Hinsicht ist die Vorstellung des Dinges: unter der Form der vollkommenen Abstraction das Schema, nach dem die ganze Welt construiert werden kann. Was will diese aufsteigende Operation vom besondern zum allgemeinen sagen? Die Seele will das Außer einander gesetzte zusammen fassen. Wenn wir eine große Mannigfaltigkeit von thätigen und leidenden Zuständen in demselben wahrnehmen und sie in ihm selbst begründet finden, so ist es die Totalität seiner Zustände, sein Leben.“

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dene Arten von Thätigkeiten, aber nur in so fern sich das Bewußtsein auf verschiedene Weise ordnet. Das Aneinanderreihen des Bewußtseins ist der eine Prozeß, der mehr mechanische; die Konstruktion des Bewußtseins unter der Idee der Welt ist die andere Thätigkeit, die organische. Beide sind immer schon vom ersten Anfange an. –

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[28. Stunde] Die beiden verschiedenen Thätigkeiten sind das Aufnehmen des Einzelnen in die Totalität und das Herauskonstruiren aus derselben, das Eine stellt mehr die Selbstthätigkeit dar das Andere mehr die Rezeptivität aber doch auch immer unter der Form der Selbstthätigkeit. Das Eine ist mehr die Arsis, das Andere mehr die Thesis. Auf der einen Seite ist die Gränze die absolute Totalität aller Erfahrung, auf der andern Seite durch Aufgenommensein aller Erfahrung in die Wissenschaft. Bis beides vollendet ist müssen wir das menschliche Geschlecht immer noch im Sprechenlernen begriffen denken. Dies führt uns auf die zweite Betrachtung, nämlich des Erkennens nicht seinem Umfange sondern seiner Wahrheit nach. Die vollkommene Wissenschaft kann nur sein in dem vollständigen Ineinandersein, d. h. wenn die Totalität der Erfahrung und die Totalität der Wissenschaft vollkommen ein und dasselbe sein werden, so daß es nur darauf ankommt, von welcher Seite man eine Sache betrachtet. Bis dahin ist die Wahrheit nur ein Werden, und das Wahre mit dem Fal6–13 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 89: „Es sind 2 verschiedene Elemente von Thätigkeiten die aber in jeder Lection, worin uns das eine oder andere entsteht, alle Mahl verbunden sind, wenn schon auf verschiedene Weise. Schon in den ersten Elementen, im ursprünglichen Auffassenwollen, liegt die erste Basis der Erfahrung, die Wissenschaft aber entsteht uns schon in jenen ersten Äußerungen durch die Richtung auf die Combination. Es ist schon hier dasselbe, was später in der eigentlichen Wissenschaft, die Construierung der Einheit aus einer unbestimmten verworrenen Totalität. Die Wissenschaft ist nur, sofern die Totalität in die Einheit aufgenommen wird, und dazu gehört immer schon Sammeln: in der Erfahrung ist eine bloß mechanische Construction der Reihe nach in Zeit und Raum; in der Wissenschaft kommen diese entweder gar nicht vor, oder werden erst mit den Gegenständen selbst construiert, verschlungen von dem Ort, wohin jeder in der Wissenschaft gehört. Es ist also ein relativer Gegensatz des Aufnehmens des Einzelnen in dem Zustandebringen der Totalität, und der Construction der Einzelnen aus der vorausgesetzten Totalität. Dieser ganze lebendige Puls der erkennenden Thätigkeiten ist eine Art oscillierender Operation. Diese fortgehende Thätigkeit fixiert die Sprache; das Ziel ist eine absolute Gemeinsamkeit einer Totalität der Erfahrung, das absolute Seyn aller Gegenstände in der Idee der Wissenschaft. Die Operation, deren beyde Elemente wir nicht zu trennen wüßten, ist selbst in einem beständigen Werden begriffen, und nur in der Vollendung beyder können wir sie uns vollendet denken:“

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schen muß gemischt sein in diesem Prozesse. Die Richtung ist von Anfang an auf die beiden Totalitäten und auch auf dasselbe Ineinandersein. Dies ist aber bewußtlos, in dem Ende aber muß die Bewußtlosigkeit in das vollkommene Bewußtsein übergegangen sein. – Worauf beruht dann die Wahrheit aller | Erkenntniß überhaupt? Wir versiren da in dem Gebiet, wo man in unsere psychologische Untersuchung die ganze Philosophie hineinschließen kann. Dabei aber müßte vorausgesetzt werden, was durch den Gang unserer Untersuchung nicht hat erreicht werden können. Es würde überdies unsere Gränzen völlig überschreiten. Wir können aber nicht umhin, von unserem Standpunkt aus gewisse Gegensätze der Philosophie für einseitig zu erklären, nämlich wenn Einige behaupten, die Wahrheit beruhe auf Erfahrung, oder auf Erkenntniß der Wissenschaft. Wir haben gesehn, daß nur durch das Ineinandersein beider die Wahrheit erkannt wird. In den Sinneseindrücken ist unmittelbar gegeben das Zusammensein der Dinge und des Menschen, die Sinneseindrücke sind die Art des Ineinanderseins unserer selbst und aller Dinge. In der Thätigkeit der Seele mit denselben Sinneseindrücken haben wir die Seele gefunden in dem Suchen der Welt begriffen, und die Idee der Welt also als ein uns leitendes Prinzip, obgleich ganz bewußtlos mitgesetzt. Aus beiden zusammen entsteht dann die Totalität der Erfahrung und der Wissenschaft. [1)] Die Idee der Welt ist in unserem Verhältniß zu der Welt ein ideales, und die Eindrücke der Dinge in Beziehung auf uns ein rein reales. Nur in wiefern beides dasselbe ist, kann ein Ineinandersein von Erfahrung und Wissenschaft zu Stande kommen. Je mehr man darauf beharrt beides zu trennen, je geringer ist die Voraussetzung der Wahrheit und umgekehrt. 2) Die Wahrheit beruht aber in jedem der beiden Gebiete darauf, daß die Welt so eingerichtet ist, daß sie sich durch das Sein der Dinge in uns finden läßt, und wiederum, daß das Sein der Dinge die innerste vorausgesetzte Idee der Welt erregt. Wäre dieses nicht, so wären wir in einer beständigen Täuschung. Wir müssen nothwendig an die Zusammengehörigkeit des realen und idealen Elementes unserer Sinnesthätigkeit glauben. Unser Bleiben in den Operationen ist nichts Anderes als dieser Glaube selbst. Dies ist aber nur der Anfang. In | allen dazwischenliegenden Operationen – ist da ein Entsprechen rein wahr? Nein! Die Erfahrung zeigt sich uns immer veränderlich; und die Wissenschaft hat überall einen vernichtenden, polemischen Theil, den sie nicht haben könnte ohne die Voraussetzung des Irrthums. Wir können dieses nun zurückführen auf zwei verschiedene Verfahrungsarten in den Formen des Denkens. Wir gehn dabei zurück auf die erste Stufe. Die Seele ist begriffen in einem Auf2 dasselbe] denselben

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nehmen einzelner Theile und einer Kombination der Eindrücke für die sie etwas Gemeinschaftliches setzt. Es werden aber da nicht gerade die Eindrücke am meisten kombinirt, welche am meisten das Wesen des Gegenstands ausdrücken. Das Bleiben in dem zusammenfassen der Eindrücke scheint uns ein hemmendes und in Beziehung auf die Möglichkeit des Zusammenfassens als eine Skepsis. In Beziehung auf das Unterbrechen der Eindrücke erscheint sie uns als ein ungeduldiges Vorauseilen. So viel hiervon in unseren Operationen ist, so viel Irrthum wird darin sein; so viel Skepsis ohne Noth, so viel Unorganisches, Chaotisches in unserem Denken. Wir können uns ein Fortschreiten zwischen beiden denken. Dieses wäre eine absolute Richtigkeit des Instinkts von dem Bewußtsein, und mit diesem eine absolute Sicherheit der Überzeugung. Indem wir aber die Möglichkeit eines unermüdlichen Vorauseilens und ebenso die eines leeren Zauderns gesehn haben, so setzt der reine Durchgang voraus eine Seele, die in einem absoluten Gleichgewicht bliebe. Dieses ist unmöglich, und wir können uns daher die werdende Wahrheit nur so denken als die es theils durch sich selbst wird, theils durch das Eliminiren des auf entgegengesetzte Weise entstandenen Irrthums. –

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Wir sind überall ausgegangen von der Beziehung auf die Sprache, indem wir das Denken vom Sprechen gar nicht trennen können; dadurch wird das Erkennen eingeschlossen in das Gebiet einer einzelnen bestimmten Sprache. Wie verhalten sich diese | hiernach verschiedenen Arten des Denkens? Wir können diese reduziren auf ein schon Abgehandeltes. Die Trennung auf dem Grunde des verschiedenen Sprachenvermögens gehört mit zur Konstruktion der Welt. Wir kommen aber hier an einen Gränzpunkt, und werden erst später die aufgestellte Formel ausfüllen können; indem nämlich hier das Verhältniß der verschiedenen Ganzen des Menschlichen Geschlechtes zur Sprache kommt. – Eine andere Frage ist die: Wir sind überall ausgegangen von der Idee der Welt als leitendem Prinzip, welche zu Grunde liege der ersten fixirenden menschlichen Thätigkeit. Unter diese allgemeine Form konnten wir alles, was im Gebiete der Erfahrung und Wissenschaft liegt, subsummiren. Aber nun haben wir auch eine Produktion der menschlichen Seele, welche außer aller Erfahrung und Wissenschaft liegt, die Idee der Gottheit, welche sich durchaus nicht aus der 14 die] sie

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Erfahrung und der Idee der Welt erklären läßt. Man hat gestritten über die Wirklichkeit dieser Idee wie über ihre Entstehung. Was den Streit über die Realität betrifft, so giebt sich hier das Verhältniß zu erkennen, daß Behauptungen, die als reiner Atheismus angesehn werden können, zusammenhängen mit dem Skeptizismus, und dem Abweisen der Konstruktion der Idee der Welt. Freilich können wir nicht nachweisen, daß dieser Gedanke eben so wie die Idee der Welt dem menschlichen Geist zu Grunde liege, aber wenn doch eine Beziehung liegt zwischen dem Behaupten und Leugnen, so fragt es sich doch nach dieser Beziehung. Was nämlich setzt man an die Stelle, wenn man die Realität des Gedankens leugnet? Da finden wir zwei entgegengesetzte Vorstellungsarten, die eines ursprünglichen Dualismus, wodurch ein gewisses Gleichgewicht zwischen Produktion und Zerstörung | gesetzt und somit die Idee der Gottheit aufgehoben wird, oder 2) man setzt eine Identifikation zwischen Zufall und Nothwendigkeit. – Wenn wir uns denken, den Skeptizismus als das Abweisen der Foderung, daß die Totalität bei allen Menschen zu Stande kommen soll, so ist geleugnet die Zusammengehörigkeit des die Menschen treibenden Prinzips. Die Idee der Gottheit steht überall in genauem Verhältniß mit der Zusammengehörigkeit beider Punkte, und so weist der Skeptizismus immer die Idee der Gottheit ab. Denken wir uns die Konstruktion eines absoluten Dualismus, so ist dieser eben so sehr entgegen der Zusammengehörigkeit beider Prinzipien, denn die Idee der Welt ist eine Einheit, soll die erfüllte Welt aber hernach zu Stande kommen, so kann dies nur so geschehn, daß diese Erfüllung der Gegensatz der ursprünglichen Idee sei. – Die Leugner sagen nun, die Idee der Gottheit sei ein bloßes Produkt der menschlichen Seele, welche sich gar nicht auf die Zusammengehörigkeit mit der Welt bezieht. Von einem solchen freien Spiele der menschlichen Seele in der Produktion haben wir nicht geredet, weil es nur an die Gränze des Gebietes gehört. Wie kommen wir von unserer Entwickelung aus zu diesem Gränzpunkt? Wir fangen an mit der Gennesis der organischen Eindrücke; da ist das Nichtgehemmtsein der Rezeptivität und der äußere Eindruck der Grund der Vorstellung. Die so entstandene Produktion des Bewußtseins ist nie rein, sondern immer geheftet an die Rezeptivität. Gehn wir weiter zur Idee der Welt, so war hier Wahrheit und Irrthum immer gemischt; eine forttreibende und eine hemmende Thätigkeit. Darin liegt die Möglichkeit mannigfaltiger Resultate des Bewußtseins von jedem Punkt aus. | Diese Vorstellung der Mannigfaltig13 gewisses] gewissen

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keit ist auch eine Produktion, und zwar um so mehr je bestimmter sie ist. Nun müssen wir sagen, alles was man als eine solche Produktion ansehn kann, versirt zwischen den beiden Punkten, der Erinnerung und der Ahnung. Diese gehören in das Gebiet der Selbstthätigkeit und insofern nicht hierher. Die Idee der Gottheit, als einer rein innern, können wir daher von dieser Seite gar nicht betrachten, und sie nun als Gränzpunkt hinstellen. Die Entwickelung des objectiven Bewußtseins finden wir immer begleitet von den Zuständen der Überzeugung und des Zweifels. Das ist das Selbstbewußtsein, welches immer die ganze Reihe begleitet. So gehen wir nun über zu dem, was nach unserem Schematismus das Nächste ist. –

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Indem wir die Seele betrachteten als ein Bewußtes, kamen wir auf den Gegensatz des objectiven und subjectiven Bewußtseins und fanden beides als sich ausschließend. Denken wir uns aber einen Gegenstand klar vorstellend, so haben wir in dem Augenblicke kein Bewußtsein unserer selbst, und umgekehrt. Wir haben nun die eine Reihe entwikkelt, und haben die andere nun vor uns. Die erste Stufe des Selbstbewußtseins haben wir uns schon vorgehalten, die Zustände des Angenehmen und Unangenehmen. Es fragt sich nun ob es hier auch wie bei den organischen Eindrücken bis zur Totalität des Denkens hin etwas Gemeinschaftliches gebe. Da sind nun auch wieder ganz entgegengesetzte Ansichten. Schon das bloß Physische in dem Gegensatze ist anders im Thierischen; aber da sagt nun die eine Ansicht, diese Erhebung über das Thierische würde für sich allein ein Minimum sein. Die andere Ansicht sagt, es müsse | alles zurückgeführt werden auf diesen Gegensatz des Gefördert- und Gehemmtseins. Denselben Gegensatz der Ansichten finden wir auf der Seite des Objectiven. Es fragt sich, was hierbei die Einen sondern und voraussetzen, die Andern leugnen. – Wenn wir auf die Resultate der weitern Entwickelung des objectiven Bewußtseins sehn, so wollen wir daran die Erweiterung des subjectiven Selbstbewußtseins knüpfen. Es ist das Selbstbewußtsein welches sich auf die intellektuellen Thätigkeiten der Seele bezieht, demselben Gegensatze des Gefördert- und Gehemmtseins unterworfen. Es ist dies leicht einzusehn; das Erwerben einer neuen Einsicht ist mit einem angenehmen Gefühl verbunden, die Erregung des Zweifels mit einem unangenehmen. Diese Steigerung ist nicht diejenige, wogegen eine Opposition sich erhoben hat, und welche geleugnet wäre,

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wenigstens nur in so fern als die höheren Evolutionen des objectiven Selbstbewußtseins von Einigen immer für etwas Leeres gehalten werden. Ganz anders ist es mit einer andern Entwickelung des Selbstbewußtseins welche kein solches Aufsteigen, sondern ein Verbreiten in die Weite ist. Wir meinen damit alles, was wir mit einem Worte durch Mitgefühl bezeichnen, d. h. ein Gefördert- und Gehemmtsein, welches sich nicht auf das [bezieht] was in unserem eigenen Gebiete, sondern in dem Gebiete eines Anderen vorgegangen ist. Einige sehen dies als das Eigenthümliche des Menschen, Andere als eine bloße Täuschung an, indem ja doch immer eine Beziehung auf die eigene Persönlichkeit zu Grunde liege. Was ist das Rechte? Der Streit ist nun etwas ganz Innerliches und sehr wichtig. Es ist nichts leichter als solche Fakta zu fixiren. Es entstehn eine Menge von Thatsachen, bei denen das Bewußtsein am Ende durch Wiederholung ganz verschwindet, wie mit allen Gewohnheiten. Wir müssen hier wieder unsern gewöhnlichen Gang gehn, und die Gränze des Menschlichen | gegen das Animalische bestimmen. Auch bei den Thieren finden wir ein gewisses Mitgefühl; zunächst und am unmittelbarsten in der Sorge der Eltern für die Jungen. Dies geht aber doch zurück auf die frühere physische Lebenseinheit; daher hört diese Erregung des Gefühls auf, sobald diese Lebenseinheit ganz abgebrochen ist. Wir finden aber bei den Thieren auch gesellige Zustände, welche allerdings ein solches sympathetisches Bewußtsein voraussetzen. Aber es hat auch dies ganz den chaotischen Karakter, den das Thierische überhaupt hat. Wenn wir die menschlichen Zustände, die dies zunächst sind betrachten, so geht das erste Mitgefühl auch zurück auf die frühere Lebenseinheit. Allein mit dem Physischen verbindet sich da gleich das Intellektuelle. Auf einer gewissen Stufe freilich finden wir eine große Analogie mit dem Thierischen auch bei den Menschen; betrachten wir aber in dem geselligen Verhältniß den Zustand des Einzelnen, so finden wir doch eine bestimmte Entgegensetzung. Das Mitgefühl ist da schon etwas Bewußtes, und trit im Gefolge des reinen Selbstgefühls auf. Läßt sich dies nun zurückführen auf den bloß persönlichen Vortheil? Wir müssen dabei zuerst die Stufe betrachten, wo die Analogie mit dem Thierischen ganz verschwindet. Es giebt unter den Menschen Verhältnisse welche nicht gefunden werden, sondern durch einen gemeinsamen Akt entstehn. (Das Geschlechtsverhältniß müssen wir dabei ganz bei Seite lassen). Wir wollen nun einmal annehmen, daß das Mitgefühl immer durch das Persönliche bestimmt werde, und das Mitgefühl nur erwache, wenn das eigene Dasein gefährdet ist. In dem bürgerlichen Zustand ist eine solche Reduktion sehr leicht. Das Wohl jedes Einzelnen hängt da mit dem jedes Andern zusammen. Der Grund davon liegt | in der

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Theilung der Arbeit. Ganz anders ist es in dem früheren Zustande, wo der Mensch mit allen Bedürfnissen an sich selbst gewiesen ist, und die Menschen doch nicht von einander lassen. In den roheren Zuständen steht das Mitgefühl allerdings noch mehr dem Thierischen nahe, allein doch ist in einem vorbürgerlichen Zustande immer nicht das Chaotische. Wir sehen dieses wohl am meisten da, wo zwischen zwei Menschen ein Verhältniß durch freie Wahl entstanden ist. Da hat man nun gesagt, das Mitgefühl reduzire sich auf die Form der Besorgniß oder Furcht oder der freudigen Erinnerung, beruhend auf dem Gefühle der Ähnlichkeit. Das würde voraussetzen, daß die Stärke und Schwäche des Mitgefühls abhange von der größern oder geringern Ähnlichkeit, welches sich aber gar nicht bestätigt. Wo wir das Mitgefühl wirklich finden, da läßt sich die Voraussetzung leicht als falsch erweisen. Woher das abwehrende Bestreben für einen Anderen, wenn nur Besorgniß für sich selbst dem Mitgefühl zu Grunde liegen soll? –

1–7 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 96–97: „Im eigentlichen bürgerlichen Zustande kann der Einzelne sich nicht selbst genügen. Anders ists im frühern Zustande, wo jeder mit seinen Bedürfnissen auf sich selbst gewiesen ist und die Menschen doch Interesse an einander nehmen. Man muß schon gewaltige Überlegung voraussetzen, um das Mitgefühl zu erklären: das Mitgefühl bey den Wilden wird nicht verstärkt durch die größere Gefahr. Hier ist das Mitgefühl freylich noch mehr in A|nalogie mit dem Thierischen. So sagt man: Ihr seht im bürgerlichen Zustande, wo das persönliche Bewußtseyn mehr hervortritt, tritt auch das Mitgefühl mehr hervor; und dieß bestätigt unsere Hypothese. Im vorbürgerlichen Zustand ist das rein-Menschliche und Thierische noch nicht genug gesondert, das Selbstgefühl und Mitgefühl ist noch nicht leicht zu unterscheiden. Am bestimmtesten zeigt sich dieß in Verhältnissen freyer Wahl.“ 7–10 Vgl. Hume, David: A treatise of human nature, Bd. 1–2, London 1817, hier Bd. 1: „Now ’tis obvious, that nature has preserved a great resemblence among all human creatures, and that we never remark any passion or principle in others, we may not find a parallel in ourselves. The case is the same with the fabric of the mind, as with that of the body. However the parts may differ in shape or size, their structure and composition are in general the same. There is a very remarkable resemblence, which preserves itself amidst all their variety; and this resemblance must very much contribute to make us enter into the sentiments of others, and embrace them with facility and pleasure. Accordingly we find, that where, beside the general resemblance of our natures, there is any peculiar similarity in our manners, or characters, or country, or language, it facilitates the sympathy.“ (S. 413–414; Traktat über die menschliche Natur, Bd. 1–2 Hamburg 2013, hier Bd. 2, S. 383–384) 14–15 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 97: „Das erregte Selbstbewußtseyn geht immer in ein Bestreben aus. Was müßte dieß für ein Bestreben seyn? Die Erinnerung an frühere schlimme Zustände, ist etwas Unangenehmes: das Unangenehme kann aufgehoben werden durch Aufhebung der Veranlassung der Erinnerung, 2) aber auch durch Richtung der Aufmerksamkeit auf Andere. Beym Mitgefühl finden wir nur das erste. Im Fall der Furcht müßte das Mitgefühl ausgehen im Bestreben sich selbst sicher zu stellen, nicht dem andern zu helfen: da es aber diesen Ausgang nicht hat, so muß es auch einen andern Verlauf haben, als ihm jene Hypothese unterschiebt.“

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Die Schwierigkeit der Betrachtung mehrt sich mit den sogenannten vermischten Empfindungen, d. h. wo Angenehmes und Unangenehmes zugleich ist. Es scheint etwas Nothwendiges zu sein, daß beides in einem Momente zusammen sei, nur daß man sich dessen nicht bewußt ist. Es kann auch durch einen Sinn eine angenehme, durch den andern eine unangenehme Empfindung entstehn, welches freilich schon wieder ein Außereinander ist. In den Gemüthsempfindungen aber ist ein reines Ineinandersein, und da kommen die Erklärungen welche rein auf das Persönliche zurückgehn, immer zu kurz. So z. B. Mitleid, oder im Allgemeinen alles dasjenige, was eine Rührung anzeigt. Fragt man, wie dies Ineinandersein zu erklären sei, so ist immer die einzige Erklärung, daß der Empfindende in diesem Augenblicke ein doppeltes Subject sei, und daß der | Eindruck sich auf diese Duplizität beziehe. Der Andere, welcher der Gegenstand der Rührung ist, wird in meine Subjectivität mit aufgenommen, die Aufnahme selbst ist etwas Unangenehmes, allein zugleich entsteht dadurch eine Erweiterung und Erhöhung des eigenen Lebens, worin wiederum das Angenehme entsteht. So ist es auch mit allen Affectionen, die durch öffentliche Unglücksfälle entstehn. – Dies ist es nun, was wir noch näher zu betrachten haben. Wir haben schon einmal auf die bedeutenden Unterschiede hierbei aufmerksam gemacht. Das neugeborene Kind ist mit der Mutter noch Eins. Hier knüpft sich die Erweiterung des eigenen Bewußtseins an das Physische, und so ist denn das Ursprünglichste immer dieser Zusammenhang zwischen Eltern und Kindern. Der Keim zu einer andern Erweiterung des Bewußtseins liegt dann in der Familiengemeinschaft. Was hieran das Physische ist, ist gerade das Schwierigere. Wir mögten dies, außerhalb alles Naturzusammenhanges eine Wahlanziehung, Wahlverwandschaft, nennen. In dem physischen Naturzusammenhang finden wir für diese Erweiterung des subjectiven Bewußtseins einen doppelten Typus, den der Unterordnung und der Gleichheit. Jene liegt in dem Verhältniß der Eltern zu den Kindern, diese in dem der Geschwister. Diese beiden Verhältnisse können wir durch alle andern Arten des Naturzusammenhangs hindurchführen. Bei den Thieren finden wir diesen Naturzusammenhang auch. Am meisten sehen wir es bei den höheren Gattungen; allein mit der Auflösung des physischen Bandes welches durch das Nahrungverschaffen der Mutter geknüpft wird, löst sich das Verhältniß ganz auf, und es trit eine Isolirung ein, welche eine Erweiterung des Bewußtseins durchaus unmöglich macht. Wenn wir | die Thiere betrachten, die in geselligen Verhältnissen leben, so werden diese zum Theil durch

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das Geschlechtsverhältniß gebildet, theils aber auch nicht. Wo das Letztere der Fall ist finden wir aber doch nie solche Wahl Anziehungen, und der Inhalt des Zusammenhanges erscheint überhaupt als etwas rein Negatives, indem sie nur unter einander nicht in einem solchen feindseligen Verhältniß leben wie die ganze Gesellschaft mit andern Thieren. Etwas Positives in der Geselligkeit finden wir nicht. Auf den untergeordneten Stufen des Menschlichen finden wir es ähnlich, ein geringeres Wirken auf einander und den überwiegend negativen Karakter. Aber ganz so ist es nie, und nach dem Mehr oder Minder schätzen wir den Grad der Rohheit ab. Das Intellektuelle ist in dem Menschen etwas Wesentliches, und wir finden in jedem Einzelnen eine Tendenz, Andere in die eigene Subjectivität mit aufzunehmen. Es sind dies die freiesten Verhältnisse welche so entstehn, und wir können sie daher am besten zur Basis unserer Betrachtung machen. Wir haben schon gesagt, daß sich das Verhältniß auf Gleichheit und Ungleichheit der beiden Subjecte gründet. An dem erweiterten Subject können beide verschiedenen Antheil haben, wenn der Eine mehr der Thätige, der Andere mehr der Aufnehmende ist. Dieses ist bei allen der Fall, wo das Verhältniß von der einen Seite den Karakter der Ehrfurcht hat. Dies hat seine Analogie in dem Verhältniß zu den Eltern, die Gleichheit aber die ihrige in dem Brüderlichen. – Den Erfolg bezeichnen wir mit dem allgemeinen Ausdrucke der Theilnahme, das Fortbestehn des Verhältnisses selbst aber ist begründet | auf der fortgesetzten Thätigkeit der Anziehung. Diese ist eigentlich die Hauptsache, die Theilnahme aber nur Resultat. Dies muß man festhalten in der Betrachtung. Die Theilnahme ist entweder eine Mitfreude oder ein Mitleid; beide haben vollkommen gleichen Werth, obgleich das Eine etwas Angenehmes, das Andere etwas Unangenehmes ist. In Beziehung auf den Andern wird uns Mitfreude lieber sein, in Beziehung auf das Gemeinsame aber können wir keinen Unterschied zwischen beiden machen. Wir wollen hierbei stehn bleiben, und das Verhältniß in seinem Werden betrachten von der untersten Stufe an. Der Zustand der Rohheit ist da, wo der Einzelne aus dem Naturzustand am wenigsten herausgebildet ist; der höhere Zustand da, wo die Eigenthümlichkeit des Einzelnen mehr herausgebildet ist. Danach richtet sich dann auch das größere und geringere Maaß jener Anziehung. Aber es entsteht auch eine Abstoßung. Wie haben wir uns diese zu erklären? –

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[32. Stunde] Es giebt nämlich viele ganz uneigennützige Verhältnisse der Antipathie, sonst braucht sich das Feindselige gar nicht auf den Menschen zu beziehn. Man kann sich den Grund davon schwer angeben. Diese

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allgemeine Frage führt uns darauf, daß wir uns die ganze Entwickelung in diesem Bezirke klar machen. Wenn Widerwärtigkeit gegen einen einzelnen Menschen auf diese Weise entstehen kann, so verräth diese offenbar eine gereizte Empfindlichkeit. – In dem Zustande der Rohheit trit das Mitgefühl und das persönliche Gefühl aus einander. Antipathieen bezeichnen einen Konflikt zwischen dem Geselligen und Persönlichen, und erst der erhöhte Zustand der Geselligkeit scheidet denselben wieder aus. Wenn wir das Mitgefühl auf diesem Wege der Entwickelung und dabei den mittleren Zustand betrachten, | wo der Konflikt entsteht, so müssen wir dabei die Gestalt des Mitgefühl betrachten, in welcher der Konflikt nicht entsteht. Daraus sehen wir daß der Konflikt in dem persönlichen Gefühl des Einen in dem geselligen des Andern liegt. Zu Neid und Schadenfreude ist immer ein bestimmter Grund. Neid entsteht durch die Verletzung des geselligen Gefühls durch das persönliche Gefühl des Andern. Ebenso ist es auch mit der Schadenfreude, nur umgekehrt. Wenn wir sehn auf die ungleichen Verhältnisse, wo durch gegenseitige Anziehung der Eine vom Andern empfängt, so finden wir darin auch einen allmähligen Übergang. Derjenige der über dem Andern steht ist ebenso zur Mittheilung als der Andere zur Aufnahme geneigt, wenn das Gleichgewicht sein soll. Ist dies nicht mehr, so folgt eine Erkältung, bei welcher Bewunderung immer noch statt finden kann, die gesteigert, in Neid übergeht. Dasselbe können wir sehn, wenn wir uns auf eine andere Stufe stellen, auf die des Zornes. Es wird immer postulirt, daß zwei Menschen über ihre Rechtsverhältnisse einig sein sollen. Handelt Einer dagegen, so entsteht daraus in dem Anderen das Verhältniß des Zornes. Dieser ist aber selbst immer etwas Persönliches. Wenn wir selbst dabei aus dem Spiele sind, so entsteht in uns nicht die Bewegung des Zornes, obgleich die Verletzung eigentlich gegen uns ebenso ist, sondern nur die reinere des Unwillens. Denken wir uns den Unterschied zwischen 7 scheidet] scheiden 13–22 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 59r: „Je mehr ein anderer gezeigt hat, daß das Mitgefühl in ihm noch nicht aufgekommen ist, je mehr beneidet man die Förderung seines Lebens. Je mehr das Mitgefühl verletzt ist, je mehr findet man den Neid und die Schadenfreude verzeihlich. Die alten Epiker subsummiren sie in diesem Fall unter den Begriff der Nemesis. Ebenso wenn wir auf das ungleiche Verhältniß sehen, wodurch die gegenseitige Anziehung empfangen kann, so finden wir auch hier eine entgegengesetzte Beziehung. Die reine Ehrfurcht ist da, wo es keinen Conflict zwischen dem Mitgefühl und dem rein persönlichen Gefühl giebt. Wird das Mitgefühl erkaltet, so geht die Ehrfurcht in die bloße Bewunderung zurück, und so kommt in die Bewunderung eine Analogie von Neid.“ 26–27 Dieser … Persönliches.] Zusatz Züricher Nachschrift, S. 108: „nicht so im Unwillen. Schon die Alten unterschieden so θυμος, das reine Mitgefühl, von 6ργη, dem mit Persönlichkeit versetzten.“

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Zorn und Unwillen völlig aufgehoben, so sehen wir dies als die höchste Vollkommenheit in dieser Hinsicht an. Ebenso wird das Persönliche ganz vertilgt, wenn Einer das Gefühl der Bewunderung ganz rein erhalten kann von Neid. Besehen wir das Feld nur noch einmal in Beziehung auf die sympathetische Anziehung und Abstoßung, so erscheint uns das ganze Verhältniß in dem | Bestreben, die Schranken der Persönlichkeit zu durchbrechen. In dem gemeinsamen Interesse soll das Persönliche Interesse untergehn; nicht aber so, daß die Eigenthümlichkeit darin verloren geht. Das Streben geht darauf hin, daß Einer den Andern mit in sich aufnehmen will. Dies geschieht aber der Eigenthümlichkeit wegen von jedem auf eine besondere Weise. – Wenn wir dem etwas näher kommen wollen, wo das Mitgefühl auf einer gewissen Naturbasis ruht, so knüpfen wir das wohl am besten an das was wir Ehrgefühl nennen. Dieses hat immer seinen Gegenstand in einer gewissen Identität, sei es der Talente, Beschäftigung oder sonst. Das Ehrgefühl wendet sich immer von dem gemeinsamen Bewußtsein zu der einzelnen Klasse ab. Das Ehrgefühl ist das Interesse an der guten Meinung Anderer aber nur in so fern als es gemeinsames Bewußtsein wird. Gegen den Einzelnen entsteht nur eine Antipathie. Das Streben geht dahin, daß das Dasein des Einzelnen auf die rechte Weise in das gemeinsame Bewußtsein Anderer aufgenommen werden solle. – Der Ehrgeiz bezieht sich auf das Aufgenommenwerden nicht auf die rechte Weise. Wir müssen umgekehrt auch in der Gestimmtheit das Streben setzen, jeden Einzelnen mit in das Gemeingefühl aufzunehmen. Die Ausartung des Ehrgefühls ist die Eitelkeit, welche sich immer auf den Einzelnen als Einzelnen bezieht, und ein Zerfallensein des Ehrgefühls andeutet. Sie sucht sich immer nur ein Aggregat einzelner Meinungen zu verschaffen, das eigentliche Interesse des geselligen Gefühls ist erstorben in dem persönlichen. –

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Es steht also die Entwickelung des subjectiven Bewußtseins in der genauesten Analogie mit der des objectiven. Was ist denn der ganze Inhalt des subjectiven Bewußtseins? | Wenn durch das Mitgefühl überhaupt das Selbstbewußtsein so erfüllt ist, daß es das organische Dasein der menschlichen Natur repräsentirt, so sind alle Differenzen auch darin mitgesetzt. Das Selbstbewußtsein ist dann ein absolut menschliches worin aber doch die persönliche Eigenthümlichkeit immer Träger des Ganzen bleibt. Alles, was im menschlichen Selbstbe17 Interesse] interesse

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wußtsein vorkommt, können wir als Annäherung daran ansehn. Eine ganz andere, schwierige Frage ist die: Welches sind die Gesetze nach welchen sich in jedem einzelnen Leben die Erweiterung des Selbstbewußtseins in der Sukzession gestaltet? Diese Frage ist gar zu komplizirt um eine befriedigende Antwort hoffen zu können. Wir fragen lieber zuerst: Wie kommt ein solches Verhältniß nicht zu Stande? Auf negative Art sind die einzelnen Verhältnisse doch immer an den Naturzusammenhang gebunden, indem solche Verhältnisse nicht leicht aus der gemeinsamen Sprache ganz hinausgehn. Die gegenseitige Austauschung ist etwas Unmittelbares, das allmählige Verständigen aber ist nur als Supplement davon zu betrachten. Jeder Einzelne ist so sehr gebunden durch Volksthümlichkeit überhaupt und durch ein unbestimmtes Streben, das Selbstbewußtsein zu dem Totalen zu erweitern, daß erst eine Kontraktion erfolgen muß, wenn ein einzelnes Verhältniß zu Stande kommen soll. Ein besonderes Verhältniß ohne die Beziehung auf ein größeres ist an und für sich immer nur etwas Spielendes und Abendtheuerliches. Es scheint also, daß der Einzelne selbst am meisten zu dem hinneigen werde, der ihm die Idee des gemeinsamen Lebenstypus am deutlichsten ausspricht. Aber dies ist nicht etwas, was gesucht werden kann. Es giebt ein Ausgehn von einer Unfähigkeit und von einer Fähigkeit der Produktion jener Idee. Jene sucht eine Ergänzung, diese Ähnlichkeit. – Es ist nun noch eine besondere Form der Erweiterung des Selbstbewußtseins übrig die Geschlechtstriebe. Dabei ist ein ursprünglich physisches Prinzip mit thätig. Nun fragt es sich ob nicht auf alle andern Verhältnisse die einen eminenten Karakter haben auf einer | physischen Basis ruhn. Diejenigen, welche das Gesellige auf das rein Eigennützige zurückführen, ordnen auch das Intellektuelle dem Materiellen überall unter. Will man dies zur allgemeinen Basis machen, so geräth man ins Lächerliche, allerdings etwas Wahres ist doch an der Sache. Es ist ein Element vorhanden, welches je länger ein Verhältniß dauert je mehr und mehr in das Bewußtlose verschwindet. Bei dem ersten Anfange aber kommt man leicht auf die Ahnung, daß etwas Physisches mit im Spiele sei. Es giebt unmittelbare Eindrücke von Anziehung, die allerdings etwas Physisches an sich haben, auch abgesehn von dem Verkehr zwischen beiden Geschlechtern. Ist eine Anziehung, so ist auch eine Abstoßung und umgekehrt. Ist aber ein physischer Anknüpfungspunkt da, so ist er nur da, insofern er der Widerschein des Geistigen ist. Wir haben vorher uns als die 37–38 Zusatz Göttinger Nachschrift, Bl. 61r: „Das Physische aber isoliren zu wollen ist gewiß das Falscheste, was man hier thun kann. Es beruht dieß gar nicht auf dem, was ins unmittelbare Bewußtsein tritt, sondern der geheimsten Art, wie das physische Dasein wirkt. Überwindet man dergleichen Eindruck, so würde man noch immer weniger den Grund davon finden können. Es ist dieß nichts Einzelnes, sondern es ist die Totalität.“

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negative Bedingung die Nationalität gedacht; eine andere conditio sine qua non ist die Identität des Raumes und der Zeit. Es giebt eine andere Anziehung, wodurch mir ein Mensch z. B. durch seine Werke werth wird, allein das ist nur eine geschichtliche und keine gegenwärtige. Weiter können wir ins Einzelne wohl nicht hineingehn, aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß wir einen großen und einen einzelnen Punkt der Anknüpfung als conditio sine qua non gefunden haben. Wollten wir uns aber den ganzen geselligen Typus in lauter persönliche Verhältnisse auflösen, und das erste für das größte halten, so wäre das kleinlich. Die eigentliche Tendenz des Geistes ist ein Vernichtenwollen der Schranken der Persönlichkeit. Die Erweiterung des Selbstbewußtseins muß etwas vollkommen Organisches sein. Das Wahre liegt zwischen beiden Extremen. Es hat eine Ansicht gegeben, welche die Freundschaft als das Höchste aufstellte, wozu die menschliche Seele sich erheben kann, und eine andere, welche behauptet, dazu müsse man gar keine Zeit haben, sondern immer nur auf die | Totalität dabei ausgehn, wobei das Verhältniß aber durchaus aufhören muß, etwas Lebendiges zu sein.

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[34. Stunde] Das Umfassen der ganzen Natur im Selbstbewußtsein ist das allgemeine Menschengefühl, und sobald es in Thätigkeit übergeht die allgemeine Menschenliebe. Allein es kommt dies nie zum bestimmten Bewußtsein, wir haben es immer nur als einen Conatus, oder tragen es in uns als ein Gesetz, welches bei jedem einzelnen Falle immer in ein Spezielles übergeht. Nun können wir uns die Frage wiederholen, ob wir hier an der Gränze des menschlichen Selbstbewußtseins sind, oder ob es noch etwas Höheres giebt. Wir müssen, wenn wir das Erste behaupten, beweisen, daß alle Thätigkeit unter jenes gehört. Als die höchste Steigerung des Selbstbewußtseins nehmen wir das religiöse an. Dies schließt jede untergeordnete Stufe in sich, wie immer die höhere die niedere; z. B. das gesellige Selbstbewußtsein schließt immer das persönliche in sich. Zu dem allgemeinen Menschengefühl ist schon in dem ersten absoluten Selbstbewußtsein die Richtung, allein der Mensch muß erst durch die andern Kreise hindurchgehn, damit es wirklich werde. Auf demselben Wege entsteht nun auch das religiöse Gefühl, mit dem Unterschiede, daß wir es nicht bestimmt abgränzen können, weil es immer ein ganz innerliches bleibt. Mit dem allgemeinen Menschengefühl ist es ganz ähnlich. Denn die absolute Totalität der ganzen Welt ist uns auch niemals wirklich, sondern immer nur in

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der Idee gegeben. Das Gefühl hat deshalb aber eben so gut immer seine allgemeine Wahrheit. Wir müssen hier wohl noch einmal zurückgehn auf die Erweiterung des objectiven Bewußtseins. Da war uns das Höchste die Idee der Welt, wovon wir sagten, daß sie schon in dem Fixiren eines einzelnen Gegenstandes enthalten sei. Dasselbe was wir nun hier sagen können. Der Idee der Welt steht auf der subjectiven Seite die des höchsten Wesens gegenüber. Auch diese liegt schon der ersten Richtung des Geistes zum Grunde. Diese beiden | Höchsten Beziehungen verhalten sich ebenso wie die Richtungen sich verhalten. Die absolute Einheit des Geistes haben wir nur ursprünglich im Gefühl; das Wort dazu haben wir nur auf eine sekundäre Weise; es entsteht nur durch Betrachtung dieses subjectiven Prozesses. Wollte man nun noch weiter gehn, und das Verhältniß beider höchsten Beziehungen, Gott und Welt, nachweisen, so ist dies etwas, was wir als transcendent abweisen müssen; denn wir haben davon nichts in unserem Bewußtsein, und wir würden also über unser Gebiet hinausgehn. Daß wir aber hier den rechten Ort der höchsten Beziehungen wirklich haben, wollen wir noch deutlicher an einigen Verhältnissen nachweisen. Das Chaotische, was wir voraussetzen, von dem aus haben wir es als das rein Persönliche. Von diesem sind wir aufgestiegen bis zum allgemeinen Menschengefühl und von dem zum Bewußtsein Gottes. Damit haben wir aber nur das reale Verhältniß keineswegs aber die Geschichte nachweisen wollen. Es giebt ein Aufsteigen zu dem Höchsten unmittelbar von jedem Punkt aus, allein nur so unvollkommen, je weniger die anderen Stufen durchgangen sind. In dem rohesten menschlichen Zustande finden wir immer schon rohe Versuche, sich zu dem Religiösen zu erheben. Die unterste Stufe ist der Fetischismus. Eine rohes Ding wird als Repräsentant der ursprünglichen Richtung darin gesetzt. Die zweite Stufe haben wir in den Erscheinungen des Polytheismus, welche immer schon ein bestimmtes Bewußtsein von den verschiedenen menschlichen Verhältnissen und Modifikationen der Natur voraussetzt. Die Vielheit der Götter repräsentirt die Gegensätze in der menschlichen Seele, die durch den Konflikt des Persönlichen und Geselligen entstehn, und zugleich auch deutet sie hin auf das allgemeine Menschengefühl als ein noch nicht ausgebildetes; denn dieses ist eben die innere Voraussetzung der innern | Identität aller. Den Monotheismus finden wir immer nur da vollkommen, wo das allgemeine Menschengefühl ein reales geworden, und der Konflikt zwischen dem Geselligen und Persönlichen gelöst ist. – Wenn wir ferner zurückgehn auf die ersten Regungen des Selbstbewußtseins, so müssen wir sagen, jede Steigerung desselben ist ein Bestreben den Gegensatz von Lust und Unlust auf der unteren Stufe aufzuheben. Die persönliche Lust und Unlust erlischt in dem Gemein-

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samen. Die Kinder können beides noch nicht gegenüber stellen; jemehr sich aber das unmittelbare Naturband löst, jemehr treten sie auch aus dem engern Kreise in jenen weitern der Wahlanziehung hinaus. Ebenso wenn wir über dem Nationalen das Persönliche ganz vergessen. Wenn dies also der gemeinsame Karakter jeder vollkommenen Stufe ist, was ist der der vollkommensten? Dieser ist in dem religiösen Gefühl, in welchem alle untergeordnete Formen der Lust und Unlust erlöschen müssen. –

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Das Gefühl welches sich auf das Schöne gewöhnt, und das ästhetische genannt wird, ist hier auch noch zu betrachten. Wenn wir betrachten, wie wir von dem Niedrigsten hinaufgestiegen sind, so scheint es schwierig hiermit. Man bezieht dies Gefühl häufig auf das Gebiet der Kunst, welches aber theils eine zu große Ausdehnung, theils eine zu große Beengung ist. Die Kunst ist eine Produktion, mit der das Gefühl für das Schöne an und für sich nichts zu schaffen hat. Wir finden es bei einer Menge von Menschen erregt, die mit der Kunstproduktion gar nichts zu schaffen haben. Dagegen aber ist kein Unterschied zu machen zwischen einem Kunst- und Naturprodukt. Das Gefühl was uns ergreift beim Anblick einer schönen Gestalt, ist seiner Art nach ein und dasselbe. Bei jedem lebendigen | objectiven Bewußtsein entsteht freilich immer wieder ein besonderer, subjectiver Zustand. Man pflegt auch dies so zu bezeichnen: Es giebt in dem Menschen einen Sinn für die Wahrheit, und dessen Modifikationen sind die Zustände. Das Wahre aber ist mit dem Schönen nahe verwandt. Unser Denken bezieht sich größtentheils auf das Fortschreiten im Denken selbst. Auf den Gegenstand des Denkens ist dabei nicht gesehn. So wie sich nun der Wahrheitssinn auf die Gesetze im Denken selbst bezieht, so bezieht sich der Sinn für das Schöne auf die Beschaffenheit der Gegenstände welche in das Denken selbst aufgenommen sind. Dennoch müßte dies Gefühl durch alle Gegenstände erregt werden. Dies geschieht aber nicht. Allein mit dem Wahrheitssinne ist es ebenso. Es giebt da eine Menge von Thätigkeiten des Denkens, die lediglich in einer äußeren Beziehung stattfindet, und sich nicht bezieht auf das Fortschreiten im Denken selbst, und dabei eben wird der Wahrheits6–8 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 107: „Die vollkommene Erlöschung aller einzelnen Lust und Unlust in einem allgemeinen Seyn ist das relative Gefühl – Das Gefühl des absoluten Unterworfenseyns Alles Einzelnen unter die absolute Einheit. Daß aber das relative Gefühl selbst wieder die Form der Lust und Unlust annimmt, liegt in dem Streben, es zu realisieren, da wir es eigentlich bloß als Gesetz haben.“

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sinn weiter nicht besonders affizirt. Bei den Gegenständen, welche ins Bewußtsein aufgenommen werden, giebt es eine große Mannigfaltigkeit der Beziehungen. Nur in sofern aber wird das Schönheitsgefühl erregt, als der Gegenstand einen Antheil hat an der allgemeinen Weltbildung. Die Regung ist theils positiv theils negativ. Z. B. die schöne Gestalt. In der Erklärung des Gefühls, welches durch dieselbe erregt wird, ist man von verschiedenen Seiten ausgegangen. Es kommt dabei an auf das Verhältniß ihrer Theile. Aber sieht man nun dabei auf das Mathematische, so muß man doch sagen, an und für sich ist dies weder schön noch häßlich. Ein Gebäude können wir bei der Betrachtung niemals von seiner Bestimmung trennen, und das Mathematische wird immer nur in Beziehung darauf aufgenommen in das Gefühl des Schönen. Wir müssen das also fahren lassen, und uns vielmehr an das Lebendige in seinem ganzen Umfange halten. Worin liegt denn nun da die Schönheit? Wir müssen hier unterscheiden die Beziehung | des einzelnen Exemplars auf seine Gattung, und die Beziehung der Gattung auf die andern Gattungen. Das Letztere geht darauf zurück, daß uns ein gewisser allgemeiner Typus der lebendigen Formen einwohnt. Wo wir das Einzelne darunter nicht subsummiren können, da wird das Schönheitsgefühl nicht erregt, sondern vielmehr das Gegentheil. – Finde ich aber ein Exemplar in seiner Art schön, so liegt darin, daß wir den Typus der Gattung darin ausgedrückt finden. Daher kann es nun kommen, daß die Urtheile über das Schöne verschieden sind. So haben die Orientalen ein anderes Maaß für den Typus des weiblichen Geschlechtes, indem sie weniger auf die Beweglichkeit als auf die Ruhe ihre Aufmerksamkeit richten, und daher eine gewisse Korpulenz verlangen. Jedes Ding ist nur auf relative Weise selbstständig. Wenn wir fragen: Was ist eine schöne Gegend?, so ist das schon etwas sehr Komplizirtes. Die Schönheit liegt in der Mannigfaltigkeit, welche aber doch keine Totalität ist. Die Mannigfaltigkeit ist aber in einem gewissen Sinn immer eine Totalität. Es darf z. B. nicht fehlen das Wellenförmige in der Erdbildung, das Zusammensein von Erde und Wasser pp. Wir reduciren die Regung des Schönheitsgefühls also allgemein auf die Weltbildung. Allein da scheinen wir uns ja allein auf den Gesichtssinn beschränkt zu haben? Was uns durch den Sinn des Gesichts kommt, bezieht sich nur auf die bildende Kraft in der Natur. Musik, Poësie pp. gehören aber nothwendig mit zur Weltbildung indem diese sich nur mehr auf die geschichtliche Seite beziehn, denn auch der Ton wird doch immer als Begleitung von Wort und Gebärde gebraucht. – Wenn die Seele in ihrem Suchen der Welt einen einzelnen Theil gefunden hat, und darin das Bild des Ganzen findet, entsteht ein Wohlgefallen. 36–41 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 112–113: „Wo bleibt denn Musik, Poesie etc.[?] Was uns durchs Gesicht kommt, ist bloß die reine bildende Kraft der Natur: die Poesie

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Der Kreis des | Schönen schließt uns nun das ganze Gebiet des Subjectiven ab. Es könnte scheinen, als ob das Eine nämlich das sittliche Gefühl ganz fehle. Dies ist aber immer theils das Bewußtsein des rein Persönlichen zu dem Gemeinsamen. Dies haben wir in der Erhöhung des persönlichen Selbstbewußtseins dargestellt. Theils aber verstehn wir unter dem sittlichen Gefühl auch ein Beurtheilen, ein Wohlgefallen oder Mißfallen an den sittlichen Handlungen Anderer. Der Grad des Wohlgefallens hängt ab davon, daß der Andere mit uns in ein gemeinsames Dasein aufgenommen ist; wenn das nicht der Fall ist, so ist das Urtheil ein reiner Erkennungsprozeß ohne ein besonderes sittliches Gefühl. Wir können zwischen dem Beurtheilen der Handlungen Anderer und unserer selbst keinen anderen Unterschied machen als zwischen dem persönlichen und gemeinsamen Gefühl. Das Beurtheilen ist theils ein uninteressirtes, theils ein interessirtes. In dem einen Falle fällt es mehr in das Gebiet des Schönen, in dem anderen mehr in das Gebiet von Lust und Unlust. Wenn wir uns den Gegenstand so zerfällen, so sehn wir, daß wir auch hiervon im Allgemeinen schon gesprochen haben. Indem wir das objective Bewußtsein von dem organischen Eindruck bis zur sich realisirenden Idee der Welt gesteigert haben, das subjective von den ersten Regungen zu dem Werden des Ich bis zur absoluten Einheit alles Seins im Selbstbewußtsein bis zum Verschwinden des Persönlichen, so haben wir den ganzen Kreis der aufnehmenden Thätigkeiten erschöpft. Wenn wir unsere Untersuhat es mehr mit dem menschlichen Leben in der Natur zu thun: die geschichtliche Seite gehört aber so gut zur Welt als die Natur. Bey der Musik bleibt die Erklärung am schwierigsten: allein es liegt dieß nicht an unserer Formel: man kann zu dem vom Wort getrennten Ton nicht leicht Rechenschaft geben – vielleicht soll es auch nie ganz getrennt werden, da wir als Naturausdruck immer beydes beysammen finden. | Zur bloßen Instrumentalmusik denke ich doch immer etwas das ausgedrückt werden soll, gleichsam einen Text. Die Musik ist Reproduction der Lebensaffection und schön so fern sie als solche eine Totalität gibt. Das Suchen der Welt ist fortwährendes Geschäft der Seele. Es ist nie befriedigt, weil jedes Ding wieder auf ein anderes hinweist. Schöne Gegenstände, Weltbilder, gewähren diesem Trieb augenblicklich Befriedigung und dem Streben Ruhe. Darum drückt man sich auch aus, Schönheit des Gegenstandes sey seine Ganzheit seine Vollkommenheit. Die Welt ist theils ein nebeneinander seyn; jedes Ding ist vom Ganzen abhängig aber sein Daseyn und Abhängigkeit von allem übrigen ist identisch: ein Gegenstand kann also Weltbild seyn, indem sein Wesen durch die übrigen nicht gestört erscheint (Schönheit im engern Sinn) oder durch die eminente Fülle der Natur des Gegenstandes gemäß, (das Erhabene)[.] Man meint, das Große mache das Erhabene; allein das Erhabene und das Schöne ist immer am Leben, und in der todten Natur z. B. nur in so fern, als wir unbewußt Leben hineintragen. Auf dem Gebieth der Natur heißen wir die lebendige Fülle der Kraft erhaben, auf dem sittlichen die eminente Fülle menschlicher Kraft, die sich nur im Handeln nicht in der ruhigen Kraft manifestirt. – Wo also die Seele auf einen solchen Gegenstand trifft im Kleinen und unvollkommen zwar was sie sucht, entsteht Befriedigung, Ruhe, Wohlgefallen[.]“

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chung noch einmal durchlaufen, so sehen wir, daß wir beständig in Abstraktionen begriffen gewesen, und nur an den Punkten des Zusammenfassens, d. h. an den Anfangs- und Endpunkten etwas | Vollständiges gehabt haben. An den Endpunkten fanden wir das Getrennte möglichst in einander gebildet. – Wir würden nun können zu einem anderen Gebiete übergehn. Das Leben überhaupt erschien uns immer nur als ein relativ für sich gesetztes in der Duplicität der Funktionen. Es ist Kraft von innen heraus wirkend und das Aufnehmen. Dies Zwiefache unter der Form des Bewußtseins ist die Seele. Wir haben diese bisher besonders von ihrer objectiven Seite betrachtet. Daraus entstand immer nur etwas Chaotisches, wenn wir bei der aufnehmenden Thätigkeit nicht zugleich auch die ausströmende voraussetzten. Die subjective Thätigkeit war das Werden der Seele unter der Form des Bewußtseins. Diese Seite haben wir gefunden in einer beständigen Oscilation von Expansion und Kontraktion. – In diesem Wechsel beider besteht die ganze Reihe. Je kräftiger die Scheidung ist, um so vollkommener ist das Wesen des Menschen in den Einzelnen gesetzt. Wir können uns die aufnehmende Thätigkeit in die ausströmende auflösen. Wenn wir nun auf die andere Seite übergehn wollen, so fragt sich zunächst, was uns denn eigentlich noch übrig ist. – Wir gehn dabei zurück auf die allgemeine Betrachtung des Bisherigen; wie nämlich eine Seele aus sich selbst herausging, d. h. in dem objectiven Bewußtsein begriffen war. Am meisten fanden wir das da, wo das Fixiren der Gegenstände und Festhalten der Bilder uns in der Sprache entgegen kam, welche zugleich auch immer eine Mittheilung, ein völliges Äußerlichwerden des Bewußtseins war. Es giebt nun hier noch eine weitere Fortschreitung, indem wir die Sprache nur in so fern betrachtet haben, als ein Erkennen damit hervorgeht. Es giebt nun aber noch eine andere, bloß angedeutete Seite der Betrachtung, wie nämlich durch die Sprache eine bestimmte Zirkulation entsteht. Als bloßer Ausdruck des ursprünglichen Eindrucks ist die Sprache nichts Anderes | als Wissenschaft, und das wäre dann das erste große Gebiet, was wir zu betrachten hätten. An den natürlichen Ausdruck des Selbstbewußtseins knüpft sich wieder mittelbar oder unmittelbar alles, was wir Kunst nennen. Dieses ist das zweite Gebiet der ausströmenden Thätigkeit. Nun haben wir noch eine ganz andere Art der Entwickelung betrachtet, das Übergehn des Persönlichen in 16–18 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 115: „Der Einzelne Mensch wird aus einem gemeinsamen Leben ein Einzelner. Später erst tritt das Ich heraus: aber dabey können wir nie stehen bleiben. Wie der Mensch sich selbst gefunden, muß er streben, das Verlorne wieder zu ergänzen; dabey immer auf sein persönliches Bewußtseyn zurückkehrend. Je mehr sich lebendig im Wechsel eins aus dem andern ausbildet, desto vollkommener diese Seite des menschlichen Wesens im Einzelnen.“

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ein Gemeinsames. Eine solche Erweiterung kann nur aus oder in einem geselligen Leben entstehn. Hierher gehört also alles, wodurch ein geselliges Leben gestiftet und erhalten wird. Damit ist noch etwas Anderes verbunden, was seine volle Gestaltung auch erst im geselligen Leben erhält, die Wirkung des Menschen auf die äußere Natur. Hierin liegt alles, was wir unter dem Ausdrucke Herrschaft über die Natur zu begreifen pflegen. – In diesem Hauptpunkt haben wir den ganzen Umfang derjenigen Seelenthätigkeit, welche wir noch zu betrachten haben. Wir müssen sie uns erst als ein relatives Ganzes konstruiren, wodurch uns erst die Sicherheit entsteht, daß wir nichts übergangen haben. Wir haben das Werden des Bewußtseins gesetzt als das in sich Hineinziehn der Seele in sich, das Vorliegende ist das Hineinbildenwollen der Seele ihrer selbst in alles Andere. Das ganze Leben der Seele ist nur vollendet, in wiefern sich beide Hauptarten der Thätigkeit vollkommen in einander bilden, welches dann auch geschieht. Alles was wir unter die Namen Wissenschaft und Kunst zusammengefaßt haben geht offenbar immer wieder zurück auf das Bewußtsein. Es ist also das sich konstituiren Wollen der Seele. Ferner alle Beherrschung der Natur wie alles gesellige Leben ist nur auf das Bewußtsein gegründet, und wir werden uns daher das ganze Gebiet in die zwei Hauptmassen spalten 1) die mehr ideale 2) die reale ausströmende Thätigkeit. Beide gehn wieder in einander zurück, allein im Allgemeinen nehmen wir zu dem Ersteren Wissenschaft und Kunst, zu dem Letzteren das gesellige Leben und die Herrschaft über die Natur. Daß beides in einander zurückgeht, ist leicht | einzusehn. Die Vollendung der Herrschaft über die Natur geht hinaus über das Bedürfniß und zurück auf Wissenschaft und Kunst. Die Vollendung der Wissenschaft aber ist auch wiederum darin, wenn das Differente sich auflöst, was sich durch die verschiedenen Sprachen eingebildet hat, d. h. bis ein vollkommenes allgemeines geselliges Leben entstanden ist. Die Kunst aber, so lange sie nur im Einzelnen versirt, ist sie nur etwas Fragmentarisches, und erst vollendet, wenn sie in aller Einwirkung des Menschen auf die Natur ist, wenn sie eine absolute Naturbeherrschung ist. – Wenn nun die beiden, das Ideale und Reale in der Vollendung menschlicher Bildung ganz in einander sind, so werden wir auch von 24–25 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 117: „Beyde bilden sich wieder in einander. Das höchste der Wissenschaft und Kunst ist, wenn es in das öffentliche und gesellige Leben ausgeht, in Gesetz (Wissenschaft) und Sitte (Kunst)[.]“ 25–27 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 68r: „Die Herrschaft des Menschen über die Natur wird vollendet, wenn sie sich dem Zufälligen ganz entreißt; dieß ist nichts anderes als das Auflösen der Natur in die Wissenschaft. Ist sie vollendet so stellt sie die Natur wieder unter dem Gebiet der Schönheit dar; dieß ist die Kunst und so geht diese Seite wieder in jene zurück.“

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jedem Punkt aus schon zurückgehn müssen auf diese endliche Forderung, wenn wir eine lebendige Anschauung des Ganzen haben wollen. Wir wollen nun zuerst die ideale Richtung des Hinausgehns der Seele betrachten, wie wir diese unter Wissenschaft und Kunst zusammengefaßt haben. Das Herausreißen des Bewußtseins aus der bloßen organischen Einwirkung bildete uns früher einen Übergang. Wir wurden dabei aufmerksam auf das Gefühl, wie es Überzeugung oder Zweifel pp. wurde. Denken wir uns, es sei ein einzelner Akt des Bewußtseins durch Überzeugung gewonnen, so haben wir etwas gewonnen, aber keinen Ruhepunkt, sondern nur etwas Fragmentarisches, indem immer darin neue Aufgaben liegen. Das Gefühl der Überzeugung also treibt immer auf Fortsetzung der Erkenntniß, und das ist dann also dasjenige, was die Wissenschaft erzeugt. Wenn wir also auf das Selbstbewußtsein zurückgehn, so ist die Wissenschaft dasjenige, welches durch die Überzeugung angeregt und erhalten wird. Damit wollen wir die Kunst vergleichen. Wir hatten zuletzt von dem Gefühl für das Schöne gehandelt. Dieses ist da, wo etwas die Idee der Welt auf eine eminente Weise repräsentirt. Das beständige Fortgehn an dem Faden der Überzeugung gewährt | nie eine Befriedigung, da erscheint die Seele immer nur die Welt suchend, in der Befriedigung aber muß sie die Welt gefunden haben. Dies liegt also in dem Gefühl des Schönen. In wiefern diese nur eine aufnehmende Thätigkeit ist, erscheint uns nicht die Seele in dem Bestreben nach Selbstbefriedigung und wir müssen daher eine andere Ergänzung aufsuchen, wodurch die Befriedigung konstituirt wird. D. h. wir müssen uns die Seele denken als solche Weltbilder reproduzirend, wodurch Befriedigung entsteht, und dies ist eben die Kunst. Wenn wir uns in dem Gesammtleben der Menschen die Wissenschaft ohne die Kunst denken, so haben wir einen Tantalischen Zustand. Das beständige Fortschreiten schließt die Befriedigung aus. Aber ebenso wenn wir uns die Kunst ohne die Wissenschaft denken, so haben wir darin nichts als eine Selbsttäuschung, die nothwendig in ein leeres Spiel ausarten muß. Denn die Seele ist nothwendig Selbstthätigkeit, diese ist wesentlich Fortschreiten, eine Reihe von Momenten der Befriedigung wäre leere Genußsüchtigkeit, die die Seele selbst auflösen würde. Also das Eine ist das beständige Fortschreiten, das Andere ein Hemmen; beide aber müssen sich beständig einander aufheben, und die ganze ausströmende Thätigkeit der Seele ist nichts Anderes als ein beständiges Kunstwerdenwollen 12 treibt] treibt also 29–30 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 119: „die Wissenschaft selbst ist nur Befriedigung, so fern sie selbst Kunst wird.“

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der Wissenschaft und Wissenschaftwerdenwollen der Kunst. – Die dem organischen Eindrucke vorangehende Skepsis gehört nicht hierher. Ebenso ist es mit dem freien inneren Gedankenspiele. Dies nämlich ist entweder der Widerschein von dem geselligen Leben oder das Element dessen, was doch auf irgend eine Weise Wissenschaft oder Kunst werden wird. Es ist ungemein schwierig Gesetze der inneren Reproduktion anzubringen. Wir haben es hier nur mit der Kombination von Gedanken zu thun, welche wir aber von wahrhaften Werken | nicht unterscheiden können. Was man unter dem allgemeinen Ausdrucke von Einfällen bezeichnen kann, das liegt zum Grunde sowohl dem Kunstwerk wie der wissenschaftlichen Produktion. Die Gennesis ist dieselbe bei solchen Produktionen, welche Keime eines späteren Ganzen werden und welche es nicht werden. Wir sind es schon so gewohnt, bei unseren Gedankenerzeugungen immer auf eine äußere Veranlassung zurückzugehn, wenn aber die Seele einmal so befruchtet ist, so wirken dann die Veranlassungen allein oder doch am meisten, welche mit der Gedankenreihe der Seele in Verbindung stehn. Ganz anders aber ist es nun mit der Gennesis des ersten lebendigen Keimes und solchen Gedanken, welche ohne weitere Kombination wieder verschwinden. Läßt sich dies nicht ansehn, als eine zweite Stufe? Wir müssen die Richtung nur ansehn als den schon bestimmten innern Trieb der Gedankenerzeugung, der dann nur noch durch äußere Veranlassung bestimmter modificirt wird. Wenn wir zwei Menschen vergleichen, so ist ein bedeutender Unterschied in dem was sie denken; oder wir finden auch wohl eine vorherrschende Analogie in der Gedankenerzeugung. Suchen wir den Grund der Ähnlichkeit und Verschiedenheit auf, so werden wir doch zurückgehn müssen auf eine in der Seele selbst angegebene Richtung. Wir nennen diese entweder eine Differenz der Neigung oder der Anlage. Es giebt also in den Menschen ein verschiedenes Gedankenerzeugungsprinzip. – Es ist hier dasselbe mit dem was Anfang einer bestimmten Gedankenreihe wird, und was nur flüchtig und verschwindend ist. Es ist aber doch nur ein bedeutender Unterschied zwischen Seelen bei welchen das Eine und solchen bei denen das Andere vorherrschend ist. Jene sind vortrefflicher, wie noch weiter | ausgeführt werden wird. Die Gennesis nun, welche 9–13 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 69r–70v: „Der erste Anfang einer jeden solchen kann seiner Natur | nach nichts als ein solcher Einfall sein, nur muß die Combination so sein, daß eine Masse von Vorstellungen unter sie aufgenommen werden können. Das Einzelne bildet sich hier nicht als ein Einzelnes, sondern es wird gleich in die in der Seele vorhandenen Combinationen aufgenommen. Von dem Zufälligen muß es zu dem Freiwilligen übergegangen sein bis es zum gesetzlichen Ganzen wird. Es giebt überhaupt keine Thätigkeit des einzelnen Lebens, welche ganz von einem äußeren Zusammenhang abgeschnitten wäre.“

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mehr ohne organischen Zusammenhang vorgeht, liegt mehr in den äußeren Veranlassungen und umgekehrt. Daher finden wir unter den Menschen am meisten Unzusammenhangende in der Gedankenproduktion, auf welche die äußeren Veranlassungen am meisten dominirt werden. Zu dieser Differenz kommt nun aber noch eine andere hinzu, welche eben in den äußeren Veranlassungen liegt. Bewegte Zeiten z. B. haben auf die Gedankenerzeugung aller Menschen bedeutenden Einfluß. Auf diese Weise können wir uns nun auch den Einfluß des einzelnen Menschen auf die Gedankenerzeugung Anderer denken. Der Eine wird in das Gedankenerzeugungsgebiet des Anderen hineingezogen, und so kommen wir wieder auf das Gemeinsame. Es giebt nun auch wieder Gebiete der Gedankenerzeugung welche auf Wahlanziehung beruhen. Freilich würde es eine unendliche Arbeit sein, die innere Gedankenproduktion eines jeden nach allem dem zu berechnen, allein die Möglichkeit läßt sich doch einsehn. Im Großen lassen sich die Momente leicht unterscheiden. So haben wir uns dann den Zusammenhang gebildet zwischen der verworrenen Gedankenproduktion und derjenigen welche auf die Bildung organischer Ganzer ausgeht, und haben gesehn, daß beides auf ein und dasselbe zurückgeht. – Nun kommen wir darauf zurück, zu fragen, worauf die Verschiedenheit der Einzelnen beruhe, die wir entweder mit Neigung oder Talent bezeichnen. Jenes geht mehr auf den Willen, auf Selbstbestimmung, dies mehr auf Bestimmtheit. Unter Talent denken wir uns etwas dem Menschen durch die Natur Gegebenes; allein wenn wir den Gedanken uns näher bringen, so mildert sich der starke Gegensatz zwischen Naturund Selbstbestimmung. Jeder hat doch die Gewalt, seine Talente liegen zu lassen | oder nicht, und so scheint dann doch die Naturbestimmtheit der Selbstbestimmung unterworfen. So wird sich auch von der entgegengesetzten Seite der Gegensatz mehr aufheben und mildern. –

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Bei der Neigung denken wir uns zuerst, daß die Beziehung auf den Gegenstand keine fremdartige ist, daß kein äußerer Impuls gerade da sei. Die Neigung ist aber nicht Willkühr, sie ist vor dem Willen gesetzt; folglich ist sie doch auch eine Bestimmtheit des Menschen, die aber der eigentlichen Selbstbestimmung vorangeht. Indem wir alle äußern Motive ablehnen, können wir die Beziehung darauf doch nicht leugnen. Wie zu jeder momentanen Bestimmtheit des Bewußtseins, so gehört auch zur Neigung eine bestimmte äußere Veranlassung, deren Stärke und Schwäche dabei mit zur Sprache kommt. Was ist denn aber nun eigentlich der Grund der Neigung? Stellen wir die Frage

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nur in Beziehung auf die Gedankenerzeugung, so giebt es immer eine bestimmte Verwandschaft der Seele mit einer Region der Welt. Was diesen Verkehr vermittelt, ist der Sinn, folglich hängt von diesem die Neigung ab. Davon können wir uns leicht überzeugen. Es giebt z. B. einen besonderen Sprachsinn, d. h. die Leichtigkeit aus der Muttersprache herauszugehn, und sich die Konstruktion anderer Sprachen nachzubilden. Darauf, was schon in der bewußtlosen Periode sich entwickelt, ruht die nachherige Neigung. So wenn wir auf das Kunstgebiet sehen, da ist die Musik an das Gehör gebunden, die Mahlerei an das Gesicht. Dieselben Unterschiede werden wir hier nun finden können: Je weniger Veranlassung zu einer Entwickelung ist, desto stärker die ursprüngliche Anlage, wenn die Neigung sich entwickelt. Dem scheint das Kastenwesen vieler Völker zu widersprechen. Reproducirt sich hier wirklich die Neigung in den untersten Kreisen von Familien? Das ist sehr unwahrscheinlich besonders auf einer gewissen Kulturstufe. Es fehlt in jenem Zustand die äußere Unterstützung der innern Grundlage der Neigung. Man findet dieses Schwanken auch immer nur da, wo sich die persönliche | Eigenthümlichkeit noch nicht recht herausgebildet hat. Eine andere ähnliche Erscheinung giebt es, wenn wir sehn, wie die Neigungen manchmal auf etwas so ganz Spezielles verfallen. Dieses scheint uns mit allem, was man den Geist des Sammelns nennt, der Fall zu sein. Es ist dies eigentlich auch nichts als die Lust an einem Aggregat; die Neigung aber ruht nur auf einer äußeren Veranlassung, insofern Einer gerade auf diese besondere Art des Sammelns fällt. Wenn wir sagen, die Neigung beruht auf dem das Verkehr vermittelnden Sinn, so erscheint uns der Unterschied der Neigung von Talent schon weit geringer. Eins bezieht sich auf die Rezeptivität, das Andere auf die Produktivität. Man sollte daher Talent und Neigung immer bei einander finden. Wo es nicht ist, z. B. Talent ohne Neigung, da ist jenes doch immer nur mehr das Oberflächliche der Sache. Es kann jemand ein gutes Augenmaaß und eine sichere Hand haben ohne Neigung zur bildenden Kunst. Es kann aber bei diesen Fertigkeiten immer noch der innere Sinn für die Gestalt, für das Licht ganz fehlen. Wenn ein Mensch eine Neigung zu etwas hat, ohne Talent dazu, so erscheint uns das immer als ein unglücklicher Zustand. Allein wäre die Neigung rechter Art, so würde sie das Talent schon finden, oder es hervorbringen. Die Neigung geht dann auf die Selbsttäuschung und ist nichts Wahres, Inneres. Beides zusammengenommen können wir also wohl nicht anders sagen, als daß jeder Mensch indem er ins Leben kommt hier schon auf gewisse Weise predeterminirt ist. Es ist dieselbe That der Natur wodurch die Neigung und wodurch das Talent angelegt wird; sie bildet, wie den Willen, so auch die Organe dafür. Wie man sa-

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Hiernach können wir uns nun die Gesetze der Gedankenerzeugung zu Stande bringen. Wir haben eine Abstufung von der höchsten Freiheit und Originalität bis zum bloßen Nachbilden. Ebenso haben wir die größte Mannigfaltigkeit von Neigungen und Talenten, und eben darin die Totalität der menschlichen Natur. Die Mannigfaltigkeit auf der einen Seite giebt uns freilich die Vorstellung der Gleichheit, die Mannigfaltigkeit auf der andern Seite giebt uns das Bewußtsein der Ungleichheit. Nachdem wir uns die Gesetze an welche die Gedankenerzeugung gebunden ist, zur Anschauung gebracht haben, so können wir nun wieder zu dem Materiellen zurückkehren, indem wir fragen: Indem wir Wissenschaft und Kunst entschieden haben, was sind die Elemente des Einen, was die Elemente des Andern als Seelenthätigkeit angesehn? Die Wissenschaft geht darauf, alles von außen in den Menschen Hineingehende in den bei jedem zum Grunde liegenden Schematismus der Welt hineinzuordnen. Der Einzelne will 1) das Bewußtsein vervollständigen. Dieses ist schon eine Richtung welche von der der Erfahrung ganz bestimmt unterschieden ist. Die Erfahrung kann man eigentlich nicht wollen. Jedes Erfahrenwollen gehört schon in das Gebiet der Wissenschaft. Es ist nichts Anderes als was wir Beobachtung nennen. Das ist also das eine Element der Wissenschaft. Nun aber soll das ins Bewußtsein Gekommene seine bestimmte Stelle in der Idee der Welt bekommen. Diese kann nie anders als durch ein Verweilen des Geistes durch ein hypothetisches Verfahren zu Stande gebracht werden wobei wir den Prozeß aber selten als vollendet, | sondern nur als provisorisch ansehn. Dies ist dann 2) der Versuch. Beobachtung und Versuch sind es also, die sich beständig ergänzen müssen. Die Resultate des Versuchs zu antizipiren, das ist eigentlich das wissenschaftliche Talent auf jedem Gebiete. – Man darf die Ausdrücke durchaus nicht zu eng nehmen aber bloß von dem Naturgebiete. Jede Entdek31–32 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 61r: „Die Beobachtung geht mehr von dem Gegebenen aus, die Vermuthung mehr von der Construction, die sich auf das Gegebene gründet. Der Naturwissenschaft müssen wir die Geschiche gegenüber stellen, die, um Wissenschaft zu werden, ebenso behandelt werden muß. Die geschichtlichen Wissenschaften können wir uns nicht von den politischen gesondert denken. Alles Bestreben, das Gegebene auf die geschichtlichen Punkte auf alle Regeln zu bringen ist ganz in der Analogie des Versuchs. Die Identität von beiden ist die Herbeischaffung eines neuen Gebietes, was wir Entdeckung nennen. Die Erfahrung soll es eigentlich im wissenschaftlichen Gebiet nicht geben.“

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kung in der Wissenschaft ist streng in der Analogie damit; sie ruht auf einer vorhergegangenen Reihe von Beobachtungen und Versuchen. Die Kontinuität und die ursprüngliche Erzeugung schlingen bei den Seelenthätigkeiten sich vollkommen in einander; nur in dem Wechsel und [der] allmäligen Identifikation beider ist die Vollkommenheit des Erkennens. Wenn wir bedenken, wie wenige sich mit der Wissenschaft beschäftigen, so kann es scheinen, als rechneten wir diese mit Unrecht zu den allgemeinen Seelenthätigkeiten. Allein alle sind doch immer wenigstens im Nachbilden begriffen. Denn die wissenschaftlichen Erzeugnisse gehn immer gleich in die Sprache über. In dieser Objectivität der Sprache liegt das allgemeine Band, wodurch in dieser Beziehung alle Menschen mit einander verbunden werden. – Wir müssen hier wohl noch das verschiedene Verhältniß der Einzelnen zur Sprache berücksichtigen. Wir können uns das Entstehn der Sprache nicht anders denken, als wie wir es in den einzelnen Menschen entstehen sehn. Die Entwickelung ist aber keineswegs gleich, sondern es zeigt sich hier eine große Differenz. Denken wir uns, es könnte jeder über seinen Zusammenhang mit der Muttersprache reflektiren, so würden Einige sagen, sie hätten ein lebendiges Bewußtsein von dem Zusammenhang ihres Denkens mit ihrer Sprache, Andere, sie könnten auch eben so gut in einem andern Sprachgebiete denken. Letzteres ist eine Gleichgültigkeit, die entweder aus einer Beschränktheit an sich, oder einer Beschränktheit im Reflektiren hervorgeht. Die erste Stelle | repräsentirt uns ein mechanisches Verhältniß wie es freilich bei den meisten Menschen wirklich ist, wodurch aber auch zugleich die untergeordnete Stelle in Rücksicht der Entwickelung intellektueller Funktionen angedeutet wird. Diejenigen welche sich der Zusammengehörigkeit ihres Denkens mit der Sprache bewußt sind, von diesen würde also das entgegengesetzte gelten. Allein auch sie können so gedacht werden, daß sie größtentheils nur von der Sprache empfangen ohne eine lebendige Wirkung auf die Sprache selbst auszuüben. Bei dem eigenthümlichen Prozesse des Denkens finden wir uns immer in der Gewalt der Sprache von welcher die Übergänge abhängig sind. Wenn wir nun die Sprache verfolgen, so sehen wir sie immer in der Entwickelung begriffen. Die Richtung dieser beiden ist zwiefach, die eine auf die Kunst, von der wir jetzt noch nicht reden, die andere auf die Wissenschaft, in welcher der Typus des Erkennens liegt. Diese Entwickelung aber kann nur geschehn durch den Einfluß, den einzelne Denkende auf die Sprache selbst haben. Die gegen die Sprache Gleichgültigen üben weiter keinen Einfluß aus als den der Verwirrung. In diesen drei Stufen ist das ganze Verhältniß abgesteckt; der mittlere Moment repräsentirt uns das Fortbestehn der Sprache indem sie da ihrem eigenthümlichen Typus gemäß produzirt wird, die dritte Stufe repräsentirt

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uns das Fortschreiten, die erste das Zurückziehn in das Chaotische. Hierin liegt nichts Anderes als das Eingeschlossensein aller Gedankenproduktion in den bestimmten Typus der Sprache. Wie wir nun immer darauf zurückgekommen sind, jede einzelne Seele in Beziehung auf die Totalität der menschlichen Natur zu betrachten, so müssen wir es denn hier als den Zustand der Beschränktheit verstehn, | wenn Einer ganz in den Typus der einen Sprache in seinem Denken eingeschlossen ist. Auf der andern Seite ist dies freilich auch eine Befreiung, denn es ließe sich keine größere Beschränkung der intellektuellen Thätigkeit denken, als wenn plötzlich eine einzige Sprache wäre. Aber nur soll keine absolute Sonderung in der Sprache liegen. Daher ist denn hier noch ein anderes Bestreben zu berücksichtigen, die Aufnahme der Eigenthümlichkeiten fremder Sprachgebiete, wozu die Aneignung derselben nothwendig ist. Es liegt hier ein ganz anderer Beweggrund als in dem äußern Bedürfnisse des Geschäftslebens zu Grunde. Unser Interesse ist hier, die Eigenthümlichkeit zum Bewußtsein zu bringen, und von dieser Seite angesehn, ist denn die Philologie das höchste wissenschaftliche Bestreben. Wie es auch hier eine große Differenz der Selbstthätigkeit und der bloßen Empfänglichkeit giebt, geht schon aus der Analogie mit dem Vorigen hervor. Das Höchste aber ist immer noch nicht das, die Sprachen in einander aufzulösen, sondern vielmehr die Eigenthümlichkeiten des Denkens. In dem komparativen Verfahren ist dies also begründet, welches zugleich mit auf die Differenz der Zeit sich erstrecken muß. –

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Der Äußerung müssen wir einen Trieb dazu voraussetzen. Sie geschieht durch Ton und Geberde, wie wir gesehn haben. In dieser Be17 Zusatz Göttinger Nachschrift, Bl. 62r: „weil dadurch das Bewußtsein von der Identität der menschlichen Seele entsteht.“ 20–23 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 129: „Noch liegt etwas darüber: dem Interesse an den Sprachen liegt zum Grunde das Interesse an der Verschiedenheit des Denkens; das höchste ist die verschiedenen Typen des Denkens in einander aufzulösen und in ein System zu bringen: durch eine solche comparative Wissenschaftlehre entsteht die Anschauung verschiedener eigenthümlicher Gestaltungen des menschlichen Geistes, und die Vollendung wäre Anschauung der menschlichen Natur in allen ihren Entfaltungen. Denken wir das Gleiche in jeder Sprache auf gleiche Weise entstehend, fortschreitend, gegen Andere hinbildend, gleichmäßig durch Kunst gehemmt und gefördert, so haben [wir] dieß ganze Gleichheit erschöpft.“ 24–25 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 62r–62v: „Vom Kunstgebiet. Die wissenschaftliche schloß sich an die objective Erfahrung an, trennte sich aber bald durch seine Eigenthümlichkeit; ebenso schließt sich das Kunstgebiet an das subjective Bewußtsein, scheidet aber bald durch seine Tendenz, das subjective Bewußtsein ist nicht ohne Äußerung. Gebärde und Ton sind das Ursprüngliche. Dieses [ist] der Übergang aus der aufnehmenden Thätigkeit in die aus sich herausgehende. Die Äußerung ist | mit der Erregung Eins und dasselbe.“

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ziehung finden wir zwei Kunstgebiete das Mimische und Musikalische. Den unmittelbaren Ausdruck sehen wir in beiden nicht als Kunst. Beide beurtheilen wir auf gleiche Weise. Wir finden sie schön, wenn wir das rechte Maaß und die rechte Harmonie darin finden. Worauf aber beruht die Differenz und warum sehn wir den unmittelbaren Ausdruck nicht als Kunst an? Der unmittelbare Ausdruck in seiner Entstehung aus dem Gefühle selbst ist immer ein bewußtloser, wogegen das eigentliche Kunstprodukt nichts Unwillkührliches | mehr ist, indem ein urbildlicher Gedanke ihm immer zu Grunde liegt. Haben wir nun noch ein anderes Prinzip diese Seelenthätigkeit anzunehmen als das bei dem unmittelbaren Ausdrucke? Der Künstler will eine eigenthümliche Weise äußern, obgleich was er zur Anerkenntniß bringen will immer auf den unmittelbaren Ausdruck zurückweist. Ferner ist dies offenbar, daß wenn wir uns einen leidenschaftlichen Gemüthszustand denken, und Ton und Geberde dazu, so denken wir uns, daß nach der Vollendung des Moments durch den unmittelbaren Ausdruck das Pathematische gemildert ist. Daher sieht man das Zurückhalten als etwas Nachtheiliges an. Der Ausdruck selbst ist also eine Art von Befriedigung. Dadurch wird er ein in sich selbst abgeschlossenes Weltbild, ein Osciliren des ganzen Prozesses der Seele. Der Ausdruck steht daher unter der Kritik des Schönen. In diesem Sinne kann man nun sagen, daß der unmittelbare Ausdruck sich verhält wie die Natur zur Kunst im engern Sinne. – Diese ganze Erklärung paßt nur auf das Mimische und Musikalische. Nun aber scheinen diese Künste etwas Untergeordnetes zu sein, und ein Komplement von der Poësie zu fodern. Gehn wir eine Stufe weiter, auf die bildende Kunst, so scheint es schwer, diese aus demselben Prinzip erklären zu können. Wenn wir sie als von einer ursprünglichen Thätigkeit ausgehend betrachten, so kommen wir wieder zurück auf den organischen Eindruck wodurch das Bild erst entstehn kann. Dabei aber haben wir gesehn, mußte noch erst etwas Sonderndes des Chaotischen hinzukommen, damit das einzelne Bild daraus entstehn konnte. Wenn wir uns das Bild eines Gegenstands ganz leicht entworfen denken, so ist das Sondernde der Umriß. Je mehr das Bild ausgeführt wird, desto mehr kommt in die Einheit die Vielheit, die sich aber immer auf die Einheit bezieht. Jedes Einzelne wird dabei wieder eine Einheit, und so kann man diese bis ins Unendliche fortsetzen. Durch diese Zusammensetzung von Vielheit und Einheit wird aber jedes Bild ein Weltbild, und wenn in dem Ganzen die | Beziehung auf alles Einzelne, die Beziehung auf das Ganze in dem Einzelnen mitgesetzt ist. So sehen wir, wie das Kriterium also auch hier das allgemeine Schönheitsgefühl ist. –

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Schon in dem ersten Auffassen sind die Thätigkeiten vereinigt, nämlich das Gebiet der Erfahrung und das der Wissenschaft. Sind wir nun noch in der Analogie mit dem vorher erwähnten Kunstgebiete? Wir sind noch bloß in der Auffassung begriffen, und da finden wir dann die Analogie in dem Akt der Befriedigung. Die Differenz scheint zu sein, daß jene Kunstgebiete aus der subjectiven, diese aus der objectiven Thätigkeit abstammen. Wir haben aber nachgewiesen, daß die Thätigkeit des objectiven Bewußtseins immer mit einem subjectiven verbunden ist. Es fragt sich, von welcher Seite die bildende Kunst mehr ausgeht. Warum wird uns nicht jedes Bild ein Element der Kunstthätigkeit? Je mehr ein Gegenstand uns ergreift von irgend einer praktischen oder wissenschaftlichen Seite je weniger wird das Bild in das Kunstgebiet hineingeworfen, indem dann das fortschreitende Prinzip dominirt. Nun haben wir gesehn, wie das begleitende subjective Bewußtsein auf dem Gebiete der Erfahrung Lust oder Unlust wird auf dem Gebiete des Wissenschaftlichen aber Überzeugung; nun bleibt nur noch das dritte das Schönheitsgefühl. Wenn ein Gegenstand in seiner Art uns das Gefühl des Schönen giebt, dann entsteht die Tendenz, das Bild zu einem Kunstgebilde zu gestalten. Dies käme nicht zu Stande ohne das ursprüngliche subjective Bewußtsein, in dessen ursprünglicher Form also das Prinzip für das eine wie für das andere Gebiet liegt. Die Kunstthätigkeit schließt sich nun an das Auffassen, und dies ist auch dem ganz parallel was wir auf den andern Kunstgebieten betrachtet haben. Das allgemeine Schönheitsbewußtsein hängt sich in jedem Falle immer an ein spezifisches Talent. Die beiden Bedingungen in welchen die Einzelnen sich als Künstler zeigen, sehr gemischt; die allgemeinen Bedingungen zeigen sich | als Geschmack und Kritik in allen Kunstgebieten. Dieser aber ist gar nicht immer mit einem spezifischen Talent verbunden und umgekehrt. Das einzelne Talent kann sehr schöne Werke hervorbringen ohne doch ein großes Kunstgenie zu sein, allein der erste Impuls und die Bildung eines allgemeinen Kunsttypus muß ausgehn von dem Allgemeinen. Wir haben nun noch ein Kunstgebiet, wohl das schwierigste für unsre Betrachtung, die Poësie. Wir sind immer zurückgegangen auf die Basis des Unwillkührlichen, auf die Regung des unmittelbaren Gefühls; in den bildenden Künsten sondern wir als das Analoge davon das die objective Thätigkeit begleitende subjective Gefühl. Wie ist es nun hier? Die Poësie beschäftigt sich immer mit dem Gedanken, in dem bloßen Verse liegt das Poëtische nicht. Wie unterscheidet sich das was poëti6 diese] dieses

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sches Element und doch Gedanke ist von dem was Element für die Wissenschaft, für das thätige Leben ist? Es können uns aus dem Zusammenhange heraus poëtische Elemente gegeben werden ohne die Form des Sylbenmaßes; ohne daß wir den poëtischen Karakter erkennen, so wie wir aber den Zusammenhang sehn, erkennen wir das Poëtische. Erkennen wir nun nicht auch da eine Kunst an, wo es sich handelt um das Gebiet des thätigen Lebens um die Wissenschaft? Allerdings! Da ist das Kunstmäßige die Wohlredenheit in der Sprache, welche aber nicht für sich besteht, sondern an einem Anderen ist. Soll hieraus das werden, was wir im engern Sinne Poësie nennen, so muß noch etwas Anderes dazwischen treten. Wenn die Kunst in Behandlung der Sprache auf die Gebiete der Wissenschaft und des thätigen Lebens gerückt wird (Beredsamkeit) so ist es da nur das Äußern der Sprache, welches die Schönheit bestimmt. Es liegt das in der ungestörten, in sich selbst vollendeten Thätigkeit. Aber | in der Poësie soll nun nicht die bloße Sprache, sondern auch die Behandlung der Gedanken auf dieselbe Weise erklärt werden. Woher nimmt denn die Poësie ihren Stoff? Da sind zwei Richtungen, die eine ist mehr subjectiv, die andere mehr objectiv. Diese schließt sich mehr an das Gebiet der Wissenschaft und das thätige Leben, jene ist die Poësie welche sich am meisten unserem ersten Kunstgebiete, der Mimik und Musik anschließt, die lyrische Poësie, die auch an einem Anderen ist; das zweite Gebiet schließt sich an das Geschichtliche, dies ist die epische und dramatische Poësie. Sie nimmt ihren Stoff aus dem Praktischen, gestaltet ihn aber auf gleiche Weise. Wie verhält sich nun die poëtische Gedankenerzeugung zu der anderen? Sie ist ihrer Natur nach mehr musikalisch; der Stoff hat mehr den Karakter des Willkührlichen. Oder es liegt die ganze Erzeugung mehr in der Analogie mit dem Bilde. Es müssen [sich] aus jeder poëtischen Darstellung Urbilder für die bildende Kunst von selbst gestalten, sonst hat sie ihre Wahrheit nicht. Umgekehrt muß jedes Werk der bildenden Kunst seine geistige Abspiegelung haben können in der poëtischen Kunst. Die Sprache also wird hier gebraucht als ein Mittel wodurch eine fortwährende Erzeugung lebendiger Bilder in der Seele soll erzeugt werden. Diese Seite der Poësie kann alles, was sie auf dem Gebiete der Geschichte findet, anwenden, um ein Ganzes von Bildern hervorzubringen, die ein für sich abgeschlossenes Weltbild ausmachen. Weil aber die bildende Kunst hier immer nur einen einzelnen Moment ergreifen kann, so ist in Beziehung auf die Umfassung die Poësie bei weitem die größte aller Künste. Wollte man die Ilias in eine Reihe von Bildwerken umsetzen, so würde das | ein Un23–24 epische und dramatische] so Göttinger Nachschrift, Bl. 64v und Züricher Nachschrift, S. 134; Ms.: ethische und grammatische

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endliches sein, aber wir würden das doch nicht so als Einheit umfassen können. So kann die Poësie also sein eine Umwandelung des ganzen Lebens in das Vollkommene. Wenngleich wir oft sagen, daß etwas, was uns erregt, mit der Sprache nicht wiedergegeben werden kann, so gilt das eigentlich immer nur von dem Erregenden, findet aber nicht statt auf dem Gebiete freier Gedankenerregung. – So können wir in der Poësie alles Übrige zusammenfassen, das Mimische und Musikalische geht unmittelbar über, die bildende Kunst schließt sich willkührlich daran an. Daher können wir dann das Gebiet der Kunst am allgemeinsten in der Poësie anschauen. Offenbar ist das dessen die Poësie sich bedient, auch dasjenige wodurch das ganze Wesen des Menschen sich am vollständigsten umfassen läßt, die Sprache. –

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Das spezifische Talent in der Poësie besteht in dem Sprachsinne, wir werden daher auch hier ganz analoge Abstufungen finden. Wenn wir nur relativ trennen das Talent welches Darstellungsmittel ist, und das in welchem die Erfindung liegt, so ist letzteres gar nichts so Verschiedenes in den verschiedenen Kunstgebieten. Man hat daher das eigentliche Erfinden in allen Künsten wohl das poëtische Element genannt. Wer etwas aus der Geschichte auffaßt, der Eine um es in ein Gemählde, der Andere, um es in einem dramatischen Gedichte darzustellen, so liegt eigentlich ein und dasselbe zu Grunde. Selbst in der Musik ist das Erfinden auf diese Weise nur daß immer durch das Ausführen die Sache gleich umschlägt. In so fern kann man das ganze Kunstgebiet als ein und dasselbe ansehn. Die Kunst hat aber ihr Analogon nun auch in dem rein praktischen Leben, wo sie als Verzierung auftrit; Wohlredenheit, reine Darstellung der Persönlichkeit (Mimik) pp. und | hier sehn wir, daß es in dem Kunstgebiete etwas giebt, was sich über das ganze Leben erstreckt. Das liegt in dem Rhitmischen; wir bezeichnen es sehr richtig durch „Verschönerung“, als ein Hinüberspielen in das Gebiet des Schönen. Wir müssen, wenn wir noch weiter gehn, einen gewissen Entwickelungspunkt im Leben annehmen, in welchem ein Bestreben erwacht, alles unter das Gebiet der Kunst zu subsummiren. Wo dieses Bestreben sich noch gar nicht zeigt, ist Rohheit, wo er durch alle Zweige hindurchgebildet ist, die höchste Bildung. – Wir haben nun noch dasjenige vor uns, was wir als die reale 12 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 135: „Alles, was wir sind, geht ja aus in die Sprache[;] sie ist das allgemeinste Mittel, in deren Behandlung die Reihung und Befriedigung der Seele am vollkommensten gefunden werden muß.“

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Seite der aus sich herausgehenden Seelenthätigkeit ansehn können. Vermöge des subjectiven Karakters erscheint uns die Seele als das sich erweiternde, werdende Ich, und was dahineingehört haben wir in der angegebenen Beziehung noch zu betrachten. – Jedes Lebendige hat ein relatives Fürsichbestehn, indem das einzelne Dasein gefördert oder gehemmt werden kann. In diesem Zustand besteht das Einzelne nach dem Grade seiner Selbstthätigkeit. Wenn wir [in] etwas, worin wir früher eine Selbstthätigkeit zu erblikken glaubten, diese vermissen, so sehen wir es als todt an, und umgekehrt. Wenn man vom ersten Anfange an in der Pflanze einen Entwikkelungstrieb zu erblicken glaubt, so sieht man sie als lebend an. Könnte man die Thiere als bloße Maschinen ohne Selbstthätigkeit ansehn, so hätte man Unrecht, sie als lebend zu betrachten. Darin also liegt der Karakter des Lebens. Wir sehn nun ein Werden und Vergehn in Zeit und Raum; jenes auf die Selbstthätigkeit zurückgeführt ist auch schon ein aus sich Herausgehn des ursprünglichen lebenden Punktes, und so | führen wir dann auch den Prozeß der Gestaltbildung zurück auf die Selbstthätigkeit. Wir nehmen dabei das Zentrum des inneren Lebens als ein unräumliches an. Darin ist Hervorbringung und Erhaltung enthalten. Wir haben nun zwei Seiten das Aufsuchen dessen was das Dasein fördert, und das Abnehmen dessen was das Leben hemmt. Jenes repräsentirt das Suchen der Nahrung, dieses das Aufsuchen eines Schutzes. Letzteres ist in den Thieren nach Maßgabe ihrer Empfänglichkeit sehr verschieden gesetzt; bei vielen gehört das Schützende schon der Gestalt selbst an. Wir haben hier also in dem Thierischen, was wir im Menschen auch haben und müssen also das Spezifische unterscheiden. Dabei müssen wir aber unseren Gegenstand bestimmt von dem was der Physiologie anheim fällt, scheiden. Was das Erste, die Entstehung betrifft, so setzt diese schon ein Gesammtleben selbst voraus. Dieses aber hört auf, sobald der Erzeugungsprozeß in dem Einzelnen vollkommen eingeleitet ist. Das Nähren der Mutter nach der Geburt ist nur ein Fortsetzen des Zirkulationsprozesses vor der Geburt; bald aber trit dann die Entfremdung ein. Da haben wir also ein Verhältniß zwischen Gattung und Individuum. Niemals haben wir dasselbe Verhältniß, auch nicht in dem rohesten Zustande unter den Menschen gefunden. Da hört das Erkennen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit nie auf. Es ist also ursprünglich ein anderes Verhältniß zwischen dem Einzelnen und der Gesammtheit gesetzt. Indem diese ein Geistiges ist, so besteht also das Menschliche hier in einer Identität des höheren Geistigen mit dem bloß Animalischen. Wo ist nun hier die Gränze des eigentlich Physi9 glaubten] glaubten glaubten

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schen? Da müssen wir das eigenthümlich | Menschliche festhalten, aber auch bei den Thieren die Differenz aufsuchen, welche wirklich da ist. Der Punkt ist eben so schwierig als entscheidend; es richtet sich danach der mehr geistige oder mehr materielle Karakter der ganzen Behandlungsweise. Wenn wir bei der Nahrung stehn bleiben, so ist diese ein leibliches Bedürfniß. Bleibt der Leib eine Zeit lang ohne Nahrung, so gehn Veränderungen in allen seinen Funktionen vor. Das Aufsuchen und Zusichnehmen der Nahrung ist ebenso eine leibliche Reaktion, das Psychische können wir erst da annehmen, wo wir psychische Resultate wahrnehmen. Psychisch haben wir alles genannt, was Bewußtsein ist. Sagen wir, es sei bei den Thieren ein Unterscheiden mit Bewußtsein, so wäre da schon eine psychische Thätigkeit; allein wir sind dazu durchaus nicht berechtigt, weil wir sonst Begriffe voraussetzen müßten. Das Thier findet seine Nahrung auf eine bewußtlose Weise, durch den Instinkt. Aber ist das nun etwas Psychisches oder etwas Physiologisches? Darüber kann man schwer entscheiden, und es fragt sich dann wiederum, wie weit die Analogie in den Menschen übergeht. –

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Wir müssen wohl, wenn wir bei unserer Erklärung der Seele bleiben, die Punkte zu finden suchen, wo sich das Bewußtsein äußert. Was von dem Bewußtsein zurückgewiesen werden kann, steht offenbar in einer Relation mit demselben. Es giebt nun auch eine entgegengesetzte Erfahrung. – Dies ist ein Indifferenzpunkt des Leiblichen und Geistigen. Das Instinktartige fängt an mit einer Indifferenz des Geistigen und Leiblichen, hernach ist der Antheil der Seele an dem Ernährungsprozeß nicht abzuleugnen. Es ist ferner ein positiver Einfluß der Seelenthätigkeit auf das Entstehn des Bedürfnisses nachzuweisen, wenn wir z. B. die nach unserer Gewohnheit bestimmte Zeit der Befriedigung berücksichtigen. – Von dem Prozesse des Selbsterhaltungstriebes gehn die ersten Erweiterungen | des Bewußtseins aus, wie wir an den ersten Äußerungen der Liebe beim Kinde gegen die Mutter sehn. – Selbsterhaltung und Naturbeherrschung sind nun in einer beständigen Reaktion neben einander. Bei der Sprache mußten wir eine ursprüngliche Selbstthätigkeit annehmen; ebenso ist es auch hier; es bildet sich in jedem Einzelnen ein gewisser Typus, der sich von Zeit zu Zeit verändert, und es muß also eine gewisse innere Selbstthätigkeit zum Grunde liegen. Wir haben uns die Seele als ursprünglich thätig gedacht schon in der Bildung des Leibes. Die Seele hält ihren Ort fest, und ist immer

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in der Bildung des Organismus begriffen. Auf diese Formel lassen sich alle diese Thätigkeiten zurückführen; denn der Selbsterhaltungstrieb ist eben der Trieb der Seele, sich in ihrem Orte zu erhalten. Ebenso ist der ganze Naturbeherrschungsprozeß, wenn wir ihn anknüpfen an das Negative, daß der Mensch sich eine Abwehr verschafft, so ist es nichts Anderes, als daß die Seele sich einen erweiterten Ort bildet. Diese ist dann die Nahrung des Menschen welche ihm schon durch einen sehr zusammengesetzten Prozeß geistiger Thätigkeiten entsteht. Ebenso die positive Seite läßt sich ganz daran knüpfen, daß die Seele in dem Verhältniß zum Leibe darin das Ende der Rezeptivität gegen die Spontaneität hat. Der ganze Prozeß der Naturbeherrschung ist nichts als ein weiteres Hinaussetzen der Thätigkeitsenden. Der ganze Prozeß besteht darin, daß der Mensch sich neue Mittel für seine Rezeptivität schafft, und durch ein zusammenhängendes System von Organen hindurchführt. Es sind dies die Organe der Seele der zweiten Ordnung, wie wir ja unsere Sinne selbst Werkzeuge nennen. Es geht dies alles zurück theils auf die aufnehmenden Thätigkeiten, theils auf die selbstdarstellenden. Der Prozeß dient entweder der Wissenschaft oder der Kunst. Es ist offenbar, daß wenn man bloß auf der einen Seite stehn bleibt, sich alle Thätigkeiten auf die | Selbsterhaltung zurückzuführen, so erscheint dieser ganze Prozeß als etwas Nichtiges. Es entsteht immer wieder ein erweiterter Gegensatz zwischen Angenehmem und Unangenehmem überhaupt; durch alle neue Kunst wird immer ebensogut Unangenehmes als Angenehmes hervorgebracht. Das Bezweckte ist eigentlich die Erweiterung des Bewußtseins, für welche der Gegensatz etwas an und für sich Gleichgültiges ist. – Worauf wir nun zunächst zu sehn haben, um an unsern Gränzen zu bleiben, da wir nicht die Resultate der Seelenthätigkeit sondern nur sie selbst zu betrachten haben, ist 1) die Form derselben. Die Thätigkeit des Menschen erscheint hier überall als ein Nachahmen des allgemeinen Lebens und der ursprünglichen Naturthätigkeit. Wir können die Thätigkeiten eintheilen in Einwirkungen auf die lebendige und auf die todte Natur. Wenn der Mensch die Vegetation verschlingt, so thut er da nichts Anderes, als daß er die Natur selbst nachahmt. Hierbei sehen wir aber das Bewußtlose herrschend in einem so großen Gebiete dieser Thätigkeit; keiner weiß Rechenschaft zu geben, wie er es eigentlich muß, der Natur ihre Produkte abzugewinnen. Es ist dies ein sich Hingeben in die Gewalt des allgemeinen Lebens, welches auch nur 25–26 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 140: „das Angenehme und Unangenehme aber bereichert das Bewußtseyn gleich. Durch die Wissenschaft aber lernt die Seele die Welt, durch die Kunst sich selbst kennen – beydes fällt also mit der Erweiterung des Bewußtseyns zusammen.“ 29 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 140: „2) die Erweiterung des Bewußtseyns.“

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ausgehn kann von dem bewußtlosen Zusammenhang des unbedingten menschlichen Daseins mit der Naturproduktion. Der Einfluß auf die nichtlebendige Natur ist aber offenbar mehr ein Gestaltungsprozeß. Allein auch hier kommen wir zurück auf das reine Nachahmen der Natur. –

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Bei den Thieren hat jede Gattung ihre unabänderlichen Formen. Bei den Menschen findet man Bildungstypen über großen Räumen und Zeiten verbreitet. Diese Formen der Bildung haben offenbar zwei Naturpunkte, an welche sie sich anschließen, die regelmäßigen anorganischen Gestaltungen der Natur durch die Kristallisation und 2) die organischen. In diesem letzteren finden wir immer die Ähnlichkeit mit dem Menschlichen, das Doppelte überall. Die Veränderungen, welche von diesem Punkt aus eintreten, sind theils solche, die in das Gebiet der Verschönerung fallen. Dergleichen finden wir schon auf den niedrigsten | Stufen der Kultur; in der Kleidung immer schon den Schmuck. Wenn wir davon ausgehn, daß diese Thätigkeiten ursprünglich aus der einzelnen Person bestehn, so sehen wir auch hier die Erweiterung des Subjects in das Gemeinschaftliche: Der Mensch nämlich macht das Gebildete zum Gegenstande seiner Betrachtung. Wollen wir uns einen Menschen denken, der in der Natur auf den Typus stößt, dem er selbst zu folgen gepflegt, so erkennt er das, und erkennt darin das Menschenwerk. Wie wird er nun verfahren? Er kann das Gebildete anerkennen, und als etwas einer menschlichen Seele zugehöriges ansehend daran als etwas Heiligem vorbeigehn. Er kann aber auch ohne Rücksicht auf die daran vollzogene Bildung dasselbe sich aneignen, und es als einen rohen Stoff behandeln. Was aber ist wohl das Wahrscheinliche? Da theilen sich die Meinungen sehr. Überall giebt es solche Anerkennung des von einem Andern Gebildeten, aber auch das Gegentheil. Wenn nun der Mensch den bildenden Menschen selbst findet, wie wird er sich da betragen? Da können wir nur der Analogie folgen. Der Leib selbst ist etwas von der innersten Kraft der ψυχη Gebildetes. Der Mensch wird gegen den Menschen selbst offenbar auf feindselige Weise verfahren, als den Punkt, von wo das Hinderniß in der eigenen Thätigkeit ausgeht. Also wir haben hier die Anerkennung von der einen die Zerstörung und Feindschaft von der andern Seite. Da sind nun die Meinungen eben verschieden, ob dies oder jenes dem Menschen natürlich sei. Es hat dies einen entschiedenen Einfluß auf das Hinausgehn über die reine Persönlichkeit. Wenn

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Zerstörungs- und Raubsucht das dem Menschen Natürliche ist, so ist nicht einzusehn, wie die Erweiterung des Selbstbewußtseins entstehn könnte. Wenn man sich alle Gemeinschaft durch die Ermüdung in der Raubsucht und Zerstörungssucht erklären will, so muß man zuerst den Ursprung des Menschen aus der Gemeinschaft leugnen, aus dem geliebten Familienkreise. | Wenn man aber das Gegentheil voraussetzt, so sind wiederum die Feindschaften im Grunde sehr schwer zu erklären. Wir müssen uns daher mehr in die Mitte stellen. Wir haben schon gesehn, wenn wir den einzelnen Menschen für sich betrachten, wie da eine große Verschiedenheit statt findet in der Betrachtungsweise und Anerkennung. Letztere haftet an dem Ähnlichen der Bildungstypen. Je mehr diese von einander entfernter sind, desto weniger erkennt der Mensch die Ähnlichkeit. Auch wenn der Mensch den einzelnen bildenden Menschen findet wird sich die Anerkennung nach der größten Ähnlichkeit mit sich selbst richten, nach Farbe, Gestalt pp. und wir können uns diese Anerkennung bis zu einem Zweifel an der Zusammengehörigkeit herabsinkend denken. So sehen wir auch von dieser Seite aus, wie die Idee von der Zusammengehörigkeit nur etwas allmählig entstehendes ist. So können wir dann sagen, es giebt Verhältnisse in denen die Anerkennung etwas Natürliches, und auch solche in denen die Feindschaft etwas Natürliches ist. Jene führt nun auf die Gemeinschaft des Interesse, und eine Vereinigung der bildenden Kräfte selbst. Es spricht sich hier zugleich eine antipathetische und sympathetische Bewegung der Seelen gegen einander aus. Hierin liegt der Keim der Vereinigung. Für die Hemmung muß in der Anerkennung sich eine Existenz finden, und das ist der eigentliche Grund des Eigenthums. Dies ist dann nun von dieser Seite angesehn der erste Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft. Hieraus scheint sich dann die Frage zu entscheiden, ob eine solche Vereinigung auf einem Vertrage beruhe, oder ob ein solcher Zustand beim Vertrage schon vorausgesetzt werden muß. Wir können wohl beides in Übereinstimmung bringen. Es gäbe keine Verständigung, wenn nicht ein Zurückgehn wäre auf etwas Höheres, Gemeinschaftliches. Aber das Nebeneinanderleben, welches aus dem gemeinsamen Ursprung entsteht, wird nicht eher eine eigentliche Vereinigung bis die Möglichkeit eintrit, daß der Eine durch den Andern gehemmt wird. Beide Ansichten sind also natürlich, aber die Wahrheit | liegt nur in der Kombination. Ebenso ist es auch mit der Gemeinschaft und Feindschaft. Auch diese sind beide natürlich. Wäre nicht die Anerkennung und Gemeinschaft etwas Natürliches, so würden wir nie zum Bewußtsein der menschlichen Gattung kommen; wäre die relative Feindschaft nicht auch natürlich, so könnte das Bewußtsein der Gattung kein Werdendes sein. Deshalb ist aber auch die Feindschaft dann das allmälig Verschwindende. –

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Wenn wir fragen, wie die Veränderung des allgemeinen Typus in einem abgeschlossenen Kreise vor sich geht, so geschieht dies immer durch den Einfluß Einzelner. Es ist hier ein bestimmter Gegensatz zwischen Erfindern und Nachbildnern. Die bürgerliche Gesellschaft hat ihre eine Hauptwurzel, wie wir gesehn haben in der gegenseitigen Anerkennung. In so fern müssen wir also sagen, daß die bürgerliche Gesellschaft dem Naturbildungsprozesse angehöre. Alle Veränderungen in der bürgerlichen Gesellschaft haben immer darin einen Grund, so daß wir alle Verbesserungen in der bürgerlichen Form von der einen Seite so ansehn müssen als entstanden durch die erfindende Kraft im Naturbildungsprozesse. Dies steht also noch über jenem Gegensatz des Erfinders und Nachbildners. Es scheint auch der Gesetzgeber darüber zu stehn, weil er mit der Produktion des Erfindens auch die Autorität besitzt, die Nachbildung immer zu bewirken. Allein dieser Unterschied fällt ziemlich weg, wenn man es näher betrachtet. – Bei dem Erfinder muß, wenn er glücklich sein will, die Richtung auf die Naturbildung mit der Richtung auf den allgemeinen Typus verbunden sein, sonst fehlt die Nachahmung. Dies gilt auch auf dem formellen Gebiete der Staatsbildung. Alle bürgerlichen Einrichtungen haben nur Bestand, in wiefern sie in der Richtung der Allgemeinheit gegründet sind. Vergleichen wir hiermit nun noch einmal die Nachbildenden, so erscheinen die Erfinder nur als solche, wenn sie etwas von dem Bisherigen | Abweichendes produziren. Der Unterschied ist zwar immer da, aber er erscheint am meisten, wenn etwas Neues entsteht. Ist dies so giebt es zwei Richtungen der Nachbildenden, das Neoterische und Archaistische. Wir sehn das in der Kleidung wie in der Bildung der Staatsformen und so in allem was dazwischen liegt. Wenn sich solche Gegensätze bis auf einen gewissen Punkt spannen, so drohen sie Zerstörung, und es ist daher wohl der Mühe werth zu fragen, worauf denn wohl die entgegengesetzten Arten sich in einer bestimmten Beziehung zu bewegen, beruhen. Es scheint dies durchaus auf etwas Krankhaftes in beiden Beziehungen zurückzuführen zu sein. Wir können uns in dem Menschlichen keine entschiedene allgemeine Richtung auf das Neue denken, denn dadurch würde die Einheit des Lebens zerstört werden; ebenso würde eine absolute Richtung an dem Alten festzuhalten das Unbewegliche hervorbringen. Der Gegensatz läßt sich auch darthun an der Sprache, der Kunst und allen solchen Gebieten. Es scheint hier auf zweierlei anzukommen, wovon der Gegensatz ausgeht. Es giebt eine Richtung überwiegend auf das Rezeptive im Menschen, und eine Richtung überwiegend auf die Spontanei-

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tät. Jene kann nur bestehn, in wiefern sie auf eine übergeordnete Weise die Form der Spontaneität annimmt und umgekehrt. Als das weiteste Schema der Rezeptivität können wir die Empfindung ansehn; für die Spontaneität ist es die Genußliebe, indem dabei ein Aufsuchen vorausgesetzt wird. Als das überwiegende Schema der Spontaneität können wir das Wirken nach außen ansehn; das Entgegengesetzte davon ist im Allgemeinen die Trägheit. Die Genußliebe nur sucht das Neue, weil die Gewohnheit, die Wiederholung etwas Abstumpfendes hat für die Empfindung, für die Rezeptivität. Dies ist der Grund alles Neoterischen in allen Gebieten des Lebens. Das Handeln | aber, welches in einem engern Sinne ein Urbildliches ist, ist ein doppeltes. Jeder sieht sich darin als bestimmt an, und so ist dadurch die Spontaneität befriedigt, die die Form der Rezeptivität angenommen hat. Diese ist der Grund zu dem Festhalten an dem Alten. Den Gegensatz zwischen Liebe zum Neuen und Halten am Alten können wir eigentlich in denen finden, welche Erfinder und Gesetzgeber sind. Wer nur das Neue will, will damit nichts Festes, sondern etwas Vergängliches. Jedes Volk hat seinen eigenthümlichen Typus von Bekleidung, und dieser bleibt oft Jahrhunderte derselbe, bis neue Beschäftigungen neue Lebensformen eintreten; dann aber kann der rechte Erfinder auftreten. Wenn wir nun sehen, wie wir es im Wechsel der Moden finden, das immer verschwindende Erfinden, so ist dies ganz etwas Ähnliches als was wir im Großen in der Gesetzgebung finden. Die Erfindung muß rein von dem Bedürfnisse ausgehn; dann ist sie bleibend, eben weil sie nicht ausgegangen ist von der bloßen Neuerungssucht. Der Schwindel in der Gesetzgebung ist es eigentlich, was den Zustand der Revolution bildet. Kein Volk toller in Erfindung seiner Moden, wie in der politischen Gesetzgebung als die Franzosen. Das Aufgehobensein alles Beharrlichen in der Regierung selbst, nicht aber der bloße Wechsel der Regierenden ist darin das Wesentliche. –

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Wenn die Thätigkeit gegründet ist auf einen vorausgesetzten Erfolg, so fällt dabei weg was wir Aberglauben nennen. Die Erklärung dieses Aberglaubens ist aber viel zu weit, wenn wir alles so nennen wo der Erfolg nicht berechnet wird, denn der Instinkt geht jeder Thätigkeit voran. Über den Begriff ist man durchaus nicht einig. Es giebt zweierlei, was man besonders | mit Aberglauben bezeichnen will 1) wenn man der Natur beikommen will auf einem Wege, von dem man über-

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zeugt ist, daß man nie zur klaren Auflösung kommen werde. Dies ist der aktive Aberglaube, der zweite ist dagegen ein passiver. Beiden gemein ist es, einen Zusammenhang vorauszusetzen zwischen der Natur und dem Menschen welcher ganz außerhalb des Gebiets des Erkennens liegt. Wenn Einer nur den Zusammenhang nicht leugnet, den er noch nicht kennt, so muß zugleich ein Bestreben da sein, dieses dem Gebiet des Erkennens näher zu bringen, und das ist es doch eigentlich, was die Abwesenheit des Aberglaubens karakterisirt. Gar vieles hört mit der Zeit auf, Aberglaube zu sein, wenn das Geheimnißvolle ein Bekanntes wird. Ist es aber vorher Aberglaube gewesen? Wenn ein Bestreben da war, den Zusammenhang zu begreifen, so ist es kein Aberglaube gewesen. Daher finden wir denn den Aberglauben auch oft in dem Gebiete des schon erkannten lossagens als einem Begriffenen. Wenn wir nun die Seele ansehn als ein weltsuchendes Wesen, und daß sie dies beginnt von einem absolut gegebenen Chaotischen, so müssen wir sagen, daß wir uns in jedem Augenblicke in einem Zustand befinden, worin beides zusammen ist. Je enger noch das erste Gebiet ist, um so natürlicher ist es, daß in dem anderen eine große Menge falscher Tendenzen vorkommt. Welche sind davon nun die abergläubischen, und welche nicht? Unbekannt sind alle. Es giebt immer eine große Menge von Menschen welche aus dem abgeschlossenen Weltbilde nicht herauskommen wollen; sie versiren in einem ganz beschränkten Begriff der Natur, und werden alles für Aberglaube halten, was nicht in diesem ihren engen Begriff liegt. Um so weiter ist dann aber das Gebiet des Zufalls, und wer in demselben nun doch einen Zusammenhang sucht, der wird für abergläubisch gehalten. Da findet man dann nachher oft, wie gerade das Edelste und Größte für Aberglauben gehalten worden. Jedes Ahnen eines Zusammenhangs | ist eigentlich ein tiefer Eindringenwollen in den Naturzusammenhang, und so scheint die Realität des Begriffs fast ganz zu verschwinden. Jenem Ahnen liegt auch nichts Anderes als die weltsuchende Tendenz der Seele zu Grunde, welche hier aber nur unter der Form des Instinktes ist. Dieser kann nur von einem beschränkten Punkt aus für Aberglaube gehalten werden. Allein es giebt nun auch allerdings ein falsches Verfahren in dem Suchen des Zusammenhanges, wenn nämlich der Entschluß schon da ist, einen solchen wirklich anzunehmen, wenngleich die Unmöglichkeit sich nachweisen läßt. Wir versinnlichen uns die Sache am besten an einem Beispiel. Wenn Einer sagt, ich habe oft bemerkt, daß Wunden heilen, wenn man sie mit einem Stücke 1 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 147: „oder man sucht nichts in der Natur zu bewirken, sondern fürchtet, die Natur selbst möchte uns auf einem solchen Wege beykommen.“

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rohen Fleisches reibt, und dies vergräbt, und Einer ahnt dahinter einen Zusammenhang, so ist das kein Aberglaube, denn der Zusammenhang ist nicht unmöglich; wenn jener nun aber sagt, man müsse an den Ort, wo man das Fleisch vergraben will rückwärts hingehn, kein Wort dabei sprechen, so ist da gar kein Realzusammenhang mehr gesetzt, und da werde ich allerdings Aberglaube annehmen; denn da giebt es durchaus keinen Anknüpfungspunkt des Erkennens. Wie kommt denn aber die Seele dazu, abergläubig zu sein, da doch die ganze Voraussetzung und Vorstellung vom Wahren, auf die vorausgesetzte Identität des Realen und Idealen beruht? Da sagt es sich freilich leicht, daß der Aberglaube eine Approximation an den Wahnsinn sei. Aber es ist durchaus erwiesen, daß gerade die ausgezeichnetsten Menschen eine entschiedene Neigung zum Aberglauben haben die spekulativsten wie die praktischsten. Wenn ein Mensch von ausgezeichnetem lebendigen Einfluß, von großer Gewalt auf die menschlichen Gemüther abergläubig ist, so wird dieser niemals den thätigen Aberglauben haben, sondern immer nur den feigherzigen. Sie fürchten einen unbekannten Einfluß auf sich, aber sie wollen nie denselben ausüben. In der rohen Masse finden wir dagegen den thätigen Aberglauben, wo man zu dem Unerklärbaren so leicht seine Zuflucht nimmt, wenn man mit gewöhnlichen Mitteln nicht ausreicht. –

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Der passive Aberglaube, der | bloß geheimnißvolle Wirkung besorgt, nicht hervorbringen will, geht zurück auf den aktiven. Wie kommen ausgezeichnete Geister dazu ihn zu imitiren? Der Einfluß solcher Menschen auf die Masse hat immer etwas Geheimnißvolles, und dies giebt also die Veranlassung zu dem Glauben, daß es etwas für das Erkennen Unzugängliches gebe. Daß der Aberglaube sich also auch bei solchen findet, geschieht nur um auf gewisse Weise das Gleichgewicht herzustellen, sein eigentliches Entstehen müssen wir in der großen Masse suchen. Die erste kindliche Form der Verknüpfung liegt in der räumlichen und zeitlichen Form. Die große Masse bleibt stehn auf dieser kindlichen Stufe; sie bleibt stehn bei den äußerlichen hervorbringenden Veranlassungen, ohne an die Verbindung im Inneren zu denken. Daher dann der Reiz, alle menschliche Thätigkeiten, welche schon im wissenschaftlichen Gebiete liegen, als etwas Unbegreifliches anzusehn. Die erste Superstition hängt so zusammen mit der Antipathie vor dem eigentlichen Gebiete des Wissens. Je mehr Armuth und Reichthum sich gegenüberstehn, je größer die Trennung. So auch auf dem Gebiete

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dann auch hier die aushelfende Triplizität ein. Vergleicht man aber das Wesen beider Behandlungsweisen, so ist das Auffassen der Seelenthätigkeit unter der Form von Vermögen schon etwas, was gar auf keine innere Anschauung zu führen scheint. Unter Vermögen denkt man sich ja eine innere Möglichkeit; diese bezieht sich aber auf eine ruhige Beschaffenheit der Theile, nicht auf die Funktionen selbst. Ich kann dabei nur kommen auf die verschiedenen Arten des Vermögens; wie die Seele eigentlich im Erkennen ist, davon erfahre ich nichts, denn Erkenntnißvermögen und Begehrungsvermögen ist etwas für sich, keins wird in seinem Leben ergriffen. Im Erkenntnißvermögen wird abstrahirt vom Begehrungsvermögen und nicht beachtet, daß es doch eigentlich auf einem Wollen beruht, und so umgekehrt. Die Einheit der Seele geht dabei verloren. Unser Gegensatz von aufnehmender und aus sich herausgehender Thätigkeit stellte die Seele gleich der Welt gegenüber, und so wurden wir immer auf die lebendige Einheit zurückgeführt. | Darum erschien uns dieser Weg bei weitem der leichtere, um eine wirkliche Anschauung hervorzubringen. Beide Behandlungsweisen scheinen daher so zu einander zu stehn, daß die andere eher eine Art von Anatomie zu sein scheint. –

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[49. Stunde] Mag man das Gefühlsvermögen unter dem Begehrungsvermögen oder dem Erkenntnißvermögen subsummiren so trit es doch nie klar hervor. Unter dem Erkenntnißvermögen hat man das Gefühl dann dunkle Vorstellungen genannt, und daraus eben so dunkle Folgerungen gemacht. Einheit und Zusammenhang fehlt bei der Duplizität wie bei der Triplizität. Die ganze Behandlung scheint uns daher hervorgegangen aus einer bloßen Betrachtung der empirischen Resultate, die Seele erscheint dabei in einer völligen Passivität, als ein bloßes Vermögen. Am allerstärksten ist dies in der Herwardschen Psychologie der Fall. Da erscheinen die Vorstellungen als ein Gegebenes; die Seele ist der Platz, wo sich die verschiedenen hineingebrachten Vorstellungen mit einander streiten. – Es ist die Sache aber noch von einer andern Seite anzusehn. Wenn man von den Erkenntniß- und Begehrungsvermögen ausgeht, so ist offenbar in jedem Augenblicke ein Resultat in der Seele möglich, was einem von beiden angehört, aber es geht gar nicht daraus hervor, warum das Resultat dem oder dem angehört, und wie die Übergänge sich bilden. Ferner liegt darin auch gar nichts, woraus wir 28–31 Gemeint ist Herbartschen (vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 77r). Vgl. Herbart (1816), insbesondere S. 101–123

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die Differenzen der Seelen unter sich auffinden können; wie ohne besser oder schlechter zu sein, die eine Seele doch anders sein könne als die andere. Dazu aber haben wir eine Anlage in unserer Abtheilung. Es liegt darin die Fähigkeit der Gradation von selbst, in der Gewalt der heraus und hineingehenden Thätigkeiten. Dort aber muß, wenn das Erkenntnißvermögen geringer ist, auch das Begehrungsvermögen schwächer sein und umgekehrt. | Es giebt hier gar keine Differenz, die von dem Hervor- und Zurücktreten des Einen oder Anderen herkäme. Eine Modifikation dieser Behandlungsart ist die, welche die Vermögen gut sein läßt, und die Triebe aufsucht. Da wird man aber gleich in eine unbestimmte Mannigfaltigkeit hinausgetrieben. Man muß die Haupteintheilung in Erkennen und Begehren dabei verlassen, und das wäre das Richtige. Den Trieb nach Erkenntniß können wir dabei stehn lassen. Nun aber erkennt die Seele manches, manches nicht, wenngleich nichts von außen gegeben ist. Da muß man sagen, ja, die Seele hat nur den Trieb, dies zu erkennen, nicht das Andere. Da ist man dann gleich in der unbestimmten Vielheit. Könnten wir diese aber auch trennen durch ein Unterordnungsprinzip, so würde es doch durch diese Betrachtung nie möglich sein, auf die wahre Einheit der Seele zu kommen. Die ganze Ansicht kann nur die Dignität einer Hypothese haben. Wir haben doch überall immer auf zweierlei zu sehn, das Verhältniß der Seele zum Leibe und auf das Verhältniß der Seele zur Welt. Nun kann es doch unmöglich eine richtige Behandlung der Seele sein, in welcher nicht das Wesen der Seele und ihr Verhältniß zur Welt als ein und dasselbe erscheint. Sehe ich die Seele aber an als eine Einheit oder Mannigfaltigkeit von Trieben, ist da wohl ein Anknüpfungspunkt, das Verhältniß der Seele zur Welt herauszubringen? Nein! Die Seele wird mir also in dieser Beziehung gar nicht verständlich. Eben so wenig aber geht daraus etwas hervor in Beziehung auf das Verhältniß der Seele zum Leibe. Daher denn auch die verschiedenen, zahllosen Hypothesen. Man sieht den Leib an als etwas Hin1 auffinden] über sein 5–9 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 77v: „Soll die Erkenntniß nicht von außen her kommen, so muß man sagen, die Seele hat die Erkenntniß nicht begehrt und dann bin ich wieder im Begehrungsvermögen und kann die Schwäche des Begehrungsvermögens also nur in der Schwäche des Erkenntnißvermögens suchen. Eben so wird die Unvollkommenheit des Begehrungsvermögens wieder auf die Unvollkommenheit des Erkenntnißvermögens zurück geführt. Dieß ist die Unvollkommenheit, welche der Ansicht, die die Seele in zwei oder drei Vermögen eintheilt, zu Grunde liegt. Dieß kömmt daher, daß man die Seele bloß als Passivität setzt. Deswegen könnte aber doch die Haupteintheilung in Erkenntniß und Begehrung gegründet sein, wenn man nur statt des Passiven etwas Actives setzte.“ 9–10 Vgl. Carus (1808), Bd. 1, S. 284–363

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derndes, oder, was freilich das Richtigere ist als zwischen Seele und Welt stehend, als einen Durchgang. Dann erscheint die Verbindung zwischen Seele und Leib aber doch immer als etwas Willkührliches.

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Um die ersten Grundzüge | zu unserer Behandlung zu legen, gingen wir aus von dem Begriffe des Lebens, und so müßte unsere Erkenntniß der Seele allerdings ein Theil der Erkenntniß der Welt werden. Zugleich aber gingen wir auch von der Identität der Seele und des Leibes aus, so daß die Trennung nur eine Abstraktion war; niemals haben wir den Leib also außer Acht lassen können, und folglich ist unsere ganze Behandlung eine viel gebundenere gewesen. – Wenn nun die Thätigkeiten der Seele nicht in jedem Momente alle, sondern nur einzelne hervortreten, so fragt es sich, nach welchen Gesetzen dies eben geschieht. Es ist dies nichts Anderes als was man die Freiheit der Seele nennt, denn es kommt dabei darauf an, ob der Bestimmungsgrund innerhalb oder außerhalb der Seele liegt. Wir haben die Seele angesehn als ein werdendes Dasein unter der Form des Bewußtseins in der Wechselwirkung mit allem übrigen Dasein. Es ist dies Eins, denn die Seele trit nun in das Wechselverhältniß mit der Welt, in wiefern sie ein Bewußtes wird und umgekehrt. Die Seele ist ein Weltsuchendes und darin ein Ichwerdendes. Hiervon ausgegangen muß nun auch jeder Moment ein solches Wechselverhältniß wirklich sein, und ein gemeinsames Produkt von beiden. Die Sukzession muß also ihren Grund theils in der Seele selbst, theils in der mit ihr in Verbindung stehenden Welt haben. Eine ganze einseitige Bestimmung in sich selbst ist nicht nur deswegen undenkbar, weil in einem jeden Momente eine ganze Vergangenheit ist, ohne welche die Seele den bestimmten Inhalt nicht hätte zu Stande bringen können, sondern es ist auch deshalb undenkbar, weil der Moment selbst sich da nicht erklären läßt. Jedes was die Seele zu Stande bringt, ist ein Theil der Totalität, und jene Annahme einer neuen Selbstbestimmung setzt nicht die vollkommene Freiheit, sondern vielmehr | eine vollkommene Beschränktheit voraus. Denn weshalb war es nur gerade diese Thätigkeit, welche zu Stande kam? Es lag ein Wille zu Grunde, der alles Andere ausschloß, und das ist also eben eine vollkommene Beschränkung auf das Eine. Sagt man hingegen, es sei dies kein bestimmtes Wollen, sondern etwas Zufälliges, so geht aller Zusammenhang verloren, und ich kann dann nicht mehr sagen, daß die Richtung auf die 28 weil] weil sich

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Totalität der Welt das Bestimmende ist. Nun wollen wir einmal die andere Einseitigkeit nehmen. Die Seele soll rein in ihrer Sukzession durch das sie Umgebende bestimmt werden, keinen Grund in sich selbst haben. Dabei erscheint die Seele als ein rein Passives, die Welt spiegelt sich in jedem Moment darin ab, ohne daß eine Reaktion gesetzt wäre. Die Seele verhält sich dabei rein mechanisch. Setzt man eine Selbstthätigkeit der Seele, so kann man ein solches einseitiges Bestimmtsein von außen nicht annehmen. Also aus demselben Grund, aus dem man bei der einen Annahme nicht stehn bleiben kann, kann man es auch bei der andern nicht, und es bleibt daher nichts übrig als was in der Mitte liegt. Nun aber entsteht erst die eigentliche Aufgabe. Wenn das Übergehn aus einem Moment in den andern theils seinen Grund in der Bestimmtheit der Seele, theils in ihrem Sein mit dem andern Dasein [hat], so fragt es sich, welches denn nun da der bestimmte Antheil eines jeden ist. Die Seele kann sich selbst nur verstehn, wenn sie eine gewisse Analogie der Gesetze des Übergehns auffindet. Es kommt hiebei nun darauf an, daß man 1[)] die Beschränktheit der Seele, 2) die Einwirkung der Welt auf sie 3) beides zusammen kennt. Wenn wir voraussehn, daß ein Anderer in einem bestimmten Falle so und nicht anders handeln werde, so nimmt ihm das nichts von seiner Selbstbestimmung, weder bei uns, noch wird er selbst sich von uns behext halten. | Es fragt sich nun, ob wir zu einer solchen Kenntniß der Gründe gelangen können, wodurch, wäre sie vollkommen, wir jede Handlung voraussehn würden. Wir müssen dabei darauf zurück: Indem wir eine Bestimmtheit in der Seele annehmen, in welcher ein Prinzip liegt, so müssen wir sagen, diese besondere Bestimmtheit macht auch, daß die Bestimmung durch die umgebende Welt für sie eine andere wird. Dies ist gleichsam wieder ein Heraustreten aus dem Gleichgewichte jener zwei Momente, indem wir die Einwirkung der Welt besonders modifizirt denken durch die innere Bestimmtheit. Allein wir können das auch eben sogut umkehren. Setzten wir zwei gänzlich gleichgestimmte Seelen in zwei ganz verschiedene Klimata, so würden nicht nur die Handlungen, sondern die innern Faktoren selbst sich auf ganz verschiedene Weise modifiziren. Eine Seele ist eine andere als eine andere vermöge ihres Temperaments. Denken wir uns dasselbe Temperament in verschiedenen Weltgegenden so wird das Resultat ein anderes. Aber so auch umgekehrt. Durch den ersten lebendigen Moment bekommt die ganze Welt durch die Seele schon ihre besondere Bestimmtheit, und so kommen wir immer mehr darauf zurück, daß das Fürsichgesetztsein der Seele und Entgegengesetztsein der Welt immer nur ein relatives ist. Die ganze Sukzession der Seelenthätigkeiten liegt folglich in dem ursprünglichen Verhältniß zwischen Seele und Welt. Jeder Übergang von einem Moment

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zum andern ist bestimmt durch das Wesen der Seele selbst, daß sie ein Weltsuchendes ist, aber nach der besonderen Bestimmtheit jeder einzelnen Seele. Dies giebt nun die innern Fakten, wenn wir sagen, jede Seele ist auf eine andere Weise ein Weltsuchendes und sich selbst setzendes. Nun bleibt aber noch immer die Frage übrig, daß wir ja nun doch weder den einen | noch den andern Ausdruck isoliren können, daß Eines doch immer mehr vorherrschend als das Andere sei; und können wir nun etwas Genaueres über den Antheil beider in der Folge der Momente bestimmen? –

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[51. Stunde] Sobald wir einen theil aber in ein und derselben Thätigkeit erkennen, so ist dies ein Prozeß des Übergehens, das Aufgenommenwerden einer besonderen Thätigkeit in die allgemeine. Wenn wir einen Gegenstand in unser Bewußtsein aufnehmen rein als einen einzelnen, so muß der folgende eine gewisse Verwandschaft mit demselben haben, und sie beide müssen unter einer gemeinschaftlichen Einheit stehn. Woher kommt das Abbrechen und Übergehn in ein Anderes? Es giebt in dem Aneinanderreihen von Thätigkeiten gleicher Art allerdings eine Differenz. Ist denn nun in allen Seelen die Richtung von dem Besonderen in das Allgemeine überzugehn? Je mehr die Richtung da ist, desto größer das Anhalten bei Thätigkeiten gleicher Art. Es giebt ein bloßes Aneinanderreihen von Einzelnheiten, und dieses pflegt man dann einer Unlust der Seele, ihren Zustand zu verändern zuzuschreiben; welches die Trägheit ist. Der Unterschied ist nicht so von Bedeutung; man muß unterscheiden zwischen Thätigkeiten, die um ihrer selbst willen und die um eines Anderen willen unternommen werden, z. B. des Erwerbes wegen. Die Hauptsache bleibt, das Gesetz des Überganges zu finden. Wir fangen dabei mit dem inneren Faktor an, zurückgehend auf die Formel durch welche wir uns das Ganze als Eins konstruirt haben. Jede Richtung der Seele auf die allgemeine Aufgabe ist immer ein einseitiges; es ist ein aufgehobenes Gleichgewicht da und darum eine natürliche Neigung, dasselbe wieder herzustellen. Überall in dem Gleichgewicht ist die Ruhe und Befriedigung der Seele. In der Befriedi31 dasselbe] so Göttinger Nachschrift, Bl. 80r und Züricher Nachschrift, S. 159; Ms.: dieselbe 8–9 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 159: „Die Momente des Lebens sind eigentlich alle Theile einer einzigen Thätigkeit, die mit dem Tod abgebrochen wird: auch in der Succession betrachtet wird manche Thätigkeit unterbrochen; so müssen doch Übergewichte von verschiedenen Thätigkeiten und Übergänge Statt finden. –“

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gung aber ist wiederum das Bewußtsein des Fortschreitens aufgehoben, und darum treibt | sich die Seele wieder weiter. Es ist dies freilich ein ganz Allgemeines, in dem es doch noch Differenzen geben wird; das Verhältniß ist verschieden zwischen Befriedigung und Fortschreitung. Diese Differenzen machen also auch Differenzen in der Art und Weise der Sukzession. Ferner kommt es nun hier auch auf den Gegenstand der Beschäftigung an, und weiter noch auf die besonderen Beziehungen auf das Verhältniß zur Welt bei jedem einzelnen Gegenstand. Für manche Gegenstände hat die Seele einen größeren für manche einen geringern Maaßstab, folglich ist der Wechsel danach auch ein anderer. Die Formel wird hier schon sehr unbestimmt, ohne jedoch den Karakter der Gesetzmäßigkeit zu verlieren. Hier sind wir nur von dem inneren Faktor ausgegangen, und der äußere hat doch auch einen entschiedenen Einfluß auf den Wechsel der Thätigkeiten. Die Thätigkeit hört auf wenn der Gegenstand aufhört gegeben zu sein. Der äußere Faktor scheint dabei übergeordnet, allein es giebt auch einen andern Gesichtspunkt, wo er das nicht ist, da nämlich wo die Gegenstände der Seele sich aufdrängen und die innere Thätigkeit dadurch hervorlocken. Aber die Einwirkung wird doch eine ganz andere sein, wenn sie auf eine zurückgedrängte Richtung geht. Es giebt nun keine bestimmte Gränze, wovon man sagen könnte, daß jenseits derselben der äußere Faktor immer müsse überwiegend werden. Ein Mensch der den Einwirkungen von außen sich leicht hingiebt, ist der Zerstreute; ebenso haben wir auf der andern Seite ein gewisses Maximum – Archimedes. Diese Differenz | geht auf die Differenz in der Seele zurück, sie ist aber in der That keine Differenz in der Sukzession. Das Sukzessionsgesetz selbst ist das nämliche. Die Beharrung und die Leichtigkeit, zurückgedrängte Thätigkeit hervorzuheben, können an sich wieder sehr verschieden sein. Es kann von dem Letzteren der Grund sein in einem Mangel an Anstrengungsfähigkeit, aber auch eine starke Richtung auf das Schönheitsgefühl, d. h. die Richtung, erst das ganze Bild hinzustellen, um vielleicht hernach mit der größten Kraft in ein und derselben Thätigkeit zu verharren. Die absoluten Gränzen lassen sich also nicht ziehen, jedes Maximum läßt immer noch ein 5–6 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 80r: „Der Progreß und die Befriedigung wird in der einen Seele anders sein als in der anderen. Auch die Richtung auf die Welt ist nicht in allen Seelen gleich, und es wäre sonst unmöglich, daß sich die Seele in ihrer ganzen Fülle offenbaren könnte.“ 22–25 Vermutlich spielt Schleiermacher auf den berühmten Satz „δς μοί πο. στ$ καὶ κιν$ τὴν γν“ des Mathematikers Archimedes (287– 212) aus Syrakus an; vgl. Pappos von Alexandria: Mathematicae collectiones, ed. F. Commandino 8,460; ed. F. Hultsch, Bd. 1–3, Berlin 1875–1878 [Nachdruck 1965], hier Bd. 3, 1060 24–25 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 161: „im andern aber kann die angefangene Thätigkeit bleiben ungeachtet alles Andrangs der äußern Gegenstände.“

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Größeres zu. Ebenso ist keine bestimmte Gränze zu setzen zwischen dem äußeren und inneren Faktor. Dies beides zusammengenommen ist es nun was man mit Recht die Freiheit der Seele nennt, einmal, daß die innere Passivität nie eine absolute Gewalt hat, sondern daß die Widerstehungskraft eine unendliche ist, und dann 2) daß in jedem Falle der Sukzession die innere Eigenthümlichkeit der Seele das Bestimmende ist; wogegen nun die gewöhnliche Art, die Freiheit anzusehn, Freiheit im Gegensatz der Nothwendigkeit, oder Freiheit als Willkühr durchaus falsch ist. –

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Es giebt allerdings eine scheinbar ganz zufällige Sukzession, wobei sich Gesetze am wenigsten nachweisen lassen. Daß ein abwechselndes Bestimmtwerden mehr durch den äußeren und mehr durch den innern Faktor vorkommen wird ist an und für sich klar. Durch das Gebundensein an die Oscilation der Erde ist der Mensch an den Schlaf gebunden; welchen wir ansehn können als ein Schema für das bewegende des äußeren Faktors. | Als Schema für den innern Faktor dagegen können wir die Lebensordnung ansehn, in welche der Mensch sich fügt und danach mit seiner Lebensthätigkeit abwechselt. Was [sich] durch diese Bestimmung allgemein mit Leichtigkeit verstehn läßt, ist doch nur das weit Größere. Weit geringer ist die Anzahl von Gedanken, welche sich nicht so erklären lassen. Sie haben aber auch ihren Grund, und man kann dies als die kleinere Oscilation in der größeren ansehn. Wenn wir einen Menschen uns denken könnten, der rein dem persönlichen Antriebe folgte, so würde das Ganze einen chaotischen Karakter erhalten. Kurz es scheint dies immer als ein sich ins Gleichgewicht Setzenwollen der kleineren Bewegungen mit den größeren. Wenn man nun die Freiheit nicht in der Gesetzmäßigkeit, sondern in der Willkühr finden will, so hat diese einen gewissen Schein, weil die Seele durch gewisse Gesetze genöthigt wird. Allein was bleibt dann für die Freiheit übrig? Nichts als der chaotische Zustand wo die Seele von dem Wechsel ihrer Bewegungen sich gar keine Rechenschaft geben kann. Das Wesen der Seele, ihre Einheit und Identität verschwindet dabei gänzlich. Der ganze Gegensatz ist aber überhaupt nichtig; man muß vielmehr ein wahres Sichdurchdringen von Freiheit und Nothwendigkeit annehmen. Das Sichfügen der gemeinsamen Ordnung fühlt die Seele als ihre freie That. Wenn wir dagegen in den Zustand der Begeisterung uns hineindenken, was ist das, wenn ich es prüfe nach dem Gegensatz von Freiheit und Nothwendigkeit?

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Offenbar kann man es als das Eine wie als das Andere darstellen. Der Zustand ergreift den Menschen als etwas dem man nicht widerstehn kann, und das ist eine Nöthigung. | Ist denn diese Nöthigung etwas Äußeres? Keineswegs, sie geht rein aus dem Inneren hervor. Dies ist also ein Schwung, den die Seele sich selbst giebt; was dabei als Freiheit erschien, das kann man ansehn als etwas von außen Kommendes; wenn z. B. der Mensch seine Zeit sich eintheilt pp. Wir sehn also, daß der Gegensatz zwischen Freiheit und Nothwendigkeit gar nicht besteht. Nun giebt es freilich Zustände von Beschränktheit in der Selbstbestimmung, wenn nämlich immer Impulse von Anderen kommen, wie bei dem Kinde. Das aber kommt daher, weil die Funktionen der Seele selbst noch nicht entwickelt sind, weil die Selbstständigkeit noch nicht da ist. Diese Nothwendigkeit ist also nur ein Zeichen von einem wirklich untergeordneten Zustande. Dasselbe gilt von dem Gegensatz zwischen der Seele des Gebildeten und Ungebildeten. Wir können noch einen Schritt weiter gehn, wenn wir fragen: Wer ist freier, der sittliche oder unsittliche Mensch? Offenbar der sittliche. Warum? Weil er überwiegend in pathematischen Zuständen ist, und so mehr als ein Naturwesen erscheint, in dem das Fürsichgesetztsein nicht hervortritt. – Wenn nun die Freiheit immer mehr gefunden wird in dem Zustand, wo die Seele als wählend gefunden wird, so sollte jeder vernünftige Mensch das hinwegwünschen. Es ist immer einen Zustand von Qual, den die Seele in der Wahl hat; denn es sind entweder Gegenstände die gleichgültig sind, und wo wir deshalb keinen rechten Unterscheidungsgrund finden können, oder es sind wichtige Gegenstände, die man nicht recht durchschaut. – „Soll ich den oder den Beruf wählen?“ „Die oder die Frau heirathen?“ – Die Wahl kommt immer | nur da vor, wo die wahre Identität von Freiheit und Nothwendigkeit nicht zur Anschauung kommt. Was ist gewöhnlich auch die Folge? Der Mensch läßt sich durch Andere bestimmen. – Diese Verwirrung des Ganzen kommt daher, daß man sich den Willen als ein ruhendes Vermögen denkt. Das, was wir Willen nennen geht nie auf den ersten Anfang zurück, sondern es hat seinen Sitz in der Mitte. Die ersten Anfänge der Thätigkeit sind immer streng willenlos; nur dann sagen wir, daß wir etwas wollen, wenn wir etwas thun in dem Gedanken einer andern Möglichkeit. In dem ersten Anfange ist es die u n getheilte Einheit der Seele, welche handelt. In Beziehung auf die Sukzession in der Seele scheinen also die beiden Ausdrücke Freiheit und Nothwendigkeit gar nicht recht angebracht zu sein. –

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Es fragt sich nun, in wiefern man über die Verschiedenheit der Seelen unter sich ins Klare kommen kann; ob man zwischen der ursprünglichen Identität und unendlichen Mannigfaltigkeit keine Mittelglieder findet. Es giebt nun hier verschiedene entgegengesetzte Meinungen, die angeborene Differenz und die ursprüngliche Gleichheit aller Seelen. Nach der letztern Meinung hat alle Differenz ihren Grund in dem äußern, die Sukzessionsgesetze bestimmenden Faktor. Es ist offenbar, daß die Streitfrage auf erfahrungsmäßige Weise niemals kann ausgemacht werden. Es giebt in den ersten Anfängen gar keine Auftheilungen, woraus man auf die Seele schließen könnte. Die Entscheidung eines jedes kann nur dem eigenen, unmittelbaren Selbstbewußtsein überlassen bleiben. Man hat zwar als besonders entscheidend für die ursprüngliche Differenz das Angeerbte angeben wollen, allein da kann man immer sagen, dies sei nichts Angeborenes sondern nur aus der Nachahmung und Aneignung entstanden. | Wie glauben wir aus unserem unmittelbaren Gefühl die Sache [zu] entscheiden? Dies heißt nichts Anderes, als wir wollen den ersten Anfang des Lebens nach der Analogie mit jedem einzelnen Momente beurtheilen. Wir haben gesagt, die Sukzession beruhe theils auf einem innern, theils äußeren Faktor. Nach der Analogie sagen wir nun, daß schon in dem ersten Lebensmoment ein bestimmender innerer Lebensfaktor vorhanden sei. Im entgegengesetzten Falle kommen wir ganz aus der Analogie heraus; der erste Moment wäre allen andern unähnlich. Der innere Faktor entstünde dann aus dem Resultat des äußeren, der Mensch wäre ein Produkt aus der ursprünglichen Identität der Seelen und aus der Differenz dessen was ihm äußerlich begegnet ist. Dann also ist eigentlich der Mensch lediglich Resultat der äußern Umstände. Wer sich das kann gefallen lassen und das Bewußtsein von Selbstthätigkeit und Selbstbestimmung damit vereinigen, gegen den haben wir weiter keine Argumente. Wir können es nicht vereinigen mit dem ursprünglichen Lebensgefühl. Bei solchen Punkten, wo eine wissenschaftliche Entscheidung nicht möglich ist, muß man sich durchaus klar machen, welchen Einfluß diese oder jene Entscheidung auf die weitere Behandlung haben werde. Wir wollen eigentlich nur die vorgefundene Differenz auf Begriffe zurückführen. Haben wir dies zu Stande gebracht, so wird es dann nur heißen, entweder: das sind die ursprünglichen Erscheinungen der Seele, oder: das sind die konstanten Resultate der äußeren Einwirkungen. Für den Gang der Untersuchung wie für die Resultate ist keine Differenz darin, nur in der Beziehung auf den er-

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sten Anfang. Die Differenz welche wir wahrnehmen pflegt man gewöhnlich zu fassen unter der des Temperaments, des Karakters oder | der natürlichen Anlagen. Dies ist aus dem gemeinen Leben hergenommen und bedarf in jedem Fall immer noch einer näheren Bestimmung. Unter ursprünglichen Anlagen versteht man gleichviel ob angeborenes oder erworbenes, aber doch feststehendes Verhältniß in den verschiedenen Richtungen der Seele auf ihre Gegenstände. Man geht aber dabei immer gleich in das Einzelne – oder hat Anlage, nicht zur Kunst, sondern zur Mahlerei pp. Dieser Ausdruck geht also auf die Verzweigung der Seelenthätigkeit in sich selbst. Was wir Karakter nennen beziehn wir größtentheils auf das sittliche Gebiet. Das Verhältniß zwischen dem persönlichen und gemeinsamen Selbstbewußtsein ist es, was eigentlich seinen Karakter bestimmt. Das Temperament scheint sich am meisten auf die Sukzession der Seelenthätigkeiten zu beziehn; wie Einer schnell oder langsam von dem Einen zum Andern übergeht. – Wir wollen daher die Sache beginnen mit der Lehre von den Temperamenten. Hier finden wir auch eine sehr allgemeine Ansicht von einer Quadruplizität, die fast eben so alt ist wie die von den Elementen in der Naturlehre, das Phlegmatische, Kolerische, Melancholische, Sanguinische. Wir wollen dabei bleiben, weil die Eintheilung durchaus physiologisch ist. Freilich wird die psychische Differenz dabei zurückgeführt auf eine ganz körperliche, was aber nicht anders geht. Ungeachtet der Übereinstimmung in den Ausdrücken sind nun doch die Ansichten hierüber sehr verschieden. Einige sagen, man könne der Seele nur eine von diesen Eigenschaften zuschreiben; Andere halten eine Vermischung für möglich und neuere sagen, es müsse in jeder Seele von allen Temperamenten etwas sein. Uns | darüber hier gleich zu erklären, dazu würden uns die Data fehlen. Wenn jede Seele von allem etwas hat, so kann die Verschiedenheit der Seelen nur in dem verschiedenen Verhältniß sein; aber das Temperament ist selbst schon ein Verhältniß, und so würden wir auf Verhältnisse von Verhältnissen kommen, nicht aber zu einer bestimmten Anschauung. Die Untersuchung wird dabei eine völlig unendliche. Denn mit dem zweiten Gliede hat es völlig dieselbe Bewandniß wie mit dem ersten. Weiter aber finden wir keinen Unterscheidungsgrund, und wir wollen daher einen Versuch machen, die Betrachtung in Verbindung zu bringen mit unseren bisherigen Resultaten. Wenn die Differenz der Seelen nichts sein kann als eine verschiedene Bestimmtheit dessen was das Wesen der Seele ausmacht, so werden wir aber auf die Grundbestimmungen derselben zurückgeführt. Ginge die Bestimmung nicht auf das Wesen der Seele selbst zurück, so wäre sie etwas Hinzukommendes. Dies Andere wäre also in einem relativen Gegensatz mit dem Wesen der Seele, und daraus würde dann nur folgen, daß auf welche Art

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man auch das Wesen der Seele bestimmt hätte, man unrecht dabei zu Werke gegangen wäre. Man darf also von der Konstruktion des Wesens der Seele aus die Differenz durchaus nicht als etwas Hinzukommendes ansehn. –

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Es fragt sich nun, ob in dem Punkt, den wir als das Wesen der Seele gesetzt haben, eine Andeutung zu einer Eintheilung sei. Wir hatten als solche die aufnehmende und herausgehende Thätigkeit gesetzt; daß zwischen diesen ein absolutes Gleichgewicht nicht zu finden sei. Hier haben wir Ursach zu einer Dichotomie, aber von einer Quadruplizität will sich nichts zeigen. Wir wollen dies vergleichen | mit der gewöhnlichen Bezeichnung der Temperamente. Das Wesentliche in dem was man sanguinisch und melancholisch nennt, findet sich im Gefühl; in diesen beiden Temperamenten würde sich also eine Art von Unterordnung der Thätigkeiten nach unserer Eintheilung finden, aber noch gar nicht, wie nun beide von einander verschieden wären. Melancholisch nennen wir das Trübsinnige, Düstere in der Empfindungsweise. Dem Sanguinischen legen wir die Flüchtigkeit und Veränderlichkeit in der Empfindung bei. Das Temperament zeigt sich freilich auch im Handeln, aber nur in so fern es auf die Gemüthsstimmung bezogen wird, und wir darin den Grund dazu suchen. Es ist dabei nicht zu leugnen, daß wir bei dem Melancholischen mehr auf die Gemüthsstimmung an und für sich, bei dem Sanguinischen mehr auf den Einfluß auf das Handeln Rücksicht nehmen. Die Richtigkeit können wir nun aber erst dann bestimmen, wenn dem auch die beiden andern Abtheilungen entsprechen. Bei einem kolerischen Temperament denken wir uns eine große Reizbarkeit im Menschen namentlich in dem was die persönliche Aufrechterhaltung betrifft, und wir denken also dabei an die Art wie Einer Beleidigungen aufnimmt. Das Gegentheil bei dem Phlegmatischen. Dies scheint sich auch auf die Empfindungsweise zu beziehn. Allein die Bezeichnungen selbst scheinen doch zu einseitig. Phlegmatismus ist nicht Stumpfsinn. Wenn ich an einem Menschen eine Unerregbarkeit sehe indem er sich nicht stören läßt in einer begonnenen | Handlung, so gehört das doch gewiß auch zu dem Phlegmatischen und eben so umgekehrt zu dem Kolerischen. Das gewissere Erkennen haben wir immer, wenn wir die Temperamente in einer Thätigkeit betrachten. Der Phlegmatische läßt sich nicht stören, der Kolerische 9 Dichotomie] so Göttinger Nachschrift, Bl. 83v und Züricher Nachschrift, S. 167; Ms.: Dytomie

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wendet gleich seine ganze Kraft gegen die Störung, um nachher fortzufahren. Nicht eben so bestimmt zeigt sich die eigenthümliche Wirkung des Temperaments in der Thätigkeit bei dem Melancholischen und Sanguinischen. Wir kommen also auf ein Übergewicht, theils des Handelns über die Empfindungsweise, theils umgekehrt. Allein die zwei Unterabteilungen können wir doch immer noch nicht auf unsere Haupteintheilung beziehn. Dies werden wir also nachher noch zu suchen haben. – Vorläufig also ist uns ein einfacher Gegensatz erschienen, zu dem unsere Haupteintheilung uns Veranlassung giebt, und auf jeder Seite haben wir zwei Temperamente. Daraus würde nun wohl dieses hervorgehn: Was den Gegensatz auf der einen und der andern Seite bildet, wissen wir noch nicht, aber in jedem Falle wird in einem und dem selben Menschen jedes Paar auf ein und derselben Bestimmtheit beruhen, und es kann in dem Einzelnen nicht jedes Paar sein. Das Sanguinische und Melancholische ist eine Art der Bestimmung des Gefühls, beide aber sind sich entgegengesetzt, und folglich kann nicht zugleich ein Mensch sanguinisch und melancholisch sein. Beim Phlegmatischen und Kolerischen wird ein Untergeordnetsein der Empfindungsweise vorausgesetzt, jedes ist eine besondere Bestimmtheit der Handlungsweise, und also kann ein Mensch auch nicht | zugleich kolerisch und phlegmatisch sein. Allein die gegenüberstehenden Paare schließen sich gegenseitig nicht aus. Wenn auch das Interesse eines Menschen überwiegend auf das Handeln gerichtet ist, so kommen doch Momente vor, wo das Gefühl dominirt und umgekehrt. Wenn wir nun die Kombinationen im Einzelnen durchführen, so wird sich zeigen, daß unsere Ansicht mit dem gewöhnlichen Gebrauch der Ausdrücke zusammentrit, und zugleich ein Mittelweg zwischen den herrschenden Ansichten darüber angiebt. Sie kann weder mit einer gänzlichen Vermischung noch mit einer gänzlichen Isolirung der Temperamente sich vertragen. Die Vortrefflichkeit besteht in der möglichsten Annäherung an das Gleichgewicht; dieses absolut gesetzt, so wäre gar kein Temperament da. Es giebt einen Zustand, wo wir in dem Menschen das Temperament in einem Minimum denken, der keineswegs wünschenswerth ist, allein die größtmögliche Annäherung an das Gleichgewicht ist der größte Vorzug. Die andere Thätigkeit muß sich dem Gleichgewichte mit der dominirenden nähern. Das am meisten aufgehobene Gleichgewicht ist immer ein Zustand der Zerrüttung. Ein vollkommen sanguinischer Mensch hat eigentlich keinen Willen, er ist in einem bloßen Wechsel von Empfindungen, ist wahnsinnig. Ebenso wenn wir uns einen Menschen nur kolerisch oder phlegmatisch denken. Dies ist immer eine Zerstörung des Lebens, denn dies besteht nur in dem Ineinandersein beider Thätigkeiten. –

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Wir müssen nun zuerst sehen, worauf der untergeordnete Gegensatz derjenigen Temperamente | die zu einer Klasse gehören, beruhe. Wenn wir z. B. das Phlegmatische und Kolerische vergleichen, welche wir auf die Herausgehende Thätigkeit bezogen haben, so fragt [sich] wie in Beziehung auf das Gesetz der Sukzession der Übergang denn sei. Da ist offenbar, daß das Phlegmatische mehr eine Ungestörtheit andeutet, das Kolerische eine Leichtigkeit der Störung. Von den Extremen müssen wir hierbei immer absehn, denn in diesen liegt eigentlich nicht der wahre Karakter. Oft sieht man eine gänzliche Unbeweglichkeit als Karakter des phlegmatischen Temperaments an, welches falsch ist, denn das Leben nähert sich dabei seiner Auflösung. Man sagt ferner, das phlegmatische Temperament bestehe darin, daß da nicht so viele Impulse von dem Menschen selbst ausgehn; er zeichnet sich nicht selbst seinen bestimmten Kreis von Thätigkeiten, sondern erwartet die Auffoderung von Anderen. Allein, wenn wir danach das Wesen eines Menschen karakterisiren, so ist eine bestimmte Idee, Pflicht, Vortheil pp. allemal der innere Anlaß; wir haben also eine geringere Leichtigkeit, die sich aber nur auf das Einzelne bezieht. Die Negation von Beweglichkeit bezieht sich nur auf das Einzelne. Die Unverhältnißmäßigkeit zwischen Reaktion und Impuls ist im Gegentheil bei dem Kolerischen auch nur das Extrem, und so bleibt uns denn für die Mitte nichts übrig, als eine größere und geringere Beweglichkeit zum Handeln bei den beiden Temperamenten anzunehmen. Eben so sehen wir den sanguinischen Menschen als immer nach neuen Eindrücken verlangend an; daraus entsteht dann die Zerstreuung, welches auch nichts ist als das Extrem. Mildern wir es, so sehen wir die Übereinstimmung mit dem Koleriker, die Leichtigkeit des Überganges, aber nicht in Beziehung auf das Handeln sondern auf das Empfinden. Das Extrem des Melancholischen ist das Brüten über ein und demselben Gegenstande. | Auch hier ist die Abneigung von dem Einen zum Andern gebracht zu werden, das Beharren auf ein und derselben Stimmung. Das Wesentliche aber besteht nur in einem relativ dominirenden Übergewicht von Gemüthsstimmungen gegen Eindrücke des entgegengesetzten Karakters. – Die Differenz hat nun eigentlich ihre Wurzel in dem Verhältniß des persönlichen Bewußtseins zu dem erweiterten. So scheint es, bekommen wir eine moralische Differenz der Temperamente, welches aber nicht gegründet ist, weil nicht jede Erweiterung des Bewußtseins auf dem Wege liegt, auf dem man zum Bewußtsein der Natur überhaupt gelangt. Wir müssen unterscheiden eine wahrhaft sittliche und eine egoistische Vaterlands5 Sukzession] Sukzession wie

14 nicht] )nicht*

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liebe. Aber allerdings giebt es doch einen Unterschied, der aber nicht auf dem größeren oder geringern Werth der Temperamente selbst beruht. Diese sind an und für sich gleichgültig und die Extreme gleich schlecht. Jedes ist nur eine andere Art und Weise der menschlichen Natur, bestimmt zu sein in den einzelnen Erscheinungen des Lebens. Diese Arten des Bestimmtseins bilden nun einen gewissen Cyclus. Eine größere Annäherung an das Gleichgewicht ist nur da, wo die auf einer Seite liegenden Temperamente nur nicht auf gleiche Weise bestimmt sind. Wir haben hier in dieser Theorie der Temperamente einen Übergang zu der persönlichen Eigenthümlichkeit. Es ist aber hierbei noch eine Schwierigkeit. Die gewöhnlichen Namen der Temperamente sind durchaus physiologisch, unsere Erklärungen aber durchaus nicht, sondern rein psychisch. Wir haben aber schon gesagt, daß beides nicht realiter | getrennt werden dürfe. Jedes Temperament muß auch physische Wirkungen haben, was wir aber nur voraussetzen, nicht aber weiter ausführen können. Die Frage aber, die noch hieher gehört, ist die, ob das physiologische den Anfang oder das Ende bildet; ob das Temperament bestimmt ist [durch] die körperliche Anlage oder umgekehrt. Das physische ist nicht die Basis des Gesammttemperaments, worauf das Psychische erst folgte, und umgekehrt; jede einzelne der beiden Annahmen für sich ist einseitig; beide sind wesentlich in einander.

[56. Stunde] Man erklärt die Verschiedenheit der vier Temperamente auch aus der verschiedenen Auffassung und verschiedenen Rückwirkung. Danach aber läßt sich durchaus keine Verbindung der Temperamente denken. 22–23 Vgl. Carus (1808), Bd. 2, S. 98–99 22–24 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 85r: „Carus trägt seine ganze Psychologie nach der Differenz zwischen Sinn und Trieb vor. Die beiden Classen der Temperamente bezieht er alleine auf den Sinn. Bei dieser Unterscheidung scheint dagegen zu sprechen, daß man den Sinn vom Trieb scheidet. Denn die Einwirkung auf einen Sinn muß sich durchaus auch auf einen Trieb beziehen. Die Differenz der Temperamente bezieht sich also auch auf den Sinn und den Trieb. Carus scheint Auffassung für ganz gesondert vom Triebe zu denken. Es giebt aber keine Auffassung ohne Rückwirkung. Er sagt es kann die Auffassung groß sein, und die Rückwirkung schwach, und umgekehrt, und aus der Möglichkeit dieser Trennung kommt eine Quadruplicität heraus, und hierdurch sollen die vier Temperamente erklärt werden. Stärkere Auffassung mit stärkerer Rückwirkung gilt ihm für das cholerische Temperament. Er scheint hier auch mehr das Extrem zu berücksichtigen. Schwache Auffassung mit schwacher Rückwirkung ist das phlegmatische Temperament, schwache Auffassung mit särkerer Rückwirkung das melancholische und starke Auffassung mit schwacher Rückwirkung das sanguinische. Hiernach wäre es nicht möglich, daß zwei Temperamente in einem Menschen vereint wären.“

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Auch ist dadurch eine große Verschiedenheit in der Dignität gesetzt; das Kolerische, starke Auffassung und starke Rückwirkung, das würde das vortrefflichste sein, das Phlegmatische, schwache Auffassung und schwache Rückwirkung würde das niedrigste sein, die beiden anderen stünden in der Mitte. Diese Theorie stimmt nämlich nicht mit der Erfahrung überein, und dann auch nicht mit dem Begriff des Temperaments, weil sie ein Schlechteres und Besseres unmittelbar in sich setzt. Es giebt dann Verschiedenheiten in der Natur, welche den Einen auf die Stufe der Vortrefflichkeit setzen, den Anderen zurückhalten. Das allgemeine Gefühl aber ist immer dies, daß die Temperamente Bestimmtheiten der Natur sind, und daß die Verbesserungsfähigkeit von dem Temperamente an und für sich nicht abhängt von dem Temperamente. Sind aber das Auffassungs- und | Rückwirkungsvermögen auf solche Weise bestimmt, so ist das dadurch aufgehoben. Die Scheidung zwischen Sinn und Trieb, welche sich auch gar nicht so machen läßt, hilft hierbei nichts. Das Sanguinische und Melancholische stellt nach der Theorie eine festbestimmte Mittelmäßigkeit dar. – Eine andere Theorie ist die des Herrn Prof. Steffens, über die Geburt der Psyche, ihrer Krankheit und Heilung. Steffens geht auch wie wir davon aus, daß Psychologie und Physiologie sich gar nicht von einander scheiden lassen. Er quadruplizirt die Temperamente nach der Quadruplizität der Elemente. Das Sanguinische zum Melancholischen verhält sich wie die Animalität zur Vegetation. Letzteres wird dann mit der Erde parallelisirt, indem diese als ein Verschlossenes angesehn wird. Das Phlegmatische zum Kolerischen soll sich verhalten wie die Indifferenz zur Kombination. Dabei kommt durchaus auch eine differente Dignität heraus; das Phlegmatische kommt wieder zu kurz. Ob man aber dem Sanguinischen oder dem Kolerischen den Vorzug einräumen soll, weiß man nicht. Jenes stellt die reine Animalität dar, dies das Ineinandergebildetsein beider. Beiden untergeordnet ist das Melancholische. Kolerisches und Phlegmatisches werden entgegengesetzt als Thätigkeit und Leiden, das Sanguinische und Melancholische als Genuß und Sehnsucht. Hier zeigt sich eine Analogie 16–18 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 174: „Auf jeden Fall ist nach Carus die Verbesserung in einem Temperament geringer als im andern; die Kraft ist in bestimmte Gränzen geschlossen: die Cholerischen sind die geborenen Vortrefflichen[;] die andern müssen auf einer untergeordneten Stufe stehn bleiben. Besonders der Phlegmatiker ist gar keiner Verbesserung fähig. Denn die Verbesserung des Menschen kann unmöglich auf dem Triebe allein beruhen. Die Dignität des Menschen können wir aber doch nicht vom Temperament abhängig machen.“ 18–19 Vgl. Steffens (1816) 19–22 Vgl. Steffens (1816): „Hierbey werden wir die innige Einheit der Natur und der Seele niemlas aus den Augen verlieren, vielmehr diese festhaltund uns zu zeigen bemühen, daß es in der That keine Physiologie ohne Psychologie, eben so wenig diese ohne jene gibt.“ (S. 278). Zur Einteilung der Temperamente, siehe ebd., S. 289–310.

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mit unserer Ansicht, die aber freilich sehr einseitig ist. Der wesentliche Unterschied liegt in dem Abschließen und Beharren, bei dem Sanguinischen und dem Melancholischen. Dies bezieht sich mehr auf das in sich Hineingehn, wie die Thätigkeit und Leiden beim Kolerischen und Phlegmatischen | mehr auf das aus sich Herausgehn. Wenn nun im Einzelnen die Theorie auch sehr anspricht, so kommt dabei doch das Prinzip nicht zur Anschauung, in dem Vergleiche mit den Elementen. Das Phlegmatische kommt auf unerwartete Weise wieder etwas zu Ehren indem die Temperamente paarweis einander gegenübergestellt werden wie Schauspiel und Trauerspiel des Lebens. – Die Theorie von Steffens hält sich mehr an die Naturseite, die andere, welche die von Carus war, mehr an das rein Psychische. Beides sind in dieser Hinsicht Extreme. Nach Steffens soll das Sanguinische das vollkommene Thier das Melancholische die Pflanze bedeuten; in der Mitte für die beiden Anderen bleiben dann die unvollkommneren Thiere, Graphiten pp[.], allein da sind wir nicht gelehrt genug, um uns recht herausfinden zu können. –

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Es fragt sich nun, ob jeder Einzelne auf dem bestimmten [Punkte] der Linie, wo die Natur ihn hingestellt habe feststehe, oder ob eine Annäherung vom Extrem zum Gleichgewichte oder umgekehrt statt finde; ob die Veränderung ein Werk des Willens sei, oder von selbst erfolge; ja endlich, ob nicht überhaupt in dem menschlichen Leben ein Wechsel der Funktionen ein Uebergang von dem einen Temperament in das andere statt finde. Wir finden, was die letzte Frage betrifft, offenbar eine Differenz der Temperamente die von dem verschiedenen Lebensalter abhängig ist. In dem Kinde kann sich weder ein solches Phlegma noch ein solches Kolerisches zeigen, und ebenso nimmt das Sanguinische ab mit dem höheren Alter. Man hat sich da eine solche Skala entworfen; | das hohe Alter soll den phlegmatischen, das reife mehr den kolerischen Karakter haben. In Rücksicht der beiden Anderen sind die Ansichten verschieden. Man muß wohl der Kindheit das Sanguinische beilegen, der Jugend bei der Entwickelung aller Funktionen, und der doch noch daneben bestehenden Unbestimmtheit den Karakter des Melancholischen beilegen. Diese ganze Bemerkung hat aber doch nur eine sehr relative Wahrheit nämlich 27 ein solches Kolerisches] eine solches Kolera sich 10–12 Vgl. Steffens (1816), Carus (1808)

13–17 Vgl. Steffens (1816), S. 292–293

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wenn man sich die ganze Masse einer Generation vor Augen stellt; allein in jedem Einzelnen werden wir doch immer dasselbe Temperament in allen Perioden wiederfinden. Die Sache ist die: Wir haben gesehn, daß in jedem Menschen zwei Temperamente dominiren; diese können nicht so umgebeugt werden, daß das Entgegengesetzte herauskommt, nur daß die ganze Lage des Menschen in gewissen Perioden eine Umbeugung zu einem Temperamente bewirkt, das eigentlich nicht das seinige ist. Um einer solchen Umbeugung nachgeben zu können muß freilich das Haupttemperament von dem Extreme sich entfernen. Außer den Bezeichnungen des Temperamentes giebt es noch andere Ausdrücke in der Sprache, die damit in Beziehung stehn, und deshalb zuerst genauer zu betrachten sind. Es sind dies besonders die Ausdrücke Karakter und Gemüth. In beiden ist etwas, was sich auf das Verhältniß des Willens zur Natur bezieht; allein die Sprachgabe ist hierbei noch sehr unbestimmt. Karakter hat eine zwiefache Bedeutung. 1) als vox media, guter und schlechter Karakter, 2) nur im guten Sinne, im Gegensatze der Karakterlosigkeit. Ferner setzt man Karakter | dem Temperament auf verschiedene Weise entgegen. Man sagt, es habe jemand um so mehr Karakter, je weniger er von dem Temperamente beherrscht wird. Dies ist aber eigentlich eine Identifikation beider, der hat den meisten Karakter, der dem Gleichgewicht der Temperamente sich am meisten nähert. Das Temperament zeigte sich besonders in der Sukzession der Thätigkeiten; Karakter schreiben wir dem Menschen zu, in welchem wir eine gewisse Konstanz der Regel bemerken, nach welcher er den einzelnen auf ihn wirkenden Motiven ihre Stelle anweist. Dabei braucht man sich der Regel gar nicht als solcher bewußt zu sein. Dies ist besonders gegen Kants Behauptung, der nur einen Karakter annimmt, und unter der Regel eigentlich dann sittliche Maximen versteht. Für einen Menschen, der einmal auf dieser Stufe steht, daß er bestimmte Maximen hat, für den giebt es Karakter. Allein es kommt nur auf die Kostanz der Regel an, nicht auf das sich derselben Bewußtsein. Wer den Glauben hat, für den giebt es kein Gesetz. Gerade die Menschen, welche oft Maximen aussprechen, han1 stellt] stellen

26 anweist] anzuweisen

18–20 Vgl. Kant (1798), S. 266–267; Ak 7,291–292 27–29 Vgl. Kant (1798), S. 266; Ak 7,292 30 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 177: „Kant besonders will den Charakter nur sensu bono nehmen und nur Einen Charakter anerkennen, nach Maximen zu handeln: weil aber nur die sittlichen eigene Maximen haben, so ist bey ihm Charakter eigentlich = Sittlichkeit. Allein man kann doch sittlich handeln ohne Maximen und Maximen, die nicht sittlich sind. Kant hat nähmlich die Meinung: jeder habe einen Kreis, wo er dem Sittlichen folge, handelt er wieder anders so werden die Maximen durchlöchert und dieß will Kant nicht als Maxime anerkennen.“

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deln oft am wenigsten danach, weil sie diese nur von außen angenommen haben. Die Manifestation des Karakters beruht also auf gewissen Einwirkungen. Wenn diese einen gewissen Zwiespalt in ihm erzeugen, und wir darin ihn beobachten können, dann erst können wir über seinen Karakter urtheilen. Die natürliche Erklärung scheint also die zu sein: Der Karakter ist der Grund von Konstanz in der Selbstbestimmung des Menschen überall wo | ihm eine solche Mannigfaltigkeit vorgelegt wird. Daraus geht hervor, daß Karakter und Wille genau zusammenhängen. Je größer die Konstanz, desto stärker sein Karakter und umgekehrt. Was das Gute aber und das Böse des Karakters betrifft, das haben wir an einem andern Orte zu suchen, in dem Verhältniß des persönlichen zu dem erweiterten Bewußtsein. Wir nennen einen guten Karakter, in welchem das erweiterte Bewußtsein in der Selbstbestimmung immer seine Rechte behauptet und umgekehrt. Nach den Temperamenten findet nun kein Unterschied des Karakters statt, in Beziehung auf guten und schlechten Karakter. Sehen wir aber auf Stärke und Schwäche, so ist allerdings eine Verschiedenheit da. Das Sanguinische läßt am wenigsten Stärke des Karakters zu; da ist immer eine Annäherung an Karakterlosigkeit. Dasselbe mögte man von dem Melancholischen sagen. Dem Ausdrucke Karakter entspricht als eine Art von Gegenstück der Ausdruck Gemüth, indem es dabei auf etwas Entgegengesetztes anzukommen scheint. Was meinen wir damit, wenn wir einem Menschen viel oder wenig Gemüth zuschreiben mit Beziehung auf den Karakter? Letztere ist das Maaß, in welchem der Mensch sich immer als denselben setzt, wie er immer eine reine Erscheinung darstellt. Gemüth geht auf das Entgegengesetzte. Man versteht darunter das sich Hingebenkönnen, das sich Identifiziren mit Anderen, das Aufopfern der Persönlichkeit. Beides aber kann recht gut | mit einander bestehn; denn beim Karakter kommt es an auf das Handeln; bei dem Gemüthe aber auf das Empfinden. Das vollkommenste sich Hingeben in Beziehung auf die Empfindung kann verbunden sein mit der größten Bestimmtheit in Beziehung auf das Handeln. –

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Sowohl Karakter als Gemüth erscheinen als etwas Ursprüngliches und wenn die Zeit einmal gekommen ist, wo sich beides entwickelt, so ist der scheinbare Einfluß außerordentlicher Begebenheiten nichts Anderes als wir schon beim Temperament gesehn haben. Wir können nicht

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umhin, hier den Gegensatz der Geschlechter zu berücksichtigen, wodurch der Umfang des Ganzen näher bestimmt wird. Einige behaupten nun in psychischer Hinsicht zwischen den Geschlechtern eine völlige Identität, Andere eine absolute Verschiedenheit. Die leibliche Verschiedenheit ist etwas so Durchgehendes, daß wir dabei durchaus etwas analogisch Psychisches annehmen müssen. Allein es fragt sich, ob man damit auch eine Unterordnung anzunehmen habe. Wir müssen dabei zuerst fragen, ob denn schon eine Differenz der verschiedenen Seelenthätigkeiten sei, deren Verhältniß zu einander das Temperament bestimmt. Das ganze System der Begriffsbildung liegend in dem Aufsteigen des Bewußtseins vom Einzelnen zum Allgemeinen trit bei dem weiblichen Geschlechte bedeutend zurück. Es ist ausgemacht, daß in der Ausbildung der Wissenschaften das weibliche Geschlecht immer zurückgeblieben ist. Ganz unhaltbar ist es, dies auf die Differenz der Erziehung zu schieben, sondern vielmehr umgekehrt. Eine produktive Thätigkeit ist nirgend von einer Frau ausgegangen, selbst von der sogenannten gelehrten nicht; es ist immer nur Aneignung des Vorgefundenen. | Eine Verschiedenheit in der Dignität bestimmt dies aber noch nicht, denn es findet sich dagegen bei den Frauen die Richtung auf das Religiöse in einer weit höheren Intensität; was nicht etwa bestimmt wird durch die vielen Geschäfte pp. Es fällt dies zwar nicht so in die Augen, weil es mehr innerlich ist als das Wissenschaftliche welches einen weit größeren Apparat bedarf und hervorbringt. Wenn wir hier nun gleich bei den zwei höchsten Punkten des objectiven und subjectiven Bewußtseins angefangen haben, so können wir davon auf das Niedere schließen. Die Differenz liegt in dem überwiegenden hervortreten des subjectiven Bewußtseins in der weiblichen Seele. Alle Thätigkeiten in derselben sind mehr durch das Gefühl bestimmt so daß sie nur durch dieses recht erkannt und verstanden werden können. Das Gefühl oder subjective Bewußtsein ist nie ganz getrennt von der Darstellung. Dominirt denn diese auch bei den Frauen? Das Höchste ist da die Kunst, und wir finden dabei doch immer nicht dasselbe Hervortreten wie bei der Wissenschaft. Es findet sich zwar da viel Liebhaberei und Talent, allein die Produktivität trit zurück, und kommt nie der Genialität der Männer gleich. So in der Musik, so in der Dichtkunst, wo bei den Frauen immer nur mehr die Nachahmung vorherrscht. Wir finden aber, daß bei derselben Intension des Gefühls, diese bei dem Einen mehr zurück, bei dem Andern mehr 20–21 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 179: „Ebenso einseitig wäre es, zu läugnen, daß sie auch innere Sammlung und religiöse Erregbarkeit haben: man kann hier das Zurückbleiben der Männer auch nicht bloß den Geschäften zuschreiben. Ja sogar sind die geistigen Geschäfte der Männer dem religiösen Gefühl eigentlich verwandter als das mechanische weibliche.“

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hervortrit. Ferner ist zwar die Kunst das Höchste in der Darstellung aber nicht das Unmittelbarste. Dieses ist das Mimische und Musikalische. | Letzteres aber nicht das musikalische Kunstwerk, welches schon wieder einen Durchgang durch den Begriff verlangt, sondern die unmittelbare Darstellung. Das Zurückbleiben in der Kunst bei den Frauen liegt größtentheils in dem Antheil derselben an dem Objectiven. Das aber ist nicht zu leugnen, daß die weibliche Mimik etwas viel stärker Herausgebildetes ist als die männliche. Das Kunstgebiet, welches sich am nächsten an die unmittelbare Produktion anschließt, ist die Verschönerung in dem äußeren Leben. Hierher gehört nun auch die den Frauen zugeschriebene Menschenkenntniß, welche nichts Anderes als das Verstehn des freisten und zartesten Ausdrucks des Innern ist. Wenn es aber darauf ankommt, die Festigkeit des Karakters den Umfang der Ideen abzuschätzen, so ist dies nicht mehr die glänzende Seite der weiblichen Menschenkenntniß. Es ist nun auch nicht zu leugnen, daß, obgleich die Frauen von den gemeinsamen Angelegenheiten ausgeschlossen sind, man doch besonders zu gewissen Zeiten den größten Einfluß darauf findet. Aber wenn wir den weiblichen Patriotismus auch in den stärksten Äußerungen betrachten und vergleichen die Formen dessen, so finden wir da auch das Hervortreten des Gefühls und Zurücktreten des Begriffs. Die Weiber sind der größten Nationalantipathie fähig, allein es beruht diese immer nur auf dem unmittelbaren Gefühl, nicht auf dem Begriff. Ein sehr auffallendes Beispiel davon ist, daß es den Frauen fast an allem Verständnisse des Rechtes fehlt. Sie schieben dies immer zurück, es hat bei | ihnen einen ganz geringen Werth, eben weil es rein durch den Begriff bestimmt wird. Statt dessen waltet bei ihnen die Billigkeit vor, die auf dieser Seite die Stelle des Gefühls vertrit. Daher würde es dann nur gut sein, die Frauen mehr zu der Theilnahme an den bürgerlichen Geschäften zuzulassen, wenn man wollte, daß das Leidenschaftliche mehr darin vorwalten sollte. – Wir können dies nun anwenden auf Temperament, Karakter und Gemüth. Es ist nun klar daß die aus sich herausgehenden Thätigkeiten bei dem weiblichen Geschlechte zurücktreten werden, weil da alles durch den Begriff hindurchgehn muß, (Naturbild, Kunst)[.] Die Frauen haben eine große Fähigkeit des Vorstellungsvermögens; ihre Bilder sind immer schärfer und fester, weil sie mehr ganz dabei bleiben. Diejenigen Temperamente im weiblichen Geschlechte werden daher dominiren, wo [wir] eine überwiegende Rezeptivität finden. Ein 30–31 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 181: „Allein im öffentlichen Leben soll die durch den Begriff geordnete Besonnenheit herrschen: es wäre frevelnde Willkühr gegen die Einrichtung der Natur hier etwas zu ändern.“

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außerordentlich phlegmatischer oder außerordentlich kolerischer Mann sind uns nicht so zuwider wie eine außerordentlich phlegmatische oder kolerische Frau und ebenso umgekehrt in Rücksicht des Sanguinischen und Melancholischen, wo sich also in dem allgemeinen Gefühle eben jener aufgestellte Grundsatz ausspricht. –

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Die Gemüthlosigkeit ist bei den Frauen etwas viel mehr Widriges als Mangel an Karakterstärke; umgekehrt ist es bei dem Manne. Ihm kann die größere Gemüthlichkeit die Stärke des Karakters nicht ersetzen. Es ist hier durchaus keine Ungleichheit in die Dignität der Geschlechter gesetzt, denn | es wird ganz dasselbe von den Frauen erreicht hier so wie in der Begriffsbildung, wenn man den Zweck derselben, die Weltbildung im Auge behält. – Wenn wir einmal annehmen, die Verhältnisse in der bürgerlichen Welt würden umgekehrt, die Frauen an die Spitze gestellt, würde da die rein moralische Idee die Stärke des Karakters in dem Maaß erfolgen, als es zur Erfüllung ihres Berufs nothwendig ist? Keiner wird hier der Kraft der moralischen Idee Gränzen setzen wollen. Den Mann können wir uns in dem Kreise des Weibes eigentlich gar nicht denken. Es giebt etwas im Menschen, wodurch seine natürliche Bestimmtheit modifizirt werden kann, und dies ist nichts Anderes als die Kraft der moralischen Idee. Keiner mögte behaupten, daß die Gränzen, welche die Natur gesteckt zu haben scheint, aufhören mögten, und es scheint uns daher ein großes Mißverständniß zu sein von den Bewegungen, welche entstanden sind durch die Meinung, daß die Lage der Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft eine ganz andere werden müsse. Auf niederen Kulturstufen finden wir die Dignität der Frauen sehr zurückgedrängt. Erst durch das Hervortreten des religiösen Prinzips, mit dem Christenthum, ist die Gleichheit in der Dignität erst ins Leben gekommen. Wollte man nun aber weiter gehen, so würde das Eigenthümliche in dem weiblichen Karakter wie in dem männlichen zurückgedrängt werden. Alles kann etwas weit Schöneres hervorbringen, wenn es in seiner natürlichen Gränze bleibt. – Wenn wir also das Verhältniß des Karakters 9–12 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 89r: „Der Mann ist weit mehr an seine Persönlichkeit in Rücksicht seiner Bestimmung gewiesen, dagegen sie beim weiblichen Geschlecht gar nicht einmal Gelegenheit hat sich zu entwickeln. Einen Character hat die Frau auch nie nöthig, da wenn sie ihn einmal bedürfte sie ihn durch die Seite des Gemüths, die sich im Gemeinsamen ausbildet, die Sitte ergänzt. So sehen wir hier eine durchgängige Theilung in den Gegenständen, womit wir es zu thun haben, aber in der Auflösung derselben auch eine völlige Gleichheit.“

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zum Gemüth als etwas von der Natur Bestimmtes ansehn, so ist dies in gewisser Hinsicht | nur ein Schein. Jedes Temperament ist an sich in der Dignität gleich. Etwas Vollkommenes aber ist die Annäherung an das Gleichgewicht. Einen gewissen Zyklus von Temperamentsverschiedenheiten durchgeht ein jeder; und es fragt sich, ob in dem Menschen eine gewisse Möglichkeit sei, sich aus dem Orte in den ihn Natur gesetzt hat, in einen anderen hinüber zu bewegen, wo er sich besser befindet. Das Fundament zur Lösung der Frage finden wir in dem, was wir von der Differenz der Geschlechter gesagt haben. Es liegt nämlich in der moralischen Idee eine Kraft, die Bestimmtheit der Natur mehr nach dem Gleichgewicht zu zu modifiziren. Allein das ist noch nicht eine Kraft, die Naturbestimmtheit zu ändern. Der Wille kann nicht ganz hinausgehn über das Temperament wenn er allein wirkt; es kommt immer noch etwas hinzu, das ist die Pflicht, welche dem Einzelnen durch die Gesellschaft aufgelegt wird. Daher ist es fast nur ein Schein, wenn ein Mensch mit seiner ursprünglichen Naturbestimmung unzufrieden ist. Keiner kann aus seiner eigenen Haut heraus wollen; lieber der und jener sein als er selbst. Der Mensch kann an und für sich durch die reine Naturbestimmung nicht zum Bewußtsein seiner Unvollkommenheit kommen, sondern erst durch die Lage, die er in dem bürgerlichen Verhältnisse hat. Wenn die Repräsentation des Gesammtlebens oder die moralische Idee von ihm stark genug ist, so wird er von selbst von dem Extrem mehr und mehr zurückkommen. Geschieht dies auf eine andere Weise, so ist es eigentlich niemals Resultat des Menschen selbst; und es ist eigentlich doch nur ein Schein, wenn wir | in den verschiedenen Spannungsverhältnissen des Temperaments eine verschiedene Dignität annehmen; die ungleiche Dignität entsteht erst durch die ungleiche Spannung der moralischen Kraft. Diese beruht auf der Erweiterung des Selbstbewußtseins, und ist daher eigentlich eine Gesammtthat. In einer geordneten Gesellschaft werden die Extreme immer mehr gegen die Mitte hinbewegt, und zeigen nicht so ihre Zerstörung. –

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Wir müssen nun aber auch zugeben, daß in der religiösen Kraft ebenso eine Reaktion von den Extremen auf das Gleichgewicht liegt. Es kann dies aber nicht wie ein Mittel angewendet werden, sondern muß in dem Menschen schon gesetzt sein, und kann daher auch als Gesammtthat angesehn werden. Dasjenige also, wodurch die Temperamentsspannung des Einzelnen aufgehoben werden kann, ist in dem

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Gesammtleben begründet. Die Differenz zum Extreme oder zum Gleichgewichte sich zu neigen, ist aber keineswegs die einzige Differenz von Trefflichkeit. Wir müssen uns aber beim weitern Fortschreiten ein allgemeines Schema suchen. Jeder einzelne Moment, jedes einzelne Leben ist Resultat der Selbstthätigkeit und der äußeren Einwirkung. Das Letztere fällt für uns in das Gebiet des Zufälligen, und in dieser Beziehung ist der Einzelne zugleich ein Resultat der unter den Menschen bestehenden Institutionen. Die Zufälligkeit hätte ihren Sitz also in dem äußeren Faktor. Wie aber ist es mit dem inneren? Wie sollen wir uns die angeborenen Verschiedenheiten erklären? Die Eigenthümlichkeiten der Generationen sind noch ganz etwas | Räthselhaftes für uns. Außer dem Mehr und Weniger lassen sich doch nun noch verschiedene Abstufungen der Karaktere nachweisen. Der Mensch ist in der Entwickelung begriffen. Die Entwickelung ist gegründet in der eigenen Kraft und der des gemeinsamen Lebens. Es giebt nun aber einzelne Menschen, welche das Prinzip neuer Entwikkelung in der Gesammtheit sind, Andere, denen nur die Bewegungen des Ganzen mitgetheilt werden, die denselben nur nachgeben. Darin haben wir einen relativen Gegensatz. Ferner haben wir solche Menschen welche gleichsam als unbelebungsfähige erscheinen. So entsteht hier eine vierfache Abstufung, Die zuerst 1) Wirkenden, 2) die Vermittler des ersten Impulses, 3) die durch denselben mit Fortgerissenen 4) diejenigen in welchen der Belebungsmoment als ein Minimum erscheint. Ist diese Differenz in jeder Hinsicht hindurchgehend, oder kann in einer Rücksicht der Eine ein solcher in der anderen ein Anderer sein? Offenbar ist das Letztere der Fall. Wir dürfen zum Beweise nur verschiedene Gebiete mit einander vergleichen. Die welche einen großen Einfluß auf die Gebiete der Wissenschaft oder Kunst gehabt haben erscheinen in dem Gebiete des gemeinsamen Lebens oder der Naturbeherrschung nur als folgend, und umgekehrt. Wir müssen also hier auf die verschiedenen Funktionen zurückgehn und hier besonders unterscheiden die ideale und die reale Richtung, welche in dieser Hinsicht die größten Differenzen zulassen. Dies hat schon die Sprache bezeichnet durch das Heroische und | Geniale, welche erst im Deutschen wenigstens zu dieser Bedeutung gestempelt sind. Das Geniale bezeichnet den Gegensatz auf der idealen, das Heroische den auf der realen Seite. Die welchen wir das Heroische beilegen haben entweder dem bürgerlichen Wesen einen besonderen Schwung gegeben, oder dasselbe auf dem religiösen Gebiete geleistet. Das Letztere bezieht sich hier nicht auf die Stärke der Empfindung sondern auf den Einfluß auf das Gemeinwesen. Das Geniale beziehn wir dagegen auf das Gebiet 37 realen] idealen

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der Wissenschaft und Kunst. In der letzteren ist freilich auch die Gestaltung nur das Hervortretende, allein den Ausdruck Genie beziehen wir nicht auf die äußere Ausführung, sondern auf die innere Erfindung. – Es reiht sich hieran noch eine andere Betrachtung. Je mehr überall der Effekt den ein Mensch hervorbringt in den Organen liegt, die er gebraucht, desto weniger legen wir ihm den Karakter des Genies bei in Wissenschaft und Kunst; je weniger Einer durch die eigene That im Bürgerlichen wirkt, desto weniger schreiben wir ihm das Heroische zu. Die unmittelbare organisirende Kraft ist, dem das Heroische zukommt; es muß zuerst seine Organe sich schaffen, wodurch es die Wirkung hervorbringt. Eben so mit dem Genialischen, wo der höhere Karakter nur darin liegt, wo der höhere Einfluß nicht in dem Äußeren, sondern in der Erfindung ruht. Das Heroische und Genialische bedürfen immer einer großen untergeordneten Masse. Das Verhältniß jener zu dieser ist durchaus nicht zu allen Zeiten gleich, welches auch | durchaus nicht wünschenswerth ist. Wo große geschichtliche Umbildungen in dem Bürgerlichen hervorgegangen sind, da finden wir immer ein starkes Hervortreten Einzelner und ein breites Unterliegen von Masse. Dasselbe gilt auch in dem Religiösen, wie denn auch auf der andern Seite in der Kunst und Wissenschaft. Die Existenz eines Heros eines Genies würde aber vergeblich sein ohne die Neigung zum Aufnehmen in der Masse. Da wir keine Unendlichkeit der menschlichen Natur vorauszusetzen Ursach haben, so müssen wir auch sagen, daß der große Abstand zwischen den Heroen und Genien mit der Zeit immer abnimmt, und daß folglich das starke Hervortreten Einzelner mit der Zeit überhaupt immer seltener wird. –

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Jede der beiden höchsten Stufen kann mit dem Allerniedrigsten auf der andern Seite verbunden sein. Das Nebeneinandersein der höchsten Produktivität auf der einen, der höchsten Stumpfsinnigkeit auf der andern Seite bezeichnet so sehr die Schranken der menschlichen Seele, daß man fragen mögte, ob nicht ein gewisser Mittelweg weit wünschenswerther sei. Die höchsten und die niedrigsten Stufen scheinen von dem männlichen Geschlechte eingenommen zu werden, die harmonische, mehr nach allen Seiten sich ausdehnende Ausbildung von dem weiblichen. Es ist aber nun auch nicht die äußere Lage der Frauen allein daran Schuld, daß sie in der Produktivität nicht so hervortreten. Es ist dies nicht ebenso in der Wissenschaft wie in der Kunst, weil letztere der Subjectivität näher liegt. –|

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Es ist nun aber etwas ganz Überflüssiges ja Unthunliches zu entscheiden, ob die mehr harmonische Ausbildung oder die mehr einseitige aber mit weit größerer produktiver Kraft begabte vorzuziehn sei. Für die menschliche Natur ist beides gleich nothwendig, was den Einzelnen aber betrifft, so kann dieser sich nicht genug aus sich selbst heraussetzen, um nur im Anderen sein zu wollen. Die geschichtliche Entwickelung im Großen betrachtet, beginnt immer mit einem Zusammensein der Extreme, welche sich nach und nach mehr und mehr ausgleichen. – Wenn wir aber die Differenz noch etwas näher betrachten, so bemerken wir dies, wie beides nicht beisammen zu sein pflegt, das Genialische und Heroische, auch die Verzweigungen nach derselben Analogie sich richten. Der ursprüngliche Heroismus kann zugleich politisch und religiös gewesen sein, allein so wie nur die Völker sich mehr in der Kultur haben, trennt sich beides von selbst. Wer sich heroisch zeigt auf dem einen Gebiet, ist es nicht auf dem anderen. Ebenso auf dem genialischen Gebiete. Auf einer gewissen Stufe der Ausbildung wird das Wissenschaftliche und die Kunst schwerlich noch vereinigt sein; in den ersten Anfängen läßt sich das wohl denken, wenngleich die Geschichte so weit nicht reicht. Man kann in einer gewissen Beziehung wohl sagen, daß Homer die ganze Wissenschaft seiner Zeit in sein Gedicht mit aufgenommen habe. In der höchsten Vollendung freilich wird die Kunst wieder zur Wissenschaft und umgekehrt, allein doch immer so daß man gleich unterscheidet, welches das Andere aufgenommen hat. Wir sondern nun noch weiter, | und sagen z. B. Einer sei ein musikalisches Genie ohne daß er in den bildenden Künsten ausgezeichnet ist. Allein das Poëtische erlassen wir schon nicht ganz dem musikalischen Genie, wie dem mahlerischen nicht ganz den Sinn für Sculptur und beides umgekehrt; trennen wir aber nun noch weiter, so geht uns da der Begriff des Genies verloren, wir sagen nicht, der sei ein Genie auf der Flöte pp. In der Wissenschaft läßt sich bei einer zu großen Trennung kein organisirender Einfluß denken, und sehr bedeutend ist da die Differenz zwischen Talent und Genie. Auf diese Weise scheinen die verschiedenen Stufen von einer andern Seite betrachtet wieder in einander überzugehn, allein es ist dies auch mehr nur ein Schein. Das ausgezeichnete Talent, mögen wir es auch noch so sehr gesteigert denken, wird niemals zum Genie. Beim musikalischen Genie denken wir an keine bestimmte Virtuosität und umgekehrt; jenes hat den ganzen Geist erfaßt in seiner nothwendigen Äußerungsweise; die Virtuosität aber ist immer mehr etwas Einzelnes, Zufälliges. Eben so auf dem Gebiete der Wissenschaft. In der bestimmten Beschäftigung mit einer Wissenschaft sehen wir schon eine 31 kein organisirender] keinen organisirenden

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Beschränkung. Das wissenschaftliche Genie ist ein solches nicht wegen der Masse von Kenntnissen, sondern der innern, intellektuellen Produktivität wegen. Auch hier verschwindet nun der größere Gegensatz allmälig, und die Differenzen verschwinden. –

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Wenn wir nun die verschiedenen Stufen festhalten, | so entsteht nun auch hier die Frage, ob da ein Übergang aus dem Einen in das Andere möglich sei oder nicht. – Die Richtung welche auf die harmonische Ausbildung geht, kann nie die höchsten Stufen erreichen. Vergleichen wir das Genialische und Heroische mit den niedrigsten Stufen so erscheint uns da freilich ein großer Unterschied der Dignität. Worin ist dieser begründet, und ist jeder durch die Natur darin bestimmt, oder findet ein Übergang statt, und wie? Die Ausdrücke des Heroischen und Genialischen sagen immer einen dominirenden Einfluß voraus. Die nächste Stufe ist die des ausgezeichneten Talentes, dann die überwiegende Receptivität und endlich die absolute Passivität und Gleichgültigkeit. Wie entstehn denn wohl diese Differenzen? Wir müssen dabei zurückgehn auf unsere allgemeine Ansicht, daß nämlich jeder Moment aus einem inneren und äußeren Faktor zusammengesetzt ist. In welchem Maaße hat jeder hier Theil? Die Differenzen sind alle nur in der Verschiedenheit der äußeren Einwirkungen begründet. Hier19 Theil?] Theil. 3–4 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 189: „Es gibt aber eine Periode der Bildung, wo sich auch in diesem Gebieth das Bewußtseyn der Differenz allmählig verliert, wo nicht leicht Einer den Andern als Genie über sich erkennt; oder wo Einzelne auf das Ganze einen Einfluß üben, wie auf den niedern Stufen der Bildung der Fall war.“ 5–8 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 90r–90v: „Von dieser Seite scheinen die verschiedenen Stufen wieder in einander überzugehen, allein dieß liegt wohl mehr im Schein als in der Sache selbst. Die einzelne Gattung ist immer mehr etwas Zufälliges und die Virtuosität etwas an diesem Zufälligen Haftendes und daher stellen wir sie auf einen niedrigeren Punkt. Ebenso nennen wir die geringere Stufe auf dem wissenschaftlichen Gebiet nur Talent. Hier sind zwar Annäherungen, aber die einzelnen Stufen bleiben doch immer beschränkt. Wenn wir diese Stufe festhalten und dabei beobachten wie die höchste auf der einen mit der niedrigsten auf der anderen Seite verbunden ist, und wie auf der niedrigsten Stufe das Minimum der Menschheit schon was wir eigentlich nicht mehr können festhalten wollen, so entsteht die Frage, ob in Hinsicht der ein|zelnen Seele hierin eine Beweglichkeit statt finden könne. Auch von dieser Seite keine Verschiedenheit der Dignität beider Geschlechter anzunehmen; sondern es ist nur die Verschiedenheit seiner inneren Dignität und seiner äußeren Lagen.“

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nach beantwortet sich dann leicht die andere Frage; allein es herrscht nun auch eine gerade entgegengesetzte Ansicht in dieser Hinsicht, daß nämlich alles angeboren sei, und dann wäre eine solche Beweglichkeit nicht möglich. Es giebt eine Beweglichkeit bis auf den Punkt, wo die Seele gegen die äußeren Einwirkungen fest geworden ist nach der zweiten Ansicht. Jener Punkt würde dann durch die Erziehung fest bestimmt werden. Allein können wir wohl | überhaupt den einen Faktor hierbei als Null betrachten und den anderen bloß als wirkend annehmen? Nein! Das Leben vor der Geburt ist schon zurückzuführen auf die äußeren Einwirkungen durch die Mutter und das sich eben bildende Leben selbst. Die Geburt ist daher schon ein Resultat des Zusammenseins beider. Auf dieselbe Weise zeigt sich aber auch die Richtigkeit der andern Hypothese. Bei der Entwickelung in der Mutter ist durchaus schon die Selbstthätigkeit des sich entwickelnden Lebens mitgesetzt. Aber wir kommen auf dieses Resultat zurück, daß wir ein Zusammenwirken der zwei Faktoren haben, allein ein Näheres läßt sich schwer bestimmen. Wie verhält sich das Angeborne zur äußeren Einwirkung? Alles was äußere Einwirkung ist, ist nichts Anderes als Einwirkung des Gesammtlebens. Die Natureinwirkungen sind im Ganzen immer ein und dasselbe mit der Lage und dem Karakter des Volkes. Der Mensch ist in Beziehung auf die äußere Einwirkung also ein Produkt des Gesammtlebens. Die Einwirkungen die er selbst aber auf das Gesammtleben äußern kann, gehn hiervon natürlich nicht aus, sondern da entscheidet das Angeborene. Alles was eine bestimmte Stufe bezeichnet, ist demnach in dem Angebornen begründet, und kann nicht Resultat der äußeren Einwirkung sein. Die Unterschiede, welche ein Mehr oder Weniger bezeichnen, sind es dagegen, wo die äußern Einwirkungen dominiren. Betrachten wir das Resultat äußerer Einwirkungen näher, so erscheint da alles zufällig, und | es läßt sich dabei durchaus keine Regel aufstellen. Soll es dafür ein Gesetz geben, so müssen wir dieses von einem höheren Standpunkt aus suchen. Die am meisten genialen und heroischen Menschen kommen gerade am häufigsten aus der Masse, und es kommt auf die Abstammung überhaupt so viel nicht an. Was nun die Beweglichkeit betrifft, so haben wir schon den einen Theil der Antwort, in wiefern das Mehr oder Weniger abhängt von dem bessern oder schlechteren Zusammentreffen äußerer Einwirkungen. Diese untergeordnete Beweglichkeit werden wir also allerdings zugeben müssen. Betrachten wir aber nun 28–31 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 191: „So bald der Mensch das Licht erblickt, ist er ein Resultat äußerer Einwirkungen; von andern Ältern geboren wäre er nicht derselbe. Was aber den Naturact der Erzeugung betrifft, ist alles zufällig: denn es läßt sich durchaus keine Regel als Gesetz aufstellen, wenigstens nicht für Einzelne, höchstens für größere Massen,“

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mehr die Endpunkte, und fragen Kann das Geniale und Heroische, oder die Gleichgültigkeit und starre Unempfänglichkeit verloren gehn? so ist dies schwer zu beantworten. Man kann in dieser Rücksicht sich in den Kindern sehr irren. Oft sehn wir das Geniale und Heroische sich plötzlich entwickeln, oft werden große Erwartungen sehr getäuscht. Im Alter kann es solche Entwickelungen wiederum nicht mehr geben, und so haben wir also theils einen Uebergang aus dem Sein in das Nichtsein und einen entgegengesetzten aus dem Nichtsein in das Sein. –

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Stumpfsinnigkeit und Unempfänglichkeit können natürlich nicht durch sich selbst bewegt werden. Erst durch den allmäligen Einfluß des Heroischen kann eine stumpfsinnige Masse bewegt werden. Dies ist wohl das einzige allgemeine Gesetz der Bildungsgeschichte, welches sich aus der Erfahrung aufweisen läßt. Jedes Volk, welches eine Geschichte hat, d. h. welches den Gang seiner Bildung von unten herauf nachweisen kann, hat ein heroisches Zeitalter. – Es ist uns nun | von der Betrachtung des einzelnen Lebens noch übrig, daß wir es uns vorstellen von seinem Anfange bis zu seinem Ende mit Rücksicht auf den Gegensatz zwischen Gesundheit und Krankheit. Wenn wir nun die Entwickelung des geistigen Lebens betrachten wollen, so müssen wir anfangen bei der Erzeugung. Den ersten Anfang können wir uns nicht anders denken als ein gleichzeitiges Werden von Leib und Seele. Man sieht auch die Seele theils an als Folge des gewordenen Leibes, theils umgekehrt. Dies ist die spiritualistische und materialistische Abweichung. Hierbei ist zweierlei zu betrachten. Gehen wir auf den ersten Anfangspunkt zurück, so muß der Gegensatz, welcher ein gewordener ist, noch ein Minimum sein. 2) Wenn der Mensch in seiner Reife betrachtet wird, so setzt man voraus eine Gewalt des Geistes über den Leib nicht umgekehrt. Diese Gewalt sehn wir als ein Gewordenes an. Im ersten Anfange kann ein solcher Überschuß nicht statt finden. Das einzelne Leben entsteht nun aber innerhalb eines anderen; es ist Selbstthätigkeit aber zugleich Resultat des reiferen Lebens, worin es eingeschlossen ist. Die ersten Regungen sind theils Selbstthätigkeit, theils ist die ganze Welt, die Totalität der Einwirkungen noch eingeschlossen in das Leben der Mutter. Darin liegt nun schon das eingeschlossen, daß der einzelne Mensch nur relativ selbstständig, und immer ein Produkt ist dessen einer Faktor die Gattung ist. Es ist daher nicht zu leugnen eine Abhängigkeit jedes einzelnen Wesens von den

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Eltern und dem Familientypus, | welcher ein integrirender Bestandtheil des Nationaltypus ist und so fort. Dies ist die Reproduktionskraft der menschlichen Natur. Daher bei allen Völkern der Nationaltypus nicht so herausgebildet ist, welche keinen bestimmten Boden haben. Solche Differenzen finden wir in dieser Rücksicht auch in dem Familientypus. Dies ist also eine ursprüngliche, angeborene Differenz, wobei die Freiheit des Einzelnen aber keineswegs ganz aufgeht. Die Identität des Familientypus ist in gewisse Gränzen eingeschlossen. Wir finden sie vorzüglich in den spezifischen Talenten und Neigungen, was man gar nicht auf die bloße Nachahmung schieben kann. Dies gilt von Kunsttalenten, von wissenschaftlichen Talenten. Was aber die Dignität selbst betrifft, so können wir nicht sagen, daß der Familientypus da das Beschränkende sei. Ebenso ist es mit dem nationalen Typus, allein da doch weniger als in dem Familientypus. In der Dignität also hat sich die Natur selbst die größte Freiheit vorbehalten. Mehr schon zeigt sich das Angeerbte in dem was in dem Gebiete des Karakters liegt. Überhaupt liegt das Angeerbte besonders auf dem Gebiete, wo ein Einfluß des Leiblichen auf das Geistige zum Grunde liegt. Auf diese Weise müssen wir sagen, schon bei der ersten Erscheinung des Lebens ist das Ganze auf gewisse Weise schon bestimmt. Da verbirgt sich die Bestimmung des Einzelnen in die tiefsten Geheimnisse der Natur. Es lassen sich nur ganz allgemeine Gesetze nachweisen, daß nämlich die Zahl derer, welche auf niederen Stufen der Dignität stehn immer größer ist. Wenn wir also die Bestimmtheit | des Lebens in dieser Hinsicht als ein Gegebenes ansehn müssen, so bleibt uns nun übrig, bestimmte Stadien und Gränzpunkte im Verlaufe des Lebens zu bestimmen. – Der Geburt gegenüber steht der Tod. Naturgemäß muß dem Ende vorausgehn ein Abnehmen der Kraft, welche demselben zum Grunde liegt, auf die Geburt aber muß ein Wachsen folgen. In einem gewissen Raume erscheint der Übergang aus dem Einen in das Andere. Das Abnehmen aber trit ganz allmählig ein; die Kindheit ist dagegen geendigt mit der Entwickelung der einzelnen Funktionen. Die letzte unter denselben ist die Geschlechtsfunktion, und diese giebt uns also die Gränze der Kindheit. Zwischen dem Ende der Kindheit [und dem hohen Alter] finden wir aber noch zwei andere relativ entgegengesetzte Stadien, die Jugend und das männliche Alter. Dabei entsteht ganz natürlich die Frage nach einem Kulminationspunkte, welche sich aber schwerlich befriedigend beantworten läßt auch wenn man absieht von ganz äußerlichen Zahlenberechnungen. –

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Wir müssen die Geburt als eine fortgesetzte Organisation betrachten nur mit gesteigerter Selbstthätigkeit. Mit der Geburt öffnen sich die Sinne, und es trit die Funktion des Auffassens hinzu zu der bildenden, die aber zunächst noch immer auf den Leib selbst gerichtet ist, jedoch mit vergrößerter Selbstthätigkeit. Indem wir auf die Einheit dieser beiden psychischen Funktionen sehn, entsteht uns die Frage: Ist in diesem ersten Anfange der Geburt schon etwas geschehn, oder ist der Anfang als Null zu setzen? d. h. giebt es angeborene Ideen? Wenn man | sagt, die Seele fange ihre Organisationen mit der Geburt an, so kann man doch immer nicht sagen, daß der Typus dazu nicht schon da sei. Dies gilt von der bildenden wie von der auffassenden Thätigkeit. Wenn man aber annimmt, daß schon ein materielles Bewußtsein gegeben sei, so zerstört man alle wissenschaftlichen Operationen. Sehen wir auf die Identität beider Funktionen, so können wir die eine nicht anders betrachten als die andere. Die Seele fängt ihre Operationen an mit einem Null des wirklichen Bewußtseins aber nicht mit einem Null des Typus ihrer Thätigkeiten. – Wenn der Zustand vor der Geburt ein Null des objectiven Bewußtseins war, so ist auch vor der Geburt kein Unterschied des Schlafens und Wachens anzunehmen. Dieser Gegensatz fängt erst an mit der Geburt und zwar mit dem Maximum des Schlafs. Hierin liegt ein Zurückgedrängtsein aller höheren geistigen Funktionen. Der überwiegende Schlaf vermischt die Gränzen zwischen Animalität und Vegetation. Ein überwiegendes Versenktsein in der Vegetation karakterisirt diese Periode der Kindheit. Eine bestimmte Konstanz der auffassenden Thätigkeit existirt noch nicht, es ist noch nicht das Schwanken zwischen dem Allgemeinen und Besondern, es hat alles noch den Karakter des Träumenden. Wenn wir auf die subjective Seite des Bewußtseins sehn, so ist es wohl natürlich, daß wir hier den bestimmten Gegensatz zwischen Lust und Unlust noch nicht als vollständig er11–15 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 196: „Betrachten wir Seele und Leib in ihrer Identität, so beantwortet sich die Frage leichter. Es ist durch die Organisation ein Typus gegeben, in dem sie sich in ihren Thätigkeiten hält: somit ist der Typus für die Begriffsbildung, für das ganze Weltbild ebenfalls etwas Gegebnes. Vor der Geburt vor Öffnung der Sinne war material das Bewußtseyn nichts: will man es so weit treiben, daß schon vor der Geburt ein Materiales Bewußtseyn in der Seele gegeben sey, so läßt sich dieß nicht an den Zustand zwischen Zeugung und Geburt anknüpfen, sondern nur an irgend eine andere Präexistenz, von der wir nichts wissen. Damit kommen wir am Ende so weit, auch der Seelenthätigkeit bey Bildung des Leibes Bewußtseyn zuzuschreiben und sie in einer Präexistenz zu begründen. So wird am Ende all unser Wissen in ein unbekanntes Etwas hinausgeschoben.“

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wacht ansehn können. Im ersten Stadium der Kindheit ist es hierin wie mit den Thieren. Der Gegensatz zwischen subjectivem und objectivem Bewußtsein ist noch nicht erwacht; und daher die große | Leichtigkeit des Überganges aus Weinen in Lachen bei den Kindern. In dem Einen ist das Andere immer schon mit gesetzt. Mit der Sprache zugleich fängt die Begriffsbildung an sich zu bilden und zugleich damit vermindert sich dann auch der Gegensatz und die Leichtigkeit jenes Überganges. Dies führt uns nun auf etwas Anderes. Vermöge des erst allmälig sich vermindernden unmittelbaren Übergehens muß das Kindesalter abgesehn von dem persönlichen Temperament immer eine sanguinische Färbung haben. In dem Kindesalter findet sich noch gar nicht das, was wir Stimmung nennen. So lange das Bewußtsein noch den Karakter des Zerstreuten hat, ist es natürlich, daß jeder Moment noch wie für sich ist; in dem Maaße als in einem einzelnen Leben das melancholische Temperament angelegt ist, wird es in dem Kindesalter durch das Sanguinische zurückgedrängt; ist aber das Persönliche auch das Sanguinische so wird sich dies mit dem allgemeinen Lebenskarakter amalgamiren. – Wir haben uns nun hier noch das Verhältniß des persönlichen Bewußtseins zu dem gemeinsamen zu karakterisiren. Vor der Geburt ist eine ganz verworrene Identität beider, welches sich auch nach der Geburt fortsetzt, das Selbstbewußtsein ist zuerst durchaus noch sympathisch mit der Mutter. Hat der Ernährungsprozeß durch die Mutter aufgehört, so trit auch gleich die Persönlichkeit stärker hervor. Die Bedürftigkeit des Kindes ist aber doch noch so groß, daß | hier ein bedeutender Unterschied von den Thieren eintrit. Die leibliche Seite, ein physisches Gefühl ist immer noch vorherrschend; dem Kinde ist noch nicht wohl in seiner eigenen Athmosphäre, was sich durchaus nicht auf das bloße Bedürfniß des Getragenseins gründet. Hört nun auch dies mehr auf, so ist die geistige Verwandschaft und Nähe, die Liebe, noch nicht so entwickelt, darum erscheint in der Zeit die Selbstständigkeit als ein mehr Egoistisches; die Kinder scheinen eine Zeit lang lieblos zu sein, suchen weniger die Nähe der Eltern als der Gespielen.

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[65. Stunde] Die eigentliche Blüthe der Kindheit fällt daher vor diese Zeit. Die Differenzen der einzelnen Menschen kommen in der Kindheit noch nicht zur Anschauung, sie latitiren noch, entwickeln sich aber doch immer mehr und mehr. Es ist daher nicht leicht, dem Menschen schon in der Kindheit eine Prognosis zu stellen, denn manche Funktionen

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kommen noch gar nicht zur Wahrnehmung, welche doch später andere zurückdrängen, die früher schon zur Anschauung gekommen waren. Dies wird jedoch keinem einen bedeutenden Zweifel gegen das Angeborne beibringen können; oft entwickeln sich spezifische Neigungen oder Talente, wozu in den Umgebungen gar keine Veranlassung lag. Betrachten wir nun noch die Kindheit in dem Verhältniß zu der folgenden Periode, so können wir das Ende nicht anders fixiren als in der Entwickelung der Geschlechtsfunktionen, nicht des Geschlechtstriebes, der etwas weit Späteres ist. Es ist dies ein Punkt der oft von den bedeutendsten Veränderungen begleitet ist. Sehr wünschenswerth ist es, daß vor diesem Übertrit aus der physischen kindlichen Liebe die geistige, die Pietät sich schon entwickelt habe. Den Übergang zu derselben | bildet der Gehorsam, dem noch als Basis das Gefühl des Mangels an Selbstständigkeit zum Grunde liegt. Mit der Pietät entwickelt sich dann auch die eigentliche religiöse Anlage. Wenn dies beides zur rechten Zeit erwacht ist, sind sie die besten Verwahrungsmittel gegen die Gefahren, die bei der erwachenden Selbstständigkeit drohen. Das üble Kennzeichen, welches dem gegenübersteht und am meisten zerstörend ist, besteht in dem zu früh erwachenden Geschlechtsreize vor der Entwickelung der Geschlechtsfunktionen. Die beiden ersten Funktionen des Bildens und Auffassens müssen in dem Kinde in einem richtigen Verhältniß stehn. Die bildende Seelenthätigkeit soll sich mehr nach außen richten, die Kinder sollen sich mechanische Fertigkeit erwerben; wir haben daher zweierlei hier zu beachten, das Abnehmen der ganz in die Organisation versenkten bildenden Thätigkeit und die Richtung mehr nach außen. Die Gesundheit zeigt sich in der zunehmenden Mäßigkeit des Ernährungsprozesses und der zunehmenden gymnastischen Übung. Der Krankheitszustand ist hier Gefräßigkeit, Begehrlichkeit und Mangel an körperlicher Beweglichkeit. Die intellektuellen Funktionen sind ihrer Natur nach zurücktretend in der Kindheit, sie bestehen bloß in dem Auffassen der Gegenstände in einem freien, regellosen Spiele. Der Krankheitszustand ist immer begleitet mit einem Zurücktreten dieser geistigen Funktionen. Umgekehrt giebt es aber auch einen entgegengesetzten natürlichen Krankheitszustand, die Altklugheit. Von beiden Zuständen giebt es eine rein physiologische Ansicht; als ein Übergewicht des Reproduktionssystems oder des Nervensystems. Allein diese Ansicht | läßt sich nicht als die allein richtige behaupten. Man kann auch da ein Angebornes annehmen oder ein Entstehn mit einer falschen Diät. Allein keine von beiden Annahmen ist wohl für sich allein die richtige. Man muß dabei allerdings auch auf das Psychische Rück11 der] die

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sicht nehmen. Es liegt theils ein Übermaaß sinnlicher Begierde, theils ein zu großes Losreißenwollen des Geistigen von dem Leiblichen zum Grunde. – Den Übergang zu der folgenden Periode müssen wir uns wohl dadurch bereiten, daß wir fragen, was dann in der Kindheit noch nicht entwickelt sei. Das ist dann zuerst alles dasjenige was auf der Seite der objectiven und subjectiven Spekulation liegt. Die ersten Regungen des Religiösen tragen noch ganz den Anthropopathismus an sich, zeigen sich bloß in einem Spiele mit dem Gespenstischen. Ferner ist die Persönlichkeit in der Kindheit noch nicht eigentlich befestigt. Daher kann das Verhältniß zwischen dem persönlichen und gemeinsamen Bewußtsein, der Karakter, noch nicht hervortreten. Was wir Eigensinn nennen, ist etwas Anderes, es ist nur das sich Losreißenwollen aus dem beständigen Wechsel. Der Eigensinn ist durchaus kein Indizium einer sich entwickelnden Karakterstärke. Damit hängt nun zusammen, daß auch der Wille in den Kindern sich noch entwickelt; das Gemüthliche, das Hingeben ist bei den Kindern hier das Vorherrschende und wir bezeichnen es mit der kindlichen Unschuld. –

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Von der physiologischen Seite angesehn ist das Ende der zweiten Periode der Übergang von dem Wachsthum in die Darstellung vollkommen ausgebildeter körperlicher Vollkommenheit und Schönheit. In dieser Periode trit der Gegensatz zwischen Lust und Schmerz am stärksten hervor. Es gehört zu | dem Karakter der Jugend, daß die Verhältnisse des persönlichen Einzelnwesens zur Gemeinschaft noch nicht bestimmt sind. In der Jugend findet eine größere Trennung von dem Bande der Familie statt, welche aufs neue durch die Stiftung eines eigenen Familienstandes angeknüpft werden. Die eigenthümliche Temperamentsfärbung des Jugendalters ist daher das Melancholische, abgesehn von dem persönlichen Temperament. Wenn man meint, es scheine sich dies in der Erfahrung nicht zu bestätigen, so rührt dies daher, daß in unserem Klima dies Temperament im Ganzen zurücktrit, und deshalb hier gewöhnlich durch das persönliche Temperament unterdrückt wird. Was die objective Seite betrifft, so knüpfen wir hier an das, was wir bei der Kindheit erwähnt hatten. In der Kindheit finden wir den Sinn für die Schönheit, für das Harmonische noch nicht entwickelt, sondern da ist immer ein Streben nach den starken grellen Eindrücken. In der Jugend bildet sich nun das Schönheitsgefühl heraus, und trit in diesem Alter am meisten hervor, weil die körperliche Bildung zur Schönheit damit zusammenfällt. Daher die Rich-

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tung auf das Ideale, und eine gewisse polemische Tendenz gegen das Gegentheil. Wie denn überhaupt eine Antipathie in jeder Periode gegen dasjenige sich zeigt, was die folgende Periode karakterisirt. So mit dem Verhältniß der Geschlechter zu einander in der Kindheit, mit dem Berufsleben in der Jugend. Die Richtung auf die Schönheit | geht in der Jugend auf der einen Seite leicht in Eitelkeit auf der andern leicht in täuschende, besondere Neigungen zu einem einzelnen Kunstgebiete über. Diese Neigung ist beiden Geschlechtern gemein; allein das weibliche Geschlecht scheint sich sowohl in Rücksicht auf die Kunst als auf die körperliche Darstellung eher von der Einseitigkeit loszumachen. Auf der wissenschaftlichen Seite findet nun die Begriffsbildung ihre Vollendung; wenn in dieser Zeit die Spekulation und die Idee der Wissenschaft nicht erwacht, so kommt sie später schwerlich. Das Karakteristische des Geistes muß in dieser Periode sich bestimmt gestalten. – Das religiöse Element steht nun in einem ganz ähnlichen Verhältniß. Die Tiefe der Empfindung karakterisirt diese Zeit, und es gehört wesentlich zu einer für die Zukunft heilbringenden Jugend, wenn das religiöse in derselben festwurzelt. Wo wir eine Gleichgültigkeit gegen das Religiöse finden, da finden wir auch eine Abneigung gegen das Wissenschaftliche. Gewiß ist die wissenschaftliche Neigung da nicht recht kräftig, wo ein Anschließen an eine Spekulation statt findet, die polemisch gegen das Religiöse auftritt. Was wir nun in der Jugend noch nicht entwickelt finden ist der bürgerliche Sinn. Da aber das folgende Lebensalter mit dem Eintrit in den bürgerlichen Beruf anfängt, so muß in der Jugend auch schon ein Vorbereiten dazu statt finden, ein Hineinspielen des männlichen Karakters. | Der Kulminationspunkt der Jugend fällt daher vor diese Periode. Auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft ist die höchste Spitze das Geniale, auf dem Gebiete des Bürgerlichen das Heroische. Letzteres kann nun natürlich in der Jugend sich noch nicht zeigen, wo aber für die Wissenschaft und Kunst eine geniale Anlage ist, die muß in der Jugend sich schon freimachen. In Rücksicht der Kunst kann man sich leicht täuschen, wie schon gesagt ist; allein es giebt doch bestimmte Kennzeichen für die wirkliche Anlage genialer, wenigstens origineller Produktivität. Es ist nun noch übrig, von den eigenthümlichen Krankheiten des jugendlichen Alters zu reden. –

[67. Stunde] Da ist nun zuerst ein zu frühes Erwachen des Geschlechtstriebes, welches durch Überreizung hervorgebracht werden kann und so seinen 10 Darstellung] Darstellung (?)

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Grund hat besonders in der Sitte und dem gemeinsamen Leben. Derselbe Fall ist es mit einer andern Abweichung, der Zerstreuung. Denken wir uns beide Krankheitszustände vereinigt, welches häufig der Fall ist, und das religiöse Moment davon zurückgehalten, so entwikkeln sich aus diesen Hauptabweichungen alle andern. – Sehen wir nun auf den Übergang in die andere Periode, so ist nun da der Eintrit in einen bestimmten Kreis des bürgerlichen Lebens. Das Ende des jugendlichen Lebens muß nun durchaus nicht zu sehr beschleunigt werden. Wenn wir nach der Blüthe des jugendlichen Alters fragen, so finden wir | hier eine gewisse Analogie mit dem Kindesalter. Es giebt eine Zeit, wo der ursprüngliche Trieb der Jugend, die Selbstdarstellung und die Richtung auf die Schönheit anfängt, sich zurückzuziehn, und wo ein unstätes Angezogen- und Abgestoßenwerden von den verschiedenen Lebenszuständen statt findet. Damit hängt zusammen, die der Jugend natürliche Reiselust. Bei dem weiblichen Geschlechte muß diese auf eine bloß ideale Weise befriedigt werden, durch das Herumreisen in der Romanenwelt; beides in seinem Maaße ist der Jugend ganz angemessen. Was nun die dritte Lebensperiode betrifft, das Alter der Reife, so haben wir den Anfang dessen schon karakterisirt, es ist die Zeit der Stärke des Karakters, der Produktivität und der Virtuosität. Das Heroische und Geniale trit hervor. Vorahnungen giebt es besonders zu dem Zweiten schon in der Jugendzeit. Dasselbe gilt nun auch von der Originalität und Virtuosität. Daher eine so große Variabilität in dem Geschmacke. So wie der Mensch seine feste Stelle in der Gesammtheit gefunden hat, zeigt sich dann aber bald seine eigenthümliche Bestimmtheit. Es ist hierbei ein umgekehrtes Verhältniß der idealen und realen Seite nicht zu verkennen. Die Ausbildung der realen Seite fängt erst in der spätern Jugend an, allein sie bildet sich dann auch schneller aus, und gewinnt weit eher Bestimmtheit durch die Wahl eines bestimmten Standes. Wie in der Zeit der Jugend von dem Punkt an, wo die physische Geschlechtsfunktion sich entwickelt, auch zugleich die Psychische Differenz hervortrit, so bildet sich damit zugleich das Bewußtsein jedes Geschlechts in dem andern und mit dem andern aus. Jedes für sich ist eine Einseitigkeit und erst in der Einheit der Duplizität besteht das vollkommen | allgemeine menschliche Bewußtsein. In dem jugendlichen Alter ist wegen des starken Gegensatzes von Lust und Schmerz der Gegensatz das Dominirende; im männlichen Alter nimmt der Gegensatz ab, und daher hat da der Mensch seine ganze Vergangenheit mehr gegenwärtig. Hier ist dann, in der vollkommenen Ausbildung der Periode der Reife, der Kulminationspunkt des einzelnen Lebens überhaupt gegeben. Für jede einzelne Erscheinung ist dies natürlich nur relativ. Je mehr der Einzelne auf einer untergeordneten

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Stufe bleibt, um desto geringer ist die Differenz. Wir haben alle Kenntniß der Seele nur durch die Beobachtung; aus dem Vorhergehenden geht aber hervor, daß wir diese Beobachtung nicht an der Masse sondern an den ausgezeichneten Einzelnen machen müssen. –

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Die Jugend ist nun ferner noch die Zeit der Wahlverwandschaft, die eigentliche Zeit der auf das Gefühl basirten Freundschaft. – Was die übereinstimmende Temperamentsstimmung betrifft, so ist es wohl offenbar, daß in der Jugend das Kolerische hervortrit, begründet auf den starken Gegensatz von Lust und Unlust, welcher gleich in die Aktivität übergeht. Dabei ist dies Lebensalter aber auch dasjenige in welchem sich das persönliche Temperament am aller vollkommensten entwickelt. Der Einfluß der allgemeinen Beziehungen trit hier weniger hervor, und gerade in dem reifen Lebensalter ist es, wo man das persönliche Temperament am besten unterscheiden kann. Wenn wir fragen, was die natürlichen Krankheitszustände des männlichen Alters sind, so haben wir dabei auf zweierlei zu sehn. Jeder Krankheitszustand ist ein Aufheben des natürlichen Gleichgewichtes. Wir haben nun zu sehn 1) auf den | Einfluß der leiblichen auf die geistigen Funktionen, 2) auf das Verhältniß des Persönlichen zu dem Allgemeinen. Da das Leibliche in diesem Alter vollkommen ausgebildet ist und auch das Geistige, so muß in diesem Alter eintreten die vollkommenste Herrschaft der geistigen Funktionen über die leiblichen. Im jugendlichen Alter war dies noch nicht möglich, weil auf beiden Seiten noch keine vollkommene Bestimmtheit war. Das Krankhafte kann hier nur in einer Art liegen, nämlich in einer überwiegenden Berücksichtigung des Leibes. Die Gesundheit und Frische des Lebens besteht 2) nun darin, daß das persönliche Dasein ganz in dem gemeinsamen aufgeht. Ist dies nicht, so ist entweder die Wahl des Berufs verfehlt, oder der Grund liegt in einer Unvollkommenheit des Ganzen. Es ist hier ein stenischer und astenischer Krankheitszustand möglich. Wenn in dem reifen Lebensalter die Seele zu sehr in den Organismus versenkt ist, so zeigt sich dies in der Neigung zur Gourmandise und zum Trunk. In der Jugend hat das Letztere einen ganz andern Karakter, da will man nur sehn, wie weit man Herr werden kann über die geistigen Getränke, etwas Gymnastisches. – Die astenische Ausweichung ist ein Aufgeben der kräftigern Herrschaft über den Leib, um eine geringere länger zu erhalten, worin immer etwas Feigherziges liegt. – Beiden Ausweichungen entsprechen nun auch zwei entgegengesetzte. Das Ge-

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sammtleben hat immer seine Oscilationen, welche mit den einzelnen nicht vollkommen zusammentreffen. Der Einzelne nimmt entweder die Richtung, sich des Ganzen so sehr als möglich zu bemächtigen, das giebt den Ehrgeiz und die Herrschsucht, welche wenig von einander unterschieden sind. Die entgegengesetzte astenische | Ausweichung ist die, wenn der Einzelne zu sehr fürchtet, mit denen, die neben und über ihm auf das Ganze einwirken, in Widerspruch zu gerathen; dies ist das Knechtische. Das Krankhafte liegt auf beiden Seiten nur im Übermaaß. Das Kriechen gegen Höhere ist gewöhnlich verbunden mit herrischem Wesen gegen Niedere. Je niedriger die Stufe ist, die Einer in der Gesellschaft einnimmt, desto leichter verzeiht man diese Ausweichung. Daher findet man dies am meisten in den privilegirten Ständen, vermöge deren man zu einem gewissen Auftreten in der Gesellschaft berechtigt ist. Was die Herrschsucht betrifft, so ist es hier schwer, diese von dem Herrischen zu unterscheiden. In entschiedenen Kreisen erscheint das Letztere leicht als Herrschsucht und egoistischer Ehrgeiz. Weit leichter ist die Unterscheidung in ruhigen Zeiten. Diese Ausweichung hat ein ganz stenisches Ansehn, und doch kann gerade das Gegentheil wahr sein. Das Persönliche an die Spitze setzen zu wollen, kann nur seinen Grund haben in einer im innersten Mittelpunkte verborgenen Schwäche. Es liegt dabei ein Mangel an Selbstvertrauen zum Grunde, und daher ein häufiges Umschlagen in das Entgegengesetzte. –

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Die psychische Differenz der Geschlechter ergiebt sich aus dem schon früher davon Angeführten leicht von selbst, wenn man auf die Differenz der Temperamente ganz Rücksicht nimmt. – Ein anderer schwieriger Gegenstand, den wir am besten hier zum Gegenstande unserer Betrachtung machen, ist der Wahnsinn. Wir hätten nun hier eigentlich den Wahnsinn, der aus körperlichen Ursachen entstanden ist, [zu] unterscheiden von dem welcher | aus geistigen Ursachen hervorgeht, welches bis jetzt noch unmöglich ist. Nicht zu erkennen ist am Wahnsinn, daß die verschiedenen Arten sich nach den Temperamentsverschiedenheiten theilen in Blödsinn, Tiefsinn, Wahnsinn, Wuth, (das Phlegmatische, Melancholische, Sanguinische, 34–1 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 97v: „Die Wuth steht wohl offenbar mit dem Cholerischen in Verbindung, der Wahnsinn mit dem Sanguinischen, der Tiefsinn mit dem Melancholischen, und der Blödsinn ist der höchste Grad des phlegmatischen Temperaments.“

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Kolerische)[.] Bei dem Blödsinne liegen sehr oft körperliche Verletzungen zum Grunde. Wenn man sich ein Temperament auch im Steigen denkt, so findet man doch nicht den Punkt, wo die gänzliche Zerrüttung der gänzlichen Lebenseinheit eintrit. Wenn Einer in Wahnsinn verfällt, so ist auch nicht ausgemacht, daß das Temperament bis auf das Extrem vorangegangen sein muß in seiner Steigerung. Klar aber ist, daß ein stärkeres Temperament sich weit mehr annähert an den Wahnsinn, allein etwas muß doch wohl noch hinzukommen. Was ist nun dies? Wir sind davon ausgegangen, daß der Wahnsinn aus den gewöhnlichen Gemüthszuständen nicht entstehen könne. In ganz vernünftigen Menschen giebt es immer Momente, die wir als Analoga des Wahnsinns ansehn können. Auf der einen Seite können wir dies auffassen in dem freien Spiel der Phantasie, dessen Ursprung man nicht aufdecken kann, – und worüber der Mensch keine Gewalt ausüben kann. Ein anderer Anknüpfungspunkt findet sich bei großen Erschöpfungen oder auch in sehr heftigem pathematischem Zustand. Jenes gränzt an Blödsinn, dies an Wuth. Was hat denn die Übergangserscheinung Gemeinsames? Den Verlust des Willens. Letzteres ist ein Wort, aber eine wahrhaft genetische Vorstellung davon als einer Thatsache können wir uns nicht davon machen. Wenn wir die verschiedene Dignität | des Willens betrachten, so steht auf der höchsten Stufe die Karakterstärke. Hier können wir uns einen Übergang in Wahnsinn gar nicht denken als durch äußere körperliche Ursachen. In mannigfaltiger Abstufung wächst uns dann die Wahrscheinlichkeit des Wahnsinns mit dem schwächeren Willen. Daher werden in der bürgerlichen Gesellschaft willenlose Menschen unter Vormundschaft gesetzt. Momente der Willenlosigkeit treten bei einem jeden Menschen ein. In diesem Analogen sehen wir eine solche Variabilität des Willens, welche die Persönlichkeit zu zerreißen scheint. Der Zustand des Wahnsinns ist also wirklich da, er ist eine allgemein verbreitete Erscheinung. Es ist ein furchtbares Schicksal, wenn sich nun in dem Einzelnen der Keim des Wahnsinns festsetzt und das Leben umbildet. Es ist eine ganz allgemeine Vorstellung, daß die Ursachen des Wahnsinns fast immer Hochmuth oder Liebe sind. Hinter solchen allgemeinen Vorstellungen muß man immer etwas suchen. Der Wahnsinn trit fast immer nur erst in dem reifen Lebensalter ein, wo eben durch die Liebe ein neuer Lebenszustand gestiftet werden soll, und worin auch der 36 dem] den 1–2 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 209: „Es darf uns nicht irre machen, daß der Blödsinn oft angeboren ist oder sich wenigstens in früher Kindheit entwickelt.“ 32– 34 Vgl. Conversations Lexikon für gebildete Stände, Bd. 1–12, 7. Aufl., Leipzig 1820, hier Bd. 10, S. 502 [SB 2292]

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Ehrgeiz am meisten Nahrung findet. Wer in seinem reifen Lebensalter sich häusliche Verhältnisse und seinen Beruf glücklich konstituirt hat, bei dem kann auch der Wahnsinn nicht wohl anders als aus körperlichen Ursachen eintreten. Wenn die Zeit, wo die Festigkeit des Willens entstehn soll vorübergeht, ohne daß dieser entsteht, da ist schon eine gefährliche Annäherung. Den | Anfang des Wahnsinns kann man aber nicht beobachten, und wir können niemals zu einer klaren Vorstellung darüber kommen. –

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Fixe Ideen nennt man theils die Zentralpunkte des Wahnsinns, theils diejenigen Punkte, von welchen man aus der Ruhe abzuschweifen anfängt. Die Zentralpunkte sind gewöhnlich ein symbolischer Karakter, d. h. sie drücken die Stimmung des Wahnsinnigen aus, wie wenn Einer behauptet, er sei von Glas und sich deshalb nicht bewegen will. Das Symbol ist ziemlich gleichgültig, der Tiefsinn allein ist es, der dabei berücksichtigt werden muß. Wichtiger sind die anderen sogenannten fixen Ideen, an welche nämlich die Eruptionen des Wahnsinns sich anschließen. Es kommt diese Art besonders dem Sanguinischen zu. Auch hier hat man nicht auf die bestimmte Vorstellung, sondern nur auf den Übergang Rücksicht zu nehmen. Wir bemerken etwas dem Wahnsinn Vorhergehendes und den Zustand selbst, allein den eigentlichen Übergang kann man nicht fixiren; das Umschlagen ist etwas rein Innerliches. Der Anfang des Wahnsinns wiederholt sich in gar vielen Fällen; derselbe wird durch lichte Punkte unterbrochen. Dies ist zwar nicht allen Arten gleich eigen, am meisten finden wir es bei dem Sanguinischen und Kolerischen. Diese Formen lassen weit mehr die Hoffnung einer Rückkehr zur Vernunft übrig, man hat eine Handhabe, und braucht die hellen Zwischenräume nur zu verlängern suchen. Dies kann theils positiv, theils negativ geschehn. Das Entstehn und Verschwinden müssen beide einen positiven und einen negativen Karakter haben. Könnte man auf beiden Seiten die Beobachtung vollständig machen, so müßte sich der Wahnsinn bezwingen lassen. | Schwieriger wird die Behandlung, wenn man nur darauf ausgehn 10 abzuschweifen] abzusweifen 30–31 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 98v–99r: „Wenn auf diesem Wege eine Heilung bewirkt werden sollte, so müsste man nicht nur den inneren Factor kennen, | sondern auch das jenige, was den Anfang und was den Endpunkt des Paroxismus ausmacht. Dieß gilt nur von denjenigen Formen, denen überhaupt die Paroxismen eigen sind.“

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kann, den beim Wahnsinne verloren gegangenen Willen wieder hervorzurufen. Die Schuld kann man nur als eine gemeinsame ansehn. Das Extrem eines Temperaments wie die verfehlte Feststellung der eigenen Existenz haben ihren Grund nur in der mangelhaften Sitte, die Verwirrung in der Organisation des Familien- oder gemeinsamen Lebens. Es muß viel leichter sein, dem Wahnsinne zuvor zu kommen, als ihn zu heilen, weil im ersten Falle die gemeinsame Vernunft noch einen Anknüpfungspunkt findet. Merkte man daher auf die Vorandeutungen, so würde man ihm weit leichter zuvorkommen können. Der Einzelne hat immer nur eine relative Selbstständigkeit, und nur so kann man gewisse Neigungen des Willens erklären, die dem sonstigen Karakter des Menschen ganz fremd sind. Ist der Ort außerhalb der Seele, wo soll er anders sein? Solche Vorstellungen sind nur das Gesetztsein der Anderen in der einzelnen Seele. Die Passivität des Willens wird durch den Traum repräsentirt. Die erste Vorkehrung gegen den Wahnsinn ist, den ordnungslosen Spielen von Vorstellungen zu widerstehn, welche ganz unwillkührlich entstehn. Je mehr in dem Menschen ein Interesse ist an den Reihen von Thätigkeiten, welche in das Leben gehören, um so mehr läßt das leere Spiel sich unterdrücken. Man muß daher bei dem Wahnsinnigen den Willen dadurch zu wecken suchen, daß man ihm eine bestimmte Thätigkeit abnöthigt, oder ein Interesse daran | auf mildem Wege zu wecken sucht. Ist auf dem milden Wege nichts zu erreichen, so ist es ganz zweckmäßig Strenge zu gebrauchen und Beraubungen oder positive Schmerzen anzuwenden. Die Formen des Tiefsinnes und Blödsinnes sind, wie aus dem Vorigen erhellt, am schwersten zu behandeln; bei jenen liegt ein Interesse zu Grunde, bei diesen aber ist eine gänzliche Abstumpfung der Seele und des Willens insbesondere. –

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Der Blödsinn kann durch sorgfältige Bildung am besten geheilt werden; er kommt daher am meisten unter den niederen Ständen vor, dagegen der Tiefsinn unter den mehr verworrenen Lebensverhältnissen. – Wir gehn nun über zu der letzten Stufe des menschlichen Lebens, dem hohen Alter. Wir fangen dies mit dem Verschwinden der Geschlechtsfunktion an, womit zugleich auch die übrigen Organe allmälig in ihrer Biegsamkeit abnehmen, und eine Verknöcherung anfängt. So ist es auch nun auf der psychischen Seite; auch hier beschränken 25 am] davor sind

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sich die Organe. Die technische Virtuosität und eine gewisse Ermattung des Genies treten in der Kunst ein; länger bleibt im hohen Alter das Wissenschaftliche produktiv, weil die Organe durch das tägliche Leben hier mehr geübt werden. In der Kunst ist dagegen die Herbeischaffung des Darstellungsmittels sehr erschwert. Was das Heroische betrifft, die Thätigkeit für das Leben, so schränkt sich diese nur ein nach der Abnahme der organischen Funktionen. Ein Feldherr kann die innersten Eigenschaften noch alle haben, allein verläßt ihn sein Gedächtniß, so entsteht doch immer eine Abnahme von Seiten der Ausführung. Die Abnahme erstreckt sich | nun auch auf die Aufnahme. Die Auffassung durch die Sinne wird schwächer, ebenso das Gefühl. Alles dies giebt dem hohen Alter das Ansehn von abnehmendem Interesse, das heißt einen Anstrich des Phlegmatischen, wobei die Stärke des persönlichen Temperaments allmälig zurücktrit. Dies Zurücktreten der persönlichen Differenz bringt eine gewisse allgemeine Analogie mit der Kindheit hervor. An dieser Abnahme hat alles dasjenige am wenigsten Antheil, was sich um den Mittelpunkt des Lebens lagert, die sittlichen Prinzipien, Karakterstärke pp[.], und so gewinnt es das Ansehn, als ob das Abnehmen des Geistes sich nur auf den Zusammenhang des Leiblichen bezöge. Hier trit noch die ziemlich allgemeine Erscheinung auf, daß das Interesse für die Gegenwart im hohen Alter verschwindet, und daß das Gedächtniß sich am meisten der Vergangenheit zuwendet. Dies wirkt auf die Kraft des Gedächtnisses selbst zurück. Der Mangel an Interesse erscheint als eine Abnahme des Geistes in seinem Innersten. Es ist dies zu erklären daraus, daß das hohe Alter auf die Gegenwart nicht mehr so kräftig einwirken kann und auch nicht mehr so thätig aufnimmt. Gewöhnlich erklärt man diese Abnahme des Interesse aus der Veränderung der Dinge. Es erscheint uns dies aber als eine unrichtige Erklärung; denn in bewegten Zeiten, wo eben die größten Veränderungen in der Gestaltung der menschlichen Verhältnisse vorgehn, bleibt das Interesse länger lebhaft. 4–5 Vgl. Züricher Nachschrift, S. 215: „Die Poesie erfordert aber eine Gewalt über die Sprache, welche im höhern Alter abnimmt. Die Mittel der Darstellung aber greifen sehr in einander und die Gedanken ein; manche Gedanken gehören schon mehr der Form an: so verschwindet der Reichthum an Bildern und Vorstellungen, es entsteht eine äußere Dürftigkeit und Armuth, welche aber nicht dem Innersten des Geistes zuzuschreiben ist. Nur so läßt es sich erklären, warum das hohe Alter so selten etwas in der Kunst, so vieles und Treffliches in der Wissenschaft leistet.“ 27–28 Zusatz Züricher Nachschrift, S. 216–217: „Allein auf der andern Seite ist auch die organische Schwächung daran Schuld, denn es ist natürlich daß wir uns für das, wovon wir weniger vernehmen, und worauf wir weniger wirken können, weniger Interessieren. Gewöhnlich erklärt man dieß Abnehmen des | Interesse für die Gegenwart aus der Veränderung der Dinge; indem man mehr Zusammenhang fühle mit der Zeit, wo man in seiner Kraft gelebt:“ Vgl. z. B. Eschenmayer (1817), S. 162–164

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In bewegter Zeit drängen sich die Gegenstände ihrer Großartigkeit wegen, auch den | schwächeren Organen auf. Bewegte Zeiten sind auch weit mehr Gegenstand des Gesprächs, daher denn auch deshalb die Rückwirkung stärker ist. Wir können das hohe Alter bis zum Tode nicht verfolgen, ohne zu fragen, was dieser denn eigentlich sei; ob er für das Substrat der geistigen Funktionen dasselbe sei wie für das Substrat der leiblichen Funktionen. Von einem eigentlichen Verschwinden des leiblichen Substrats kann eigentlich nicht die Rede sein, allein es hat ein lebendiger Punkt aufgehört, und es fragt sich ob dies mit dem geistigen Leben auch so sei. Für beide entgegengesetzte Annahmen giebt das hohe Alter Vorschub: Die Kraft nimmt geistig wie leiblich ab; beide gehn mit einander dem Ende entgegen. Die andere Ansicht sagt, die innerste Stärke des Lebens bleibe, und die Annäherung geschehe nur als an einer Abnahme der Abhängigkeit von Raum und Zeit. Der Geist, sagt man, ist mit dem gesättigt, was diese Welt ihm geben kann, und der Tod ist nichts Anderes als gleichsam der Ausdruck des höchsten Weltgesetzes darüber, daß der Zusammenhang der einzelnen Erscheinung mit der umgebenden Welt geschlossen sei. Es ist offenbar, daß wir von unserem Gebiete aus hierüber nichts sagen können, sondern die Auflösung dieser Frage, wenn sie wirklich einen Theil des menschlichen Wissen konstituiren kann, liegt wenigstens gewiß in einem anderen Gebiete. In unserer Betrachtung haben wir nie das Leibliche von dem Geistigen trennen können, und was uns obliegt, wäre nur, das Moment des Todes selbst zu begreifen. Das aber, als die | Gränze, liegt jenem so nahe, daß wir hier auch nur einer entfernten Analogie folgen können.

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Das Aufhören des Lebens ist eben so schwer darzustellen als der Anfang desselben; obgleich jenes mehr vor unsern Augen liegt, so können wir den Augenblick des Todes doch nicht fixiren. Niemals sind wir durch Kennzeichen ganz bestimmt überzeugt, daß er wirklich eingetreten sei, als wenn die Zerstörung durch die Verwesung beginnt. Aber nicht allein der Moment, sondern auch das Agens selbst ist so schwer zu bestimmen. Wir können uns die Auflösung des Einzelnen als Naturthat oder als That des Einzelnen denken. Jede einzelne Naturthat ist sonst immer nur das Hervorrufen einer Reaktion, hier aber sollen wir uns eine Naturthat denken, die alle Reaktion aufhebt. Von der Zerstörung der Organisation können wir uns dies noch eher denken, weil da immer kein Uebergang in Null ist; anders aber ist es mit den

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psychischen Thätigkeiten. Dies hat der materialistischen Ansicht Vorschub gethan, daß die letzteren nur ein Resultat der ersteren wären. Allein dies läßt sich im Einzelnen nicht durchführen, denn die Lebensthätigkeiten sind ein durchaus Zusammengesetztes, so daß an gar vielen sich durchaus nicht nachweisen läßt, welche psychische Thätigkeit mit diesen oder jenen organischen zusammenhangen. Wollen wir 2) den Tod ansehn als That des Einzelnen selbst, so müssen wir ihn auch entweder mit den physischen oder mit den psychischen in nähere Verbindung bringen. Als eine That des Leibes können wir uns den Tod nicht denken. Betrachten wir den Tod als eine That der Seele, so macht das freilich weniger Schwierigkeiten; wir können auch | eigentlich überhaupt hier nur von dem Tode reden als einer Thätigkeit der Seele. Denken wir uns den Tod aus Alterschwäche, ein Abnehmen aller erscheinenden psychischen Thätigkeiten, so ist hier durchaus ein Ueberhand nehmendes Mißverhältniß, es entsteht in dem Einzelnen eine Sättigung am Leben, welches in ein Wollen des Todes übergehn kann. Es kann dies sogar bis zu einer gewissen Sehnsucht steigen; allein am Ende kommen wir dabei doch auch auf eine Formel, die wir nicht begreifen können, nämlich eine Einwirkung der Seele auf den Leib, die allen ferneren Einwirkungen ein Ende macht. Nun haben wir ein anderes Phänomen anderer, aber doch hierhergehöriger Art, den Selbstmord. Es gehört dieser zu den sehr schwer zu verstehenden Phänomenen. Einige machen die Voraussetzung, daß der Selbstmord immer einen gewissen Zustand des Wahnsinnes voraussetze, allein gewöhnlich ist doch die Besonnenheit dabei sehr groß, und der Selbstmord kann daher aus dem Wahnsinne nicht erklärt werden. Denken wir uns den Wahnsinn als ein Aufhören des Willens. Aus eigentlich sittlichen Prinzipien können wir es uns niemals erklären, sein Leben selbst nicht mehr zu wollen. Immer giebt es eine Art, wie der Mensch der Selbstvernichtung entgehen kann. Der Selbstmord also kann nur in solchen Fällen erfolgen, wo die Stärke des Willens zu einer gänzlichen Umkehrung des Lebens nicht da ist. Will Einer das bisherige Leben nicht mehr und hat auch den starken Willen zur Umkehr nicht mehr, so befindet sich Einer in nichts Anderem als in der Furcht vor dem Wahnsinn; denn den einen Willen hat | er nicht mehr, den andern kann er nicht ergreifen, und so läßt sich der Selbstmord immer noch am deutlichsten erklären. Daher begnadigte Missethäter häufig Selbstmörder oder wahnsinnig werden, welches Letztere auch oft nach beabsichtigtem Selbstmorde folgt. Aber wenn wir nun zurückgehn, und dies auf den natürlichen Tod übertragen wollen, so fehlt uns da das 13–14 Zusatz Göttinger Nachschrift, Bl. 101v: „dabei aber ein unverringertes Bewußtsein der Principien aller Seelenthätigkeiten,“

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eine Moment und das andere ist umgekehrt. Im hohen Alter ist gerade die Erscheinung das Zurücktretende, das Nichtwollen wäre da ein umgekehrtes Nichtwollen. Wir können uns da ein Wollen der Seele denken, aus dem Gebiet der Erscheinung auszuscheiden, aber das andere Moment fehlt ganz. Der rein natürliche Tod könnte dann als eine That der Seele, nicht als ein Wissen der Seele angesehn werden, als eine ganz unbewußte That. Eine Analogie haben wir in dem Schlafe des Menschen. Das Leben des foetus erscheint auch nur als ein vegetatives Leben, als ein Schlafleben. Die willkührlichen Bewegungen, die wir vollziehn im Schlaf sind schon der Uebergang zum Wachen; das reine Schlafen ist nur in dem vegetativen Leben. Erst mit der Geburt geht der reine Gegensatz zwischen Schlafen und Wachen an. Das Verhältniß der Seele im Schlaf ist offenbar ein Versenktsein der Seele in den vegetativen Prozeß. Im Traume hören freilich die geistigen Thätigkeiten nicht auf, allein die Zeit verschwindet uns darin, und wir können daher nicht bestimmen, ob er nicht der bloße Übergang ist zwischen der gänzlichen Ruhe der Seelenthätigkeiten und dem Wachen. Bestimmte Beobachtungen können wir da|rüber nicht anstellen. Wir können aber doch fragen, wo die Seele denn nun eben in diesem Übergange des Traumes sei. Das Nichtwissen um den Traum beweist noch nichts gegen das Nichtträumen. Es fragt sich, wie wir dann nun überhaupt die Seelenthätigkeiten in Träumen anzusehn haben. Es findet sich auf der einen Seite die Analogie mit dem chaotischen Spiel von Vorstellungen, welches den Geist auch im Wachen so oft begleitet; jene gesetzlosen, bewußtlosen Vorstellungen QsollenR nur im hintersten Hintergrunde ihr Wesen treiben, und nur in einzelnen Augenblicken von dem Lichte des Selbstbewußtseins durchdrungen werden. Diese haben wir gesehn, sind der Keim des Wahnsinnes.

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Diesen verworrenen Gemüthszuständen also nähert sich der Traum am meisten. Im Schlafe ist es gerade umgekehrt wie im Wachen. Menschen, die in einer sehr starken, bewußten Anstrengung leben, träumen am wenigsten, oder werden sich ihrer Träume am wenigsten bewußt. Das Flattern des Traumes ist das Angränzen an den sanguinischen Wahnsinn. Von diesem Gesichtspunkt erscheint uns also der 29–34 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 101r: „Auf der einen Seite findet sich der Traum in Analogie mit den verworrensten Gemüthszuständen, auf der anderen mit den ausgezeichnetsten. Die verworrenen Gemüthszustände haben wir aber in Analogie mit dem Wahnsinn gefunden. Es ist sehr natürlich, daß wenn die Außenwelt geschlossen ist, und

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Traum als ein verminderter Zustand der Persönlichkeit der Seele. Alle Träume nun erklären zu wollen aus der Reminiscenz, ist wohl nicht möglich. Die gewollte Seelenthätigkeit ist ja im Traume gerade die zurücktretende. Den ganzen Umfang der chaotischen Produktion können wir nicht übersehn, wenn wir allein auf das Wachen sehn. | Der hervortretende vegetative Lebensprozeß hat hier einen großen Einfluß. Die inneren organischen Zustände sind gleichsam die Außenwelt für das Bewußtsein. Kleine körperliche Veränderungen bringen gleich Träume hervor. Es giebt also im Schlafe neue Anknüpfungspunkte für das spielende Bewußtsein. Wie weit hiermit die großen Veränderungen in dem allgemeinen psychischen Bewußtsein zusammenhängen, können wir nicht ergründen. Es kann aber im Traume etwas entstehen, was mit den tiefsten allgemeinen Naturgesetzen zusammenhängt. Daher das Ahnungsreiche im Traume. Dies scheint aber nun nicht als verminderte sondern als erhöhte Persönlichkeit. Allein der Widerspruch ist nur scheinbar; denn die Seele produzirt nicht, es wird nur in ihr produzirt. – Nicht selten kommt in der Seelenthätigkeit des Schlafes eine erhöhte Thätigkeit einzelner Funktionen des Geistes vor. Die Seele geht doch auch im Traume auf gewollte Thätigkeit zurück, und bringt hervor, was sie im Wachen nicht konnte. Hierzu gehört auch die erhöhte körperliche Thätigkeit der Nachtwandler, welche Bewegungen im Traume vornehmen, die sie im Wachen nicht vornehmen können. Dies ist der Traum in seiner Krankheit, wenn die gewollte Thätigkeit darin hervorbricht. Es gilt dies von den leiblichen wie von den geistigen Thätigkeiten. Die Produktionen sind so gleichsam wider den Willen. Ob das Krankhafte mehr ein physisches oder psychisches ist, mögte | aber wohl schwer zu entscheiden sein. – Das Resultat aus dem allen ist nun, daß wir die verminderte Seelenthätigkeit im Schlafe auch ansehn müssen als ein Hervortreten des allgemeinen Lebens. Hieran schließen sich noch die Thätigkeiten des geleiteten Schlafes, oder des magnetischen. Wir haben es nur zu thun mit der Beschaffender Zusammenhang das willkührliche Hinausgehen des Geistes nach aussen, so ist jenem inneren Spiel ganz freier Lauf gelassen. Im Traum stehen diese Thätigkeiten also in einem doppelten Verhältniß; im Wachen nur im einzelnen je mehr hier die zweckmäßige Thätigkeit hervor tritt. Im Schlaf muß die gewollte Thätigkeit zurück getreten sein, je mehr die verworrene hervor getreten ist. Je leichter der reproductive Process von statten geht, je weniger wird dieses Spiel gestört, je mehr die Seele aber von reproductiver Thätigkeit den Tag über hat anwenden müssen, je mehr ist dieses Spiel gestört. Das an Wahnsinn Gränzende des Traumes giebt sich zu erkennen an der Inconstanz der Gegenstände; dieß ist das an den sanguinischen Wahnsinn Gränzende des Traumes. Sehr selten ist die Constanz des Traumes.“ 30–31 Der magnetische Schlaf gleicht einem Hypnose- oder Trancezustand, der durch das Handauflegen eines Magnetiseurs erzeugt wird. Kenntnisse über die Methode des magnetischen Schlafes bezog Schleiermacher aus Wolfart (1816) [SB 2160], sowie aus Brandis (1818) [SB 337].

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heit der Seelenthätigkeit in demselben. Die Aussagen der Schlafenden über ihren körperlichen Zustand sind nichts Anderes als die erhöhte Aperzeption des Organismus, wovon wir die Analogie schon im gewöhnlichen Traume haben. Anders ist es nun schon mit der Angabe der Heilmittel. Vergangenheit und Zukunft gehn im Traume zusammen, wie wir gesehn haben. Begebenheiten von ganzen Zeiträumen treten in einem Augenblick zusammen. In der Zeitlosigkeit ist nichts Anderes als das Zurücktreten des Gewollten. Es haben sich nun aber nicht allein Witterungsvorhersagungen, Vorhersagungen von Naturerscheinungen gefunden, sondern auch von geschichtlichen Begebenheiten. –

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Es giebt ein über das persönliche sich erhebendes allgemeines Bewußtsein, aus dem alle jene Erscheinungen sich müssen begreifen lassen. Wie es mit dem Gedächtnisse ist, so ist es auch mit dem Ahnungsvermögen; in der Gegenwart liegt die Vergangenheit und die Zukunft, und wir sollten uns weniger darüber wundern, daß uns manches ahnt, als vielmehr darüber, daß uns nicht alles ahnt. Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet, der Prophet ein vorwärts gekehrter Historiker. Das Ahnungsvermögen kann sich auch auf die | persönliche Wahlverwandschaft Einzelner erstrecken, was in der Mitte steht zwischen dem persönlichen und Gemeinbewußtsein. – Die Erregung des magnetischen Schlafs setzt immer eine Art von Krankheitszustand voraus. Wir müssen immer die Analogie mit dem gewöhnlichen Schlafe behalten. Da haben wir auch ein Sprechen; man kann selbst Personen, die im Schlafe sind zu einem Gespräche bringen. So wie ein Sprechen da ist, ist auch ein gewisses Erregtsein der Gehörwerkzeuge da, denn der innere Zusammenhang zwischen beiden ist so groß, daß wir selbst bei dem innern Sprechen immer auch auf eine gewisse Weise hören. Der Magnetiseur und Magnetisirte stehn in einem gewissen organischen Zusammenhang, wozu wir aber auch schon die Analogie haben; denn es ist allgemein bekannt, daß man einem Schlafenden seine Geheimnisse solle ablocken können, wenn man ihn an einem Theile berührt, der der Berührung sonst nicht gewohnt ist, und ihn dann befragt. Weiter kann man wohl jetzt in die Sache noch nicht eindringen; wir kehren auf den Punkt zurück, von wo wir ausgegangen waren. Wir waren davon ausgegangen, daß die Annäherung an den Tod doch ein steigendes Mißverhältniß sei zwischen den einzelnen 1 der] des

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Prinzipien und der einzelnen Wirksamkeit. Das Gefühl der Lebenssattigkeit dabei ist nichts Anderes als das Zufriedensein mit dem Aufhören der persönlichen Wechselwirkung zwischen dem persönlichen und Gemeinbewußtsein. Wir können daher eine Einwilligung von Seiten des Gemeinbewußtseins uns vorstellen; es ist eine allgemeine Beobachtung, daß das Nichtsterbenwollen den Moment des Todes bedeutend hinaussetzen kann, und der Moment selbst erscheint dann doch nur als der überwundene Wille, als das Aufgeben der psychischen Reaktion. Der | Mensch stirbt, weil er will. Haben wir nun nöthig zu sagen, daß dies nun das Aufhören der psychischen Thätigkeit überhaupt sei? Der Tod ist das Zurückgehn der Persönlichkeit in das reine allgemeine psychische Leben, wie sich dies in dem persönlichen Zustande in dem Gemeinbewußtsein zeigt. Sagt man, das einzelne Leben wird dabei doch ganz vernichtet, so ist dies nur wahr, wenn man von der ursprünglichen Einerleiheit alles einzelnen Lebens ausgeht. Nicht wahr ist es von dem Gesichtspunkt aus, daß in jedem einzelnen Leben etwas ursprünglich Eigenthümliches sei. Wir haben keine vollkommene Identität des Bewußtseins, weil wir kein vollkommenes Gedächtniß haben. Die Identität des Lebens hängt nur an der Identität des Typus. Dadurch nur schlagen wir die Brücke von dem Vergessenen zu dem Gegenwärtigen. Wenn Einer einen vergessenen Moment unseres Lebens uns zurückruft, so glauben wir ihm nur, wenn wir in dem Moment die Identität mit unserm Typus finden. Dieser Typus bleibt nun bei dem Zurücktreten in das allgemeine Leben als die Möglichkeit sich zu reproduziren. Die menschliche Natur manifestirt sich in dem Dasein der Einzelnen als eine lebendige Kraft. Das Entstehn und Vergehn des Lebens ist nichts als eine beständige Oscillation, in der Reproduktion wird die Identität des verschwundenen Typus wiederhergestellt. –

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Einen Cyklus von eigenthümlichen Lebenseinheiten haben wir an einem Volke. In der Aufeinanderfolge eines Volks reproduziren sich dieselben Einheiten. Doch dies genügt der Aufgabe nicht, denn theils sind die Einzelnen nicht wiederzuerkennen, theils stößt | man auf bedeutende Verschiedenheiten, wenn man entfernte Generationen mit einander vergleicht. Wenn man auch die Volksthümlichkeit wiedererkennt, so erkennt man doch die persönliche Eigenthümlichkeit nicht wieder. Allein dies würde gegen den Satz noch nichts beweisen, denn es liegt eine gewisse Nothwendigkeit darin, daß ein solcher Cyklus sich bilde, wie wir es an den untergeordneten Arten und Gattungen

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in der Natur sehn. Dem Menschen aber schreiben wir vor allen Anderen eine sich selbst produzirende Eigenthümlichkeit zu. Allein jene Bestimmung selbst ist keine feste, die Völker entstehn und vergehn, dauern nicht mit der menschlichen Gattung; sie vermischen sich, verändern ihren eigenthümlichen Karakter. Wenn dies nicht wäre, so würde aus unserer aufgestellten Ansicht vom Tode folgen, daß jedes Volk eine lebendige, sich selbst reproduzirende Kraft [wäre], deren Leben darin bestände, das einzelne Leben hervorzubringen kraft der Duplizität der Geschlechter; in dem Prozesse aber durchliefe es zugleich seine Bildungsbahn, sie möge nun länger oder kürzer sein. Würde dies nun den Forderungen entsprechen, die wir an ein einzelnes Leben machen? Man nennt dies Palingenesie. Wenn wir von einem Volke weiter aufsteigen, so würden wir bei nichts Anderem stehnbleiben können, als bei den Menschenracen, wobei wir fragen, in wiefern diese mit einander verwandt sind. Die Vorstellung von einem gemeinsamen Urgeschlechte hat die Autorität der heiligen Urkunde für sich, hat aber dessen ungeachtet die | andere Hypothese nicht überwinden können, so daß diese eben deshalb gewiß gleich stark ist. Entscheiden kann man nicht zwischen beiden. In die Vergangenheit können wir dabei nicht zurückgehn; es giebt weder geschichtliche noch andere Denkmäler davon. Die Ansicht von dem künftigen Verhältnisse kann auch nur hergenommen sein aus dem ersten. Wir sehn die Racen getheilt, unabhängig vom Klima. Hier ist eine durch das Äußere nicht zerstörbare Reproduktionskraft der verschiedenen Typen. Allein die Racen sind unter sich vermischbar. Dies giebt Mittelschläge, und wir sehn dadurch die Naturgränze in einem unbestimmten Grade durchbrechbar und zwar durch das höchste intellektuelle Prinzip, welches eine absolute Gemeinschaft aller Menschen postulirt. Am stärksten spricht sich dies aus auf dem religiösen Gebiet. Die alten Religionsformen sind Staatsreligionen in den großen monotheistischen Formen finden wir keine Anerkenntniß einer Naturgränze. Dasselbe Prinzip manifestirt sich auch auf dem Gebiete des Naturbeherrschungsprozesses. Hier finden wir dieselbe Differenz; so wie eine gewisse Stufe der Bildung erreicht ist, finden wir in jedem Volke einen kosmopolitischen Karakter, der sich zeigt in Handel und Schifffahrt. Damit verschwindet aber immer in einem gewissen Grade das eigenthümlich nationale Interesse. Derselbe Karakter manifestirt sich auch auf dem Gebiete des Erkennens. Die Absonderung beruht hier auf der Einheit, die durch Sprache herbeigeführt wird. Die wahre Energie des Denkens haftet nun an der Eigenthümlichkeit der Muttersprache. 12 einzelnes] einzelnen 15–17 1 Mos 1,26–27

12 Palingenesie] Palingennesie

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Hier haftet der eigenthümliche Karakter sehr fest; allein das Streben nach Allgemeinheit manifestirt sich in dem Streben die Sprachen in einander aufzulösen. In dem geschichtlichen Interesse der wissenschaftlichen Mittheilung verschwindet das volkliche Interesse. Dies ist nichts Anderes als das Bestreben, die menschliche Gattung zum vollständigen Selbstbewußtsein zu bringen. Das sich selbst Erkennen des Menschen ist nur in dieser absoluten Gemeinschaft; nur darin erwacht das Selbstbewußtsein der Menschheit. Wenn wir nun auf das Abgesonderte der Menschenracen sehn, so fragt es sich noch, wie sich diese in Beziehung auf jenes Streben verhalten. –

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Die menschliche Natur selbst scheint in zwei verschiedenen Modifikationen vorhanden zu sein, allein dennoch hat man wohl kein Recht, eine solche potenzielle Verschiedenheit anzunehmen. Um genauere Ansichten von den anderen Menschenracen zu erhalten, müssen wir erst noch genauer in ihr ganzes Leben eindringen. Einige tragen mehr den Karakter der Unschuld, andere mehr den der Rohheit an sich; allein es ist offenbar, daß aus beiden ein Übergang in das geschichtliche Leben sich wohl denken lasse. Unmöglich können wir es ableugnen, daß eine Zeit kommen könne und wahrscheinlich kommen werde, wo jene untergeordneten Racen mit in das geschichtliche Leben hineingezogen werden, wenngleich sie auch da vielleicht eine untergeordnete Stufe einnehmen werden. | Eine spezifische Differenz haben wir nicht Ursach zu suchen, wenngleich es ein psychisches Räthsel bleibt, wie eine solche Verschiedenheit habe entstehn können. Es ist hierbei von gar keiner bedeutenden Richtigkeit, ob man eine Abstammung von einem einzelnen oder von mehreren Menschenpaaren annimmt. Denn im letzten Falle bleibt wieder schwer zu erklären, wie das Bewußtsein der Identität auch bei dem rohesten Zustande immer bleibt. Stammen alle Menschen von einem ursprünglichen Geschlechte ab, so haben wir erst ein Auseinandergehn bis konstante Differenzen sich fixirt haben; dann aber nicht allein die Aussicht, sondern auch den Anfang schon, wo das allgemeine Bildungsprinzip nach außen und nach innen alle zu ergreifen anfängt. Der Ausgang kann nur ein glücklicher sein, auch wenn wir die Zeit noch ins Unendliche hinausschieben müßten. – Denken wir uns dies Ende, so muß die menschliche intelligente Natur dann vollendet sein, und die menschliche Seele muß dabei zu einem immer genaueren Bewußtsein der Erde selbst gelangen. Auf diese Weise sind wir wieder zurückgetrieben von 36 sein] seit

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unserer Frage über das einzelne Leben. Denken wir uns aber jenen Fortschritt von der Intelligenz, so können wir nicht umhin eine andere Frage über die Geschichte der Erde mit anzuknüpfen. Daß sie ihre Geschichte habe liegt jetzt klar vor Augen; rein natürliche Revolutionen sehn wir immer nur als Zwischenspiele eintreten. Die Physiker haben vornehmlich Ursach, zu vermuthen, daß die Erde in einen solchen Zustand gelangen werde, wo sie nicht mehr fähig sein wird, die lebendige Organisation zu produziren | und zu erhalten. Die Möglichkeit der Sache ist nicht zu leugnen; die Erde selbst steht in der Analogie mit allem vergänglich Geschaffenen, und jeden Weltkörper müssen wir uns ebenso denken. Dann kommen wir mit der ganzen menschlichen Natur auf denselben Zustand, den der Tod bei dem Einzelnen uns zeigt. Können wir uns nun diesen Tod der Intelligenz der Erde, (der Menschheit,) wie den Tod der Seele mit dem Tode des Körpers denken? Vernichtung dieser allgemeinen Intelligenz können wir uns noch viel weniger als in dem Einzelnen denken. Da können wir auch nur auf einen solchen mittleren Terminus kommen, und sagen, es sei dies nichts Anderes als das Zurückgezogenwerden in die Allgemeinheit der intelligenten Natur, die ebenso in der Oscilation begriffen ist. Der einzelne Leib ist für die einzelne Seele nur ein Durchgangspunkt, ebenso die Erde für die menschliche Intelligenz. Allein wir haben deshalb eben so wenig Ursach zu behaupten, daß die Form des menschlichen Geistes mit der Erde entstanden sei, als, daß dieselbe mit der Erde verschwinde. Die Erde selbst ist abhängig von dem Planetensystem, also auch ein beschränkter Körper. Alle lebenden Erscheinungen sind abhängig von dem Verhältnisse zum Sinne. Wenn nun die Erde uns also auch nur ein solches relativ selbstständiges Wesen darstellt, warum soll es Geist sein? So kommen wir darauf zurück, daß die Erde für den Geist nur ein Durchgangspunkt ist. – Offenbar können wir nicht sagen, daß dies eine Auflösung sei | von den Räthseln unseres eigenen Daseins; sie spricht uns die Gränzen aus, in welche das Bewußtsein eingeschlossen ist, abgesehn von dem Interesse einer kleinlichen Persönlichkeit. Wir können dadurch nur das innere Vertrauen des Lebens erhöhen, und kehren so von den äußersten Gränzen des Lebens mit neuer Regsamkeit zurück in das Innere desselben. Alle Räthsel aber stehn in genauer Verwandschaft mit einander, und von jedem Punkte aus werden wir zurückgetrieben auf die Gränzen. Allein nur in Verbindung mit der Wissenschaft liegt etwas Höheres und Tieferes darin. – Mögen diese Vorträge beigetragen haben, wie groß das Feld der Forschung in diesen Gebieten noch ist. – 40 Vgl. Göttinger Nachschrift, Bl. 103v: Geschlossen d. 24ten August 1821 Morgens 6¾ Uhr.

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Die Vorlesung im Sommersemester 1830 Nachschrift Sickel

Aufzeichnungen zur 1. Stunde der Vorlesung im Sommer 1830. Nachschrift Sickel, Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Signatur Yi 17i, S. 1

Psychologie von Fr. Schleiermacher. Sommer 1830. |

Einleitung.

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Bei wissenschaftlicher Untersuchung muß man 2erlei betrachten 1, den Gegenstand 2, die Art und Weise, wie man den Gegenstand hat oder erlangen will. Fehlt die eine dieser Verständigungen, so kann man sich vieler bekannter Ausdrücke nicht bedienen, ohne zu wissen, ob man dasselbe auch darunter denkt oder nicht, ob man auf ein gleiches Ziele will oder nicht. Bei unserer Untersuchung sind daher folgende Fragen zu beantworten 1, Was verstehen wir unter Seele? 2, auf welche Art, wollen wir von derselben etwas wissen, und wie glauben wir es wissen zu können? Wüßten wir, was die Seele wäre, so könnten wir vielleicht schon sicher sagen auf welche Weise wir etwas wüßten und wissen könnten und auch umgekehrt, wenn wir von der Art und Weise etwas wüßten könnten wir sagen, was die Seele sei. Freilich ist der Ausdruck ein solcher, der uns täglich durch den Mund geht; aber will man die Seele wirklich ergreifen, so ist die Schwierigkeit fast unauflöslich: man hängt von Anfang an mit der andern Frage zusammen und [es] scheint fast immer ein Zirkel zu sein. Denn so wie wir die Seele erklären bringen wir sie in eine gewisse Klasse. Der Gegenstand muß entweder mit andern zusammengefügt oder von andern gesondert werden. Wir können somit eben anfangen mit der Zusammensetzung, daß gegenüber nur das nichts bleibt. Desto zahlreicher sind dann die andern Stufen welche wir zu machen haben, um den Gegenstand zu bestimmen. Es bleibt aber immer die Frage, ob ich nicht zu viel abgesondert habe oder zu wenig. Wir bilden uns ein, wir hätten schon etwas in der Seelenbeschreibung gethan; aber auf diesem Punkte, könnten wir auch denken nur menschliche Seelen könnten in der Erklärung enthalten seien. Hier ist schon zweifelhaft, ob wir etwas Anderes aufnehmen wollen oder nicht; wo nicht, so wäre es leicht 9 bekannter] bekannten 31–2 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 2: „Wenn wir uns entschließen, nichts anderes aufzunehmen, so könnte es sein, daß wir eine solche Erklärung machten, wodurch eine wahnsinnige Seele ausgeschlossen würde: dann wären wir zu weit gegangen. Die Operation wird leicht, wenn der Gegenstand ein solcher ist, den man aufzeigen kann, ein äußerlich wahrnehmbarer.“

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möglich eine Erklärung gestellt zu haben, um die menschliche Seele recht genau zu scheiden. | Durch Erfahrung ist die Seele nicht gegeben; also müssen wir uns nun darauf verlassen, daß es ein Innerliches gebe, wovon wir aber auch müßten voraussetzen können, daß es dem Einem dasselbe wäre, was dem Andern. Giebt es so etwas, so haben wir einen Anfangspunkt, und es würde sich fragen, wie weit uns derselbe führen könne. Hier stoßen wir auf etwas, das leicht einen Anfangspunkt darbietet, nämlich Ich; wir sagen nicht das Ich, denn der Artikel giebt dem Ausdrucke eine solche nähere Bestimmung, über die wir uns schwer erklären könnten. So viel ist gewiß, wo dieses gar nicht vorkommt, da haben wir keine Gewißheit, ob die Seele vorhanden ist; aber wo dies ist, da glauben wir auch eine Seele [zu haben]. Der äußerlich wahrnehmbare Anfang ist der Mensch. Aber wie verhält sich die Seele zum Menschen? Die Frage beantwortet sich sehr leicht, aber ob diese Antwort der Anfangspunkt der wissenschaftlichen Untersuchung sein dürfe, ist eine andere Frage. Die Antwort ist nämlich: der Mensch besteht aus Leib und Seele. Ist diese Antwort genommen aus einer wissenschaftlichen Untersuchung, oder aus etwas vor dieser Untersuchung, aus der Erfahrung? Im ersten Falle, darf sie nicht der Anfangspunkt sein, weil dann unsere Untersuchung nicht von vorn anfinge; ist sie aus dem gemeinen Leben hat es keine Schwierigkeit hier anzufangen. Das mag paradox scheinen, ist aber doch in der That so. Nämlich fangen wir mit einem wissenschaftlichen Satze an, so müssen wir ihn voraussetzen, weil es allgemeine Erfahrung ist, daß es über diesen Gegenstand verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen geben kann. Also geben wir uns einem gefangen und sind partheiisch gegen die andern. Wollten wir dagegen einen Satz aus dem gemeinen Leben an die Spitze stellen, wäre es mißlich, aber nur insofern wir ein bestimmtes gemeines Leben hätten, denn dann könnten unsere Worte keinen Werth haben über diesen Kreis hinaus; ist der Satz aber allgemein, dürfen wir ihn immer an die Spitze stellen, indem es etwas wäre, worüber man allgemein verständigt ist. Nun sieht man leicht, wie diese Frage uns in das Gebiet der Sprache führt. Leib und Seele sind Ausdruck einer bestimmten Sprache; wenn jeder Deutsche von diesen dasselbe denkt, haben wir einen Anfang für unsere Untersuchungen[.] Gehen wir in der Geschichte zurück, so zeigt sich, muß diese Behauptung sich gewiß nicht feststellen lassen. Die erste wissenschaftliche Untersuchung war ohnstreitig in Griechenland. Hier finden wir die Ausdrücke ψυχη und σωμα. Wir sehen vorläufig davon ab, daß σωμα Gebrauchsweisen hat, die bei unserm [Wort] Leibe gar nicht vorkommen. So wie man von dem Satze ausgeht, der Mensch besteht aus Leib und Seele, so muß in dem Menschen Einiges | sein, was entweder ganz dem Leibe oder ganz der Seele zuzuschreiben ist,

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oder wenn dies nicht ist, doch wenigstens überwiegend dem Leibe und weniger der Seele oder umgekehrt. Auch das wäre eine Theilung. Fragen wir nun, was wir der Seele zuschreiben und was die Griechen, so kommen wir auf viele entsprechende Punkte und ebenso in Bezug auf den Leib. Die Griechen schreiben den Ernährungsprozeß der Seele zu und sehen ihn als die erste Funktion der Seele an. Dies würde uns nie einfallen, die Ernährung als Seelenthätigkeit anzusehen. Also schon im Anfang gerathen wir in Connflikt, so daß wir entweder die Beziehungsweise aufgeben müssen oder bestimmen, auf welche Seite wir uns schlagen wollen. Nehmen wir noch das Verbum in jenem Satze dazu und fragen, was verstehen wir unter Bestehen? so führt uns das auf den Begriff des Mannigfaltigen zurück, das in Einem zusammengefaßt ist. Wir denken hier Leib für sich und Seele für sich und wird aus ihnen Eins, so entsteht der Mensch. Der Ausdruck Leib führt auf den Begriff des Organismus und dieser ist viel weiter als der Begriff Mensch. Es knüpft sich also gleich die Frage an: wo wir organische Wesen sehen, welche wir unter den Begriff Leib zu bringen hätten, haben wir auch hier Ursache, Seele vorauszusetzen? Bejahet man die Frage, so bekommt man menschlich und thierisch Leib und Seele. Aber sagt man nun, Organismus findet man auch bei Pflanzen, so sagt doch unsere Sprache auf die Frage, ob auch diese Seele haben, Nein. Denken wir aber, die Griechen wären ebenso zu Werke gegangen, der Ernährungsprozeß geht auch in den Pflanzen vor und also müßten sie diesen auch Seele zuschreiben. So erhalten wir eine Abstufung von Seele und zwar eine 3fache: Pflanzenseele, Thierseele, Menschenseele aber nicht so in unserer Sprache. Aber woher ist denn wohl dieser Satz, aus dem wissenschaftlichen oder gemeinen Leben? Die Frage hat nicht mehr diese Bedeutung; denn jedenfalls ist er aus keiner allgemein gültigen wissenschaftlichen Untersuchung. Ein Sprachgebrauch wird nur durch wissenschaftliche Untersuchung gebildet, ein anderer nur durch das gemeine Leben; aber es giebt auch einen gemischten und dieser ist der größte und so haben sie beide auf einander Einfluß. Unser Satz wird nun wohl diesem gemischten angehören; aber nun wissen wir wieder nicht, ob eine Übereinstimmung vorhanden ist, ob er sich bezieht auf das wissenschaftliche Gebiet oder das Gebiet des gemeinen Lebens. | Wir können also jenen Satz nicht zum Grunde unserer Betrachtung legen, weil die Ausdrücke unbestimmt werden. Die Seele ist kein äußerlicher Gegenstand: daher die Verschiedenheit in der Sprache. Das Innere aber ist weil es ein Inneres ist, jedem für sich selbst gegeben und es giebt nur ein sich selbst beachten. So wie wir nun denken, daß nicht nur die Möglichkeit gegeben sei, so ist das Maaß und die Klarheit des Selbstbewußtseins abhängig von dem Interesse des Subjekts an dieser

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Thätigkeit. Kein Subjekt ist ohne Interesse, also überall; aber jemehr er alle seine Kräfte anwenden muß, um sich das Bedürfniß zu verschaffen, um feindselige Potenzen abzuwenden, desto weniger kommt er zu diesem Insichzurückgehen und ebenso je mehr er durch andere Gemüthsstimmungen abgezogen wird nach Außen und umgekehrt; aber es kann durchaus nirgends Null sein und nirgends ganz isolirt, sondern muß mit allen Richtungen des Menschen sich wieder verbinden. Daher die unendliche Mannigfaltigkeit in der Art, wie diese ganze Seite bei dem Menschen erscheint. Unsere obige Formel erscheint allgemein gültig: der Mensch besteht aus Leib und Seele aber wie ist die Art des Verhältnisses in diesem Sinne? Wo wir von einem solchen Bestehen aus etwas reden, da denken wir uns, daß diese Elemente auch für sich bestehen können. Unter dem Ausdruck Seele läßt sich nichts denken, kein Bild, keine Abstraktion, ohne auf den Leib dabei zurückzugehen. Ebenso hört der Begriff Leib ohne Seele auf. Ebenso verbinden wir den Ausdruck Organismus nur mit Leib, wie Seele da ist; nicht bei Thieren, nicht bei Pflanzen. Die Formel, auf diese Weise in Anwendung gebracht ist nicht haltbar. So müßte denn wohl dies Bestehen in einem andern Sinn gemeint sein. Das Leben des Menschen ist das Zusammensein von Leib und Seele, das aufeinander wirken von Leib und Seele; der Tod das nicht mehr Zusammensein, das nicht mehr aufeinander wirken. Dies knüpft sich nun an jene Formel, und wo ist nun die Seele? Darüber giebt es viele Antworten, die aber alle nur willkürliche Annahmen sind, anders ist es mit dem Leib, denn wenn der Tod eingetreten ist, dann hört die Lebensthätigkeit auf. Wann kommt die Seele zum Leibe? Auch hier giebt es willkürliche Annahmen. Nehmen wir eine dieser Annahmen von der Art über das Kommen und Gehen der Seele z. B. als Ausgangspunkt an, so trägt die Untersuchung über den Zusammenhang beider die Farbe jener Annahme. Die Fragen über vor und nachher sind ausgeschlossen von dieser Untersuchung. Im Ich ist der Gegensatz zwischen Seele und Leib aufgehoben. Wenn nun Jemand sagen wollte in dem Bestehen des Menschen aus Leib und Seele liege, daß das Ich schon vor Leib und Seele da war, so wird | das Niemand zugeben. Das Ich hat angefangen zu sein und doch kann er sagen „meine Seele war vorher“. 35–36 Zusatz SW III/6, S. 8–9: „und dasselbe gilt auch nach der andern Seite hin. Wir werden uns also in den Grenzen zu halten haben, daß wir sagen, wir haben keinen Grund, irgend etwas von der Seele auszusagen, was sich gar nicht auf das Zusammensein derselben mit dem Leib bezieht, wie es das Ich constituirt. Daraus folgt dann sogleich noch die andere Beschränkung, daß wir über die menschliche Seele nicht hinausgehen wollen, weil Ich uns nicht anders als im Menschen gegeben ist, so daß wir alles über das menschliche hinausliegende als ein unbekanntes stehen lassen, aber uns auch bescheiden, daß, wenn ein solches wirklich ausgemittelt würde, eine neue Unter-

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Durch die Construktion des Ich scheint nun ein Negatives, ein Gegensatz herauszukommen, so daß die Seele etwas Leidendes wäre. Es giebt bekanntlich 2 metaphysische Auffassungsweisen, die den Gegensatz aufzuheben zum Zweck haben, der Materialismus und Spiritualismus. Jener behauptet, daß alle Zustände des Menschen mit der Materie verbunden und sogar in ihr gegründet sind. Offenbar eine hypothetische Annahme, denn der Zusammenhang zwischen geistiger Thätigkeit und materiellem Zustand ist nicht so gegeben, daß der eine den andern begründe, sondern nur bedingt. Der Spiritualismus z. B. die Leibnitzsche Monadologie sagt auch die Materie sei Zusammenhang aus Geistigem. So ist der Gegensatz aufgehoben, Alles ist geistige Monas. – – Wenn man einmal auf diese Weise getheilt hat, der Mensch besteht aus Leib und Seele so giebt es noch eine Theilung in Leib, Seele, Geist. Sie ist nicht neu, sondern schon bei den Griechen. ψυχη, νους. Wie der Mensch aus Leib und Seele besteht, so die Seele aus Sinnlichkeit und Vernunft. Aber da haben wir wieder ein Bestehen und es fällt der Schein darauf, als ob die Sinnlichkeit und Vernunft suchung anzuknüpfen sei, inwiefern sich das, was wir von der menschlichen Seele ausgesagt haben, auch auf das Weitergehende anwenden lasse. Vorläufig abstrahiren wir davon. Das ist aber keinesweges etwas leichtes, und ich sage im Voraus, daß ich es nicht so unbedingt werde halten können, als ich es hingestellt habe, daher ich die Beschränkung noch näher bestimmen muß. Wir haben nämlich im gemeinen Leben eine große Menge von Formeln, die darauf ausgehen, daß der Mensch Vergleichungspunkte sezt zwischen dem menschlichen und thierischen, nach denen das Vorhandensein einer Seele außer der menschlichen feststeht. Alle Behauptungen daher, die das gänzlich aufheben wollten, | indem sie das thierische Sein so bestimmten, daß alles seelische in ihm geleugnet würde, mußten mit der gemeinen Sprache in Widerspruch stehen. Obgleich nun allerdings die Ansichten der Schule, wenn sie sich bewährten, allmälig jene falschen Ausdrükke des gemeinen Lebens verdrängen würden, so ist dies doch bis jezt noch nicht geschehen, sondern die Formeln haben sich im Gebrauche der Sprache erhalten. Dasselbe ist nun der Fall mit dem Ausdrukk „vernünftige Seele“, welcher den Gegensaz einer unvernünftigen voraussezt, worunter in diesem Fall nur die thierische gemeint sein kann, nicht etwa die thörichte, wahnsinnige menschliche Seele, denn das sind nur abnorme Zustände der vernünftigen Seele. Ist nun dies aber so wichtig, so werden wir uns solcher Vergleichungen nicht enthalten können, aber nur um das menschliche in seiner Eigenthümlichkeit recht festzustellen und nicht um das thierische für sich zu bestimmen.“ 9–10 Vgl. den Briefwechsel zwischen Leibniz und Nicolas Remond in: Leibniz: Opera Omnia 2,20–31 [SB 1126]; Die philosophischen Schriften 3,618– 621 sowie Leibniz (2014). Zu Schleiermachers Auseinandersetzung mit Leibniz siehe ebenso: KGA I/2, S. 75–104 11–12 Zusatz SW III/6, S. 10: „indem in den Monaden nur geistiges gesezt und alles leibliche nur als Zustände desselben angesehen wird. Das eine ist ebenso willkürlich angenommen, wie das andre, und um eins von beiden anzunehmen oder in Beziehung auf beide eine irgendwie in der Mitte stehende Hypothese aufzustellen, müßten wir schon vieles andere entschieden haben. Darum habe ich diese Maxime für unsre Untersuchung aufgestellt, damit wir nicht genöthigt sein möchten, schon im voraus eine bestimmte Annahme zu unterschreiben, über welche erst die spätere Untersuchung bestimmen kann.“

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sich zur Seele verhalten, wie Leib und Seele zum Menschen. Bei dieser reinen Duplizität läßt sich noch besser auskommen, als bei der Theilung in Vermögen, wo das Ich verloren geht. Denn wenn man jene Formel aufstellt, so giebt es eigentlich kein Subjekt mehr, sondern nur einzelne vorherrschende Vermögen, die dann immer als Subjekt gesetzt werden. Das Ich ist nur das Resultat von dem Connflikt aller dieser Vermögen. – Alle Formeln sollen sich auf das Ich reduziren lassen und mit der Einheit von Leib und Seele soll auch die Einheit der Vermögen gegeben sein. Indem wir aber diese Maxime aufstellen, wollen wir nur die menschliche Seele betrachten und zwar nur als etwas in dieser Identität von Seele und Leib. – Wir müssen hier wieder von 2 Wörtern ausgehen, Erkennen und Wissen. Gewöhnlich nimmt man dieses als Eins und hinterher theilt man sie auf sehr verschiedene Weise. Es giebt hier ein Allgemeines, aber verschieden modifizirtes, alle diese Ausdrücke nämlich von Denken, Erkennen, Wissen. Nehmen wir ein Wissen, so setzen wir einem gegenüber dieses Wissen, das Resultat und das Gewußte, den Gegenstand. Durchs Entgegensetzen beziehen wir sie auf einander. Wenn wir [dies] aber sagen müssen, so nehmen wir eine Gleichheit zwischen dem Wissen und Gewußten, setzen wir aber eine Unwahrheit, so haben wir eine Mehrheit; denn das Entgegensetzen ist immer eine Mehrheit. Denn Denken wir den Gegenstand in der Mitte und um | ihn herum eine Mannigfaltigkeit der Gedanken, die wir dann bezeichnen durch Meinen. Alles Meinen wird Wissen, aber jedes für sich. Das erstere ist Überzeugung, das 2te nicht. Nun aber ist offenbar, daß, wenn der eine sagt, ich weiß das, und der andere du glaubst das zu wissen, dieser nun Gedanken in ihm aufwekken muß, die ebenso sich auf den Gegenstand beziehen, wie die seinigen. Der Gegenstand steht so in der Mitte, bei uns ist er die Seele. Von welcher Art soll nun die Erkenntniß sein, die wir uns von der Seele verschaffen wollen? Diese Frage setzt mindestens etwas voraus, nämlich daß es 2erlei dem Inhalte nach verschiedene Erkenntnisse gebe über diesen Gegenstand. Denn wo 2 sind ist eines Wissen und das andere Meinen oder beides Meinen und wo verschiedene Erkenntnisse dieses Gegenstandes sind, so können verschiedene Theile dersel6–7 Zusatz SW III/6, S. 11: „wie z. B. die Sinnlichkeit oder diese und jene Function der Sinnlichkeit unterdrükkt den Verstand, verführt die Urtheilskraft u.s.w. Da muß man denn das eine als stärker, das andere als schwächer sezen, und hieraus entsteht wieder ein Bestreben, die Stärke und Schwäche zu messen und die ganze Untersuchung wird eine mathematische. Der eigenthümliche Vorzug, der darin liegen könnte, wird aber dadurch völlig aufgehoben, daß es unbestimmbar bleibt, ob diese quantitativen Differenzen ein beständiges sind in jeder einzelnen Seele oder ein wechselndes, und inwiefern dieser Wechsel in der Seele selbst gegründet ist oder äußeren Einflüssen unterworfen.“

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ben Erkenntniß sein und wenn jedes als völlige allgemeine Erkenntniß gelten will, so sind sie [nur Meinungen]. Auf welche Art wollen wir zur Erkenntniß gelangen? Verfolgen wir die Frage weiter, so befinden wir uns schon mitten im Gegenstand; denn das Erkennen selbst ist nur etwas in der Seele und die Art und Weise zur Erkenntniß zu gelangen sind nur Operationen, die in der Seele vorgehen. Wenn wir Seele sagen, so sagen wirs insofern wir auf jene allgemeine Frage zurückgehen, daß jeder Mensch seine eigne Seele habe und sie ist nothwendig ein Einzelnes. Und wenn wir von den einzelnen Thätigkeiten reden sind wir mitten in unserer Aufgabe. Aber wir haben die Frage nicht auf die einzelnen sich beziehend aufgeworfen sondern allgemein indem wir das Erkennen und die Methode des Erkennens objectiviren. Wir abstrahiren so von der Seele an sich ganz; was uns aber gegeben ist, das sind Gedanken, als Resultat der Vermögen, als Resultat von diesem Denken. In dieser Beziehung abstrahiren wir auch von der Seele ganz und setzen nur das Denken für sich. Wir finden von jeher eine Mannigfaltigkeit in der Art und Weise wie das Wissen wird. Und bei diesen Verschiedenheiten haben wir auch das Recht, diese Frage aufzuwerfen und zu beweisen, inwiefern wir schon etwas über die Art und Weise zum Wissen zu gelangen, festgestellt haben. Solche Verschiedenheiten sind nun wirklich in der Geschichte gegeben und wir müssen diese Frage aufwerfen, besonders in Bezug auf die Art und Weise, wie die Erkenntniß entsteht. | Es giebt hier einen Unterschied, welcher früherhin anerkannt wurde [und] auch jetzt noch nicht ganz in Abrede gestellt wird. Man unterscheidet das durch die Ausdrücke a posteriori und a priori oder empirisch und spekulativ. Das eine ist eine Erkenntniß, welche auf irgend eine Weise von Außen kommt, eine äußerlich gegebene Voraussetzung, die andere hat in dem Akte des Denkens selbst ihren Ursprung und Grund. Man theilte auch früher die Seelenlehre so, daß es eine empirische und eine rationelle Psychologie gab. Lassen wir diese Unterscheidung vorläufig gelten so kommen wir auf die Frage zurück, ob in der Regel, daß wir nur von der menschlichen Seele handeln, schon eine Entscheidung darin liegt, ob unsere Untersuchung mehr zur empirischen oder rationellen Psychologie gehört. Die empirische Erkenntniß beruht auf einem äußerlich Gegebenen. Man könnte daher glauben, diese sei ausgeschlossen, weil die Seele nichts äußerlich Gegebenes sei. Dies ist aber keineswegs unsere Meinung. Es kommt Alles darauf an, wie der Gegensatz zwischen äußerlich und innerlich gefaßt wird. – Gehen wir zurück in unserm Gedächtniß, so finden wir uns immer in diesem Ich sagen[,] auf Ich beziehen, von Ich ausgehen, jenseit dieses Aktes haben wir keine Besinnung; dies ist der Anfang einer zusammenhängenden Zeit. Fragt man wie ist es mit diesem Akte, in-

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volvirt er eine Erkenntniß oder nicht, beruht sie auf dem Gegebenen oder ist sie eine rein produzirte? Was die erste Frage betrifft, so giebt es hier kaum etwas Gewisseres; aber so wie wir diesen Gegensatz hernach zur Frage bringen, ist es ein Gegebenes oder Produzirtes, so erscheint es uns als etwas Gegebenes, weil wir damit auf den Grenzpunkt unserer Erinnerung zurückkommen. Es wird Niemand streben nach einem Wissen oder Erkennen, welches nur in dem Gebiet seines Ich bleiben soll. So wie wir uns Alle als solche setzen, die in ihrem Ich setzen begriffen sind, so geben wir allen | Unterschied zwischen mein Ich und dein Ich auf. – – Das Erste worauf wir, in Beziehung auf [unsere Erinnerung] wieder zurückgehen ist ein Solches worauf wir auf uns als auf ein äußerlich Gegebenes zurückgehen[.] Erzählt uns Niemand den ersten Akt, so müssen wir doch auf uns selbst zurückgehen. Insofern war es richtig, daß wenn wir unsere Untersuchung auf diesen Punkt beschränken, so kann es den Anschein haben als wäre unsere Ganze Erkenntniß empirisch. Betrachten wir aber diesen Akt seinem eigentlichen Inhalte nach, so können wir freilich nicht sagen daß dabei irgend ein Wollen zu Grunde liegt; es ist aber eine Thätigkeit. Seinem Inhalte liegt nichts Äußerlich Gegebnes zu Grunde. Alle unsere Zustände, insofern sie uns ein Aggregat von Erinnerungen werden gehen immer auf etwas Gegebenes zurück. Dies ist die Beziehung, in welcher man sagen kann, es müssen in unserer Untersuchung viele Daten vorkommen und die wir nicht wissen können, wenn sie uns nicht gegeben sind. Der Akt des Ich sagens ist dasjenige, in welchem alle Modifikationen identisch sind. Und wir sagen das Ich ist das, woraus dieselben hervorgehen. Entweder ist dieser Akt eine leere Abstraktion von diesen verschiedenen Modifikationen, so daß man sagen muß das Ich setzen sei nicht ursprünglich Wahrheit, sondern das so und so sein; oder es ist die ursprüngliche Thätigkeit, das Alles Andere Begleitende und allen Andern vorangehende. In diesem Akte allein ist die reine Indifferenz von dem Gegebenen und dem von Innen schon vorgehenden. Daraus folgt also von selbst, daß es 2 solche Seelenlehren geben müsse, betrachtet man es mehr von der einen oder der andern Seite. Indem wir dies vorläufig annehmen, so ist die Frage, wie wir es machen müssen um diese beiden Arten hervorzubringen. Das Empirische legen wir zu Grunde; was aus der Beobachtung uns wird | ist die erfahrungsmäßige Seelenlehre. Sollen wir zur Sache schreiten, so können wir aber nicht[.] Wir wollen nämlich auf unsere Zustände achten und dadurch ein Wissen hervorbringen; wir müssen unsere Zustände aber dann zuerst durch die Sprache bezeichnen; soll ich aber etwas als ein besonderes in der Sprache bezeichnen so muß ich es 1 er] es

2 produzirte?] produzirte.

10 wir] wir zurückgehen

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vorher von dem Andern unterschieden haben. Wir kommen hier auf eine Frage, nämlich wie uns irgend Etwas ein Einzelnes wird? indem uns Alles nur in der Continuität des Raums und in der Continuität der Zeit gegeben wird. Es handelt sich hier nur von der Continuität der Zeit. Wie sollen wir es machen? Gesetzt es gäbe eine gemeinsame Weise zu Sondern in dem Flusse des Zeitlichen, so daß wir sagen könnten, weil wir alle Ich sind, so sondern wir auch unsere Momente auf dieselbe Weise, so handelt es sich noch um das Bezeichnen durch die Sprache. Indem nun der Eine einen gesonderten Moment auf bestimmte Weise bezeichnet und der Andre dieselbe anerkannt, so müssen wir doch Gewißheit haben über die Identität zwischen dem Denken und der Sprache. Dieses Beides ist die rein skeptische Ansicht der Sache, welche darauf ausgeht die Unmöglichkeit einer Erkenntniß zu beweisen. Wir könnten sagen, in der ursprünglichen Voraussetzung, daß wir unser Ich setzen, liegt auch schon die daß wir Momente sondern; um aber zu wissen ob wir sie auf dieselbe Weise sondern, fehlt es an einer unmittelbaren Verständigung; weil wenn Jemand auch in der Bezeichnung übereinstimmt, man doch annimmt, daß der Andere dabei dasselbe gedacht habe und kurz, alle Verständigung ist zweifelhaft und es fehlt uns das Mittel unser Ich aus dieser Beschränkung des Subjektiven zu etwas Objektivem zu erheben. Diese Unsicherheit erstreckt sich auf alle Momente. Man bezeichnet ver|schieden und hat doch dasselbe. Gehen wir von der ursprünglichen Funktion aus und beobachten nur, so kommen wir zu keiner Erkenntniß; es muß etwas Anderes geben, was uns aus diesem skeptischen Zustand herausbringt. Es ist übel, daß das Ich setzen etwas schlechthin Einfaches ist, indem wir alles Mannigfaltige ausdrücklich daraus weggelassen haben. Es ist das einfache Selbstbewußtsein und es läßt sich hieraus gar nichts weiter entwickeln. Stellen wir nämlich überhaupt die Aufgabe, aus einem solchen Ursprünglichen ein Mannigfaltiges zu entwikkeln, so läßt sich gar nicht einsehen wie wir dazu kommen sollten, wenn es nicht schon in dem Ursprünglichen vorhanden ist, außer wenn der Gegensatz mit gegeben ist. Allein wenn sich ein solcher Gegensatz nicht darbietet, kann kein Mannigfaltiges daraus hervorgehen. Dieses Verfahren nennt man gewöhnlich Analysis, rechnet jedoch Alles was man so nennt gewöhnlich in das Gebiet der Analysis. Um den Gegensatz hervorzurufen müssen wir erst etwas Anderes haben. Bleiben wir bei dem Ich stehen, so haben wir freilich in unserer Spra32–33 Vgl. SW III/6, S. 17–18: „Dies könnte aber nur der Fall sein, wenn in dem einfachen ein Gegensaz sich fände, so daß wir sagen könnten, a ist sowohl b als c, oder auch | entweder b oder c, woraus dann wol ein Complexus von Säzen sich entwikkeln möchte.“

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che eine Correlation dazu, das Du. Wollen wir also sagen, das Ich sagen heißt ein Du postuliren? Vorher sagten wir, das Ich sagen sei das einfache Selbstbewußtsein; das selbst involvirt auch schon den Gegensatz gegen ein Anderes. Man hat in manchen philosophischen Systemen sich des Ausdrucks Nichtich bedient; aber dies ist eigentlich kein Gegensatz, sondern nur eine Negation. Ist das nun etwas, was wir bisher versucht haben? Gehen wir genau zu Werke, so können wir uns dabei nicht beruhigen, daß wir sagen, dies ist in unserer Sprache, ja auch in allen Sprachen, daß das Ich dem Du entgegengesetzt wird. Aber wie wollen wir uns auf die Sprache berufen, ohne in das Empirische hinüberzukommen? Sehen wir diese Entgegensetzung nur in einigen Sprachen, so würden wir es als ein Be|sonderes setzen; es ist aber dies etwas Allgemeines, ein a priori Gegebenes. Sind wir berechtigt Allen zuzumuthen, daß sie das auf dieselbe Weise setzen? – – Man kann nicht leugnen, daß Obiges Jeder wird zugeben. Analogie ist aber keine vollkommnere, denn bei ihr wird immer etwas vorausgesetzt, was man noch nicht hat. – Hätten wir kein Bewußtsein von einem Andern, kein Du sagen, so hätten wir auch kein Ich sagen. Ehe wir aber weitergehen, müssen wir fragen, woher sind wir sicher, daß es nicht noch andere Gegensätze giebt, die eine Bedingung des Ich sagens sind? So stehen wir wieder vor einer Frage, von der wir nicht wissen woher wir sie geschwind verneinen oder bejahen sollen. Sagen wir, es fällt uns nichts ein, was sich zu dem Ich so verhielte, wie das Du, so wäre dies keine Gewißheit, sondern es entstände ein Verfahren aufs Gerathe wohl. Wir können dann auch nicht behaupten, daß wir von einem Fortschritte zum Wissen begriffen sind. Je mehr wir solche uns noch unbekannte Anfangspunkte nun voraussetzen, ein desto kleinerer Theil der Seelenlehre würde sich entwickeln lassen. Es stellt sich also wiederum ein Skeptizismus dar, der unsere ersten Schritte hemmt. So wie wir dieses gefunden haben als ein Nothwendiges, aber nicht als ein Einziges, so wissen wir nicht, ob wir ein Wissen konstruiren oder nicht. Wir wollen denken, die Erfahrung sei vollendet. Hätten wir dann eine größere Gewißheit als jetzt, in Beziehung auf unser Verfahren a priori? Es wird kaum Jemand sagen, diese Frage würde auch durch ein non liquet beantwortet werden. Wir setzen nämlich voraus, daß wir immer dabei geblieben wären aus solchen Anfängen eine Seelenlehre zu entwickeln. Was folgt hieraus aber? Offenbar dies, 35 a priori?] a priori. 4–6 Anspielung auf die Subjektphilosophie des deutschen Idealismus, wie sie von Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) vertreten wurde.

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daß kein Wissen an|ders als mit Allem fertig wird. Denn wenn wir einmal zugegeben haben, ein a priori und ein posteriori, so haben wir gesehen, daß wenn wir es isoliren wollten, wir bei dem empirischen Verfahren auf den materiellen, bei dem rationellen auf den formellen Skeptizismus kommen. Hieraus können wir schließen, daß das Wissen immer nur wird in dem vollkommnen Einswerden von dem Spekulativen und dem a posteriori. Was giebt uns dies für ein Verfahren an? Dies hängt freilich gar sehr davon ab, inwiefern wir sagen können, daß uns eine Vollständigkeit der Erfahrung gegeben sei[.] Indem wir also genöthigt wären uns der Erfahrung zuzuwenden, werden wir auf einen Punkt zurückgebracht, in Beziehung auf welchen es eine Differenz giebt. Das Verhalten nämlich unserer Seele zu dem Ich insofern sie mit dem Leibe eins ist. Worin finden wir als in einem Gegebenen die Thätigkeit des Ich? Giebt es etwas in der Scheidung zu bemerken, ein solches Verfahren, welches ein reiner Anfangspunkt wäre? Dann würde auch der Gegensatz zwischen Leib und Seele stets auf dieselbe Weise gemacht sein. Er ist aber nicht immer auf dieselbe Weise gemacht. Man hat also nicht immer von demselben Punkte aus die Theilung gemacht und dadurch entsteht ein Bedenken gegen das Wissen. – Es fragt sich, ob und in wiefern die Psychologie sein kann ohne die Anthropologie? Wollten wir uns einen Augenblick die Anthropologie statt der Psychologie zu unserm Gegenstand machen, so würden wir uns weiter verbreiten müssen. Dies wäre offenbar ein Theil der Naturwissenschaften. Wir hätten es dabei mit den lebendigen Kräften zu thun. Würden wir, wenn wir hiebei stehen bleiben, die Kenntniß derjenigen Thätigkeiten, welche wir der Seele zuschreiben, eben so bekommen, wie wir es suchen oder auf eine andere Weise? | Wir kommen hiebei auf den Punkt, warum ein solches Segment gemacht wird? So wie man sich etwas als eine Wissenschaft an sich denkt, so ist von einem Zweck gar nicht die Rede; denn wer in sich hat die Richtung auf das Wissen der hat auch die Wissenschaft. Aber so wie wir sagen, bei dieser Schwierigkeit den Gegenstand zu bestimmen, wird es uns zweifelhaft, ob es ein Theil der Wissenschaft sei. Wenn man die Erkenntnisse nicht in ihrem natürlichen Zusammenhange läßt, muß ein anderer Grund gesucht werden, warum man das thut. Es würde unzureichend sein, zu sagen, wir wollen es thun, weil man es schon lange gethan hat; denn dies wäre ein bloß traditioneller Grund und sind wir einmal zweifelhaft geworden ob diese Kenntnisse ein wirkliches Ganze ausmachen, so müssen wir voraussetzen, daß eine unrichtige Theilung gemacht sei und daß also auch das Resultat ein unrichtiges sei. Was haben wir für einen andern Grund? Das erste würde ein 3–5 wir bei … kommen] am Rand markiert mit ?

15 wäre?] wäre.

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hinreichender Grund sein, könnten wir voraussetzen, die Theilung sei richtig gemacht. Es fragt sich nun, wenn wir durchaus nicht gewiß sind, ist dann der andere Grund ein hinreichender, weil in dem Ganzen Vieles wäre, was nicht dasselbe Interesse hätte, eine Theilung aufs Gerathewohl zu machen? Wir müssen nun ein solches besonderes Interesse nachweisen und dieses muß den Grund enthalten, warum wir so weit und nicht weiter gehen oder wir müssen auf eine richtige Theilung ausgehen. Das letztere ist nun aber eben das, wobei wir stecken geblieben sind. Wollten wir nun unsern Vorsatz umkehren, erweitern so weit, daß wir die ganze Anthropologie darunter befassen, so hätten wir die Thätigkeit, welche wir der Seele zuschreiben, in ihrer Identität mit dem Leibe und umgekehrt. Das eine würde nun Physiologie sein; das andere Psychologie. Aber so lange wir nicht den Gegenstand bestimmt haben, können wir auch | keine Theilung machen. Könnten wir dieselbe voraussetzen, würden wir sagen die Physiologie stehe in genauer Verwandschaft mit andern[,] es würde dabei immer der vorherrschende Begriff des organischen Lebens sein, so daß es eine Physiologie der Pflanzen, der Thiere, des Menschen gäbe. Die Physiologie der Thiere wäre dann wieder in sich selbst eine Reihe, wie auch die Pflanzen. Könnten wir auch sagen, der Mensch stände auch als Organisation betrachtet an der Spitze – von Seelenthätigkeiten wäre dabei gar nicht die Rede. Wollten wir nun auf der andern Seite das Ähnliche thun, würden wir eine Parallele zu dem bisherigen herausbringen? Allerdings, wenn wir den Vorstellungen folgten, würden wir sagen: es sind uns thierische und menschliche Seelenthätigkeiten gegeben; aber auf dem Gebiete der Vegetation läßt sich eine solche Differenz nicht hervorbringen. Die Psychologie bleibt allein auf dem menschlichen Gebiete, ohne eine Fortsetzung nach unten hin zu haben, wie die Physiologie. Etwas höher hinauf finden wir in unserer Sprache einen Ausdruck, der uns darauf zu führen scheint, nämlich Geist und sobald wir denselben hören denken wir auch an eine andere Abstufung. Wollten wir aber sagen, Geist ist ein viel weiter Verbreitetes aus dem menschlichen Gebiete Herausgehendes, so würden wir freilich etwas sagen, was schon oft gesagt ist; würden wir aber sagen, wie wir dem Rechenschaft geben können, so würden wir sagen: der Geist ist uns doch nur im Menschen gegeben, alle andern Arten wie er gegeben sein soll, sind nur problematisch. Der Ausdruck muß daher bei der Beachtung des Menschen entstanden sein. Wir kommen hier wieder auf ein sehr unsicheres Gebiet. Wir finden eine Tendenz in der Sprache, von der wir uns keine Rechenschaft geben können. Wir fügen gleich noch eine Formel hinzu[.] | Indem man von der Seele ausging 36 er] es

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in ihrer Identität mit dem Leibe und die Thätigkeiten der Seele von einander scheiden wollte, schied man, solche Thätigkeiten, welche die Seele verrichtet vermittelst des Leibes und solche Thätigkeiten, welche sie verrichtet an und für sich selbst; diese letzteren würden gleich sein dem Geist. Es fragt sich nur, wenn wir dieses gleich stellen wollen, ob wir dann nicht befugt sind zu sagen, dies einmal angenommen kann auch die Seele als etwas an und für sich gedacht werden; dann wäre sie aber nicht mehr Seele sondern Geist. Wir gehen zurück auf die Frage, welches das besondere Interesse sei, das uns bewegen könnte, eine solche Theilung zu machen. Wir werden nichts Anderes sagen können als es ist das Interesse an den geistigen Thätigkeiten unter der Voraussetzung, daß dabei die Seele thätig ist ohne den Leib. Was sind denn diese Thätigkeiten, von denen man behauptet hat, daß die Seele sie verrichte ohne den Leib? Hiebei kommt man auf dasjenige, was man im verschiedenen Sinne mit dem Ausdrucke der Ideen bezeichnet hat, auf das, was man das Sittliche [nennt]; auch zu dem Wissen, um dasjenige, was die Seele ohne den Leib nicht in sich erwecken kann. Das Sittliche ist alle Richtung nach Außen. Danach fragen wir, weil und insofern wir an diesem Gebiete ein bestimmtes Interesse nehmen, aber auch wissen, daß nur in der Identität des Leibes und der Seele Interesse ist, so werden wir durch den Ausdruck Ideen auf einen Zustand getrieben, wobei wir die Thätigkeiten des Leibes ignoriren können. Dies ist der einzige Grund auf welchem die gemachte Sonderung beruhen kann. Ob es ein richtiger ist, ist eine andere Frage. Die Sache ist uns auf traditionelle Weise entstanden; aber auch gesetzt wir hätten diese Tradition nicht, so würde uns doch das Interesse an diesen Gegenständen zu diesem Abschluß bringen. | – Durch die sinnliche Wahrnehmung kommen wir zu einem Wissen; – Wollen wir Alles in ein System bringen, so brauchen wir die Mitwirkung des Geistes nicht. Wenn alle Wahrnehmung ausgeschlossen würde, so wäre auch nichts da, woran sich diese Thätigkeit manifestiren könne. Wir sagten auch, die Seelenthätigkeiten, welche vermittelst des Leibes verrichtet würden beziehen sich auf seine Wirksamkeit nach Außen. Sie werden alle vermittelst der Organisation verrichtet; auch die zuerst genannten können wir hierunter rechnen. Das Öffnen der Sinne zu den Gegenständen ist ebenso ein innerer Akt, der sich zwar durch äußere Thätigkeiten manifestirt, nicht dadurch bewirkt wird; dasselbe gilt von allen Willensakten. Hier haben wir also das letzte Ziel alles Wissens, aber auch das Ursprüngliche zugleich betrachtet und die Willensthätigkeit als die ursprüngliche Be11 den] der

16 Ideen] doppelt unterstrichen

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wegung, von welcher alle organischen Bewegungen ausgehen, aber auch als das letzte Ziel aller Thätigkeiten. Das Resultat wäre also, daß es eigentlich das Interesse an diesen schlechthin geistigen Thätigkeiten ist, welches uns bewegt, die Psychologie aus der ursprünglich gemeinschaftlichen Betrachtung des Menschen auszusondern. Das Ursprüngliche, was hier aufgegeben ist, ist ursprünglich Anthropologie, nicht als ob sie aus Physiologie und Psychologie bestände, sondern ohne diese Theilung. Haben wir die Sache auf diesen Punkt zurückgebracht, so haben wir einen Parallelismus hervorgebracht; es geschieht einerseits aus dem Interesse, wonach man die menschliche Organisation betrachtet. Denn dadurch wird eben die Physiologie ausgeschieden; andrerseits: es giebt ein Interesse an denjenigen Thätigkeiten des Menschen, von welchen wir am wenigsten in dem Gebiete des übrigen organischen Lebens eine Analogie fin|den und welche gerade die höchsten menschlichen Aufgaben und Interessen umfaßt. Dies bewirkt eine Ausscheidung des Psychologischen mit einem Übersehen des Physiologischen. Der Parallelismus ist aber insofern unvollständig als wir im ersten Fall die Organisation des Menschen ansehen als das letzte Glied einer Reihe; auf jener Seite haben wir aber nichts als den Menschen; unter ihm haben wir die Analogie abgeschnitten. Obgleich wir auch das thierische Leben als einen Gegensatz von Leib und Seele fassen, so sind wir doch nicht berechtigt hier andere Thätigkeiten vorauszusetzen als solche, welche die Seele mittelst des Leibes verrichtet. Wir können den Menschen nur als den niedrigsten Punkt dieser Reihe ansehen. Dieses Geistesleben fängt mit dem Menschen an. Andere Glieder sind uns freilich nicht gegeben[.] Ohne die Voraussetzung einer mannigfaltigen Entwickelung eines Geisteslebens kommen wir auf keinen Punkt. Doch ist dies nur Gedankenspiel. – Wir müssen jetzt ein paar Betrachtungen anstellen: Insofern wir auf einen Gegensatz von Seele und Leib ausgehen ergiebt sich uns etwas aus dem Bisherigen und insofern wir im voraus festgestellt haben in der Einheit von Seele und Leib stehen zu bleiben ergiebt sich uns ein Anderes. Die Einheit von Seele und Leib in dem Begriff von Leben und der Gegensatz sind die Punkte von denen wir ausgehen müssen. – Wenn wir sagen, die Anthropologie kann unter keiner andern Bedingung verwandelt werden in 2 Disciplinen, deren einzelne Momente hernach andere sind als in der Anthropologie selbst, als insofern man einen Gegensatz von Leib und Seele voraussetzt. Diese Scheidung veranlaßt hernach wieder eine Betrachtung des organischen Daseins überhaupt, in den verschiedenen Abstufungen in denen das Leben gegeben ist. Wenn wir einen Gegensatz aufstellen zwischen or25 ansehen] anzusehen

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ganisch und anorganisch, so ist dies kein reiner Gegensatz, weil nie das Gesetzte negirt wird. Wir setzen den Ausdruck des Mechanischen dafür. Nämlich wenn wir das Organische mit dem Anorganischen vergleichen, müssen wir sagen | daß in dem Organischen stets eine Überwindung des mechanischen Prozesses vorherrschend ist; in dem Anorganischen das Mechanische dominirt. Das Mechanische und das Massendasein d. h. wo nichts auf eine feste Weise ein Ganzes ist, sind aber identisch. Alles, was dem mechanischen Prozeß unterliegt kann ein Vielfaches werden. Wenn wir nun auf den Gegensatz sehen von dem die Theilung der Anthropologie ausgegangen ist, so müssen wir sagen, daß beides wieder in Eins gefaßt wird und dies ist das Materielle. Es ist hier nicht der Ort die Frage über die Wahrheit dieses Begriffs zu erörtern. Man kann sagen Materie ist eigentlich nicht aufzufinden, sondern es ist in dem Organischen und also nicht Stoff überhaupt, sondern ein bestimmter Stoff. Wenn wir nun aber bis auf diesen Punkt gekommen sind, so müssen wir sagen, setzen wir jene Thätigkeit um derentwillen die Psychologie besonders aufgefaßt wird. – – Die Voraussetzung, welche wir durch den Ausdruck Materie bezeichnen steht in keiner Verbindung mit den Thätigkeiten, um derentwillen wir die Psychologie ausscheiden; diese Thätigkeiten sind in dem Menschen, aber nicht vermöge dessen, was ihn als ein Materielles setzt, nicht vermöge des Organischen. Wir werden sagen müssen, daß sobald man diesen Satz nicht zugiebt, auch das Recht zu einer besondern Behandlung der Psychologie aufhört. Wenn die geistigen Thätigkeiten vermöge des Organischen in seiner Identität mit dem Mechanischen in dem Menschen wären hätten wir kein Recht es von der Physiologie zu sondern. Wir haben bei diesen Thätigkeiten kein Bewußtsein von einer materiellen Bewegung. Es läßt sich sehr leicht sehen, wie, wenn diese Thätigkeiten in dem wirklichen Leben vorkommen, diese Betrachtung sich verbindet, mit den am meisten leiblichen Thätigkeiten. Diese Aussonderung von geistigen Thätigkeiten führt uns aber nicht auf eine solche Reihe von Thätigkeiten als bei den organischen; alle Subjekte, die man sich über dem Menschen vorgestellt hat, sind doch eigentlich nicht gegeben, sondern als Fiktionen anzusehen. Wir wollen dieselben | einmal als Faktum gelten lassen und es entsteht dann eine eben solche Aufgabe, welche auf der andern 4 sagen] sa1–2 Vgl. Nachschrift Wichern, S. 17: „da auf der Andern Seite kein positives gesetzt wird“ 16–18 Vgl. Berliner Nachschrift, S. 38: „so setzen wir jene Thätigkeit nicht nur jenen entgegen, um welche die Physiologie aufgestellt wird, sondern sowie wir auf das Organische und Anorganische kommen, so setzen wir das letzte dem ersten wieder entgegen.“

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Seite durch die Materie gelöst ist. Es ist die Vorstellung von Geist in einem analogen Sinne, wie ihm die Vorstellung der Materie gegenübersteht. Dies ist nicht mehr bloß die negative Vorstellung von der Immaterialität der Seele. Nehmen wir nämlich Thätigkeiten an bei denen wir uns keiner Beihülfe des Organismus bewußt sind. Diese Vorstellung hat daher keinen Inhalt, der dem Stoff verwandt wäre. Gehen wir davon aus, daß diese Vorstellung besteht und also nun vermöge dessen, daß wir uns selbst in allen diesen Thätigkeiten als Geist setzen, so müssen wir auch sagen, daß das Interesse des Bewußtseins an diesen Thätigkeiten kettet, vermöge derer wir uns als Geist setzen. Was ist nun die Seele? Gehen wir ebenso von der Vorstellung der Materie aus, was ist der Leib? Die Vorstellung der Materie schließt schon die Modifikabilität der Materie ein. Wir müssen sagen, daß ein Jedes was wir auch als bloß mechanisches Dasein setzen, wenigstens als schon bestimmte Materie [gesetzt] ist. – – Das Organische hat das Prinzip der Bewegung in sich selbst. Diese Punkte würden von jener Vorstellung aus, diejenigen sein, wonach der Begriff eines organischen Leibes nach der Materie hin zu konstruiren wäre. In Beziehung auf ihr Verhältniß zum Leibe ist die Seele auf verschiedene Weise bestimmt. Diese Verschiedenheit involvirt nicht, daß auch der Ausdruck Geist auf verschiedene Weise bestimmt sei. Die Differenz in Bestimmung der Seele rührt von den verschiedenen organischen Verhältnissen zum Leibe. Diejenigen Thätigkeiten, durch welche die Ideen, des Wissens, des Wahren, des Guten usw. sind, sind dem Inhalte nach dasjenige, worauf der Prozeß dieser Theilung beruht. – Was ist die Seele? Nichts Anderes als eine Art und Weise, dieses Prinzips zu sein in der Verbindung mit einem organischen Leibe. Die Seele wird uns also nun, eine Art und Weise zu sein des Geistes. Daher nun, daß | sie an einen Organismus gebunden ist, können wir sagen sie sei eine Erscheinung des Geistes. Das bisher Gesagte bestätigt sich sehr dadurch, daß geschichtlich sich ergiebt, daß überall, wo ein Zweifel obgewaltet hat an der eigenthümlichen Dignität dieser Thätigkeiten auch ein Bestreben obwaltete, sie aus der Materie herzuleiten; überall wo wir das Interesse an diesen Thätigkeiten gesteigert finden, zeigt sich hingegen die größte Neigung zum Spiritualismus. Wo dies Interesse unterdrückt, oder 17 eines] vom 34–35 Zusatz SW III/6, S. 31: „Ich will dieses deswegen nicht gleich kanonisiren, sondern nur auf die zwiefache Weise aufmerksam machen, wie es zu Stande gekommen ist, entweder unter der positiven Form, daß alles eigentlich Geist sei und auch die Materie nur schlafender Geist, aber in der negativen Form, daß dasjenige, was nicht Geist sei auch überhaupt nicht sei, sondern nur ein Schein. Weder eins von beiden noch beide will ich für gültig erklären, sondern beide nur als dem Materialismus entgegengesezt aufstellen, als ein geschichtliches Datum unserer sich entwikkelnden Vorstellungen.“

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nicht erwacht ist, aber doch eine große Lebhaftigkeit in den Vorstellungen ist; entsteht der Materialismus. Ob nun aber die Anerkennung dieser Ideen als das Wesen, ja das Ausgehen davon nothwendig in eine Form des einseitigen Spiritualismus müsse übergehen lassen wir unentschieden. – Indem wir die Psychologie ausscheiden haben wir von der Organisation nur von einem Gegebenen zu handeln, nicht von dem Verhältniß ihres Seins zu dem Sein des Geistes. Auf dem Punkt diese Thätigkeiten als das eigentliche Wesen auch in unserm zeitigen Dasein anzusehen können wir nicht stehen bleiben ohne alle andern Thätigkeiten darauf zu beziehen und ihnen unterzuordnen. Fragen wir nun, dieses vorausgesetzt haben wir darin schon einen Bestimmungsgrund, den Gegensatz von Seele und Leib in Beziehung auf die anthropologischen Thätigkeiten genau zu fixiren? Wir müssen [uns] bei allen Thätigkeiten welche in unserer Betrachtung vorkommen durchaus innerhalb der Identität von Seele und Leib in dem Dasein des Menschen halten. Die Einheit läßt sich darstellen unter der Form einer 2fachen Reihe von Thätigkeiten von solchen, wobei das Geistige das minimum und das Leibliche das maximum und umgekehrt. Nur wo sich der Puls des Geistes findet, haben wir etwas außer unserer Betrachtung Liegendes. In dem bisher Gesagten liegt ein Bestreben in dem Anthropologischen noch Seele zu finden. Der organische Leib ist ein insofern zusammengesetztes, weil sich verschieden modifizirte Materie darin findet. Es ist aber a priori nicht | anzunehmen, daß in allen Menschen das Verhältniß dieser Elemente dasselbe sei. Nun entsteht die Frage, ist die Beschaffenheit, der organischen Bewegung, wodurch dies Verhältniß dieser Elemente bestimmt wird vollkommen unabhängig von der Bewegung des Geistes? Wir müssen uns die Möglichkeit des Zusammenhanges zwischen dem Verhältniß dieser materiellen Elemente und dem Verhältniß der wirklichen psychischen Lebensthätigkeiten denken. Wenn man dies auf eine solche Weise fortsetzen wollte, so sagen wir dies würde dahin endigen, daß wir die ganze Anthropologie aufnehmen müßten aus dem Standpunkt des Geistes betrachtet und umgekehrt die ganze Psychologie aus dem Gesichtspunkte des Leibes betrachtet. Es würde dann aber doch von dem rein Organischen nur das Verhältniß zu dem rein Geistigen in unsere Betrachtung aufgenommen. Der Grund einer Theilung ist also das Interesse an dem rein Geistigen als dem höchsten Menschlichen. Halten wir die Sache so, so sind wir weder in der Einseitigkeit des Materialismus noch in der Einseitigkeit des Spiritualismus. Um nun aber die Versuche nicht unbenutzt zu lassen, welche gemacht sind die Gränzen genauer zu bestimmen gehen wir zurück auf die Aristoteli32 Standpunkt] über Gesichtspunkt

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schen Philosophien. Alle welche hierüber philosophirt hätten, sagt Aristoteles, hätten die Seele bestimmt durch die Bewegung, das Bewußtsein, das Unleibliche ασωματον. Wir können diesem ασωματον keineswegs unser „immateriell“ substituiren; Aristoteles versteht darunter eben nur die Negation der organischen Zusammensetzung. Nun sehen wir aber hieraus wie schon die Grenze zu bestimmen hier von Anfang an gewesen ist. Es ergiebt sich, wie viel sicherer es ist vorläufig keine Lebensverrichtung auszuschließen, sondern die sichtlich vorkommenden in ihrem Zusammenhange mit der Seelenthätigkeit aufzustellen. Diese 2fache Einwirkung haben wir im Voraus schon festgestellt. Dies stimmt auch mit der Erklärung, die, indem wir uns auf den Standpunkt des Geistes stellen, wir von der Seele gegeben haben, überein. Die menschliche Organisation ist eine Art und Weise zu sein des Materiellen in Verbindung mit dem Geist. Es ist also nichts völlig Null. Wenn wir auf die andern beiden Aristotelischen Bestimmungen sehen, so haben wir die eine auch jetzt wieder von Neuem festzu|stellen: denn der Geist ist in diesem Zusammenhang wieder das den Organismus Bewegende. Gehen wir aber von dem physiologischen Standpunkte aus, so müssen wir sagen, Organisation ist nicht zu denken, ohne ein System von eigenthümlicher ihr Prinzip in sich habender Bewegung. Wenn wir Alles Leben in dem Geiste begründet finden wollen, so hat es keine Schwierigkeit zu sagen, da ist der Geist auch das bewegende, erscheint aber auf eine unvollkommne Weise als noch nicht ganz zu sich selbst gekommen. Wir haben aber bis jetzt nichts gefunden, was dies fest bestimmte; das Gegentheil ist ebenso möglich. Kommen wir weiter durch jenes 3te Element, durch das Bewußtsein. Die Bedeutung dieses Worts muß als allgemein unmittelbar bekannt und so daß sie für jeden dasselbe ist vorausgesetzt werden. Halten wir die 3 Bestimmungen uns vor, so sehen wir, daß sie nicht völlig gleichartig sind. Die Unleiblichkeit bestimmt nur eine Art zu Sein auf eine negative Weise; die beiden andern Sein selbst. Wenn wir rein von der Beobachtung ausgehen der verschiedenen menschlichen Thätigkeiten und Zustände, so müssen wir sagen, daß es Thätigkeiten des Bewußtseins giebt, welche zur Beobachtung kommen ohne daß dabei Bewegung ist; bei andern sind Bewegung und Bewußtsein wesentlich mit einander verbunden; bei andern Bewegung ohne Bewußtsein. Könnten wir dies ganz fest halten, so scheint es als müsse es eine bestimmtere Grenze geben um die Psychologie von der Physiologie zu trennen. Indem wir nämlich sagten; es giebt Zustände der Thätigkeiten des 18 Bewegende] davor d

21 in] im

1–3 Vgl. Aristoteles: De anima 405b; Opera 1,382; ed. W. D. Ross 9–10

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Bewußtseins ohne alle Bewegung, so sind das offenbar rein geistige. Giebt es Thätigkeiten des Bewußtseins mit Bewegung verbunden, so werden diese, insofern die Bewegung dem Bewußtsein untergeordnet ist, der Seelenlehre [an]gehören, insofern das Bewußtsein der Bewegung untergeordnet ist. d. h. insofern das Bewußtsein das aus der Bewegung Entstehende ist, werden wir da zweifelhaft sein zu sagen, die Bewegung, welche das Bewußtsein als Resultat hat, gehört der Physiologie an. Auf andere als auf diese beiden Arten können wir uns nicht eine wirkliche Einheit denken. Es bleibt also übrig, wo Bewegung ist ohne Bewußtsein. | Das ist also das System von Thätigkeiten, welches rein dem Raumerfüllen angehört und mit dem Geistigen nichts zu thun hat. Diese zusammen genommen bilden die Beziehung, wo wir, indem wir die Seele als Ich setzen, sagen „mein Leib“. Das Bewußtsein ist also der eigentliche Centralpunkt der Psychologie. Die Art und Weise des Geistes zu sein in der Einheit mit dem Organismus ist eben das Bewußtsein und dieses wird in der Organisation und in der Verbindung mit derselben die Thätigkeit des Geistes. Die menschliche Seele wäre also der Geist auf dem Punkte, wo überall und bei jeder Thätigkeit das Bewußtsein wirkt. Nun aber wollen wir die beiden Fälle, noch einmal näher betrachten, nämlich, wo das Bewußtsein das Resultat der Bewegung ist und das Bewußtsein ganz von der Bewegung getrennt. Betrachten wir unsere sinnlichen Operationen, so scheinen dies alle solche Fälle zu sein, wo das Bewußtsein entsteht durch die Bewegung; es ist die Affektion des allgemeinen Organs, wodurch die Empfindung entsteht und diese wird dann Bewußtsein eines eigenen Zustandes, Selbstbewußtsein. Wir müssen daher sagen, die eigentlichen Bewegungen der Sinne sind rein organisch und gehören in das Gebiet der Physiologie; aber wie nun dies Bewußtsein als solches wird und wie es sich zu den übrigen Formen des Bewußtseins verhält, würde in die Psychologie gehören. Wollen wir nun aber sagen, daß die Thätigkeiten der Sinne mit dem geistigen Lebensprinzip gar nichts zu thun haben d. h. wenn wir davon ausgehen, daß das Bewußtsein als die Bewegung hervorbringend der Wille ist, können wir sagen, daß unsere Bewegung nicht abhängig ist vom Willen? Es giebt aber 1, eine ausdrückliche Bewegung bei der Beobachtung; wir sind uns auch weiter bewußt, daß wir sehr oft nicht sehen, nicht hören, weil wir etwas Anderes wollen, obgleich unsere Sinne nicht im Zustand der Abspannung sind. In einem Zustand geistiger Thätigkeit, die aber ganz in sich zurück gezogen ist, ist es anders. Wir können nicht sagen, daß die eigentlichen Sinnesthätigkeiten nicht dabei vorge13 wir] wir sagen

26 .] ;

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gangen wären; sie sind aber nicht zum wirklichen Bewußtsein geworden, weil der Wille dazu fehlte. Es giebt eine Abhängigkeit der Bewegung | von dem Prinzip des Bewußtseins und diese gehören in die Psychologie. – Die Bewegungen, welche gar nicht mit dem Bewußtsein zusammenhängen sind die animalischen; von der Veränderung, welche das Feste und Flüssige erfaßt vermittelst Aussonderung und verschiedener Verhältnisse zwischen denselben. Von diesen Bewegungen können wir ein Bewußtsein bekommen, indem wir uns das leibliche Sein zum Gegenstand machen; mit dem Leben unmittelbar ist ein Bewußtsein davon nicht gegeben; so daß sie der Physiologie angehörten. Es erheben sich aber auch hier Einwendungen. Es ist zwar wahr, daß wir z. B. von der Bewegung des Bluts kein Bewußtsein haben; aber die Zustände des Bewußtseins haben auf den Umlauf des Blutes einen Einfluß, so daß er beschleunigt oder gehemmt wird, so daß also Veränderungen der Bewegungen aus dem Bewußtsein entstehen. Die Physiologie würde diese Zustände als krankhafte ansehen müssen; wenn wir nun darauf sehen, daß gewisse Zustände des Bewußtseins diese Veränderungen hervorbringen, andere nicht, so sehen wir doch darin etwas Psychologisches, was wir keineswegs ganz ausschließen dürfen. Wir haben hier allerdings etwas gewonnen: aber nicht ein sehr Einfaches; so daß wir immer auf unsere Maximen zurückgehen müssen, damit wir theils nichts Fremdes in unser Gebiet ziehen, theils auch nichts Wesentliches auslassen. – – Das eigentliche Ziel dieser Untersuchung muß sein, den Zusammenhang desjenigen was aus den geistigen Thätigkeiten hervorgehen soll, als etwas aus der Vernunft nothwendig Hervorgehendes zu betrachten. – Als die letzte Reihe unserer vorläufigen Untersuchungen anfing, so wollten wir einige Folgerungen aus der Identität von Leib und Seele unter dem Begriff des Lebens entwickeln. Wir sind in dieser Beziehung schon früher ausgegangen von der allgemeinen Thatsache, deren erstes Vorkommen aber in [eine] Zeit fällt, der wir uns nicht erinnern, nämlich des Ich Sagens. Vorher ist an einen Gegensatz gegen das Subject selbst nicht zu denken. Wir bezeichneten das früher durch den Ausdruck Materie und Geist; das Ich in dem einzelnen Leben ist nichts anderes, als eine Erscheinung des Geistes in der Ver|bindung mit diesem bestimmten Organismus. Betrachten wir diesen in dem Zusammenhang mit der Seele von dem physiologischen Standpunkt aus, so setzen wir einen Gegensatz zwischen dem individuellen Leben und dem chemischen Prozeß und der zeitliche Verlauf des Lebens ist nichts als das in diesem Gegensatz sich erhalten. Diese Formel ist das allgemeine für alle diejenigen Lebenszustände, welche wir aus unserer Betrachtung ausschließen. Nun aber, wenn wir auf die andere Seite sehen, wenn wir die Seele als eine Art und Weise zu sein gesetzt haben

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und das Leben von ihr in die geistigen Thätigkeiten, so müssen wir sagen, die Einheit des Lebens besteht darin, daß sich der Gegensatz beständig erhalte. Auf der psychologischen Seite erkennen wir als die Einheit des Lebens das Bestreben die zusammenhängenden Erscheinungen des geistigen Lebens festzuhalten, aber gebunden nach dem materiellen Prozeß der mechanischen Veränderungen nach dem ihm selbst innewohnenden Prinzip. Ein einzelnes Leben ist auch nur in sofern ein einzelnes als es Anfang und Ende hat; Was man über das Herkommen der Seele und über das Wobleiben der Seele in Frage stellen kann liegt ganz außerhalb unseres Gebietes. Es bleibt aber völlig dahin gestellt, ob nicht aus dem Resultat unserer Untersuchungen etwas in Beziehung auf die Beantwortung jener Frage erfolgen könne. So wie wir nun dies festhalten, so ergiebt sich uns der zeitliche Verlauf des Lebens in selbstbestimmter Form. Die physiologische Seite beruht auf dem Gegensatz zwischen dem universellen Prozeß der Veränderungen und dem individuellen. Der Begriff des Lebens bringt es mit sich daß das innere Prinzip mitbestimmend sei. Die ganze Kraft des Organismus ist dann entwickelt und die Blüthe des Lebens, ist dieses, daß die Lebenskraft auch das maximum ist in dem Widerstande den sie dem inneren Prozeß leistet. Die Lebenskraft erscheint uns aber auf diesem Punkte ein Gewordenes und gehen wir auf die ersten Anfänge zurück; so kommen wir da erst auf einen Indifferenzpunkt zwischen dem universellen Prozeß und dem individuellen. Die ersten Anfänge des Werdens der Organisation, sind gethätigt durch die Organisation der Mutter. Das Ende des zeitlichen Lebens können | daher wir ansehen als das Übergewicht des universellen Prozesses gegen den individuellen. Wir haben hier also die Formel eines Anfangspunktes, eine Steigerung bis zu einem maximum und dann wieder ein Sinken bis zum minimum. Hier kann nun allerdings eine Frage aufgeworfen werden. Nämlich wenn wir sagen der Anfang jedes menschlichen Lebens ist uns immer in dem Eingeschlossensein der Organisation in die der Mutter gegeben. Wie ist aber die erste Organisation entstanden? Hierauf können wir in dem Gebiete unserer Disciplin keine Antwort geben; denn sie würde auf eine andere Frage zurückgehen, welche eine kosmologische ist. Es folgt daraus aber viel mehr. Wenn wir diese Frage völlig ausschließen müssen, so werden wir schließen, daß wir in keinem Gebiete unserer Untersuchung zurückgehen können bis auf einen problematischen ersten Menschen. Wie die Entwickelung des Bewußtseins in demselben vor sich gegangen sei, können wir ebenfalls nicht sagen. – Die Formel für den zeitlichen Lebensverlauf, welche wir jetzt als die eigentliche physiologische betrachtet haben ist die 13 uns] uns;

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Form des Lebens als die sich selbst bewegende; nach der physiologischen Seite hin ist es die Form für das Leben als ein sich seiner Bewußtes. Wir haben also eine Duplizität, theils das Bewußtsein als Lebenseinheit betrachtet d. h. die Identität des Ichsagens in einer einzelnen individuellen Erscheinung dann aber auch [ ] Was das erste betrifft, so haben wir dieselbe Form, einen Anfangs und Endpunkt für das Bewußtsein und ein maximum. Denn der Anfang des Lebens und der des organischen Prozesses ist uns ein Unbekanntes; er kommt nicht zur vollständigen Wahrnehmung; ebenso ist es mit den Anfängen des Bewußtseins; wir können nicht eher sagen, daß es da ist als bis es auch erscheint. Das Ichsetzen ist uns ein noch viel späterer Punkt. Wir können nämlich nicht mit Gewißheit sagen, daß in dem angefangenen Leben ein Ichsetzen für sich ist; und so wir reden wollen von einer Continuität des Ichsetzens, so müssen wir mit diesem Punkte beginnen, wo es zur Erscheinung kommt und | dies geschieht durch die Sprache. Von diesem Punkte an ist aber die Continuität des Ichsagens erst ein Werdendes; Reden wir von dem zeitlichen Verlauf des Lebens, so müssen wir es als eine Reihe von Momenten betrachten; das maximum des Lebens ist, wo die Beziehung aller Momente auf einander die vollkommenste ist. Das Bewußtsein in seiner ganzen Entwickelung ist nicht ohne organische Thätigkeit. Schon in der Vorstellung, daß das Lebendige den Grund seiner Veränderungen theils in ihm selbst habe theils außer ihm, so daß ein Gegensatz zwischen diesen beiden gegeben ist. Wenn nun aber das Subject des Lebens hiedurch nicht gespalten werden soll, so müssen wir diese Gegensätze in eine Einheit auflösen. Das Wesen des Lebens besteht also darin, daß nie Veränderungen in ihm vorgehen durch bloße Einflüsse von Außen, sondern daß stets ein Inneres mitwirkt. Der Werth des innern Prinzips ist größer insofern er Veränderungen allein bewirkt, geringer insofern es nur dazu wirkt. Dieses geringere bezeichnen wir durch den Ausdruck Empfänglichkeit oder Receptivität. Das größere durch den Ausdruck Selbstthätigkeit; In diesem Gegensatze als ein stetiger ist der ganze zeitliche Verlauf des Lebens. Der Anfang des Lebens ist daher in dieser Beziehung Null und die Entwickelung des Bewußtseins gestaltet sich nur durch das Außer ihm. Das erstere ist gar nicht zu leugnen. – – – Betrachten wir die Gesammtheit der Orga5 auch] es folgt ein Spatium von der Länge einer dreiviertel Zeile, zu ergänzen wohl „das Bewußtsein in Bezug auf den Geist als gleichsam den Ort der geistigen Thätigkeit“ (vgl. Berliner Nachschrift, S. 54) 23 habe] liege 26 Wesen] Leben 35–36 Zusatz Berliner Nachschrift, S. 57–58: „Dieses erste ist etwas, wogegen ein Zweifel gar nicht eingewendet werden kann, ja selbst die, die etwas anderes auszudrükken scheinen durch „angeborene Ideen“, behaupten nichts Anderes; man kann doch

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nisation so präsummiren wir eine Einheit; finden aber, daß die Bestimmtheit in der Gattung zugleich auch die Gränze bildet zwischen der [un]vollkommneren und vollkommneren Organisation. In den vollkommneren Gattungen finden wir einen bestimmten Kreis von Lebensthätigkeiten und eine Identität der Lebensweise, welche sich fortpflanzt. Aber so wie das Gebiet des Bewußtseins problematisch ist, so kümmern wir uns nicht um die Frage inwiefern auch da ein Bewußtsein mit einem geistigen Gehalt ist. Welches ist nun der Punkt an welchem die Entwickelung des Bewußtseins mit seinem geistigen Gehalte anfängt? Es ist der Punkt, wo die Aneignung der Sprache beginnt. Wir hätten also wieder an einem bestimmten organischen Prozeß (denn das ist die Sprache) einen Punkt, wo das Physiologische mit den rein geistigen Thätigkeiten in der unmittelbarsten Verbindung ist. Gehen wir auf einen problematischen ersten Menschen zurück, so können wir uns nicht denken, daß der geistige Gehalt des Bewußtseins sich in | ihm anders als mit der Sprache entwickelt habe. Hätte die Organisation nicht die Sprache, so würden wir sie uns auch nicht denken können als Träger des geistigen Gehalts des Bewußtseins. Sprache nehmen wir in einem weitern Sinn; wir können uns denken, daß es ein für sich bestehendes System von organischen Bewegungen geben könne, das die Stelle der Sprache vertrete. Wenn wir von einem Wissen oder Schaffen reden in Beziehung auf den Geist an sich abgesehen von dem zeitlichen Leben, abstrahiren wir von dieser Nothwendigkeit. Es fragt sich nun kommen wir hier auch zu einem maximum und 10 Es] es nicht sagen, daß sie im Bewußtsein vorhanden. Ich muß hier wieder erinnern was früher von einem andern Punkt festgestellt wurde, daß wir unsre Untersuchung nicht auf einen problematischen ersten Menschen mit erstrecken. Sowie wir also sagen, in Beziehung auf das Leben in der physiologischen Seite müssen wir stehen bleiben da wo das Leben mit der Vorstellung der Erzeugung entstand, so werden wir in Bezug auf unsern Gegenstand dasselbe wiederholen müssen. Sowie wir aber bei diesem Gebiet stehen bleiben, haben wir dasselbe Recht entwickelt, Bewußtsein vorauszusetzen, und so können wir auch nur voraussetzen, daß sich in dem Einzelnen das Bewußtsein entwickelt im Zusammenhang mit anderm, das schon entwickelt ist. Das führt uns auf einen Punkt auf den uns das vorige nicht führen konnte. Nämlich wenn wir sagen, es entwickelt sich das Bewußtsein seinem Gehalt nach unter der Form des Zusammenseins mit andern, so heißt das nichts anders, als das Bewußtsein | belebt sich durch die Gemeinschaft mit andern. Wenn wir fragen, was das voraussetzt, so wird zugegeben werden müssen, es setzt voraus eine Identität des einen und andern in Bezug auf alles, was zu diesem Entwicklungsprocesse gehört; diese Identität ist nun ihrem Wesen nach das, was wir durch den Ausdruck Gattung oder Natur bezeichnen. Wir sagen, es giebt eine menschliche Natur, insofern wir sagen, daß alle einzelnen in dieser Bezeichnung identisch sind, und wir sagen, die Gesammtheit der einzelnen Menschen bildet die einzelne Gattung. Ohne diese Identität würde nicht zu denken sein, wie sich an dem einen Bewußtsein das andere entzünden könnte.“

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ist jenseits desselben auch wieder ein Sinken? Dies werden wir nicht leugnen können. Das maximum ist das vollkommne Gegenwärtighaben der Sprache, nur daß wir uns dies nicht als einen bloßen Besitz denken können, denn die Sprache ist nur in der Thätigkeit, so daß wir sagen müssen, es sei die Continuität der Sprachthätigkeit in dem Menschen. Finden wir in dem weitern Verlauf wieder eine Verminderung? Sie zeigt sich in der Schwäche des Alters; wir finden bei Vielen eine allmählig sich einschleichende Entfremdung der Sprache; wo das aber auch nicht ist, da ist doch die Produktion in der Sprache in der spätern Zeit nicht mehr dieselbe. Wir haben also auch hier dieselbe Form des zeitigen Verlaufs; haben aber die geistigen Thätigkeiten nur von der einen Seite angesehen, nämlich wie das Sein in der Seele sich als Gedanke und als Begriff herausbildet und dies ist die allgemeine Beziehung zwischen der Seele und der Welt. Aber es ist nicht die einzige; Wir müssen wieder aufnehmen, daß die Selbstthätigkeit als das höhere auch immer ein etwas Bewirken in dem Äußern ist. – – Der Anfang des Lebens ist zu setzen mit dem ersten Beginn einer von der Seele ausgehenden Organisation, die nun mittelbar oder unmittelbar darauf ausgeht auf das Darstellen der Ideen. Der Anfang des einzelnen Lebens ist schon in dem Werden der Organisation; diese an und für sich betrachtet ist schon eine Darstellung des Geistes. Wenn wir nun hier lediglich stehen bleiben bei dieser Formation des Leibes, so ist dies etwas vor allem Bewußtsein Hergehendes. Aber bis zu einem | gewissen Punkte Fortgehendes, worin wir die Wirkungen der Seele erkennen; wobei es aber bei der Bewußtlosigkeit bleibt. Wir sagen, die menschliche Organisation ist eine Darstellung des Geistes. In der physiologischen Organisation finden wir ein Fortschreiten vom Allgemeinen zum Besondern. In Kindern sehen wir nur das Menschliche, in Erwachsenen schon das Eigenthümliche. Dies ist nicht ohne psychischen Einfluß, aber indem derselbe ein völlig bewußtloser ist, so können wir die Wirksamkeit des Psychischen und die Passivität des Leiblichen nicht im Einzelnen feststellen. Die psychische Entwickelung ist nicht bedingt durch die organische, aber wohl umgekehrt. Wir müssen daher die psychische Thätigkeit als ein minimum setzen. Von diesem aus entwickeln sich dann alle diejenigen Thätigkeiten, wobei der Wille immer stärker hervortritt. Ein minimum des Willens ist hier auch schon, weil wir doch in der Folge Thätigkeiten finden, von denen wir das Psychische nicht mehr ausschließen können. Nun aber giebt [es] ein allmähliges Fortschreiten von diesem Einfluß der Seele auf den Leib; es ist hier eine Reihe von näherer Beziehung auf das eigene Dasein und von größerer Entfernung und Losreißung. Dies führt uns wieder auf eine andere Differenz. Stellen wir uns an den Punkt, wo sich das momentan Psychische auf eine Weise, daß wir einen Antheil

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des Psychischen daran nicht läugnen können, in dem Organischen äußert und wir fragen, was ist das hiebei, was wir als den eigentlichen Willen ansehen? Bleiben wir bei dem Geringsten stehen, so ist die Beziehung nur zwischen einem Momente und dem andern. Denn unsere eignen Gemüthszustände werden um so eindrücklicher, wenn sie in das Organische übergegangen sind. Gehen wir nun weiter, so müssen wir sagen, es ist die Voraussetzung eine Relation unter einander. Was bloß durch organische Bewegungen Darstellung eines Momentes ist, der einen geistigen Gehalt hat, [es] auch nur für diesen Kreis sein kann, so sagen wir nun, was aus der Organisation selbst hinaustritt ist schon eine weite Ausdehnung der geistigen Thätigkeiten; daher kann es mit der Persönlichkeit selbst im nächsten Zusammenstehen. So ist es ja bekannt, daß wir das Bild, welches wir uns von einem Menschen gemacht haben, auch in seinen Umgebungen wiederfinden. Hier ist nun aber etwas, was über die unmittelbare Vergegenwärtigung der Person hinausgeht. Es entsteht dadurch ein Verhältniß zwischen menschlichen Werken und | dem öffentlichen Leben. Es würde überflüssig sein hier in das Einzelne zu gehn. Inwiefern hat auch in dieser Region der zeitliche Verlauf des Lebens dieselbe Form? Wir haben schon nachgewiesen ein allgemeines Steigern in der Organisation als sie Darstellung ist: ein Hervorbringen außer sich setzt immer schon die Entwickelung der Organisation auf einem gewissen Punkt voraus. Offenbar werden wir sagen müssen, daß es auch wieder ein Hinabsinken giebt. Das maximum würde sein, der höchste Grad der Lebendigkeit in der Manifestation des Geistes nach Außen. Dieser ist in der Succession der innern Thätigkeiten und [in] der ganzen Energie und der ganzen Fülle der Kräfte. Diese beiden Elemente werden wir in Beziehung auf die steigende als auf die sinkende Lebendigkeit sehr bestimmt unterscheiden können. Je mehr der Einzelne vermag Alles in seinem Bewußtsein Gegebene auf eine solche Weise zur Darstellung zu bringen und je vollkommneres Material er hat, desto vollkommner ist nun diese Entwickelung. Daß die Vollkommenheit nur etwas allmählig Werdendes ist, ist klar. Es kommt aber eine Zeit wo die psychische Gewalt über organische Bewegung ein Werke hervorzubringen abnimmt. Wir haben also hier unleugbar wieder dieselbe Form. Die Differenz, welche statt findet zwischen dieser Erscheinung des Geistes als Seele ist ein anderer Punkt, worauf wir nun geführt sind. Diese 30 Gegebene] Gegebenes 16–17 Vgl. Nachschrift Wichern, S. 29: „Jedes Werk schließt in sich eine Einladung an alle die es zu erkennen vermögen. Hier kommen wir auf das Losreißen des Werkes von der Persönlichkeit und hier kommen wir auf das was wir Kunst nennen.“

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sind freilich ein sehr Mannigfaltiges. Bis jetzt sind wir auf ein 2faches geführt, eine Differenz auf einen Exponenten des ganzen zeitlichen Verlaufs. Dasselbe müssen wir auch sagen von dem Raum, welchen das maximum einnimmt. Aber wir werden wiederum nicht dabei stehen bleiben, sondern zugeben, daß solche Differenzen massenweise existiren. Wir sind immer davon ausgegangen, indem wir suchten den Gegensatz zwischen Leib und Seele, das eigentliche Gebiet der Seele zu bestimmen; doch betrachteten wir den Menschen als ein Ganzes. Wie ist die Organisation dabei betheiligt? Eine Differenz der Organisation geben wir zu und indem wir das Physiologische von dem Psychischen zu trennen suchten, gaben wir zu einen Einfluß des Psychischen auf das rein Materielle der Organisation | und wiederum einen Einfluß der Organisation auf das Psychische. In Beziehung auf die Unabhängigkeiten der Seele in ihren eigenthümlichen Thätigkeiten und in Beziehung auf die Macht der Seele auf die Organisation ist eine große Mannigfaltigkeit möglich. Betrachten wir die Organisation auf ihrem eigentlichen Gebiet, so sind hier große Differenzen [ge]geben, die sich als solche durch den ganzen Erzeugungsprozeß hindurch fortsetzen. Dies ist die organisch nationelle Constitution; welche abzuhängen scheint von dem Verhältniß des organischen Prozesses zu dem universellen. Nun finden wir ebenso Differenzen auf der psychischen Seite in Zusammenhang mit der Organisation. Es wird nicht möglich sein, daß wir glauben können unser Gebiet erschöpft zu haben, wenn wir nicht in dies ganze Gebiet hineingingen. – Es giebt nun eine Differenz des Geschlechts; ob dieselbe auch psychisch sei, ist häufig behauptet, aber auch oft wieder geleugnet. – Bis hieher haben wir die Betrachtungen über den Gegensatz von Leib und Seele, über die Einheit von Leib und Seele unter den Begriff des erscheinenden Lebens geführt. Sie haben also den Umkreis unserer Untersuchung bestimmt. Es fragt sich nun, welche Behandlung wir einschlagen wollen. Wir haben nun schon in den vorläufigen Betrachtungen verschiedene Seelenthätigkeiten uns vergegenwärtigt; diese Differenzen sind uns gege27 von] über 1–4 Vgl. SW III/6, S. 50–51: „Dies führt uns auf einen anderen Hauptpunkt in unserer Untersuchung, nämlich die Differenz der einzelnen Seelen. Diese ist nun freilich eine sehr vielfältige; das, worauf wir jezt gekommen sind, wird ein zwiefaches sein. Wir werden im voraus zugeben müssen, und die Erfahrung bestätigt es auch, daß es eine | Differenz giebt in Beziehung auf den Exponenten des ganzen zeitlichen Verlaufs, indem einzelne Seelen viel und andre wenig leisten, d. h. der Unterschied zwischen dem Maximum des zeitlichen Verlaufs und dem Anfangs- und Endpunkt ist größer oder geringer; dasselbe gilt auch von dem Ort, an welchem das Maximum zu stehen kommt, und von dem Raum, den es einnimmt, indem es bei dem einen kürzere bei dem andern längere Zeit währt.“

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ben als solche die sich überall finden. Da wir die Seele in ihrer Einheit zum Gegenstand haben, so können wir diese Seelenthätigkeiten nur als Elementarische Thätigkeiten betrachten. Zu einer Erkenntniß des Ganzen [werden wir] nicht kommen, wenn wir nicht die elementarischen Thätigkeiten vorher betrachten. Aber diese würden nun wieder gar nicht unsere Untersuchung vollenden. Wir betrachten deßhalb wieder die Seele als Einheit. Diese ist aber bestimmt durch den zeitlichen Verlauf. Betrachten wir das Verhältniß zu den verschiedenen Lebensverrichtungen so kann man 2 Ansichten haben. Wird der ganze zeitliche Verlauf eingenommen – durch die einzelne Thätigkeit, so ist dies keine Seele; kommen mehrere Verrichtungen vor, andere aber sind ausgeschlossen, so würden wir annehmen müssen, daß die verschiedenen Thätigkeiten nicht in gleichem Verhältniß ständen zu dem Wesen der Seele. Der Traum ist offenbar eine psychische Thätigkeit; wenn nun Jemand sagt, er träume nicht in seinem Leben, so können wir ihm die Seele nicht absprechen. – Vielmehr die Erinnerung. Dergleichen Einzelnheiten können mehr aufgeführt [werden.] | Es ist also gewiß, daß die Betrachtung der elementarischen Thätigkeiten nicht der Gesammtinhalt unserer Untersuchungen ist. Gesetzt es wäre richtig und genau das Elementarische aufgefaßt, würden in einer jeden menschlichen Seele die vorgezeichneten Verrichtungen vorkommen und ein jeder Zeitliche Verlauf einer Seele ist eine Reihe von Momenten, in welchen die Gesammtheit dieser Thätigkeiten vorkommt. Wir können sagen, diese Reihe von Momenten theilt sich in der Gesammtheit der elementaren Thätigkeiten so, daß die eine [den] einen, die andere einen andern einnimmt, aber so daß jede vorkommt; wir können aber auch sagen, in jedem einzelnen Moment sind alle verschiedenen elementaren Thätigkeiten wirklich. Stellen wir uns die Frage über den Werth dieser beiden Vorstellungsarten. Die Seele ist uns in ihrem zeitlichen Verlauf als ein Continuum gegeben; stellen wir aber die Sache so vor, daß in einem einzelnen Moment, eine einzelne Thätigkeit isolirt hervortritt, so giebt ein solches Aggregat kein Continuum; denn zwischen dem Aufhören des einen und dem Anfang des andern ist ein Nullpunkt. Nun müßten wir sagen, dieser sei ausgefüllt durch das Übergehen einer Thätigkeit in die andere; aber zwischen dem Fortdauern der einen Thätigkeit und dem Übergehen ist wieder ein Nullpunkt, weil es nicht derselbe Zustand ist. Wir haben also nichts anderes, als daß die erste und 2te schon zusammen gewesen sind und man kann daher die Seele nur als Continuum auffassen, nicht die Thätigkeit unter die einzelnen Momente vertheilen. Wir kommen daher auf die andere Vorstellungsart. In Beziehung auf die Erkenntniß müssen wir uns 23 vorkommt] vorkommen

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die Seele so denken; diese Veränderung, daß auf eine Thätigkeit eine andere folgt, erscheint uns entweder als ein schlechthin Willkürliches oder als ein rein von Außen Bestimmtes. Wir haben damit in der menschlichen Seele den individuellen Prozeß aufgehoben und sind zum universellen zurückgekehrt. Das ganze Gebiet der Thätigkeiten der Seele hört daher auf ein eigenthümliches zu sein. Die elementaren Thätigkeiten sind qualitativ verschieden und zugleich ein Quantum, vermöge dessen sie Gegenstände des Calculus sind. Sagen wir nun, nur äußere Einflüsse rufen diese hervor und bringen sie zum Schweigen. Es könnte daher allerdings die Art und Weise, was eine Seele geworden ist, vollständig be|rechnet werden. Doch lässt sich der Calculus nie zu Stande bringen, weil uns die äußern Impulse nie in ihrer Vollständigkeit gegeben werden können. Nun ließe sich freilich denken, daß das Übergehen von einer elementaren Thätigkeit zur andern einen innern Grund hat. So wie aber dieser in keinen Zusammenhang gesetzt ist mit dem einzelnen Moment, so ist die Art und Weise dieses Überganges etwas nicht Erkennbares, etwas schlechthin Willkürliches. Diese Vorstellung ist auch vorgekommen; sie ist die Idee von der absoluten Freiheit. Wenn wir zurückgehen auf unser unmittelbares Wissen um uns selbst, so ist es immer eine oberflächliche Betrachtung. Je mehr wir uns denken, daß in jedem Moment die ganze Seele auch wirklich thätig ist, müssen wir sagen, daß, indem nicht alle auf gleiche Weise erscheinen können, sondern die eine dominirt, die anderen relativ zurücktreten. Es belehren uns aber viele Erfahrungen, daß wir in solchen ausgezeichneten Momenten das Hinternachgewesensein anderer Thätigkeiten erkennen. Wir müssen daher annehmen, daß in jedem Moment die ganze Seele als wirklich thätig zu setzen ist und die Differenz der Momente nur in dem Verhältniß der Thätigkeiten unter einander liegt. Die Aufgabe einen Beweis zu setzen hört also auf und wenn wir die Elemente zusammenhätten, so bliebe übrig, die Regel zu finden auf das Hervor- und Zurücktreten. Nach der Analogie mit unsern bisherigen Fragen, werden wir sie für Endpunkte halten müssen. Diese sind aber nur durch den Unterschied zwischen diesem und dem entgegengesetzten Verhältniß zu bestimmen; man kann Momente denken, wo alle wesentlichen Funktionen in einem solchen Gleichgewicht erscheinen, daß die Differenz ein minimum ist. Dadurch wird dies dargestellt, was im Gegensatz zur Wirklichkeit einzelner Funktionen die Harmonie des Ganzen ist. Die Darstellung der einzelnen Funktionen als die wahren Elemente des Seelenlebens ist zwar etwas Nothwendiges; wir müssen aber auch eine andere Voraussetzung dazu nehmen, das sind nämlich die großen Differenzen in dem menschlichen Geschlechte welche die ethnischen Verschiedenheiten bezeichnen mit einer durch eine Reihe von Generationen durchgehenden Gleich-

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mäßigkeit. Wir nehmen alle an theils als ein Datum theils als eine Aufgabe für die geschichtliche Forschung, jede dieser Racen habe einen eigenthümlichen psychischen Charakter. Dies ist ein Datum, weil wir es schon wahrzunehmen glauben, eine Aufgabe, weil wir sie einem Begriff nä|her zu bringen suchen. Durch diesen Ausdruck des nationalen Charakters bezeichnen wir den allgemeinen Typus für die verschiedenen Verhältnisse der Seelenthätigkeiten. Auf welchen Punkt der Geschichte wir uns auch stellen, wir finden überall einen Punkt der Differenz über das Maaß. Es ist nicht nöthig, daß man nur dasselbe zu finden annehmen müsse, ein Volk habe seinen Kulminationspunkt schon erreicht, sondern wir erkennen es an [als] eine schnellere Entwickelung. Dieser Unterschied ist freilich nicht so sicher, wenn wir uns auf einen Punkt stellen, wo jedes Volk noch isolirt ist. Die Bestimmung des Charakters und des Maaßes vollendet erst die ganze Aufgabe. Wenn wir hieher gekommen sind, sind wir am Ende unserer eigentlichen Untersuchung. Was darüber hinausgeht, ist ein Übergang in das spekulative Gebiet. Wir können annehmen, daß es uns gelungen wäre, auf diese Weise den Charakter und das Maaß aller Menschengruppen, die ins geschichtliche Leben eingetreten sind, zu finden, so werden wir 2erlei Arten aufstellen können der Auffassung. Stellen wir es mehr als ein Aggregat von Einzelnheiten [dar], so ist es mehr empirisch; aber wenn wir darauf ausgehen darzustellen, daß sich in dem Gebiete der menschlichen Seele nichts anderes denken lasse, als was hier erschienen sei, so ist dies die mehr spekulative Auffassung. Wenn wir zurückgingen auf unsere ursprüngliche Voraussetzung, wie wir zu der allgemeinen Vorstellung Geist gelangt sind, gegenüber der allgemeinen Vorstellung Materie, wie darin lag, daß die menschliche Seele nur eine einzelne Form des Geistes sei, wenn wir bis hieher zurückgehen und die menschliche Seele mit allen ihren Erscheinungen darstellen und wir wollen die Resultate unserer Untersuchungen zu liefern suchen darin was durch die Physiologie hineingekommen ist, so würden wir über unser Gebiet hinausgehen. Also ist uns auch hier eine Grenze gegeben und [wir] erkennen nun das ganze Gebiet unserer Untersuchung. Hieraus ergiebt sich die Eintheilung. Die Betrachtung der Elemente müssen wir vorausschicken, die das psychische Leben konstituirenden Thätigkeiten zusammenzustellen um sowohl ihre Zusammengehörigkeit als auch ihr Verhältniß zur Totalität zu bestimmen. Es folgt ein konstruktiver Theil, wo wir sehen, wie diese Elemente zusammen sein können theils um ein einzelnes Leben hervorzubringen theils um den Charakter dieser großen Massen, inso20 Auffassung] über Darstellung

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fern sie große Einheiten, zu bilden. Können wir dies zur Vollständigkeit bringen und die Aufgabe stellen, das als ein wirkliches System aufzufassen sind wir an der letzten Gränze unsers Gebiets. |

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Es ist in dieser Beziehung etwas Gewöhnliches, daß man die elementarischen Thätigkeiten betrachtet als verschiedene Vermögen. Daran ist etwas Richtiges, hat aber nicht wenig dazu beigetragen, die ganze Aufgabe zu verwirren. Es ist nämlich etwas gar zu Leichtes, daß man sich diese Vermögen wieder personifizirt. Denken wir an das Hervortreten und Zurücktreten der Funktionen so erscheint ein Connflikt der verschiedenen Vermögen und daraus haben sich eine Menge Formeln gebildet. Über diese Betrachtung verschwindet dann die Einheit des Subjekts und das Bild des ganzen Lebens verwandelt sich in einen solchen fortgesetzten Kampf von eingebildeten Gestalten und die ganze Charakteristik des einzelnen Lebens besteht in dem Ausgange dieses Kampfes. Als den ersten Ursprung dieser Behandlungsweise können wir die gewöhnlichen Formeln ansehen. Die Einheit des Subjektes, aus dem Gegensatze von Leib und Seele bestehend, drückt sich auch schon so aus, daß beide Theile auch schon so ausgedrückt werden als etwas was das Subjekt hat (meine Seele, mein Leib)[.] Bliebe man stets bei der natürlichen Bezeichnung durch das Verbum stehen (mein Sehen, Hören, Verstehen) so würde es nicht in die Sprache übergegangen sein. Man substanzirte aber die Thätigkeiten. Es ist dies aber eine Quelle von Verwirrung geworden besonders da, wenn wir die Physiologie absondern, wir doch immer auf die Einheit zurückgehen, [uns] besonders hüten müssen, vor Allem, was uns die Einheit des Lebens verkümmert. Wir betrachten die Thätigkeiten des Lebens als solche in jedem Momente wirksam. Und diese Behandlungsweise der Sache, daß sie als einzelne Vermögen, die ihre besondere Subsistenz in der Seele haben, angesehen werden, das wollen wir bei Seite setzen. Denn dies entfernt uns von der lebendigen Klarheit des Lebens. Welche Methode haben wir zu befolgen, um die verschiedenen Thätigkeiten aufzufassen? Uns ist dazu nichts anderes gegeben als die Einheit des Lebens in welcher alle verschiedenen Lebensthätigkeiten wieder Eins sind, wir haben den Gegensatz zwischen der reinen Physiologie und der Psychologie und die Beziehung von beiden. Die Thätigkeiten, welche die einzelnen Gegenstände unserer Untersuchung ausmachen, endigen in der reinen geistigen, weil wenn wir das Leben in seinem 20 was] man

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zeitlichen Verlauf betrachten in dem ersten Beginn diese Thätigkeiten noch Null sind für die Erscheinung; die organischen treten schon hervor. Diese beginnen daher, jene enden. Wir finden aber nur einen Übergang | aber keinen bestimmten Theilungspunkt, den wir doch haben müssen. Ohne irgend einen Gegensatz zu Grunde zu legen werden wir unsern Zweck nicht erreichen. Wir können noch ausgehen von dem Verhältniß des lebendigen Einzelwesens zu dem Ganzen. Eine nähere Bestimmung desselben haben wir schon in unsere erste Erklärung aufgenommen. Diese war freilich ganz aus dem Bewußtsein, wie es die Erfahrung konstituirt, ausgegangen. Wir sagten nämlich, wenn wir in dem allgemeinen Fluß der räumlichen und zeitlichen Bestimmtheiten des Seins, etwas fixiren als eine Einheit, so wäre diese eine lebende, insofern zu dem Wechsel von Bestimmtheiten, die sie darstellt, sie den Grund zum Theil in sich hätte. Wir setzen diesem entgegen andere fixirte Einheiten, die nur den universellen Prozeß darstellten. Gesetzt diese Voraussetzung wäre gegründet so enthielte sie wohl einen hinreichenden Grund lebende Einheiten zu fixiren, wie kommen wir dazu Einheiten zu fixiren, von welchen wir wissen daß sie den Grund ihres Wechsels nicht in sich trügen? Diese Betrachtung liegt uns allerdings nahe. – Es kann viel leichter ein Anstoß gegeben werden, um den ganzen Prozeß der Sonderung anzufechten; es erscheint uns aber nicht auf diese Weise als etwas Willkürliches lebendige Einheiten zu fixiren. Weil wir aber dies noch nicht begründet haben, so können wir [es] nicht angehen [.] – – Wir betrachten also nun die lebendige Einheit von diesem Punkte aus. Den Grund von dem Wechsel trägt diese zum Theil in sich; anderntheils liegt der Grund außerhalb. Wäre dies nicht, so wäre sie ein vollkommen isolirtes; und hätte nur einen einseitigen Einfluß durch seine Thätigkeiten. Gehen wir auf unser Selbstbewußtsein zurück, oder auf die Erfahrung, so müssen wir sagen, wir mögen eine Thätigkeit isoliren, so werden wir einen Grund dazu in uns finden. Aber zugleich sagen, sie würde nicht dasselbe gewesen sein, was sie ist, wenn nicht das außerhalb Gegebene auch dasselbe gewesen wäre. Hier ist uns also kein Gegensatz gegeben, wie wir ihn suchen, sondern nur ein Unterschied. Jeder Wechsel in dem Einzelnen ist ein Resultat in seinem Innern und Äußern und die Thätigkeiten unterscheiden sich nur als ein mehr von diesem und weniger von jenem und umgekehrt. Ein solcher Unterschied läßt sich jedoch auf einen Gegensatz zurückführen. Wenn wir sagen, es giebt Veränderungen in dem lebendigen Sein, welche mit einer Einwirkung von Außen beginnen, aber dann durch einen innern Grund erst befestigt werden, andere welche mit der Thätigkeit beginnen aber durch die Gegenwirkung des Äußern bestimmt werden, so haben wir in die|ser Formel einen Gegensatz und dieser ist ein be-

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stimmtes Theilungsprinzip für alle Veränderungen, die in dem Lebendigen vorkommen können. Wir müssen Beides, das lebendige Einzelwesen und die Gesammtheit alles übrigen Seins, als Thätiges setzen; ist die Einwirkung von Außen auf das Einzelwesen das Primitive, so können wir uns dies versinnlichen als ein eindringen wollen in das Lebendige. Die Gegenwirkung ist, daß es sich in diesem den Grund seiner Veränderung in sich selbst haben, erhalten will. Was etwas bloß Passives hätte werden müssen, wird durch den innern Grund, die Selbstbestimmung, etwas dem Lebendigen selbst Angehöriges; das Sein der Gesammtheit in dem Lebendigen Einzelwesen nach seiner Art und Weise, ist die Formel, wodurch wir dies ausdrücken können. So wie wir dies vermögen und bedenken, daß wir von einer Continuität ausgegangen sind, so dürfen [wir] nicht eine bloße Einwirkung von Außen annehmen, sondern nur mit der Gegenwirkung zusammen. – Es giebt nun Thätigkeiten, welche in dem Lebendigen selbst beginnen; wir betrachten sie im Verhältniß zu der Gesammtheit und sie werden also immer ein Ausströmen des Lebendigen gegen die Gesammtheit sein. Es ist fast unvermeidlich, daß wir auch in der Gesammtheit sondern, weil wenn wir diese Ausströmung in dem Lebendigen würden sondern, wir auch Differenzen in der Gesammtheit haben müssen und so bald diese nicht mit gehörigem Grund vorausgesetzt werden können[.] – Wir setzen die Gesammtheit aber doch auch wieder als ein Thätiges und zwar die Thätigkeit des Lebendigen als das individuelle, die Thätigkeit der Gesammtheit als das universelle. Wir müssen die Thätigkeit der Gesammtheit ansehen als die Continuität des universellen Prozesses, der auf die Zerstörung des individuellen Prozesses gerichtet ist. Nun aber wird sich die aus dem Leben ausströmende Thätigkeit irgendwo an dem universellen Prozess brechen, denn sonst würde das Ausströmen des Lebenden das Zerstören des universellen Prozesses sein. Soll das Leben als solches fortdauern, so muß sich der universelle Prozess auch erhalten, denn sonst wäre durch den Gegensatz auch das Leben mit aufgehoben. Wir sind also zu dem Vorigen zurückgekommen[,] jeder Moment ist wesentlich zusammengesetzt aus beiden, [wir] haben aber doch Gegensätze und können unterscheiden, solche Funktionen, welche in dem Lebendigen selbst beginnen und solche welche nur Gegenwirkungen des Lebendigen, von Außen sind. Wir bezeichnen die freien durch den Ausdruck, ausströmende Thätigkeiten. Die andern durch den Ausdruck aufnehmende Thätigkeiten. Dieser letzte Ausdruck trägt nicht vollkommen in sich, daß sie nur eine Gegenwirkung ist. Von hier aus müssen wir zurücksehen auf die allgemein festgestellte Form des zeitlichen Verlaufs, des Lebenden. Auch dieser | Gegensatz muß unter dieselbe Formel gefaßt werden. So wie wir die Lebensthätigkeiten und zunächst die psychischen am

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Anfange des Lebens betrachten, so sehen wir den Gegensatz da noch nicht gehörig gesondert und müssen das, daß der Gegensatz ein sich nur allmählich entwickelnder ist mit nehmen. Das Leben erscheint uns als eine oscillirende Thätigkeit zwischen überwiegend ausströmenden und überwiegend aufnehmenden Momenten, so daß uns das Ganze erscheint als eine vollständige Circulation, welche mit einem minimum des Gegensatzes zwischen den ausströmenden und aufnehmenden Thätigkeiten beginnt und bis [auf] ein maximum steigt. Die aufnehmenden Thätigkeiten, welche durch Einwirkungen von Außen her beginnen, aber durch die freie Empfänglichkeit des Subjekts ihre bestimmte Gestaltung erhalten, bezeichnen das Sein des Außer uns in dem Subjekt. Beides würde gänzlich geschieden sein, wenn gar keine Einwirkungen wären, das Subjekt aber würde aufhören, wenn es diese Einwirkungen nicht fixirte. Nehmen wir die ausströmenden Thätigkeiten, welche wir als die Art des individuellen Prozesses bezeichnen, so werden sie das Außer uns zerstören; aber sie werden von den anderen gehemmt und so wie dies der beständige Ort des universellen Prozesses ist, so werden die Ausströmungen des Lebendigen aufgefaßt und nun, das Ergebniß aus beiden, der so gewordene Zustand des Außer uns repräsentirt das Sein des Lebendigen des Außer uns. Es ist uns hier nun noch eine große Theilung zu machen. So wie wir bemerken, daß in der Dignität des Außeruns, je nachdem wir es als Bewußtlos setzen oder nicht, eine Differenz entsteht, so entsteht auch eine Differenz zwischen dem lebendigen Einzelwesen und dem Außerihm. Diese können wir jedoch hier nur im Allgemeinen angeben. Haben wir hiedurch aber auch eine vollständige Eintheilung gemacht? haben wir dadurch ein Bild von der Totalität des Lebens? Sobald wir das lebendige Einzelwesen und das Außerihm als eins setzen, so erscheint das Ganze als eine immanente Thätigkeit. Das Einzelwesen selbst haben wir schon als Einheit gesetzt, aber auch einen untergeordneten Gegensatz in demselben, zwischen Leib und Seele; so wie es nun Thätigkeiten giebt, welche zwischen dem Einzelwesen und dem Außerihm verlaufen, muß es nicht auch Thätigkeiten geben, welche zwischen Leib und Seele verlaufen? Thätigkeiten welche auf eine organische Weise beginnen und auf eine rein intellektuelle endigen und umgekehrt. Es fragt sich nun, ob wir diesen Gegensatz suchen – und also sagen, die Gesammtheit des Lebens des Einzelwesens, theilt sich in Momente, welche das Verhältniß der Elemente in ihm bestimmen und solche, welche den Innern Thätigkeitsverlauf in seinem Zusammenhang mit dem Außeruns. Kommen wir auf die Ansicht zurück, daß wir uns die menschliche Seele als solche in dem Zusammensein der geistigen und organischen Thätigkeiten nur denken als die Erscheinung des Geistes in einer gewissen Verbindung mit der Materie; |

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Nehmen wir dazu den fortwährenden Einfluß der geistigen Thätigkeiten auf die Materie, so werden wir – Das ganze Sein des Einzelwesens ist also von Anfang an nichts für sich, sondern ein Verhältniß zwischen dem Innern und dem äußern. Das rein Organische ist entweder seiner besonderen Art und Weise nach in der Abhängigkeit mit dem Geist oder nach seinem Gegensatze mit diesem in einem Zusammenhang mit dem universellen Prozess. Wir sagen daher, daß ein rein innerer Thätigkeitsverlauf, der mit einer äußern Erregung beginnen soll, nur ein Schein ist. Wir werden nun aber schon geneigt sein, die Verbindung auf der andern Seite herzustellen; es läßt sich kein Thätigkeitsverlauf ohne Zusammenhang mit dem Äußern denken. Die geistigen Thätigkeiten sind entweder solche, welche eine Aktion nach Außen hin motiviren oder solche, welche einen rein innern Moment konstituiren. Nehmen wir geistige Thätigkeiten welche in einer Willensbestimmung endigen, so werden diese eine Aktion nach Außen motiviren; Thätigkeiten welche im Gedanken enden, werden einen innern Moment konstituiren. Ein Verlauf von Thätigkeiten, welcher in Willensbestimmung endigt, ist daher kein innerer. Hiebei ist 1, zu bedenken: es giebt kein Denken, was nicht sei ein Denken von etwas und sagen wir etwas, so kommen wir zurück auf den Gegensatz zwischen dem Einzelwesen und dem Außerihm. Wenn wir von dem Inhalte ganz abstrahiren, müssen wir doch sagen, daß eine im Denken endigende Thätigkeit, ein inneres Sprechen sein muß; soll nun der Inhalt bloß der Denkende selbst als solcher sein, so ist dies nichts als das beständige Ich sagen und dies wäre die Annäherung an ein inneres Brüten; der Inhalt sei aber, welcher er wolle, so bald wir uns das Denken denken unter der Form der Sprache, müssen wir auch sagen, daß hier der Moment endet ist nur scheinbar, denn das Sprechen will nicht ein bloß innerliches sein und ist nicht eher vollendet ehe es ein Äußeres wird. So wie uns das Denken ein vollendetes ist, ist auch die Tendenz zur Mittheilung unvermeidlich. Ein rein innerer Verlauf ist daher nichts, nur ein Schein. Es kann aber eine Menge von Thätigkeiten geben, deren Ende nur im Innern ist; ein rein innerlicher Verlauf in dem Einzelwesen selbst ist nur ein Schein, insofern er abhängig ist von einem von Außen genommnen Anfang und Ende, oder nicht 24 solcher] solches 1–2 Zusatz SW III/6, S. 67–68: „und wenn wir dazu nehmen, was | wir gesagt von dem fortwährenden Einfluß der geistigen Thätigkeiten auf die organischen, so werden wir die Bildung der Organisation, durch welche das Einzelwesen in seinem Dasein bedingt ist, auch ansehen können als Einwirkung des Geistes auf die Materie, ebenso wie in dem fortwährenden Dasein es eine Einwirkung auf die rein organischen Thätigkeiten giebt.“

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vollendet ist. Geben wir nun zu, daß jeder Thätigkeitsverlauf Anfang und Ende haben müsse in Beziehung des Einzelwesens auf das Außerihm, so werden wir daher eine große Differenz finden, insofern der Anfang im Innern und das Ende im Äußern ein minimum sein kann. Es ist eine Differenz zwischen denen, welche einen kürzern Verlauf und denen welche einen längern Verlauf haben. | Dächten wir uns alle Momente wären so, daß Ausströmen nach Außen und Aufnehmen von Außen stets unmittelbar zusammen wären, so wäre der Unterschied zwischen den Einzelwesen und der Materie der geringste und so auch umgekehrt. Das Eigenthümliche in dem geistigen Sein des Einzelwesens werden wir daher am deutlichsten erkennen in einem innern Verlauf der Thätigkeiten. In unserm Gegensatz selbst aber, zwischen den mehr aufnehmenden und mehr ausströmenden Thätigkeiten, haben wir jedoch in jeder dieser Thätigkeiten wieder eine Duplizität. Bei den frühern Thätigkeiten haben wir Einwirkungen von Außen auf das geistige Einzelwesen, die erst durch dasselbe gestaltet werden; dies kann aber auf 2fache Weise geschehen, daß sie das Sein außer uns repräsentiren und so daß sie das Sein der Dinge in uns repräsentiren aber unter der Form der Veränderung. Das eine geht in die Wahrnehmung aus, das andere in das Selbstbewußtsein. Beides ist in Beziehung auf den höhern Gegensatz dasselbe. – – Das Resultat aus der Thätigkeit der Einzelwesen und aus der Art, wie diese von dem Außen gehemmt werden, kann sich bald als ein Werk des beseelten Einzelwesens theils als das Heraustreten des Einzelwesens zeigen. Diejenigen aufnehmenden Thätigkeiten, welche mehr das Einwirkende in ihrem Resultat repräsentiren, sind zunächst das, was wir Wahrnehmung nennen, was also das Resultat ist, daß wir eine Affektion auf ein Außer uns[,] auf dasjenige woher sie ist[,] beziehen und also einen Gegenstand der irgendwie auf uns eingewirkt hat, setzen. Zu Grunde liegt eine Affektion der Organe; dieselbe ist aber auch eine Affektion in uns selbst. Repräsentirt das Resultat mehr die uns zugehende Veränderung, so ist sie ein Gefühlszustand. In jedem Moment sind alle differenten Funktionen zusammen[,] aber [es] ist eine andere Funktion, wodurch wir die Gegenstände wahrnehmen, [und] eine andere wodurch wir die dadurch bewirkten Zustände in uns wahrnehmen. Das Faktum ist in jedem Falle dasselbe. So kann z. B. der Geschmackseindruck auf etwas bezogen werden was in Berührung mit unserm Organ gekommen ist und dann haben wir eine Wahrnehmung. Etwas anderes ist aber die Empfindung welche wir haben; es kann auch das Factum so sein, daß nur die Empfindung für uns wirklich ist, der Gegenstand ganz verschwindet. Will man einen Gegenstand durch den Geschmack kennen lernen, so bezieht man den Ein-

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druck nur der Empfindung auf die Wahrnehmung. Wird die Empfindung das Vorherrschende, können wir auch den Gegenstand fixiren. Je mehr wir uns Beides denken in Gleichgewicht, desto mehr denken wir uns entweder 2 bestimmte aus einander tretende Elemente oder ein Verworrenes und das ist die stumpfe Indifferenz. Wie steht es um dieselbe Differenz auf der andern Seite? Hier ist das Ich das ursprünglich Thätige; diese Thätigkeit hat eine Richtung irgendwohin und dringt also in das Außer uns ein. Wird es durch dies Eindringen ein anderes, immer nur nach der Art und Weise des universellen | Prozesses, aber doch immer die Thätigkeit des Beseelten darstellend so ist dies ein Werk. Denken wir ein Heraustreten des Beseelten Einzelwesens aus sich selbst, so kann dies unmöglich nach Außen gehen ohne organische Bewegungen. Diese sind aber immer schon mit dem Außer uns zusammen denn wir setzen uns nie in den leeren Raum, sondern sind von dem Außeruns umschlossen. Jede Bewegung ist daher ein Eindringen in das Außeruns. In demselben ist aber nichts zu fixiren, als die momentan vorübergehende Bewegung. Zu fixiren ist das Herausgetretensein und die Art und Weise des Zusammenhangs zwischen dem Herausgetretensein und der innern Selbstthätigkeit. Fragen wir nun, ist durch ein solches Zusammentreffen in dem Außer uns etwas geändert, so müssen wir [ja] sagen; aber er ist nur hervorgebracht als ein schlechthin Vergängliches. Was hier als Moment außer dem selbstthätigen geworden ist, ist in dem Außer uns ein solches minimum, daß man nicht sagen kann es sei für dieses. Wofür ist es? In diesen Thätigkeiten ist das Gattungsbewußtsein mit wirksam und wenn wir in einem bewegten Moment zu dem Bewußtsein kämen, würden wir auch die Bewegung hemmen. Wir haben also hier ein solches Gebiet von Thätigkeiten, die nur für unser Gleichen da sind. Ist es denn wahr, daß der Selbstthätige in dem Außer sich immer nur Veränderungen hervorbringen kann nach der Analogie des universellen Prozesses? Es ist Alles vermittelt durch organische Bewegungen und organische Auffassung. Diese kann aber nur vermittelt werden durch ein medium, welches ganz dem universellen Prozess angehört. Aber die Voraussetzung, daß etwas da ist, vermöge dessen, der universelle Prozess wieder ein individueller wird unterscheidet diese Thätigkeiten von allen andern. Wenn wir nun diese beiden Arten der Thätigkeit unterscheiden, die, wo das Heraustreten des Einzelwesens bezogen wird auf die Veränderungen in dem Außer uns entsteht eine Wirksamkeit, ist aber die Selbstthätigkeit nur ein Heraustreten des Individuums aus sich selbst für die Auffassung, so sind dies die Thä1 der Empfindung auf die Wahrnehmung] so Nachschrift Wichern, S. 42–43 sowie SW III/6, S. 72; Ms.: der Wahrnehmung auf die Empfindung 25 In] in

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tigkeiten, welche wir durch den Ausdruck „darstellende“ bezeichnen. Nehmen wir dazu, daß rein immanente Thätigkeiten eigentlich nie einen Moment abschließen, so müssen unter den aufgestellten Sachen alle Thätigkeiten befaßt sein. Wir haben früher gesagt, wir konnten uns das Leben nicht anders ursprünglich vorstellen als unter der Form eines Stetigen, aber nicht wieder etwas Einzelnes darin unterscheiden, wenn wir dies Continuum nicht in diskrete Theile zerlegen und wir haben uns des Ausdrucks „Moment“ bedient. Dies Getrenntsein der Momente und dies Aufeinanderfolgen der Thätigkeiten haben wir wieder unter jene Stetigkeit subsumirt. Wir können in diesen Thätigkeiten unterscheiden, das Erregtwerden von Außen und das Erregen des Außeruns; aber zwischen beiden ist ein bedeutender innerer Verlauf. Haben wir nun gesagt, jeder innere Verlauf muß von Außen anfangen und im Außen endigen, so werden wir sagen können, | wir sind uns einer Menge Thätigkeiten bewußt, welche nicht im Außen endigen, sondern von ganz andern Thätigkeiten unterbrochen werden. Aber fassen wir nur das Wort „Moment“ in seinem richtigen Sinne. Denn wir werden in diesem Falle stets sagen, die Thätigkeit sei abgebrochen; sie ist nur der Zeit nach unterbrochen und der Moment, welcher angefangen hat mit dem Entschluß ist erst vollendet, wenn die Mittheilung da ist d. h. wenn sie nach Außen endet. Wenn wir uns einen von Außen angefangenen Moment denken, so scheint dieser im Innern zu enden; aber dies ist nur eine partielle Thätigkeit und wir werden weiterhin immer wieder auf eine Richtung nach Außen kommen und müssen daher beide Reihen als zusammengehörig denken. Nur auf diese Weise ist der Gesammtverlauf des menschlichen Lebens ein Umlauf zwischen dem sich selbst bewußten Einzelwesen und dem Gesammten Außer uns. Es giebt keine Funkion der Seele, die nicht das eine oder das andere von diesen wäre. Indem wir dieselbe aber näher in Betrachtung ziehen, so müssen wir uns doch an die schon angenommne natürliche Form des Seelenlebens halten. Wir beginnen unsere Untersuchung mit den aufnehmenden Thätigkeiten. Die eigentlichen geistigen Functionen sind doch immer diejenigen, worin das Eigenthümliche des geistigen Lebens sich am stärksten ausdrückt; die Vollkommenheit der ausströmenden Thätigkeiten, setzt die ganze Entwickelung der geistigen Thätigkeiten voraus. Das Leben fängt an mit einer Indifferenz zwischen dem Aufnehmenden und Selbstthätigen. –

7 Theile] über )Größen*

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Überwiegend physiologische Thätigkeiten. Aufnehmende Thätigkeiten.

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Alle Gegensätze entwickeln sich allmählig. Wenn also hier Einwirkungen auf das lebende Einzelwesen aufgenommen und in demselben fixirt werden sollen, so muß es eine Vermittelung geben zwischen dem Außer ihm und ihm selbst. Diese liegen in dem Organismus und sind daher überwiegend physiologisch. Wir betrachten diese nicht, sondern setzen ein Resultat voraus. Unser Ziel ist das sich hieraus entwikkelnde rein Geistige und wir müssen daher eine Reihe anknüpfen an das Organische. Was ist nun das rein Geistige, was hieraus entsteht? Diese organischen Vermittelungen sind, was wir durch den Ausdruck der Sinnesthätigkeiten bezeichnen. Es ist nun die Frage, ob und wie wir diese finden; wo gehen von diesen physiologischen Thätigkeiten aus die eigentlich psychischen aus? Wir haben uns diesen Gegensatz nur unbestimmt fixirt und müssen nun suchen ihn bei jeder Betrachtung für sich genommen zu fixiren. Was für organische Thätigkeiten sind uns gegeben durch die Erfahrung? Der Inbegriff von 5 Sinnen, dann auch noch ein allgemeiner Sinn, dessen Nothwendigkeit sich auf eine andere allgemeine Weise einsehen läßt; es ist die ganze Oberfläche des menschlichen | Leibes, welcher dem Äußern zugekehrt ist. Es liegt offenbar hier schon ein Gegensatz in dem Organismus selbst, indem die einen an bestimmte Orte gebunden sind, das letzte aber ein allgemeines ist und zwar auf eine 2fache Weise. Betrachten wir den Thierkörper wenn er sich in dem menschlichen zur höchsten Vollkommenheit gebildet hat, mit Beziehung auf die Höhlungen, so ist zu unterscheiden ein äußrer Sinn von Oberfläche. Indem nun aber die Totalität der Oberfläche der Totalität des Äußern zugewendet ist, so unterscheidet sich das System der 5 Sinne als etwas Spezielles, jenes als etwas Allgemeines zeigt den allgemeinen Zustand des Außer uns. Dieser Gegensatz stuft sich aber wieder ab und es findet eine Analogie statt zwischen einzelnen Sinnen und dem allgemeinen. Man hat jedoch oft dies höher geschätzt und schärfer genommen, als man es zulassen kann, wir betrachten es nur im Allgemeinen. Das Außeruns betrachten wir als eine mitgetheilte Gesammtheit; denn das Sondern geht erst von unsern psychischen Thätigkeiten aus. Betrachten wir den Gang dieser organischen Veranstaltungen, so erscheint es uns als das Geöffnetsein des Ich, gegen das gesammte Außen. Welcher Unterschied zwischen verschiedenen Sinnen der ursprüngliche? Der allgemeine Sinn ist das Hautsystem, das Leben der Oberfläche; es ist affizirbar durch 15–16 Betrachtung] Betrachtung ihn

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die gesammte Athmosphäre. Betrachten wir die Einwirkungen welche von da ausgehen, z. B. die Einwirkung welche die Temperaturdifferenz macht, so müssen wir sagen, sie kommen so sehr von einer ungetheilten Gesammtheit, daß wir sie nicht trennen können. Es giebt hier zwar auch Differenzen, welche von dem Individuellen ausgehen, so daß sich spezielle Athmosphären in der allgemeinen bilden; wir empfangen aber doch nur den Gesammtzustand der Athmosphäre der freilich selbst affizirbar ist. Die speziellen Sinne theilt man ganz gewöhnlich in höhere und niedere, so daß man unter den höhern versteht Gesicht, Gehör, unter den niedern die übrigen. Dieser Unterschied versirt in das mehr psychische Gebiet, so daß man die Sinne für die höchsten hält, aus denen das Psychische mehr entwickelt wird. Darin scheint aber viel Vorurtheil zu sein. Es giebt eine fundamentale Art diesen Unterschied zu betrachten, indem man sagt, das Gesicht ist es allein, welches über die Erde hinausreicht; durchs Gehör offenbart sich der Mensch dem Menschen. Aber das Gesicht sagt uns nicht, daß die Sterne jenseits der Athmosphäre der Erde liegen. Das Gehör für sich allein bringt auch keine Offenbarung menschlicher Gedanken, sondern wir müssen erst Sprechwerkzeuge haben. Man sagt aber auch, das Gesicht giebt uns allein Gegenstände; alle andern Sinne nur vorübergehende Zustände. Es giebt keinen andern Übergang zwischen der Art wie sich uns die Gegenstände fixiren und der Art, wie sich hieran psychische Thätigkeiten | knüpfen, als das Wort. Das Festhalten des Wortes ist ein innerliches Hören. Nun aber wird Niemand behaupten, daß die Gesichtseindrücke, wenn wir sie physiologisch betrachten, Gegenstände wären. Dies ist nur ein Vorurtheil. Wir sehen, was wir sehen, ohne Tiefe; stets nur auf einer Fläche; und unterscheiden auf derselben nichts als begränzte Lichteindrücke und verschiedene Stärke derselben, durch den Gesichtseindruck kommen wir also ebenso wenig zu einem Auffassen der Gegenstände, sondern dies entsteht uns erst durch eine Combination dieser Thätigkeiten mit andern. – Was geben uns die andern Sinne? Betrachten wir zunächst den Tastsinn, der zusammenhängt mit dem allgemeinen Sinn, aber doch ein eigenthümliches Organ hat. Wir nehmen hier nichts mehr, als den verschiedenen Grad von materieller Cohäsion. Bewegen wir unsere Fingerspitzen, längs eines harten Körpers, so bekommen wir den Eindruck von einer starken Cohäsion und unterscheiden darin das Mehr und Minder. Hier liegt auf eine viel bestimmtere Weise das Heraustreten des Einzelnen, als in den Gesichtseindrücken. Nun aber ist ein Zusammenhang zwischen der Cohäsion und dem chemischen Prozeß. Geben uns aber die Gesichtseindrücke nicht die Gegenstände, sondern 6 allgemeinen] allgemeinen sich

26 Gegenstände] gegenstände

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die verschiedenen Lichtzustände, die Tasteindrücke die Cohäsion der Gegenstände so zeigt das eine nicht mehr über das Wissen des Außer uns, sondern sie stehn ganz gleich. Das Gesicht manifestirt mehr von dem Außeruns, der Tastsinn erstreckt sich nur auf die mittelbare Stufe, das erste ist jedoch ein allmählig in die Ferne hin Verschwindendes; auch sie haben nur Gewißheit in der größten Nähe. Geruch und Geschmack werden als die niedrigsten Sinne gesetzt. Dies Urtheil ist von dem rein geistigen Gesichtspunkte gefällt; aber nicht mehr für unsere Zeit. Wenn wir sagen, der Geschmack giebt nur einen Gegensatz zwischen angenehmen und unangenehmen Eindrücken auf das Organ, und der Geruch manifestirt nur einen Moment, so hat dies einen irrigen Schein. Die Thätigkeiten dieser Sinne hängen zusammen mit dem chemischen und elektrischen Prozeß; in den Sinneseindrükken liegen also die ersten Anfänge zur Kenntniß von jenem allgemeinen Naturprozeß. Der Unterschied zwischen den Sinnen hinsichtlich ihrer Dignität ist daher gar nicht so groß. Er gehört der Zeit an, wo die Keime, die in letzten Thätigkeiten liegen, noch nicht so weit entwickelt waren. Was nun den Unterschied betrifft zwischen den verschiedenen Beschaffenheiten des [ ] Manifestiren und den Veränderungen des aufnehmenden Manifestiren so finden wir in allen Sinnen Beides, aber in sehr verschiedenen Verhältnissen. | Wir finden einen Gegensatz zwischen der einen oder andern Richtung; je mehr die eine hervortritt, je mehr tritt die andere zurück. Das Gegenständliche in der Operation der Sinne tritt weniger hervor, ist doch aber bei weitem nicht so Null als wir es annehmen. Bei dem Gehör müssen wir den Unterschied machen zwischen dem Gehör, insofern es uns einen artikulirten Ton und dem Gehör insofern es uns ein Geräusch giebt. Das Letztere müssen wir als das Allgemeine setzen. Das Gehör ist geöffnet der ganzen Athmosphäre; nur der Zustand der Schwingung in der Bewegung der Luft kommt zu Gehör. Aber wir können den Eindruck nur auf eine bestimmte Richtung in dem Außeruns beziehen. – Der Tastsinn giebt am unmittelbarsten die Gegenstände kund. Gehen wir hierauf zurück, aber sehen auch zugleich darauf, daß er von der Willkühr abhängt, so ergiebt sich ein Unterschied zwischen leitenden und folgenden Sinnen in Beziehung auf die Combination der Sinnesthätigkeiten. Das Gesicht erscheint dann als der am meisten Leitende Sinn, der Tastsinn, welcher immer am unmittelbarsten folgt. Diejenigen 2 zeigt] zeigt dies

19 des] des sch es folgt ein Spatium für ein Wort

18–21 Vgl. SW III/6, S. 80: „Was nun den Unterschied zwischen der Wahrnehmung und Empfindung betrifft, so findet man in allen Sinnen beides oder in verschiedenem Verhältniß.“

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Sinne, die am wenigsten am Individuum herrschen, sie werden am spätesten leitende, sondern bleiben auf der Gefühlsseite, wogegen alles eigentliche Wahrnehmen immer von der Combination eines leitenden und eines folgenden Sinnes abhängt. So wie uns das Gesicht nur den Lichteindruck von einer Fläche giebt, so giebt uns der Tastsinn die Größe. Dies bringt uns auf die andern Fragen. Wir haben gesagt, daß der Gegensatz als die allgemeinen Lebensbedingungen sich erst allmählig entwickeln und der erste Anfang die stumpfe Indifferenz zwischen den Gliedern ist. Von allen Sinnesthätigkeiten, obgleich wir sie als überwiegend aufnehmend bezeichnet haben, müssen wir doch annehmen, daß dasselbe im Anfange hier gilt. Das Greifen nach den Gegenständen um sie zu betasten hat keinen andern Zweck als der Gesichtssinn. Aber hierin ist die Selbstthätigkeit nicht ursprünglich, sondern in der Combination das 2te Glied. Wenn wir die Sinnesthätigkeiten betrachten in dem Zustand des völlig entwickelten Lebens so sind bisweilen die organischen Affektionen da, aber die ganze Sinnesthätigkeit wird nicht vollzogen, weil es an der Selbstthätigkeit dabei fehlt. Denken wir uns, in einen Zustand der Betrachtung, so können wir mit geöffnetem Auge doch nicht sehen, obgleich das Organ affizirt ist. Wir haben früher auf dieselbe Erfahrung aufmerksam gemacht, aber in einer andern Beziehung, daß wir nach QgründlicherR Betrachtung uns dunkel der Affection erinnern. Es gehört also eine Richtung der Selbstthätigkeit dazu, damit der Anfang zum Ende komme; diese ist natürlich begränzt, denn sonst wären die Thätigkeiten nicht überwiegend aufnehmende. | Tausend Dinge sind dem Gefühle, dem Gehör, dem Gesichte gleichgültig: dem Geschmacke aber ist fast nichts gleichgültig. Noch mehr, die Wirksamkeit dieses Sinnes ist ganz physisch und materiell; er ist der einzige, welcher der Einbildungskraft nichts sagt, wenigstens derjenige, in dessen Empfindungen sie am wenigsten kommt, da hingegen die Nachahmung und die Einbildungskraft oft etwas Sittliches unter den Eindruck aller andern mengen.

4 So wie uns das Gesicht] )So wie* uns das Gesich 5 einer Fläche] )einer Fläche* 5 giebt uns] )giebt uns* 8 entwickeln] entwickelt 26–5 Tausend … Rousseau] Diese Notizen befinden sich auf der Vorder- und Rückseite eines unpaginierten Zettels, der an dieser Stelle lose im Heft liegt.

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Der Sinn des Geruches ist dem Geschmack was der Sinn des Gesichts dem Gefühl ist. Er kommt ihm zuvor, er verlockt ihm die Art und Weise, wie ihn dies und das Wesen nähren | soll und macht ihn geneigt es aufzusuchen oder zu fliehen nach Beschaffenheit des Eindrukkes den man zum Voraus davon empfängt. Rousseau | 46.

Wir müssen also sagen, wenn wir dies auf den ersten Anfang des Lebens anwenden, so können wir das Sichöffnen der Sinne zugleich ansehen als einen Akt der Selbstthätigkeit. Es ist die Wirkung von dem Reiz, den das Licht auf das Organ hervorbringt, daß das Organ sich öffnet und so ist es rein aufnehmend; aber es liegt hiebei die Richtung der Selbstthätigkeit zu Grunde, um es in uns aufzunehmen. In der Combination der Sinnesthätigkeiten, wodurch sich erst der Gegensatz entwickelt zwischen ihnen, ist der Grund zu der bestimmten Entwikkelung dieses Gegensatzes. Von hieraus haben wir unsere Aufmerksamkeit noch ein mal darauf zu richten, nämlich [auf] die verschiedenen Verhältnisse der Sinne zu der Entwickelung des Selbstbewußtseins und des objectiven Bewußtseins. Wir können nicht sagen, daß diese verschiedenen ausschließlich den einen, andere den andern angehören; bei einigen aber gehört eine größere Reihe von Combinationen dazu, bis wir zu dem Gegensatz von Wahrnehmung und Empfindung kommen; bei andern durch eine mehr unmittelbare Combination. Könnten wir alle Sinne schließen und allein den Tastsinn wirksam lassen, so kämen wir auch nicht unmittelbar zum Bewußtsein von Gegenständen. Es bleibt also wahr, daß die Combination von den Gesichtsthätigkeiten und dem Tastsinn die unmittelbarste ist, um die Wahrnehmung von dem Gefühl zu sondern, wogegen die andern Sinne eine größere Combination erfodern. Wenn wir nichts sehen, würde die Combination zwischen dem Geruchssinn und Tastsinn schwieriger und komplizirter sein. Wo ist denn nun der eigentliche Anfang des Psychischen? und zwar wo ist [ ] des menschlich Psychischen? Gehen wir auf den ersten Punkt der Indifferenz zwischen Rezeptivität und Spontaneität zurück, 15 nämlich] davor daß 31 ist] es folgt ein Spatium von etwa einer halben Zeile Länge; zu ergänzen wohl der eigentliche Anfang (vgl. Nachschrift Wichern, S. 50) 1–5 Der Sinn des Geruches ... Rousseau] Vgl. Rousseaus: Émile, ou de l’Éducation: „Le sens de l’odorat est au goût ce que celui de la vue est au toucher: il le prévient, il l’avertit de la maniere dont telle ou telle substance doit l’affecter, & dispose à la rechercher ou à la fuir, selon l’impression qu’on en reçoit d’avance.“ (Collection complète des œuvres, Bd. 1–30 in 15, Zweibrücken 1782–1784 [SB 1625], hier Bd. 7, 1782, S. 365–366; Œvres complètes, Bd. 1–5, 2. Aufl., Paris 1986–1995, hier Bd. 4: Émile, Éducation, Morales, Botanique, edd. B. Gagnebin / M. Raymon, 1990, S. 415)

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und sagen, das sich Öffnen der Sinne ist mehr Produkt der Selbstthätigkeit und der Einwirkung äußerer Reize, so ist die eine Ansicht die überwiegend physiologische, die andere die überwiegend psychische. Sehen wir auf die Wirkung der Combination so brauchen wir dieselbe freilich nicht weit zu verfolgen, um auf einen Punkt zu kommen, wo das Menschliche ist; aber den Anfang zu finden, ist eine sehr schwierige Aufgabe. Wenn wir auf einen 1sten Punkt zurückkommen wollen, können wir uns nicht entziehen einer Vergleichung des Menschlichen mit dem Thierischen. Diese können wir aber nicht so anstellen, daß wir sagen, so weit ist Alles identisch und hernach kommt das Menschliche hinzu. Wir müssen die Vergleichung nur so stellen, daß wir den Punkt suchen, wo das eigenthümlich Menschliche aufhört sich zu verbergen, sondern zum Vorschein kommt, wo die Differenz zwischen dem Menschlichen und Thierischen nicht | entsteht, sondern sich manifestirt. Sonst werden wir den eigenthümlichen Verlauf des Menschlichen nicht genau kennen; können aber folgendes sagen. Wenn wir auf den Gegensatz zwischen denjenigen Sinnesthätigkeiten, welche Empfindung werden und denen, welche Wahrnehmung werden, sehen und sagen, wir wollen diese beiden in ihrem Wechsel betrachten, so ist in uns das Ichsetzen, worauf wir beide beziehen und also ist dies schon das eigenthümlich Menschliche. Sehen wir aber auf die Indifferenz zwischen Rezeptivität und Spontaneität in dem Zustand des Geöffnetseins des Sinnes so haben wir noch dasselbe in dem thierischen und menschlichen Leben. Betrachten wir das System der Sinne, so finden wir in der ganzen Abstufung der Animalisation nur ein allmähliges Hervortreten. Das Geöffnet sein der thierischen Sinne ist kein so allgemeines als der menschlichen. Von der Unterscheidung aus zwischen höhern und niedern Sinnen hat man auch oft gesagt, die thierische Existenz unterscheide sich dadurch, daß die niedern Sinne bei ihr besonders hervortreten und die leitenden wären; aber ein geringeres Hervortreten einer Lebensfunktion kann ja keinen Vorzug beweisen. Indem das animalische Leben überwiegend durch diese Affektionen geleitet wird, wird es von der Wahrnehmung zurückgehalten und gelangt nicht zur Empfindung. Gehen wir von hier aus und sagen, die menschlichen Sinne sind geöffnet auf eine absolute Weise; das ganze Außeruns ist es, dem sie sich zuwenden; das thierische Leben beschränkt sich auf das Interesse des Fortbestehens, auf das animalische Interesse und es giebt eine Menge gleichgültiger Dinge für das Thier, die gar keine Combinationen in ihm hervorbringen, in keiner Verbindung mit dem Triebe stehen. In dem uneigennützigen Geöffnetsein der 1 das] daß 32–33 Indem … geleitet] am Rand markiert mit ? 40–1 In … Menschliche.] doppelt unterstrichen

34 sagen] )sagen*

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Sinne ist schon das Menschliche. Der thierische Sinn steht in einem genauen Zusammenhange mit dem thierischen Triebe; es ist ihnen Alles gleichgültig was damit zusammenhängt. Dieser Mangel an Allgemeinheit ist eine eigennützige Verschlossenheit. Man könnte freilich Einwendungen machen. Aus den nächsten Verhältnissen, in welchen die Hausthiere mit dem Menschen stehen, entsteht eine Erweiterung des Triebes; doch ist dies nur ein künstliches Verhältniß. Was bedeutet uns hier das allgemein Menschliche, das allgemeine Geöffnetsein des Sinnes? Der Gegenstand des Sinnes ist nur die Gesammtheit der irdischen Natur und die Kombination. Operationen haben von Anfang an die Richtung das Außeruns in der Getheiltheit des Seins in das Bewußtsein überzutragen. Denken wir wie der Anfang der Sinnesthätigkeit in der Indifferenz von Rezeptivität und Spontaneität liegt, so ist | ein Allgemeines, Unbeschränktes. Betrachten wir den 2ten Moment der Selbstthätigkeit, die Versuche zu der Combination verschiedener Sinne, so werden wir ihn bezeichnen müssen als eine Ahndung von der Getheiltheit des Seins. Schon zufolge sehr alter Philosophen ist das einzelne Sein nichts als ein Festgehaltensein[,] ein großer oder kleiner Cyklus von verschiedenen Operationen des universellen Prozesses. Dieser 2te Moment der Selbstthätigkeit, die wir schon ansehn müssen als den Anfang, worauf unsere wissenschaftliche Naturkunde beruht, ist mit der Anfang, der in der ersten Kindheit sich äußernden Versuche die Sinneseindrücke zu kombiniren. Offenbar sind wir weit davon entfernt, in diesen Operationen ein Bewußtsein von dieser Tendenz anzunehmen. Diese Bewußtlosigkeit liegt noch in dem Gebiet der Analogie mit dem Animalischen, die sich in der Form hier noch fortsetzt; aber in dem Umfange liegt schon das eigenthümlich Menschliche. Wir scheinen unser Gebiet verlassen zu haben, indem wir die Sinnesthätigkeiten subsumirten unter die aufnehmenden Thätigkeiten, jetzt aber selbstthätige Thätigkeiten betrachteten. Dieser Gegensatz kann jedoch nicht als ein absoluter gelten und wir können daher die aufnehmenden Thätigkeiten nicht verstehen ohne die Mitwirksamkeit der Selbstthätigkeit. Wenn wir also die ersten Momente der Selbstthätigkeit ansehen als die allgemeine Richtung auf das Sein, den 2ten Moment als die allgemeine Richtung auf den Gegensatz der in dem Sein selbst statt findet, so ist beides der aufnehmenden Thätigkeit untergeordnet, das eigenthümlich Menschliche manifestirt sich jedoch nur in der Selbstthätigkeit; sonst müßten wir in das Physiologische hineingehen. So müssen wir aber sagen, was ist das Aufgenommene, worin sich die Differenz zwischen dem eigenthümlich Menschlichen 34 Sein] über Außeruns

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und dem Animalischen manifestirt? Auf die Bestimmtheit des Auseinandertretens von subjectivem Bewußtsein oder Selbstbewußtsein und gegenständlichem Bewußtsein müssen wir jetzt Rücksicht nehmen; jedoch nur auf die vollendete Spannung in dem Auseinandertreten dieser Gegensätze. Wenn wir dies als einen Vergleichpunkt in Beziehung mit dem Animalischen aufstellen, so kann ich freilich das Animalische nicht nachweisen: in den thierischen Sinnesoperationen kommt ein so bestimmtes Entgegentreten beider nicht zu Stande, sondern bleibt auf eine deutliche Weise unter einander gemischt. Denn das Zurückgehen auf den eigenen Sinn wird gehemmt durch die Einwirkung des Gegenstandes. Wenn wir daher die thierischen Operationen in ihrem Endpunkt betrachten, wie sie durch den Trieb gebunden sind, so ist der ganze Verlauf ein solcher, daß die Beziehung auf den Trieb sich realisirt, ehe die QEinthrachtR selbst zu Stande gekommen ist. Was aber nicht in einer so bestimmten Beziehung auf den | Trieb endet bleibt in der Verworrenheit. Die aufnehmenden Thätigkeiten kommen nur zu Ende durch etwas auf den Ernährungstrieb sich Beziehendes. Wenn wir das eigenthümlich Menschliche darin finden, daß eine jede Thätigkeit in einem von beiden endet, so ist darin das Vorige wieder mit gesetzt, das frei und als ein Unendliches Gesetzsein jener Richtung, die wir in den beiden Momenten gefunden haben. Allerdings erscheint uns dies nicht so klar in den einzelnen Fällen, in dem Zeitraume, wo die Sinne sich erst anfangen zu öffnen und wo noch keine Continuität des Bewußtseins entstanden ist. Wir können aber den Menschen nicht auffassen in dem ersten Stadium der Entwickelung; wir müssen die Sinnesthätigkeiten beobachten in dem ausgebildeten Menschen. Von diesem Punkt aus, daß wir sagen, es ist ein Charakteristisches in dem Menschlichen, daß jede aufnehmende Thätigkeit sich aus dem dunkeln Subjektiven löst, und die Differenz in den verschiedenen Sinnesthätigkeiten wieder aufnehme, so finden wir hierin wieder den Grund [der Theilung], zwischen den allgemeinen und speziellen Sinnen, letztere als die überwiegende Richtung auf das Subjective, erstere auf das Objektive. Wie gehen wir aber von dem einen auf das andere über? Wie gestaltet sich das Verhältniß dieser beiden in dem Complexus aller Sinne? Wenn wir sagen der allgemeine Sinn sei dem Außeruns geöffnet so fern er uns auf das Unmittelbarste berührt so ist hier nichts gegeben als das an und für sich fließende Verhältniß, worin die Athmosphäre zu unserer äußern Oberfläche steht, also das allgemeine uns Umgebende zu der Einheit unserer Lebensprozesse. Wir fühlen das Leben gefördert durch das Verhältniß zu dem uns unmittelbar Berüh14 QEinthrachtR] Nachschrift Wichern, S. 51: Befriedigung; SW III/6, S. 87: Auseinandertreten 24 Wir] wir

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renden; wir fühlen ferner das Leben gehemmt (durch Kälte, Wärme, Schwere, Leichtigkeit) durch die Extreme. Hier zeigt die Erfahrung, daß, wenn wir davon ausgehen, daß in jedem Moment alle Funktionen in Thätigkeit sind, bei weitem unsere meisten Lebensmomente ohne ein bestimmtes Resultat sich an einander reihen und daß es nur einzelne Zustände sind, wo wir jenes bestimmte Gefühl von Lebenserhöhung oder Hemmung haben. Das Verhältniß ist aber ein stetiges; es fehlt jedoch das Resultat für das Bewußtsein. Bleiben wir hiebei stehen, um uns zu fragen, worin liegt es, daß wir hier ein so großes Gebiet organischer auffassender Thätigkeit finden, welches doch so selten Bewußtsein wird. Das eigenthümlich Menschliche erkennen wir hier wieder in der Befreiung unserer Thätigkeiten von der Beziehung auf den Trieb. Jede Differenz in der Natur würde auch ein Resultat im Bewußtsein hervorbringen, wenn wir mit unsern aufnehmenden Thätigkeiten an den Trieb gebunden wären. | Die kommen nur zu Bewußtsein wenn dadurch eine Affektion für andere Thätigkeiten entsteht. Nun fragt sich, wenn wir dies als den Übergang [von] der aufnehmenden Thätigkeit, insofern sie ursprünglich organisch ist und Selbstbewußtsein beachten und nun sagen, ein größeres Resultat giebt es hier nicht, so müssen wir doch sagen wir haben einen Gegensatz zwischen diesem allgemeinen Sinn nur als einen partiellen angesehen; wir müssen daher fragen, wenn nur bei gewissen Graden der Spannung ein Selbstbewußtsein entsteht, giebt es nun ein Werden des Sinnes, wodurch er es vermittelt? Um diese Frage zu beantworten, werden wir in einen großen Kreis von geistigen Thätigkeiten verwickelt. Es scheint ursprünglich gar nicht, sondern man kann denken, daß auch hier, sobald ein bestimmtes Gefühl enstanden ist auch die Reflexion darauf eintrete und also die Wirkung zurückgeworfen werde auf das Verursachende. Die Affectionen des allgemeinen Sinns geschehen hauptsächlich durch die Athmosphäre. Je weniger wir auf diesem Punkt der Reflexion an einen bestimmmten Gegenstand gewiesen werden, sondern nur an eine Veränderung, um so weniger können wir sagen, daß eine bestimmte Wahrnehmung ent13–17 Vgl. SW III/6, S. 89: „Wären wir darauf beschränkt, so würden auch die geringeren Resultate zur Wahrnehmung kommen, und jede Differenz in der Temperatur, die doch immer eine Annäherung an die Extreme ist, würde uns bewußt werden. Weil wir aber frei sind und unsere Thätigkeiten ungehindert fortgehen, so treten jene Differenzen nicht ins Bewußtsein, sondern erst dann, wenn sie auf andre Thätigkeiten Einfluß haben und das, worin wir eigentlich begriffen sind, nicht mehr in ungehemmter Weise fortgeht. Nur wenn wir einen höheren Grad von Beweglichkeit finden ohne unser Zuthun, werden wir auf dies Verhältniß als auf eine von außen gegebene Lebensförderung zurükkgeführt.“ 29–30 Vgl. SW III/6, S. 90: „Die allgemeinsten Verhältnisse sind Temperatur-, Barometer-, Hygrometer-Unterschiede.“

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standen sei, wenn die Veränderung nicht mit großem Maaße gegeben ist. Bleiben wir hier stehen und sagen die Athmosphäre hat sich erwärmt oder erkaltet, so haben wir gar nichts gesagt sondern unser eigenes Gefühl. Eine Wahrnehmung findet sich nicht eher bis wir ein Maaß haben. So lange müssen wir den Prozeß auf dieser Seite als zwar angefangen, aber nicht als abgeschlossen ansehen. Wir können daher übersehen, was für eine große Reihe von geistigen Thätigkeiten wir dazwischen stellen müssen. Wir dürfen auch nur geschichtlich zurückgehen auf frühere Zustände der Naturwissenschaft, um zu sehen, was für eine Reihe von falschen Versuchen, die Wahrnehmung zu einem Abschluß zu bringen, vorangegangen sind. Dies steht in einer sehr genauen Verbindung mit der Frage, in wiefern die Sinne irren können? Wir haben hier ein subjektives und ein objektives Bewußtsein, die im ersten Momente sich unmittelbar verbinden, aber es entsteht aus dem Bestimmten ein Unbestimmtes. Die weitern Operationen stehen mit dem zu bestimmenden nicht mehr in demselben Verhältniß als anfangs. Hier können eine Menge von falschen Versuchen liegen, aber sie sind den Sinnen nicht zuzuschreiben. Wir werden diese Frage von mehrern Punkten her genöthigt sein aufzuwerfen. – Wenn wir den Gegensatz zwischen den beiden Sinnen vorläufig wieder auflösen unter der Form eines Übergangs, so wird, wenn der allgemeine Sinn ursprünglich nur nach Innen | zurückgeht, das Entgegengesetzte sein, entweder, was nur Wahrnehmung von Außen giebt. Zwischen diesen Punkten wird es Übergänge geben: ein Übergewicht der Richtung nach Innen, ein Gleichgewicht und ein Übergewicht der Richtung nach Außen. Gehen wir darauf zurück, daß nur erst aus der Combination [mehrerer Sinne] ein bestimmtes Resultat hervorgeht. Das Gesicht ist derjenige Sinn, welcher am meisten ursprünglich gegenständlich ist; aber bestimmtes einzelnes Sein als Gesondertes wird uns dadurch nicht kommen sondern wir nehmen nur wahr, Differenzen der Lufterscheinungen auf einer Fläche, indem das Auge an und für sich selbst Entfernungen nicht unterscheidet, sondern das ist erst das Resultat einer langen Reihe von Combinationen. Dem ohnerachtet, das Außeruns in seiner Gesammtheit ist doch das ursprüngliche Subjekt für das objective Bewußtsein und die Gesichtseindrücke fixiren sich darin. Wollen wir aber die Analogie auf den allgemeinen Sinn hier anwenden, so giebt es allerdings auch Gesichtseindrücke, wo das Wahrnehmen aufhört und das Bewußtsein von dem veränderten Zustand des Organs eintritt. Das Sehen, insofern es ein Beobachten ist, ist allerdings mit einer Anstrengung verbunden; diese bringt einen andern Zustand des Organs hervor und dies wäre subjektives Bewußt4 Wahrnehmung] Wahrnehmung resultirt

24 geben] gegen

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sein, aber von keinem Bewußtsein, so lange das Organ nicht gestört wird oder andere Thätigkeiten durch den Zustand desselben. Es kann ein plötzlicher Eindruck für das Gesicht sein, welcher den Zustand der Blendung hervorbringt, wodurch die Wahrnehmung aufhört. Dann tritt das Bewußtsein von dem veränderten Zustand hervor. Wir können uns aber dieselbe Wirkung denken als eine Folge von lange fortgesetzter Anstrengung; der Eindruck kommt allmählig, kommt aber nicht eher zu Bewußtsein bis das Organ gestört wird. Überall ist daher auch beides zusammen, nur daß die Richtung nach Innen als das minimum erscheint. Wenn wir die andern Sinne bis auf denselben Punkt bringen, zuerst also das Gehör, so ist hier eine viel größere Verwandschaft mit dem allgemeinen Sinne als in jenem Falle. Die Eindrücke auf das Organ sind abhängig von der in eine bestimmte Bewegung gesetzten Luft, der Gegenstand ist also derselbe, welcher den allgemeinen Sinn affizirt, aber das Gehör ist an ein bestimmtes Organ gewiesen. Wir haben hier etwas Inneres, werfen es aber gleich nach Außen, behandeln die Gehöreindrücke nicht als veränderte Zustände des Organs außer in solchen Fällen, wo das natürliche Maaß überschritten wird. Wenn wir also sagen, die überwiegende Richtung einer Sinnesoperation auf das objective Bewußtsein hängt daran daß das subjective Bewußtsein nicht gewußt wird, sondern in der | Regel seine Gegenstände nach Außen setzt, so haben wir hier wieder denselben. Was ist dann aber das Außen? Das Gehör empfängt nur einzelne Eindrücke; In den Gesichtsoperationen müssen wir erst sondern und dies müssen wir als einen 2ten Moment ansehen. Daß wir einen Anfangspunkt der Eindrücke welche im Gehörsorgan entstehen, bestimmt setzen und den Gegenstand als einen tönenden bezeichnen, ist nur eine Folge der Combination. Wenn wir die schon angeregte Frage in Beziehung auf diese beiden Sinne hier suchen, wenn wir den Eindruck von einem Gegenstand fixiren und wir finden hernach durch fortgesetzte Combination, daß wir geirrt haben, hat sich dann der Sinn geirrt? Der Irrthum liegt irgendwo in der Reihe der Combinationen. Wir wollen aber die Frage auf eine allgemeine Weise fassen: Giebt es Täuschungen des allgemeinen Sinns? Wenn wir uns erwärmt fühlen, so ist das Faktum eins, in Beziehung worauf gar kein Irrthum statt findet; denn es ist das unmittelbare Lebensbewußtsein. Sobald wir aber die Reflexion anfangen lassen und also fragen, diese Veränderung muß mit etwas Anderm zusammen hängen, so werden wir sagen müssen, derselbe Zustand kann entstehen durch Einwirkungen von Außen, aber auch durch Einwirkungen von Innen. Wird aber Beides verwechselt, so ist dies eine Täuschung. Diese ist sehr selten, die eignen Thätigkeiten, die eine solche Veränderung hervorbringen, immer auf eine starke Weise ins Bewußtsein aufgenommen werden. Es kann leicht

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geschehn, daß wir Gesichtseindrücke, welche in einem vorübergehenden Moment gegründet sind für einen Gegenstand halten. Dies ist ein Irrthum, aber nicht des Sinns. Wenn wir die Bewegungen, in welchen uns die Umrisse erscheinen [den Gegenständen selbst beilegen], ist das eine Täuschung des Sinns? Wir werden geneigter sein, dies zuzugestehen, aber es ist auch nicht richtig, denn Gesichtseindrücke sind es doch; aber wenn wir dies ableiten aus Veränderungen die dort vor sich gehen, ist es ein Irrthum. Bei dem Gehöreindruck können wir uns auch täuschen über die Entfernung und den Ursprung des Schalls. Stellen wir die Frage nun aber so, ist zwischen dem Eindruck des allgemeinen Sinns und dem speziellen Sinn kein Unterschied? – – Der ganze Wechsel von Empfindungen, welche durch die Sinne kommen und [von] Bildern von dem Außeruns (Bild ist hier nicht Vorstellung von einem einzelnen Gegenstand als einem solchen, sondern die Beziehung des Eindrucks auf das Außeruns)[.] Wir müssen den Gegensatz zwischen der rein sinnlichen Erfüllung des subjectiven und des objectiven Bewußt|seins festhalten. So ist also das Resultat, diese Gesammtheit von Empfindungen und Bildern in ihrem Wechsel. Unsere Frage ist, wie kommen wir zu diesem Resultat? Die Sinnesthätigkeiten haben eine verschiedene Beziehung auf der einen und der andern Seite. Wir haben gesehen es giebt von dem allgemeinen Sinn, der das Subjective aussagt, kein Umschlagen in das Objektive. Die Sinnesthätigkeit ist daher kein für sich abgeschlossener Cyklus. Wir können nicht sagen, daß unsere Empfindungen von den Einwirkungen der Athmosphäre Wahrnehmungen sind, so sehen wir welche Thätigkeiten dazwischen liegen ehe die Sinnesthätigkeiten ihren Umlauf machen. Nehmen wir auch die Sinnesthätigkeit zu Hülfe, von der wir sagten, sie sei die erste hinzukommende, so haben wir zwar Entfernungen und Gränzen, aber sie sind noch lange nicht Maaß, sondern nur Son10–11 Vgl. SW III/6, S. 93: „Stellen wir aber die Frage so, ob in dieser Beziehung zwischen den Eindrükken der Sinne, die mehr auf das objective Bewußtsein ausgehen, und denen des allgemeinen Sinnes kein Unterschied sei, so daß auch bei den speciellen Sinnen Sein und Bewußtsein vollständig identisch wären, so werden wir allerdings einen solchen Unterschied zugeben müssen und hierin zeigt sich als eine neue Differenz zwischen dem allgemeinen Sinn und den speciellen.“ 11–13 Vgl. SW III/6, S. 94: „Wenn wir nun alles, was wir unter den Sinnesthätigkeiten verstanden haben, zusammenfassen, und uns das Gesammtresultat davon vorstellen, aber abgesehen von allem, was erst durch die höheren geistigen Thätigkeiten hinzukommt, so ist es der Wechsel von Empfindungen, welche durch die Sinne kommen und der Wechsel von Bildern des Außer-uns,“ 26 Zusatz SW III/6, S. 94: „Die vollkommene Wahrheit des subjectiven ist in dem Auf- und Absteigen der Lebensthätigkeit, die Wahrheit des objectiven ist nur in dem bestimmten Maaß der Veränderungen, welche in dem Außer-uns vorgehen, und dieses Maaß kann uns nicht durch die Sinne gegeben werden, sondern darin ist schon ein rein geistiges Element.“

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derung und Differenz. Dieses Verhältniß zwischen dem objektiven und subjektiven Resultat der Sinnesthätigkeiten wollten wir bis zu diesem Punkte bringen. Ist das eigenthümlich Menschliche in den Sinnesoperationen das bestimmte Gegenübertreten des Subjektiven und Objektiven so ist dies auch nicht von dem Intellektuellen unterschieden. Wie treten aber diese höhern intellektuellen Thätigkeiten ein und in welchem Verhältniß stehen sie zur Sinnes Thätigkeit? Thätigkeiten von der entgegengesetzten Art, d. h. nicht aufnehmende, sondern wirksame, müssen ebenfalls dazwischen treten, ehe der Sinn seinen Cyklus vollendet. Es ist aber das Verhältniß zwischen den beiden Seiten in dem Gebiet der verschiedenen Sinne ein sehr differentes. Es ist noch ein anderer Punkt angeregt welcher ebenfalls innerhalb dieses Verhältnisses zur Frage kommen muß, nämlich der von der Entstehung des Irrthums in dem Gebiet der Sinnesthätigkeit. Wenn wir bei dem Sinne anfangen, welcher ursprünglich die subjektive Richtung hat, bei dem allgemeinen Sinn, so kann darin kein Irrthum sein, weil das Bewußtsein darin dasselbe ist und eine falsche Beziehung nicht statt findet. Trage ich nun aber über und sage, die Athmosphäre ist verwirrend, so ist hier schon das minimum des Objektiven; hier ist nicht mehr jene absolute Wahrheit, denn es ist hier nicht mehr ein Einfaches, sondern ein Zwiefaches und da hier nichts in Betrachtung gezogen wird als das Ich und das Außermir, so kann das Sein und Bewußtsein auseinander gehen. Nehmen wir aber an es sei das Richtige, so haben wir Wahrheit auf beiden Seiten, aber das minimum des Objektiven. – Wenn wir uns auf einen Punkt setzen, wo das Objektive das maximum ist und bedenken, welche Menge von Thätigkeiten dazwischen treten, so sind darunter auch gewiß solche, worin die Möglichkeit des Irrthums gelegen hat. | In dem minimum von Wahrheit kann daher auch nur ein minimum von Irrthum sein. Der Irrrthum wird aber stets mit an der Wahrheit entstanden sein, so wie die Möglichkeit desselben daliegt. – Wenn wir von dem Gesicht gesagt haben, daß ursprünglich der Sinn die objektive Richtung habe und die Empfindung nur an gewissen Endpunkten heraustrete, in dem Zustand der Blendung auf der einen Seite, auf der andern Seite in der Finsterniß, so giebt es jedoch noch ein Anderes auf diesem Gebiet, ein Angenehmes und Unangenehmes in dem Objektiven selbst. Wir finden Farben d. h. Lichteindrücke an und für sich und in Zusammenstellung welche unangenehm, andere welche wohlgefällig sind. In den letzten liegt eine natürliche Richtung dabei zu verweilen, in den ersten, sich dagegen zu verschließen. Worauf dies beruht ist eine sehr komplizirte Untersuchung, die wir hier nur bemerkbar machen. Das Überschlagen des 32–33 Empfindung] über Subjektive

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Objektiven in das Subjektive erfodert keinen solchen Cyklus, wie der allgemeine Sinn. Das Subjektive ist wieder das schlechthin Einfache. Denken wir z. B. wir wollen uns Rechenschaft geben, warum uns jene Farbe unangenehm, diese angenehm ist, so gehen wir ganz aus dem Gebiet der Sinnesthätigkeit heraus. – Dem Gehör haben wir ebenfalls eine überwiegend objektive Richtung zugeschrieben. Aber wir finden hier ebenfalls jene Duplizität wie beim Gesicht. Aber das Umschlagen des Objektiven und Subjektiven ist auch wieder das Augenblickliche, aber es ist nichts das Objektive regelmäßig begleitende, denn wir können große Reihen von Tönen auffassen, an welche sich andere Thätigkeiten anreihen ohne die Empfindung des Angenehmen und Unangenehmen. – Der Geruch und der Geschmack stehen in einer spezifischen Verwandschaft, sie beziehen sich auf einander sehr verwandte Naturprozesse. Es ist hier nicht ein solches Übergewicht nach der objektiven Seite hin, daß das Subjektive nur an bestimmten Punkten hervortrete. Es giebt eine Menge Gesichts und Gehörseindrücke, von denen wir sagen sie sind gleichgültig, weder angenehm noch unangenehm; nicht so Geruchs und Geschmackseindrücke. Wenn wir darüber schnell hinweggehen, so ist das etwas ganz Anderes. Beide haben sogar das Eigenthümliche mit einander gemein, daß das Angenehme und Widrige oft nur auf quantitativen Differenzen beruht. Wenn wir hier das Subjektive als das Ursprüngliche setzen, | weil es in jedem Eindruck hervortritt, so stehen diese Sinne in der nächsten Verwandschaft mit dem allgemeinen Sinn. Wir können den Gegenstand herausfinden, wovon der Geruch ausgeht; schreiben wir dies aber nun dem Gegenstand zu, so ist der Irrthum an der Wahrheit und da muß also erst eine gewisse Menge anderer Thätigkeiten eingetreten sein, ehe wir das Objective in seiner Wahrheit fassen. Denn es liegt darin die ganze Kenntniß des chemischen Prozesses. Wir haben hier noch eine Beschaffenheit dieser beiden Sinne zu bemerken. Der Geschmackssinn äußert eine solche Anziehungskraft in vielen Einzelnen, daß die Seele sich ganz in diese Sinneseindrücke senkt und dadurch die weitere Entwickelung höherer Thätigkeiten gehemmt wird. Dies ist nicht so in dem Gebiete irgend eines andern Sinnes. Hier entsteht sogar durch die Kraft dieser Sinnesthätigkeit eine Hemmung in der Entwickelung des Menschen und wir möchten sagen, daß dies etwas Thierisches sei. Bei den Thieren findet es jedoch nicht statt. Daß es bei dem Menschen anders ist hängt ab von seinem Befreitsein von der Gewalt des Triebes. Es ist aber freilich die die menschliche Entwickelung am meisten zerstörende Weise, wenn sich die Freiheit vom Sinn manifestirt. Mit dem Geruch hat es eine verwandte Beziehung. Eine 1 in] und

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lang anhaltende Folge von starken Geruchseindrücken können eine alle geistigen Thätigkeiten verwirrende Wirkung hervorbringen. Das ist auch häufig benutzt, in Fällen, wo man Menschen in Beziehung auf ihre Geistesthätigkeiten in einen von Andern abhängigen Zustand versetzte. Es ist ein Zustand, welcher dem Rausch sehr verwandt ist, an dem freilich die Geruchseindrücke auch einen großen Antheil haben. Beide Sinne haben noch etwas Eigenthümliches, nämlich oft in ihnen der stärkste Sitz ist von der Idiosynkrasie, d. h. ein eigenthümliches Verhältniß zwischen Eindrücken von gewissen Gegenständen. Dergleichen kommen allerdings auch im Gebiet der andern Sinne vor; aber nicht in dem Grade. Dies hat eine merkwürdige Seite. Geruch und Geschmack sind gerade diejenigen Sinne, wodurch das thierische Leben am meisten geleitet wird. Fragen wir, worauf diese Beschaffenheit deutet, so wird es sich darstellen, daß das eigenthümliche Verhältniß des Einzelwesens zur Gattung auf dem Gebiet der Sinne dadurch am bestimmtesten ausgedrückt wird. Gehen wir auf das thierische Leben, so bemerken wir die Differenzen weniger; sobald sich unser Gattungsbewußtsein entwickelt hat, machen wir die Erfahrung, daß jeder Mensch etwas Eigenthümliches habe. | In dieser großen Variation offenbart sich jenes persönlich Eigenthümliche in dem Gebiet des menschlichen Lebens; wogegen wenn sich solche Differenzen manifestiren in den Sinnen, die vorwiegend auf das Objektive gehen, so sehen wir es als einen Krankheitszustand an. Auf dem Gebiet dieses Sinnes sehen wir es nur als eine der Organisation eingebildete persönliche Eigenthümlichkeit. Indeß ist nicht zu leugnen, daß dies Erfahrungsgebiet die Veranlassung gegeben hat zu einer weiten Skepsis. Es ist nämlich natürlich, daß man sagt, wenn z. B. auf dem Gebiete des Geruchs und des Geschmacks solche Differenzen vorkommen, und auch in dem Gebiet der Gesichtseindrücke, ist es etwas Sicheres, um die Identität dieser Eindrücke und worin liegt die Garantie dafür? Das Bild der Lichterscheinung kann, wenn sie es auch gleich benennen, bei verschiedenen Menschen eine ganz verschiedene sein. Es hängt dies noch zusammen mit der Frage über den Irrthum der Sinne. Wenn die skeptische Ansicht die richtige wäre, so gäbe es gar keine Kennzeichen für dieses Gebiet, denn wir können uns nicht darüber verständigen als durch die Sprache und Nachbildung; der Eindruck braucht aber nicht derselbe zu sein als bei mir. In dem Maaß als diese Skepsis vorwaltet, verschwindet die Differenz von Wahrheit und Irrthum auf diesem Gebiete. Wir haben gesagt, bei den auf das Subjektive ausgehenden Sinnen, giebt es eine Übertragung auf 5 versetzte] versetzen 18 entwickelt hat,] entwickelt, hat III/6, S. 99; Ms.: Voraussetzung

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das Objektive, welche eigentlich dasselbe ist, wobei nur noch der Ausdruck hinzukommt, die Veränderung sei nicht durch rein innere Thätigkeit entstanden. Bei der weitern Entwickelung des Objektiven wird nun der Irrthum möglich in und mit der Wahrheit. Dies findet ebenso in den verschiedenen Sinnen auf eine verschiedene Weise statt. Es handelt sich hier um einen bedeutenden Unterschied des Gesichtes und des Gehörs. Wenn ich sage, ich fühle mich verändert, so ist dies die reine Aussage über meinen veränderten Zustand, welcher allemal wahr ist; sage ich, die Athmosphäre ist verändert, so ist dies eigentlich dasselbe, aber mit dem Ausdruck, daß die Erwärmung nicht aus meinem Innern gekommen ist, diese kann aber falsch sein[.] Sobald eine Möglichkeit von 2 eintritt (so kann dasselbe Faktum von Innen und Außen entstanden sein) so kann ich mich in meinen Vorstellungen vergreifen. Ein Jeder muß zugestehen, daß es ein Entstehen der Eindrücke von Innen giebt wie von Außen. Dies gilt in Beziehung | auf das Gesicht und Gehör. Wenn wir hier die Frage vorlegen, sich die Differenzen von 2 verschiedenen Tönen zu denken, so lassen sich die eigenthümlichen Töne reproduziren. Wenn wir uns denken, den Künstler, welcher ein Gemälde entwirft, so war seine erste Conception offenbar ein inneres Sehen, und wenn der Künstler im Fortgang seiner Arbeit sich selbst beobachtet, wird er auch sagen können, inwiefern das Werk dem ursprünglichen Entwurf, welcher ein rein innerer war, entspricht. Wir haben uns auf der Seite des Gehörs auf einen einfachen Gegenstand berufen, weil es denen, die nicht ganz darin leben, unbegreiflich sei, wenn eine so große Masse von Tönen in seinem [innern] Hören gewesen sei. Dies Faktum vorausgesetzt, ist in dieser Beziehung wohl ein Irrthum möglich, daß ein inneres Sehen für ein äußeres, ein inneres Hören für ein äußeres und umgekehrt, kann gehalten werden. Es giebt zu allen Zeiten, bald tritt es mehr bald weniger hervor, einzelne Menschen, welche behaupten, äußerlich zu sehen, wo ein Anderer nichts sieht, zu hören, wo ein Anderer nichts hört. Alle diejenigen, welche in solchen Fällen sind, behaupten mit ihrem Auge außer sich zu sehen; Andere aber behaupten, das sei ein bloß inneres Sehen gewesen. Wir sind uns dieses inneren Sehens und Hörens bewußt als eines der aufnehmenden Sinnesthätigkeit ganz ähnlichen. Wenn wir aber annehmen, daß sich ein solches innerliches Sehen und Hören auf eine unwillkürliche Weise zwischen das von Außen kommende eindrängt, so ist dies ein alterirter Zustand. Es entsteht vom Denken derer die im solchen Zustand sind dagegen die Behauptung, ihr haltet dies für ein inneres Sehen und Hören, weil ihr eine beschränkte Weltansicht habt. Bei den andern spezifischen Sinnen fin21 beobachtet] beachtet

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den wir diese Funktion weit weniger und dies erklärt sich auch sehr leicht. Man könnte denken, es sei sehr leicht, rein von Innen Geruch und Geschmack zu haben. Die Möglichkeit muß dieselbe sein; denn so wie wir das allgemeine Faktum gelten lassen, so können wir nicht umhin uns das Organ so [zu] denken, daß das eine Ende dem äußern Eindruck QzuwächstR, das andere Ende dem Bewußtsein. Diese Sinne werden aber nicht so geübt. So wie also diese Frage streitig bleibt, ob innerlich Gesehenes und Gehörtes für äußerlich Gesehenes und Gehörtes gehalten werden kann und umgekehrt, so haben wir Grund zu einer allgemeinen Skepsis über die Sinnesthätigkeit. Allein diese wird [sich] sehr | weit ausdehnen und erstreckt sich über alle aus dem Bewußtsein hervorgehenden Thätigkeiten. Welche Richtung in der Gesammtheit des Seelenlebens ist es, die dahin führt, diesen ein Ende zu machen? Wir wenden uns an das Faktum, an den allgemeinen Zusammenhang eines bestimmt entstehenden Bewußtseins mit dem in den Sinnen vorgehenden Bewußtseins. Wollen wir hier auch von dem Subjektiven anfangen, so müssen wir doch das Umgeschlagensein in das Objektive mit hinzunehmen. Denn es wird für beide Seiten ein ganz anderes sein. Der Künstler, der den allgemeinen Typus seines Werkes in sich sieht, sagt er habe es deßhalb innerlich gesehen, weil er es auf eine äußerlich sichtbare Weise predigen wollte. Nehmen wir daher das Obige in seinen Anfängen, so wären die Anfänge, worin schon die Möglichkeit des Irrthums liegt, in allen diesen Fällen auf eine vollkommen gleiche Weise in der Seele, so daß sich gar keine Differenzen im Bewußtsein abbilden? Diese Frage führt uns auf eine andere, nämlich die, ist ein Vermeidenwollen des Irrthums etwas Ursprüngliches, denn wenn das nicht wäre müßten wir erst einen besondern Zweck aufstellen und diesen begründen. Wir kommen hier gegenüber dem ganz unmittelbar Oganischen auf einen ganz analogen Punkt, dem rein Geistigen, denn wenn die Rede ist von Wahrheit, so liegt das nicht mehr im Gebiet des Organischen. Stellen wir hier aber eine Skepsis auf, so setzen wir es ebenso ursprünglich wie auf jenem Gebiet. Wenn wir sagen es ist nicht zu unterscheiden zwischen dem durch äußere und dem durch innere Affektion entstandenen Bewußtsein. Das ist nicht zu unterscheiden, ob das Wollen der Wahrheit im Bewußtsein etwas Ursprüngliches oder etwas Erkünsteltes ist, so heben wir damit die ganze Frage auf. Es giebt eine Denkungsart, aber sie kommt immer nur im Einzelnen und auf eine polemische Weise bloß in der Theorie zu Stande, welche sagt, diese Richtung auf die Wahrheit ist nichts ursprüngliches und es kommt nicht darauf an, 32 ursprünglich] urpr. sehen

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daß man diese Genesis der Sinnesthätigkeiten unterscheiden könne. Nehmen wir die Richtung auf die Wahrheit als etwas Ursprüngliches, so müssen wir auch nachweisen, eine Richtung auf die Seelenthätigkeiten zu unterscheiden. Hieraus entsteht die große Frage, wie steht es überhaupt um die ganze Richtung, die wir in uns finden, daß wir die Resultate unserer Sinne ansehen als Repräsentationen von dem Außeruns? So würden wir die skeptische Ansicht von den Dingen bis dahin erweitern, daß wir sagen, es ist möglich, | daß diese Zurückführung auf das Außer uns ganz der Idiosynkrasie folgt, so muß man zu gleicher Zeit auch die Richtung auf die Wahrheit, insofern sie [sich] an die Operationen der Sinnesthätigkeiten knüpft entweder für etwas rein Zufälliges erklären oder für etwas in seinen Operationen Ununterscheidbares. Wenn wir hievon ausgehen, zugleich aber auch die Allgemeinheit dieser Richtung auf die Wahrheit betrachten, so erscheint uns diese Allgemeinheit als ein Erkünsteltes, so daß man sagen könnte, es sollte Jeder eine eigene Art und Weise haben, seine Sinnesthätigkeit als ein von Außen bewirktes anzusehen. Es gäbe also dann keine gemeinsame Welt für die Menschen, sondern das Außeruns wäre für Jeden ein Besonderes. Wenn man nun fragt, was bliebe übrig, als die wirklich natürliche Richtung, in welcher sich diese Operationen fortbewegen wollen, so wird nichts übrig bleiben als die Richtung auf das Subjektive, auf den Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen, und alle Zurückführungen auf das Außerihm könnten für Jeden nur Indikationen in Beziehung auf dieses sein ohne irgend eine Tendenz das Außeruns in seiner Mannigfaltigkeit auf eine ideale Weise in uns zu haben. Das ist die materialistische oder sensualistische Richtung, welche mit dem Skeptizismus genau zusammenhängt. Wir kommen hier auf einen Punkt, wo dasjenige angeht, was wir von unserer Untersuchung ausgeschlossen haben, nämlich es sind dies schon transcendentale Fragen. Können wir nachweisen durch die Beobachtung oder den Zusammenhang der einzelnen Operationen des Seelenlebens, daß die Richtung auf die Wahrheit etwas Allgemeines ist, so haben wir einen Unterscheidungsgrund gegen die skeptische Ansicht mit allen ihren Folgen. Können wir dies nicht, so haben wir wenigstens in unserm Gebiete keinen Entscheidungsgrund, sondern müssen dann sagen, die Betrachtung der Sinnesthätigkeiten allein berechtigt uns nicht zu einer Entscheidung hierüber. Gehen wir noch einmal zurück und fragen, wie sind wir dahin gekommen, daß die skeptische Ansicht eine solche Haltung gewann, so sind es 2 Punkte, einmal die Differenz in den Resulten der Sinnesthätigkeiten in mehrern Individuen unter gleichen Umständen. So wie ich sage, wenn ich mich der Einwirkung desselben Außermir hingebe wie ein Anderer und unter denselben Bedingungen und dem einen entsteht ein anderes Resultat

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als dem Andern, so liegt hierin eine Differenz, die nur durch eine absolute Vervollständigung der Erfahrung, welche unmöglich ist, entschieden werden könnte. So wie eine solche Vervollständigung | das einzige Mittel ist, muß die Sache unentschieden bleiben. Der andere Punkt war, daß wir Fälle aufstellen können, wo wir zweifelhaft werden, eben auch wieder durch die Differenz, ob eine Veränderung einen Grund Außer uns habe, oder ein rein Innen Erzeugtes sei. Hier scheint nothwendig, daß wir uns darüber orientiren, wie groß diese Differenz eigentlich sei. Sie ist noch viel größer als man es auf den ersten Anblick denkt. Nämlich es sind nicht die Idiosynkrasien Einzelner gegen Einzelne auf dem Gebiete der mehr subjektiven Sinne, sondern es geht die Differenz selbst schon auf der einen Seite in die Sprachbildung, auf der andern Seite in die nationale Konstitution hinein. Es ist nicht zu leugnen, daß es ganze Völker giebt für welche Zusammenstellungen von Farben und Tönen unangenehm sind, welche für andere angenehm sind und umgekehrt, also das Subjektive in dem mehr objektiven Sinn; ebenso gilt es vom Geruch und Geschmack. Ebenso wenn wir auf die objektive Seite der Wahrnehmung sehen, so wird Jeder sagen, daß wenn wir in verschiedenen Sprachen die Ausdrücke zusammenfassen, die z. B. die Differenzen des Lichtes in den Farbenerscheinungen bezeichnen sollen, so giebt es nicht leicht 2 Sprachen, worin der Ausdruck der einen in dem Ausdruck der andern ganz aufginge. Noch größer wird der Unterschied, wenn man die Gegenstände selbst vergleicht. Wenn man sich ein griechisches Farbenlexikon zusammenstellt, so findet man keinen Ausdruck, welcher in allen Fällen durch denselben Deutschen wiedergegeben werden könnte. Man sieht also hier offenbar eine Differenz der Auffassungsweise. Man wird gewiß sein, diese in einer Differenz der Struktur des Organs begründet zu finden. Allein dies wäre eine zu rasche Folgerung. Es ist ebenso unmöglich, daß ein Grund schon liegt in diesem zusammenfassenden Prinzip d. h. wir müssen es unentschieden lassen ob der Unterschied mehr ein logischer ist. Allein wir können nicht ohne diese logischen Operationen mit hineinzuziehen die Thätigkeiten entwickeln. Es ist allerdings eine Differenz im Großen, und welche zugleich auf das ganze Sprachsystem Einfluß hat, nicht abzuleugnen. Wenn wir aber nun den Umstand mit in Anschlag bringen, daß wir über den Gegenstand gar nicht ohne logische Operationen reden können so ist es nicht überall möglich die Fragen, welche die Gränze unserer | Untersuchung nach dem transzendenten bezeichnen, als isolirte zu betrachten. Daß die Sinnesthätigkeiten dieselben sind, darüber hat noch kein Skeptizismus gezweifelt. Fragen wir woran diese Sicherheit hängt und also was hier dem noch weiter gehenden Skeptizismus seine Gränzen setzt, so kommen wir darauf zurück, daß uns das Bewußtsein von

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dem menschlichen Sein als Natur ist. Wenn wir sagen, was bei mir Hören ist, hat Jemand gar nicht, sondern dafür ein anderes Hören also die Nöthigung hiezu und dieses Festhalten Andere als Menschen anzuerkennen und die Funktionen derselben als dieselben anzuerkennen ist dasselbe und hierin liegt die Nöthigung alle Differenzen der Identität zu subordiniren. Wir wollen von hieraus nun noch einige allgemeine Betrachtungen anstellen, die allerdings über unsern unmittelbaren Gegenstand hinausgehen, aber auf dieselbe Weise als es überhaupt nicht möglich ist, ihn zu isoliren. So bald eine solche Differenz vorkommt, so haben wir auch eine bestimmte Tendenz uns darüber zu verständigen d. h. auf die Identität zurück zu führen. Was ist nun diese? sie ist nichts anderes als das Wissenwollen in Beziehung auf das allgemeine Verhältniß des Menschen als solchen zu dem Außer ihm als solchen. Denn in demselben Maaße als das Differente auf das Identische reduzirt wird, steht etwas allgemein Menschliches fest. Wenn wir sagen diese Tendenz bleibt oft nur wirksam, aber sie wird es nur insofern als sie von andern Funktionen in dem Moment überwogen werden, sie ist aber als Tendenz beständig da, so ist die Richtung auf die Wahrheit in demselben Gebiete ein Natürliches. Ob ich frage es ist dem Menschen natürlich die Richtung auf die Wahrheit, oder es [ist] die eine Richtung des Differenten auf das Identische zurückzuführen, so ist dies dasselbe. Das Verhältniß zwischen dem, was wir als ein von Außen Bewirktes ansehen und demjenigen was wir für das innerlich Erzeugte ansehen müssen liegt schon in dem bisherigen Faden unserer Untersuchung. Wir haben Sinnesthätigkeiten gefunden, welche nicht von außen, sondern rein von innen heraus entstehen. Es tritt daher eine Unsicherheit ein, wenn wir eine Sinnesthätigkeit auf ein Außer uns beziehen. Dies finden wir oft im Einzelnen, wenn Jemand in Gesellschaft von Andern etwas zu sehen oder zu hören glaubt, was Andere nicht sehen oder nicht hören. Dies erscheint oft als etwas Zufälliges, oft in Verbindung mit gewisser Gemüthsbewegung, gespannter Einwirkung. – | Aus dem Sehen oder Hörenwollen entsteht ein innerliches Sehn oder Hören, was dann für ein äußerliches gehalten wird. Wir finden aber noch größere Resultate, den Traum, nicht der Art und Weise nach wie er entsteht, sondern der logischen Elemente nach. Nun ist dies ein Innerliches und es ist notorisch daß diese Bilder zu einem so starken Tone sich steigern können, daß er sie mit der wirklichen Wahrnehmung verwechselt und daß oft ein Schwanken entsteht ob man geträumt habe oder nicht. Außerdem haben wir das ganze Gebiet der Extase ebenfalls nicht seiner Genesis nach, aber so wie wir an 3 also] also liegt

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Alles denken, was besonders mit der Nähe an den Visionen bezeichnet wird, so haben wir ohne den Zustand des Schlafs dasselbe und zwar sehr häufig mit einem Anspruch darauf daß eine wirkliche Wahrnehmung statt gefunden habe, wogegen Alle die sich in jenem Zustand nicht befunden haben, widersprechen das für ein innerlich Produzirtes [zu] halten. Wie viel [wir] nun aber auch auf andere Ursachen geben mögen, uns kommt es hier nur auf das Faktum der Zweideutigkeit an. Fassen wir dies Alles zusammen, so finden wir, wie sich durch diese innere Erzeugung, das ganze Gebiet der Bilder ins Unendliche vergrößert, wie es ohne diese innre Erzeugung gar nicht geschehen könnte aber nun können wir noch weiter gehen. Betrachten wir das Faktum, was uns sehr nahe liegt, nämlich die Erinnerung, d. h. die Wiedererscheinung der frühern Sinnesthätigkeiten ihrem Resultat nach, so ist auch eine gewisse Entwickelungsstufe und für ein gewisses Gebiet diese Operation überwiegend eine logische, indem nur die einzelnen Erfahrungen reproduzirt werden; aber dies ist nicht das Ursprüngliche. Was der Maler gesehen hat, sieht er als Bild wieder. Hier haben wir ein inneres Produziren von Resultaten der Sinnesthätigkeit ohne eine äußere Affektion, ohne einen so spezifischen Grad als früher, aber welches eine Nachbildung ist von dem Wahrgenommenen. Aber so wie wir auf diesem Gebiet stehen bleiben, so giebt es auch ein umgekehrt sich erhaltendes Produziren von Bildern. Nämlich ein produktiver Künstler auf diesem Gebiet sieht, was er bilden will, vorher innerlich und hernach erst bildet er sie äußerlich dem innern nach; das gilt in einem gewissen Sinne selbst von dem Dichter; nur macht er die Bilder nicht äußerlich unter der Form des Bildes sondern der Rede. Ja noch mehr. Wenn wir auf die Art achten, wir wir mittheilen, auffassen, | was uns Andere von ihren Wahrnehmungen mittheilen, so verfahren wir hier so als der Dichter will, daß wir mit seinen Beschreibungen verfahren sollen; wir sehen dem Hören nach. Fassen wir dies zusammen, so finden wir, daß dieses Produziren von Resultaten der Sinnesthätigkeiten, welches ein rein inneres ist ein höchst bedeutendes Element des ganzen menschlichen Sinnes ist, ja daß das Ursprüngliche durch die äußere Einwirkung Gewordene fast seinen ganzen Werth verlieren würde, wenn dieses Innere nicht wäre. Wie steht es mit dem Verhältniß dieser ganzen Erfahrung zu jener skeptischen Ansicht? Wir können uns dies vollkommen klar machen, ohne die Tendenz von der innern Produktion in ihrem allgemeinsten Umfange aufzufassen. Das hat aber 2 verschiedene Enden; das eine ist das wirkliche Wahrnehmenwollen, wozu der äußere Coeffizient fehlt, das Andere ist das äußerliche Mittheilen wollen der innern Produktion. Dieses letztere ist unstreitig das einzig Reale Denken, jenes das Gaukelspiel. Denken wir uns den existenten Zustand so wird Jeder sagen,

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daß wir nichts so bezeichnen, welches aus dem Willen hervorgegangen ist; wenn wir aber die einzelnen dem analogen Elemente sehen, so gehen diese von dem Willen aus; ich will Alles wahrnehmen, was für den Grund der Spannung eine nähere Beziehung hat und halte die innere Produktion für äußere. Das ist die Gaukelei. Das innere Sehen vor der Darstellung endet in einer bestimmten Reihe von Darstellungen und hat seine Richtung auf die Kunst. Dasjenige innere Produziren, welches ein Nachbilden ist, von dem uns Mitgetheilten, hat eine Tendenz auf das Wissen. Hier liegt dieselbe Voraussetzung zu Grunde, nämlich die Identität der Funktionen, das Gattungsbewußtsein. Wenn wir hiezu nun noch fragen, nämlich wie es um die Reproduktion unserer eigenen Wahrnehmungen steht, so sind sie der Sache nach ganz dasselbe; sie sind das herübertragen eines frühern Moments auf den eignen; aber nur das Gattungsbewußtsein unter der Form der Persönlichkeit. Die Richtung auf das Erkennen ist hier wie dort dieselbe. Wenn wir dies nun ausscheiden [und] als die ersten Punkte verwenden, so bleiben von diesem ganzen Gebiet nur die ungefährlichen beiden Enden übrig. Wie verhalten sich dieselben zu einander und zu der eigentlichen Einheit des Lebens? Es wird nicht fehlen | an der Vorstellungsart, daß beides einerlei sei; allein so wie wir auf das Andere sehen, so wird dieser Ausdruck der skeptischen Ansicht selbst angehören. Alles was wir als von Innen ausgehende Sinnesthätigkeit ansehen, wollen wir an dem allgemein Menschlichen rectifiziren und wenn Alle übereinstimmen, es sei keine äußre Einwirkung dagewesen, glauben wir an eine innere Produktion. So wie sich der Widerspruch zeigt zwischen dieser innern Produktion und der andern so sagen wir uns los davon. Allein [von] demjenigen innern Wahrnehmen, was sich auf irgend eine Seite hin als ein Kunstelement verhält, von ihm wollen wir uns nicht lossagen, sondern diese Elemente fixiren. Wir haben eine Cirkulation der Sinnesthätigkeiten; es fängt bei einer innern Produktion an; geht durch die äußre Wahrnehmung durch und endigt in einer innern und endet in der äußern Darstellung. Wenn wir nun hier wieder eine auf Andere gerichtete Tendenz finden und einsehen, daß dies nichts Zufälliges, sondern ein wesentliches Lebenselement ist, so werden wir nicht sagen können, daß es sich auf eine entgegengesetzte Weise zu der Richtung auf die Wahrheit verhält, wie das für die ersten Punkte Gefundene, sondern wir wollen ebenfalls eine Wahrheit mittheilen. Es ist ursprünglich nur die Wahrheit des eignen Lebens. Wenn wir bei dem ersten Punkt auf das Resultat kamen, daß das Gebiet der Sinnesthätigkeit das vollkommen isolirt als ein für sich Abgeschlossnes betrachtet werden konnte, weil es nur durch Zuziehen von logi22 angehören] angehört

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schen Elementen zu seiner Vollendung kommt, so müssen wir hier dasselbe sagen, aber in einer andern Beziehung. Der erste Anfang der innern Produktion liegt in der Indifferenz der Selbstthätigkeit und Empfänglichkeit. Sehen wir auf die Art, wie diese Elemente sich zu einem Ganzen gestalten, so ist hier eine konstante Zunahme von meiner Selbstthätigkeit und zwar von einer solchen in der sich auch das Bewußtsein immer steigert. Fragen wir nun, aber nur zum Behuf unserer gegenwärtigen Untersuchung, was ist hier in dem Wollen? Die Richtung geht von Anfang an auf das Fixiren und das Mittheilen, also müssen wir auch voraussetzen, daß ein allgemein Menschliches der erste Impuls dazu gewesen sei. Auch der erste Anfang aller Sinnesthätigkeiten durch äußre Einwirkung, ist in der Indifferenz von Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit. | Die Selbstthätigkeit, oder der Wille steigert sich von diesem ersten Anfang immer mehr und denken wir uns die Sonderung von allem was in individuellen Differenzen seinen Grund hat, so haben wir erst in dem Erkennen, die vollständige Erfüllung dieses Willens. Der Wille ist also hier nur für das Verhältniß des Außer uns, wie es uns als ein Chaotisches gegeben ist, auf das Allgemeine gerichtet. Bei dem innern Produziren ist eine uns selbst unbewußte Thätigkeit, welche ebenfalls fortgesetzt in bestimmte Einheiten verwandelt wird, um äußerlich dargestellt zu werden. Die Darstellung geschieht aber nur durch das Medium des Äußerlichen, aber nur unter der Form des vom Menschen Hervorgebrachten; eine Mittheilung des eigensten innern Lebens durch die Idee. So wie wir nun also von beiden Seiten auf dasselbe kommen, auf beiden Seiten herrscht dasselbe Bestreben, das Zufällige zu eliminiren und das allgemein Menschliche herauszusondern. Es verschwindet uns also der Schein, welcher der skeptischen Ansicht ihren Vorwand gab. Beide Thätigkeiten haben die Richtungen auf die Wahrheit auf der einen Seite auf die Wahrheit des innern Lebens. Ein ganz Eigenthümliches und am wenigsten an einer positiven Vermischung der Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit Theil habendes ist ein Vitalsinn. Es ist kein Gegensatz zwischen Abhärtung und Verweichlichung, welcher auf diese Sinnesthätigkeit eigentlich keinen Einfluß hat; es kann die Selbstthätigkeit hier hinzu treten, aber nicht einen Theil haben an der Hervorbringung des organischen Zustands selbst. Wenn wir nun aber auf das Gebiet der speziellen Sinne übergehen, so sehen wir, daß sich das Resultat dieser Lebensthätigkeit auf 3 Punkte zurückführen läßt. Der erste liegt dem vorigen am näch28–30 Vgl. SW III/6, S. 112: „nach beiden Seiten hat die Selbstthätigkeit des Menschen die Richtung auf die Wahrheit, bald auf die des Außer-uns in seiner Beziehung zur Intelligenz, bald auf die des innern Lebens in seiner Beziehung auf die allgemeinen intelligenten Lebensverhältnisse.“

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sten, nämlich die bloß subjektive und am wenigsten dem Physiologischen zugewandte Seite, der Gegensatz des Angenehmen und des Unangenehmen. Hier ist auch eine sehr geringe Beimischung eines intellektuellen Elements. Das ganze Gebiet gehört der animalischen Seite des Lebens noch auf eine nähere Weise an, unterscheidet sich aber von dem wirklich Thierischen durch das Allgemeine mehr und also auch durch eine größere Freiheit. Die Allgemeinheit nämlich besteht darin, daß wir annehmen müssen, die animalischen Sensationen sind nur der Ausdruck von dem Verhältniß des Außeruns zu dem Bedürfniß. Nehmen wir auch an das Thier habe einen positiven Widerwillen gegen das ihm Schädliche, so ist doch das Meiste, was die Sinne affiziren könne, vollkommen indifferent, wenigstens tritt die Affektion der Sinne in dem Verlauf der Thätigkeiten nicht ein. Die Entwickelung der Sinne besteht in einem allmähligen [Befreien] von dem sich | verbereitenden Instinktartigen. Die Kinder nehmen keine Notiz von dem, was nicht fest zu ihren Bedürfnissen gehört; je mehr sie sich entwickeln, je mehr verschwindet die Gleichgültigkeit und die letzte Zeit ist eine so vollständige Entwickelung der Sinne, daß sie von Allem, was sie affiziren kann, bestimmte Sensationen bekommen. Fragen wir nun, indem freilich schon eine bestimmte Einheit der Selbstthätigkeit sich findet, nach dem eigentlichen Resultat dieser Entwickelung, so ist es auf der einen Seite möglich, daß der Mensch sich diesem Eindruck auf eine solche Weise hingiebt, daß die ganze Selbstthätigkeit in dem Aufgehen der Sinnesthätigkeit bestehen kann. Es ist hiebei aber noch etwas zu berücksichtigen, nämlich die allgemeine Erfahrung, daß die Sensationen selbst sich ihrer Unmittelbarkeit nach verringern und abstumpfen durch die Gewohnheit, auf der andern Seite, daß man sie steigern kann. Wenn wir dies Ende, welches nicht durch die Sinnesthätigkeit allein bedingt ist, hinzunähmen, so ist es derjenige Zustand, welchen wir durch den Ausdruck des Sinnenrausches zu bezeichnen pflegen, nämlich das beständige Aufsuchen der angenehmen Sensationen. Nach diesen folgt dann allemal eine Erschlaffung sowohl des organischen Zustands selbst, also eine vorübergehende Unfähigkeit des Organs, als auch des allgemeinen Lebenszustands insofern er durch den Zustand des Organs affizirt wird. Wenn wir dies von seinem maximum betrachten, so erscheint es als ein gänzliches Versenken des ganzen Seelenlebens in diese organischen Thätigkeiten. Dies ist das eine Ende von diesem Element. Nun werden wir aber ebenso auch das Entgegengesetzte zu betrachen haben und zwar ebenfalls von 16 fest] fest da 17 je] Je 19 bekommen] bekommt 23–24 Selbstthätigkeit] so SW III/6, S. 113; Ms.: )Eindruck* 37 des ganzen Seelenlebens] über der Seelenthätigkeit

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der sich zu der Empfänglichkeit gesellenden Selbstthätigkeit. In aller Sinnesthätigkeit ist ursprünglich ein Zusammensein der subjektiven und der objektiven Richtung. Gehen wir wieder davon aus, daß die ersten Lebensmomente noch in der Indifferenz der Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit sind, so werden wir sagen, diejenige Form der Selbstthätigkeit, welche wir bisher beschrieben haben, war die Richtung der Aufmerksamkeit auf die Zustandsänderung; wenn die Selbstthätigkeit aber die Richtung nimmt die subjektive Seite auf die objektive zu beziehen, so ist dies das Entgegengesetzte. Wenn wir auf den allgemeinen Sinn zurückgehen, so sagten wir bei der Betrachtung desselben, es wäre hier bei der ersten Auffassung schon der Irrhum möglich. Als wir übergingen zu den Sinnen, bei denen die subjektive | Richtung das überwiegende ist, so fanden wir diesen Irrthum schwerer. Nehmen wir nun an Empfindungen, welche durch Gegenstände bereitet werden so ist in diesen auch zugleich ein subjektives und ein objektives Element. Denn es sind entweder gewisse Funktionen derselben Seele oder gewisse Zustände derselben, wodurch sie auf unsere Sinne einwirkt. Die Empfindung wird daher als Mittel gebraucht, um die Gegenstände aufzufassen. Denken wir uns in diesem Prozeß diese Empfindungen sich schwächen, so wird auch der Gegensatz zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen weniger vorhanden sein; das Interesse also die Sensationen zu steigern ist hier ebenfalls; das Ende aber ist, daß die Empfindung als solche zwar ein bestimmt Unterscheidbares, aber in Beziehung auf die Selbstthätigkeit ein Gleichgültiges wird. Das Ende ist dann, wenn wir das in sich maximale betrachten, daß alle angenehmen Sensationen als solche nur Beobachtungselemente und Versuchselemente betreffen und dies gilt nicht etwa bloß, wenn es gebraucht wird, um den Gegenstand von welchem die Empfindung ausgeht im Bewußtsein zu fixiren, sondern um den physiologischen Prozeß selbst im Bewußtsein zu fixiren. Die Schärfe und Bestimmtheit der Sensationen wird immer mit genommen. Derjenige, dessen Selbstthätigkeit ganz in den Sensationen auf24–25 Zusatz SW III/6, S. 115: „Nehmen wir einen Menschen von der Art, wie wir ihn vorher beschrieben haben, so wird für diesen eine angenehme Sensation immer den Reiz enthalten sie zu erneuern, und also auch die Selbstthätigkeit darauf gerichtet sein, wenn ich aber die angenehme Sensation nur dazu gebrauche, daß sie mir eine Indication giebt des Gegenstandes, so wird kein Impuls dazu da sein die Sensation zu erneuern und die Selbstthätigkeit wird dagegen sich indifferent verhalten.“ 30–32 Vgl. SW III/6, S. 115: „Denn wenn ich bei einem scharf schmekkenden Gegenstande die Sensation so viel wie möglich steigere um zu sehen, welche Veränderungen sie in den verwandten Systemen und Organen hervorbringt, so ist das ebenso ein Beobachtungselement, und dasselbe gilt auch bei dem Versuch, so daß die subjective Seite immer mit gewollt wird, weil wenn sie sich abstumpft auch die Beziehung zwischen der subjectiven und objectiven Seite abnimmt; “

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geht, sucht keine neue Sensation außer nur einer angenehmen zu finden, und fängt mit dem minimum an; wird aber die subjektive Seite nur auf die objektive bezogen wird jede Sensation gesucht. Nach dieser Richtung hin also tritt die subjektive Seite in den Dienst der objektiven und hört auf für den Dienst der Selbstthätigkeit etwas zu sein an und für sich. Wir haben hier nicht die Frage zu beantworten, ob diese beiden Enden auch einen vollkommen ethischen Gegensatz bilden. Indem die subjektive Seite der Sinnesthätigkeit in den Dienst der objektiven tritt geschieht es doch nur insofern, als die objektive ein logisches Element in sich trägt, d. h. insofern es auf das Denken, auf den Begriff, auf ein rein Geistiges bezogen wird, wenn wir nun sagen, wir wollen vorläufig als möglich setzen, daß es auch noch eine andere Beziehung auf das rein Geistige gebe, welche sich an die subjektive Seite der Sinnesthätigkeit anknüpft, so gehört dies zu keiner von beiden. Hätten wir die Richtung, welche die gesammte Sinnesthätigkeit auf das Geistige nimmt zu beschränken, würden wir dies wie jenes betrachten müssen. Das zweite ist ebenfalls von der subjektiven Seite aus dasjenige, was sich in | die Thätigkeit endet, welche wir schon mit dem Nahmen der Kunst bezeichnet haben d. h. die innere Thätigkeit, welche aber eine äußere werden soll. Auf diesem Gebiete der vermittelst der Sinnesthätigkeit darstellenden Kunst giebt es ebenfalls einen Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen, [wir] unterscheiden ihn aber bestimmt von dem vorigen, weil das ursprünglich organische Element dabei ganz verschwindet. Es wird Niemand ein Conzert bilden, welches aus lauter unangenehmen Klängen bestände; es ist also eine conditio sine qua non, daß das das Organ auf eine unangenehme Weise Affizirende vermieden werde. Aber die organische Sensation, welche aus der Folge gewisser Töne entsteht beruht nicht rein auf jenem organischen Element, gehört aber mit unter jenen Gegensatz. Wir kommen hier an die Gränze eines andern Gebietes und zwar so, daß wir jetzt darüber nichts weiter sagen können, nämlich die Frage, worauf beruht dasjenige Wohlgefallen und das korrespondirende Mißfallen, welches besonders durch die künstlerischen Darstellungen hervorgebracht ist. Diese Frage ist eine ästhetische mit einer physiologischen Beziehung; auf beides lassen wir uns hier nicht ein. Insofern aber ein bedeutender Theil des Seelenlebens dies Gebiet konstituirt, werden wir darauf kommen müssen an einem andern Orte. Daß nun hier zu dem Organischen an bestimmte Sinnesthätigkeiten Geknüpften ein bedeutendes intellektuelles Element sich anknüpft gestehen wir vorläufig zu obgleich auch hier die skeptische Ansicht sich hat geltend machen wollen. Sie hat es aber nie bis zu einer dem Gegenstand angemessenen Darstellung bringen können. – Das Dritte ist das allen speziellen Sinnen mit beigemischte objektive

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Element, wo sich also die Selbstthätigkeit hinzugesellt. Hier kann nichts zu Stande gebracht werden, wenn wir nicht ein logisches Element hinzudenken; wenn wir uns den bloßen Wechsel von verschiedenen Eindrücken betrachten, so würde doch, wenn nicht das Einzelne unter das Allgemeine gebracht würde, doch nie ein Festhalten der Gegenstände zu Stande kommen. Es würde die objektive Seite der Sinnesthätigkeit als etwas Unzureichendes erscheinen und das Menschliche würde sich wieder dem Animalischen nähern. Den Erfolg, wie unser ganzes Wissen von unserer Sinnesthätigkeit ausgeht können wir nicht weiter verfolgen. | Es ist noch nicht die Rede gewesen von den Seelenthätigkeiten, welche in der Sprache sind, also von dem Denken. Wenn wir bei der Totalität aller Bilder stehen bleiben und irgend einen Moment eines ganz vollkommen entwickelten Lebens herausnehmen, ihn vergleichen mit dem ersten Anfang nämlich der Beziehung auf das uns umgebende Außeruns als eine Unendlichkeit von Einzelnheiten, so finden wir hier 2erlei. 1, die Eindrücke sind nicht mehr vereinzelt 2, das Ganze ist nicht mehr ein Bild, sondern eine Mannigfaltigkeit von bestimmt geschiedenen Bildern. Hierüber haben wir uns schon theilweise erklärt, es geschehe aus der Combination verschiedener Sinnesthätigkeiten und auf diese Weise zerfällt uns der allgemeine Apparat von Einzelheiten in eine bestimmte Vielheit. Es ist dies hiedurch keineswegs vollkommen erklärt, weil das Intellektuelle darin noch nicht in Betrachtung gezogen ist. Fragen wir, was jene Combination voraussetzt, so führt uns dies auf einen neuen Gegenstand. Wenn wir sagen, es wird uns ein Gegenstand indem wir verschiedene Sinneseindrücke welche von verschiedenen Richtungen herkommen, auch auf denselben Punkt als eine Einheit beziehen, so gehen wir hier auf eine Vielheit der Eindrücke zurück. Sie sind aber nicht gleichzeitig, sondern ein Nacheinander, wenn wir die Totalität der Bilder, welche uns in einem Moment gegenwärtig sind, zusammennehmen, so rühren diese nicht von demselben Moment her. Wir haben also 3erlei, das Beziehen eines organischen Eindrucks auf dieselbe Einheit mit einem frühern organischen Eindruck, der nicht mehr existirt 2, das Wiederhervorrufen des organischen Eindrucks 3, das Wiedererkennen eines spätern Eindrucks als ganz dasselbe mit dem frühern. Dies letzte wird bei dem erstern schon vorausgesetzt. Es entsteht uns also hier die Aufgabe, die organischen Operationen der Sinne in Beziehung auf die Zeit zu verstehen. Wenn wir davon ausgehen, den organischen Eindruck anzusehen als ein Momentanes, so entsteht die Frage, wie ist es möglich, daß er sich wiederhole und dabei als derselbe erkannt werde? Betrachten wir den orga6 würde] würde sich

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nischen Eindruck als ein Bleibendes d. h. [der] zwar in einem Moment entsteht, aber eben dadurch fortdauert, so entsteht die Frage, warum wir nicht in jedem Moment alle Eindrücke, welche wir jemals bekommen haben, zusammen haben und wo sie geblieben sind? Die Thatsache ist unbestritten. Wenn wir auf die beiden verschiedenen Methoden zurückgehen, können wir die Frage auch so stellen, haben wir die organischen Eindrücke anzusehen als ein schlechthin Vergängliches oder als ein schlechthin Bleibendes? Lassen wir uns in Bezug auf die Praxis die Frage so stellen. Wir pflegen uns niemals darüber zu verwundern, daß wir etwas behalten, daß wir die Eindrücke reproduziren, aber darüber oft, wie uns etwas | abhanden gekommen ist, wie wir etwas vergessen haben. Diese Handlungsweise erklärt sich nur aus der Voraussetzung, daß die Sinneseindrücke ewas Beharrliches sind. Um nun aber nicht Unrecht zu thun, [wenn] wir von einer Handlungsweise ausgehen, deren Gründe wir uns nicht bewußt sind, wollen wir davon ausgehen, daß die Eindrücke etwas Vergängliches sind. Es ist zuerst eine allgemeine Voraussetzung, daß das Außer uns in einem beständigen Zustand des Wechsels ist. So wie man daraus weiter folgern will, Alles Beharrliche ist ein Schein, so geht der Streit an. Die Sache selbst kann Niemand in Zweifel ziehen. Denn wenn man auch sagt, es giebt in dem Außeruns ein Beharrliches, so ist dies kein Widerspruch; denn der Wechsel kann nur an dem Beharrlichen sein. So wie man den Satz auf die Probe der Erfahrung bringt, so wird er sich bestätigen, auf welche Sinneseindrücke wir auch sehen mögen. Die Gehörseindrücke werden so z. B. dadurch erklärt, daß sie nicht Eins, sondern ein auf einander Folgendes sind. Wenn wir sagen, daß der Geruch einer Blume derselbe ist, so ist dies nur in einem gewissen Grade wahr. Denn wenn wir uns erinnern an die Sensationen bei der ersten Entwickelung der Blume und der abgestorbenen so giebt [es] hier eine Differenz, also auch Übergänge. Nun sagt man also, dauert auch der Eindruck auf das Organ nur in einem unendlich kleinen Zeittheil als derselbe fort. Dasselbe gilt auch von dem Gegenstand welchen wir als Einheit setzen, indem wir verschiedene Sinneseindrücke kombiniren. Sind also die Einwirkungen auf das Organ rein momentan und wenn wir auf die Totalität sehen in dem Gesammtbilde, so sieht man nicht mehr eine Wiederholung der Eindrücke oder ein Wiederkommen können. Von dieser Voraussetzung also aus, entsteht eine Nothwendigkeit alles Festhalten der Eindrücke zu erklären. Dehnt man den Satz zu weit aus, daß man nämlich alles Sichgleichbleiben leugnet, so entsteht die skeptische Ansicht. Aber um dazu zu kommen haben wir schon etwas gethan, wozu keine Berechtigung 23 bringt] bringen

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vorhanden ist. Um aber auch von dem richtigen Punkt aus nur von dieser Augenblicklichkeit der identischen Eindrücke auf den Sinn zu reden, hat man Versuche gemacht das Festhalten und Wiederholen zu erklären. Wenn wir uns nämlich denken eine Einwirkung auf unsere Organe, so sind diese ein Leibliches also ein im Raum Ausgedehntes und ein Lebendiges, also ein Bewegliches. Von jedem Eindruck bleibt eine Spur zurück und diese wird dann wieder hervorgerufen. Man hält sich also hiebei allein an das Organische und sieht den Grund darin. | Der Ausdruck Spur ist ein bildlicher Ausdruck, bei dem wir eben deßhalb nicht stehn bleiben. Die Veränderung in der Gestaltung finden wir ausgeführt in Platons Theätet; ohne die lebendige Beweglichkeit würde keine Einwirkung möglich sein. Es wird leicht sein, sich zu überzeugen, daß diese beiden Erklärungen unzureichend sind. Wir können freilich jeden Raum bis ins Unendliche theilbar denken und also jeden Eindruck der zurückbleiben soll (materielle Idee) als unendlich klein und also unendlich viele, ohne Störung neben einander; ja die Zeit selbst ist in eine unendliche Menge von Momenten getheilt und also kann der eine den andern nicht erschöpfen; ja wenn man hinzunimmt, daß alte Leute oft bestimmter wissen von ihren frühern Eindrücken als ihren spätern, so könnte man dies erklären; aber auf einen solchen Punkt gebracht wird die Sache absonderlich. Ebenso ist es mit der andern, wenn wir uns die Erinnerung denken als eine fortschwingende Bewegung, denn es ist offenbar, daß sich nicht alle Gegenstände die auf die Organe einwirken zu denselben auf gleiche Weise verhalten; wie wäre dies zu erklären, daß wir einen Eindruck, weil er leicht wird, für einen Frühern halten, den andern obgleich der nun ebenso leicht wird nicht. Es ist eine Erfahrung, daß einem bisweilen etwas begegnet, wovon man gewiß weiß, daß es einem noch nicht begegnet ist und wovon es doch ist, als wäre [es] einem schon begeg22 die Erinnerung] sie 10–12 Vgl. SW III/6, S. 120–121: „Die Veränderung in der Gestaltung ist eine alte Hypothese, die man auf eine handgreifliche Weise ausgeführt findet in dem Theätet des Platon, wo die Seele dargestellt wird als eine wächserne Tafel, auf welcher das Außeruns Spuren zurükk|läßt. Es läßt sich aber auch auf eine andre Art denken. Da nämlich ohne die lebendige Beweglichkeit der Sinnesorgane keine Sinneswahrnehmungen möglich sein würden, so könnten demnach die Bewegungen fortdauern, wenn auch der Eindrukk vorüber ist, und dies enthielte dann den Grund der Wiederhervorrufung desselben Eindrukks. Diese Erklärungen sind aber unzureichend.“ Vgl. Platon: Theaitetos 191c–200c; Opera 2,154–174; Werke 6,154–183 25–27 Vgl. SW III/6, S. 121: „Modificirt man die Hypothese so, daß das Organ, wenn es öfter die Bewegung gehabt hat, leichter wieder zu derselben zurükkgebracht wird, so spricht dagegen, daß es einen Unterschied in der Leichtigkeit oder Schwierigkeit der Wiedererinnerung giebt, der gar nicht von der öfteren Wiederholung abhängig ist.“

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net. Aber eben weil dies Faktum uns ein seltnes ist, so muß die Erklärung verworfen werden. Wir sehen, daß wir hiemit nicht ausreichen, aber nun freilich können wir auch nicht behaupten, daß dies ein hinlänglicher Grund sei, von der entgegengesetzten Voraussetzung auszugehen, daß die Eindrücke etwas Bleibendes sind, denn es ist in allen Operationen auch ein intellektuelles Element wirksam. Die Voraussetzung, daß die Eindrücke nicht länger dauern als die Einwirkungen kann begründet sein, aber noch nicht erklärt werden. Aber die entgegengesetzte Voraussetzung daß [diese] das nämliche Recht als jene [haben] und daher müssen wir auch sie verfolgen. Wir halten uns an das Faktum, daß wir das Festhalten der Eindrücke und das Wiedererkennen derselben Gegenstände und das Beziehen des Gegenwärtigen auf das Vergangene und umgekehrt, daß wir dies als das Konstante aus der Beharrlichkeit des Außeruns erklären, weil wenn auch die Einwirkung nur ein Momentanes ist, doch das dadurch Bewirkte ein Bleiben ist und wie es nun zugeht, daß wir nur Einiges behalten. Geht man von dieser Voraussetzung aus, so haben wir nicht nöthig, die Sache auf eine so materielle Weise zu fassen, auch [wenn] wir sagten, dieses Bleiben muß nun irgendwo sein, in einem Theil unseres Körpers, | sondern sagen, daß dies wohl mit dem intellektuellen Moment zusammenhängen kann. Die Eindrücke müssen irgendwie sein und es kommt also darauf an, das Verlorengehende zu erklären. Aber von dieser Voraussetzung aus ist es wieder unmöglich das gänzliche Verlorengehen [der Eindrücke anzunehmen]. Die Aufgabe beschränkt sich darauf, daß [wir] die verschiedenen Grade von Leichtigkeit unterscheiden, womit wir das Vergangene in das Gegenwärtige würden aufnehmen. – – – Wir haben Ursache den Anfang des Bewußtseins als ein Dauerndes anzunehmen, also als unabhängig von der organischen Affektion. Wir haben angenommen, daß von der geistigen Richtung aus ein Analogon der organischen Bewegung entstehen könne, das 26–27 Zusatz SW III/6, S. 122–123: „Wenn wir darauf zurükkgehen, daß es ein Afficirtwerden der Sinneorgane giebt, ohne daß die Operation vollendet wird, weil die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet ist, so ist das Vergessen grade dasselbe, die Operation in ihrer Dauer betrachtet. Ob wir das gelten lassen, daß das Bewußtsein nicht entsteht, wenn auch das Organ afficirt ist, sobald die Aufmerksamkeit darauf nicht gerichtet ist, oder ob wir gelten lassen, daß das Bewußtsein dann verloren gehen kann, beides ist so nahe verwandt, daß wir es nicht von einander unterscheiden können. Wenn man sich denkt, man hört einen anschwellenden oder abnehmenden Ton, so ist dies ein successives Auffassen, aber so daß das früher nicht aufgehoben ist, und da sieht man leicht, wie die Aufmerksamkeit darauf gerichtet sein muß. Ganz auf dieselbe | Weise haben wir Ursache, dasjenige, was der Anfang des Bewußtseins, also das eigentlich psychische ist, als ein an und für sich dauerndes zu betrachten, unabhängig von der organischen Affection. Wir wollen noch einen andern Punkt hinzunehmen, wodurch die Sache vollkommen klar werden wird.“

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innere Sehen und Hören. Wenn wir betrachten die Wiederkehr des Bewußtseins einer Wahrnehmung, so ist dieses durch das innre Sehen und Hören vermittelt. Es bleibt uns die Abstraktion, das Bewußtsein welches an dem Worte haftet wenn das innre Sehen und Hören nicht hinzu kommt. In dem Augenblick, wo der anschwellende Ton sein maximum erreicht hat, haben wir den Anfang desselben, die Sprache, nicht durch das bloße Wort; aber auch nicht durch das äußere Hören; die Gegenwart also des Frühern ist durch das innere Hören vermittelt. Es liegt die Schwierigkeit den Eindruck festzuhalten darin, weil die geistige Richtung nicht auf den Punkt gegangen ist. Das Organ wird affizirt von außen und die organische Bewegung wird zu ihrem Ende geführt, der Übergang in das Bewußtsein kommt nicht zu Stande, weil dasselbe in eine andere Richtung thätig ist, so ist dies ein Fall, wo die Aktion erfolgt ist; aber dies als eine 0 zu setzen würde voraussetzen, daß das Band zwischen den organischen und Seelenfunktionen für den Moment völlig aufgelöst gewesen sei. Wenn wir uns aber denken, daß das Bewußtsein nur als ein minimum statt gefunden hat, so giebt sich darin die Möglichkeit zu erkennen, daß das Bewußtsein, wenn es auch früher gehemmt war, sich zu der vollkommnen Klarheit entwickeln kann. Es entsteht eine vollkommne, der gewöhnlichen entgegengesetzte Ansicht, nämlich gegen die, daß Gedächtniß und Erinnerungsvermögen etwas besonderes für sich ist. Das können wir aber gar nicht zugeben. Das Festhalten der Wahrnehmungen scheint uns nur gegeben, indem wir das Bewußtsein als ein Dauerndes annehmen. Der größere oder geringere Grad, worin sich dies manifestirt, ist keine besondere Funktion, sondern ein Verschiedenes in verschiedenen Beziehungen. Dem entspricht das, daß verschiedene Arten des Gedächtnisses unterschieden werden. Es ist dies nichts Anderes, als die verschiedene Stärke in den Richtungen der verschiedenen Funktionen. Die ganze Differenz erklärt sich also rein aus einer Differenz des Interesse. Aber freilich erscheint uns hier wieder unsere Erklärung als unzulänglich, denn es könnte der Fall nicht vorkommen, daß Jemand wünschte etwas zu behalten | und vergäße es doch. Indeß diese Einwendung reicht nicht hin die Erklärung umzustoßen, sondern es geht dies zurück auf die Differenz zwischen dem Interesse einzelner Momente und demjenigen, was habituell geworden ist. Es gehört nur unter ein Gebiet, was uns aus der Erfahrung bekannt ist, nämlich inwiefern er der Gewohnheit unterworfen ist oder sie beherrscht. Nun verbirgt sich jedoch hinter diesem noch ein anderes Element. Wir haben nämlich eine Sonderung gemacht zwischen dem was an den einzelnen Thatsachen des geistigen Lebens, physiologisch und dem was 39 diesem] dieses

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psychisch ist. Die angenehme Affection ist ihrer Natur nach momentan; das sich daran knüpfende Bewußtsein dauernd. Davon giebt es eine unmittelbare Überzeugung, nahmentlich die Identität des Ich in verschiedenen Momenten, welche keine lebendige, sondern ein Abstraktes sein müßte, wenn nicht die Vergangenheit mit in der Gegenwart wäre. Aber wir haben das Physiologische davon ausschließen müssen und einsehen, daß es eine schlechte Brücke ist, wenn wir das dauernde in das Physische pflanzen wollen. Aber wir werden zugestehen, daß die Funktionen der Organe nicht in demselben Menschen nach ihren verschiedenen Richtungen hin gleich sind und daß auch nicht dasselbe Organ die gleiche Stärke hat in allen Menschen. Wenn wir nun diese Differenz in der Virtuosität des Sinnes betrachten, so hängt es davon mit ab, in welchem Grade das Festhalten und Zurückrufen des an organische Affektionen geknüpften Bewußtseins gelinge oder nicht gelinge. Denken wir uns Menschen von schwachem Gesicht und bemerken wir, wie es ihnen geht in dem Behalten von Physiognomien für das Wiedererkennen von Menschen, so werden wir finden, daß die mit einem guten Gesicht mit viel größerer Leichtigkeit die Gestalt des Menschen behalten. Es hängt dies natürlich davon ab, daß das rein organische Resultat einen geringern Grad von Bestimmtheit [hat], wovon das Bewußtsein abhängig ist. Wir nehmen noch eine andere Erfahrung hinzu. Es ist etwas Bekanntes, daß Feldherrn z. B. die mit einer großen Menge von einzelnen Menschen zu thun haben und ebenso auch republikanische Staatsmänner eine große Leichtigkeit haben die einzelnen Menschen zu behalten und wiederzuerkennen, wenn es auch nur vorübergehende Erscheinungen waren. Diese Erfahrung ist aber der vorigen nicht entgegengesetzt, sondern bestätigt dieselbe von einer andern Seite. Diejenigen, welchen der Sinn nicht mit derselben Schärfe zu Hülfe kommt, haben eine größere Anstrengung. Es ist dies ein 2tes Element, welches mitwirkt um das Resultat zu modifiziren. Somit würden wir sagen können, das Gedächtniß und Erinnerungsvermögen ist nur ein Produkt aus dem Interesse an den Gegenständen und der Schärfe des Sinnes. | Aber nun giebt es freilich Erscheinungen von sonderbarer Art, die ganz dagegen zu streiten scheinen. Wir wollen 2 entgegengesetzte Phänomene zusammennehmen. Es giebt Menschen, von denen man sagen kann, daß sie absolut vergesslich sind, so daß die Differenz zwischen der Leichtigkeit [des Festhaltens] an den Gegenständen welche sie interessiren und nicht interessiren ein minimum ist. Es giebt auch Menschen welche im Stande sind Alles in einem großen Umfange mit der größten Genauigkeit zu behalten ohne daß ein großes Interesse daran haftete. Es scheint daher unser erster Erklärungsgrund ganz zu verschwinden und unser 2ter ganz unzureichend zu sein. Die Erklärung liegt in einem

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andern Gebiet unserer Untersuchung und wir antizipiren sie nur. Ein besonderes Interesse an dem Einzelnen als solchen und dem Zusammenbringen eines Einzelnen als solchen, ist dasjenige was man Sammelgeist nennt. Dieses kann vorherrschen, wo es einen Mangel von einem höhern Interesse giebt, wo eine Richtung auf das Allgemeine zurückgedrängt ist. Eine gewisse Schärfe der Sinnesthätigkeit, die natürlich relativ auf das Individuum begränzt ist, je geringer die innre Thätigkeit, kommt zu Hülfe. Es erscheint das Faktum als ein besonderes durch das Interesse an der Einzelheit und von dieser Einseitigkeit kommt das Vorurtheil her, daß ein außerordentliches Gedächtniß eine Andeutung wäre von einem mangelnden Verstand. Der Verstand ist immer das Interesse an der Beziehung des Einzelnen auf das Allgemeine. Das ist also nur das Erzeugende, woraus wir uns dergleichen einzelne Erscheinungen ergänzen können. Die Leichtigkeit Eindrücke festzuhalten und zu reproduziren wird bestimmt durch das größere Interesse an den Operationen oder den Gegenständen selbst, nach Maaßgabe der Virtuosität des Sinnes. Das Interesse differenzirt sich aber, und das sondern wir hierin; auf der einen Seite jenes momentane Interesse, auf der andern Seite das habituelle. Was das Festhalten von Eindrücken bloß als solche betrifft hängt lediglich ab von dem Interesse an dem Einzelnen als solchem. Wir wollen noch einmal von diesem Punkte aus das Ganze übersehen, wo wir sagen, daß noch kein fixirter Gegenstand, sondern nur das Chaotische die Sinne erfüllt und das Bewußtsein hervorholt. Wenn wir sagen das Bewußtsein ist ein Dauerndes, so werden wir sagen müssen, dieses Ursprüngliche sei die Vergangenheit, welche in jedem Gegenwartseindruck sein muß. Es ist gewiß, daß kein Mensch auf diesen Punkt kommt, ohne daß dasjenige dazwischen tritt, was wir durch das Denken und die Sprache bewirken. Es wird leicht möglich sein, Beides im Gedanken abzusondern. Es bleibt uns dies ein Übergang, den Anfang können wir nicht anders bezeichnen als es ist eine chaotische Mannigfaltigkeit, von unendlich kleinen Eindrücken, welche im beständigen Flusse sind. | Wir ziehen in Gedanken alle Momente der sinnlichen Eindrücke zusammen und nehmen auf die Zwischenräume keine Rücksicht. Wir können dies thun, weil die Erfahrung es mit sich bringt, daß nach dem Schlafe man die Momente gleich wieder aneinander knüpfen kann, vor dem Schlaf und nach dem Schlaf, wir sind im Augenblick in dem Totalleben wieder orientirt. Wenn wir nun das Ganze des Wahrnehmbaren außer uns mit dem ersten Moment der Wahrnehmung vergleichen und davon abstrahiren was sich in den Gegenständen selbst verändert hat, denn dies wäre hier nur eine störende Betrachtung; wir fingiren also mit dem Bewußtsein, daß das Außeruns dasselbe geblieben ist, so hat sich doch der Bewußtseinszustand so

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geändert daß er zwar in einer Beziehung noch derselbe, in einer andern ein total anderer geworden ist. Denken wir uns, daß die Außenwelt dieselbe geblieben ist und abstrahiren wir davon, daß die Sinnesthätigkeit selbst eine sich allmählig erst Entwickelnde ist, so werden wir auch sagen müssen, die organische Seite der Funktion ist dieselbe geblieben. Es giebt hier eine Menge Differenzen, z. B. auf der subjektiven Seite der Sinnesthätigkeit ist eine ziemlich allgemeine Wahrnehmung, daß der Sensationsgehalt im Verlauf des Lebens sich oft ganz umkehrt. Wir abstrahiren davon, weil es nur auf den veränderten organischen Zustand selbst sich bezieht; auf der objektiven Seite werden wir keine andere Differenz finden können als die, welche von dem mehr oder minder entwickelten Organ abhängt. Es giebt hier Erscheinungen, die denen auf der subjektiven Seite sehr verwandt sind. Töne und Farben, deren Differenzen nicht groß sind, werden anfangs nicht so bestimmt unterschieden als später. Wenn wir uns nun denken die organische Seite der Wahrnehmung d. h. die Eindrücke, welche auf die Sinne gemacht werden bis zu dem innern Punkt, wo der Übergang aus dem Leiblichen in das Psychische ist, so wird es vollkommen dasselbe sein. Von allen Veränderungen in der Außenwelt abstrahirend, werden die organischen Affektionen vollkommen dieselben sein. Aber es ist auch gewiß, daß was der psychischen Seite angehört ganz ein anderes geworden ist. Der erste Anfang dessen, was sich als Bewußtsein aus dem organischen Eindruck entwickelt, können wir nur als das Chaotische ansehn d. h. wo Einheit und Vielheit unbestimmt unter einander liegen, wo der Gegensatz zwischen dem Continuum und den diskreten Größen sich noch gar nicht entwickelt hat. In diesem ersten Anfange können wir das Bewußtsein nur ansehen als ein einziges Bild. Nehmen wir hinzu, daß Veränderungen vor sich gehen in den Gegenständen selbst, so werden diese dieselbe Unbestimmtheit haben. Dasselbe gilt auch von der Seite des Gehörs. Wir können freilich nicht sagen, daß ein Continuum der Wahrnehmung da sei; aber wenn wir uns dies ergänzen, so müssen wir dasselbe sagen. | Wenn gleich im Ton schon für andere Thätigkeiten der Grund zu liegen scheint, bestimmte Absätze zu machen, so kann dies ursprünglich nicht sein. Alles Hörbare wenn wir es zusammen rücken wird ebenfalls ein Chaotisches sein. Zu dieser Unbestimmtheit gehört, daß das Mannigfaltige immer auf die Totalität und nicht auf ein Einzelnes, bestimmt Gesondertes bezogen wird. Wir sind schon auf einer zweiten Stufe, denn wir sind schon bei der Sonderung des Chaos. Diese 2te Stufe daß wir Einzelnes, das sich als Eindruck sondert, auch auf Einzelnes in dem Außeruns beziehen, ist schon der Anfang dazu, daß 19 allen] Alle

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sich die Gegenstände fixiren, aber auch nur das Resultat von dem Zusammentreten verschiedenartiger Sinneseindrücke und dem Beziehen derselben auf dasselbe. Haben wir uns hier auf den ersten Anfang des Bewußtsein gestellt und ist nicht noch ein Chaotischeres zu setzen? Man kann dies sagen, wenn man sich die Aufgabe stellt den ersten Anfang zu finden. In dem Unterscheiden verschiedener Sinneseindrücke liegt schon ein Bestimmtes[,] es giebt ein Früheres, welches sich aber der Beobachtung ganz entzieht. Wenn wir den Gegensatz uns zurückrufen zwischen der objektiven und subjektiven Richtung der Sinnesthätigkeiten, den Gegensatz zwischen der Affektion des allgemeinen und der speziellen Sinne, so ist das das minimum von Bewußtsein, wenn wir dieselben noch unentwickelt haben. Dies hat keinen andern Gehalt als das des Bewußtseins eines beständigen Verändertwerdens. Wenn wir von diesem Punkte an aufstiegen, so fänden wir eine beständige Fortschreitung vom Unbestimmten zum Bestimmten, die wir verfolgen können ohne aus dem Gebiet der Sinnesthätigkeit in das des Denkens überzugehen. Wenn wir uns vorstellen, wie sich die Bilder fixiren, so liegt darin, auch wenn das Chaotische allmählig aus einander tritt und wenn wir von dem Gegensatz zwischen den gesonderten Gegenständen und den ungesonderten medien anfingen, so liegt darin schon ein langer Entwickelungsgang. Wie aber dies durch das Zusammentreffen verschiedener Sinneseindrücke nach derselben Richtung bestimmt wird, können wir nicht erklären. Der ganze Entwickelungsgang kann nur verstanden werden als die sich immer mehr befestigende Gewalt des Psychischen über das Organische, wodurch auch das Außeruns eine gesonderte Vielheit wird und der Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit nur in Beziehung auf den organischen Gehalt immer bestimmter hervortritt. Wie steht es um diejenigen Veränderungen, die in diesem ganzen Zeitraum als ein Festhalten und ein Fahrenlassen des Bewußtseins sich gestalten? Dieser ganze erste Bewußtseinszustand ist in dem letzten ganz untergegangen und wir können ihn nur auf eine künstliche Weise und durch Analogie zurückrufen. Nehmen wir dies beides zusammen[,] die organischen Eindrücke sind dieselben geblieben, das Bewußtsein ist ein anderes geworden, | so ist das Festhalten in dieser Beziehung auf 0 zurückgegangen, denn wir konnten es nicht auf das Festhalten der Eindrücke beziehen, sondern nur auf das Festhalten des Bewußtseins, welches nur eintritt, wenn das Bewußtsein ein Bestimmtes wird. Verträgt sich dies mit der über diesen Gegenstand aufgestellten Theorie? davon nämlich zuzugeben daß die organischen Einwirkungen schlechthin vorübergehend sind, demnach das Bewußtsein selbst ein Dauerndes 39 aufgestellten] aufgestellen

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sei? Es erscheint hier so, daß die Sinneseindrücke dieselben sind aber nicht als ob sie ein Continuum wären, sondern sie wiederholen sich auf dieselbe Weise; aber das Bewußtsein ist ein anderes geworden und so erscheint also die materielle Seite des ganzen Prozesses als das Momentane aber auf dieselbe Weise sich immer Wiederholende, das Bewußtsein keineswegs als das Dauernde. Das Bewußtsein ist vergangen sofern es ein unbestimmtes war, geblieben als ein bestimmtes. Denken wir uns das Ganze als das zum Denken sich erheben wollen, so ist dies das Interesse, woran wir die Dauer des Bewußtseins geknüpft haben. Das sich zum Denken Erhebenwollen kann kein Bestreben haben das Unbestimmte festzuhalten, wenn das Bestimmte gegeben ist. Das ist also ein Vergessenwollen des Unbestimmten. Wir finden dies bei allen unsern Operationen und die Analogie dazu liegt in dem ganzen Verlauf des Lebens. Wie geht es uns mit dem Aneignen und dem ersten Gebrauch der Sprache? Wenn wir die Kinder beobachten, so sehen wir wie unbestimmt die Vorstellungen sind, die sie an die einzelnen Wörter knüpfen darin sie im Gebrauch schwanken. Insofern es also in der Entwickelung ein beständiges Vergessen dessen giebt, was schon Bewußtsein gewesen ist, insofern es ein unbestimmtes war. Wenn wir auf den bestimmten Zustand des sinnlichen objektiven Bewußtseins sehen und denken uns mehrere Menschen von demselben Außeruns auf dieselbe Weise umgeben, so ist doch das, was ein Jeder von dem ursprünglich chaotischen Zustand in sich fixirt hat, ein Anderes. Jeder übt das aus auf eine andere Weise und in einem andern Gebiet[,] bei dem einen richtet sich dies Bestimmenwollen auf andere Gegenstände als bei dem Andern. Es giebt uns dies die Vorstellung von einer größern Seelenkraft in Beziehung zu diesen Funktionen, damit hängt zusammen, daß das Festhalten auch schwächer ist, wo das Bestimmenwollen schwächer ist. Wenn der eine ganz Anderes vergessen und ganz Anderes behalten hat, so liegt dies in ihrer persönlichen Differenz. Das Interesse kann gleichmäßig auf Alles gerichtet werden. Wir können uns denken in dem Einen, eine Neigung das Interesses gleichmäßig, über Alles zu verbreiten, in dem Andern ein Vorziehen und Zurücksetzen. Um desto bestimmter aber werden wir sagen können, daß das Behalten an dem Interesse | haftet und darauf zurückkommen, daß ein absolutes Vergessen nicht anzunehmen ist; sondern wenn ein Bewußtsein da war, so kann es auch zurückgerufen werden. Das Behalten ist das Positive, was mit dem innern Impuls der auf das Sichbewußtwerden gerichtet ist, nacheinandergeht; aber das Vergessen ist eine Negation von diesem Impuls und nur etwas Relatives. 1 sei?] sei. 17 knüpfen] knüpfen sind 20–21 Bewußtseins] so SW III/6, S. 130; Ms.: Zustands 31 kann] so SW III/6, S. 131; Ms.: kann nicht

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Nur das Unbestimmte, d. h. das, so wie eine weitere Fortschreitung eingetreten ist gar keines Interesses mehr Fähiges, wird schlechthin vergessen. Das Verschwinden der unvollkommnen und verworrenen Bilder und die Differenzen welche in der individuellen Gesammtheit der Vorstellungen sind, erklären vollkommen das ursprünglich dabei gesetzte geistige Prinzip. Wenn wir von der Identität der geistigen [und leiblichen] Funktionen ausgehen, so sind darin freilich schon, wenn wir von dem Begriff der Gattung ausgehen, die Möglichkeiten zu Differenzen nach allen Seiten hin eingeschlossen. Aber worauf es beruht, daß einzelne Menschen sich mehr Diesem oder Jenem zuwenden, dies werden wir zu erklären haben. Nicht zu lösen haben wir die Aufgabe, Erinnerung und Gedächtniß, Festhalten und Reproduktion zu erklären aus der Annahme, daß das Bewußtsein ein Dauerndes ist. Wenn wir anfangen den ganzen Prozeß zu beobachten von der Einwirkung des Außeruns auf die Sinnesorgane bis zu dem Unbekannten, der Bewegung, so werden wir sagen müssen, wird dieses als ein Unterschied gesetzt, die Bewegung des Organs und das Bewußtsein und also eine Linie zwischen dem Physischen und Psychischen gezogen, so ist keine Nothwendigkeit anzunehmen, daß das letzte schlechthin ein momentanes sein müßte als das erste. Anzunehmen, daß alles Entstehen des Bewußtseins von der Seite des Organs nur nicht ein Entstehen, sondern Wiederkehren sei ist eine Hypothese, welche uns als etwas Willkürliches erscheinen muß. Unterscheidet man aber die organische Bewegung und das Bewußtsein, so haben wir dasselbe Recht, dasselbe auch in Beziehung auf das Zeitverhältniß als abhängig anzusehen. Was nun also hier noch übrig bleibt ist einestheils ein Verlangen, daß sich diese Voraussetzungen auch in dem andern Theil unserer Untersuchung bestätigen mag, anderntheils daß wir die individuellen Differenzen auch psychisch müssen zu erklären suchen wie wir sie jetzt nur voraussetzen. Es ist zuzugeben, der ganze Prozeß der Entwickelung der Sinnesthätigkeit bis zu objektiven Vorstellungen sei nicht zu durchlaufen in demjenigen Theil des Lebens, welcher der Aneignung der Sprache vorangehe, sondern sie gewinnt einen Einfluß auf den Prozeß von dem wir aber abstrahirten, und der Ausdruck Bild Qsogar mäßigteR diese Abstraktion, so daß wir ein Begriffselement nicht hineingebracht haben. Dieses Gebiet der Sprache und des Denkens in Beziehung auf das vorige | müssen wir zu unserm Gegenstand machen. Denn es ist immer der erste Anfang der Sprachaneignung, daß die objektiven Bilder, benannt werden. Die Untersuchung ist aber eine höchst schwierige und man kann nicht anders sagen, als daß wir bei manchen Theilen mit unsern Forschungen noch bei den ersten Ele9 beruht] bezieht

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menten stehen. Die unmittelbare Gewißheit, die wir alle bei dem Gebrauch dieses geistigen Organons haben hat mit dazu beigetragen, die Untersuchung bei Seite zu schieben. Allein um so dringender ist die Aufgabe geworden. Wir müssen uns die verschiedenen Arten und Richtungen in welchen der Gegenstand zu verfolgen ist vorläufig vor Augen stellen. Die erste Aufgabe wird die sein, daß wir fragen, was ist eigentlich anzusehen als der erste Anfangspunkt aus welchem diese Thätigkeiten des Denkens und des Sprechens, sich entwickeln? Dieselbe Frage haben wir uns auch vorgelegt als wir die Sinnesthätigkeiten in Betracht zogen. Wir kamen zurück auf eine Formel, welche eine richtige zu sein schien, nämlich daß wenn man auf das minimum von psychischer Thätigkeit zurückgeht, man auf ein minimum aller hieher gehörigen Gegensätze zurückgehen muß. So war ein minimum von Gegensatz zwischen Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit; ebenso zwischen der subjektiven und objektiven Seite des Bewußtseins, die vollkommne Feststellung dieser Gegensätze konnten wir für Vollkommenheit des Verfahrens ansehen. Wenn wir unser vollständig entwickeltes Bewußtsein zu der Betrachtung mitbringen so wird jeder psychisch erfüllter Lebensmoment immer zusammengesetzt sein aus einem innern Bande des impetus und einem äußern, der Veranlassung. Hier liegt die ganze Reihe von verschiedenen Verhältnissen des Gleichgewichts zwischen diesen beiden Faktoren und des Übergewichts des einen und des andern; aber der erste Anfang wird immer auf eine unentwickelte Indifferenz zurückgehen. Wenn wir das vom Denken ausgehende Reden als eine solche Thätigkeit ansehn, so haben wir die größte Wahrscheinlichkeit, daß wir auf einen solchen Anfang zurückzugehen haben. Giebt es auch hier eine solche Duplizität, wie dort, das mehr Organische und das mehr Intellektuelle, das nur physische aus der Beschaffenheit der Organe zu ergreifende und das aus dem eigentlich Geistigen zu Verstehende? Diese Frage hat aber hier schon einen ganz verschiedenen Sinn. Denken und Reden ist zusammengehörig, spaltet sich aber von selbst in diese beiden Seiten. Das Sprechen ist nichts Anderes als diese organische Thätigkeit, das Denken ist das Bewußtsein selbst in einer bestimmten Gestalt und kann nur psychologisch begriffen werden. Aber man kann sagen, dies sei so die erste Ansicht und in der Sprache als solcher sei noch eine Duplizität, die ganze Man|nigfaltigkeit der bloß organischen Elemente der Sprache, und die Beziehung auf das Denken. Läßt man dies gelten, so entsteht die Frage, ist es auf der Seite des Denkens ebenso, daß hier das Intellektuelle auch organisch bedingt sei? so haben wir wieder eine Gleichheit in den Gliedern. Es erscheint aber ebenso schwierig sich das Den8 entwickeln?] entwickeln.

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ken objektiv gesehen von der Sprache als der Bestimmtheit des Bewußtseins organisch bedingt zu denken und zwischen beiden eine solche Ungleichheit anzunehmen wie wenn wir sagten, die Sprache trägt eine Duplizität des entweder organisch oder entweder psychisch Bedingten in sich, das Denken nicht. – Sind wir nun zu Ende, wenn wir die Aufgabe insoweit gelöst hätten. Es wäre 2erlei dann noch nötig, einmal das Verhältniß der Momente in welchen diese Thätigkeit vorgeht zu allen übrigen psychischen Funktionen und den andern festzustellen und dann, die Differenzen in den Thätigkeiten selbst, welche erst zusammen genommen die Denk- und Sprachthätigkeit des Menschen an sich repräsentiren d. h. die Mannigfaltigkeit der Sprachen in ihren organischen Differenzen und in ihrer Beziehung auf das Intellektuelle ebenfalls zu erklären. Das würden die wesentlichen Punkte sein, welche wir zu betrachten hätten. Es ist allerdings sehr leicht zu sagen, das Denken ist eine alle andern Thätigkeiten und Zustände begleitende Operation; es ist am meisten das allgegenwärtige, weil wir alle, auch die mehr passiven Zustände, doch erst zum vollkommnen Bewußtsein bringen, wenn wir sie in das Denken aufnehmen. Die Differenz der Sensationen trägt die Nothwendigkeit des Übergehens in Denken und Sprechen nicht auf dieselbe Weise in sich, aber die Klarheit in Beziehung auf den Gegensatz zwischen angenehmen und unangenehmen Senationen, wird erst durch Reflexion vollendet. Dieses zu sagen, daß das Denken ein alle andern Thätigkeiten Begleitendes ist ist etwas Leichtes, auch wenn wir auf das ganze Gebiet der Selbstbestimmung[,] des Willens sehen. Was in seinem ersten Anfang instinktartig ist, wird später durch das Denken fixirt. – Diese Allgemeinheit aber ist keine Lösung sondern doch nur wieder Aufgabe. Nicht minder schwierig ist die Aufgabe, nämlich die Differenz der Sprachen und die wesentlich daran hängende Differenz des Denkens zu begreifen. Wenn das letzte nicht wäre, könnte man sagen die Differenz der Sprachen ist etwas Physiologisches; sie beruht auf der Differenz der Sprechwerkzeuge, und gehört nicht in unser Gebiet. Aber auch in Beziehung auf den logischen Gebrauch der einzelnen Elemente geht keine Sprache | in der andern auf und diese Gegenstände können wir nicht aus unserer Untersuchung ausschließen. Von einer befriedigenden, ins Einzelne gehenden Darstellung dieser Funktionen kann hier nicht die Rede sein, weil dies ein Gegenstand von größerm Umfange wäre, sondern wir müssen die Untersuchung nur in solchen Gränzen fassen, wie wir ihrer bedürfen als Fundament. Denn um den Gegenstand zu erschöpfen würden wir uns erst eine allgemeine Sprachlehre konstruiren müssen in einem Umfange wie sie bis jetzt noch nicht 4 oder] und

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existirt, dann ein vollständiges Bild von den Differenzen in Sprachen. Es ist also hier nur ein für den Gegenstand abgekürztes Verfahren möglich. Wie ist überhaupt die Genesis dieses Aktes, den wir vorläufig als einen ansehen wollen, Denken und Sprechen, im Einzelnen klar zu machen? wie kommt der Mensch in der geistigen Entwickelung seines Lebens zum Denken und Sprechen? Diese Unzertrennlichkeit zwischen Denken und Sprechen ist ein Gegenstand worüber [wir] etwas hinzufügen müssen. Man hat sich hier eine Menge von Abstufungen in dem Zustand des Bewußtseins theils in der Erfahrung gesondert theils imaginirt, wodurch eine Verwirrung entstanden ist. Wollen wir uns die Unzertrennlichkeit von vorn herein setzen, so liegt darin daß es kein Denken ohne Sprechen giebt; aber gewöhnliche Darstellungen sagen das Gegentheil. Auf der einen Seite haftet dies an dunkeln Vorstellungen. Vorstellungen sieht man als eine Art des Denkens an. Es gäbe also eine Art und Weise des Denkens ohne Beziehung durch die Sprache. Ein solches kann man nicht nachweisen, selbst wenn wir uns bei dem Qes denkenR was am wenigsten heraustritt als Rede; wo Sprache fehlt ist zwar nichts als die Bewegung von sinnlichen Bildern. Das ist die Voraussetzung worauf das Folgende beruht. Es hat von jeher hier eine Menge von Hypothesen gegeben. So wie z. B. die Rede ist von einer außer dem natürlichen Gang liegenden Entstehung der Sprache für die Entstehung des Menschengeschlechts so liegt dies außer unserm Gebiet. Was außer den intelligenten Gränzen und der Natur liegt ist ein Moment der außer der Reihe liegt und wir auch nur mit dem Resultat dieses Moments anfangen können, d. h. die Sprache betrachten, wie sie sich jetzt darstellt. Denn der erste Anfang hängt nicht mit der Natur der Seele zusammen. Eine solche Hypothese ist auch eigentlich nichts anderes als eine negative Erklärung, daß man die Aufgabe nicht lösen kann. Das ist bei Allem der Fall, wobei man auf den ersten Menschen zurückgeht. Wir können die Seele nur betrachten unter der Form, wo wir 2 aufeinander folgende Geschlechter zusammen sehn. Wenn wir uns aber denken die Sprache hätte bei den ersten Menschen nur durch eine übernatürliche Mittheilung entstehen können, so liegt darin, daß sie [nicht] von selbst | aus der menschlichen Seele habe entstehen können, jetzt entsteht sie aber von selbst und durch jene Mittheilung hätte deßhalb eine Veränderung in der Seele vorgehn müssen, so daß die Sprache vor Einpflanzung des Sprachvermögens, nicht die jetzige ist und da wir von Jener nichts wissen, können wir nur von der jetzigen reden. Wir haben hier einen Anknüpfungspunkt in dem Verhältniß zwischen dem Menschlichen 2 Gegenstand] Gegenstand ein

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und Thierischen. Wenn wir den Ausdruck Sprache vor der Hand in dem gewöhnlichen Sinne gebrauchen und fragen was ist darin das spezifisch Menschliche, so werden wir auf dieser Vergleichung ruhen; wir finden Analogien und wenn wir auf eine solche Gränze kämen, wo uns das minimum des Menschlichen erschiene, welches zusammen einen spezifischen Unterschied von dem Analogon in der thierischen Welt enthielte, so würde das der Anknüpfungspunkt für unsere Untersuchungen sein. Wir könnten aber leicht auf eine voreilige Weise eine ausschließliche Beziehung der Sprache auf diese Form des Bewußtseins feststellen. Was wir Sprache nennen fällt immer mit dem Denken zusammen; wie wir [sie] aber hier nicht an ihrem sinnlichen Element fassen. Von dem Denken haben wir aber noch gar nicht geredet, können wir auch nicht, ohne von der Sprache geredet zu haben und diese gegenseitige und bedingende Beziehung müssen wir festhalten. Wenn wir nun also die allgemeine Anschauung des Lebens zu der Erde uns vergegenwärtigen, so wird je bestimmter das Leben aus den Gegensätzen sich entwickelt, auch der Laut als Lebensthätigkeit erscheinen. Was dies für eine Bedeutung hat und wie es mit den übrigen Lebensthätigkeiten zusammenhängt, ist eine schwierige Untersuchung, weil es nicht leicht ist alle verschiedenen Formen des thierischen Lebens in ihren freien Zuständen so zu beobachten, daß man ein befriedigendes Resultat geben kann. Diese Erfahrung gehört wesentlich zu den Einflüssen des Menschlichen auf das Thierische; aber so wesentlich derselbe erscheint, so sehr ist er der Beobachtung entgegen. Nehmen wir aber thierische Laute welche wir wollen, so finden wir, daß sie uns nicht erscheinen als mechanische Resultate sondern als Lebenserscheinungen also auf eine Weise im Innern gegründet, mit Lebendigkeit, also mit Freiheit. Diese Laute gehören zu den willkürlichen Bewegungen; aber wie weit sie etwas Selbstthätiges enthalten oder nur Reaktionen in Beziehung auf einen äußern Reiz dies bleibt dabei unbestimmt und dabei können wir uns die größte Mannigfaltigkeit denken. Wenn die menschliche Sprache als Erscheinung vollständig ist, so bezieht sie sich in jedem Moment auf Andere und der Moment ist also ein Wechselverhältniß zwischen mehrern Individuen. | Die Vollständigkeit der Sprache ist aber nur das Heraustreten in der wirklichen nach Außen tretenden Bewegung der Organe. Dies ist nicht so ausschließlich wahr, daß es nicht vorkomme, daß man auch im bloßen Denken wirkliche Worte ausspricht; aber einestheils ist es nur Ausnahme und dann reduzirt sich dies auf ein Analogon von jenem, denn es hat immer eine Abzweckung auf das Hinübertragen eines Moments in den andern; der Gedanke hat eine größere Lebendigkeit, wenn er zugleich äußerlich gesprochen wird und so ist es immer eine Folge von der lebendigen innern Thätigkeit des Lebens, wenn die

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Sprache hinzu kommt. Ist in den thierischen Lauten auch ein Wechselverhältniß zwischen den Individuen? Wir können dies nicht leugnen; überall in dem Maaße als die Gattungen gesellig sind, finden wir auch in den Lauten ein geselliges Element und finden daß die Töne des einen von den andern anerkannt werden. Wenn wir zurück gehn, was wir von dem thierischen Bewußtsein gesagt haben, so haben wir dabei wesentlich zu Grunde gelegt, daß der Gegensatz zwischen objektivem und subjektivem Bewußtsein unentwickelt bliebe und daß die Thiere nichts Objektives werden als in Beziehung auf das unmittelbare Subjekt, so daß es für sie keine reine Objektivität und keine reine Subjektivität giebt. Hierin ist also das ausgeschlossen, was unsere Betrachtung veranlaßt hat, nämlich eine bestimmte Beziehung der Sprache auf die objektive Seite des Bewußtseins. Aber da sich diese Laute in dem thierischen Leben auf die relative Indifferenz zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven beschränken, in dem Menschen aber dieser Gegensatz heraustritt, bleibt es dasselbe System der Laute, was sich auf diese in der Differenz entwickelte objektive und subjektive Seite bezieht? Fände sich ein anderes System der Laute auf der subjektiven und auf der objektiven Seite des Bewußtseins, so würden wir nur das letztere auf den Ausdruck Sprache zu beziehen haben. Aber wir können diese Frage noch nicht beantworten; es fehlen noch zwischenliegende Glieder. Alles rein Organische haben wir aus unserer Betrachtung ausgeschlossen, aber so lange wir in irgend einer Region einen bestimmten Gränzpunkt zwischen dem Organischen und Intellektuellen nicht gefunden haben, müssen wir uns auf das Organische mit beziehn. Wenn wir die Sprache betrachten von ihrer organischen Seite, so finden wir 2erlei Gegensätze entwickelt. Der eine ist der Gegensatz zwischen Mitlautern und Selbstlautern in Beziehung auf die einfachen Sprachelemente. Dieser Gegensatz ist das, was wir zusammengenommen durch den Ausdruck Artikulation bezeichnen; wenn wir die thierischen Laute betrachten, so ist dieser Gegensatz in denselben nicht entwickelt, aber wir erkennen sie als das Unentwickelte von jenen, denn wir finden an dem En|de der thierischen Laute eine Annäherung an das Consonantische und in der Mitte an das Selbstlauterische, aber auf eine bestimmte Weise kann man die thierischen Laute durch artikulirte Töne nicht nachahmen. Hier haben wir also denselben Gegensatz welchen wir für das Bewußtsein hatten. Der 2te Gegensatz ist der zwischen Rede und Gesang. Wir können nicht sagen, daß der letztere etwas wäre, was nur durch die Kunst entstanden ist und sich nur auf die Kunst bezieht, sondern wir finden sie ursprünglich. Vergleichen wir Gesang und Rede, so müssen wir in Beziehung auf das Vorige die Sache so ansehn. Es ist in dem Gesange eine bestimmte Gemessenheit der Schwingungen als Resultat der organischen Bewe-

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gungen; in dem Sprechen ist das nicht und nur eine Annäherung als eine Annäherung an das Singende statt findet. Dies halten wir aber für Unvollkommenheit, ebenso die Annäherung des Gesanges an die Rede. Das bestimmt Gemessene hat offenbar einen Vorzug vor dem nicht Meßbaren, was also in dieser Beziehung Chaotisch ist, wogegen wiederum wenn wir die Artikulation betrachten, dieselbe immer vollkommner ist in der Rede als in dem Gesang, wo sie sich der Gemessenheit der Schwingungen unterordnen muß und wenn diese Unterordnung nicht bis auf einen gewissen Grad sich findet scheint der Wohllaut zerstört. Man könnte vielleicht sagen, es ist dieselbe Nothwendigkeit auf der Seite der Rede die Gemessenheit der Sprache der Bestimmtheit der Artikulation unterzuordnen; wo in der Rede das Singende dominirt, findet sich auch eine Unbestimmtheit der Artikulation. Von diesem Gegensatz findet sich in den thierischen Lauten, wenn wir das System einer jeden Gattung für sich betrachten nichts; vergleichen wir das System der verschiedenen Gattungen, so finden wir in einigen die bestimmte Annäherung an den Gesang, in andern zurücktreten; da aber die Artikulation sich nicht zeigt, so ist der Gegensatz nicht zu fixiren. In manchen Gattungen findet sich eine größere Differenz von Lauten, aber doch nur indem wir das Thierische an das menschliche Maaß halten. – Hat dies eine bestimmte Beziehung auf denselben Typus der Differenz des Bewußtseins oder nicht und worauf führt es uns in Beziehung auf die Sprache? Betrachten wir die Sprache in der unmittelbaren Beziehung auf unsere nächste Veranlassung, so haben wir die Rücksicht auf den Gesang ganz bei Seite zu schieben. Sowie der Gesang an das Nichtartikulierte anstößt haben diese Elemente gar keine Beziehung auf das Denken mehr; dieser Gegensatz ist von der Beziehung der Sprache auf das Denken unzertrennt. Das innere Sprechen wird nie eine Annäherung | an den Gesang sein, das Artikulirte aber wird ihm immer wesentlich anhaften. Indem wir hier auf ein Element kommen, welches der Sprache daher anhaftet, aber doch die unmittelbare Beziehung derselben auf das Denken nicht hat, so haben wir jedoch noch nicht alle Punkte für unsere Untersuchung beisammen. Ist denn in der Geschichte des Einzellebens die Sprache der erste Anfang, wodurch der Laut eines Lebens eintritt? Nein. Wie verhält sich das Frühere und Spätere zu einander? Weinen und Lachen sind die frühesten menschlichen [ ] Wir können sie [nicht] als etwa vorläufige Versuche betrachten, wie sie auch einen bestimmten Gegensatz gegen das Artikulirte in sich tragen. Wenn wir die Sprache betrachten nach der Wahrnehmung, so werden wir die Sprache als ein Selbstthätiges ansehen müssen, um so mehr als 37 menschlichen] Es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl Laute.

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sie immer schon eine Richtung an die Mittheilung hat. Von jenen ersten Naturtönen ist dies aber sehr zweifelhaft. Bei dem Gebiet geht eine solche Veränderung der Respiration vor, so daß man eine totale Veränderung in dem Organismus annehmen muß. Das Weinen ist also entweder die bloß mechanische Wirkung des Reizes auf dies organische System oder als der Ausdruck der Unbehaglichkeit in der totalen Veränderung anzusehn, aber immer als Reaktion. Das Lachen hat eine differente Entstehung; es liegt in dem Gebiete der Mittheilung und also insofern der Selbstthätigkeit, insofern es im Zusammenhange steht mit dem Menschlichen und der Erwiderung der ersten Beziehung. Es kann bei [Kindern] auch erregt werden; das Übergewicht ist also immer nach der Seite der Rezeptivität hin und nach der Seite des subjektiven Bewußtseins, wogegen die ersten Anfänge der Sprache in beiden Beziehungen entgegengesetzt sind. Wenn wir nicht leugnen können, daß auch schon die ersten Versuche des Sprechens wenigstens die Richtung nach der Artikulation haben, so ist hier ein Ursprüngliches anzunehmen, welches mit einem Zustand zusammenhängt, wo die Gegenstände noch unvollkommen entwickelt sind, die Richtung auf das Auseinandertreten der Gegensätze ist etwas Ursprüngliches, denn ein Übergang zu den ersten Sprachlauten ist nicht. Wenn wir hier den Gegensatz betrachten zwischen Rede und Gesang in Beziehung auf das Organische, so wird Alles was in der ursprünglichen Lautproduktion ist, auf die Rede zurück[gehen]; von jenen subjektiven Naturlauten giebt es einen Übergang in den Gesang. Diesen Gegensatz theilt also diese doppelte Richtung und der Gesang wird auch wenn er mit der Sprache identisch ist und also nicht bloß Lautproduktion doch eine überwiegende Beziehung auf die Seite des subjektiven Bewußtseins | haben. Wie wir das Lachen und Weinen anfangen, so sind darin schon die Anfänge des Gegensatzes, der über den ganzen Gesang darin wirkt, der Gegensatz des Heitern und Wehmüthigen. Es giebt Töne, die nicht mehr Lachen und Weinen sind, aber doch keinen andern Zweck haben, als diesen Gegensatz zu manifestiren. Von hier aus fortschreitend auf das Gebiet der ursprünglichen Abzweckung der Lautproduktion welche Gesang sein will, die Sprache nur etwas Zufälliges ist; das Wesentliche wird bewirkt durch die Gemessenheit des Tons; aber der Gesang bekommt durch die Sprache ein weit weiteres Gebiet. Jener Totaleindruck bleibt die Hauptforderung. Wenn wir uns denken, ein Zusammentreffen von Menschen welche keine homogenen Elemente in ihren Sprachen haben, so werden sie sich verständigen können über das, was auf die Seite des subjektiven Bewußtseins gehört, ohne etwas Anderes zu Hülfe zu nehmen. Freilich kommt 6 System] Systems

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auch die Geberde dem Ton zu Hülfe, das ist aber so ganz dasselbe, daß man hier nicht 2 verschiedene Elemente unterscheiden kann. Bei dem, was dem objektiven Bewußtsein gehört, werden sie auch Bewegungen zu Hülfe nehmen müssen, Demonstration, aber hier muß ein Fremdartiges zu Hülfe genommen werden. Je mehr sich das ganze System entwickelt, desto mehr treten die Gegensätze aus einander. Entwickelt sich die Lautproduktion, welche den Gesang in sich schließt und die Geberde und das System der artikulirten Laute, als Darstellungsmittel für das Gebiet des objektiven Bewußtseins so wird die zusammengesetzte Rede die Betonung, welche eine Analogie nach dem Gesange hin ist zu Hülfe nehmen, der Gesang mit der Sprache; aber nur als ein Untergeordnetes. Etwas Anderes ist es, wenn der Gesang hinzukommt zu der Poesie. Wenn wir das Ganze in seinen ersten Anfängen auffassen wollen müssen wir diese beiden Seiten mit einander verbinden. – Was ist das Gemeinsame zwischen diesen beiden Richtungen des Bewußtseins? Die Richtung auf die Mittheilung, das Sich selbst Manifestirenwollen gegen Andere. So wie wir dies bestimmt festhalten, würden wir daraus schließen müssen daß beide Seiten sich nicht eher entwickeln können, der Mensch würde weder sprechen, noch lachen oder weinen, wenn er nicht in ein menschliches Dasein eingebunden wäre. In Beziehung auf die Seite der subjektiven Naturlaute beweist das die allgemeinste Erfahrung[.] Sie hat aber eine doppelte Genesis; was dem Bewußtsein vorangeht | ist aus dem rein organischen Verhältniß entstanden, ohne ein Bewußtsein. Daher man auch im Allgemeinen das erste Weinen der Kinder rein auf diese Weise betrachtet, dagegen das erste Lächeln als das erste Zeichen, daß [es] die Töne des Menschlichen als ein ihm Angehöriges aufgenommen hat. Es ist die größte Nöthigung die Analogie, welche diese Deutung hervorbringt und nun werden wir zu unserm eigentlichen Gegenstand zurückkehren und fragen, ist der Übergang aus dem bloß bildlichen Bewußtsein in das Sprechen ebenso bedingt durch dies Sich mittheilenwollen? Bejahen wir es vollständig so liegt darin etwas, was uns sehr bedenklich machen kann. Das Denken im Gegensatz mit dem bloß bildlichen Bewußtsein hängt mit dem erwachten Gattungsbewußtsein des Menschen zusammen. Wie verhält es sich mit dem Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen? Eins ohne das andere kennen wir nicht; es giebt kein Denken ohne Sprechen und wenn es eine Sprache ohne Denken giebt, so ist dies ein krankhafter Zusammenhang. Aber wie sich beides in diesem Zusammenhange verhält, ob beides so einfach zusammengehört daß wir sagen, das Denken ist die psychische Seite desselben Sprechens, wovon die Sprache die organische ist, oder ist im ersten auch schon etwas Organisches, im letzten etwas Psychisches? Wir müssen die Frage wieder aufnehmen, was die

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bestimmte Art und Weise des Bewußtseins ist, welche der Sprache eigenthümlich angehört. Wir gehen daher auf den Punkt zurück, wo wir die objektive Seite der Sinnesthätigkeit als Mannigfaltigkeit der Bilder dargestellt haben. Wir sind davon ausgegangen, daß bestimmte Gegenstände nur werden durch die Combination der verschiedenen Sinnesthätigkeiten die von derselben Richtung herkommen und die wir auf denselben Punkt beziehen, also als Eins setzen. Mit diesem Einssetzen ist immer schon das Beharrliche gesetzt, wozu hernach das Wechselnde kommt. Je größer nun die Mannigfaltigkeit von Gegenständen ist, welche zu bestimmten Bildern werden und je mehr das Bewußtsein auch schon auf dieser Stufe an und für sich ein Beharrliches ist, was einmal entstanden von selbst bliebe, so würde dies Gebiet des sinnlichen Bewußtseins sinnlicher Gegenstände sich immer mehr erfüllen. Wenn wir darauf Rücksicht nehmen, wie es in der Natur überall einzelne Gegenstände giebt, deren viele einer Art sind in Beziehung auf das Beharrliche und Wechselnde an ihnen, so entsteht eine Überfüllung mit Bildern, welche den Drang mit sich führt sich zu entledigen so erklärt sich, wie wir die Hauptzüge der gleichartigen Bilder festhalten | und wie sich im Bewußtsein allgemeine Bilder entwickeln d. h. es wird uns in vielen Fällen gleichgültig, ob wir das Einzelne von den [andern] Einzelnen unterscheiden, und wir haben eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen nur als Erscheinung der Art. Es fixiren sich hernach noch allgemeine Bilder, die Gattungsbilder wo man wieder die Differenzen der Art vernachlässigt. Diese Gattungsbilder wollen wir durch den Ausdruck σχημα bezeichnen, weil sie nur sind Bilder von beweglichen Verhältnissen. Diese lassen uns auch neue Gegenstände, die in der Einzelheit noch nicht vorgekommen waren, subsumiren. Wir werden so wie in dem sinnlichen Bewußtsein ohne das eigentliche Denken zu Hülfe genommen zu haben, eine Abstufung von Bildern finden. Je allgemeiner das Bild ist, um desto mehr verliert es von der Lebendigkeit des Einzelnen, weil hier schon das eigentlich Unterscheidende an dem innern reproduktiven Sehen haftet. Je allgemeiner die Bilder sind, um desto bleicher sind sie, sie gewinnen die Lebendigkeit wieder, je weiter man vom Allgemeinen zum Besondern herabsteigt. Ist auf diese Weise das sinnliche Bewußtsein angefüllt, so haben wir hier schon eine ungeheure Masse von Seelenthätigkeiten, welche die Tendenz haben uns in dem Außeruns zu orientiren. Ist das aber schon Denken? Das Denken versirt immer in dem Gegensatz zwischen dem mehr oder weniger Allgemeinen und wir haben also in der Abstufung von Bildern denselben Gegensatz. Da wir aber auf der andern Seite gesagt haben, es giebt kein Denken ohne Sprechen, so ist es noch nicht das Denken. Fragen wir uns, würde für uns eine Möglichkeit sein, ohne die Sprache zu Hülfe zu nehmen, diesen innern

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Verkehr mit den Bildern mitzutheilen, so wird dies ohne die Verwandlung der Bilder in Wörter schwerlich möglich sein. Man kann das Bild wohl äußerlich machen; aber doch nur in Einzelthätigkeiten. Durch diese Zusammengehörigkeit von Denken und Sprechen hat die Sprache einen gemeinsamen Sitz mit den Lauten, die eine Ankündigung des subjektiven Bewußtseins sind. Aber man kann nicht sagen, daß sie sich als Fortsetzung oder Erweiterung jener entwickeln. Wenn der Gegensatz zwischen subjektivem und objektivem Bewußtsein ein solcher ist, welcher in [ ] steht, so ist [ ] Die Interjektionen unterscheiden sich bestimmt von den übrigen Sprachelementen; sie stehen isolirt da und sind nicht flexibel. Fragen wir nun was sie Interjektionen in der Sprache sind, wenn sie in eine zusammenhängende Rede gebracht werden, so sind sie nicht[.] | Hier hätten wir also einen Anknüpfungspunkt. Nämlich sind die Nachbildungen so, so können sie Analogien haben d. h. daß andere Theile der Sprache auch Nachbildungen sind aber es werden sich von hier aus doch nur so wenig Analogien ergeben, daß man dies als zufällig ansehen kann. Dies führt uns aus den aufnehmenden psychischen Thätigkeiten ganz heraus in das Gebiet der heraustretenden. Unsere ganze Darstellung der Sinnesthätigkeiten [reicht] vom ersten Anfang bis zum maximum denn diese ganze Entwickelung ist immer zugleich gewesen eine Steigerung des Antheils der Selbstthätigkeit, an dem, was Einwirkung von Außen ist. Die Totalität der gegebenen Bilder in der Abstufung vom Einzelnen zum Allgemeinen beruht auf Einwirkung von Außen. Aber es ist eine starke Selbstthätigkeit, die wir gleich in ihrem minimum als das Wahrnehmenwollen aufgestellt haben, das wir schon einem Festhalten des Bewußtseins zugeschrieben haben. Wenn wir nun das Denken im weitesten Sinne des Wortes setzen, so sind wir auf dem Punkt zu fragen, da es gewiß ist daß Denken und Rede genau zusammenhängen, das letzte aber eine ausströmende Thätigkeit ist, ist nun das Denken ebenfalls wie das Wahrnehmen bis zu jenem Punkt erfolgt, [eine] spezifisch von innen herausgehende Thätigkeit, also dem Wahrnehmen völlig entgegen? Ist es so, so ist das 6 sind] ist 9 in] es folgt ein Spatium von etwa 3 cm Länge Spatium von etwa 5 cm Länge

9 ist] es folgt ein

7–9 Vgl. SW III/6, S. 149: „Wenn der Gegensaz zwischen der subjectiven und objectiven Richtung ein solcher ist, daß Momente vorkommen können, wo beide eine Einheit bilden, so ist das doch erst eine gewordene und nicht eine ursprüngliche. Ebenso giebt es Elemente in der Sprache, welche in jene Aeußerungen des subjectiven Bewußtseins eingehen, nämlich die Interjectionen,“ 13 Vgl. SW III/6, S. 149: „Sie sind hier aber nicht mehr das unmittelbare Hervorbrechen des subjectiven Bewußtseins sondern nur eine Nachbildung davon.“

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Denken und Sprechen so eins, daß dies nur die äußere Seite von jenem ist. Ist aber das Denken eine fortgesetzte Entwickelung des Wahrnehmens, die nur entwickelt wird durch das Heraustreten in der Rede, so sind beide verschieden, denn das eine würde nur in der Receptivität das andere in der Spontaneität begriffen [sein], und wir müßten eine andere Verwandschaft setzen. Die Sprache als Imitation der Naturlaute festzustellen hat offenbar die Richtung das Denkens als ein dem Wahrnehmen homogenes zu setzen. Die am meisten entgegengesetzte Ansicht ist die Sprache anzusehen, wie ein Außeruns. Wir müssen aber nun, da die menschliche Seele geändert ist, die Sprache wie das Denken ansehen als das von Innen nur heraustretende. Solche Entscheidungen aber sind metaphysisch philosophisch über die Natur des Denkens also nicht in unserm Gebiete; doch werden wir auch hinter unserer Aufgabe zurückbleiben, wenn wir nicht ein bestimmtes Bild aufstellen könnten von der inneren Entwickelung des Denkens und Sprechens vom ersten Anfang an. Diese Gränze zu finden ist unmöglich, wenn wir festhalten an der Entwickelung verschiedener Generationen daher nur abgesehn vom eigentlichen Ursprung, wie stellt sich die Sache dar, wenn wir auf ein Leben vor uns sehen? Die Sinnesthätigkeit in ihrem maximum ohne Denken so viel als möglich ist nun bis dahin betrachtet; aber auch mit dem Bewußtsein daß dieses Ziel [nicht] erreicht ist ohne Denken und Reden. So wie | der erste Anfang des Denkens auch etwas vom Reden ist, und das nur uns das Ende der aufnehmenden Thätigkeit wäre, so wäre es nur möglich wenn alle die frühern Stufen durchlaufen sind. Aber dies ist QunmöglichR also ist das Denken dem Wahrnehmen nicht so nahe zu stellen mit der Sprache allein. Könnte es so sein, wenn nichts Anderes sich dadurch mittheilte als die Totalität der aufgenommnen Bilder, die nur durch die Sinnesthätigkeit aufgehäuft sind und vom Chaotischen zum bestimmt geordneten allgemeinen Weltbild sich entwickeln. Und wegen der Überfüllung nun ströme es aus. Jedes allgemeine Bild ist nun wirklich dies, daß wir uns der einzelnen Bilder entledigen in den einzelnen Bildern an das sich das allgemeine anknüpft also gebe es jetzt kein 8–11 Vgl. SW III/6, S. 150: „die am meisten entgegengesezte Ansicht die Sprache zu erklären durch übernatürliche Mittheilung sezt zwar auch ein Aufnehmen voraus aber nicht von außen her vermittelst des bildlichen Bewußtseins, sondern als eine ursprüngliche göttliche Einwirkung, und wenn ich gesagt, sie könne von uns nicht angenommen werden, weil dann vorausgesezt würde, daß die menschliche Seele durch diese Mittheilung etwas anderes geworden wäre, als sie vorher war, so bleibt dieser Richtung nichts übrig, als das Denken und Sprechen als eine von innen her entstehende Thätigkeit anzusehen.“ 16–19 Vgl. SW III/6, S. 151: „Wir werden aber hier die rechte Grenze nur finden, wenn wir uns streng an unsere eigentliche Aufgabe halten, und das geistige Seelenleben des Menschen in der geschichtlichen Entwicklung d. h. in dem Zugleichsein mehrerer Generationen, von denen die spätere sich an die frühere anknüpft, verfolgen.“

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Mittel mehr sich der Unendlichkeit der Bilder zu entledigen und der Eindrücke, wenn die psychische Thätigkeit durch die Sprache selbst kundthuend nichts als Sinnesthätigkeit in weiterer Entwickelung wäre, also das neue Mittel wäre dann die Sprache. Dies ist die älteste Ansicht von der Sprache, daß ihr einfaches Produkt der Satz ist; also in Absicht auf die elementaren Theile entspricht das Hauptwort einem allgemeinen Bild und ist die Darstellung von solchem; beim Aussprechen erwarten wir also, daß das Bild sich reproduzire, wobei freilich die Möglichkeit von Mißverständnissen entsteht[.] Aber wir rechnen daß durch Vergleichen die Wahrheit ausgemittelt werde ob das Bild bloß durch Sensationen aufgefaßt wird oder allgemein und speziell ist. Stellen wir nun dies auf, so scheint es, daß diese beiden Elemente in der Sprache nur Übertragung der allgemeinen Bilder in das Gebiet des Hörbaren seien. Ist dies nun auf ursprüngliche Weise entstanden, so entsteht das Bedürfniß einer solchen Verwandlung nicht aus dem des Subjektiven des Menschen an und für sich denn der ist in Besitz seines Bilderschatzes und kann sowohl unter die eine als andere Form immer hinzufügen. Hernach hätte die Sprache völlig ihren Grund im Manifestirenwollen, was als ein schlechthin unendlicher Fortschritt anzusehen wäre, wenn wir die Bilder nur durch Zeichnung mittheilen könnten, was so weitläufig und ungenau ist. Keineswegs ist aber die Verwandlung nur durch hörbare Laute möglich, denn wir finden, daß das sich Mittheilenwollen des objektiven Bewußtseins sich anknüpft und oft vermittelt ist durch demonstrirende Bewegungen analog mit den Bewegungen des subjektiven Bewußtseins. Beide nun haben einen gemeinschaftlichen Sitz, wie die subjektiven Sprachelemente und das Reden, also ist die Möglichkeit eines Mittheilungssystems, welches nur aus demonstrirenden Bewegungen besteht da. | So kann man bei der Mittheilung durch ganz differente Sprachen sich an diese demonstrativen Bewegungen halten und daran die Sprache knüpfen. Was ist denn eigentlich in der Sprache das Denken? Nicht die Verwandlung der Bilder in Zeit und Hauptwörter, sondern die daraus gebildete Einheit des Satzes, welche das Faktum giebt und nicht bloß aufnehmend, sondern das Werk der Selbstthätigkeit ist. Diese Einheit des Satzes nun ist etwas, was sich im System der Bilder gar nicht entwickelt wahrnehmen läßt; denn da ist der Inhalt des Satzes nie eine Einheit sondern in einer Zusammensetzung mehrerer Momente. Das Wesen des Denkens ist gerade das, vermöge dessen es in diesem Gebiete Einheiten giebt wie nirgends. Das System des Gattungsbegriffs ist identisch mit dem System | der Bilder, so auch das System der Veränderungen die wir mit dem Zeitworte ausdrücken. 28 da.] da. s. p. 94

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Die Veränderungen der Vegetation im Frühling lassen sich in einzelne Sätze bringen, zu dem finden wir einen einzigen Nahme durch die Bilder allein, so habe ich nur eine Succession der Bilder, Blätter, Blüthen; aber die Einheit des Subjekts der Veränderungen habe ich erst, wenn ich dasselbe im Gedanken fixire. Bilde ich nun einen völligen Syllogismus, so habe ich zwar etwas ganz Anderes als Wahrnehmen. Das Reden ist also nicht nur Entwickelung der Bilder, sondern dieses ist nur ein Vorhergehendes und der Ursprung jenes, das Reden, ist die ursprüngliche Combination. Wir müssen also davon ausgehen, daß in der ganzen Operation des Denkens die Sprache nur eine Übertragung sei der aus der Sinnesthätigkeit entstandenen Bilder in Hörbares. Die Flexibilität, wodurch das Wort und die dadurch bezeichnete Vorstellung dasselbe bleibt. Gehen wir noch weiter so setzt sich auf der einen Seite in der Sprache dieses Combinatorische, was in der Formation der Bilder nicht liegen kann, ins Unendliche fort, denn es sind nun wieder Elemente, worin sich in dem System der Bilder keine Analogie findet; auf der andern Seite finden wir unter den Haupt- und Zeitwörtern selbst solche, wozu wir gar keine Analogien in den Bildern finden. Denken wir uns den Begriff der Kraft, so finden wir dazu gar nichts, was könnte auf dem Wege der organischen Einwirkung entstanden sein. Dieses Beides läßt auf das Bestimmte schließen, daß die Denkthätigkeit in ihrem Zusammenhange mit der Sprache sich zwar an das sinnliche Bewußtsein anlegt, aber eine ganz eigne und gesonderte Thätigkeit ist, welche zwar durch sie geredet wird, aber nicht aus ihr allein verstanden werden kann. Alle Sprachen bilden nicht auf gleiche Weise jene eigenthümlichen Elemente, welche wir die kombinatorischen oder spekulativen nennen, aus. Dies thut der Natur der Sache keinen Eintrag. Wo es der Fall ist muß ein Ersatz gegeben werden; es giebt also Sprachen in denen sich Philosophie in unserer dialektischen Form nicht entwikkelt, sondern in einer poetischen kann man zwar zugeben. Es ist nicht unsere Meinung hier in metaphysische Untersuchungen einzugehen. Wir bleiben immer an dieser Gränze stehen und kehren wieder um. Es giebt eine unter verschiedenen Formen zu verschiedenen Zeiten ausgesprochene Theorie, welche am schärfsten diese Ansicht von der Differenz der sinnlichen Thätigkeit und der Denkthätigkeit ausspricht, nämlich die, welche man durch den verlegenen Ausdruck „angeborne Begriffe“ zu bezeichnen pflegt. Was ist hiemit gemeint? Dies, daß in diesen ganzen Produkten des Geistes etwas von der Sinnesthätigkeit ganz Unabhängiges ist. Der Ausdruck Begriff ist von jeher auf sehr verschiedene Weise gebraucht. So meint auch man bei diesen 9 Combination.] Combination).

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Theorien nicht, daß alle Begriffe angeboren sind, sondern man leitet einige Vorstellungen von den Bildern ab. Alle Ansichten der Sprache hingegen, welche darauf ausgehn diejenigen Sprachelemente, welche etwas in dem Gegenstand Vorauszusetzendes bezeichnen, aus den Sprachelementen abzuleiten, stehen auf der entgegengesetzten Seite. Denn die Tendenz dabei ist alle Vorstellungen aus den sinnlichen Bildern abzuleiten. Es ist nicht unsere Meinung zwischen diesen entgegengesetzten Ansichten den Werth zu bestimmen, sondern wir wollten nur die Unterscheidung in Verbindung bringen mit den vorgelegten Fragen. | Wenn in der Gesammtheit der Vorstellungen solche sind, welche besondere Klassen bilden, die man nicht aus sinnlichen Bildern ableiten kann, so kann man die Denkthätigkeit auch nicht ansehen als eine weitere Entwickelung der Sinnesthätigkeit. Hierin liegt eine faktische Andeutung, daß wir diese beiden Thätigkeiten unterscheiden. Es ist nicht dieselbe aufnehmende Thätigkeit, welche im Bilde und im Worte äußerlich werden kann. Wenn wir eine Differenz annehmen müssen, wie weit wird sie sich erstrecken und wiefern ist diese geistige Thätigkeit eine eigene? Aus organischen Einwirkungen [entstanden] werden wir dasjenige was nicht in den Bildern aufgeht, nicht ansehn können, also auch nicht als durch das Sein außer uns gegeben. Wir wollen aber auch nicht einen solchen Sprung machen, wie es gewöhnlich bei der Theorie von den angebornen Begriffen der Fall ist, sondern nur sagen es ist ein von Innen her Entstandenes. Alle Thätigkeiten, welche der Psychologie angehören, theilen wir aber in überwiegend aufnehmende und überwiegend ausströmende. Das gesammte objektive sinnliche Bewußtsein gehört den erstern an. Die Denkthätigkeit nicht. Geht man nun jener Hypothese von den angebornen Begriffen weiter nach so kommt man darauf daß diese Begriffe als Erinnerungen in der Seele seien, also doch nur ein wiedererinnertes Aufgenommenes. Ohne über unsere Gränzen hinauszugehen fragen wir, kann man neben einer aufnehmenden Thätigkeit welche das Außer uns zu einem Innren macht auch noch eine von Innen aufnehmende Thätigkeit annehmen? Diese wäre nichts Anderes als die Selbstthätigkeit als ein Aufgenommenes betrachtet. Diese ist nichts Anderes als was wir durch die Seite der Reflexion und des reflektirten Bewußtseins bezeichnen. Wenn wir zurückgehen, auf das niedergedrückte Verhältniß dieses Gegensatzes auf den untergeordneten Lebensstufen, so können wir uns vorstellen, eine 27–30 Vgl. Platon: Menon 81c–85e; Opera 4,351–360; Werke 2,538–555; Phaidon 72e–76e, 90e, 92c–d; Opera 1,165–174, 206, 209–210; Werke 3,52–67, 114–115, 118–121

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Selbstthätigkeit, die nicht bloß Rückwirkung ist, sondern ihren Grund in sich selbst hat, aber doch nicht zu Bewußtsein kommt. Eine solche kann aber nicht in etwas so Äußerliches als das Denken und die Sprache ist übergehen. Wir kommen also hier auf eine Unterscheidung, welche wenn wir sie machen, gleich verschwindet, wenn wir sie aufgeben wollen gleich wieder entsteht. Nämlich in andern Fällen können wir unterscheiden das ursprüngliche Bewußtsein und das reflektirende. So wie wir uns eine Selbstthätigkeit denken im engern Sinne des Wortes, so unterscheiden wir zwischen der Willensbestimmung selbst als Impuls und der Art sie als Sprache im Bewußtsein zu haben; aber wir können keins ohne das andere setzen. Wir müssen also den Unterschied machen; aber auch wieder aufheben. Hier sehen wir also, wie die ursprüngliche und wesentliche Einheit jener beiden | relativ entgegengesetzten [Momente] des Aufnehmens und [der] Selbstthätigkeit zugleich verschwindet und zugleich gegeben ist. Das Denken ist eine solch eigenthümliche Selbstthätigkeit, aber nur insofern als ursprünglich nichts darin ausgesagt wird als das denkende Subjekt selbst und das, was es als solches hervorbringt. Die Thätigkeit ist aber zugleich in der Form des Bewußtseins gegeben, sie nimmt sich selbst in dieser Form auf und dies wird eine solche ausströmende Thätigkeit wie die Sprache, einmal um das Band zwischen einem Moment und den Andern d. h. die Continuität des Bewußtseins hervorzubringen, und dann die Selbstthätigkeit der Intelligenz in dem Außer uns zu manifestiren. Wenn man das in einem ganz engen Sinn nehmen würde, so könnte man folgern es seien auf diesem Weg, nur diejenigen Elemente zu erklären, welche menschliche Selbstthätigkeit aussagten. Es giebt hier wiederum 2 Wege, das in dieser Beschränkung Gesetzte zu erweitern, die Begriffe von Kraft, von Causalität, auch von Substanz sind aus unserm Selbstbewußtsein hergenommen und sind Manifestationen von diesem. Das ist nur das Sich aufnehmen dieser in die Form des Bewußtseins, woraus uns ursprünglich die Begriffe entstehen, welche also insofern angeboren sind. Es ist aber eine bloße Übertragung, wenn wir diese Begriffe auch auf anderes anwenden und in Beziehung auf die Wahrheit des in der Sprache gegebenen Denkens würde die Frage entstehen, ob diese Übertragung eine Fiktion sei oder ihr etwas zu Grunde liege. Die andere Ansicht ist, es ist nur die tiefere Identität des Geistes als des sich bewußten mit dem Sein, vermöge der wir diese ursprünglichen Begriffe auch auf das Sein übertragen und das ganze Gebiet der Wahrnehmungen denselben unterordnen. Es ist also hier derselbe Gegensatz einer skeptischen Ansicht und einer dogmatischen für unser Gebiet, den wir [bei] den Seelenthätigkeiten in dem Gebiet des menschlichen Lebens betrachtet, ist beides einerlei.

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Wir werden nun zur Ausgleichung beider Ansichten dies sagen: wenn wir uns denken könnten, daß ein einzelner Mensch, der sich der Übertragung entziehen könnte und sagen, er wolle nicht unter dieser Form denken, er wolle sich, um nicht an der Fiktion Theil zu haben, der Sprache enthalten, so würde es auch für unser Gebiet einen Gegensatz zwischen beiden Ansichten geben. Aber die Übertragung ist etwas Nothwendiges[,] die Wahrheit mag sein wie sie wolle. In der andern Ansicht liegt von selbst. – Es ist nur noch eine allgemeine Betrachtung übrig, um unser Bild von der Selbstthätigkeit in Verbindung mit der Sprache zu vollenden. Es giebt also Elemente in der Sprache welche Übertragung des im sinnlichen Bewußtsein als Bild in uns Gewesenen, andere Elemente, welche bloß | aus diesem Selbstbewußtsein in welchem uns das Bewußtsein auch Sein ist entstehen. Wir unterscheiden also 2 ihrem Ursprung nach ganz differente Elemente des Denkens, die eigenthümlichen und die aufgenommenen, welche in die Form der Denkthätigkeit, wie die Mittheilung vorzüglich aufgenommen werden. Die ersten haben ihren Grund in diesem Akt der Selbstthätigkeit sich aufzunehmen in das Bewußtsein aber allemal auch mit der Tendenz sich mitzutheilen, so wie auch jene aufgenommnen Elemente nur in das Denken und die Sprache aufgenommen werden mit jenen andern Elementen in Verbindung gesetzt zu werden. So wie wir aber die Differenz des Ursprungs näher ins Auge fassen, so ist es natürlich daß dann 2 verschiedene Sprachweisen entstehen, die eine in welcher jene nur aufgenommnen Elemente die wesentlichen sind und deren Tendenz sich nur auf Mittheilung über das Bewußtsein bezieht. Dies ist der Gebrauch der Sprache im gemeinen Leben. Die andere ist, in welcher das Eigenthümliche der Denkthätigkeit dominirt und deren Tendez dahin geht, das ganze Gebiet der Wahrnehmung auf das Wesen des Seins zu reduziren und dies ist die Sprache auf dem Gebiet und zu dem Behuf der Wissenschaft. Aber dies beides sondert sich nicht auf eine bestimmte Weise. Selbst das erste tritt offenbar am frühesten hervor, ist aber nie ohne das letzte. Denn wie wollten die Menschen mit einander verkehren, außer indem sie sich als mit einander Verstehende setzen. Aber es muß sich immer mehr sondern in dem Leben, wenn die ganze Thätigkeit soll zu ihrer Vollendung kommen. Daher ist die Sprache des gemeinen Lebens der Grund zu Verwirrungen in dem Gebiet der Wissenschaft und umgekehrt. Beides zusammen ist die fortgeführte Entwickelung dieser ganzen Thätigkeit. – – | Wenn das nur vermittelst der Sinnesthätigkeit gegeben werden kann, so wird uns nichts übrig sein, zu sagen als daß dies ganze Element nur vom Selbstbewußtsein ausgehe und daß die Voraussetzung oder das Aufsuchen dieses selbigen in Beziehung des ganzen außer uns liegenden Seins die eigentliche Tendenz in dieser Funktion des Den-

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kens ist. Die Gegensätze, welche es auf diesem Gebiet geben kann, in Beziehung auf die Werthschätzung[,] Alles, was das Metaphysische in dem Denken ganz zusammenhängend mit dem, daß die Sprache nur Übertragung der Bilder zum Behuf der Mittheilung ist und dem, daß sie diese eigenthümliche aus dem Selbstbewußtsein hervorgehende Funktion des Geistes zur Darstellung bringt. Gehen wir hier noch weiter kommen wir in das transcendete. Nämlich wenn die Wahrheit dieses eigenthümlichen Denkelements als 0 dargestellt wird, so muß auch alles Wissen lediglich auf die sinnliche Anschauung zurückgeführt werden. Daß dies der größte Gegensatz auf diesem Gebiete ist, während auf der andern Seite Alles aus dem Geistigen erklärt wird leuchtet ein. Weil wir dasselbe aber als etwas was statt finden kann gefunden haben so scheint das die Richtigkeit der Darstellung zu beweisen. Aber hört nicht die Einheit der Sprache auf, wenn wir sie aus 2 so ganz disparaten Elementen konstruiren wollen? Wenn wir einmal annehmen, daß das nicht in den Bildern aufgehende an das Denken [geknüpfte] ursprünglich von dem Selbstbewußtsein ausgeht von dem Bewußtsein der innern Einheit des Subjekts, welche die Mannigfaltigkeit der Gegenstände [aufnimmt], so ist doch eine so wesentliche Zusammengehörigkeit wie z. B. unser Selbstbewußtsein und das objektive Bewußtsein dann beides doch so ganz eins ist, so wird dieselbe wesentliche Zusammengehörigkeit auch in jenem Element sein und das Übertragen der sinnlichen Bilder ist nichts als das Aufnehmen des sinnlichen Bewußtseins in die höhern Elemente. Wir finden das auf eine besondere Weise in der Geschichte aller Sprachen, daß sich nämlich in dem Grade als sich jenes höhere Element entwickelt auch das ganze System der Bilder in | der Abstufung des Allgemeinen und Besondern sondert. Nämlich so, die Sprache in ihren Anfängen hat ihre 3 die] der 1–6 Vgl. SW III/6, S. 160: „Die Gegensäze, die es auf diesem Gebiete geben kann und die jeder anders stellt, je nachdem er auf der einen oder andern Seite steht, nämlich die Gegensäze in Beziehung auf die Werthschäzung dessen, was das transcendente, metaphysische im Denken ist, hangen zusammen mit den beiden Hauptpunkten in der Sprache, erstens daß sie Uebertragung der Bilder zum Behuf der Mittheilung ist, und zweitens, daß sie diese eigenthümliche aus dem Selbstbewußtsein hervorgehende Function des Geistes zur Darstellung bringt. Das eigenthümliche des Denkens manifestirt sich in der Sprache an zwei Endpunkten, bei den combinatorischen Reihen und beim Aufsuchen des innern im äußern. Da nun das innere immer die Einheit ist gegen das äußere viele, so ist die Denkthätigkeit eine Verknüpfung zur Einheit.“ 7–10 Vgl. SW III/6, S. 160: „Auf der andern Seite, wenn die eigenthümliche Wahrheit dieses Denkens als Null gesezt wird, so muß alles Denken auf dem Complexus der Bilder und dem, was diesen zu Grunde liegt, beruhen, d. h. der unendlichen Theilbarkeit von Raum und Zeit, und das wäre das atomistische.“

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ganze Richtung auf das, was sich in der Selbstthätigkeit des Menschen auf den innersten Sinn bezieht d. h. die Sprache ist nur eigennützig. Denken wir nur an solche Formeln. Das ganze Aufnehmen des Seins ist an einen Bewußtseinszustand angeknüpft welcher sich noch dem thierischen Instinkt nähert. Betrachten wir so die Eintheilung in wilde und zahme Thiere, welche das Sein gar nicht trifft sondern nur die Verhältnisse des Menschen (Kraut und Unkraut). So wie sich nun aber jenes höhere Element entwickelt verschwindet auch diese ganze auf die bloß äußere Geschäftsführung des Lebens berechnete Sprache aus dem Umlauf. Wir sehen [sowohl] die Differenz zwischen diesen beiden Zuständen der Funktionen als auch die Zusammengehörigkeit der beiden Elemente. Wenn wir nun von hieraus eine weitere Folgerung machen wollten, so würden wir sagen können, daß die welche im Gebiete des Wissens versiren aber jenes Element läugnen, in einer Täuschung begriffen sind und daß die eigentliche Wahrheit ihrer Richtung wieder auf den Verkehr des Menschen mit den äußerlichen Dingen geht. – Wie verhält sich diese Funktion in allen ihren Abstufungen? Wir müssen auf einige Punkte zurückgehen, welche wir bisher nicht auf dieselbe Weise hervortreten zu lassen, veranlaßt waren. Die Sprache als solche und also auch das Denken insofern es mit der Sprache wesentlich zusammenhängt ist eine nach außen gehende Thätigkeit und trägt also auch die Richtung nach Mittheilung wesentlich in sich. Alles Denken in der Form der wissenschaftlichen Meditation ist ein rein innerer Prozeß, der aber nicht von dem innerlichen Sprechen getrennt werden kann, wenn nicht das Denken seinen Charakter verlieren soll. Hier finden wir ein umgekehrtes Verhältniß zwischen diesem innern Sprechen und dem äußern und denselben Momenten, die wir auch in dem Gebiet des sinnlichen Bewußtseins finden. Die von Außen bestimmte Thätigkeit des Organs war hier die erste und stärkere; die von innen bestimmte die abgeleitete und schwächere. Nun ist allerdings in dem Verhältniß des innern und äußern Sprechens die eine Differenz die schwächere; die Rede welche ganz nach Außen geht ist die stärkere Thätigkeit der Funktion, aber im Grunde dasselbe; es ist die Richtung der Mittheilung an sich selbst. Wenn wir nun fragen, wie sich diese ganze Operation des innerlich festgehaltenen Denkens zu den 2 Brennpunkten der Sprache verhält, so kommt es bei weitem häufiger vor, in der Richtung der Sprache auf das Wissen als [in] der auf die Beschäftigung. Aber es ist, indem die andere Ähnlichkeit nicht statt findet, das innere Sprechen | nicht das von einem äußern abgeleitete, sondern das ursprüngliche. Überall wo wir diesen Prozeß als et3 Vgl. SW III/6, S. 161: „Man braucht nur solche Formeln zu nehmen, wie wenn die Vegetation eingetheilt wird in Kraut und Unkraut,“

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was bloß Innerliches finden ist er etwas Unvollendetes; wir sind dann immer noch im Denken begriffen. Das ist überall das Verhältniß in dem Gebiet des Wissens zwischen der Meditation und der Composition und auf der Seite des äußerlichen Lebens zwischen der Überlegung und der Beschäftigung; es ist das innerliche Zurückgehaltensein der Operation. Wenn wir die Sache so betrachten, so zeigt das Sprechen eine eigentliche Richtung auf das Wissen und die Eigenthümlichkeit des Denkens, daß es ein Gemeinschaftliches sein will. Das Denken hat aber wesentlich diese Richtung auf die Mittheilung in sich, also ist es eine Funktion des Geistes, welches die Identität der Persönlichkeit und des Gattungsbewußtseins als der Vernunft also die Identität der Vernünftigkeit in Allen in sich schließt. In Beziehung auf das äußere Leben wird der äußere Mensch uns ebenso zum Gegenstand wie die andern Dinge und es tritt zwischen dem einen und dem andern Einzelnen derselbe Cyklus von Verhältnissen ein, wie zwischen den Dingen. Es erscheint, wenn wir die Gesammtheit des menschlichen Lebens betrachten, wieder als dasselbe, daß die Menschen sich wieder über das Bewußtsein in den Einzelnen erheben und das Denken die höhere Richtung auf das Wissen hat. Es giebt einen Zustand der menschlichen Entwickelung, wo die Menschen alle einzeln sind; dieser wird nicht möglich wo die Richtung auf die Sprache sich schon auf einem gewissen Grad entwickelt hat, denn sie setzt eine Geltung des Gattungsbewußtseins, welches auf der andern Seite geleugnet wird[, voraus]. Von diesem eigentlichen Entwickelungsknoten an, werden wir den ganzen Verlauf der Denkthätigkeit in ihrem wesentlichen Zusammensein mit der Sprache übersehen können. Wir denken uns einen Menschen auf jener Stufe, wo er überwiegend im äußerlichen Leben versirt. Das innere Sprechen dennoch bei ihm beständig alle jenen Momente begleitet, so wäre Qwegen ihmR Denken in Gemeinschaft gesetzt. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf Zustände, wo das noch gar nicht oder in einem geringen Grad der Fall ist, so sind die sinnlichen Bilder dasjenige, was der Mensch in der größten Schärfe ausprägt und das innere begleitende Bewußtsein ist, welches [in] der Form der Sprache noch nicht dargestellt ist. Die nordamerikanischen Eingebornen sie haben sich uns auf diese Weise dargestellt. Die sinnlichen Thätigkeiten der Organe finden sich bei ihnen auf eine außerordentliche Schärfe ausgeprägt. Aber die Richtung auf das Wissen in 8 will] will ausdrückt

19 hat] sind

37 Schärfe] über Weise

5–6 Zusatz SW III/6, S. 163: „die in und durch uns selbst noch nicht zur Vollendung gebracht ist, und so müssen wir beides als einen Act, von dem das eine der Anfang und das andere das Ende ist, ansehen.“

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der Sprache nicht, sondern für die Völker überhaupt ist der Gebrauch der Sprache bei ihnen seltener; so wie die Mittheilung etwas bedeutendes wird, ist das Verhältniß zwischen der Übertragung und der | wirklichen Mittheilung ein ganz Anderes, als bei uns. Das Verhältniß der ersteren tritt weit schärfer hervor. Wo aber die Sprache im Ganzen schon bis auf diesen Punkt entwickelt ist, finden wir das innere Sprechen als das ganze Geschäftsleben begleitend auch bei wenig entwikkelten Menschen. Die Lebendigkeit der Bilder tritt zurück oft auf eine nachtheilige Weise. Sie wird wieder geweckt, sowie das Interesse nach dem Wissen die Richtung bekommt, das Innere der Gegenstände durch den Complexus der äußern Eigenschaften zu erforschen. So daß wir hier ein umgekehrtes Verhältniß finden, eine ursprüngliche Schärfe und ein Zurücktreten der Selbstthätigkeit; dann nimmt die organische Thätigkeit des sinnlichen Bewußtseins ab. So wie aber ein Interesse des Wissens und der Sprache erwacht und eine Richtung auf die äußern Gegenstände entsteht wird eine Schärfe des Sinnes postulirt, die organische Sinnesthätigkeit wird dann unter die Tendenz des Bewußtseins in seiner höchsten Entwickelung gestellt. Damit aber tritt das innere Sprechen keineswegs so zurück, wie bei dem ursprünglichen maximum der Thätigkeit der sinnlichen Organe, sondern es bleibt die alte Thätigkeit begleitend, indem sich die ganze Continuität des Selbstbewußtseins in dem innern Sprechen festhält. Wenn wir uns denken die Denkfunktion von dem Selbstbewußtsein ausgehend, so sehen wir wie die Entwickelung derselben das eigentliche Band des Selbstbewußtseins wird. Dieses ist das Allgegenwärtige dieser Funktion in dieser Form das alle andern Zustände begleitende. Hier bleibt die Sprache ein rein Innerliches und doch ist sie nichts als die Richtung des Denkens auf die Mittheilung, weil so dadurch die höhere Continuität des Selbstbewußtseins erst zu Stande kommt. Betrachten wir die Sprache in dem nach Außen gehen, so kann sie mit nichts Anderm anfangen als mit dem Übertragen der Bilder in die Sprachelemente und alles Aneignen der Sprache in den Kindern fängt immer dort an. So wie das Selbstbewußtsein in der Sprache entwickelt ist, geht auch die Richtung auf das Denken an. – Es liegt noch eine andere Differenz zu Grunde, daß in der sinnlichen Thätigkeit, die objektive und subjektive Seite etwas von einander Unzertrennliches sind, die subjektive 13 ein] ein b.

28 weil] )weil* darüber d [und]

33–34 Zusatz SW III/6, S. 165: „Verfolgen wir nun die Denkthätigkeit in ihren Extremen, so finden wir deren zwei; wenn das eine ganz isolirt werden könnte, so wäre es ein unvollkommenes Bewußtsein, ein atomistisches und vereinzeltes, nehmen wir dagegen die andere Richtung in ihrer Vollkommenheit, so würden wir die Welt darin repräsentirt finden.“

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aber ein Übergewicht behauptet, so auch in der Sprache, bei der andern Richtung ist das Sein selbst das Herrschende. Man kann sich daher erklären, wie es Theorien gegeben hat, die dies als 2 ganz verschiedene Stufen des Bewußtseins angesehn haben, das gemeine und das höhere Bewußtsein. Diese Abstufung ist mehr ethisch; aber wir haben keinen Grund die Differenz bis auf diesen Punkt zu treiben, weil sich schon in dem ersten Gebrauch der Sprache Jenes nicht mehr isoliren läßt. Wir müssen in dem sogenannten gemeinen Bewußtsein schon dieselben Elemente anerkennen; es ist nicht nur das | Kombinatorische, sondern verwandelt sich in das Objektive und ohne Hervortreten der Richtung auf das Wissen sehen wir doch die Bilder in eine untergeordnete Beziehung treten. Es liegt in der Natur der Fortschreitung eine geistige Differenz zwischen den Subjekten selbst anzunehmen, wodurch allerdings die Identität der menschlichen Gattung aufgehoben wird. Es führt uns dies auf die Frage über die in dieser Hinsicht wirklich gegebenen Differenzen. Es ist noch eine Seite der Sprache übrig, die einen eigenthümlichen Charakter an sich trägt. Wenn wir nämlich auf das, was wir über das erste Sichkundgeben der Sprache gesagt haben (Laut und Ton) zurückgehen, so ist der Ton mit der Denkthätigkeit gar nicht verbunden, sondern nur eine Manifestation von der subjektiven Seite des Bewußtseins. Nun aber finden wir hernach fast überall auch beides verbunden und diese Differenz erscheint uns auch als ein allmählig immer mehr aufeinander folgendes. Denken wir, die gesungene Sprache im gemeinen Leben, so erscheint uns dies nur eine Angewöhnung in dem Gebrauch des Organs, ohne alle Differenz in Beziehung auf die Sprache, nur oft in dem Maaß als sich das eigentlich Kombinatorische und das rein Objektive in der wesentlichen Verbindung von Denken und Sprechen herausbildet, jenes verschwindet und der gemessene Ton gar nicht mehr existirt. Nun aber finden wir in verschiedenen Graden in der Sprache sich selbst entwickeln den Gegensatz zwischen Poesie und Prosa und die Poesie fast überall mit dem Gesange verbunden. Hier tritt uns sobald wir den Begriff der Poesie uns vergegenwärtigen allerdings die Denkthätigkeit hervor, aber sie erscheint uns als eine ganz freie, ohne allen Zusammenhang mit dem was uns von Außen gegeben ist. Inwiefern ist so wie eine Differenz in der Sprache offenbar zu Tage liegt, auch die Denkthätigkeit selbst eine andere? Gehen wir darauf zurück, daß alles Denken im eigentlichen Sinne nicht ein durch organische Einwirkungen Entstandenes sondern innerlich Produzirtes ist, so können wir überall das Denken nur als eine freie Thätigkeit ansehn, aber insofern es sich an die Wahrnehmung anschließt, so ist es zwar eine freie in 1 so auch] mit

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Beziehung auf das Genetische, aber doch eine Gebundene, in Beziehung auf den Inhalt. Denn es soll das Sein dargestellt werden durch das Denken und in Übereinstimmung sein mit der Wahrnehmung. Bei der poetischen Produktion finden wir diesen Zusammenhang auf der einen Seite gelöst, auf der andern festgehalten. Wollten wir uns denken eine Poesie die aus lauter kombinatorischen und spekulativen Sprachelementen bestünde, so | wäre das ein Versuch einen der Form gar nicht angemessenen Inhalt in dieselbe zu bringen. Das Objektive ist also aus der objektiven Tendenz herausgegangen, denn es will diese Aufgabe nicht lösen und also in das Subjektive aufgenommen. Es ist eine reine Produktion, aber an die Gesammtheit der Bilder gebunden, abgerissen von der Richtung auf das Wissen. Denken wir es in Verbindung mit dem ursprünglich Subjektiven in dem Gebiet der Stimmwerkzeuge, so ist auch, was darin Gedanke ist, in das Gebiet des Subjektiven hineingegangen. Wir können uns nun eher denken, eine Sprache in welcher der Gegensatz zwischen Prosa und Poesie in allem, was eigentlich Komposition ist gar nicht heraustritt, sondern alle Komposition poetisch ist und alle Prosa nur in dem gemeinsamen Verkehr, wo das Gebiete des Subjektiven von der Objectivität getrennt wird, als ein Volk, welches von Poesie ganz entblößt wäre, und eine Prosa hätte. Es hat Theorien gegeben, die von solchen Erscheinungen aus sagten, die Poesie sei überhaupt nur etwas für die Kindheit, eine unentwickelte Stufe in der Denkthätigkeit, eine fortgeschrittene QerlaubeR dies nicht mehr, sondern Alles müsse in die objektive Richtung des Seins aufgenommen werden. Aber man vernichtet entweder das Gebiet der Kunst ganz oder verstümmelte es. In beidem liegt eine so offenbare Verkennung der menschlichen Entwickelung zu Liebe eines einseitigen Bestrebens, daß diese Theorien sich nicht auf lange Zeit haben geltend machen können, um so mehr, da es immer in einem Widerspruch gegen das Wissen insofern es nicht empirisch war, begriffen war. So wie wir also das nur als eine Einseitigkeit ansehn können und uns ein gänzliches Fehlen dieses Gliedes nur als eine Ausnahme von dem natürlichen Entwickelungsgange [erscheint], so ist hier noch eine Wurzel in der Sprache und in der Denkthätigkeit, welche mit etwas anderm zusammenhängt. Eine zwiefache kombinatorische Thätigkeit müssen wir hier annehmen, eine welche vorwiegend objectiv auf das Verhältniß der Intelligenz zu dem Sein gerichtet ist, die andere, in welcher sich die Intelligenz als Einzelwesen rein produktiv in dem Gebiete der Denkthätigkeit manifestirt. Dies beides sind die höchsten Erscheinungen in welchen die Denkthätigkeit als Eins mit der Sprache selbstthätig hervortritt und welche wir also im Verhältniß von demjenigen Sprechen, welches Alles begleitet, | noch darstellen müssen. Dieses innere Sprechen ist das bloß reproduktive, worin die eigentli-

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chen menschlichen Zustände, gleichviel ob sie überwiegend selbstthätig oder empfänglich gewesen sind, aufgehen. Die wissenschaftliche Produktion ist immer gebunden nur in verschiedenem Grade, je nachdem sie empirisch ist daran, die Sprachelemente welche Bezeichnungen der Gegenstände und ihrer Veränderungen sind nur so zu gebrauchen wie sie die Wahrnehmung repräsentirt, oder spekulativ daran, die kombinatorischen Sprachelemente so zu gebrauchen wie es im Gebiet der Sprache für Alle dasselbe ist. Denn wenn wir auch zugeben müssen, daß jede spekulative Composition sich auch ihre eigene Sprache bildet, so kann es doch nie geschehen ohne an eine vorhandene anzuknüpfen und also nur ein neues Glied hinzuzufügen. Das ist das Gebundensein der wissenschaftlichen Komposition, aber sie erscheint doch immer als freie Produktivität. Eine bloße Beschreibung von Beobachtungen kann eine nur auf das Wissen gerichtete Tendenz haben, aber indem sie nur dem Gegebenen nachgeht, ist sie nicht das selbstthätige Hervortreten der Denkthätigkeit. Die poetische Produktion ist gebunden an den sinnlichen Gehalt derjenigen Sprachelemente, welche die Bilder repräsentiren. Aber es ist z. B. etwas, was wir müssen dahingestellt sein lassen, ob solche Figuren wie Cenntauren früher in der poetischen oder in der bildenden Kunst gewesen, aber auch so sind sie durch die Sprache konstruirt. Wir können dies überall verfolgen; aber nur aus materiell Gegebenem als solchem läßt sich das poetische Ganze zusammensetzen. Wir haben hier also die größte Einheit in der Produktion der Selbstthätigkeit und also das bestimmteste Auseinandertreten; alles Denken im Gebiet der Wahrnehmung steht in der Mitte; es liegt ihm immer ein Wahrnehmenwollen zu Grunde; die Denkthätigkeit geht [vom] sinnlichen Wahrnehmen aus und so ist dies ein Übergang von der ursprünglichen Gebundenheit des reflectirenden Denkens in jene Einheit in der Wissenschaft und poetischen Composition. Das innere Sprechen ist aber offenbar in dieser auch überall das erste und eine jede solche Mittheilung schließt eine solche Reihe von Mittheilungen in sich, welche nie ein inneres Sprechen gewesen sind. Wenn wir dies zusammenstellen, so werden wir sagen, jenes reflektirte Denken ist nichts als das Wahrnehmenwollen nur auf sich selbst gerichtet und es bleiben uns daher nur jene beiden Differenzen übrig. Die Denkthätigkeit sich an alle Funktionen an|hängend und dem gegenüber die Freiheit der Produktion, welche wir zwar in jenem auch schon finden, aber nur als ein minimum. Wenn wir nun noch eine andere Beziehung hinzunehmen auf eine noch nicht betrachtete Funktion des geistigen Lebens, nämlich das Verhältniß des Denkens zur Willensbestimmung [sehen], so ist hier in dem Denken ursprünglich gesetzt, was erst werden soll. Das eine Ende ist dasjenige, wo das Denken einem andern als dem Gegebenen nachgeht, dieses umgekehrt

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wo das Denken als das erste erscheint, sowie wir einen Willensakt als einen besondern setzen und von der Veranlassung abstrahiren. Es hört hier aber auch die Gebundenheit auf, denn der Moment der Konzeption einer wissenschaftlichen oder künstlerischen Produktion ist auch ein Denken von dem, was werden soll, aber es soll nur werden auf eine bestimmte Weise gebunden. So haben wir in diesen beiden Enden und in dem Mittleren der freien Produktion das Ganze von dem Verhältniß der Denkthätigkeit zu allem Andern. Ohnerachtet diese Thätigkeit auf dem Gattungsbewußtsein beruht und die Identität der Vernunft in Allem voraussetzt, [ist] doch die große Mannigfaltigkeit und das Verhältniß der verschiedenen Sprachen unter einander, insofern es das Denken selbst affizirt, zu begreifen. Wäre das Verhältniß ein solches, daß die Sprachen nur durch ihre Laute verschieden wären, das dabei Gedachte überall dasselbe würde diese Schwierigkeit nicht groß sein und uns gar nicht treffen sondern ganz ins physiologische Gebiet gehören. Denn die Differenz der Laute wäre nichts anderes als die Beziehung zu der Modifikabilität der Sprachwerkzeuge. Die Denkthätigkeit bliebe dabei ganz aus dem Spiel. Es wäre dann nur die Frage übrig, ob sich nun ein bestimmtes Verhältniß der ersten Sprachelemente von der physiologischen Seite angesehen zu dem logischen Gehalt ausmitteln ließe? So steht aber die Sache nicht, sondern so, daß der logische Gehalt sich in jeder Sprache, nur in verschiedenen Abstufungen ein anderer ist als in den andern. Die Differenz ist auf der einen Seite eine quantitative, nämlich es ist ein großer Unterschied in dem Reichthum der Sprache, wenn er nichts wäre als eine Menge von gleichgeltenden Gedanken für einen einzigen, so wäre darüber wieder keine große Untersuchung vorzustellen sein; aber nun findet schon die quantitative Differenz auf eine ganz andere Weise statt, nämlich daß eine Sprache in dem Denken selbst eine große Menge von Differenzen hervorhebt und also das Denken selbst ein Mannifaltiges ist. Aber es ist auch das qualitative. Wenn wir eine ganze Sprache betrachten, so ist es eine unvollkommne Ansicht, wenn man die einzelnen Wörter als ein bloß neben einander Gestelltes betrachtet. Es ist eine Aufgabe, die sich von selbst stellt, sie zu gruppiren. | Wie nun in jeder Sprache es eine Mannigfaltigkeit der Formen giebt dasselbe Stammwort zu zertheilen durch Zusammensetzung, 22 Gehalt] Gehalt sich 6–8 Zusatz SW III/6, S. 170: „Diejenigen, welche überwiegend empfänglich sind, sind uns repräsentirt durch die Sinnesthätigkeit, diejenigen, welche überwiegend selbstthätig sind, sind uns repräsentirt durch die Willensacte, an beiden hängt sich das Denken, den einen nachfolgend und den andern vorangehend und zwischen beiden liegt die freie Production.“

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durch Abwandlung in der äußern Form, so entstehen daraus eine große Menge von Gruppen zusammengehöriger Wörter. Sie lassen sich zurückführen auf verschiedene Verhältnisse desselben Centralgedankens. Thut man dies in verschiedenen Sprachen so findet sich nicht nur eine Mannigfaltigkeit in der Art und Weise die einzelnen Begriffe zu versetzen und zu verknüpfen, sondern es zeigt sich auch daß die Stammwörter nicht in einander aufgehen und daß die Beugungsmittel ebenfalls nicht ineinander aufgehen, kurz man kann sich diese qualitativen Differenzen nicht anders bezeichnen, als daß sie alle irrational sind d. h. daß keine auf eine adäquate Weise mit der andern gemessen werden kann. Das ganze Verfahren mit diesem Gedachten, insofern es elementarisch gesetzt wird, ist ein auch logisch Verschiedenes. Das ist allerdings um so schwieriger als wir nun die Sprache ihrem Gehalt nach und in Verbindung mit der Denkthätigkeit so bestimmen müßten auf die Voraussetzung der Identität der Denkthätigkeit aller derjenigen welche sie mittheilen zurückführen. Wir kommen auf 2erlei Prinzipien dieser Differenz. Es giebt Sprachen welche sich gegen einander verhalten als verschiedene Entwickelungsstufen, so daß man sich denken kann, daß wenn die eine Sprache nach demselben Exponenten fortgeschritten wäre als die andere, die Ungleichheit gegen die andere entweder ganz und gar oder zum größten Theil verschwinden würde. Wenn sich nun das Ganze hieraus allein erklären ließe, wäre es etwas sehr Einfaches. Auch die Differenz in den Stammwörtern würden wir sagen würde verschwunden sein. Es giebt Sprachelemente, welche rein auf das sinnliche Bewußtsein zurückgehen, andere welche von der Richtung auf das Innere ausgingen. Wenn wir nun denken eine Sprache welche sich ihrem ganzen Wesen nach ausgebildet hätte rein von jenem ersten aus, so daß das spekulative Sprachgebiet gar nicht ausgeprägt wäre und sie sich daher immer, wo es darauf ankommt, solche Verhältnisse zu bezeichnen mit jenem ersten helfen müßte, so würde jene immer eine frühere Zeit repräsentiren und das ganze System der Stammwörter würde noch eine Umwandlung erfahren, wenn die Eigenthümlichkeit der Denkthätigkeit sich mit einer gewissen Gewalt und Schnelligkeit entwickele. Wenn wir aber auch Sprachen vergleichen, welche in dieser Hinsicht ausgeglichen sind, so sind doch dagegen logische Einheiten, welche den einfachen Sprachelementen entsprechen, andere. So wie man dies dazu nimmt verschwindet der Schein, daß man sich diese Verschiedenheit mit der langsamern oder schnellern Entwickelung erklären könne und es entsteht eine Nothwendigkeit daß wir einer|seits zwar eine Identität des Prinzips annehmen müssen, aber doch eine ursprüngliche Differenz in der Entwicke37 andere] andere sind

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lung. – Wenn man die Stammwörter mehrerer Sprachen mit einander vergleicht in der laxen Behandlung so mag diese noch in einem gewissen Grade unvollkommen sein, die Methode selbst aber in ihrem Prinzip kann man nicht verwerfen. Wenn ein solches Wörterbuch vor uns liegt, welches auf eine andere Sprache reduzirt ist, oder sich in der Sprache selbst zu helfen sieht so werden wir doch finden in beiden Fällen, daß überall eine Mannigfaltigkeit der Bedeutungen zum Vorschein kommt. Soll man nun in einer andern Sprache ein vollkommen korrespondirendes Wort finden, so kann diese Aufgabe nicht gelöst werden. So wie man das zugiebt muß man auch sagen, daß die Identität in der etwa scheinbar gleichen Gebrauchsweise sich dadurch ebenfalls verringert. Denn in allen Bedeutungen eines Wortes muß eine große Einheit angenommen werden und also tragen sie die Keime zu Differenzen in sich selbst. Dies wird sich durch die ganze Sprache durchziehen und es wird kaum einzelne Elemente geben die in irgend einer Beziehung an Central- oder Gränzpunkten stehn, in welchen sich diese Irrationalität verringert. Das allgemeinste formale Sprachelement in der zusammenhängenden Rede ist das wodurch man einzelne Sätze als Aggregat mit einander verknüpft; unser „und“ entspricht aber nicht dem et und και. Denn jene haben Gebrauchsweisen, welche das „und“ nicht zuläßt. Nehmen wir von einer ganz andern Seite her das Wort Gott, so werden wir unmöglich sagen können, daß es abgesehen von allem Etymologischen dasselbe wäre als das griechische und lateinische. Denn wie wir uns des Wortes bedienen, so ist der Plural darin ganz negirt und wir gebrauchen denselben nur in der Nachbildung jener Sprachen oder in Beziehung darauf und Niemand wird behaupten, daß der Singularis da nicht dasselbe sei. Man mag in jede Sprachregion gehen und wird überall dasselbe finden. Dies wird noch größer wenn man bei scheinbar einfachen Wörtern auf das Etymon zurückgeht. Wir werden z. B. unser Stoff mit dem griechischen ὑλη betrachten, so halten wir es für einerlei sind aber nicht dazu berechtigt. Hier fragt‘s sich also auf welche Weise man dies mit einander vereinigen kann, daß die Denkthätigkeit in ihrer Verbindung mit der Sprache nicht anders zu erklären ist als die Identität des denkenden Prinzips in Allen, mit den Differenzen [der Sprachen]. | Jeder der spricht will verstanden sein und setzt voraus, daß man verstanden werden kann. Die verschiedenen Sprachen sind aus der Differenz der Denkthätigkeit hervorgegangen. Um nun die Sache gehörig übersehen zu können, müssen wir zuerst einseitig von jedem dieser Punkte allein ausgehen. – Wir setzen die Funktion der Differenz der Sprachen und zugleich die Foderung des Verständnisses und wollen das leztere mit dem erstern erklären, so ist klar es macht keiner die Anfoderung verstanden zu werden als an den, der sich derselben

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Sprache bedient. Es ist also das Natürliche daß der Mensch nur denjenigen der sich derselben Sprache bedient als seines Gleichen ansieht in Beziehung auf die Denkthätigkeit und da diese Alles begleitet auch immer für seines Gleichen in allen andern Lebensmomenten. Diese einseitige Ansicht führt uns also auf einen Punkt den wir freilich als einen gegebenen [annehmen] als auf einer sehr niedrigen Entwickelungsstufe. Diejenigen welche sich derselben Sprache bedienen behandeln alle die als fremde, welche sich nicht der Sprache bedienen. Dieses Faktum führt uns auf die Wandelbarkeit der Spracheinheiten selbst, die genau zusammenhängt mit der Wandelbarkeit der Einheiten des gemeinen Lebens. So lange die Menschen nur in kleinen Gesellschaften zusammenleben ist auch nur die Spracheinheit eine enge und es können in der Nähe verwandte Sprachen reden und doch als feindselig ausgeschlossen [werden]. Das Geschichtsverhältniß ist in einem hohen Grade gegeben in den ursprünglich asiatischen und afrikanischen Völkerschaften. Hernach fließen viele kleine Gemeinschaften in eine große zusammen und es fließen dann auch die differenten Sprachen zusammen d. h. erscheinen nur als untergeordnete Modifikationen von demselben. So lange aber jenes engere und zerstückelte Zusammenleben vorherrscht ist auch jene engere Spracheinheit. Nehmen wir aber dazu, wie die Spracheinheiten zusammenfließen und auch dann das Maaß des Zusammenhaltens sich vergrößert, das Prinzip aber dasselbe bleibt, was muß geschehen, damit auch das Prinzip verschwindet? Daß alle Sprachen in eine zusammengehen. Wir sehen wie diese Richtung von derselben Voraussetzung ausgeht und die Einheit der Sprachen allein postulirt wird [weil] sie die Differenz der Sprachen in ihrem Denkgehalt voraussetzt. Allerdings findet sich auch von diesem Punkt aus eine andere Auflösung, nämlich eine Richtung sich in die vorausgesetzte Differenz des Denkens selbst hineinzudenken. Dies ist die Richtung auf die Gemeinschaft der Sprachen, aber diese kann nur auf eine 2fache Weise entstehen, nach den beiden Elementen in der Sprache verschieden. | Wenn ein Volk von seinem eigenen Verkehr nicht genug hat, entsteht die Nothwendigkeit die Feindseligkeit fahren zu lassen, aber diese Differenz ist das geringere. – Es ist zu erwarten, daß der Denkgehalt aller Sprachen derselbe sei; Wenn wir etwas auf die logischen 26 sie] sie von 34–35 Zusatz SW III/6, S. 175: „die größere geht hervor aus der Richtung des Wissens, die verschiedenen Sprachen verstehen zu wollen und zu sehen, wie weit es ein Mensch bringen kann seine Gedanken in einer andern Sprache auszudrükken. Dies wäre eine Ueberwindung der Differnz durch die Richtung auf die absolute Gemeinschaft, die wir nicht anders haben können, als von der andern Voraussezung aus.“

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Regeln achten für welche man eine ganz allgemeine Geltung fodert, so werden wir sehen, daß das Verhältniß zwischen Subjekt und Prädikat überall etwas feststehendes sei, ebenso das Verhältniß des Besondern zum Allgemeinen und daß die verschiedenen Formen unter welchen die Einheit des Satzes möglich ist und wonach Sätze auf einander bezogen werden können dieselbe sei. Hier ist die ganze Richtung auf das Übertragen der Überzeugung, auf das Wissen im eigentlichen Sinn. Hier muß also auch die Voraussetzung von der Identität des denkenden Prinzips sein. Es findet sich dies aber nicht. Es giebt schon Sprachen, in welchen das Subjekt und Prädikatverhältniß durch gar nicht so bestimmte Wortformen geschieden ist als bei uns nomen und verbum; jede Sprache hat ihre eigenthümliche Weise das Allgemeine über das Besondere zu stellen. Von hier aus werden wir also überall eine Differenz des Denkens zugeben müssen. Was giebt es hier für Ausgänge, um von diesem Standpunkt aus beides in Übereinstimmung zu bringen? Gehen wir aus von der organischen Seite der Sprache, so wird man zugeben, es giebt ein Verhältniß der Sprachdifferenzen selbst, welches sehr analog ist, der Differenz des Organs an sich, wie sich dieses konstituirt in den verschiedenen Zonen. Will man nun jene Voraussetzung festhalten, so wird man versuchen darzustellen, wie alle Differenzen des logischen Gehaltes, abhängen von diesen organischen Differenzen aber wenn es darauf ankommt dies zur wirklichen Darstellung zu bringen in der Behandlung der Sprache selbst und das Resultat davon, so wird dies nicht möglich sein. Man müßte die Sprache in 2 Theile auflösen, der eine welcher abhinge von der Differenz des Denkenden Prinzips, der andere welcher abhinge von der organischen Differenz. Dann müßte, was wir durch „Irrationalität der Sprachen“ bezeichnet haben aufgehoben werden können unter den Bedingungen, daß es Beziehungen gäbe für die Differenzen. Allein diese Foderung kann nicht analisirt werden. Die Entstehung der Bilder durch die Sinnesthätigkeit ist das frühere und die Entwickelung der Sprache das darauf folgende und die ersten Anfänge derselben beziehen sich auf die Bilder. Es ist offenbar, daß auf dieselbe Weise wie die menschliche Organisation sich differenzirt in den verschiedenen Regionen sich auch die übrigen Organisationen differenziren (die Athmosphäre)[.] Es ist also schon im Voraus gegeben, daß die Differenz der Sprachen nicht nur abhängt von der Differenz der Organisation, sondern auch von der Differenz der Gegenstände unter welchen die Organisation gestaltet | ist. Es ist wahr, die Welt wird erst eine gemeinsamere durch die Gemeinsamkeit der Erkenntniß; und diese beruht wieder auf den Mittheilungen durch die Sprache. Die Aufgabe 25 auflösen] über zerlegen

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stellt sich also hier so. Von der Voraussetzung der Identität des denkenden Prinzips ist das Ziel die Gemeinsamkeit des sich selbst gleichen Wissens. Wir werden zugeben, daß wenn die Sprachen schon different sind auch auf allen solchen Entwickelungsstufen, wo die Richtung der Sprache erst anfängt auf das eigentliche Wissen zu sehen, das Ziel nicht erreicht werden könne als durch die Gemeinschaft der Sprachen. Wir kommen also hier auf denselben Punkt. Denn abgesehen von der Foderung einer durchaus allgemeinen Sprache müßte man sagen, es liegt in der Natur, daß Verbreitung von Identität eines gemeinsamen Lebens und einer gemeinsamen Sprache wesentlich zusammenhänge und alle Differenzen in den Verkehrsverhältnissen seien gegründet in der Differenz der Sprachen und eine Ausdehnung des menschlichen Lebens über diese Gränzen sei durch die Gemeinsamkeit der Sprache bedingt. Von der entgegengesetzten Voraussetzung aus entsteht die Aufgabe in Ermangelung einer solchen Reduktion der Sprachen auf einander, eine Gemeinschaft derselben zu finden, wodurch auch die Irrationalität derselben nicht gänzlich aufgehoben werde, sondern bis auf jeden beliebigen Punkt aufgehoben werden könne. Es ist nun offenbar, daß wo die Richtung auf das Erkennen, das gemeinsame Leben bis auf einen gewissen Grad durchdrungen hat, daß da sich diese Aufgabe immer zu realisiren anfängt, das Bestreben das differente Erkennen mitzutheilen und die Differenzen aufzulösen. Dieses Bestreben ist das Zeichen von der Identität des Prinzips und der Wahrheit der Richtung auf das Wissen. Die mannigfaltigen Versuche zu einem allgemeinen Bezeichnungssystem es sei durch Laute oder durch sichtbare Zeichen, welche sich öfter wiederholt haben und immer von der wissenschaftlichen Richtung ausgegangen sind haben nie einen Erfolg gehabt. Die Idee einer allgemeinen Sprache kann kein anderes Fundament haben als daß sich alle Differenzen durch die Natur auf den verschiedenen Theilhabern gleichmäßig verständliche Zeichen zurückführen lassen. Es ist aber eben deßwegen unmöglich dieselben durchzuführen, weil man sich hier an nichts wenden kann als an die ursprünglichen Bilder, in denen schon das Unübertragbare liegt. Wenn nun aber beide einseitigen Voraussetzungen insofern auf ein Resultat führen, daß sie sagen, es lasse sich 7–8 abgesehen] Abgesehen

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29 sich] man

13–14 Zusatz SW III/6, S, 177–178: „Aber dies ist grade das untergeordnete, wo die Verschiedenheit der Sprachelemente wieder aufgehoben werden kann durch die Vorführung der Gegenstände und damit die Verständigung beginnt; es ist das Gebiet, wo die Combinationen am leich|testen zur Darstellung gebracht werden können durch symbolische Handlungen, so daß es daher auch Wörter giebt, bei denen alle Verträge im Verkehr an gewisse symbolische Handlungen geknüpft sind.“

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die Aufhebung der Differenzen nur durch Approximation erreichen, so ist dies der eigentliche Punkt, von welchem aus sich der Gegenstand allein übersehen läßt. Dies führt uns wieder auf das einzelne Leben zurück; denn diese Gemeinschaft der Sprachen realisirt sich zunächst in dem Einzelnen. | Wie verhält sich das Denken desselben Menschen in verschiedenen Sprachen? So wie wir uns denken können es kann dasselbe Individuum auf eine ebenso ursprüngliche Weise auch in einer fremden Sprache produziren, so sind verschiedene Sprachen in demselben eins geworden und es ist dasselbe Denken als das Denken desselben Individuums, welches sich in verschiedenen Sprachen realisirt. Die Irrationalität verschiedener Sprachen müßte daher durch die Combination aufgehoben sein und man müßte von denselben Sätzen, wie man in verschiedenen Sprachen sich ausdrückt, als Glied der Gedankenreihen eine subjektive seiend, [sagen] sie wären zwar in den Elementen im Einzelnen verschieden, aber durch die Combination in dem Akt des Denkens wieder eins. Stellen wir uns Jemanden vor welcher in allen menschlichen Sprachen auf eine gleiche ursprüngliche Weise denken könnte, so wäre darin die vollkommne Lösung des ganzen Widerspruchs. Dächten wir uns nun, dieser nun, wüßte zugleich Alles d. h. die ganze Außenwelt und die ganze Geistesthätigkeit wäre in ihm abgebildet in der Form des Denkens und er kann die Gesammtheit seines Wissens in allen Sprachen auf gleich ursprüngliche Weise niederlegen, so wäre hier die Differenz des Denkens zugleich aufgehoben und gesetzt. Ist dies aber möglich? Wir kommen hier noch auf eine andere Art die Sprache zu betrachten. Es besteht immer noch unter uns eine Darstellung der Gedanken in nicht mehr lebenden Sprachen, die also in Beziehung auf diese Aufhebung der Irrationalität nicht mehr thätig sind, es aber auch waren, so lange sie gebraucht wurden. Wir haben davon ein schlagendes Beispiel an dem Verhältniß der Latinität und Gräzität. Das Einmischen fremder Wörter war die unvollkommne Form. Denken wir uns also die Aufgabe, es soll Jemand die Gesammtheit seines Wissens in einer solchen Sprache niederlegen und auf der andern Seite in einer Sprache, welche wie die seinige, in einen Verkehr mit allen Sprachgebieten aufgenommen ist, so ist die Aufgabe im ersten Falle weit schwieriger als im 2ten. Die erste Sprache ist abgebrochen und wenn man in ihr nicht erfinden will, was nicht möglich ist, so kann man auch nicht die Auflösungsmittel finden für solche Gegenstände, welche von einer ganz differenten Organisation, von einem ganz verschiedenen Gesichtspunkt ausgegangen sind. Im andern Falle sind die Sprachen in einer beständigen Approximation gegen einander begriffen und also denken wir uns die 30 Latinität] Lanitität

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bestehenden Sprachen immer fortbestehend und sich immer weiter in dem intellektuellen Gebiete entwickelnd, muß es auch immer möglich werden, den Übergang aus dem Denken in die Sprache, verschiedene Sprachen zu assimiliren. Nur wenn wir uns fragen, wie sich das gestalten wird, so kann es damit nicht seine Bewandniß haben, daß diese | Auflösung erfolge in dem Umfange eines einzigen Satzes. Was ist das eigentliche Resultat? Die Voraussetzung der Identität des denkenden Prinzips in allen Menschen und die Richtung auf eine Identität des Erkennens in Allen ist eine Glaubenssache. Darunter verstehen wir nämlich, es ist eine allen Menschen wesentliche Gewißheit, welche beständig das Prinzip ihrer Handlungsbestimmungen ist, deren Wahrheit sich aber auch nur dadurch, daß sie dies ist realisirt. Wenn wir die Abstufung recht festhalten in der Persönlichkeit, daß wir uns nicht nur einen einzelnen Menschen als eine Person als ein auf eine eigenthümliche Weise bestimmtes Einzelwesen denken sondern auch die Völker in allen ihren Abstufungen, so ist das Individuelle unter der Form des Universellen unauflösbar; aber wir sind beständig in dem Prozeß begriffen uns dieselben durch eine Approximation anzueignen. Das sich so in eine Sprache Hineindenken, daß man die Irrationalität derselben sich fast aufheben kann ist dasselbe Verhältniß, in welchem jeder einzelne Mensch zu jedem einzelnen Menschen steht; es liegen dieselben Operationen dabei zu Grunde. Wenn wir nun bedenken, wie weit wir noch von diesem Ziele entfernt sind, die Deutungsweise verschiedener Völker in unserer Art und Weise aufzulösen, so sind wir noch weit davon entfernt in einer Sprache das Wissen darzustellen, daß wir behaupten können es werde dasselbe bleiben. Was wir nun so sagen können, wenn wir eine bestimmte Gedankenreihe setzen [so können wir] dies auch wenn wir die Totalität des Denkens in einer Sprache uns zum Gegenstand machen. Eine Identität des Gehaltes wird es geben können, indem die Gesammtmasse aus differenten Elementen doch sich gleich zu stehen kommt. Die Identität des Wissens ist nur in denjenigen, wenn man sie an einem einzelnen Ort suchen will, welche den Totalprozeß des Denkens in Allen Sprachen rein aus sich heraus vollenden können und in diesem wird das Bewußtsein 34 sich] ihnen 5–6 Zusatz SW III/6, S. 180: „sondern nur in der ganzen Gedankenreihe.“ 21– 22 Zusatz SW III/6, S. 180: „Die Idee von einem Wissen, welches nicht in den Grenzen einer bestimmten Sprache eingeschlossen sondern ein gleiches für alle sein soll, beruht lediglich darauf, daß diese Approximation immer mehr realisirt wird.“ 30–31 Zusatz SW III/6, S. 180–181: „Aber die lezte Operation wird dann erst recht approximativ, wenn man in der andern Sprache zugleich denkt, so daß man | also die Totalität des Denkens in einer Sprache sich zur Aufgabe machen müßte, um aus einer Sprache in die andre zu übersezen.“

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sein, daß die Complexität dasselbe ist. Die Totalität des Wissens würde dies sein, d. h. das Wissen um die Welt. Wenn wir zurückgehen auf den Ursprung, so ist die Idee des ganzen Prozesses nur in der gegenseitigen Anerkennung der Idee des Denkens in den verschiedenen Sprachen, aber dieses Verfahren muß einen Beziehungspunkt haben und dieser ist die Idee der Welt. Wäre diese an und für sich verschieden als Zielpunkt aller Richtung auf das Wissen in ältern Sprachen, so würde die Identität des Wissens 0 sein, aber dies gilt nur von der qualitativen Beschaffenheit der Sprache. Nehmen wir die Idee der Welt immer auch in allen Sprachen durch ein einfaches Zeichen ausgedrückt, so wäre es ein Sprachelement, welches auch in allen Sprachen gleich sein müßte. Gehen wir von hier aus, so ist es natürlich zu sagen, es muß noch ein anderes Element geben, welches sich eben so verhält. Wenn wir die ganze Funktion des Denkens in dieser Richtung auf das Innere betrachten, so werden die Gegenstände dieser Differenz mit der erst das Denken beginnt erst in diesen | Prozeß aufgenommen. Wenn wir uns denken die Identität des Denkens in diesem relativen Gegensatze zu dem sinnlichen Vorstellen, dessen Resultat nur die Bilder sind, so ist dies dasselbe, insofern alle das Sein als dasselbe setzen. Wenn dies nun auch in jeder Sprache durch ein eigenes Zeichen gefaßt würde, so sind dies die beiden Zeichen, welche durchaus identisch sein müssen. Wir werden dies ebenfalls erreichen, indem wir das, was das Geschichtliche in dieser Entwickelung ist vergessen. Vergleichen wir z. B. die beiden Zeichen „Welt und Welt und κοσμος“ so sind sie geschichtlich betrachtet ganz verschieden; wenn wir sie aber rein auf ihren Gegenstand beziehen werden wir die Identität zugeben. Alle Sprachen sind nichts anderes, als eine eigenthümliche Art, diese beiden Elemente in einander aufzulösen, das einfache welches in dem Sein liegt und die Totalität, welche in Welt liegt. Die Vollendung des Denkens ist nichts anderes als die Vollendung dieser beiden Elemente in ihrer Beziehung auf einander. Das Geschichtliche wird hier ein anderes Resultat geben bei einem schwankenden oder langsamen Exponenten. Die reine Gemeinschaft des Wissens ohnerachtet der Differenz der Sprachen kann nichts sein als die Tendenz auf die Vernichtung dieser Differenz. Sie kann aber nur realisirt werden als es viel oder wenig Einzelne giebt welche sich in ihren Denkoperationen bis auf einen gewissen Grad von der Organisation des Geschichtlichen lösen und sich in einer fremden Sprache orientiren 9–10 die Idee der Welt] sie

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15–17 Vgl. SW III/6, S. 181: „so ist der Gegenstand dieser Differenz, mit der erst das Denken im eigentlichen Sinne beginnt, das Sein.“

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können wie in ihrer eigenen. Bringen wir dies zurück auf die allgemeine Intelligenz und das Besondere der Seele, so ist diese Beschaffenheit des Denkens nichts als die Combination von Jenem in Dieser. Will man einen andern Weg einschlagen, um diese Funktion psychologisch zu verstehn so thut man etwas, wovon wir keinen Begriff haben. Unser Begriff von dem sich selbst verstehen ist in Beziehung auf die Denkfunktion in diesem erschöpft. Wir haben zuerst das Subjektive und das Objektive der aufnehmenden Thätigkeiten, so wie dieselben sich als Sinnesthätigkeit manifestirten, neben einander gestellt, als von einem Indifferenzpunkt ausgehend zu der Sonderung des Bildes und der Empfindung. Mit dem letzten sind wir aber noch nicht weiter gekommen als daß in jeder aufnehmenden Thätigkeit durch die Sinne zugleich ein Element auf das subjektive und objektive Bewußtsein ist. Nun aber haben wir mit der objektiven Seite des sinnlichen Bewußtseins in Verbindung die eigentliche Denkfunktion als eine höhere Potenz desselben aufgestellt. Giebt es ein gleiches Verhältniß auf der subjektiven Seite des Bewußtseins oder nicht? Das subjektive Bewußtsein war nur Bewußtsein von bestimmt einander relativ entgegengesetzten per|sönlichen Lebenszuständen, welche durch das Verhältniß der Rezeptivität der Seele zu dem Außeruns bestimmt wurden. Wir unterschieden da den allgemeinen Sinn und die speziellen Sinne, welche spezielle Relationen der einzelnen gleichsam Öffnung unseres Seins gegen das Außeruns aussagen und also Zustände des einzelnen Sinnes in sich enthalten. Hier haben wir nun nur erst einen sehr engen Kreis und wenn wir fragen, geht alle Empfindung in diese Resultate aus der Thätigkeit der allgemeinen und einzelnen Sinne auf, so giebt es Vieles, wovon sich dies schwer sagen läßt, so daß also hier eine Andeutung von einem ähnlichen Verhältniß wie dort liegt. Allein man darf sich nicht durch die Symmetrie, welche sich bei einer Operation des Denkens ergiebt bestechen lassen. Das triebe auch leicht dagegen wenn wir sagten, es entsteht nur eine höhere Potenz des subjektiven Bewußtseins. Wollten wir daraus gleich auf das richtige Erkennen [schließen], wäre das eine Übereilung. Was haben wir in unserer Empfindung, was nicht durch jene Sinnesthätigkeit bestimmt wäre? Es giebt rein leibliche Empfindungen, [die] aber nicht von Außen bestimmt erscheinen; sie erscheinen als Aussagen über Differenzen der Zustände, welche sich von Innen heraus entwikkeln aber auf der leiblichen Seite. Es giebt Ungleichheiten in dem Blutumlauf, welche uns nicht erscheinen auf eigentlich eine Weise von Außen bestimmt, aber sie geben differente Lebensgefühle. Denken wir uns ein Retardiren und ein Acceleriren desselben, so werden wir ent23 Öffnung] Öfnung von

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gegengesetzte Lebensgefühle haben und dies ist offenbar ein subjektives Bewußtsein. Hieran reihen sich viele analoge Fälle. Manche pflegen die Ausdrücke Empfindung und Gefühl zu unterscheiden, daß sie unter Empfindung ein von Außen her bestimmtes Lebensgefühl verstehen, was also ist auf seinen Gegenstand zurückgeworfen worden als zu seinem Woher und auf ein Gefühl von einem Innern her bestimmten Lebensgefühl und des Bewußtseins davon. Wenn wir nun auf den Zusammenhang sehen zwischen der Receptivität und der Selbstthätigkeit und nun alle diese auf die erste Seite stellen, aber den Einfluß derselben betrachten, so wird Jeder es als eine ziemlich allgemeine Erfahrung aufstellen können, daß für den ganzen Lebensverlauf die von Außen her bestimmten Lebensmomente einen weit geringern Einfluß haben als die von Innen bestimmten. Um desto mehr also sind diese ein zu beachtender Gegenstand. Gestaltet sich das noch für uns gleich, daß wir sagen könnten, es sei dies eine höhere Entwickelung des subjektiven Bewußtseins? Nein, sondern wenn wir auf den Anfang des Lebens zurücksehen, werden wir auch hier auf eine Indifferenz zwischen beiden hingewiesen und können uns diesen Anfang gar nicht anders denken. Aber hernach geht beides mehr auseinander und wenn wir jedoch denken an den Gegensatz zwischen den allgemeinen und speziellen Sinnen, so werden die von | Innen bestimmten Äußerungen des subjektiven Bewußtseins eine größere Analogie mit denen des allgemeinen Sinns [haben], als das was dem speziellen Sinn angehört. Ja es kann Fälle geben, wo das Physiologische auf das eine und andere reduzirt werden kann. Was sind nun diese Formen des subjektiven Bewußtseins? Die Cirkulation des Blutes ist eine einzelne Lebensfunktion und es ist ohnehin als der eigentliche Inhalt dieser Formen des Bewußtseins genug gegeben des Verhältnißes der einzelnen Lebensfunktionen zu der Einheit des Lebens in Beziehung auf das Bewußtsein. Wir sind hier immer streng in dem Gebiet des leiblichen Lebens und das Bewußtsein ist nur den einzelnen Sinn in sich selbst findend. Wenn wir nun den Menschen betrachten, indem wir uns nicht mehr das einzelne Subjekt isoliren, sondern ihn nehmen in seinem geselligen Zustand, wo also das Leben aus einer großen Mannigfaltigkeit von Relationen bestimmbar ist, so ist je größer hier die Mannigfaltigkeit, desto größer auch die Mannigfaltigkeit in den einzelnen Momenten des subjektiven Bewußtseins. Das Selbstbewußtsein ist immer nur das Resultat von der Gesammtheit, wie der Einzelne gegen das Außerihm geöffnet ist. Wenn nun in diesem Umfange Alles geschlossen wäre, was uns als Selbstbewußtsein gegeben ist so giebt es hier eine Mannigfaltigkeit; aber eine solche Differenz, wie auf der Seite des objektiven Bewußtseins haben wir hier nicht. Als wir uns neben einander stellten den ganzen Entwicklungsprozeß des sinnlichen Bewußtseins unter der

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Form der Bilder, so setzten diese als unmittelbar mit der Manifestation verbunden, das Gattungsbewußtsein voraus. Nun ist offenbar, das Gattungsbewußtsein muß ebensowohl seine subjektive Seite haben, wie es seine objektive Seite hat. Das muß also auch hier etwas geben, was nur das Gattungsbewußtsein unter der Form des Subjektiven repräsentirte. – Wenn wir darauf zurückgehen, daß wir den Menschen als Gattung und als integrirter Theil derselben zu betrachten haben, so ist hier der Einzelne nur als Einzelwesen gesetzt und wir stehen daher auf derselben Stufe, so daß wir jedoch von hier aus einen andern Ruhepunkt haben. Ob nun eine Förderung oder Hemmung des einzelnen Lebens entsteht durch das Verhältniß zu einem andern Menschen oder einem andern Gegenstand ist dasselbe. Geht der Einzelne von der Voraussetzung aus, daß ihm ein anderer Einzelner fremd ist, so ist es ganz dasselbe, ob von einem Thiere die Gefahr besteht. In dem andern Einzelnen wird aber die menschliche Natur gesetzt und das Verhältniß auf das Gattungsbewußtsein bezogen. Wir finden also hier die Analogie mit diesem: wie als uns die Denkthätigkeit in ihrer Identität mit der Sprache schon einzugreifen schien in das System der Bilder, erklärten wir uns die Richtung auf die Mittheilung. Ebenso, wenn der Lebenseindruck, welchen ich von einem Einzelnen empfange, nicht bestimmt wird durch das Verhältniß seines Einzelnen | zu dem meinigen, so ist dies ein ganz anderes. Wenn wir uns auf der Seite des subjektiven Bewußtseins auf eine allgemeine Formel zurückbringen wollen, so ist [es] der Unterschied zwischen selbstischen Empfindungszuständen, welche durch den geselligen Zustand bedingt sind, und den eigentlichen [geselligen] Empfindungen des subjektiven Bewußtseins. Wenn wir nun diesen Unterschied uns von einem recht prägnanten Fall anschaulich machen wollen, so ist dies das Gebiet, welches man durch den Ausdruck vermischte Empfindungen bezeichnet hat. Das subjektive Bewußtsein trägt wesentlich den Gegensatz in sich des Angenehmen und Unangenehmen, unter dem jede Erregung des Selbstbewußtseins sich unmittelbar an eine frühere anschließt, selbstische Empfindung. Beziehungen geselliger Verhältnisse für den Verlauf des Einzelnen als solchen müssen verschieden [sein] von den Empfindungen welche von einem Andern veranlaßt sind. Wenn wir die geselligen Empfindungen in dem eigentlichen Sinn betrachten, so ist hier nicht die Nothwendigkeit, aber die Möglichkeit einer Duplizität, welche auf jenem Gebiet gar nicht statt findet. Man hat sich das gewöhnlich anschaulich gemacht, an denjenigen Empfindungen welche wir „Mitleid“ nennen. Hier entsteht eine Theilnahme an der subjektiven Bestimmtheit eines Andern, ohne daß wir in derselben Lebenshemmung verflochten wären; nur dadurch, daß wir sein Selbstbewußtsein zu dem unsrigen machen. Das Gattungsbewußtsein ist

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hier vorwaltend. Denken wir nun, daß derselbe Einzelne vorher in einem rein auf sein Einzelwesen als solchen sich beziehenden Lebensverlauf begriffen gewesen wäre, so erhalten wir hier eine Erweiterung des Selbstbewußtseins, also eine Erhöhung des Lebensgefühls an sich, indem wir das Gleichartige als solches in unsere Lebenseinheit mit aufnehmen; in dieser Erweiterung setzen wir aber zugleich eine Lebenshemmung und es sind also hier beide Seiten des Gegensatzes in ein und demselben Moment eins, aber nur in verschiedenen Beziehungen, und deßhalb nennt man sie vermischte Empfindungen. Es ist nicht immer der Fall gewesen, daß dieser Gegenstand so behandelt wäre, daß man das Charakteristische davon gehörig hervorgehoben hätte. Wenn wir zurückgehen auf das Gebiet des Einzellebens an und für sich, auf das Selbstische und betrachten die Aufeinanderfolge entgegengesetzter Momente der Affektionen des Selbstbewußtseins und also den Übergang aus Lust in Unlust und umgekehrt, so sind dies entgegengesetzte Größen und der Übergang scheint also durch 0 gehen zu müssen. Dies ist aber in dem Lebendigen nicht möglich, weil jedes eine Dauer hat und in dieser Dauer festgehalten wird. Denke ich mir also 2 von Außen bestimmte allgemeine Momente, der eine wodurch ich angenehm affizirt bin, der andere wodurch ich von einer andern Seite unangenehm affizirt bin, so muß der 2te eintreten, während der erste noch ist. Angenehm und Unangenehm sind da zugleich, aber auf welche Weise? So daß eins von beiden abnehmen muß. | Die angenehm fortlaufende Empfindung kann die eintretende unangenehme unterdrücken und umgekehrt. Es ist hier also keine Vermischung, denn es bleibt Beides gesondert. Ein Anderes ist es, wenn wir uns denken eine solche Aufeinanderfolge in derselben Funktion. Dadurch entsteht der Zustand einer entgegengesetzten Schwingung in derselben Funktion. Es wechselt dann mit einander aber in so unendlich kleinen Zeittheilen wechselt dann das Unangenehme und Angenehme, bis es allmählich verschwindet und das andere die Oberhand behält. Dieser Doppelzustand trägt immer von Anfang an den Charakter seines Ausgangs in sich, ohnerachtet der auf einander folgenden Momente. Wogegen auf dem Gebiet, welches wir jetzt im Auge haben, die Sache sich ganz anders stellt. Wir setzen in uns die Lebenserweiterung, indem wir aus einem Zustand bloß selbstischer Bestimmtheit des Selbstbewußtseins in eine Bestimmtheit desselben als Gattungsbewußtsein ausgehn. So wie uns eine Veranlassung zu einer solchen Bestimmtheit des Selbstbewußtseins als Gattungsbewußtsein entsteht, vermöge des Einflusses von Einzelnen, so haben wir hier gekanntes durch ein anderes gesetzt. Wenn wir nun sagen, der natürliche Aus23 welche] diese

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gang der Empfindung ist immer in den Bewegungen des Begehrens, in der Reaktion auf das die Empfindung Veranlassende, so können wir uns hier nur denken, das Festhaltenwollen des erhöheten Lebensgefühls. Ist es nun bloß ein gehemmter Zustand eines Andern, worin ich dies habe, so will ich keineswegs, daß der gehemmte Lebenszustand des Andern fortdauern soll, weil ich darin das erhöhete Lebensgefühl habe, sondern ich weiß, daß ich es bei dem Aufhörn desselben auch habe. Ich will also den Gegensatz, beide Seiten auf gleiche Weise mit dem erhöheten Lebensgefühl zugleich, d. h. ich setze auch wieder in der Indifferenz des Angenehmen und Unangenehmen das Gattungsbewußtsein. Aber [dies] habe ich nun, indem ich das Selbstbewußtsein des Andern behandle wie mein eignes und indem ich dieselbe Tendenz habe die Lebensförderung festzuhalten, wie mein eigenes. Es ist also hier nur das Zusammensein der beiden verschiedenen Stufen des Selbstbewußtseins. Wir haben also hier in der That das Gegenstück zu jenem und sobald in der Reihe der bloß auf das Einzelwesen gerichteten [ ] so ist auf der Seite des subjektiven Bewußtseins dasselbe geschehn, was auf der Seite des objektiven geschieht, indem die Denkthätigkeit hervortritt in dem Verlauf der Sinnesthätigkeit. Der erste Anfang trifft so nah als möglich mit dem Anfang des Lebens selbst zusammen; das Zusammensein der verschiedenen Stufen erscheint jedoch auch als ein minimum[.] | Wir finden sehr bald in den Neugebornen, ein Erregtwerden durch das Menschliche in der Form des subjektiven Bewußtseins. Dies ist unmöglich das Gattungsbewußtsein in seinem Gegensatz gegen das Einzelne; aber erst allmählig ist es auch ein sich selbst gegen Alle Öffnen; ursprünglich ist es nur in dem was mit dem Einzelleben unmittelbar zusammenhängt. In dem Embryonischen ist ein Leben gesetzt, aber nur im Zusammenhang mit einem andern, welches durch die Geburt aufgehoben wird. Wenn wir aber nun bei dem natürlichen Zustand stehen bleiben, daß die Mutter das Kind nährt, so ist darin doch immer noch die Abhängigkeit des organischen Lebens von dem, worin es früher als Theil enthalten war und hierin finden wir die erste Spur eines sich entwickelnden Gattungsbewußtseins, die nicht von dem Persönlichen gesondert ist. Indem sich das Leben selbst in Beziehung auf die Bedürfnisse erweitert, erweitert sich auch das Anerkennen des Menschlichen, aber die Begränzung desselben ist lange zu erkennen, indem die Kinder fremde Gesichter von sich stoßen. Dies ist derselbe Zustand, den wir hernach auch in menschlichen Gesell16–17 gerichteten] gerichteten Em es folgt ein Spatium von einer knappen Zeilenlänge, zu ergänzen wohl Bestimmtheiten des subjektiven Bewußtseins das Gattungsbewußtsein eintritt (vgl. SW III/6, S. 188)

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schaften finden, die aber in Beziehung auf das Gattungsbewußtsein noch im Zustand der Kindheit sind. An diese Erscheinungen nun hat sich von jeher eine solche Erklärungsart geknüpft, welche das Gattungsbewußtsein nicht als eine höhere Potenz von dem Selbstbewußtsein anerkennen wollte. Es wird aber gleich deutlich die Analogie dieser Ansicht mit einer andern auf der objektiven Seite, welche die ganze Denkthätigkeit auf den Complexus der Bilder bezog. Es wird aber Niemand geneigt sein den Unterschied anzunehmen, [zwischen] dem selbstischen, durch den Zustand der Empfindung veranlaßten und dem geselligen. Der Zustand in demselbigen affizirt als eine Lebenshemmung durch den geselligen Zustand. Ist diese Lebenshemmung des Einzelnen für den geselligen Zustand ein förderndes, so werden sich hier entgegengesetzte Resultate geben. Denn in der QpersönlichenR Hinsicht, [wird] eine Freude an der beförderten Gesammtheit gar nicht aufkommen. Diese Verschiedenheit wäre nicht möglich zu erklären von jener Ansicht aus, außer daß man sagte, das Letzte wäre eine bloße Täuschung. Es entwickelt sich also in seinem ersten Anfang nur so; daß das Selbstische und das Gemeinsame von einander nicht bestimmt getrennt werden kann. – Die erste Anerkennung des Menschlichen außer sich selbst und das Fremde daran ist in dem ersten Verhältniß des Kindes die Mutter und hiebei liegt die vorhergegangene Identität des Lebens noch zu Grunde, die sich noch fortsetzt. Es fragt sich nun, ob anzunehmen ist, daß alles gesellige Gefühl eine ähnliche Wurzel in dem Bewußtsein einer solchen Lebensidentität habe? | So lange wir in der Familie sind, haben wir denselben Boden; die Verwandschaft ist nur eine Erweiterung desselben. Überall wird die Erinnerung an eine gemeinsame Abstammung, seine Form einer Cohäsion von einer Masse von Einzelleben aus derselben Quelle finden. So wie wir bei dem Gegensatz stehn bleiben, worin sich eine solche Einheit findet, so wachsen die verschiedenen Stämme zusammen, immer auf dieselbe Weise. Wenn wir bei dieser Entwickelung allein stehen bleiben, wo wir sagen, es ist überall die Geselligkeit hervortretend, aber nicht gelöst von der Identität mit den einzelnen Persönlichkeiten, so hat dies eine große Analogie mit dem, was wir auf der Seite der objektiven Thätigkeiten finden, wo wir die ganzen Denkfunktionen an den Complexus der Bilder knüpften und daraus 6 der] der Seite der 26–27 Zusatz SW III/6, S. 191: „in den Völkern lebt das Gedächtniß der gemeinsamen Abstammung, die verschiedenen Stämme wachsen auf dieselbe Weise zusammen zu größeren Gemeinschaften und in der Analogie ihrer Sprache und Sitten erkennt man die Verwandtschaft.“

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erklärten. Können wir hier etwas Ähnliches aufstellen? Das Selbstische, Persönliche entspricht dem, was dort die Bilder waren und wir müssen also auch hier auf die Denkthätigkeit zurückgehn, ob wir hier ein ähnliches Element finden, wodurch die Entwickelung des subjektiven Bewußtseins der Persönlichkeit gelöst erscheint. Die größte Erweiterung beruht auch auf einem Bilde. Wir nennen das Alles so weit wir auch hinaufsteigen, ein Einzelnes. Es liegt also ein Bild zu Grunde, welches von Allein auf dasselbe zurückgeht. Das können wir nur denken, wenn das Menschliche als Fremdes abgestoßen wird, immer noch auf das Gesellige vertrauend und dies begränzend. Dies ist die natürliche Gränze, welche die Entwickelung nach derselben Seite hin findet. Liegt hiebei der Begriff der Menschheit zu Grunde? Nein, denn dann wäre ein solches Abstoßen nicht möglich. Denken wir uns aber das subjektive Bewußtsein durch denselben Begriff bestimmt und ein Dasein aus einem QCorridorR der Zusammengehörigkeit sich entwickeln, so finden wir auch auf der Seite des subjektiven Bewußtseins das Gattungsbewußtsein sich bestimmen. Ja es giebt gewisse geschäftliche Erscheinungen, welche nur zeigen, wie die ganzen Formationen von allgemeinen Vorstellungen sich ändern, so wie der Begriff hineintritt in alle Gegensätze der Zusammensetzungen. So bald der Begriff hier eintritt auch noch in einem unvollkommnen Zustand, ändert sich die ganze Bildung eines geselligen Bewußtseins. Wir können dies an einem einzelnen, aber sehr ausgedehnten Fall, am besten uns zur Anschauung bringen. Diese Thatsache ist nämlich die Entwickelung der religiösen Verhältnisse. Es wird freilich nicht leicht deutlich zu machen sein, besonders auf den untergeordneten Prozessen, daß hier ein solches Prinzip das waltende ist, welches auf den Begriff zurückgeht. Ursprünglich zeigt sich nur hier, was zurückgeht auf ein Verhältniß, in welchem alle andern Unterschiede sich verlieren und womit das | Familienleben zusammen hängt. Hernach finden wir oft auch ein solches Zusammenwachsen aller derjenigen Thätigkeiten welche Äußerung des religiösen Verhältnisses sind, woraus uns entsteht die Anerkennung jener Identität nur in einem größern Umfange. So wie wir aber auf solche geschichtlichen Punkte kommen, wo sich Völker in Beziehung auf das religiöse Element theilen, müssen wir voraussetzen, daß das Prinzip nicht an diesem Selbstischen haftet, sondern daß es zu einer Entwickelung gekommen ist, die sich davon ganz gelöst hat. Ebenso organisiren zwei Völker eine neue Gemeinschaft, während andere Theile desselben Volks, in einer andern religiösen Gemeinschaft leben. Es sind also hier ganz verschiedene Prinzipien. So wie wir aber die Tendenz finden sich entwickeln zu einer Weltreligion, also die Dif32 uns] uns uns

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ferenzen aller Differenzen der Abstammung einem solchen geselligen Bewußtsein unterzuordnen, so haben wir darin die positive Seite. Wir haben diese ganze Entwickelung vollzogen ohne uns über das Wesen des religiösen Elements zu erklären, dies war aber nicht nöthig, außer daß es ein Entwicklungspunkt des geselligen Verhältnisses sei, welches von aller Abstammung abstrahirt. Es braucht uns hier nicht klar zu werden, daß der Begriff der Menschheit hier dominirt. Wenn wir sagen, das Bewußtsein der Identität des Verhältnisses unseres getheilten größern Seins zu dem Sein schlechthin, dieses ist die Formel für jenes Geselligkeitsverhältniß und jenem Begriff völlig gleich. Nun aber, wenn wir an diesen Punkt gekommen sind und es ist daher unleugbar, daß wir dies an den großen geschichtlichen Erscheinungen der modernen Zeit nachweisen können, wogegen das Alterthum das Religiöse nur in Verbindung mit dem Volksmäßigen zusammenstellt so haben wir eine ganz von dem [ ] gelöste Entwickelung des Geselligen. Es fragt sich, ob wir dasselbe nur unter dieser Form finden? Es bietet sich hier 2erlei dar[:] 1, die Tendenz auf gemeinsame Verhältnisse ohne Unterschied der Abstammung und Zusammengehörigkeit in der Beziehung auf das Verhältniß des Menschen zur irdischen Natur überhaupt, welches voraussetzt ein zurückgetreten sein des geselligen Verhältnisses. Die Abstoßung der Fremden, und also das religiöse Bewußtsein erscheint nur von einem andern Punkt aus. Denken wir nun, wie sich dies allmählig einbildet auf eine solche Bedeutung des Lebens, wo die Bedürfnisse der Selbsterhaltung nicht postuliren, eine solche Überschreitung der Gränzen. Dies verhält sich also wie das religiöse, d. h. nicht mehr in der Analogie mit dem was nach der objektiven Seite das Bild war, sondern der Begriff. | Es giebt hier aber noch ein Drittes, nämlich, die Verhältnisse der Wahlanziehung und Wahlverwandschaft Einzelner gegen einander. Wir bedienen uns dieses Ausdrucks im Gegensatz gegen jenen, das Bewußtsein einer ursprünglichen Identität des Bewußtseins. Wenn wir hier sagen wir finden überall, daß sich neben jenem Verhältniß, solch ein anderes entgegengesetztes Verhältniß der Wahlanziehung und der willkürlichen Abstoßung ohne Beziehung auf die Abstammung [findet]. Insofern wir schon in dem Complexus der physischen Zusammengehörigkeit diese Gegensätze finden, so ruhen sie auf einem andern Prinzip. Denn identisch mit jenen könnte man nun sagen, der näher mit mir Verwandte zieht mich so an, also in mein persönliches Geselligkeitsverhältniß. Wenn wir nun finden, daß sie sich ebenso allmählig von allem Volkszusammenhange frei macht, was freilich 15 dem] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl Organischen (vgl. SW III/ 6, S. 193)

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schwieriger ist und nur eintreten kann, wenn schon die Totalität der geschichtlichen Gesammtheit das Verhältniß überschritten hat, so wie Verhältnisse der Geschlechtsliebe und Geschlechtsverbindung vorkommen zwischen Menschen von verschiedener Abstammung, so finden wir hier eine gänzliche Befreiung des Triebes von dem Abstammungsverhältniß, welches unmittelbar das rein Menschliche umstößt. Wir werden nun sagen müssen, dies letztere ist den andern beiden ganz gleich unter der Voraussetzung, daß das Abstoßen nicht eine positive Antipathie ist, sondern nur ein Untergeordnetsein anderer Verhältnisse, also ein relatives, daß dies in jenen beiden auf dieselbe Weise entgegengesetzt so dem geselligen Bewußtsein insofern es an den Naturverhältnissen des Einzellebens haftet. Es giebt aber Zustände wo wir in einem gewissen Umfange das gesellige Bewußtsein entwickelt finden, aber nur das Verwandte fühlend, das bloß Menschliche abstoßend. Darin ist eine positive Antipathie, aber doch nur in der Negation. Es entsteht nun dies, daß der Andere nicht mein Stammgenosse ist. Es läßt sich nachweisen, daß hiebei doch schon auf eine deutliche Weise das Gattungsbewußtsein zu Grunde liegt, weil das Verhältniß gegen das fremde Menschliche doch immer ein anderes ist als gegen das ungezähmte Thierische. Wenn nun das Gesellige sich in größern Kreisen entwickelt, aber diesen Gegensatz behält, so fassen wir dies unter den Nationalhaß. Dasselbe finden wir auf dem religiösen Gebiet, in Beziehung auf die geselligen Verhältnisse. Es fehlt also hier auch noch an dieser Entwicklung. Wo wir aber nun finden eine beschränkte | Wahlanziehung zwischen Einzelnen ist das Prinzip bestimmt entwickelt, welches jenen Gegensatz aufhebt, aber es ist auch naturgemäß, daß sich das nur auf diese Weise entwickelt, wenn zugleich das gemeinsame Verhältniß zur irdischen Natur von allen positiven Gegensätzen frei ist. Es ist dieselbe Richtung, welche darauf ausgeht diesen Gegensatz aufzuheben und es ist also das reine Menschheitsbewußtsein welches den Gegensatz vernichtet und die Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen Einzelnen faßt, wo das Bewußtsein in Allen dasselbe ist. Der Gegensatz von der Wahlanziehung, die Wahlabstoßung ist nur ein relatives, das Unterworfenwerden von diesem unter Jenes hat erst die volle Entwickelung des Geselligen in sich. Das gesellige Gefühl in seiner ganzen Vollständigkeit und in der Trennung von dem was sich auf einzelne Personen bezieht, ist da, wo sich kein Gegensatz mehr findet zwischen dem Menschlichen und dem Außerihm. Dies ist am vollkommensten in dem religiösen geselligen Gefühl, besonders in den Religionen, welche die Tendenz haben Weltreligionen zu werden. Wir haben es aber auch gefunden 33–34 Wahlanziehung] Wahlanstoßung

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in dem persönlichen Verhältniß zwischen Einzelnen, sowohl denen, welche auf das Geschäftsleben, als auch in solchen, welche auf das unmittelbare Verhältniß des Subjekts ausgehn. Wir finden überall denselben Charakter, wo die Verbindung zwischen 2 Einzelnen durch nichts Anderes durchgeht. In der Form einer allgemeinen Gastfreiheit d. h. einer Bereitwilligkeit, gegen jedes menschliche Wesen, spricht sich dies aus für Völker, über die das religiöse Gefühl sich nicht zur Allgemeinheit erhoben hat. In dem Gefühl der Freundschaft liegt keine Beziehung auf ein untergeordnetes medium, sondern es ist unmittelbar das Einzelwesen betrachtet in Beziehung auf die Idee der menschlichen Natur. Natürlich müssen aber Schwankungen, welche sie trennen vorher aufgehoben sein als z. B. Differenzen der Sprache. Wenn wir nun diese ganze Entwickelung des subjektiven Bewußtseins bis zu diesem Punkt betrachten, wo man sagen kann, daß das Einzelwesen nur durch die Idee des Menschlichen aber unter der Form des Selbstbewußtseins bewußt wird, so liegen alle Thätigkeiten welche hieher gehören innerhalb dieser Reihe. – Das Religiöse haben wir nur aus dem Gesichtspunkt der Geselligkeit gefaßt; darin liegt schon mit ein begränztes Verhältniß zu der Form des Gattungsbewußtseins in das Selbstbewußtsein aufgenommen. Betrachten wir aber die Natur der Gegenstände welche wir durch den Ausdruck des Religiösen bezeichnen, so sind sie Zustände des subjektiven Bewußtseins. Es ist allerdings nicht zu leugnen, daß der Satz, welchen wir hier als Voraussetzung stellen, daß die religiösen Zustände in das Gebiet des subjektiven Selbstbewußtseins gehören, gar nicht allgemein unter uns anerkannt ist, das hat seinen Grund darin, weil die religiöse Entwickelung, wie sie im | Christenthum daliegt, einen großen Theil des objektiven Bewußtseins zu ihrem Rückhalt hat. Das ist aber nur das Verständigungsmittel über den religiösen Zustand, und [wir] müssen sie davon unterscheiden. Um dies deutlich zu machen gehen wir gerade auf die natürliche Verbindung der Rezeptivität des Selbstbewußtseins und der Reaktion von dieser aus in der Mittheilung. So wie das objektive Bewußtsein erst darauf ausgeht Mittheilung zu werden, in dem Maaße als sich das Gattungsbewußtsein entwickelt und die Tendenz Sprache zu werden ist die erste Funktion von dieser Richtung auf die Mittheilung Ton und Geberde. Bald gesellt sich die Sprache dazu, wie die vollständige Verständigung der innern Bewegung zu der äußern Erregung gehört immer dazu. Die Äußerungen des physischen Schmerzes durch Ton und Geberde haben so ihre Allgemeinheit, daß sie keiner Ergänzung bedürfen; in diesen ursprünglichen Darstellungsmitteln ist 2 welche] welche sich

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also eine Befriedigung der Mittheilung. Denken wir nun das gesellige Element in seiner ersten Entwickelung, so ist der Fall ein ganz anderer. Die Zustände werden hier vermittelt durch eine größere Complikation der Verhältnisse. Der Zusammenhang der einzelnen Bewegungen mit dem Gesammtzustand des Subjektes kann auf diese Weise nicht dargestellt werden. Der Gedanke vom bloßen Begleiter des Tons und der Geberde. Ja wir möchten hier noch etwas antizipiren zur Erklärung aus dem Gebiet der Kunst. Denken wir uns die poetische Entwickelung der Sprache, so hat diese nicht dieselbe unmittelbare Beziehung auf die objektive Seite des Bewußtseins, auf das Denken, als die Prosa. Die Sprache nimmt den Charakter des Gemessenen an, weil sie gebunden ist durch einen Zustand der sich nur durch den gemessenen Ton äußert. Es ist eine entgegengesetzte Ansicht, ob der Gesang das Begleitende ist und die Dichtung das Herrschende oder umgekehrt. Dies gehört in das Gebiet der Kunstlehre. Es giebt Gattungen des Poetischen, wo das Übergewicht des Musikalischen offenbar erscheint. Betrachten wir die Zustände, welche wir durch den Ausdruck Frömmigkeit bezeichnen in ihren einfachsten Formen und wir fragen, wodurch giebt sich die Andacht auf das ursprünglichste zu erkennen, so erkennen wir es ohne alle Sprache durch die ursprünglichen Darstellungsmittel, Ton und Sprache. Nun giebt es gar keine andere psychische Funktion, welche sich durch diese Darstellungsmittel manifestirt als die Bewußtheit des Selbstbewußtseins. Alles Andere erscheint als das Spätere und tritt nur in dem Maaße hervor, als dies ganze Verhältniß sich entwickelt denn da [wird] die Sprache mit angewendet zur Verständigung. | Wenn man nun eine solche andere Erklärungsart annimmt, schreibt man ebenfalls die Frömmigkeit dem subjektiven Bewußtsein zu und sagt der Ursprung ist daß sich der Gedanke der Gottheit entwickelt und die Rückwirkung dieses Gedankens auf das subjektive Bewußtsein wäre dann die Frömmigkeit. Wir finden aber diese innern Zustände auch auf solchen Entwickelungsstufen, wo von einem solchen Gedanken, wie dem der Gottheit noch gar nicht die Rede sein kein. Ja je mehr sich dieser als Gedanke entwickelt, da treten jene innern Erregungszustände mehr und mehr zurück und also sind sie nicht aus dem Gedanken entstanden. Als wir das objektive Bewußtsein in der höhern Form der Denkthätigkeit zu ihrem Gipfel entwikkelten, kamen wir auf 2 Momente zurück, welche uns zugleich als die Gränzmomente erschienen, zwischen welchen alle individualisirten Formen des Denkens liegen, die Idee der Welt und die Idee des Seins schlechthin. Diese beiden oder eins von diesen beiden oder noch etwas 14 und] oder

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Höheres müßte es sein, was auf der objektiven Seite des Bewußtseins als Quelle angesehen werden müßte für die Frömmigkeit. Die Idee der Welt entwickelt sich erst spät klar; Wenige nur erheben sich zu dem Begriff des Seins schlechthin in ihrer eigentlichen Denkthätigkeit und also nur auf der höchsten Entwickelungsstufe kommen diese Erscheinungen zum Vorschein. Nun aber finden wir sie überall, in noch ganz unentwickelten Zuständen. Indem wir aber dies zugeben erschweren wir uns dadurch allerdings die Aufgabe diesen Zweig des Selbstbewußtseins im Zusammenhange mit dem vorigen zu entwickeln. Wir sind also gebunden, nicht die ganze Entwickelung des Geselligen dabei vorauszusetzen und es fragt sich, was das Eigenthümliche von Erregtheit in diesen Zuständen ist. Wir haben es hier mit dem Gattungsbewußtsein nicht zu thun. Es ist nicht eine Beziehung innerhalb des Menschlichen, sondern eine Beziehung des Menschlichen auf ein Anderes. Wenn wir denken an den Polytheismus, welcher verschiedene Formen aufstellt worauf sich die Frömmigkeit bezieht, so hebt sich doch, wenn dies als ein wirklich Menschliches in das geschichtliche Bewußtsein eintritt, der Charakter der Frömmigkeit auf. Es ist etwas Anderes, wenn menschliche Gestalten auf eine symbolische Weise dargestellt werden, um diese innern Zustände zu bezeichnen, so soll sich das Dargestellte beziehen auf etwas außer ihm. Wie finden wir nun einen Übergang aus diesem Kreise in welchem wir bis jetzt in der Entwickelung des Selbstbewußtseins gebannt gewesen sind? Giebt es auch noch andere Modifikationen des Selbstbewußtseins die in dieser Reihe nicht liegen? Wenn wir zu dem Ursprünglichen zurück|gehen, auf das Lebensgefühl, als Förderung und Hemmung, wie es durch Einwirkung auf den allgemeinen Sinn entsteht, so ist hier ausgedrückt eine Beziehung des Einzelwesen auf das Außeruns, aber nichts als das momentane Verhältniß von diesem zu dem Lebenszustand des Einzelnen, sondern bleiben wir dabei stehn, es ist das Verhältniß der leiblichen Oberfläche in ihrem Verhältniß betrachtet zur Athmosphäre, woraus diese Lebensgefühle in ihrer entgegengesetzten Form sich entwickeln, so ist diese Athmosphäre nichts als das Ineinandersein von allen möglichen Einwirkungen des Außeruns. Die Beziehung des Einzelwesens zu dem Außeruns in dem chaotischen Ineinandersein von Einheit und Vielheit ist eine unmittelbare Beziehung zwischen dem Einzelwesen und der Totalität. Wenn wir hiebei stehen bleiben, kommen wir auf eine Form des Selbstbewußtseins, worin es in einer gewissen Verbindung mit dem objektiven Bewußtsein wird, was wir Naturgefühl nennen. Dies finden wir in allen Funktionen bei Einzelnen mehr oder weniger hervorstehen, je nachdem diese einzelnen Einwir13 des] )des*

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kungen auf die Entwickelung des Einzellebens größern oder geringern Einfluß haben. Im Geschäftsleben geht es verloren, d. h. die Empfänglichkeit tritt zurück aus Mangel an Übung und jener allgemeine Sinn wird abgestumpft. Aber wir haben nichts Anderes als eine Beziehung der Naturpotenz in ihrer ungetrennten Allgemeinheit auf das Einzelwesen. Gehen wir weiter finden wir andere Zustände welche ebenso Modifikationen des Selbstbewußtseins sind, sie entwickeln ebenfalls eine Beziehung auf das Außeruns oder die Natur, die aber nicht das Verhältniß des physischen Lebens betreffen, sondern in derselben Beziehung schon mehr auf der intelligenten Stufe stehen. Dies ist das Wohlgefallen, offenbar eine Befriedigung des Selbstbewußtseins in Zusammenhang mit einem Andern. Es ist hier das Wohlgefallen an der allgemeinen Schönheit des Außeruns, aber in der Form des Wohlgefallens ist es nicht mehr eine Überlegung, nicht mehr ein Gedanke oder eine Gedankenreihe, sondern eine Wirkung von diesem in dem Selbstbewußtsein. Es ist hier immer der unmittelbare Eindruck das primitive; hernach fangen wir oft an davon Rechenschaft zu geben und ihn in seine einzelnen Momente zu zerlegen, zu fragen, was die Ursache des Wohlgefallens sei usw. Fragen welche wir oft nicht beantworten können. Es ist | nun ein so allgemeiner Typus, daß wir wenigstens nicht dem entgehen können, denselben in unsere Betrachtung zu ziehen, daß man das Selbstbewußtsein in 2 Zweige zerlege, in den Eindruck welchen das Schöne macht und den Eindruck, welchen das Erhabene macht. Das erste ist das Wohlgefallen an einem ganz ungetrübten Zustand und in der Übereinstimmung des Erregenden und Errregten. Bei dem Erhabenen ist der Eindruck verbunden, wenn auch nicht mit einem Bewußtsein von Lebenshemmung doch damit, daß wir dem Außeruns etwas über uns einräumen und uns demselben unterwerfen. Es ist aber eben die Unbestimmtheit die noch immer in der Begränzung des Sprachgebrauchs liegt, weßwegen wir die Sache nur herbei führen als eine Ansicht desselben Gegenstandes, ohne die Art und Weise sie zu trennen im Voraus zu rechtfertigen. Es ist hier ein Vorherrschen des rein Leiblichen, während der Empfindungszustand bei dem Schönen nicht eine Aussage ist über das Leibliche Befinden. Um nun dies zu erlangen können wir nicht [an] demselben wieder anknüpfen, sondern einen Punkt nehmen, wo der Gegensatz schon mehr entwickelt ist. Wir haben uns dabei schon des Ausdrucks „Natur“ bedient (es fragt sich nur, wie das Geistige darin aufzufassen sei[)]. So wie ein Ganzes der Wahrnehmung von einer solchen Art, daß die einzelnen Gegenstände bestimmt unterschieden werden können, gegenüber Denken, können wir einen solchen Empfindungszustand entwickeln. Es fragt sich unter welchen Umständen und was der eigentliche Gehalt dabei ist. Jedes solche Ganze der Wahrnehmung, es

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mag uns nun als solches gegeben sein, oder wir mögen es begränzen, ist ein Theil des gesammten Außerunssein und hierauf wurden wir getrieben durch die Aufgabe, das religiöse Gebiet des Selbstbewußtseins als in Beziehung eines Außer Menschlichen zu setzen, auf das Bewußtsein insofern es durch das Außeruns bestimmt wird. Aber es könnte nicht angeknüpft werden an das Bewußtsein welches bestimmt ist als solches, sondern insofern ein geistiges darin. Stellen wir uns also einen Theil des Seins gegenüber so wird hier ein objektives Bewußtsein vorausgesetzt und Alles, was wir mit dem Ausdruck Sinn für Natur bezeichneten, ist zunächst immer auf die Gestaltung gerichtet, aber nicht in ihrer nothwendigen Beziehung und so werden wir zurückgetrieben auf das Leben als das die Gestalt Bestimmende denn die Gestalten werden entweder bestimmt durch den mechanischen Prozeß oder die innre freie Bewegung. Die Gestalten sind uns also hier gegeben als Resultate und zugleich Symbole des Lebens. Wir knüpfen eine Erweiterung an unsere Betrachtung. Wir haben unsern ganzen Gegenstand aufgefaßt als Bestimmtsein des Selbstbewußtseins durch das Außeruns; nun ist aber die menschliche Gestalt auch ein solches durch das Leben bestimmtes; es wird auch Niemand behaupten, daß das Wohlgefallen an dem Schönen von der menschlichen Gestalt seiner ganzen Art nach ein anderes wäre, als das Wohlgefallen an der Natur, wir betrachten es aber nicht unter dem Gesichtspunkt | des Gattungsbewußtseins, sondern als die Manifestation des Geistigen in der Natur. Hier haben wir also allerdings in dem menschlichen Handeln einen völlig unter jenen zu subsummirenden Gegenstand. Es ist nun der Form nach das einwohnende lebendige Prinzip. Wenn wir nun Beides gleichsetzen und also nur im Allgemeinen die Gestalt in ihrer Bestimmtheit und das Leben, es sei in welcher Form es wolle, also das allgemeine Naturleben, wie es sich in der Gestalt der Erdoberfläche selbst und Vegetation offenbart und ebenso auch in den individuellen Formen des thierischen und menschlichen Seins, sagen wir das ist es, worin die Bestimmtheit des Selbstbewußtseins als Wohlgefallen von dem Schönen ausgeht. Aber unter welchen Umständen bringt der Gegenstand jene Bestimmtheit des Selbstbewußtseins hervor? Überall nehmen wir zu jenem Schönen einen Gegensatz an. Wodurch wird dieser Gegensatz bestimmt? und auf welche Weise kann entgegengesetzt auf das Selbstbewußtsein eingewirkt werden? Indeß müssen wir vor der Beantwortung dieser Frage noch in vollkommne Richtigkeit bringen, daß diese Bestimmtheit Äußerung des Selbstbewußtseins ist und nicht auf die Seite des objektiven Bewußtseins gehört. Man könnte leicht glauben, es sei eine Erschleichung, daß wir 8 Seins] Seins uns

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dies ganze Gebiet an das physische Naturgefühl angeknüpft haben, denn dabei liegt ein Objektives zu Grunde. Dieses Wohlgefallen ist etwas ganz Anderes als das Erkennen der Gestalt als dieses ist, wenn wir den Gegensatz zwischen dem Schönen und Häßlichen ins Auge fassen, in beiden Fällen dieselbe Operation. Wir können nicht sagen, wenn wir darauf zurückgehen, daß in dem Gebiet des Selbstbewußtseins Alles auf dem Gebiet des Angenehmen Lebensförderung sei, daß nun uns auch hier, indem wir mit dem Schönen verkehren, das Erkennen leicht die Reaktion zeige. Es ist also hier ein Objektives nothwendig vorauszusetzen. Daraus folgt aber nicht, daß es deßwegen nothwendig der Seite des subjektiven Bewußtseins angehöre, sondern daß es nicht an jener Operation des objektiven Bewußtseins hängt. Sehen wir noch auf die Differenz die in dieser Beziehung statt findet, daß derselbe Gegenstand nicht auf alle denselben Eindruck macht, so ist dies schon ein sichereres Zeichen davon, daß das Ganze der subjektiven Seite angehöre; aber es giebt doch keine Gewißheit, daß es so sei und nicht anders. Betrachten wir die Sache noch von einer andern Seite und fragen, worin endet, was wir als das Wohlgefallen an dem Schönen in den rezeptiven Sinnen ansahen, so unterscheidet es sich von dem Punkte, woran wir es geknüpft haben von dem physischen Naturgefühl auf eine bestimmte Weise, dadurch, daß es keine so bestimmte Reaktion hervorbringt. Allerdings ist so viel wahr, daß wir uns von dem, was auf dieser Seite den negativen Eindruck macht, lieber entfernen und umgekehrt, aber dies ist etwas | Anderes als die Reaktion, es ist das Wollen oder Nichtwollen der Affektionen. Aber daraus, daß aus dem Betrachten nichts weiter hervorgeht, geht nicht hervor, daß es nicht der Seite des Selbstbewußtseins angehöre, sondern ein Objektives sei. Wir haben also Indikationen nach der einen Seite hin, aber sie sind nicht so, daß wir dieser Art von Lebensbewegung eine bestimmte Art anweisen könnten. Es wird uns klar, wie dieser Gegenstand für immer ein streitiger bleiben könne, wie er seit langer Zeit die Aufmerksamkeit geregt hat, wie aber immer neue Theorien darüber aufgestellt sind ohne zu befriedigen. Gehen wir nun zurück auf das dabei zu Grunde liegende Objektive und daran haftende, es ist hier das das Bewußtsein Erregende das durch die Mannigfaltigkeiten [ ] so ist der Zustand ein Affizirtsein von dem Leben, nicht ein physisch affizirt sein, denn dies Wohlgefallen hat nichts mit der Art, wie 35 Mannigfaltigkeiten] es folgt ein Spatium von ca. 4 cm Länge, zu ergänzen wohl der durch das Leben bestimmten Gestalten (vgl. SW III/6, S. 203) 5–9 Vgl. SW III/6, S. 202: „Wenn das angenehme eine Lebensförderung ist, das unangenehme eine Lebenshemmung, so können wir das gar nicht auf das Erkennen anwenden, das schöne fördert nicht das Erkennen und das häßliche hemmt es nicht.“

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die Organe affizirt werden zu thun. Es ist ein psychisches Affizirtsein durch das Leben und nun kommt es also darauf an näher zu bestimmen, woher diese entgegengesetzte Art der Affektion entsteht. Es wäre vielleicht noch vorzüglicher wenn wir die Aufgabe lösen könnten ohne den Gegensatz zwischen dem Schönen und Häßlichen zu Hülfe zu nehmen, aber es ist dann nicht so leicht, zur Klarheit zu kommen. Alles, wodurch uns dieser Zustand entsteht ist wesentlich ein Theil der Welt; wir bestimmten es noch näher, indem wir es auf das Leben zurückführten. Fragen wir nun, liegt diese Affektion wohl indem wir das uns Affizirende als ein Theil der Welt setzen in dem Verhältniß des Theils zum Allgemeinen oder indem wir es auf das Leben zurückführen in dem Verhältniß der einzelnen Manifestationen einer Kraft zur Kraft im Allgemeinen. Dies sind 2 ganz verschiedene Gesichtspunkte. Wir werden nicht leicht zwischen beiden auf eine allgemeine Weise unterscheiden können, sondern gehört der Gegenstand mehr dem allgemeinen Leben an, ist er auch nicht so zu subsummiren unter das Verhältniß der einzelnen Manifestationen zu der allgemeinen Kraft und es kann hier wieder mehr der Gesichtspunkt eintreten, daß die Affektionen sich begränzen auf das Verhältniß des Theils zum Ganzen. Gehört der Gegenstand dem individuellen Leben als solchem an, so liegt uns hier die plastische Kraft zu Grunde, wogegen wenn wir es als solches nur als Theil des Ganzen betrachten, jenes in den Schatten stellen müssen. Wir müssen also beides vorläufig gelten lassen und es fragt sich also, was ist das Verhältniß des Theils zu dem Ganzen und das Verhältniß der einzelnen Erscheinung [zu] der Kraft? Halten wir unsere Voraussetzung vorläufig fest und wollen die Frage beantworten, von der Voraussetzung aus, es gehöre der Zustand der subjektiven Seite an, so muß hier eine Beziehung zu Grunde liegen auf die Intelligenz. | Wenn wir nun bei dem anfangen, was dem individuellen Leben angehört und wir fragen, was ist das bestimmt Häßliche, so finden wir das überall nur, wo die einzelne Erscheinung nicht bestimmt gegeben durch die Kraft, welche sie repräsentiren soll, sondern wir die Erscheinung im Conflikt mit andern Potenzen partiell untergelegt haben. Das vollständig und absolut Häßliche ist gerade eine jede Mißgeburt, weil sich darin durchaus die Verdrehung der plastischen Kraft manifestirt und irgendwo im Einzelnen die allgemeinen Verhältnisse die in dem Begriff eines Wesens liegen, bis auf einen gewissen Grad überschritten sind, reduziren wir dies einmal auf die ursprüngliche produktive Kraft selbst, somit auf eine Hemmung. Wo wir es uns durch solche Abnormitäten erschwert finden die Idee des individuel4 ohne] ohne auf 10 setzen] setzen das 35 darin] darin darin

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len Lebens in der einzelnen Erscheinung als die reine Produktion der Kraft aufzufassen, ist das Häßliche. In dem Gebiet des individuellen Lebens finden wir in dem Verhältniß der einzelnen Erscheinungen zu dem allgemeinen Schema einen gewissen Spielraum, eine Freiheit in der Bestimmung der Verhältnisse und was in diesem Gebiet liegt ist an und für sich bloß als solches betrachtet das Gleichgültige. Wo wir Überschreitungen dieses Gebietes finden ist das Häßliche und der Empfindungszustand beruht also allerdings darauf, daß wir uns in dieser Operation gehemmt finden. Wo ist das Schöne? Hier müssen wir wieder auf den ursprünglichen Prozeß zurückgehen, nämlich das Entstehn der Bilder in der Abstufung von dem Einzelnen aus zu dem Allgemeinen. Auf diese Weise haben wir ein allgemeines Bild des Menschen. – Je mehr nun überwiegend die einzelnen Erscheinungen alle in dem Gebiet des freien Spielraums liegen, bleibt unser allgemeines Bild von allen diesen Differenzen affizirt und die Einheit ist daher unbestimmt und es giebt Gestalten, in welchen sich die Naturregel, auf eine solche Weise manifestirt, daß sie uns den Inbegriff der Differenzen darstellt und unser allgemeines Bild daraus bestimmt wird, indem sich daraus jener allgemeine Spielraum begränzen läßt, so finden wir dadurch eine Förderung des Prozesses, indem das Allgemeine in den Einzelnen fixirt ist. Hier haben wir oft den ganz allgemeinen Typus des subjektiven Bewußtseins, nämlich die Förderung einer psychischen Lebensfunktion. Diese ganze Operation gehört aber dem objektiven Bewußtsein an. Das Bewußtsein von einer Erleichterung des Auffassens der menschlichen Gestalt als Repräsentation der plastischen Kraft ist der Grund des Wohlgefallens. Der reine Charakter der subjektiven Seite des Selbstbewußtseins ist so zur Anschauung gebracht. | Bei dem Gang, den unsere Betrachtung genommen hat, wurde von dem Gefühl für die schöne Natur auf das Wohlgefallen an der menschlichen Gestalt als eines Theils der Natur übergegangen. Hier ist ganz etwas Analoges das Wohlgefallen an Kunstwerken aller Art, man könnte sich die Aufgabe stellen, eine gemeinsame Erklärung für dies Alles zu suchen. Die Analogie ist nicht zu leugnen. Die beiden Punkte welche wir bis jetzt betrachtet haben, sind ursprüngliche Zustände der Empfänglichkeit, wobei nichts vorausgesetzt wird als der Gegenstand; auf dem Gebiet der Kunst ist der Gegenstand nicht gegeben, sondern erst durch freie Thätigkeit hervorgebracht. Die hervorbringende Thätigkeit ist also die erste und wir können die Rückwirkung davon nur in Verbindung mit jener betrachten. Wir können daher nun als Aufgabe stellen, daß die künstlerische Produktivität auf 2 aufzufassen] erschwert finden

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eine solche Weise zu erklären sein wird, daß das Wohlgefallen an dem Kunstschönen als ein Analogon von dem rein in der Natur Gegebenen begriffen werden kann. Es ist schon an sich wahrscheinlich, daß das Wohlgefallen an dem in der Natur gegebenen Schönen die Reizung zu künstlerischer Produktion desselben erwirke. Wir haben also das Wohlgefallen [an der Gestalt] erklärt aus dem Verhältniß derselben zu dem allgemeinen Bilde zur menschlichen Gestalt, welche sich als Norm für alle Differenzen gebildet hat durch die Wiederholung der Beobachtungen. Es ist hier zu bemerken, daß in einem solchen Moment das Schema selbst eine neue Dignität bekommt, die es abgesehen hievon nicht haben würde. Man sieht es zwar schon so an, als ob dasselbe schon mehr da wäre, aber es kommt in demselben Moment zu Bewußtsein, daß das Schema Ideal ist. Wie werden wir dies können übertragen auf das Wohlgefallen an der schönen Natur? Wenn es hier auf die einzelnen Gegenstände als solche ankäme, könnte man es auf dieselbe Weise betrachten; aber hier kommt es auf eine Mannigfaltigkeit ohne bestimmte Abgeschlossenheit [in] sich an. Wir sagten schon, es gebe ein 2faches Verhältniß worin einzelne oder mannigfaltige Gegebenheiten sich darstellen können, nämlich indem es erscheint als einzelne Erscheinung in dem Zusammenhange und dem Zurückgehen auf das allgemeine Bild und als Theil in Beziehung auf das Ganze. Das erstere ist hier gar nicht in Anwendung zu bringen; sondern die Einheit ist hier die größte Mannigfaltigkeit und es ist dies etwas ganz Anderes als die Mannigfaltigkeit in der schönen Gestalt. Insofern der Gegenstand des Wohlgefallens dem individuellen Verhältniß vorzuziehen, ist das eine Verhältniß in Betracht zu ziehen, in sofern das allgemeine daraus wird. Was ist das Schöne in der Natur als Theil, wenn wir es auf die gesammte irdische Natur beziehen wollten. Diese ist uns gar nicht ganz auf dieselbe Weise gegeben und wir können auch nicht auf dieselbe Weise Richter sein über das Schöne in einer uns ganz fremden Region. | In einer solchen müssen wir uns erst bis auf einen gewissen Grad eingelebt haben ehe wir ein Urtheil über das Schöne derselben haben könnten. Wenn wir nun sagen, es steht uns nur gegenüber, was sich in uns zu einer Konstanten ausgebildet hat. Das erste ist, daß [sich] das universelle Leben, wenn wir die Vegetation mit hinzunehmen, in seiner Mannigfaltigkeit manifestirt, so daß wir auf diese Weise wiederum in dem einzelnen Mannigfaltigen ein 11–13 Vgl. SW III/6, S. 206–207: „Man sieht es zwar so an, als ob schon das allgemeine Schema an sich zugleich das Ideal wäre, indem alle Differenzen in dem Maaße, als sie Abweichungen sind von einer solchen Gestalt, welche das Schema unmittelbar vergegenwärtigt, als untergeordnete erscheinen, aber erst durch die Vergleichung des schönen mit dem gewöhnlichen entsteht das Ideal und kommt erst in einem solchen | Moment des Wohlgefallens zum Bewußtsein.“

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Bild haben der Totalität. Wir werden allerdings nicht leicht Alles in dieser Hinsicht in einem Naturbilde beisammen haben können. Dies liegt in der Construktion der Erdoberfläche selbst; es giebt nur gewisse Punkte, wo gewisse Gegensätze unmittelbar in einem zusammen sind. Wir theilen also da selbst schon unser Naturbild in eine Mannigfaltigkeit. Je mehr die wesentlichen Momente nun in einem solchen Zusammenhang, umso mehr schafft es uns von dem Wohlgefallen. Aber wir haben es hier nicht mit dem rein Objektiven zu thun, sondern die Beziehung des Menschen auf die Natur und der Natur auf den Menschen wird ebenfalls ein wichtiges Moment sein. Was ist die Operation in welcher wir begriffen sind? Es ist nicht die Thätigkeit des Auffassens, sondern aufgefaßt muß sein, ehe dieser Eindruck beginnen kann. Wenn wir uns dächten, daß unsere ganze Thätigkeit in dem objektiven Bewußtsein nur bestünde in dem Auffassen des Einzelnen, so würden wir zu einem solchen Zustand von dem Wohlgefallen an dem Schönen erst gar nicht kommen, sondern es ist wieder die Beziehung der Intelligenz auf die Gesammtheit des Seins, welche durch die einzelne Auffassung vermittelt wird. Je mehr nun ein Naturbild ein Symbol ist von dem Verhältniß der Intelligenz zu dem uns gegebenen individuellen Sein, desto mehr ist diese Beziehung erleichtert. Wir werden von hieraus wieder dieselbe Differenz ziehen können, welche wir bei der menschlichen Gestalt zogen, nähmlich eine Region des Indifferenten, welche kein bestimmtes Wohlgefallen erregt, aber auch nicht hemmt; wo wir Elemente finden zu diesen, die sich aber nicht auf eine so einmalige Weise vermengen. Denken wir uns einen großen Naturraum, der aber durchaus einförmig ausgefüllt wäre, so giebt das einen ganz entgegengesetzten Eindruck, der dem des Häßlichen analog ist, nur daß sich noch ein anderes Element hinzugesellt. Wenn wir mit von dieser Art das ganze Gebiet betrachten und fragen worauf beruht dieses spezifische Wohlgefallen, so ist es allerdings das Affizirtsein durch einen Zustand des objektiven Bewußtseins aber nicht durch bloße Auffassung, sondern insofern darin in vorzüglich einem Einzelnen | das Ziel des Bezeichnenwollens erreicht ist. Es ist hier ein spekulativer Gehalt, rein dem subjektiven Bewußtsein inhärirend und als solcher auch nicht als Gedanke ausgesprochen sondern als Gefühl. Es realisirt sich dieser Zustand nur an solchen Gegenständen die auf eine gewisse Weise, die Tendenz des Bezeichnenwollens, die Beziehung auf die Totalität in einem einzelnen Falle realisiren. – Wir haben uns schon darüber erklärt wie wir diese Untersuchungen 28 Zusatz SW III/6, S. 208: „nämlich das schauderhafte“ 38 Zusatz SW III/6, S. 209: „Von hier aus werden wir zu der anderen verwandten Form des erhabenen übergehen können.“

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nicht als Kritik über die verschiedenen Theorien führen können. Es ist offenbar, daß dieser Zustand nicht eine solche volkommne Ruhe und Befriedigung in sich schließt, sondern mehr ein aufgeregter Zustand ist, der aber zu gleicher Zeit auf eine gewisse Weise mit seinem Gegentheil verbunden ist; die Aufregung ist in dem Gegenstand inwiefern er den Reiz zu dieser bestimmten Art und Weise der Betrachtung enthält; das Deprimirtsein ist in dem Bewußtsein von dem Zustand. Dieses Zusammensein geht aber nicht in Ruhe und Befriedigung über. Wenn nun doch das Ganze offenbar im Gebiet der auffassenden Thätigkeiten liegt, so ist hier eine Insuffizienz des auffassenden Vermögens in Beziehung auf den Gegenstand und also eine Überfüllung, das Maaß Überschreitendes in dem, was sich der Betrachtung darbietet, aber nicht eine Überschreitung in der Mannigfaltigkeit des Gegenstandes, sondern es ist rein auf der Intension beruhend. Es ist eine das Maaß überschreitende Fülle von Kraft, welche wir durch das Aufnehmen zu erschöpfen immer angeregt werden, aber immer wieder zu dem Bewußtsein kommen, daß es nicht zu erschöpfen ist und dieses Spiel ist das Wesentliche in dem Erhabenen. Hat dies dieselbe Duplizität? ist es etwas Anderes, wenn das Individuelle oder Allgemeine Gegenstand davon ist? In dem Gebiet der Natur des allgemeinen Lebens findet sich das Objekt zu diesem Zustand allerdings von selbst nicht überall und nicht unter allen Umständen, aber es giebt gewisse Klassen von Naturverhältnissen worin es sich findet, aber freilich auf eine verschiedene Weise bei den verschiedenen Zuständen des Auffassungsvermögens. Denn die Kraft ist nur in dem Leben und mit dem Leben. Der Anblick des gegebenen Räumlichen und Zeitlichen schließt das nicht auf allen Stufen der Entwickelung in sich. Denken wir uns z. B. einen schroff aufsteigenden Felsen der eine große Masse darbietet, giebt er freilich als solcher schon ein Bild von der Unendlichkeit des Gegenstandes, welchen er dem Menschen darbieten werde. Ganz anders würde aber der, der eine Vorstellung hat von der Art und Weise der Entstehung solcher Massen, von einem Naturprozess, des|sen Resultat sie sind, eine Fülle von Naturkraft sehen. In dem individuellen Leben finden wir einen solchen Eindruck nicht, das einzelne Leben ist schon ein bestimmtes. Wenn wir sagen müssen, es giebt auch Einzelnes was diesen Eindruck hervorbringt, muß noch etwas Anderes dabei zu Hülfe kommen. Das Bewegliche und Veränderliche der menschlichen Gestalt wird modifizirt durch die Thätigkeit des Menschen selbst. Finden wir darin eine Spur von für uns sich als unerschöpflich darstellende Masse oder Stufe von Thätigkeit, so kann auch die einzelne Gestalt den Eindruck des Erhabenen hervorbringen. Es gesellt sich aber noch etwas Anderes hinzu. Wenn man z. B. sagt, es giebt antike Bilder des Zeus, die den Eindruck des Erhabenen machen so

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fragt sich, ob der Eindruck derselbe sein würde, wenn man die Bedeutung dieser Bilder nicht wüßte. Wenn wir uns dabei die Absicht denken in die menschliche Gestalt das Göttliche hineinzulegen und wir finden dies so erreicht, daß die Gestalt in ihren Zügen uns eine Unerschöpflichkeit von Kraft darbietet, haben wir etwas noch ganz Anderes. Beides ist einander gewissermaßen entgegengesetzt. In dem Wohlgefallen an dem Schönen ist eine vollkommne Befriedigung im Einzelnen, bei dem Eindruck des Erhabenen, erneuert sich die Erregung immer wieder und wir können uns ein anderes Ende des Zustands in sich selbst nicht denken als daß wir es entweder aufgeben, uns immer wieder von Neuem aufregen zu lassen, oder daß wir zu dem Bewußtsein kommen, es erschöpft zu haben. Es ist hier offenbar ein Gegensatz. Wie kann man so Entgegengesetztes für verwandt halten? In dem Religiösen und dem Erhabenen ist die größte Analogie der Eindrücke. Das letztere möge von einem Naturgegenstand ausgehen oder von einem geistigen, aber die Beziehung ist nicht dieselbe auch Qda sich einR Naturgegenstand noch mit einer Intelligenz verbindet. Was die Analogie betrifft, so ist eine weitere Erörterung darüber überflüssig. Was wir in der einfachsten und allgemeinsten Weise mit dem Ausdruck Andacht bezeichnen ist ein ebensolches sich selbst einem Andern untergeben finden und doch ein ebensolches nur wieder von demselben angezogen werden. Es ist ein sich selbst Verlieren in ein Unendliches mit dem Bewußtsein verbunden daß eine Reaktion etwas völlig Unstatthaftes ist. In den frühen Entwickelungen dieses Gefühls finden wir auch eine gewisse Anknüpfung an das Erhabene, indem vorzugsweise die Stätten zur Verehrung des höchsten Wesens an solche Punkte sich knüpfen wo die umgebende Natur einen solchen [erhabenen] Eindruck hervorbringen konnte. | Gehen wir aber weiter und betrachten die Entwickelung des religiösen Gefühls auf einer höhern Stufe, so gelangt es nur auf dem ganzen Fundament der geselligen Gefühle zu dieser Entwickelung. Wir haben gesagt, wir konnten das religiöse Gefühl nicht als eine Fortsetzung des gemeinsamen ansehn. Warum nicht? Weil dann die Naturgefühle also die ganze Reihe der Zustände des Selbstbewußtseins welche durch das Außeruns erregt werden in der ganzen Entwickelung des objektiven Bewußtseins von der gleichen Beziehung auf das religiöse Gefühl ausgeschlossen wäre. Wo wir das finden so ist es das, was der ganze Complexus der vorhandenen Empfindungsweisen dominirt. Es erweitert sich daher auch immer nach Maaßgabe wie sich jene erweitern. Wenn wir nur denken die untergeordnete Entwickelungsstufe, wo die Menschen noch in kleinen Gesellschaften zusammen leben, so 19 in] In

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ordnen sie dem religiösen Gefühl beiderlei unter, alle Veränderungen aus den geselligen und den Naturverhältnissen. Die Unendlichkeit ist darin nur insofern auf eine allgemeine Weise gesetzt. Überall wo es eine Entwickelung des religiösen Gefühls und eine Verständigung darüber giebt von dem entgegengesetzten Zustand, wenn es nicht den überwiegenden Empfindungszustand dominirt, immer im Gemeingefühl auch als ein krankhafter Zustand genommen wird. Es ist also in dem religiösen Gefühl ein Zusammenfassen von jenen beiden. Als eine Fortsetzung des Geselligen könnten wir es nicht ansehn. Gesetzt es gebe, sei es ein Complex von Wahrnehmungen oder ein konstant gewordenes freies Vorstellen von der Intelligenz als einer andern Gattungsform als der menschlichen und es muß erst auch das Naturgefühl in die Identität mit jenem aufgenommen werden. Wenn wir dies als eine natürliche Richtung betrachten, daß sich überall auf welcher Entwickelungsstufe sich auch die geselligen und die Naturgefühle finden mögen, aus beiden zusammen sich das religiöse Gefühl entwickelt und wir sollten diese natürliche Richtung bezeichnen, so ist es die auf die Aufhebung des Gegensatzes zwischen beiden, dem Sein, wie es zugleich das Bewußtsein ist und dem Sein, wie es dem Bewußtsein gegeben ist. Eine Richtung auf die Aufhebung ist ursprünglich rein auf der subjektiven Seite des Bewußtseins. Wenn wir uns nun das intelligente Subjekt denken in der Tendenz dies zu vollziehen ohne daß wir ein denkendes Wollen voranstellen, sondern es als natürliche Richtung auffassen, so muß in der Tendenz dies zu vollziehen sich das ereignen, welches wir als das eigenthümliche Wesen des Eindrucks des Erhabenen gefunden haben, es ist die sich immer erneuernde Aufgabe und das Bewußtsein des Unvermögens davon, wobei das Bewußtsein davon zu der innern Wahrheit wird. Die Beziehung des eignen Seins auf die Aufhebung des Gegensatzes ist das Wesen des Religiösen | welches immer symbolisch bleiben wird, weil unter keiner objektiven Form etwas gegeben werden kann, was befriedigte. Die Selbstverständigung muß immer an eine Symbolik gebunden bleiben, bis die Sprache sich öffnet. So wie auch wir sagen, daß dies die höchste Entwickelung des Selbstbewußtseins sei, in welcher sich die Richtung des Geistes als eines endlichen Seins ausspricht zu der Aufhebung dieses Gegensatzes, aber indem dieser Gegensatz dieses Sein dominirt, bringt uns die Aufhebung dieses Gegensatzes an die Gränze des endlichen Seins, so daß 16 zusammen] zusammen sich

27 das] die

27–28 Vgl. SW III/6, S. 212: „wobei aber allerdings die unwillkürliche Richtung darauf zu dem innern Bewußtsein der Wahrheit wird, die in unserem eigenen Sein liegt und die überall dieselbe ist mit der zum Bewußtsein gekommenen Nothwendigkeit, insofern sie eine rein innere und eins mit der Freiheit ist.“

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das Unendliche als ein Postulirtes, diese Richtung ausdrückt. Von hier aus werden wir zugeben, daß das religiöse Gefühl dasjenige ist, wozu es von einer jeden andern Gestaltung des Selbstbewußtseins einen unmittelbaren Übergang giebt durch die reine Einkehr des Subjekts in sich selbst. In jeder einzelnen bestimmten Gestaltung des Selbstbewußtseins ist der Gegensatz mit ausgedrückt und rein in sich selbst Einkehren ist nichts als das sich mit diesem Gegensatz die Richtung auf das Aufheben des Gegensatzes bewußt werden. Hier findet sich unmittelbar ein korrespondirender Punkt. So wie das eigentliche Denken wesentlich anfange mit dem Ichsagen und sich vollende in der Idee der Welt, wie sich diese realisire und zugleich in dem Begriff des Seins schlechthin, welches wieder als das Ich gesetzt wird gleichmäßig in Allem, was wir als Theil der Welt setzen. Das Ichsetzen auf der Seite des Selbstbewußtseins ist die Continuität derselben und wird zu jedem Wechsel ein Zustand wo das Beharrliche immer mit dem Wechsel zugleich gesetzt. Darin ist hier der Anknüpfungspunkt eines korrespondirenden Punktes gegeben. Wenn wir von jedem Moment des Selbstbewußtseins einen Übergang finden zu dem Prozeß des religiösen Gefühls, schreiben wir diesem eine ebenso unbedingte Continuität zu. Die Continuität des Selbstbewußtseins als das reine um sich selbst Wissen ist wenn wir es empirisch betrachten kein Gegebenes. Denn theils haben wir sie nicht wirklich bis zum ersten Anfang unsers Seins, sondern von einem bestimmten Entwickelungspunkt an; nicht von einem Tage zum andern, sondern müssen sie mit dem Anfang jeden Tages wieder reproduziren. Die Continuität des religiösen Gefühls ist immer nur eine postulirte, weil wir in dem Wechsel der Momente des Selbstbewußtseins nicht immer zu klaren Übergängen kommen. Ist im Selbstbewußtsein einmal die Richtung auf die Aufhebung jenes Gegensatzes gesetzt, ist sie für immer gesetzt. Wenn wir von diesem Endpunkte aus den ganzen Inbegriff des Selbstbewußtseins betrachten, so haben wir darin die vollständige Reihe der Entwickelung des Geistes in sich selbst. Von den ersten Anfängen aus erscheint uns die Rezeptivität unter der Form der Seele des einzelnen Leibes rein als an diesen gebunden und nur durch die | organische Affektion erweckbar, aber jede neue Gestaltung des Selbstbewußtseins ist eine weitre Entwickelung des sich selbst finden. In dem ganzen Verfahren in Beziehung auf diese Form der geistigen Thätigkeit haben wir wohl nichts 35–36 Zusatz SW IIII/6, S. 214: „bis wir auf den Punkt kommen, wo es sich selbst jenseits des endlichen findet in dem unendlichen. Ist diese Richtung des Selbstbewußtseins einmal erwacht, so erscheint nun auch alles andre ihr nicht nur untergeordnet sondern auch um so weiter davon entfernt, je mehr es in den Gegensaz verstrikkt ist, und am allerweitesten in jenen Anfängen, wo der Gegensaz selbst noch unentwikkelt ist.“

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Wesentliches übergangen. Erinnern wir uns, wie wir fortgeschritten sind, indem wir das Selbstbewußtsein immer in seiner Beziehung auf das objektive und in seinem Verhältniß zur Selbstthätigkeit betrachtet haben, kann uns kein wichtiger Entwickelungsknoten entgangen sein. Der Hauptpunkt, welchen wir dazwischen zu stellen haben ist die Erhebung des Selbstbewußtseins zum Gattungsbewußtsein, die wir in ihrer Allmählichkeit uns vorgehalten haben. Nur eins haben wir in dieser Beziehung absichtlich außer Acht gelassen, weil es passender scheint, es an einem andern Ort in Betracht zu ziehen. Nämlich wir haben alle Zustände des Selbstbewußtseins übergangen welche einen Konflikt zwischen dem niedern Zustand darstellen und einer Aufhebung des Gemeingefühls. Es sind immer Zustände, worin die Einheit mit sich selbst verloren gegangen ist, wo das Fortschreiten in der Entwickelung des Selbstbewußtseins zu einem Umfassendern von der Reaktion, von einem selbst nicht werden des bloß Persönlichen Losmüssen können oder wollen unterbrochen ist. Es liegt hier eine große Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, die nicht wirklich reelle Fortschreitungen sind. Der andere Punkt aber wo wir dies betrachten wollen wird der sein, wenn nun die Differenz des Geistes in der Seele als sein Seelesein sich manifestirt. Gehen wir weiter in der Übersicht der Entwickelung des Selbstbewußtseins haben wir auch immer im Auge behalten, daß es auf der einen Seite ein selbstständig hervorgehender Zustand ist und wie es die andern Thätigkeiten begleitet und wie immer von jedem aus, ohne daß die Reihe unterbrochen wird, das Selbstbewußtsein sich mit entwickelt. Hier giebt es auch solche Differenzen, welche wir übergangen haben, denn es zeigt sich hier eine große quantitative Differenz in Beziehung auf die Leichtigkeit wie sich das begleitende Selbstbewußtsein entwickelt und eine qualitative in dem Verhältniß dieser beiden Reihen unter einander. Auch hier liegt eine große Menge von Zuständen, welche mit zu den innern Kämpfen des Einzellebens gehören. In dem worauf wir zuletzt gekommen sind, auf das sich seiner selbst als einzelner Seele Bewußtsein sind die beiden Reihen wieder verknüpft. Offenbar liegen hier auch ähnliche Differenzen in dem Maaße als sich das Postulirte in dem Einzelnen mehr oder weniger realisirt, wo dem Selbstwiderspruch ähnliche Zustände vorkommen. |

Ausströmende Thätigkeiten.

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Wir sind von Operationen der Sinnesthätigkeiten ausgegangen, [haben] daran aber die Denkthätigkeit angeknüpft. Die Begriffe haben 19 der] der der

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[wir] keineswegs nur darauf gerichtet wie die Bilder [entstehen]. Wie wir dies erkannt hatten, hätten wir eigentlich abbrechen sollen. Indem wir von diesem Punkt zurückgingen haben wir diese Richtung schon vorausgesetzt. In dem Impuls die Sinne der Außenwelt zu öffnen sind die ersten schon eingeschlossen; in der Entwickelung der Denkthätigkeit ist schon daß die Eindrücke mit aufgenommen werden. Wir haben unsere Gränze daher schon überschritten. Es lag darin schon die Form der Selbstthätigkeit in dem einzelnen Leben, nur in der Form des noch nicht entwickelten Bewußtseins. So wie wir sagen, es ist ein Akt der Selbstthätigkeit, daß sich die Sinne der Außenwelt öffnen ist es auch ein Willensakt, so aber, daß das vorangegangne Bewußtsein dabei fehlt. Indem wir nun also von unserm 2ten Theil schon etwas weggenommen haben, aber nicht aus demselben Gesichtspunkt müssen wir noch einmal darauf zurückgehn. Indem wir sagten, das Ziel dieser Richtung von Anfang an sei kein anderes als das Erkennen, haben wir allerdings schon dies als ein Gewolltes gesetzt und es kommt nun darauf an die verschiedenen Stufen der Selbstthätigkeit, wie sie sich allmählig entwickeln, zu bestimmen. Wenn wir den ersten Anfang schon als eine Äußerung der Selbstthätigkeit ansehen, werden wir in diesem ersten Anfang den Gegensatz ganz unentwickelt finden. Das Denken insofern es etwas Anderes ist als das bloße Übertragen der Bilder in die Sprache kann schon gar nicht mehr in seinen ersten Anfängen als eine solche Indifferenz angesehen werden, aber der erste Anfang muß auch das minimum einer bestimmten Entwickelung der Selbstthätigkeit im Gegensatz gegen die aufnehmende Thätigkeit sein. Wir brachten das in eine Formel und sagten, es sei gleichsam das Angefülltsein mit Bildern, welches die Mittheilung postulirt, wobei das Gattungsbewußtsein als das entwickelnde Prinzip dargestellt wurde. Gehen wir auf den ersten Anfang von demselben zurück können wir es als gleichgeltend gelten lassen, daß sich das Gattungsbewußtsein entwickelt durch den Einfluß derer, die sich ihnen zu erkennen geben wollen, aber es läßt sich dies nicht erklären unter der Form der bloßen Passivität. Man kann ebensogut sagen daß die Aneignung der Sprache auch noch in einer solchen Indifferenz von Rezeptivität und Spontaneität liegt, das letztere insofern die Sprache immer von dem Denken ausgeht und dies voraussetzt, indem sonst eine weitere Sprache nicht da ist. Auf der andern Seite ist aber die Aneignung der | Sprache zugleich das Überbringen des in den frühern Generationen vorhandenen Bewußtseins. Stellen wir uns auf den Punkt, wo schon ein freies Spiel der Denkthätigkeit sich findet, wo man sagen kann, das in der Sprache niedergelegte Bewußtsein ist schon assimilirt dem Subjekt[,] ist auch alle innre Produktivität vermittelst der Sprache nur als Selbstthätigkeit zu beurtheilen. Aber wir finden hier eine große

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Mannigfaltigkeit, die wir wieder nur aus einer Reihe aufstellen können und worin allerdings die vom Anfang weiter entfernten Punkte gerade von dieser Seite nun immer schwerer zu erklären wären. Die Aneignung der Sprache zeigt uns noch einen großen Antheil von aufnehmender Thätigkeit. Sie erscheint als Lernen, als Übung, wo Selbstthätigkeit vorausgesetzt wird, aber der ursprüngliche Wille dabei der innre Impuls ist ein Aufnehmenwollen, und allmählig erst können wir denken, daß ein Bewußtsein eintritt, dieses gemeinsame Gebiet des in der Sprache niedergelegten Denkens als eigenes zu behandeln. Wenn wir dies Verhältniß auffassen, das Verhältniß des Einzelnen zur Sprache, wenn also auf der einen Seite sein Besitz der Sprache vorausgesetzt wird, auf der andern Seite das Denken mittelst der Sprache rein als Produktivität gefaßt, was ist dies eigentlich? Es wird vorausgesetzt, in einer gewissen [Weise], daß von der Sprache Besitz [ergriffen wurde]; auf der andern Seite wird ein Bewußtsein vorausgesetzt, daß ein Erkenntnißelement Vorstellungen produzire, aber vermittelst der Sprache und in der Sprache und wenn man sie rein bezieht auf die Sprache zurück, so erscheint das als ein minmum oder 0 was in der Sprache dadurch geworden ist. Was ist nun die eigentliche Thätigkeit? Es ist der Ausdruck des eignen Seins, des persönlichen einzelnen Seins in irgend einer Beziehung durch Combination der Sprachelemente. Aber freilich, wenn wir auf der andern Seite darauf sehen, wie auch die Kenntniß der Welt durch Thätigkeiten entwickelt oder gefördert wird, welche durch die Sprache nicht zu Stande zu bringen sind, so liegt da etwas Anderes, die reine objektive Richtung, jenes aber scheint ein überwiegend subjektives zu sein. Wer Gegenstände beobachtet, wovon das in der Sprache schon Niedergelegte bloß Notiz ist, verwendet neue Bewußtseinselemente oder berichtigt sie und kann in die Nothwendigkeit kommen in die Sprache selbst etwas hineinzulegen, neue Bezeichnungen für ein Aufgenommnes oder neue Combinationen von schon vorhandenen Elementen. Das Fortgebildetwerden der Sprache mit der Fortbildung des objektiven Bewußtseins zugleich sehen wir hier. In der vorherigen Beschreibung sahen wir nur Selbstdarstellungen des Einzelnen durch die Sprache. Stellen wir beides neben einander entsteht uns eine 2fache Thätigkeit in der Sprache | durch das, was in dem Werden der Sprache mit dem Werden des objektiven Bewußtseins ist, dadurch wirkt die Wissenschaft, was nur Manifestation des objektiven Seins in der Sprache ist durch ein freies Spiel in derselben gehört der Kunst [an] und die höchste Entwickelung der Selbstthätigkeit ist immer eins von beiden, das Wissenschaftwerdenwollen oder das Künstlerischproduzirenwollen. Was wir bisher als 20 Es] es

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die beiden Seiten der aufnehmenden Thätigkeit betrachtet haben, das objektive und subjektive Bewußtsein scheint hier als ein Gegenstand, worauf der Wille sich richtet, aber nicht auf die gleiche Weise und in derselben Form, denn dadurch, daß ich mich selbst in der Sprache ausdrücke geschieht eigentlich nichts in dem Gedanken der Selbstthätigkeit. Jede Entwickelung des objektiven Bewußtseins ist eine deutliche Produktion. Wenn wir aber die künstlerische Thätigkeit in ihrer ganzen Entwickelung betrachten, so ist dadurch allerdings auch etwas geworden, nämlich der Kunstgehalt der Sprache in seinem Zusammenhange mit demjenigen, was unmittelbar Ausdruck des subjektiven Bewußtseins ist also in der Sprache, wie sie sich durch den Rhythmus und Modulation bildet in der Entwickelung einer Masse von Sprachformen, die sich leicht durch ihre Tendenz auf das subjektive Bewußtsein von dem objektiven Sprachgehalt unterscheiden. Wenn wir nun von dem höchsten Punkt der Entwickelung der Selbstthätigkeit wieder zurückgehen, was finden wir da? Diese ist das bestimmt vorhergewußte Wollen, worin eine Reihe von Thätigkeiten vorgebildet war; das ist in der Kunst die künstlerische Produktion; sehen wir auf das Einwirken auf die Wissenschaft ist das vorher gewußte Wollen ein sich heften an einen Gegenstand um das noch nicht Gewußte darin zu Bewußtsein zu bringen und also eine Reihe von Operationen, die Versuche sein können oder Beobachtungen, wenn wir dabei auf das Gebiet der Wahrnehmung zurückgehen, nicht bloß auf das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auf die Wahrnehmung der geistigen Thätigkeit. Das Wollen dabei ist immer das Entwickeln des objektiven Bewußtseins. Hier also ist das Resultat selbst in dem gewußten Wollen nicht gesetzt außer auf formelle Weise. Auf jenem Gebiet kann in einem hohen Grade auf eine materielle Weise in dem schon vorhergewußten wollen sich der Gedanke nur verhalten wie das Heraustreten des Innern, wogegen jenes ein bestimmt gewolltes Aufnehmen des Gegenstandes voraussetzt. Das Rückwärtsliegende von diesem Gipfel ist das, wo das vorhergewußte Wollen sich weniger manifestirt und das minimum davon wäre, wenn Thätigkeiten der denkenden Funktionen in uns wären ohne ein vorhergewußtes Wol|len oder noch weiter, eine Thätigkeit der Denkfunktionen gegen unsern Willen. Dies sind die 3 Stufen, welche wir fixiren wollen 1, wo das gewußte Wollen das Resultat schon in sich hat 2, wo Denkthätigkeit ist ohne Wollen, 3 gegen Willen. Diese Reihen haben wir auch alle in unserer Erfahrung. Daß Thätigkeiten der Denkfunktionen in uns sind gegen unsern 27 kann] kann es

37 in] in in

39–5 Vgl. SW III/6, S. 220–221: „die lezteren werden freilich nur dann bemerkt, wenn der Wille auf die Denkfunction gerichtet ist, die Gedankenreihe aber durch ein andres

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Willen, läßt sich nur sagen wenn Thätigkeit der Denkfunktion selbst auf unsere Denkfunktion gerichtet ist. Alle Gedanken, welche vorkommen in der Seele, während der Wille auf etwas Anderes gerichtet ist, sind sie nicht bloß das die Thätigkeit selbst begleitende Bewußtsein sondern fremdartig, sind sie ohne unsern Willen. Hier sind die 2 zu begreifenden Punkte, in ganz entgegengesetztem Sinne schwer. Es ist schwer zu begreifen, wenn in dem Willen das Resultat schon auf irgend eine Weise gesetzt wird und wir daher sagen, es wird erst durch die auf den Willen folgende Produktion. In dem Willensakt haben wir schon gedacht was wir hernach erst denken und es ist doch auch als Denkthätigkeit eine verschiedene. Das 2te schwer zu begreifende ist, wie wir im Allgemeinen gesagt haben, daß das Denken eine Selbstthätigkeit ist und wir doch nun gesagt haben es sind Erscheinungen desselben in uns gegeben nicht ohne unsern Willen, da der Wille nichts ist als die Selbstthätigkeit. Betrachten wir die Sache bloß aus diesem Gesichtspunkt, so ist das was wir uns als maximum des Willens dargestellt haben, die Vollkommenheit der Sache. Sind aber nicht Denkthätigkeiten gegen und ohne unsern Willen Unvollkommenheiten? Dann wären dies Differenzen in der Entwickelung, wenn die eine leichter dazu kommt, die Denkthätigkeit ganz unter den Willen zu bringen und die Andere schwerer aber wir würden uns so täuschen und uns [einem] Gebiet der Untersuchung verschließen. Denn es müßte zuerst entschieden werden, wie können wir es begreifen, daß solche Thätigkeiten der Denkthätigkeit ohne unsern Willen darin sind, da die Denkthätigkeit nichts aufnehmendes sondern bloß selbstthätiges ist, wie kann es Resultate der Selbstthätigkeit geben, die gegen diese Selbstthätigkeit in uns sind? Dies kann nur behauptet werden, wo dieses Wollen auch Denkthätigkeiten zum Gegenstand [hat] die außer jener Reihe liegen. Dieser Endpunkt, aber auch anders, indem man sagen kann, ich will das, nämlich mit einem bewußten Wollen, was also auch ein Denken ist, was ich aber noch nicht gedacht habe, ist schwer zu verstehen. Wenn wir bei dem maximum der Selbstthätigkeit das im bewußten Wollen liegt anfangen und ein solches bewußtes Wollen als einen Anfangspunkt betrachten, von welchem aus eine Reihe von Gedanken sich entwickelt; wir können uns ein Wollen welches auf das objektive Bewußtsein gerichtet ist d. h. ein Wollen das auf eine Reihe von Beobachtungen und Erfahrungen [geht] oder einen 7 Willen] Willen schon Denken unterbrochen wird, das wir nicht wollen, wogegen alle Gedanken, welche in der Seele vorkommen, während der | Wille auf etwas anderes gerichtet ist, wenn sie nicht etwa bloß das die Thätigkeit begleitende Bewußtsein sondern etwas fremdartiges sind, demjenigen Denken angehören, das ohne unseren Willen ist.“

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Gedanken aus sich selbst heraus denken. Die ganze Reihe | von Gedanken hat ihren Grund in dem Wollen. Damit hängt nicht zusammen daß alle [Gedanken], welche während dieser Entwickelung entstehen auch in dem Resultat ihren Ort behalten. Erschöpft nun die Entwickelung des Einzelnen den ursprünglichen Impuls, das sich selbst bewußte Wollen, so ist vollkommne Befriedigung. Denken wir nun, daß sich an dem Ende einer solchen eine ganz neue ebensolche Reihe, die mit der vorigen in gar keinem Zusammenhange stimmt, anschließen solle, so entsteht die Frage, wie dies gewußte Wollen, insofern es ein Gedanke ist entsteht. Das können wir nicht wieder auf ein eben solches Wollen zurückführen, denn das hätte keinen realen Inhalt mehr. Wenn wir nun auf die Abstufung sehen, welche wir zu Grunde gelegt haben, und betrachten den Zweckbegriff zu einem solchen Gewußten Wollen als einen Gedanken, können wir es nicht auf eine solche reale Selbstthätigkeit zurückführen, sondern es ist ein Gedanke, welchem kein bewußtes Wollen zu Grunde liegt, aber doch eine freie Thätigkeit dieser Funktion[,] die Einheit des Moments in dem ganzen Sein. Wenn wir zu diesem Gebiet zurückgehen und betrachten das Entstehen der Selbstthätigkeit, welcher kein gewußtes Wollen zu Grunde liegt (in organischen Einwirkungen hat es nicht seinen Grund), dasjenige Gebiet, wo rein von Innen heraus Gedanken entstehen ohne ein gewußtes Wollen, so werden alle Anfänge von Gedankenreihen, welche auch ein gewußtes Wollen sind an und für sich betrachtet diesem Gebiet nicht angehören. Nun ist dies eine allgemeine Erfahrung. Ein Jeder muß diese freie Gedankenerzeugung in sich kennen. Gleich von vorn herein erklären wir uns dies Verhältniß so, daß aus dieser Masse von nicht gewolltem Entstehen von Gedanken tauchen nur einzelne solche auf, die sich zu einem bestimmten Wollen bilden, aus denen sich hernach ganze Reihen bilden. Betrachten wir aber die Einzelheiten die diese Masse bilden, so stehen diese nicht unter einander in Verbindung. Die freie spielende Gedankenerzeugung ist ganz eigentlich eine Masse. Das ist die freie Lebendigkeit der Denkthätigkeit. Betrachten wir diese in ihrem ganzen Verlauf, sollten wir uns eigentlich diese freie Entwickelung als das Konstante denken. Nun aber finden wir sie nicht als solche, sondern bisweilen zurückgedrängt und dann wieder hervortretend und es kommt also darauf an, wovon dieser entgegengesetzte Zustand abhängt. Dies freie Spiel der Denkthätigkeit bezeichnet man entweder durch ein an nichts denken oder den Ausdruck der dunkeln Vorstellungen, deren bestimmtes Bewußtsein nicht | statt findet, aber man setzt voraus, daß sie doch da sind. Wir können hier den großen Unterschied nicht übergehen. Gehen wir auf die Formel 4 Erschöpft] erschöpft

41 übergehen] übergeschen

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an nichts Denken zurück, hat sie einen scheinbar positiven Inhalt; denn das „an[“] ein Denken ist das positive, welches durch [„]nichts[“] wieder aufgehoben wird. Es begegnet oft, daß Jemand an nichts gedacht hat; nicht, daß er gar nicht gedacht hat, es müßte dann gewollt werden. Was liegt darin? Die Voraussetzung, daß diese freie Gedankenentwickelung nie ganz aufhört aber bis an die Gränze der Bewußtlosigkeit zurückgedrängt werden kann. Dies finden wir in 2 Fällen. Sind wir in irgend einer bestimmten Thätigkeit begriffen, die nicht Denkthätigkeit ist, in der sich aber die Seele ganz konzentriert, kann dies bloß freie Spiel überwältigt werden aber das Selbstbewußtsein ist immer, aber nicht in der subjektiven Form sondern in der Reflexion, daß ich mich als den jetzt so oder so beschäftigten denke. Sie ist das minimum, was in einem solchen Zustand statt findet. Die freie Thätigkeit kann nicht weiter, weil ihr keine Kraft gelassen ist die bloß begleitende Reflexion sich in einem bestimmten Zustand zu denken ist der rein wissenschaftliche Gehalt. Nun aber giebt es Momente, wo dies freie Spiel auch zurückgedrängt ist bis auf ein solches nicht mehr groß denken ohne daß eine solche Conzentration auf ein Bestimmtes statt findet, sondern indem zugleich alle andern Funktionen zurückgedrängt sind. Dies verstehen wir unter dem Zustand der Abspannung. Es findet sich häufig, daß Einzelne nur eines geringern Maaßes von Anstrengung fähig sind und also öfter in diesen Zustand der Abspannung fallen und die Denkthätigkeit nur auf einen geringen Antheil der Lebenszeit beschränkt ist. Auf dieser Stufe finden wir die Denkthätigkeit bei der untergeordneten Entwickelung[,] die Denkthätigkeit bleibt beschränkt auf den Zustand des begleitenden Selbstbewußtseins und es ist nicht mehr darin ausgebildet als was nothwendig ist, um die bloß leiblichen Thätigkeiten unter der Form des Menschlichen zu vollziehen. Betrachten wir dies als die niedrigste Stufe der Selbstthätigkeit in diesen Funktionen, was ist das maximum davon? Es kommt uns hier nicht an auf Beantwortung der Frage in Beziehung auf die Denkthätigkeit selbst; denn sie haben wir nur als Beispiel aufgeführt. Wenn entweder das maximum der Selbstthätigkeit ist, wenn der ganze Verlauf in lauter solchen Reihen besteht, die auf ein gewußtes Wollen zurückgehen, würde folgen, daß jeder Anfang nur scheinbar ein solcher wäre und daß sich der Anfang des gewußten Wollens aus dem letzten Glied des vorigen | entwickle, wie das aus dem vorigen. Wir könnten dies sagen, insofern wir bewogen sind das bestimmte Wollen als das maximum der Selbstthätigkeit anzusehn. Was ist nun also ein solches gewußtes Wollen des Denkens in Beziehung auf welches alles Denken könnte angesehen werden als eine fortgesetzte Entwickelung von diesem? Wenn wir sagen, ich will die Welt 42 diesem?] diesem.

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denken und zwar bis zu jedem beliebigen Grade der Vereinzelung, so wäre dies ein gewußtes Wollen, zu welchem sich alles Denken auch als ein Glied der Entwickelung müßte ansehen lassen und wenn wir uns denken, irgend ein Einzelner in dem dies gewußte Wollen sein könnte, und es solle in ihm nichts Anderes sein, als was auf dies gewußte Wollen zurückgeht, so daß er zu einem wirklich neuen gewußten Wollen des Denkens gar nicht mehr kommt. Dies können wir uns denken und wenn wir uns das in seiner ganzen Willkühr denken, daß alles gewußte Denken auf dies gewußte Wollen als ein Impuls zurückgeht, wie würde sich das maximum von Selbstthätigkeit darstellen? Das maximum ist nur in dem einzelnen Moment, in welchem dies gewußte Wollen entsteht, alles Andere ist nur die Fortdauer von diesem. Jene freie Gedankenerzeugung aus welcher sich noch so bestimmte Akte des Wollens entwickeln könnten, kommen gar nicht vor. Er würde zuletzt alles Denken, insofern es wahr ist haben, aber nicht unter der Form der freien Gedankenerzeugung. Ja noch mehr; auch die andere Form der Produktivität der Denkfunktionen, die Kunst würde gar nicht in ihm sein, so lange die Kraft jenes einzigen Impulses fortdauerte, denn er wäre ganz auf das objektive Bewußtsein gewiesen. Endlich würde er in einem beständigen Kampf sein mit seiner Stellung in der Welt und diese beständig nicht wollen müssen. Insofern, wenn wir von einem solchen Impuls ausgehen, [er] die Entwickelung desselben, also auch die Natur der Denkthätigkeit in sich tragen muß, ist es nicht nothwendig systematisirt, sondern die Art wie der Mensch in der Wirklichkeit des Lebens durch das Außeruns affizirt ist, diese systematisirt sich nicht, und nur selten und zufälliger möglich würde sein Dasein in diese Entwickelung eingehen. Wenn das successive Selbstbewußtsein von einem solchen einzelnen Impuls aus entstehen soll, müßten alle Theile der Welt zu jeder Zeit gleichmäßig gegenwärtig sein, und wenn er dies auf eine mitteilbare Weise hat, | würde der Unterschied dessen und dem durch unmittelbare Anschauung und Überlieferung Null sein d. h. seine ganze aufnehmende Thätigkeit, insofern sie von der Wahrnehmung ausgeht und dem gewußten Wollen unterworfen sein kann, würde für ihn keinen eigenthümlichen Werth haben. Die Antwort, welche wir gegeben haben ist eine absolute Unnatur und ein solches maximum der Selbstthätigkeit zerstört das Leben, indem die freie Selbsterzeugung ganz aufhört und 10 darstellen?] darstellen. 34–35 Zusatz SW III/6, S. 225: „sondern er würde, wenn er es braucht, alles lieber auf dem Wege der Ueberlieferung haben wollen, als durch unmittelbare Anschauung sich aneignen, was er grade noch nicht braucht.“

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auch die aufnehmende Thätigkeit als solche nicht hineingezogen werden kann in das durch das gewußte Wollen Entstehende. Das gewußte Wollen kann nur Einzelnes sein, nie kann darunter die ganze Denkthätigkeit gebracht werden. Fragen [wir] wo die Unterbrechung der Gedanken liegt, werden wir immer auf denselben Punkt zurückgeführt. Es ist die freie innre Thätigkeit. Ein einmal entstandenes Bewußtsein kann nicht angesehn werden als in dem Moment wieder verschwindend, sondern bleibend, so ist diese innre Lebendigkeit nichts als das aufgeregte Zusammensein, der früher schon entstandenen Vorstellungen. Auch der innere Impuls des gewußten Wollens reicht nicht hin, um den ganzen Lebensprozeß zu beherrschen, sondern es ist gegen ihn etwas, was die innere Lebendigkeit repräsentirt. Dieser Zustand stellt nicht die nur eine Lebendigkeit an und für sich dar, sondern nur das maximum der Verringerung der Willensbestimmung und je mehr die einzelnen Willensbestimmungen einzeln durchbrochen werden von Thätigkeiten, welche außerhalb dieser liegen, um desto geringer ist darin der Wille d. h. die Kraft eines jeden einzelnen gewußten Wollens. Wenn wir diese denken in ihrem Maximum, besteht sie darin, daß sich in der Begründung dessen, was in dem bewußten Wollen ausgedrückt ist, alle Thätigkeiten konzentriren. Wir sagten, daß wir uns nicht denken könnten die ganzen Sinne unter ein solches bewußtes Wollen zusammengefaßt und auch nicht als eine Reihe von stetig ineinander greifenden Willensakten. Wenn wir dem nun gegenüber stellen, daß es einen Zustand gebe einzelner Funktionen, welcher das minimum ihrer besondern Lebendigkeit bezeichnet, also im Gegensatz einer solchen Concentration eine Abspannung, daß die einzelne Funktion weniger fähig ist entweder durch einen freien Akt des bewußten Wollens oder durch freies Spiel in Bewegung gesetzt zu werden. Wir können uns denken diesen Zustand allgemein, über alle Funktionen sich erstreckend und dem gegenüber einen durchaus die Gesammtheit der Freiheit dominirenden Willensakt. Dies sind die reinen Endpunkte, was wir zugleich gewonnen haben ist die Unterscheidung zwischen der freien Lebendigkeit des geistigen Subjekts und die positive Selbstbestimmung unter der Form des bewußten Wollens. Wenn wir nun sagten, in Beziehung auf eine einzelne | Funktion ist immer ein solch bewußtes Wollen das maximum. Wie stehn diese beiden Thätigkeiten [einander] gegenüber? Wir haben schon in der Entwickelung des Gegenstandes gesehen daß ein jeder Moment des bewußten Wollens ein Resultat sei jener freien Beweglichkeit, weil wir nicht auf dieselben Formen zurückgehn können. Die Funktion ist dies, es ist eine solche Selbstbestimmung in mir geworden, [die] aber nur unter der Form dieser allgemeinen innern Beweglichkeit als die bestimmte Art und Weise einer Einheit des Moments zu finden wäre. Die Selbstbe-

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stimmung erscheint so unter der Potenz der freien Lebendigkeit des Subjekts; denn je stärker diese ist, desto kräftigere Momente der Selbstbestimmung werden daraus entstehen können. Es giebt aber auch eine andere Seite. Nämlich wenn wir uns denken in einer solchen Reihe begriffen in dem Zeitraum, welcher verläuft zwischen 2 Momenten der Selbstbestimmung und der vollkommnen Erfüllung desselben; so ist in dieser Zeit je stärker sie ist die allgemeine Beweglichkeit der Funktionen unterbrochen. Ist dann der Lauf zerstört durch unwillkürlich zwischen eintretende Thätigkeiten scheint die ganze innre Lebendigkeit unter der Potenz dieser Selbstbestimmung und wird nicht eher frei gelassen, bis die Selbstbestimmung endet. Das ist die entgegengesetzte Seite. Es ist aber offenbar, daß wir das nicht anders ansehen können als im Wechsel mit einander begriffen und wenn wir die Selbstthätigkeit im Gegensatz gegen die Rezeptivität als ein Ganzes für sich herausheben werden wir sie nur haben in dem Wechsel der Impulse und des Freigelassenseins der innern Beweglichkeit. Da das Innere der Selbstbestimmung könne nur aus jener Beweglichkeit entstehen, ist eine solche eingetretene Funktion der Beweglichkeit wieder in ihrem Recht. Daß in der Art worin sich dieser Wechsel konstituirt das bedeutende Moment liegt der Differenz zwischen einzelnen Subjekten ahnden wir im Voraus leicht, weil es die Selbstthätigkeit ist, die meist das einzelne Selbstbewußtsein darstellt. Die Differenzen in der Selbstthätigkeit sind die größten, die Differenzen in der Empfänglichkeit sind diesen nur untergeordnet. Aber wir müssen auch noch auf einen andern Gegensatz achten und indem wir schon im Allgemeinen so wie wir von dem Punkt ausgingen, daß jeder überwiegend empfänglich [ist]. Aber wenn einer zu seiner Vollendung gelangt ist, er Tendenz auf die Mittheilung hat darauf zurückzugehen wünscht, dergleichen das Selbstbewußtsein des Einzelnen zugleich Gattungsbewußtsein ist, so werden wir auch fragen müssen, wie es in dieser Beziehung auf dem Gebiete der Selbstthätigkeit steht. Dort finden wir freilich daß ursprünglich in dem Anfange des Lebens ein Unentwikkeltsein aller Gegensätze [ist]. | Wie steht es in dieser Hinsicht um das Gebiet der Selbstthätigkeit? Hier können wir wieder nur auf die ersten Anfänge zurückgehen, auf sehr verschiedene Theorien. Wenn wir fragen, was ist die lebendige 8 Ist] ist

23–24 Empfänglichkeit] so SW III/6, S. 227; Ms.: Selbstthätigkeit

25–30 Vgl. SW III/6, S. 227: „Wie wir nämlich bei einem jeden Act überwiegender Receptivität, wenn er zum Ende gelangt, sahen, daß er eine Tendenz zur Mittheilung hat und wir dadurch zur Unterscheidung des Selbstbewußtseins und des Gattungsbewußtseins geführt wurden, die auf die verschiedenste Weise aus einander und zusammentreten können, so daß bald das eine bald das andre dominirt,“

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Kraft, was ist als das subjektive derselben anzusehen durch welches das einzelne lebendige Wesen entsteht, also ist das Subjektive desselben entweder das lebendige Einzelwesen in welchem das neue Leben entsteht, aber daß diese Kraft eigentlich ihren Sitz hat in dem Moment, welcher die Einheit der menschlichen Natur repräsentirt. Es ist die Gattung als weitere Lebenseinheit betrachtet, welche das Einzelwesen bildet, es ist die bildende Einheit der menschlichen Natur. So lange es nun erscheint als ein werdendes Produkt des Gattungslebens ist es noch nicht als einzelnes [anzusehen]. Wenn es sich von dem einzelnen Leben in welchem es gebildet wurde trennt, ist es ein einzelnes, hat seinen eignen Lebensverlauf. Den hat es freilich noch nicht ganz, sondern haftet noch durch den Zusammenhang der Ernährung an dem Leben, in welchem es entstanden ist; wenn diese Abhängigkeit aufhört ist es eigentlich das Einzelwesen. Nun aber hat es lange vorher schon Selbstthätigkeit ausgeübt. Die ersten Lebensäußerungen, sagten wir früher, seien eine Indifferenz von Selbstthätigkeit und Empfänglichkeit. Dies gilt von den ersten ihrer Natur nach willkürlichen Bewegungen der Stimmwerkzeuge im Zusammenhange mit der Respiration; von der ersten Bewegung der Gliedmaßen im Verhältniß zur Athmosphäre. Die willkürlichen Bewegungen gehen aber zurück noch auf den Zustand im Mutterleibe. Hier erscheint uns also die Selbstthätigkeit durchaus als eine werdende und in dem Maaße nun als sie geworden ist, erscheint das Einzelwesen selbst als solches. Wir haben hier nun rein organische Bewegungen in Betracht gezogen, die eigentlich außerhalb unseres Gebiets liegen; von psychischer Thätigkeit können wir uns kein Bild machen bis das einzelne Leben da ist in Gemeinschaft mit den andern. Wir können sie uns nicht anders denken als die Anerkennung der Identität des Lebens. Hierin liegt schon als Keim das Gattungsbewußtsein und dies ist also schon in den ersten psychischen Äußerungen der Selbstthätigkeit in der That mit gesetzt. Nun ist aber offenbar die erste Aufgabe der Selbstthätigkeit in ihrem Zusammenhange mit der Empfänglichkeit die Fortsetzung des einzelnen Lebens in dieser freien Beweglichkeit der einzelnen Funktionen. Wenn dies ein Seinwollen des Einzelwesens ist, haben wir das auf das Einzelwesen als solches oder insofern es Produkt der Gattung ist zurückzuführen? Wenn wir gesagt haben, das Werden | des Einzelnen ist als Akt der Gattung [anzusehen], also diese ist nur in der Gesammtheit der Einzelwesen, wo diese wieder mit und nach einander sein müssen, was das Wesen [ ] ist. Jedes Werden eines Einzelwesens hat seinen Grund in dem Nacheinandersein müssen und indem die ersten Äußerungen der psychischen Thätigkeit das Wissen um das Miteinan39 Wesen] es folgt ein Spatium von 1 cm Länge, zu ergänzen wohl der Gattung

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dersein [ist] und sich dies als Frieden ausdrückt läßt sich das ganze Seinwollen des Einzelnen auf die Lebensthätigkeit der Gattung zurückführen. Hier haben wir nun eine Lebensäußerung welche gewöhnlich durch den Ausdruck des Selbsterhaltungstriebes bezeichnet wird d. h. das Seinwollen des Einzelwesens, die Continuität seiner Lebensbewegungen unter dem Begriff des Wollens gedacht. Dies läßt sich ansehen als das Sichselbstsetzen des frei gewordenen Einzellebens aber auch als die Bestimmung des Gattungslebens zu dem Verlauf des einzelnen Lebens. Bleiben wir hier stehen um das Menschliche und Thierische zu vergleichen wie wird sich in Beziehung auf das Verhältniß zwischen Gattung und Einzelwesen die Differenz zwischen beiden manifestiren? In dem Gebiet des thierischen Lebens kommen wir nie auf Äußerungen welche sich als Conflikt zwischen dem Seinwillen des Einzelnen [und] dem Leben der Gattung manifestirt, und wenn wir auch Beispiele finden, was nun wenn es auf dem menschlichen Gebiete vorkäme, so angesehen werden müsse, sehen wir es doch dort nie so an, weil wir davon ausgehen, daß der Gegensatz nicht zur Entwickelung gekommen ist. Wo wir einen solchen Gegensatz annehmen finden wir auch, daß wenn auf der einen Seite ein solcher Conflikt entsteht er von der andern auch entsteht. Weil nur dies in dem thierischen Leben nie erscheint, finden wir darin die Bestätigung von jener allgemeinen Voraussetzung, daß der Gegensatz nicht entwickelt ist. In dem menschlichen Leben finden wir nun diesen Conflikt beständig. Wir müssen also einen Gegensatz als entwickelt anerkennen, aber indem wir nun auf das Verhältniß zwischen der Gattung und dem Einzelnen zurückgehen, ist der Conflikt nicht der reine Ausdruck des menschlichen Seins, sondern es gehört dazu immer nothwendig ein entgegengesetztes Moment, dieser Conflikt bezeichnet das Werden des Gegensatzes, die Vollendung ist das Wiederaufgehobensein beider unter der Form einer bewußten Übereinstimmung. Wir werden uns hier die beiden Punkte des noch latitirenden Gegensatzes und des zum Bewußtsein und zur Übereinstimmung zwischen beiden Gliedern entwickelten Gegensatzes a priori denken können, auf 2erlei Weise in ihrem Verlauf geworden, daß sich der Gegensatz unter der Form des Conflikts entwickelt hat und auch ohne Conflikt, indem sich beides immer gleichmäßig entwickelt[,] das Bewußtsein des Einzelnen und das Gattungsbewußtsein | in ihm. Wenn sie sich ungleichmäßig entwickeln wird das Verhältniß ein wechselndes und ein unstätes bis zuletzt mindestens eine Übereinstimmung entsteht und nun fragt sich finden wir dies wieder für sich gesetzt haben als eine 2fache Form unter welcher die 11 Einzelwesen] Einzelwesen sich 12 manifestiren?] manifestiren. wenn sich 29 Wiederaufgehobensein] Wiederaufgehg

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Selbstthätigkeit einzelner Momente steht, wie sich dieser Gegensatz zu den vorhergehenden verhält, zu der freien Beweglichkeit und dem bestimmten bewußten Wollen. [In Beziehung auf das bei der Rezeptivität Gesagte und die allgemeine Voraussetzung, daß das Gattungsbewußtsein wesentlich zu dem Elemente des Geistigen gehöre fragten wir wie es mit der Persönlichkeit stehe.] Wie verhalten sich die beiden Momente der Richtung auf die Persönlichkeit und der Richtung auf die Gattung zu dem bewußten Wollen und die freie Lebendigkeit? Wir gehen auf einiges Frühere zurück. In vielen Fällen sowohl in dem Gebiet des subjektiven oder objektiven Bewußtseins ist ein Übergang der Rezeptivität in die Spontaneität durch die Richtung auf die Mittheilung, die Mittheilung setzt aber die Mehrheit der Einzelwesen und die Identität unter dem Gattungsbewußtsein [voraus]. Indem wir darauf zurückgehen, daß wir uns keinen denken können, der nicht mit dem Anfang seines Daseins unter diese Mehrheit von Einzelnen trete, tritt hier ein 2faches Verhältniß ein, einmal repräsentirt sie ihm die Gattung, indem die Anerkennung des Menschlichen in ihm nichts ist als das zum Bewußtseinkommen derselben so ist Natur in allen; auf der andern Seite aber, indem allen dieselbe Außenwelt gegeben ist, können sie auch gegen einander treten, der einzelne gegen den einzelnen und die Mehrheit gegen die Mehrheit. Das können wir uns ursprünglich nur aus dem Verhältniß zu dem Außeruns erklären. Gebe es nichts als das Nebeneinandersein der Individuen würde sich jeder in seinem Dasein bereichert finden durch das Aufnehmen der andern Persönlichkeit. In der Anerkennung der Eigenthümlichkeit des andern läge immer die Anerkennung von seiner Eigenthümlichkeit. Es läßt sich so kein Conflikt unter ihnen denken. So wie wir aber auf jenes Verhältniß zu dem allen außer ihm gegebenen [sehen] können wir die Möglichkeit dieses Conflikts nicht leugnen, und sie muß um so größer sein, je vielseitiger diese Berührungen sind. Es ergiebt sich uns gleich so wie wir nur auf die Denkthätigkeit sehn, die schon entwickelt vor uns liegt, so wie die eigenthümliche Gestaltung der Denkthätigkeit eingetreten ist und sich heraushebt aus dem ursprünglich nur organischen Prozeß des Nachbildens und Festhaltens der sinnlichen Eindrücke ist in der Richtung auf die Sprache allerdings schon jene Tendenz von Mittheilung und es liegt also darin schon das Bewußtsein des Denkens als dasselbe in allen, die mit ihm zu demselben Lebenskreise gehören. Nun ist aber als Denkender jeder ein besonderer für sich. | Denkthätigkeiten können daher in mehrern verschieden sein, wiewohl sie von demselben Punkte ausgehen. Überall wo eine Gemeinschaft 3–6 [In … stehe.]] eckige Klammern im Manuskript 8 Lebendigkeit?] Lebendigkeit. 21 die Mehrheit] so SW III/6, S. 230; Ms.: den einzelnen

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des Denkens in der Sprache statt findet muß immer etwas als dasselbe in beiden anerkannt sein, wovon beide ausgehen. Allerdings wird dies sehr häufig der Fall sein, ohne daß ein Konflikt darüber entsteht, aber so daß die subjektive Form des Bewußtseins dominirt. Die Identität erwacht gar nicht für denselben; auf der objektiven Seite des Denkens, waltet das Bewußtsein der Identität des Typus des Denkens vor und da begnügt man sich nicht mit dem Resultat, es kann auch so gedacht und kombinirt werden wie jener denkt. Je mehr also der Gegensatz zwischen der objektiven und subjektiven Form des Bewußtseins entwickelt ist, um so leichter wird auf der objektiven Seite der Konflikt entstehen. Wie stehen denn beide gegen einander? eigentlich haben beide nur das Interesse die Identität des Denktypus festzuhalten und zu Bewußtsein zu bringen; es tritt aber hier die Persönlichkeit, das Interesse des Einzelnen unter einer andern Form mit hinein und diese ist der Ursprung des Conflikts, daß nämlich jeder sein Verfahren als das Abbild des Denktypus anerkennt. Wenn wir nun also dies Eintreten der Persönlichkeit in dem einen Verfahren aufrecht halten wollen, wo es nur darauf ankommt die Identität der Denkgesetze zu Bewußtsein zu bringen, ist der Conflikt gegen das Gattungsbewußtsein die dies fodert nur die persönlichen Differenzen immer zu subsummiren unter die Identität des Gemeinsamen. Es stellt sich, da die Möglichkeit des Conflikts gegeben ist, die Aufgabe, daß die Übereinstimmung wieder hergestellt werden muß zwischen dem einzelnen Bewußtsein und dem Gattungsbewußtsein. Wenn wir nun das Verhältniß des Einzelnen zu der Außenwelt als dasjenige woraus man am leichtesten die Möglichkeit eines Conflikts erkennt und dies [eben gefundene] gegeneinander stellt, so giebt es eine mehr reale und eine mehr ideale Weise, wie sich ein Konnflikt zwischen der Gewalt des persönlichen Bewußtseins und der Gewalt des Gattungsbewußtseins entwickeln kann. Betrachten wir das letzte auch als gegeben, wovon die Möglichkeit auch immer im Voraus gegeben ist, muß die Feststellung der Übereinstimmung zwischen beiden auch als möglich gedacht werden. Wir finden auch vollkommen einen Entwickelungsprozeß indem wir in dem ersten Anfang das nicht auseinander treten des Gegensatzes des persönlichen und des Gesammtbewußtseins [finden]; hernach das Auseinandertreten mit der Möglichkeit des Konnfliktes dann zuletzt ein Zusammenfassen der Glieder des Gegensatzes, wobei der Conflikt | nicht mehr möglich ist. Das 2te haben wir nun als Durchgangspunkt anzusehn und nur das letzte als denjenigen Zustand, in welchem sich die geistige Thätigkeit auf ihrem Gipfel manifestirt. Wenn wir nun die 2te Frage vorläufig nur mit in Betrachtung ziehen, wie sich diese 34 Gegensatzes] Gegensatzes zwischen

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Elemente in ihrem Auseinandertreten zu jenen beiden Formen der Selbstthätigkeit verhalten, so ist, sobald wir das Gattungsbewußtsein reduziren auf ein bestimmtes Gesammtbewußtsein, die Möglichkeit gegeben, daß auch dies in der Form der freien Beweglichkeit sich manifestirt. Es entsteht die Richtung auf die Aufhebung eines Konflikts und dieser soll unter der Form der Selbstthätigkeit erfolgen; es ist also hier eine Nothwendigkeit des gedachten und bewußten Wollens. Wenn wir uns denken den Einzelnen unter der Mehrheit der Einzelnen, die die Gattung repräsentirt, wird er sein Leben mit diesen zusammen als ein abgeschlossenes Ganzes betrachten, und also diese als die Masse, worin seine Anerkennung der Indentität des Menschlichen seinen Sitz hat; so wie wir eine Richtung annehmen in diesem Gesammtbewußtsein das Gattungsbewußtsein zu entwickeln, also die Totalität des Menschlichen in dem Selbstbewußtsein zu Bewußtsein zu bringen, so entsteht auch die Richtung die Lebensthätigkeit [der anderen] in sich aufzunehmen. Dies ist ein Prozeß der auffassenden Thätigkeit. In dem Einzelnen ist nicht die persönliche Differenz und die menschliche Identität in bestimmten Aktionen gegeben, sondern es ist Beides in Jedem und es giebt auch keine andere Auffassung als diese von beiden in einander. Es ist hier ganz dasselbe Verhalten wie als wir den Menschen den Dingen gegenüber stellen, so daß wir aufstellen, ein Akt des Bewußtseins sei nicht ein wieder Verschwindendes sondern auch ein Festhalten, aber nur daß ein Mehr oder Minder in dem Grade des Bewußtseins [stattfindet] womit das Aufgenommne festgehalten wird. So kommen also in jedem Einzelnen von jedem Punkt aus Bilder von menschlicher Thätigkeit, welche nicht die seinigen sind, wovon er einiges als das identisch Menschliche anerkennt, Einiges als das persönlich Differente, aber dies ist nur ein Akt der Abstraktion. Wenn wir nun sagen, daß diese Bilder bleiben, aber auf einem sehr verschiedenen Grade der Bestimmtheit des Bewußtseins, üben nun auch diese Bilder einer fremden Thätigkeit eine Wirksamkeit in dem Einzelnen aus. Diese Wirksamkeit ist nun ein Element seiner Selbstthätigkeit. Das stärkere Hervortreten derselben ist offenbar ein Akt seiner Selbstthätigkeit, denn es ist ein Jeder an andere Bedingungen geknüpft. Aber liegt hierbei ein bewußtes Wollen zu Grunde? Es ist | dies wohl möglich, es wird aber in den meisten Fällen dasselbe sein. Nun ruht dies aber ganz auf jener ursprünglichen Richtung auf das Gesammtbewußtsein und indem diese wieder nichts ist als die Richtung auf das Gattungsbewußtsein haben wir hier diese Form der innern Lebendigkeit. Wo es auf die Aufhebung eines Kon7 bewußten] Bew 15 die] ihre 32 Diese] Diese als 40 der innern Lebendigkeit] so SW III/6, S. 233; Ms.: des innern Gattungsbewußtseins

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fliktes ankommt zwischen dem einen und dem andern Element brauchen wir nur zu erinnern, wie wir in der Sprache beides bestimmt unterscheiden. Allerdings kann der Conflikt auch erfolgen unter der Form einer freien innern Beweglichkeit. Diese Unterscheidung giebt uns freilich noch einen besondern Aufschluß über die Art und Weise, wie dies ganze Verhältniß gedacht wird in dem Gesammtbewußtsein. Diese Differenz giebt zu erkennen, daß die beiden Arten das Wesentliche sind und das Gattungsbewußtsein unter der Form des Selbstbewußtseins die Form der freien Beweglichkeit annimmt. Aber wir haben noch eine Frage von derselben Allgemeinheit, nämlich das persönliche Selbstbewußtsein, wie wir es in seinem relativen Gegensatz mit dem Gattungsbewußtsein fassen, hat das auch als Impuls betrachtet jene beiden Formen des bewußten Wollens und der freien Beweglichkeit? Daß es das letztere hat versteht sich von selbst; denn die persönliche Differenz wird schon in derjenigen Entwickelungsstufe des Lebens, wo ein gewußtes Wollen noch gar nicht vorkommt, das Werden der persönlichen Eigenthümlichkeit und die Stetigkeit der Lebendigkeit in diesen verschiedenen Funktionen ihres Zusammenseins ist dasselbe. Kann das rein persönliche Bewußtsein auch unter jener Form des bewußten Wollens ein Impuls werden, so daß [die] Selbstthätigkeit desselben immer diese Form an sich trage? Bei dieser Frage müssen wir stets mit gewisser Vorsicht zu Werke gehen, daß das eigentliche Werden der persönlichen Differenzen wesentlich das Resultat der Selbstthätigkeit ist, die unter der Form der freien Lebendigkeit sich äußert, ist klar. Bei der andern Form aber fragt es sich, ob möglich sei, daß der Einzelne durch bewußtes Wollen aus sich selbst etwas machen könne und wie man das eigentliche maximum von Selbstbestimmung aufstellen will ist es gewöhnlich dies. Wir haben gesehen, daß diese Form der Selbstthätigkeit, das bewußte Wollen, das sich selbst Zuwider stellen, ein der Natur des Menschen wesentliches konstituirendes Element ist. [Nicht] alle Äußerungen der Selbstthätigkeit unter dieser Form gehören auch ausschließlich dem Gattungsbewußtsein an, allein wenn man fragt, ob dadurch der Einzelne etwas werden könne, was er sonst nicht geworden wäre, hat dies immer großen Widerspruch gefunden. Dies führt uns im Allgemeinen auf den Gedanken von einer möglichen Differenz in der Entwickelung [eines Einzelnen] von einem gegebenen Punkt aus. | Wir sind davon ausgegangen die persönliche Differenz als nothwendig für den Begriff der menschlichen Gattung anzusehen und zuzugeben, daß die ersten Schritte der Entwickelung schon gegeben 14 Beweglichkeit?] Beweglichkeit. 40 zuzugeben] zuzusehen

14 es] es ist

21 trage? trage.

31 alle] Alle

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sind ehe die Selbstthätigkeit bestimmt aus der Indifferenz des menschlichen Zustands heraus tritt. Nun denken wir uns seine Selbstthätigkeit entwickelt und fragen[:] kann der Einzelne durch Entwickelung seiner Selbstthätigkeit diesem gewußten Wollen eine beliebige Richtung geben? Gehen wir darauf zurück, daß das gewußte Wollen selbst das Resultat sei von der andern Form der Selbstthätigkeit, daß in diesem uns erst das bewußte Wollen entstehe, so würden wir freilich die Frage schon beantwortet haben. Denn gesetzt auch der Mensch könne durch dies bewußte Wollen seiner persönlichen Entwickelung eine bestimmte Richtung geben, so hat dies bewußte Wollen doch seinen Grund in der innern freien Lebendigkeit. Dies wäre die Antwort, welche aus jenem von selbst hervorgeht. Nun aber scheint diese den Vorstellungen welche man sich gewöhnlich von der menschlichen Freiheit macht nicht zu entsprechen und doch wird Niemand dies nun so weit treiben wollen eine entgegengesetzte Antwort ganz allgemein aufzustellen, so daß jeder Mensch wenn er sich fest vornehme, sein bisheriger Entwickelungsgang sei welcher er wolle, ein Dichter werden könne, aber ebenso wenig will man das Entgegengesetzte allgemein gelten lassen. Es kommt also nun auf die Bestimmung von Gränzen zwischen diesen beiden Allgemeinheiten an; sondern da wird sich bald zeigen, daß man nie auf Formeln kommt, welche das wirklich aussagen was postulirt wird. Niemand wird die Möglichkeit leugnen, daß einer ein solches bewußtes Wollen formiren könne; aber wenn dies unter den bezeichneten Umständen vorkommt, macht man gleich den Schluß, daß es ihm an der richtigen Bestimmung von sich selbst fehle und also von seinem bewußten Wollen kein Resultat zu erwarten sei, sondern man räth ihm dem zu folgen, was das Gesammtbewußtsein von ihm aussagt. Handelt es sich nun bloß von dem, was einer in der Gesammtheit ausrichten will, so kann nicht die Persönlichkeit allein hier den Impuls geben. Aber es ist ein bedeutender Unterschied zwischen dem was der Einzelne ausrichtet und auszurichten beschließt und dem was er wird und was er werden zu wollen beschließt. Dies letztere müssen wir zuerst genauer bestimmen. Wenn wir von der persönlichen Differenz reden, wodurch sich ein Einzelner von dem Andern unterscheidet sehen wir diese nicht an als eine selbst wieder wandelbare Größe sondern als eine Konstante. Niemand ist so vorsichtig zu sagen, das ist jetzt die Persönlichkeit des Menschen, morgen kann sie anders sein. Wir sind zwar darin sehr vorsichtig, die Persönlichkeit des Andern zu bestimmen, jedoch nur durch Approximation, aber das Indi|viduelle nie in eine Formel eines allgemeinen Ausdrucks aufgehen 5 geben?] geben. 23 bewußtes] Bew

22 Möglichkeit] so SW III/6, S. 235; Ms.: Unmöglichkeit 26 also] alle

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kann, aber wenn wir den Fall setzen wir hätten die persönliche Eigenthümlichkeit eines Menschen begriffen, sehen wir sie als eine Konstante an. So wie wir also das etwas anderes werden durch Akte der Selbstbestimmung darauf beziehen daß Jemand seine Eigenthümlichkeit erlangen könne durch bewußtes wollen, kann man leicht sagen, daß es ein solches bewußtes Wollen nicht gebe. Dagegen tritt eine allgemein gültige Rücksicht auf. Nämlich was [wir] vorher meinten ist, wenn wir uns denken ein Mensch hat seine persönliche Eigenthümlichkeit selbst ergriffen in Bild und Gedanken und sollte durch ein bewußtes Wollen auf eine andere persönliche Eigenthümlichkeit ausgehen ist dies ein sich selbst nicht wollen und dies ist nicht möglich. Die Instanz welche man dagegen aufstellt ist, wenn sich Jemand selbst ergreift als einen unsittlichen, muß daraus nothwendig ein sich selbst nicht wollen entstehen und dies wird nothwendig ein sich selbst anders wollen und wir halten jenes für unmöglich ohne dieses. Das ist auch unbedenklich zuzugeben, obschon wir auch hier nicht zugeben, daß das sich selbst anders wollen durch das bewußte Wollen realisirt werden könne. Aber diese Instanz ist nun gar nicht entgegen denn die persönliche Eigenthümlichkeit wird nicht eine andere dadurch daß der Mensch sittlich wird oder unsittlich. Das eine ist eine ganz andere Frage als das andere. Nämlich wenn wir von der persönlichen Differenz reden meinen wir nichts anderes, indem wir zu gleicher Zeit die Identität der menschlichen Natur setzen in allen Einzelnen, so können wir damit nichts meinen als das quantitative Verhältniß der verschiedenen Funktionen und das Verhältniß einer jeder dieser Funktionen zu dem was ihnen in dem Außer dem Einzelnen entspricht und wenn wir uns die persönliche Eigenthümlichkeit eines Einzelnen durch eine Formel ausgedrückt [denken] würde dies eine Formel sein, in welcher dieses quantitative Verhältniß erschöpft wäre. Denn was in einem Andern nicht wäre ist in keinem Einzelnen. Nun aber ist die Vernunft als solche nicht ein solches Quantitatives oder das Unterwerfen; das Unsittliche ist aber der Mangel an Vernunft in der Selbstbestimmung. So wie wir das bei allen Andern annehmen also z. B. wir wollen das was der Dichter macht durch den Ausdruck Phantasie bezeichnen, so ist dies etwas in einem verschiedenen Quantum in Jenem vorhandenes und indem es nicht als eine gewisse Größe gesetzt ist. Wenn Jene aber behaupten wollten, es könne die Vernunft in einem Menschen ein solches Quantum sein, daß er nicht einmal wollen könne, ein sittlicher Mensch zu sein, so wird man dies wenigstens nicht parallel stellen. | Wenn wir nun sagen wir wollen zugeben, daß der Einzelne indem er sich als ein Unsittlicher ergreift durch das bewußte Wollen ein sittlicher werde, so ist doch seine persönliche Eigenthümlichkeit keine andere geworden. Die Vernunft als Willensbestimmung erschiene nur in

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einem größern Umfange. Die persönliche Eigenthümlichkeit wäre keine andere geworden. Wenn wir also dies beseitigen und sagen daß es außerhalb dessen liegt, wovon wir jetzt reden und dies ist um so mehr als man ebenso sagen könnte das bewußte Wollen ist nicht ein Wollen welches in der Persönlichkeit als solcher seinen Grund hätte, sondern das Wollen der Gesammtvernunft, wie sie sich in dem Einzelnen manifestirt. Anders betrachten wir dieses Verhältniß nicht. Wenn wir uns denken eine Gesammtheit auf einer geringern Stufe der Sittlichkeit, hernach auf einer höhern und wir fragen wie dies geworden ist, so ist dies von Einzelnen ausgegangen, aber nicht als Wirkung der Einzelnen als solchen auf die Gesammtheit sondern der Einzelnen als das Gattungsbewußtsein in ihnen erwacht war. Wenn wir also diese Instanz beseitigen fragt sich können wir etwa gar zugeben, daß durch das sofern bewußte Wollen das quantitative Verhältniß der Funktionen sich ändere? Wenn wir dabei Rücksicht nehmen auf das Maaß der Übung und der Gewöhnung, läßt sich wohl denken, daß solche Veränderungen in dem geänderten Verhältniß vorgehen, bis ein Theil beharrlich in Thätigkeit versetzt wird von einer andern beharrlichen Reihe. Wie ist aber der Einzelne darauf gekommen? Durch ein sich selbst ändern wollen und wenn ein solches statt findet besagt dies nichts, als der Zustand, in welchem der Mensch sich findet und von welchem aus [er] ein anderer werden will ist nicht die richtige Darstellung seiner Persönlichkeit gewesen. Denn so wie wir jenes wollen streng festhalten, daß eine wirkliche Änderung mit der persönlichen Eigenthümlichkeit vorgehe kommt man darauf zurück, daß der Mensch sich selbst nicht wolle und hiezu fehlt dann ein jedes denkbares Motiv. Allerdings ist es eine häufige Erscheinung, daß es Menschen giebt deren ganzes Leben nichts anderes zu sein scheint als ihre persönliche Eigenthümlichkeit verändern wollen, weil sie in keinem Verhältniß ihrer Thätigkeiten zur Ruhe kommen; aber dann gehört diese Unstätigkeit mit zu ihrer persönlichen Eigenthümlichkeit und diese kann nicht geändert sondern nur gebändigt werden. Kurz alles was eine solche Änderung schürt läßt sich immer auf eine andere Formel zurückführen. Dies läßt sich am besten zur Deutlichkeit bringen, wenn wir den ganzen Gegenstand in seiner Totalität betrachten. Die menschliche Gattung realisirt sich nur in der Un|endlichkeit der persönlichen Differenzen. Wir gehen von den am stärksten hervortretenden aus (Racen); gehn wir weiter herab kommen wir innerhalb einer jeden auf die verschiedenen Völkerstämme denen wir ja jedem einen bestimmten Charakter zuschreiben und der Charakter der ganzen 4 mehr] mehr mehr eine Thätigkeit

8 Gesammtheit] Gesammtheit von einer

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QMenschheitR realisirt sich nun in den persönlichen Differenzen. Wenn wir also die Aufgabe stellen einer Änderung der persönlichen Eigenthümlichkeit in dem Einzelleben, so wäre das die Richtung in einem Einzelleben die ganze menschliche Gattung darzustellen indem in einem bestimmten Zeitraum alle persönlichen Differenzen in einem Einzelnen durchgemacht werden sollen. Dadurch ginge das ganze Verhältniß des Einzelnen zu der Gattung verloren und nun müßte eine jede solche Richtung auch nur einen Theil von dieser darzustellen ebenso ein Verlorengehen des Einzelnen für die Gattung werden. Es kann also aus keinem von beiden Elementen hervorgehen, nicht aus dem Einzelnen, nicht aus dem Gattungsbewußtsein weil indem er seine persönliche Differenz aufgiebt und eine andere annimmt, diese verloren geht. Sondern die Aufgabe ist nur seine persönliche Differenz zur höchsten Vernünftigkeit zu steigern. Wenn wir nun fragen, woher entsteht der Schein als ob es dergleichen wirklich gebe? Man verwechselt entweder die Aufgabe, daß die Vernünftigkeit gesteigert werden soll mit der Aufgabe daß die persönliche Eigenthümlichkeit geändert werden soll oder es erst die Erfahrung sei, daß es ein solch gewußtes Wollen gebe. Dies ist nur ein Schein. Worin besteht dieser? Es ist offenbar wenn wir uns denken, daß die Entwickelung der persönlichen Eigenthümlichkeit unter der Form der freien Lebendigkeit glücklich von statten geht und daraus auch das gewußte Wollen sich entwickelt, wir uns niemals denken, daß in einem Menschen der Gedanke entstehen könnte sich selbst zu einem Andern machen zu wollen; aber es kann wohl der Gedanke entstehen, eine andere Richtung einzuschlagen, aber bloß auf unbewußte Weise, negativ bloß; es muß eine andere Form vorschweben, was sie reitzt[.] Der Schein entsteht also aus 2 Elementen, der Unzufriedenheit mit sich selbst, nicht mit der persönlichen Eigenthümlichkeit sondern mit der Entwickelung derselben und etwas, was zur Nachahmung reitzt. Ist letzteres das Bild einer andern persönlichen Eigenthümlichkeit folgt derjenige dessen persönliche Eigenthümlichkeit sich in einem solchen minimum der Entwickelung findet wird am wenigsten im Stande sein andere persönliche Eigenthümlichkeit in ihrer Weise zu ergreifen, sondern zu Nachahmung reitzt ihn nur ein größeres Gelingen, was er sieht, gar auf einem Gebiete, worauf er bisher wenig Werth gelegt hat. – Und dies ist doch nur das Ausrichtenwollen. | Daß das bewußte Wollen also die Richtung hat die persönliche Eigenthümlichkeit zu wollen ist bloß ein Schein; es kann nur seine Richtung haben auf eine Produktion. In Beziehung auf Alles was dem Gebiet der Spontaneität angehört, ist, das was das persönliche Einzel2 Änderung] Ändderung

11 weil] weil er

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leben betrifft, alles Entwickelung. – Da jedem Menschen Alles, was zur geistigen Natur gehört gegeben ist und alle menschlichen Thätigkeiten in jedem vorkommen, bleibt uns nur das Verhältniß übrig, wozu auch gehört, die Richtung, welche sie nehmen. Das letztere ist ebenfalls nur eine Verhältniß Sache, es tritt 1, das Verhältniß menschlicher Funktionen gegen einander ein[,] 2, das Verhältniß eines jeden zu dem Gesammtgebiet, welches ihm angehört, worauf ihre Wirksamkeit sich erstreckt, auf das Verhältniß des überwiegend Receptiven zu der Gesammtheit dessen, was darauf einwirkt; da jede Rezeptivität nicht bloß Passivität ist, was sich auf den ersten Moment zurückverfolgen läßt unter der Form immer der Richtung der Aufmerksamkeit, des Aufnehmenwollens. Betrachten wir das quantitative Verhältniß der verschiedenen Funktionen unter sich bezeichnen wir das Hervorragende unter denselben als Talent; betrachten wir das Verhältniß zu der Gesammtheit bezeichnen wir das Hervorragende als Neigung. Von einer andern Seite angesehen ist beides dasselbe. Wir werden nie die volle Bestimmtheit haben, wie sich ein Einzelwesen von einem andern unterscheidet, wenn wir nicht Beides zusammenfassen. Je mehr die hervorragende Funktion auf die Totalität ihrer Gegenstände gerichtet ist, um desto universeller ist das Talent. So kommen wir wieder auf 2 Endpunkte, zwischen welchen alle Formationen liegen, der Endpunkt von durchaus specieller Richtung. Wenn wir uns denken alle größern Funktionen zurücktretend hinter eine einzelne und diese sich haftend an einen bestimmten Gegenstand, so ist die ganze Richtung eine bestimmte Einseitigkeit. Denken wir uns dem entgegen alle einzelnen Funktionen in einer Gleichmäßigkeit der Entwickelung, so daß keine die hervorragende ist und auch eine Gleichmäßigkeit in der Richtung nach allen Seiten hin, so daß man auch keine Neigung unterscheiden kann, ist damit die größte Universalität ausgedrückt. Wollten wir uns denken die menschlichen Kräfte so vertheilt, daß jeder nur die speziellste Beziehung hätte, würde Alles, was die menschliche Gesammtaufgabe bildet in einer absoluten Vollkommenheit dargestellt werden. Denn das Ausschließen alles Übrigen bringt immer die größte Vollkommenheit in der einzelnen Richtung hervor und denken wir uns eine solche Vertheilung der Totalität würde das Resultat nicht eine solche Vollkommenheit haben, | sondern es würde Alles in einer gewissen Mittelmäßigkeit sein. Was würde aber in Beziehung auf den Menschen selbst das Resultat von diesen beiden Extremen sein? In dem 1sten Falle würde das Band, welches die Menschen verbindet ein minimum sein; im letzten würde das Verständniß ein maximum sein, aber jeder würde auch hier dem Andern am wenigsten zu geben und am wenigsten zu empfangen haben. Nun sind genau genommen diese Endpunkte nirgends vorhanden. Der Mensch kann

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nicht ganz und gar in einer QeigenwilligenR Richtung der psychischen Thätigkeit aufgehen. Je mehr die andern Thätigkeiten ein minimum sind, desto mehr beruht auch das Verständniß des ganzen Menschlichen Seins auf einem solchen minimum. Ebenso kann in dem Einzelnen keine vollkommne Gleichmäßigkeit sein. Das Seelewerden des Geistes ist ein vollkommen gleicher Akt. Die Differenz der Einwirkungen von Außen, die Differenz des Standortes muß also nothwendig eine Differenz im Innern hervorbringen. Zwischen diesen beiden aber liegen alle Abstufungen, welche wir uns zwischen ihnen denken können. Indem sich die Allgewalt der einzelnen Richtung auf das ganze Dasein vermindert, treten die andern hervor. So finden wir von da den Übergang zu jener absoluten Gleichmäßigkeit und von hier wieder nach dort. Wenn wir uns diese ganze Mannigfaltigkeit unter den dargestellten Formen vor Augen stellen entsteht eine neue Frage. Wir haben gesagt, es giebt keine Wirkung des absichtlichen Wollens auf die Eigenthümlichkeit des Einzelwesens, sondern alle Selbstthätigkeit unter dieser Form kann es doch nur in dem in ihm angelegten Verhältniß entwickeln. Hier sind wir auch auf den Unterschied der Quantität geführt, und es fragt sich also, giebt es durch die Selbstthätigkeit eine Vermehrung dieser Quantität d. h. kann der Mensch die Gesammtheit seiner Geisteskräfte als eins betrachtet erhöhen, oder ist diese Quantität auf eine verschiedene Weise gegeben? Wenn wir die Frage bejahen, nehmen wir als möglich an eine Selbststeigerung des Einzelwesens und wir würden dann in dem Zeitraum eines menschlichen Lebens uns als möglich denken, daß ein beliebiges Quantum solcher Steigerung eintreten könne. Es ist allerdings leicht zu sagen, daß der Einzelne kann einzelne Funktionen durch eine beständige Übung steigern, aber in demselben Maaße entwickeln sich dann die andern Funktionen nicht, weil ihnen nicht dieselbe Zeit zu Gute kommt; es ändern sich also nur die | Bestandtheile einer Summe; findet aber von der Gesammtheit der Funktionen als Eins angesehen eine solche Steigerung statt? Wir gehen auf die Denkthätigkeit zurück. Diese entwickelt sich sobald der Complexus von Bildern der aus der organischen Thätigkeit entsteht auf eine gewisse Höhe gestiegen ist. Dann entwickelt sich vermöge des Bedürfnisses nach Mittheilung das eigentliche Denken. Dies ist aber ursprünglich nicht dasselbe. Das minimum davon ist, wenn ein Mensch nichts denkt, als was unmittelbar von dem Complexus von Bildern in welchen sich sein Leben bewegt gegeben ist, ist ein minimum von Produktivität in den menschlichen Funktionen; das maximum ist eine beständig fortdauernde freie Lebendigkeit der den21 erhöhen] erhöhet 22 gegeben?] gegeben. gegeben ist] gegeben ist bewegt

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kenden Funktionen, mögen wir uns dies wohl denken unter der Form eines gewußten Wollens oder unter der Form eines freien Spiels. – Wenn wir uns hier also denken die höchste Lebendigkeit in den Denkthätigkeiten haben wir im vorigen Fall die größte Trägheit gedacht. Ist nun die Aufgabe es solle sich Jemand steigern, dieses maximum von Trägheit aus in die Richtung auf jene Lebendigkeit, können wir uns das in abstracto als möglich denken. Damit sich Jemand aber von diesem maximum der Trägheit aus steigere muß etwas vorausgesetzt werden, was nicht da ist. Denken wir uns, wir werden von Außen her getrieben, so ist das nicht die Selbststeigerung, sondern ein Gesteigertwerden. Es ist 1, hier eine äußere Einwirkung und nächst dieser ein innerer Umlauf. Diesen Einfluß müssen wir uns nothwendig denken. Aber etwas ganz Anderes ist es mit jener Selbststeigerung. Durch die Verschiedenheit der äußern Einflüsse hat die Entwickelung einer Funktion in einem gewissen Zeitraum eine Bewegung, die sie in einem andern Zeitraum nicht hat und in der Entwickelung derselben kann also eine Ungleichheit statt finden, aber das Resultat, als Resultat der Selbstthätigkeit, wird kein verschiedenes sein. Dies alles gilt nicht nur von dem Einzelnen sondern auch von dem Gesammtleben d. h. von den größern zusammengesetzten Einheiten des geistigen Seins. Dieselben Differenzen der Einseitigkeit und Universalität finden wir auch in verschiedenen Völkern; ebenso die Differenzen der Gesammtkraft, also eine Differenz in dem Exponenten der Entwickelung und also eine Differenz in der Gesammtheit der Resultate, vermöge der der eine an und für sich eine Ergänzung hinzunehmen muß, ehe das Gesammtbild hervorgebracht ist. So erscheint uns das ganze menschliche Geschlecht als eine solche Einheit und hier wird Niemand | zweifeln zu sagen, es hat sein bestimmtes Maaß, aber auch Differenzen in seiner Entwickelung, die wir hier nur auf jene Form der Selbstthätigkeit zurückführen müssen. – Nun aber haben wir es durchaus nur zu thun gehabt mit den Formen der Spontaneität, und mit der Gradation derselben; was ist denn aber das eigentlich materiale davon? Wenn wir hier nun bei den ersten Lebensäußerungen wieder anfangen auf der einen Seite und dann die Totalität der Aufgabe auffassen auf der andern Seite, so fängt alle Spontaneität nur an mit dem sich selbst setzen wollen des Einzellebens und die ersten Äußerungen sind keine andern als auf der einen Seite der Selbsterhaltungstrieb, auf der andern Seite in Beziehung auf dieses das Besitzergreifen in der Gesammtheit des Seins. In der Form des menschlichen Lebens als Gattung liegt aber nun nothwendig zu gleicher Zeit die Selbstmanifestation; ohne dieses ist das 2te, das Besitzergreifen in der 25 für sich] )für sich*

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Welt nicht zu denken, weil jeder Akt den andern aufheben würde ohne die Manifestation. Auf diese einfachen Elemente läßt sich nun aber Alles zurückführen, nur liegt in demselben auf ihr maximum bringen müssen Aller geistige Umlauf, wie er durch die geistige Selbstmanifestation bewirkt worden ist[,] immer zugleich der Selbsterhaltungstrieb und das Besitzergreifen. Indem wir nun also dies in einander denken als von einander abhängig und in jedem Einzelnen immer das Andere, haben wir damit die ganze Aufgabe der menschlichen Selbstthätigkeit und in derselben mit die ganze Aufgabe der Rezeptivität, die wir hier auf Selbsttätigkeit zurückführen. Wenn wir die Sinnesthätigkeiten betrachtet haben als ursprünglich in einer solchen Indifferenz als sich öffnen durch Reiz, auf der andern Seite als sich Öffnenwollen, haben wir die Elemente in der ganzen Form. Wenn wir nun das Resultat davon betrachten in der Gesammtheit, denken wir uns die ganze geistige Thätigkeit des menschlichen Geschlechts in ihrer Vollendung muß sie auch sein die vollständige Manifestation des Geistes in dem Sein; und das vollständige Gebildetsein der Welt für den Menschen und in beiden so auch das vollständige Sein und Wirkenwollen des Geistes. Hier erscheint nun allerdings in der Einheit des Gesammtresultats eine Differenz der Beziehungen und es entstehen daraus auch Differenzen in dem Prozeß, die wir aber nur verstehen können, indem wir sie von dem einen Punkt aus immer wieder auf den andern beziehen. | Das Mittelglied ist das Besitzergreifen. Wir können dies anfangen mit allen den Operationen durch welche der Einzelne sein Fortbestehen aus der Außenwelt nimmt. Das erste Besitzergreifen ist der Ernährungsprozeß, aber dies ist niemals etwas an und für sich, sondern hat immer seinen Zweck in jenen beiden. Aller Zusammenhang mit Dingen außer uns hat entweder die Richtung auf die Selbsterhaltung oder die Selbstmanifestation. Wenn wir nun sagen Alles dies zusammen bildet die Äußerungen der Selbstthätigkeit eines Einzelwesens, so muß man dies in seinem ganzen Umfange denken. Das Besitzergreifen ist für die Selbstmanifestation etwas Nothwendiges; es gäbe gar keine Sicherheit, Stätigkeit, irgend eines Besitzes, wenn nicht eine solche Manifestation darin wäre. So wie wir an irgend einem Gegenstand erkennen, daß menschliche Hand darin gewesen ist, – Wenn nun dies nicht daran zu erkennen wäre, würde auch keine Art und Weise [zu] 23 beziehen] so SW III/6, S. 244, Ms.: reduziren 35 Vgl. SW III/6, S. 244: „So wie wir an einem Gegenstand erkennen, daß menschliche Hände daran gewesen, so sezen wir auch eine Beziehung zu dem, der es in diesem Zustand versezt hat und erkennen diese an.“

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denken sein, wie der Besitz könne anerkannt werden und die Manifestation vermittelt den Besitz, der Besitz vermittelt das Fortbestehen und dies schließt dann alle Äußerungen der Selbstthätigkeit in sich, dennoch ist es offenbar müsse sich dies Dauernde immer von einander unterscheiden und jedes sein eigenthümliches haben. Fangen wir an bei dem, was zur Selbstmanifestation gehört, das Gattungsbewußtsein unter dieser Form zu der der Einzelne sich dem Einzelnen gegenüber stellt schon im Voraus. Es erfüllt das Gebiet den ganzen Raum dessen, was wir Kunst nennen. Wir sind schon einmal, wiewohl nur theilweise auf diesem Gebiet gewesen; aber da wir es nicht von der Seite der Selbstthätigkeit betrachtet haben mußten wir es ausgesetzt sein lassen. Wir kamen gerade von solch einzelnen Formen aus, wo uns eine ursprüngliche Äußerung des Einzelnen erschien, indem wir sagten, daß ursprünglich das subjektive Bewußtsein sich kund gebe durch den Ton und Geberde, von dem objektiven Bewußtsein durch die Sprache. Wenn wir von jenen Elementen nun ausgehen ist darin freilich eine solche Unmittelbarkeit, daß wir sie nicht als Kunst ansehen können, obgleich die einzelnen Elemente doch dieselben sind, welche wir in einem Gebiet der Kunst, wo das Kunstmäßige unmittelbar an der menschlichen Person ist (die Mimik) finden. Der Gesang abgesehen von allem Sprachgehalt ist auch ein Kunstgebiet, an der Person. Es fragt sich nur ob wir an diesen Anfängen vollkommen genug haben, um uns auf eine allgemeine Weise zu überzeugen, daß alle Kunstthätigkeit keine andere Tendenz hat als die Selbstmanifestation. Was wir irgend als Kunst ansehen, finden wir immer auf irgend eine Weise getrübt, wenn ein bestimmter anderweitiger Zweck daraus ersichtig ist. Wir theilen dann gleich und schreiben das, was diesen Zweck realisirt einem andern Gebiete zu und setzen das Kunstmäßige nur in | demjenigen, was wir auf die Selbstmanifestation beziehen. Denken wir uns z. B. ein Gedicht, welches ein Kunstwerk ist. Denken wir uns dasselbe mit dem ausdrücklichen Zweck Kenntnisse mitzutheilen, Andere zu unterrichten so trennen wir beides; keinen Inhalt schreiben wir damit einer andern Thätigkeit zu; die Form ist freilich die Form der Kunst. Denken wir uns z. B. daß diese Form sei des Zweckes willen geben wir alle Ansprüche auf, welche wir an ein Kunstwerk machen. Wir haben hier also ein Gebiet, was sich nicht läßt auf die 8 stellt] stellt ist 5–8 Vgl. SW III/6, S. 245: „Wir wollen bei dem anfangen, was zur Selbstmanifestation gehört. Diese haben wir abgeleitet aus dem Gattungsbewußtsein, weil der einzelne sich nur kundgiebt für andere, indem er sich ihnen gleich sezt. Demnach können wir sagen, daß es eine Thätigkeit ist, die von dem einzelnen ausgeht, insofern er andre einzelne als ihm gegenüberstehend annimmt.“

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Manifestation zurück führen, aber doch aus dem Gebiet der Kunst ausschließen, von der Voraussetzung aus, daß die mit einem solchen Zweck nichts gemein hat. Dasselbe müssen wir sagen, wenn wir uns irgend einen praktischen Zweck denken z. B. irgend ein Werkzeug zu einem bestimmten Behuf, aber dies in einer schönen Form, so werden wir beides von einander trennen. Das Werkzeug als solches, insofern es einem bestimmten Zweck dient, werden wir nicht für ein Kunstwerk halten, aber die schöne Form doch wieder auf die Idee der Kunst beziehen und sagen, daß darin der Verfertiger sich selbst manifestirt habe, wenn nicht die Form zu dem Zwecke gehört. Wenn wir dies nun als ein Schema ansehen, werden wir es auch verallgemeinern können, so daß wir sagen, jeder Zweck ist dem Kunstgebiet etwas Fremdes. Wir werden einen ganz unmerklichen Übergang finden, von jenen ursprünglichen Manifestationen des Selbstbewußtseins zu allen Kunstwerken welche daraus zusammengesetzt sind. Alle Historienmalerei z. B. ist von einer Seite angesehen nichts anderes als Darstellung des unmittelbar Mimischen, es ist das Fixiren des Mimischen und ein historisches Gemälde ist nichts als eine Gruppe von mimischem Gehalt. Alles was aus dem Bilde unmittelbar zu bezeichnen ist ist immer nur die Selbstmanifestation, alles Andere, wird erst mittelbar daraus geschlossen. Je mehr in dem Kunstwerk der Gedanke dominirt, um desto mehr hat das Kunstwerk die Denkthätigkeit zu ihrer Manifestation. Wenn wir nun, ohne das Gebiet schon ganz zu verlassen, zu dem Andern, der Besitzergreifung gehen, so gehört dahin, Alles was der Mensch den Dingen thut, um sie zu einem Zweck zu gebrauchen. Eine jede fortgesetzte Operation an einem äußern Dinge ist eine Fortsetzung des Besitzergreifens, denn die Beziehung wird unfehlbarer. Nun läßt aber alles dies immer noch Raum für jenes Gebiet der Selbstmanifestation als accessorium, wenn z. B. das Besitzergreifen dabei das capitale ist. Wie kommt aber diese Behauptung zu Stande? Welche Tendenz ist es, daß wir in der Operation | des Besitzergreifens auch die Manifestation suchen, d. h. die Form? Es nimmt gleich Jemand Besitz von einem Stück Land, wir können uns denken, daß dies in Beziehung auf den Zweck von einer absoluten Unregelmäßigkeit der Form ist; nun kann er nach dem reinen Bedürfniß handeln, aber auch, wenn er eine bestimmte Form hervorbringen will, nach der Manifestation. An der Form soll dann nun so sichtbar die menschliche Thätigkeit erkannt werden. Hier sehen wir also, die Richtung ist die, daß dies Beides zusammen sein soll und daß wir uns nicht begnügen wollen an dem bloß Mittelbaren. Hier können wir nur darauf zurückgehen, es geht diese Selbstmanifestation von dem Gattungsbewußtsein 30 Behauptung] Verhauptung

30 Stande?] Stande.

32 Form?] Form.

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aus; der Einzelne setzt Andere voraus und für diese Andern ist nun diese Thätigkeit. Wir werden freilich auch noch etwas Engeres annehmen können, wenn wir sagen, er thut dies für sich selbst, nicht auf die Weise, wie er die Hauptsache daran thut, nicht um des unmittelbaren Zwecks willen, sondern für sich selbst um des Betrachtens, indem er sich selbst als einen Andern setzt. Wenn wir darauf zurückgehen, daß diese besitzergreifende Thätigkeit schon der Mittelpunkt sei, daß sie nicht für sich sei, sondern wegen der Selbsterhaltung, ist die Manifestation überall bei der Besitzergreifung und diese bezieht sich auf die Selbsterhaltung. Dasselbe gilt bei der Manifestation. Es ist gar kein solcher exklusiver Grund, daß diese nur sein könne an der besitzergreifenden Thätigkeit, sondern bei allem, was Selbsterhaltung ist. Dies geht schon in die einfachste Constitution des täglichen Lebens ein. Das Nahrung zu sich nehmen ist das unmittelbare Bedürfniß. Denken wir uns eine Familie, wo dies rein als eine Sache des Bedürfnisses betrieben wird, sieht dies recht vornehm aus, aber es ist auch eine Bildungslosigkeit darin und es ist fortgeschrittene Bildung wenn die Befriedigung dieses Naturbedürfnisses auch ein geselliger Akt ist und so entwickelt sich aus dem einfachsten Animalischen das Menschliche. Es fragt sich, ob wir nun sagen können, ob alle Äußerungen der Spontaneität in diesen 3 Verzweigungen aufgehen. Alle Äußerungen der Selbstthätigkeit insofern sie von dem Einzelwesen ausgehen, – aber wir haben schon in dem einen dieser Zweige, in der Manifestation der Selbstthätigkeit das Gattungsbewußtsein als das eigentlich Bewegende gefunden, denn wenn wir uns dies weg denken ist kein Grund daß der Mensch einen andern Menschen anders behandle als irgend ein Ding. Die Manifestation [ist] ein sich Öffnen der Persönlichkeit vermittelst des Gattungsbewußtseins und in Beziehung auf dasselbe. Ist diese Verbindung nun | nur in diesem Element? Wir können uns freilich denken, daß diese Richtung auf Selbsterhaltung sogar jene Tendenz aufheben kann d. h. die Noth der Selbsterhaltung kann den Menschen dahin bringen 1, das was von einem Andern gebildet anzuerkennen, doch so zu betrachten als ob es das nicht wäre[,] dann ist freilich dadurch der ganze Akt der Manifestation den der Andere hineingelegt hat aufgehoben. Aber wir setzen damit zugleich einen Widerspruch. Wir können sogar sagen, die Noth der Selbsterhaltung kann den Menschen dahin bringen auch den Menschen selbst nicht anzuerkennen, so zu handeln als ob es keine Manifestation gebe. Denken wir uns dies als maximum ist es Menschenfresserei, die wir nicht als die niedrigste Stufe des menschlichen Seins, sondern als eine Perversität ansehen. Sehen wir aber, wie sie uns historisch gegeben ist, so 33 anzuerkennen] anerkennt

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wird die Manifestation dadurch nicht ganz aufgehoben und der Umfang worin das Gattungsbewußtsein in die persönliche Thätigkeit einzieht ist für uns zugleich der Maaßstab der Entwickelung; je mehr ein Konflikt möglich ist zwischen der Manifestation und der Selbsterhaltung, um desto niedriger ist das menschliche Dasein bezeichnet. Wenn wir das Gebiet der Selbstthätigkeit für die Kunst betrachtet haben, müssen wir auch darauf Rücksicht nehmen, daß wir die Rezeptivität selbst auf die Spontaneität wieder zurückgeführt haben. Wenn wir die Verhältnisse des Subjekts zu dem Sein in ihrer Totalität betrachten, finden wir ein verschiedenes Verhältniß der Richtung (Talent und Neigung). Es gehört also auch mit zur Selbstmanifestation, daß dies heraustrete. So steht die bildende Kunst in näherm Verhältniß mit einer ausgezeichneten Richtung auf die Wahrnehmung der Gestalten. Dasselbe gilt in Beziehung auf die Malerei, von der Art, wie das Licht die Gestalten zur Wahrnehmung bringt denn das ist das Eigentliche, die Wahrnehmung der Gestalten unter der Potenz des Lichts. Sehen wir nun auf die Poesie, so ist diese freilich mehr zusammengesetzter Natur, besonders in den Arten, welche mit der Musik unzertrennlich verbunden sind. Die Musik beruht am wenigsten auf dem Talent der Wahrnehmung, sie ist das ursprünglich Productive in ihren einfachen Elementen. Die Naturtöne, der Gesang mit eingeschlossen, sind nur Analoga zur Gemessenheit des Tons. Die Wahrnehmung ordnet sich daher der ursprünglichen Spontaneität unter, daß sie erst um diese zu verstärken eintritt. Dagegen ohne diese Verbindung steht die Dichtkunst mit der Wahrnehmung in Verbindung und beruht darauf, nämlich mit der Wahrnehmung des Menschlichen. Aber es verbindet sich nun hier ein anderes ebenfalls rein produktives Element, nämlich das in der Sprache indem die Gemessenheit des Tons in der Sprache [liegt], welche nicht ursprünglich und wesentlich eine Beziehung auf den Gesang hat. Diese Produktivität ist Selbstmanifestation. So wie die Zustände, die hier nichts sind als der Übergang von dem, was | Resultat des Wahrnehmungstalents geworden ist in der Conception von dem Zustand, die der Produktion des Kunstwerks vorhergeht. Alle poetische Begeisterung beruht immer auf einer Masse von Wahrnehmung des Menschlichen. Die ursprüngliche Conzeption ist schon eine produktive Innovation. Es ist dies gerade schon der Zustand, welcher das Musikalische in der Sprache bestimmt und wenn wir uns denken das dichterische Talent auf seinem maximum, können wir uns nicht den20 Productive] so SW III/6, S. 249; Ms.: Positive 20–21 Zusatz SW III/6, S. 249: „denn die künstlichen Töne sind eigentlich alle Erfindung des Menschen und bloße Erweiterungen seines ursprünglichen Organs,“

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ken, daß ein Dichter das Material des Gedichts aus sich festgestellt habe und das Metrische nicht. So wie wir diesen Hauptcyklus von Kunstgattungen und Kunstformen betrachten, sehen wir, wie die Selbstmanifestation auf Beides zurückgeht. Wenn wir nun das Gebiet, welches auf der einen Seite die Sprache zu seiner Basis hat und das Kunstgebiet, welches die äußere Wahrnehmung zu seiner Basis hat, weiter verfolgen, müssen wir sagen, es giebt auch außer den materiellen Erscheinungen der Kunst, auch ein Anhaften der Kunst an andern Funktionen. Wir finden die Kunst an demjenigen anhaftend, was seinem eigentlichen Zweck nach demjenigen was den Impuls zu finden gegeben hat, dem Kunstgebiet nicht angehört. Bei aller Selbstthätigkeit erscheint uns die Kunst zugleich. Wenn wir in dem Besitzergreifen und Selbsterhalten keine Spur der Kunst finden, stellen wir dasselbe auf eine niedere Stufe. Das Gattungsbewußtsein, wodurch doch auch das Selbstbewußtsein erst ein wahrhaft persönliches wird ist dann noch unter der Form der Bewußtlosigkeit. Auf der andern Seite ist es das maximum, wie überall in aller Selbstthätigkeit, die auf jenen andern Zweck gerichtet ist, doch die Kunst als die wahre Selbstmanifestation mit erscheint. Ehe wir weiter gehen müssen wir noch wieder aufnehmen, daß wir als wir noch bei der rezeptiven Seite des psychischen Lebens waren auch auf die Form des subjektiven Bewußtseins schlossen, die wir als das Wohlgefallen oder Wohlgefallen an dem Schönen bezeichnen. Es ist hier der Ort uns über das psychische Verhältniß zwischen jenem, was auf der Seite der Rezeptivität als dasselbe dargestellt wird und diesem der Produktion vorgehenden festzustellen. Wenn wir in Erinnerung bringen, was damals als Fundament und als Gegenstand dieses Wohlgefallens gesetzt wurde, je weniger das in den Umgebungen des Menschen gegeben ist, um desto stärker muß die Richtung darauf sein, um die produktive Seite davon hineinzubringen. Der Ausdruck selbst „das Schöne“ dem man freilich in Beziehung auf das ganze Kunstgebiet eine weitere Bedeutung gegeben hat, ist doch eigentlich diesem Theil eigen, welcher auf die Wahrnehmung der Gestalten ruht. Je mehr das Schöne in der Umgebung ist, desto leichter wird das produktive Talent geweckt. Je weniger es vorliegt, um desto später muß das | Innere sein, um von dem geringern doch gereitzt zu werden. Das geistige Leben erscheint also hier wieder unter der Potenz der Natur. Die lebendigen Gestalten, die Vegetation mit eingeschlossen, die auf den Naturformen, welche den Eindruck des Erhabenen machen sind auf ungleiche Weise vertheilt. Die Fähigkeit das allgemeine Schema in seiner Vollkommenheit aus seinen einzelnen Exemplaren zu entwickeln wird mehr oder weniger befördert in dieser 12 in] In

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oder jener Region. Es giebt klimatische Verhältnisse, welche die Entwickelung der animalischen Gestalten begünstigen, weniger die vegetabilischen, so daß also nicht Alles zusammen ist. Wollen wir nun das Verhältniß der künstlerischen Produktion und auch des künstlerisch Produzirten, [zu] dem Geschmack [betrachten], so erhält sich beides nur als ein Mehr oder Weniger. Wenn ich mir denke dieselbe Einwirkung von Außen, aber ein geringeres Talent, so wird daraus die Entwickelung des Wohlgefallens entstehen können, nicht die Produktivität, sondern unter denselben Bedingungen in einem größern Talent dazugehören letzteres hervorzubringen, die Richtung ist dieselbe. Damit hängt noch etwas Anderes zusammen welches erst auf einer höhern Entwickelungsstufe zum Bewußtsein kommen kann. Nämlich wir finden in verschiedenen Nationen einen ganz verschiedenen Typus in der Kunstentwickelung d. h. in Beziehung auf denselben Gegenstand eine andere Art das Schema, das reine innere Bild von dem Wesen des Gegenstandes darzustellen. Dies zu beurtheilen giebt es 2 verschiedene Gesichtspunkte. Es ist hier etwas Nationales und es drückt sich in diesem Typus aus das reine Naturverhältniß; so hat das eine denselben Werth als das andere und der zu Grunde liegende Typus sei welcher er wolle, so hat die Lebendigkeit des Darstellungstriebes bei dem einen denselben Werth als dem andern aber wir können auch sagen, das Festhalten des einen Typus beweist einen höhern Grad von Entwickelung. Es fragt sich ob dieser letzte Gesichtspunkt auch eine Realität hat oder ob er nichts Anderes ist als der erstere und ob wir vollständig in die Indifferenz gestellt sagen könnten, der Chinese hat ebensoviel recht seine Normalgestalt für die höchste Entwickelung zu halten als der Grieche. So wäre das nichts Anderes nur die QAnhänglichkeitR findet auf seinen Standpunkt zurück. Wenn aber doch die Kunst überall ausdrücken soll das Grundverhältniß zwischen dem Geist und dem ihm gegebenen Sein wie er es auffaßt und bildet, so ist, wenn wir von andern Völkern sagen, daß das eine Volk einen höhern Grad der Vollkommenheit darstellt, die Berührung auf einem solchen Punkt der Kunst stellt uns dar ein geringeres Eindringen des Geistes in dies Grundverhältniß. Wenn wir hier noch einmal zurücksehen auf die eine Seite der Auffassung und fragen, was wäre bei dem gestellten Zusammenhang die Formel unter welcher das erste Element der Auffassung sich gestalten | müßte, wenn daraus eine Entwickelung bis zu diesem maximum hervorgehen sollte, so daß ein Mangel an Befriedigung wäre, so lange die eigentliche Produktivität noch nicht auf diesem Punkt steht. Der Mangel an Befriedigung muß zugleich etwas Positivem entsprechen. Dies ist die Ahnung eines noch nicht Gegebenen. 3 nicht] nichts

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Denken wir uns also den Menschen unter den ungünstigsten Naturverhältnissen, den geistigen Faktor so, daß er diese ganze Entwickelung durch machen könnte, würden wir uns ein maximum von unbestimmtester Sehnsucht denken müssen, welches zur Folge haben könnte ein gänzliches sich Zurückhalten von der Produktion. So ist es die Zerstörung der ganzen Entwickelung a priori. Wo sich das Wohlgefallen am Schönen gar nicht manifestirt, haben wir zu beidem gleiches Recht und welches das Wahre sei kann nur durch andere Vergleichungspunkte entschieden werden. Die Vergleichung wäre, ob sich auch wirklich hier die Negation unter der Form eines unbefriedigten Verlangens darstellt, denn dies muß immer in Thätigkeit ausgehen und diese wäre zunächst das Bestreben aus den ungünstigen Naturverhältnissen herauszugehen. In der menschlichen Geschichte offenbart sich dies auch sehr im Großen und es giebt eine Richtung in der Bewegung der Massen, die eines höhern Grades der Entwickelung fähig sind nach solchen Naturverhältnissen hin. Aber wir finden dieses nicht überall sondern auch unter den ungünstigsten Naturverhältnissen ein ruhiges Verharren in dem Gegebenen. Dabei läßt sich nicht behaupten, daß alle Völkerwanderungen nur entstanden seien von diesem Bewußtsein aus der Ungünstigkeit der Naturverhältnisse für das Problem des Lebens d. i., das Eindringen des Geistes in das Sein. Und sobald wir diese innere Richtung erkennen in der Selbstmanifestation [müssen wir] zugleich einen möglichst hohen Grad des Eingedrungenseins in das Sein zur Darstellung zu bringen und das Motiv beides in ein solches Verhältniß zu setzen, wo sich beides aus einander entwickelt. Wir betrachten das Besitzergreifen in Beziehung auf die Außenwelt. Die Thätigkeit des Besitzergreifens fängt so an, daß sie nicht zu unterschieden ist von der Richtung auf die Selbsterhaltung. Die menschliche Organisation kann nicht bestehen ohne den Assimilationsprozeß. Aus dieser Nothwendigkeit der Selbsterhaltung entwikkelt sich das Verhältniß des Menschen zur Erdoberfläche und dies ist die einfachste Gestalt, indem er das Bewegliche was er gebraucht aufzieht und das auf dem Boden Wachsende benutzt. Je mehr sich dies entwickelt, um desto mehr sondert es sich von dem eigentlichen Selbsterhaltungstriebe und erscheint als eine eigenthümliche Richtung. Indeß in der Betrachtung dauert diese Indifferenz scheinbat noch fort, aber es ist eine tiefe Wahrheit darin, was Platon zuerst so aus[sprach,] hat man in Allem, was mechanische Kunstübung ist, die Richtung auf 2 daß] daß daß 37–2 Vgl. Platon: Sophistes, insbesondere 219a–e; Opera 2,205–207; Werke 6,228– 233

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das für sich selbst erwerben d. h. auf den Selbsterhaltungstrieb von der Richtung auf das Geschäft selbst [unter]schieden. Es ist dies nun auch natürlich, wenn man bemerkt | daß die Rücksicht auf den Selbsterhaltungstrieb die Verhältnisse des Geschäftes nicht bestimme. So wie diejenige Entwickelung eintritt, wo Theilung der Arbeit ist, sondern sich beide Richtungen von einander. Denn denken wir uns aus jenem Zustand entstünde plötzlich der andere, so wäre der Entschluß, den Jemand zu fassen hätte, durch den Selbsterhaltungstrieb nicht bestimmt, sondern es muß hier eine bestimmte Beziehung zu Grunde liegen. Hier kommen wir auf einen Punkt, wo sich eine Mannigfaltigkeit von Differenzen entwickelt in den einzelnen Menschen. Es ist noch eine andere Bemerkung zu machen. Wenn wir die Verschiedenheit des Exponenten betrachten, in welche sich zu verschiedenen Zeiten bei verschiedenen Völkern diese Mannigfaltigkeit von Arbeiten entwickelt und fragen wovon sie abhängt und wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Größe der individuellen Gränzen in den psychischen Funktionen, so wird je weniger der Geist als Seele sich individualisirt, um desto langsamer geht auch die Theilung der Arbeit vor; je schneller die individuelle Entwickelung, desto schneller auch die Theilung der Arbeit. Betrachten wir nun das Gesammtverhältniß des menschlichen Seins sehen wir hier eine verschiedene Art und Weise wie es sich in verschiedenen Funktionen und Zeiträumen gestaltet. Es muß aber Alles in die Wirklichkeit treten, was eine Art des Geistes, das Sein anzueignen ist. Die ganze Möglichkeit der Beherrschung der Natur muß durch diese Richtung des Geistes geschichtlich werden. Wir finden hier Alles wieder mit aufgenommen, was wir bisher schon von menschlicher Thätigkeit und dem Verhältniß der geistigen Thätigkeit zu dem leiblichen Sein in Betrachtung gezogen haben. Das Kennen von Allem was zu dem äußerlichen Sein gehört ist zwar Bedingung von dem Beherrschen desselben; aber nicht so daß das Beherrschen mit dem Können erst anfinge. Betrachten wir den Menschen in seinem dem Schönen am nächsten Zustand, so kann der Sinn für das Sein noch verschlossen sein in Beziehung auf Alles, was sich nicht am nächsten als Bedürfniß darbietet; dies ist das minimum des Erkennens, aber hieran knüpft sich schon die Neigung zum Beherrschen der Organisation. Nach jeder Erweiterung des Erkenntnißprozesses entsteht immer die Frage, was aus der Erkenntniß dem Menschen für die Beherrschung der Natur folge. Wir haben hier am unmittelbarsten die verschiedenen Einflüsse verschiedener Punkte auf einander und die dadurch bewirkte Neigung des geistigen Lebens nach allen Seiten hin. Hier ist aber auch gleich der Ort uns klar zu machen, 26 aufgenommen] aufzunehmen

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was für dieses gegenseitige Verhältniß der rein menschliche Ausdruck ist und wie diese Gegenseitigkeit nach beiden Seiten hin wieder in eine Einseitigkeit ausschlägt, wo die Gegenseitigkeit aufgehoben und die natürliche Richtung verfehlt wird. Gehen wir von unserm jetzigen Standpunkt aus, kann man leicht die Ansicht aufstellen, alle Naturbeherrschung sei nur ein Mittel um | die Herrschaft über die Natur weiter zu verbreiten und fester zu begründen. Dies ist eine Einseitigkeit. Denn es müßte dadurch der ursprüngliche Reiz des Erkennens verloren gehen. Das Bedürfniß geht zurück auf den Selbsterhaltungstrieb und das verletzte Gleichgewicht stellt sich immer wieder selbst her. Denn indem die Richtung auf das Beherrschen der Natur sich der auf das Erkennen unterwerfen will geräth sie dadurch selbst am sichersten unter die Potenz des Selbsterhaltungstriebes. Je mehr ein solches Verhältniß sich gestaltet, desto mehr verwechselt man, je mehr das Erkennen dominirt, die beiden andern. Daraus entsteht daß sie das reine Verhältniß zwischen jenen beiden Funktionen vernachlässigen und als Folgerung als etwas ihrer Unwürdiges vernachlässigen. Sobald wir nun dies ins Auge fassen hängt die ungehinderte freie Entwickelung der Selbstthätigkeit in jedem Gesammtleben von der Erhaltung des Gleichgewichts zwischen diesen verschiedenen Richtungen ab, wo an ein Numerisches nicht zu denken ist, sondern jedes Gesammtleben in seinem Zugleichsein bildet den Entwickelungsprozeß ab. Wir haben es als eine allgemeine Erfahrung zu Grunde gelegt, daß der Naturbeherrschungsprozeß anfängt mit der Indifferenz mit dem Selbsterhaltungstrieb. Der Anfang ist aber gerade das, wodurch ein jedes Leben gehen muß und in einer großen Masse befindet sich daher die eigentliche Masse in dieser Indifferenz und so wie wir einen Durchschnitt machen in Beziehung auf den Entwickelungsexponenten bleibt der größere Theil hinter der Durchschnittsmasse zurück. Die Masse wird daher immer dieselbe Indifferenz darstellen und nur, wenn man sie im Ganzen betrachtet wird man auch in ihr diese beiden Richtungen von einander sondern können. Bei einer solchen Indifferenz waltet aber auch eine unvollkommne Entwickelung des Bewußtseins vor; und in demselben Verhältniß als die Masse auf diesem Punkt stehen bleibt, ist auch das Bewußtsein entwickelt. Indem wir das auf die Rechnung der Entwickelung des Bewußtseins setzen, folgt das selbe, daß es aus der Entwickelung des Erkenntnißprozesses entsteht. Dieser ist das Sondernde. Er sondert unter der Form des Selbstbewußtseins die Indifferenz diese Richtung; d. h. es ist ein weiter fortfahren, wenn das Selbstbewußtsein diese Richtungen selbst sondere. Die Indifferenz ist aufgehoben in dem Maaße als die Einzelnen sich ihrer Thätigkeit in dem Naturbeherrschungsprozess als eines Talents oder einer Neigung bewußt sind. Die Realität dieser Scheidung bewährt

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sich überall, wo die Beharrlichkeit in der Ausübung eines Talentes unabhängig ist und der Grad, in welchem der Selbsterhaltungstrieb davon gesondert ist; so entwickelt sich Talent und Neigung als ein freies. Es ist aber nun auch die Entwickelung des Bewußtseins das sondernde Prinzip in seiner objektiven Form, indem der Zusammenhang zwischen dem Naturerkennen und | dem Naturbeherrschen auf eine unmittelbare Weise im Bewußtsein fixirt wird ohne Beziehung auf den Selbsterhaltungstrieb. Wie nun also Entwickelungen von differenten Talenten und Neigungen in dieser Richtung auf die Außenwelt zusammenhängen mit der Entwickelung der individuellen Differenzen in den Einzelwesen kann hier unmittelbar gezeigt werden. Die Totalität der Beziehung der Seele auf das uns gegebene Sein kann sich nur entwickeln d. h. also der Geist in dieser Beziehung und nach dieser Richtung hin sich selbst klar werden und sich dann in dem Einzelwesen in ein Mannigfaltiges zerspalten in dem Maaße als das gegebene Sein selbst klar geworden ist; das Sein selbst aber kann ihm nur klar werden als sich die Richtungen nach den einzelnen Zweigen desselben differenziren und so erscheinen also diese beiden Zweige der Selbstthätigkeit in ihrer unmittelbaren Beziehung auf einander als der eigentliche Entwickelungsgrund der individuellen Differenzen, während der Selbsterhaltungstrieb ein solches Entwickelungsprinzip gar nicht darbietet[,] denn je mehr jene Thätigkeit der Naturbeherrschung in der Indifferenz mit dem Selbsterhaltungstrieb bleibt, um desto weniger entwickelt sich sowohl die psychische Differenz als auch die Differenz des Naturbeherrschungsprozesses d. h. es besteht auf dieser Stufe nur eine Differenz insofern die dem Menschen gegebene Natur eine andere ist, so daß die Differenz nichts anderes ist als die Zusammengehörigkeit einer psychischen und physischen Constitution des Menschen mit einer Constitution der [Natur]Entwickelung. Das ist die Formel für alle Formen des Gesammtlebens wo ein einzelnes Geschäft für die ganze Masse dasselbe ist d. i. der Ort, wo die größte Leichtigkeit in der Befriedigung des Selbsterhaltungstriebes gegeben ist, d. h. wie der Waldbewohner nichts thut als jagen, der Fischer nichts als fischen. Es wird dadurch nichts dargestellt als die klimatischen Verhältnisse. Es würde durchaus falsch sein zu behaupten, daß die Einzelwesen selbst an und für sich unfähig wären die zusammengesetzten und weitergehenden Thätigkeiten auszubilden, was eine noch untergeordnete Reihe der Erkenntnißkraft bezeugt, ein Zurückgebliebensein in der Entwickelung des Selbstbewußtseins. Bei einem Unterschied zwischen den Hellenen und Barbaren, wie die Griechen ihn machten, ist das Gattungsbewußtsein noch nicht zur Entwickelung gekommen, aber allerdings das Verharren großer Massen in solchem Zustand deutet auf einen langsamen Entwickelungsexponenten. Das vollkommen

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entwickelte Gattungsbewußtsein stellt die Aufgabe durch die Einwirkung der Gesammtheit d. h. durch die geistige Cirkulation die Entwikkelung da aufzuregen, wo sie noch nicht ist und den Entwickelungsexponenten zu steigern. Es ist kein anderer Ort gegeben, wo wir diese sehr allgemeine Betrachtung, die den höchsten Schlüssel in sich enthält für die Betrachtung des menschlichen Gattungsbewußtseins im Großen, haben anstellen können als bei der Richtung auf die Naturbeherrschung. | Denn in dieser zeigt sich immer am deutlichsten, wie weit dieser Entwickelungsprozeß gediehen ist. Wie wir von Anfang an unterscheiden können, menschliche Massen worin ein geringer und worin ein stärkerer Entwickelungsexponent ist, so lange sich beide nicht berühren, bleibt im ersten die Indifferenz zwischen der Naturbeherrschung und dem Selbsterhaltungstrieb, in jenem entwickelt sich von selbst jener ganze Prozeß, die Indifferenz hört auf, der Naturbildungsprozeß verzweigt sich und es entsteht jenes gegenseitige Verhältniß zwischen dem Naturbeherrschungsprozeß und dem Prozeß des Erkennens. Wie aber erscheint die Berührung zwischen beiden? Dieselbe geht oft aus von den in die Indifferenz versenkten Massen, welche durch das Bedürfniß getrieben werden. Von jenen geht es aus von dem gegenseitigen Verhältniß zwischen dem Erkenntnißprozeß und dem Naturbeherrschungsprozeß, indem sie nicht nur auf die Naturentdeckung sondern auch auf Menschenentdeckung ausgeht, nur eine allgemeine Cirkulation der geistigen Kräfte zu bewirken, aber es giebt nichts woran wir die Entwickelung dieses Verhältnisses erblicken als bei dem Naturbeherrschungsprozeß. Wir haben die wesentlichen Äußerungen der Selbstthätigkeit betrachtet, nämlich den Selbsterhaltungstrieb und das Bestreben der Besitzergreifung und Aneignung der Außenwelt und dann die Richtung auf die Mittheilung. Wir gingen aber wieder zurück auf die Betrachtung und das Erkennen als eine Richtung der Selbstthätigkeit. Wir haben sie zwar schon früher betrachtet, aber im Zusammenhange der organischen Thätigkeit von der Seite der Rezeptivität. Nun ist dies aber nicht als eine Hauptrichtung in diese 3 aufgenommen. Wenn wir den Begriff so fassen wie wir das Einzelwesen schon betrachtet haben, daß wir hier den Gegensatz aufstellen zwischen Empfänglichkeit und Selbstthätigkeit als das Leben wesentlich konstituirend, doch Alles anfängt in einem Zustand des unentwickelten Gegensatzes, so daß die ersten Äußerungen der Rezeptivität auch angesehen werden können als Äußerungen der Spontaneität. Als wir hernach den Übergang machten zu der Produktion der Begriffe von den Bildern, konnten wir diese nur entwickeln 17 beiden?] beiden.

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als Selbstthätigkeit, gegründet auf einem ursprünglichen Verhältniß zwischen dem Geist und dem ihm gegebenen Sein, voraussetzend, daß beides in einander aufgehen müsse. Wenn wie dies ansehn als das zu Grunde liegende, was sich in der Thätigkeit des Lebens selbst realisirt, so führen wir Alles, was innerhalb dieser Entwickelung liegt, auf das sich selbst erhalten wollen zurück. Wenn wir also den Begriff erst auf diese Erweiterung gebracht haben, werden wir auf dieselbe Weise wie immer hier zu Werke gehen können, nur daß uns dieses Mal es das allgemeine Verhältniß darstellt, den Gegensatz zwischen Geist und der Außenwelt. Wir werden ebenso wie wir das Einzelleben, das Seelesein des Geisteslebens zurückführen können, auf die ursprüngliche Form unter welcher allein sich jene Richtung realisiren kann. | Das Seelesein ist das im Leibe haben und insofern dies ein Theil des Außeruns ist, ist dies die ursprüngliche Besitzergreifung. Das in dieser Form der Seele Fortbestehen wollen ist in Jenem begründet, dies aber schließt in sich, daß es der Geist ist, der als Seele fortbestehen will. Wenn aber nun erst vermöge dieser ursprünglichen Bestimmung der Geist Seele wird und also das Einzelwesen, so ist dies eine wieder aufzuhebende Beschränkung und dies Wiederaufheben ist in der Mittheilung, in welcher sich der Geist als solcher als Gattungsbewußtsein zeigt und also in der Gegenseitigkeit sich selbst als des Identischen bewußt wird. So erscheint es fast gleichgeltend in Beziehung auf viele einzelne Thätigkeiten ob wir sie unter diesen oder jenen Hauptzweig subsumiren. Die Richtung auf das Erkennen ist immer Mittheilung vermöge der Identität des Denkens und der Sprache. Alle Differenz welche wir unter der Form des Erkennens finden ist nur ein größeres oder geringeres Maaß von Kraft wo das Einzelwesen sein geistiges Sein in der zeitlichen Entwickelung realisirt. Wenn wir darauf sehen, daß dieselbe Richtung zuerst erscheint als ein in sich aufnehmen und daraus sich erst der Gedanke entwickelt so ist jene ursprüngliche Form wesentlich ein Besitzergreifen, denn es ist das Aneignen des Seins und dasselbe werden wir auch hernach von der Entwickelung der Denkthätigkeit sagen können, aber zugleich ist sie das Fortbestehnwollen des Geistes selbst, sofern wir sie als eine Richtung der Selbstthätigkeit ansehen. Es sind also auf der einen Seite verschiedene Ansichten, verschiedene Funktionen auf der andern Seite. Wenn wir also die Richtung auf die Selbsterhaltung fassen in ihrem eigentlichen Umfange müssen wir sie zurückbeziehen auf das Seeleseinwollen des Geistes, obgleich uns dieses in dem Einzelleben nicht als solches Wollen vorkommt, sondern es ist uns in der zeitlichen Entwickelung gege7 werden] können

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ben; es liegt aber darin das Verhältniß zwischen dem persönlichen Bewußtsein, dem persönlichen Trieb, und dem Gattungsbewußtsein oder dem Selbsterhaltungstrieb der Gattung. Wir finden hier nun, wenn wir das Ganze in seinem Umfange betrachten, wie wir Alles Vorige darunter subsumirten denn das Einzelwesen dauert nur fort durch beständiges erneuertes Besitzergreifen und Richtung auf die Mittheilung. Es ist eine beschränkte Ansicht, wenn man mit dem Ausdruck Selbsterhaltungstrieb nur bezeichnet, daß der einzelne Mensch stets bestrebt ist, sich aus der Außenwelt anzueignen was zu seinem Fortbestehen gehört, da doch die andere Seite auch dazu gehört. Denn das Einzelwesen besteht nur fort, indem es sich äußert, aber wenn wir nun beides zusammennehmen bleibt wieder die Frage | als was will das Einzelwesen Besitz ergreifen und als was will es sich kund geben? Als Geist. Hier werden wir nun auf die Thätigkeit des Erkennens bestimmt wieder zurückgeführt. Aber zugleich auch auf dasjenige was wir schon durch den Ausdruck „Kunst“ als der Selbstsichkundgebung dazugehörig betrachtet haben. In beiden [zusammen] werden wir das eigentlich Geistige des Fortbestehens finden so daß der Selbsterhaltungstrieb nur besteht in der Richtung auf die Beharrlichkeit dieser Formen der Selbstthätigkeit. Hier entsteht uns nun ein Gegensatz, den wir aufstellen müssen um zur Klarheit zu kommen, ohnerachtet er so viel gegen sich hat, daß man denkt, man muß ihn gleich wieder aufheben. Dies ist der Gegensatz zwischen Zweck und Mittel. Wenn wir rein auf diese wesentlichen Funktionen des Geistes sehen erscheinen uns z. B. alles Besitzergreifen in der Außenwelt und Alles im Zusammenhange damit entwickelte, nur als Mittel; es ist der Apparat auf der einen Seite um das geistige Sein ungestört von den nachtheiligen Affektionen der Außenwelt zu erhalten, auf der andern Seite um sich selbst vollständig kund zu geben und das Sein als Bewußtsein in sich aufzunehmen. Finden wir nun in einer großen zusammengehörigen Masse von Menschenleben, einen hohen Grad von Entwickelung in der Thätigkeit welche auf das Besitzergreifen der Außenwelt ausgeht, aber eine Dürftigkeit in dem Gebiet der Kunst und des Erkennens, so erscheint dies uns als ein Mißverhältniß und wir begreifen es nur durch jenen Gegensatz, so daß der Zweck unterdrückt ist von dem Mittel. Das Besitzergreifen von dem Außeruns ist nicht das, was man will, sondern man will es nur um eines Andern willen; man will nur das Sein des Geistes selbst in sich und in der Gemeinschaft der Einzelwesen. Betrachten wir das menschliche Gesammtleben in einer dürftigen Natur, so finden wir es hier natürlich, daß der Mensch seine Kräfte ganz darauf verwenden muß, die Mittel zum Fortbestehn herbeizuschaffen. Hier könnten wir uns also denken, daß der Mensch sich gedrückt fühlt von dem Bewußtsein von dem, was sein eigentli-

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ches Wesen ist mit der größten Anstrengung nur Wenig realisiren zu können. So könnte es scheinen [als] sei der Mensch in Widerspruch mit sich selbst. Daß wir dies nicht finden, sondern daß der Mensch in einer dürftigen Natur sich mit sich bei diesem dürftigen Leben beruhige, begründen wir daraus, daß das Bewußtsein ein sich allmählig entwickelndes ist und daß es als ein minimum beginnt. So lange also das menschliche Leben befangen bleibt auf der niedrigsten Stufe des Selbsterhaltungswillen | kann auch die Entwickelung des Eyponenten nur auf einem minimum vom Exponenten vor sich gehen; die Seele ist ganz in dem Bedürfniß des Lebens versenkt. Denken wir uns aber eine solche Masse in Berührung kommend mit einer andern, welche auf einer höhern Stufe der Entwickelung steht, so muß eine Richtung entstehen, diesen Fortschritt auch zu machen und damit anfangend [entsteht] das Mißbehagen an dem bisherigen Zustand, aber nur in dem Maaße als der bessre Zustand zu Bewußtsein kommen kann. So lange durch die gegenseitige Mittheilung noch kein Übergang gebildet ist von dem höhern Bewußtsein zu dem niedern, kann freilich diese Wirkung auch nicht entstehn. Aber es giebt kein Mittel für die so auf die Entwickelung der Möglichkeit des menschlichen Fortbestehens geworfene Masse als diese Cirkulation mit der Berührung von höher entwickelten. Wenn sich solche menschlichen Massen, die zu einer großen Entwickelung der Herrschaft über die Natur gelangt sind, doch in diese versenken und von der Entwickelung des geistigen Lebens nichts zum Vorschein kommt und wir sollen erklären, wie der Geist bei einer solchen Masse der Thätigkeiten in die Richtung auf die Mittel versenkt bleibt, so ist dies wieder schwieriger. Wir können hier nur knüpfen an einen Punkt, an das Verhältniß zwischen dem persönlichen Bewußtsein und dem Gattungsbewußtsein. Wir kannten das Denken in seiner wesentlichen Identität mit der Sprache, sofern als [es] gar nicht gedacht werden kann ohne Sprache, die Sprache aber nur in der wirklichen Äußerung ihre Konsistenz hat, so ist auch in der Kraft der Entwickelung der Denkthätigkeit das Maaß gegeben von der Entwickelung des Gattungsbewußtseins in das persönliche. Dies ist auch eine sehr differenzirte. Jene Thätigkeit des Besitzergreifens könne sich zu einer hohen Vollkommenheit entwickelt haben in Beziehung auf das Besitzergreifen; es kann die Entwickelung des Wissens und der Kunst dabei eine ganz zurückgehende sein, denn die Richtung darauf ist nur in der Stärke des Gattungsbewußtseins. Wir finden also hier auch eine Langsamkeit der Entwickelung wie dort, nur daß es eine andere ist. Dort hat sie ihren Grund in der Stellung 18 kein] so SW III/6, S. 263; Ms.: ein

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des Geistes gegen die umgebende Natur; hier in einem Innern; es ist die geringre Dignität des Geistes, worin eine solche Unverhältnißmäßigkeit der Richtung auf die Naturbeherrschung erscheint und [dies] hat seinen Grund darin, daß sich das Gattungsbewußtsein nicht auf dieselbe Weise aus dem persönlichen Bewußtsein entwickelt. – Wir haben die Punkte schon entwickelt in welchen jene Richtung ihren Grund hat, von einem vollkommnen Entwickelungspunkt aus das Menschliche aufsuchen wollen d. h. den Geist zu dem Bewußtsein der Totalität seines Seins auf der Erde bringen zu wollen. | Nun werden wir freilich hier ein analoges annehmen müssen. Weil der Geist überwiegend unter der Form des Gattungsbewußtseins gedacht wird so muß er eine Richtung darauf haben, in der Persönlichkeit das Gattungsbewußtsein zum Bewußtsein zu bringen. Dies ist die eigentlich sittliche Richtung. Es ist hier nun eine Cirkulation von dem Punkt aus, in welchem jene in einem höhern Grade entwickelt ist. Dies schließt uns eine neue Betrachtung auf. Wenn wir hier überall darauf geführt sind so wie [wir] die geistige Selbstthätigkeit betrachtet haben, die Differenzen darin anzuerkennen, aber auf keine andere Art und Weise sie aufzuheben als durch die Cirkulation müssen wir es ansehn als zu dem Wesen des Geistes gehörig, daß überall durch diese Cirkulation die Differenzen sollen verringert werden und wo wir die Differenzen hervorragend finden müssen wir noch einen Mangel in derselben Richtung anerkennen. Die sittliche Richtung ist nichts als daß sie nur das vollkommne sich selbst verstehen in dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen ist, aber das nur in dem richtigen Verhältniß zwischen dem Gattungsbewußtsein und persönlichen Bewußtsein wirklich zum Vorschein kommt. Der Begriff des Selbsterhaltungstriebes, wie wir ihn gefaßt, schließt in sich, daß wir nie [etwas] Einzelnes haben, sondern alles Bisherige muß zusammengefaßt werden in Bezug darauf, daß die Fortdauer des Subjekts von seiner Selbstthätigkeit abhängt. Es scheint da eine große Verwirrung in die Sache zu bringen, wenn man das als den bloßen Trieb ansieht, kommt man leicht dahin alles Übrige als Mittel unterzuordnen, denn im bürgerlichen Leben findet diese Ansicht Vorschub und die Maxime der Regierenden ist, daß sie Alles, was den Selbsterhaltungstrieb befriedigt als Reizmittel 9 werden] müssen 22–23 Zusatz SW III/6, S. 264: „Wo diese Richtung ist, da muß auch eine solche Circulation entstehen, daß die Differenzen, welche aus dem Verhältniß des Geistes zu einer dürftigen Natur hervorgehen, möglichst aufgehoben werden, damit der Geist auch in dieser nachtheiligen Lage an dem höheren Entwikklungsgrade Theil nehme. Aber dies kann nur durch Mittheilung geschehen von jener höheren sittlichen Richtung aus,“

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gebrauchen um die andern Funktionen in lebhaftem Schwung zu erhalten. Dies hat seinen guten Erfolg wo es noch einen Kampf giebt gegen die äußern Naturbedingungen oder wo durch erkünstelte Bedürfnisse ein solcher Kampf aufgebracht ist. Wir fragen nun, worauf beruht dies, daß man sich eines solchen Reizmittels bedient, darauf weil der Exponent in den geistigen Funktionen selbst zu gering ist und daß es nun wirklich von der andern Seite auch Reizmittel giebt. Da nun giebt es einen Einfluß von denen die größern geistigen Einfluß haben auf die Masse. Nimmt man den physischen Selbsterhaltungstrieb als den Sitz der Freiheit d. h. als den Sitz der persönlichen Selbstthätigkeit? Denn einen andern Begriff der Freiheit giebt es nicht und es findet sich Alles Andere darin gegründet? Hier finden wir ebenso eine entgegengesetzte Instanz gerade bei den kultivirten Völkern in der großen Masse, eine Steigerung des physischen Selbsterhaltungstriebes durch künstliche Reizmittel. Also da ist beides, daß irgend eine Funktion im Gesammtleben kann angeregt werden und die | andern zurücktreten und doch jene ebenso ursprünglich in Beziehung auf eine andere sei, auf die man sich bezieht. Die Lebenseinheit von allen Funktionen ist gegründet in der Fortdauer der freien Selbstthätigkeit des Subjekts[,] da gehen wir auf den Anfang der Existenz zurück, dieser ist eigentlich unabhängig von diesem Trieb des Einzelwesens; sobald das Dasein angefangen hat ist das Subjekt unter der Form des Fortbestehenwollens zu denken und die ganze Entwickelung ist nichts als eine Aussagung darüber als was das Einzelwesen fortbestehen will und Alles was wir als Ungleichheit sezen ist immer dasselbe[,] ein Ausdruck von der Art, wie das Einzelwesen fortbestehen will und könnten wir ein Einzelwesen so verfolgen daß wir jeden Moment als abgeschlossenen Punkt und den äußern Coeffizienten hätten würden wir als den innern Coeffizienten nur die Verschiedenheit der Eigenthümlichkeit finden. Denken wir den Selbsterhaltungstrieb beginnend mit dem Anfang des Daseins, so ist natürlich diese Formel auch im Anfang gewesen, denn sonst müßte sie sich rein aus dem Einzelwesen entwickelt haben und zwar zu einer bewußtlosen Zeit also zufällig. Nun kommt es auf die Frage an mit Rücksicht auf den Selbsterhaltungstrieb inwiefern es zusammenbestehen kann, daß die Selbstthätigkeit eine freie ist und doch die ganze Entwickelung schon im ersten Anfang des Einzelwesens gegeben ist. Da ist ein alter Streit, im weitern Sinne geben wir keine Antwort, aber das würde doch immer ein Hin und Herschieben der Frage sein, von einem zu dem andern Orte und die Art wie wir im Anfang den Ausdruck bestimmten ist immer die 22 Dasein] so SW III/6, S. 266; Ms.: Subjekt

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natürlichste. Diese Frage überhaupt hätten wir wirklich nicht aufgeworfen und hätten ruhig den Selbsterhaltungstrieb entwickelt vom Einzelnen zum Allgemeinen, zur Totalität aufsteigen können. Aber da der Streit gegeben ist, ist nichts Anderes möglich als darüber einzutreten. Es giebt manche Arten wie die Aufgaben gestellt werden, es wird behauptet, daß aus jedem Menschen Alles werden kann, daß nichts in seiner Entwickelung prädeterminirt ist. Wie kann er das eine und Andere werden? unter der Potenz der äußern Eindrücke, so daß er unter dieser Umgebung anders würde als unter jener. Wird das behauptet im Umfange so erscheint die Selbstthätigkeit in ihrer Art und Weise nur als Produkt der äußern Funktionen also eigentlich in ihrer Bestimmtheit ist sie Noth. Aber ursprünglich ist nichts bestimmtes im Menschen angelegt, die Entwickelung seiner Bestimmtheit hängt ab von der freien Selbstthätigkeit, also ist da Willkür | und derselbe Mensch kann in derselben Umgebung [der eine wie der andere werden.] Diese beiden Fälle sind die, wo unsere Voraussetzung aufgehoben wird, es ist aber keines zuzugeben. Der Einzelne bestimmt seine Reihe von Entwickelung. Gesetzt dies und dies ist eine Willensbestimmung in engerer Bedeutung, gewußtes Wollen, so daß er sagt, ich will so sein; in welche Zeit nun kann diese Willensbestimmung fallen? Gewiß in eine Zeit, worin der Mensch schon etwas geworden ist, wo es schon eine Formel giebt für dieses Verhältniß der Funktionen unter einander. Sagen wir nun, hier giebt es 2erlei, entweder seine Willensbestimmung ist nur die Bestätigung dessen was er geworden ist und wir nehmen einen Anfang an, so heben wir unsern Satz wieder auf. Dieselbe kann aber nur eine Bestätigung, auch eine Aufhebung dessen sein, was schon geworden ist und bei beiden ist die Sache rein willkürlich. Diese Gleichgültigkeit in Beziehung auf Bestätigen oder Aufheben gesetzt ist in Beziehung auf den Kraftaufwand nicht gleichgültig, die bestätigende Willensbestimmung ist eine leichtere als die aufhebende. Setzen wir die Aufhebung müssen wir sie in jedem Moment setzen; was heute ist, kann er morgen wieder aufheben; in der ganzen Continuität des Lebens erscheint uns der Einzelne als zufällig, man kann nicht behaupten, nicht leugnen, daß der Mensch derselbe morgen sei wie heute. Allerdings handelt Niemand unter dieser Voraussetzung, sondern unter der daß man auf den Menschen etwas halten kann und diese innre Anschauung, keiner hat für sich selbst einen andern Maaßstab als für Andere, also keiner kann ohne in Widerspruch mit sich selbst zu gerathen, dies als Ausspruch des Selbstbewußtseins ansehn, daß er in jedem Augenblick ein anderer sein könne. Nun die andere Voraussetzung. Der Mensch bildet sich durch die äu20 fallen?] fallen.

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ßern Einflüsse so daß jeder an demselben Ort derselbe würde. Dies ist die Ansicht von der Gleichheit aller. Die Rezeptivität tritt als wesentlich Bestimmendes hervor und die Spontaneität tritt zurück. Nun ist ja aber beides nicht zu trennen, so daß eins ohne das andere etwa in einem Moment wäre. Denken wir uns nun 2 Subjekte gleich unter denselben Einflüssen, so daß sie gleich werden ist die erste Gleichheit nicht ein unbestimmtes sondern selbst die Auffassungsweise ist auch schon bestimmt. Diese ist auch wiederum eine und so ist eine vollständige Passivität gesetzt, das Leben ist also ein bloßer Mechanismus. | Wenn wir aber sagen die Auffassungsweise ist aus dem Subjekt und nicht aus den äußern Einflüssen und auch, daß solche gleichen Subjekte möglich seien hebe ich diese Voraussetzung wieder auf. Dieser Mechanismus soll zusammen bestehen mit dem Begriff des Lebens, so daß dies nichts sei als ein Mechanismus und zwar so, daß die innre Seite von diesem in Allen dieselbe sei, denn wenn das Subjekt vom Äußern abhängt und doch ein Innres ist und zugleich ein Mechanismus mit der Identität als Ursache und Wirkung, so ist auch das Innre gleich; wo aber fangen denn die Differenzen an, offenbar im Organischen schon, also es giebt eine Freiheit, aber im Physischen und das Psychische wäre nun ganz mechanisch. Dies widerstreitet wieder ganz der Handlungsart des Menschen, also weil keiner den andern Menschen so behandelt, kann keiner das als Ausdruck seines eignen Selbstbewußtseins aufstellen. Nun läßt sich die ganze Frage anders auffassen. Ja es soll zugegeben werden, daß in jedem Menschen von Anfang an etwas bestimmtes angelegt ist, aber dies soll aufgehoben werden und die Freiheit liegt darin, daß es aufgehoben werde, so ist das letztere nur die eine Seite, Freiheit ist’s, wenn das Eigenthümliche im Innern ist, auf der andern Seite ist das Aufheben die Wirkung des Subjekts auf die Welt. Nehmen wir nun dies Aufheben in der Entwikkelung an ist da wieder ein gedachtes Wollen, eine vollkommne Willensbestimmung die in späterer Zeit eintritt, aber der Punkt mag eintreten wo er will, so ist von dem Augenblick an der Mensch in einem Kampf, denn er will das nicht sein was er ist. Also ein anfänglicher Widerspruch ist da. Die Freiheit beginnt mit einem Nichtseinwollen dessen was er ist. | Da ist nothwendig ein Mißfallen, zwar kein moralisches, denn die persönliche Eigenthümlichkeit kann getrennt sein 9 Mechanismus.] Auf einer neuen Zeile folgt der Verweis: siehe Seite 181. ein ein

33 ein]

29 Vgl. SW III/6, S. 270: „denn das Aufgehobensein kann auch die Wirkung der Welt sein,“

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vom sittlichen. Es wäre nur ein Mißfallen an der Natur, aber hier wieder ist die Art anders wie wir den Menschen behandeln, denn da setzen wir [voraus] daß die Menschen sein wollen wie sie sind und wenn etwa einer ein anderer sein will als er ist, so ists nur momentan. Das ist also wieder kein Ausdruck des Selbstbewußtseins – – /. Wenn man die Entwickelung des Einzellebens betrachtet, so giebt [es] darin häufig überraschende Sonderungen, wo hier der Selbsterhaltungstrieb eine ganz andere Richtung nimmt. Alle dergleichen Beispiele kommen nur vor in solchen Gesammtheiten wo die Entwikkelung schon eine sehr mannigfaltige ist und wo zugleich die Verhältnisse der Einzelnen in verschiedenen Lebensperioden sehr verschieden sind. Allein diese Instanz beweist gegen die aufgestellte Ansicht nichts. Wenn eine besondere Richtung eine Zeit lang von einer andern sehr begünstigt wird, so macht [sich] der innere Coeffizient wieder geltend gegen den äußern. Dies gehört mit zu der Elastizität des Selbsterhaltungstriebes ohne welche eine Konstanz desselben bei den Veränderungen der Einwirkungen sich gar nicht denken ließe. Wenn wir aber den Selbsterhaltungstrieb in seiner Stärke betrachten finden wir da einen großen Spielraum und eine fast ungeheure Differenz. Dies ist zu gleicher Zeit so komplizirt, aus so vielen Elementen bestehend, daß es schwer ist sie auf eine Übersicht zu bringen. Es giebt auf der einen Seite eine in der ganzen Erscheinung sich zeigende Gleichgültigkeit gegen das Leben, auf der andern Seite eine Anhänglichkeit daran, welche außer allem Verhältniß steht mit dem, was sie bis auf einen solchen Punkt reitzen könnte, welche sich zeigt in einer Todesfurcht. Doch bilden diese Anhänglichkeit und jene Gleichgültigkeit noch gar nicht die Extreme. Auf der [andern] Seite haben wir einen eben solchen Raum zu durchlaufen bis zu einem freilwilligen Fahrenlassen des Lebens. Auf diesem Punkt erscheint der Selbsterhaltungstrieb als Null im Übergange zu dem Entgegengesetzten als minimum. Allein auf allen diesen Punkten ist auch wieder die Differenz eine so große, daß sie sich nicht als eine Einheit auffassen läßt. Die richtige Ansicht ist auch hier wieder rein durch das Verhältniß zwischen dem persönlichen Bewußtsein und dem Gattungsbewußtsein vermittelt. Wir wollen nur eine Manifestation dieser Gleichgültigkeit vor Augen nehmen. Eine solche findet statt, wenn die Betrachtung daß das Leben einer Gefahr ausgesetzt sein könnte, gar keinen Einfluß hat auf die Willensbestimmung. Diese Gleichgültigkeit kann gegründet sein in einem bloßen Mangel an Beweglichkeit des Vorstellungsvermögens, daß man indem man in einer bestimmten Richtung begriffen ist, das auf der Seite liegende gar nicht darstellt, keine Combination macht; dabei ist 5 Selbstbewußtseins – – /.] Ende der Texteinfügung

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ein Wissen um die Gefahr nicht vorhanden. Aber wie kommt es, daß dies Wissen nicht ist? Bei einem Andern, bei dem der Selbsterhaltungstrieb stärker ist, wird das Wissen vorhanden sein. Es wird zum Bewußtsein kommen, wo in dem, was geschehen soll, in den Verhältnissen, die dabei vorkommen, eine Lebensgefahr liegt. Es kann aber auch sein, daß nicht sowohl die Schwäche des Selbsterhaltungstriebes hervorbricht, sondern daß der Gegensatz zwischen den beiden Elementen desselben noch nicht entwickelt ist. | Dann muß man es als Indifferenz ansehen, daß dasselbe sich darstellt bald nur unter der Beziehung des Gesammtwesens, bald nur unter der Beziehung des Einzelwesens. Es giebt eine Menge von Entwikkelungsstufen, wo man die Tapferkeit, welche Einzelne beweisen, nicht anders erklären kann. Sie sind in der Erreichung eines Zweckes begriffen, welcher dem Gesammtleben angehört. Dabei können Gefahren für das Einzelleben entstehen. Dies wird aber nicht mit ins Bewußtsein aufgenommen und hat dabei häufig nur das Ansehn des Instinktartigen, die eingeschlagene Bahn ist gewöhnlich mit einer leidenschaftlichen Aufregung verbunden und darin verfestigt sich der Selbsterhaltungstrieb in Beziehung auf das Gesammtleben. Ist der Gegensatz schon entwickelt entsteht eine Überlegung und die Tapferkeit ist dann die Folge dieser Überlegung; sonst ist diese nicht aus dem Bewußtsein in Beziehung auf diesen Gegensatz zu erklären; sie ist in Beziehung auf denselben bewußtlos. Wir müssen aber auch sagen daß für eine solche Reihe nichts Anderes entwickelt werden kann; es ist rein der Ausdruck des Selbsterhaltungstriebes auf dieser Stufe der sich hier ausspricht. Denken wir uns denselben psychischen Zustand, aber einen Einzelnen in einer Richtung die sich nur auf sein Einzelleben bezieht, wird sich natürlich das darbieten, was sich auf das Einzelleben bezieht und in die Vorstellung aufgenommen werden. Mit derselben Kraft entwickelt sich das nicht, was sich etwa auf das Gesammtleben beziehen könnte. Daher müssen wir sagen, es ist schon eine andere Stufe wenn auch auf die Gesammtheit Bezug genommen wird wie z. B. bei weit ungebildeteren Völkern daher ein Ehrtrieb sich geltend macht, daß das Gesammtgefühl sich beeinträchtigt findet durch die Neigung der Einzelnen auf das Einzelleben zu viel Rücksicht zu nehmen. Eine solche Berücksichtigung des Gesammtgefühls und des Gesammturtheils ist schon eine konstante Unterordnung des Einzelnen unter das Gemeinsame. Gehen wir nun weiter und denken uns das Entwickeltsein des Gegensatzes und also den Streit entstehen zwischen den Interessen, wo sie aus einander gehen, des Gesammtlebens und des einzelnen, gewinnt die Unterordnung des Persönlichen unter das Gemeinsame schon eine bestimmte Gestalt. Was wir uns also zunächst zu unserm Gegenstand machen müssen, ist gerade dieser Streit.

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Dieser findet sich überall wo das Gesammtleben, wenn es erhalten und gefördert werden soll, Anstrengungen erfodert, welche mit der Gefahr des Einzellebens verbunden sind. Diese finden wir überall in den friedlichsten Verhältnissen, in den einfachsten Beschäftigungen. Wir erkennen daher ein Vorherrschen der Richtung auf das persönliche Moment. Denn wenn das | ganze Gebiet der Handlungen rein betrachtet würde in Beziehung auf das Gesammtleben würden jene Combinationen gar nicht gemacht sein. Es ist eine Hemmung in dem Eifer auf das, was geschehen soll, welche verursacht wird durch die Einwirkungen eines andern Moments. Je leichter sich Jemand Gefahren für sein Einzelleben einbildet oder Möglichkeiten derselben in sein Bewußtsein aufnimmt, so ist hier ein Übergewicht des Persönlichen in seinem Selbsterhaltungstrieb. Je weniger dies letztere sich geltend machen kann, um desto stärker erscheint das Hervortreten des bloß Persönlichen. Indem wir die Entwickelung dieses Gegensatzes und des Übergewichts des Moments welcher am meisten das Gattungsbewußtsein repräsentirt für den natürlichen Zustand halten, um deso mehr erkennen wir einen Mangel, eine Verkehrtheit in dem psychischen Zustand. Denken wir uns die Richtung in welcher der Einzelne sich bewegen soll angegeben von dem Gesammtgefühl oder Gesammturtheil und also diese schon von jenem affizirt, so ist dies eins. Aber die Richtung einer Gesammtheit ist doch auch wieder durch Einzelne bestimmt und geht aus Einzelnen hervor. Denken wir uns nun den Einzelnen in einem solchen Moment, wo er erst der Gesammtheit den Impuls geben soll, wo das Gesammtgefühl noch nicht außer ihm, sondern erst in ihm bestimmt ist und von ihm aus weiter verbreitet werden soll und es entsteht Gefahr für das Einzelleben so ist das ein anderer Fall; der Selbsterhaltungstrieb zeigt eine weit größere Kraft als in dem vorigen Fall, wo die Wirksamkeit des Einzelnen von der Wirksamkeit der Gesammtheit sich umhüllt und fortgegangen ist. Je größer nun die Gefahr des Einzellebens dabei ist, um desto größer muß auch der Werth sein, welcher auf die eingeschlagene Richtung gelegt wird, so liegt in einer solchen Entscheidung die Unterordnung des Kleinern unter das Größere. Aber ebenso, wenn die Bedeutung für das Gesammtleben nur eine eingebildete ist oder wenn Einer ohne daß eine wirkliche Bedeutung für das Gesammtleben da ist mit dem Preisgeben seiner persönlichen Existenz Ostentation treibt ist dies ein ganz entgegengesetzter Zustand. Es liegt darin, daß der Einzelne seine Befriedigung sucht in einem gewissen Urtheil der Gesammtheit. Es beweist einen krankhaften Zustand in der Gesammtheit selbst, wenn sie auf diese Leichtigkeit das Einzelleben in Gefahr zu setzen, einen Werth 6 Handlungen] Hgdlg

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legt ohne daß es einen Werth für die Gesammtheit hat. Man schließt falsch, wenn Jemand schon um nichts sein Leben in Gefahr setzt, wie viel mehr um ein Großes. So wie ein wichtiger Zweck für die Gesammtheit zu erreichen ist, wird die Aufmerksamkeit nicht auf den Einzelnen gelenkt. | Diese Beispiele zeigen im Allgemeinen, daß alle Erscheinungen auf diesem Gebiet daher sich auf ein Verhältniß zwischen diesen beiden Momenten in dem Selbsterhaltungstrieb zurückführen. Etwas ganz Anderes erscheint es, wenn davon die Rede ist dem Leben durch eine freie Handlung ein Ende zu machen, der Selbstmord. Es ist dies immer noch ein Problem für unser Gebiet, wie er zu erklären ist, da auf dem Selbsterhaltungstrieb das ganze Fortbestehen beruht, wie dieser jemals in sein Gegentheil umschlagen kann. Dies können wir nicht von den bisher betrachteten Fällen sagen. Das Aufhören des Selbsterhaltungstriebes wird hier vorausgesetzt, aber nicht so, daß er auf die Null der Gleichgültigkeit gegen das Leben zurückgeführt wird, denn daraus könnte keine positive Handlung hervorgegangen sein, sondern er muß wirklich und bestimmt in das Minus übergegangen sein. Wir können das also nicht als einen natürlichen Entwickelungszustand ansehen. Es giebt einzelne Fälle, wo man die Handlung ganz aus dem aufgestellten Gesichtspunkt betrachten kann. Eben so gut wie der Einzelne sich oft in eine unbedingte Gefahr begeben muß um das Seinige zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks zu thun, so muß auch der Einzelne, damit der Zweck erreicht werde, seinem Leben ein Ende machen, wobei vorausgesetzt wird, daß das Erreichen des Zwecks beruhe auf dem Lebensende des Einzelnen. Wir fragen aber bloß, wie etwas in der Seele zu Stande kommen kann und gar nicht welchen Grad des Einflusses der Intelligenz es ausdrückt und dann liegen diese beiden Handlungen einander sehr nahe. Aber dann ist auch diese freie allgemeine Handlung selbst, ein Reiz des Selbsterhaltungstriebes. Wenn wir aber die Handlung ohne bestimmte Richtung auf die Gesammtheit, welcher der Einzelne angehören soll, denken, so ist sein Selbsterhaltungstrieb mit der Handlung nicht mehr verträglich, sondern die Handlung ist gegen ihn und es ist eben so schwer dies letztere zu begreifen als die Ansicht, woraus dieselbe erklärt werden könnte, aufzustellen. Wir können einen wesentlichen Unterschied machen in Beziehung auf die Fälle, wo eine freiwillige Handlung dem Leben ein Ende macht, wo es kann angesehen werden als ein Zusammenhang des Selbsterhaltungstriebs mit dem Gesammtbewußtsein. Davon ist zu 1 Gesammtheit] Gesammtheit Werth 2 nichts] über etwas Geringes 35 als] als an 38 Zusammenhang] Zusammenhang mit 39 Selbsterhaltungstriebs] Selbsterhaltungstriebs in )Verbin*

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unterscheiden, wo dies gar nicht der Fall ist, sondern darin auf dem Gebiet des Persönlichen der Selbsterhaltungstrieb aufgehoben wird. Wenn man nun in Beziehung auf das letzte die Behauptung geltend macht, daß dasselbe nur in einem Zustand von krankhafter Zerrüttung statt findet würde das Räthselhafte in der Sache verschwinden. Wir würden im ersten Falle eine Gradation finden. Jene Behauptung aber will keineswegs sich überall rechtfertigen lassen und die Art wie man seine Zuflucht dabei nimmt, die Vorstellung von einem schlechthin vorübergehenden oder nur auf einen Punkt gerichteten Wahnsinn | ist eine bloße Hypothese. Wir finden aber fast überall Vorstellungen entwickelt von einer Fortdauer der Persönlichkeit, des Einzellebens nach dem Tode. Wie haben wir diese anzusehen in derselben Allgemeinheit und worin haben sie ihren Grund? So wie wir die Sache in diesen Zusammenhang stellen liegt die Antwort sehr nahe, sie haben ihren Ursprung in dem Selbsterhaltungstrieb. Sie haben die Tendenz den Unterschied zwischen dem letzten Lebensmoment und den übrigen [früheren] aufzuheben. Wenn wir eine sehr große Menge, ja die meisten dieser Vorstellungen, worin nicht anderweitige religiöse Vorstellungen zu Grunde liegen, ihrem Gehalt nach betrachten finden wir darin größtentheils den Ausdruck daß das Ende des Lebens in Analogie mit dem Schlafe gebracht wird. Alle Vorstellungen welche sich so auf ein Schattenleben beschränken tragen diesen Ursprung sehr deutlich an sich und allen denjenigen Vorstellungen, wo die künftigen Zustände den Typus einer sittlichen und intellektuellen Vervollkommnung haben, liegen religiöse Überlieferungen zu Grunde. Vergleichen wir diese letzten Vorstellungen mit jenen ersten, und sehen wir nicht auf die Differenz des Ursprungs zurück, so nehmen wir eine andere Differenz nicht wahr als die zwischen einem mehr sinnlichen Auffassen des Lebensgehaltes und einem mehr geistigen Auffassen. Das sinnliche hängt zu sehr im Zusammenhange des menschlichen Daseins mit der ihm gegebenen Welt als daß seine Existenz aus diesem Zusammenhange herausgerissen etwas Anderes als ein Verworrenes von Erinnerung sein könne. Dies ist das Wesentliche in allen Vorstellungen eines solchen Schattenlebens. Die mehr geistige Auffassung des menschlichen Daseins ist weit unabhängiger von der Außenwelt so daß wenn wir einmal die Identität Q R dieser Zustand aufgefaßt wird für den geistigen Prozeß. Wenn nun solche Vorstellungen überwiegend von 6 Vgl. SW III/6, S. 276: „In dem ersteren Falle würden wir eine Gradation des ganz gewöhnlichen annehmen, daß der einzelne sich in Lebensgefahr begiebt für das Gesammtleben, das sich dann bis zur freiwilligen Verzichtleistung auf das Leben steigert, in dem andern Falle wäre es kein krankhafter Zustand.“ 35–37 Vgl. SW III/6, S. 277: „und daraus sich auch leichter die Vorstellung eines weiteren geistigen Fortschreitens entwikkelt“

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religiösen Überlieferungen ausgehen so ist die Gewalt religiöser Vorstellungen selbst mit einer mehr intellektuellen Auffassung des gesammten Lebens zusammen. Dies kann sich oft unter dem Schein einer starken sittlichen Täuschung verbergen. Es handelt hier nicht über die Wahrheit dieser Vorstellungen weder in der einen noch andern Art, sondern wir betrachten sie hier nur als Thatsache und zwar als solche, die wir aus dem natürlichen Zusammenhang zu verstehn suchen müssen. Wenn wir nun von diesem Punkt aus die Thatsache betrachten so hängen diese verschiedenen Vorstellungen der Auffassungen des Lebensgehalts zusammen und als Thatsache sind sie Resultate von einem Bestreben die Existenz fortzusetzen, d. h. sie sind Produkte des Selbsterhaltungstriebs. Wenn dieser nicht einer solchen Ausdehnung über das wirklich Gegebene fähig wäre könnten nicht leicht solche Vorstellungen von der Seite der religiösen Überlieferungen aus Eingang finden und von selbst gebildet werden. Daraus werden wir schon unmittelbar den Schluß machen, daß wenn sich vorfindet | daß es Gesammtheiten giebt in deren Bewußtsein solche Vorstellungen gar nicht aufgenommen sind diese auch immer auf einer so niedrigen Entwickelungsstufe stehen werden, daß sie solcher Kombinationen unfähig scheinen. Dagegen findet sich freilich auch ein anderes Faktum. Daß in einer fortschreitenden geistigen Entwickelung in welcher sich diese Vorstellungen ausgebildet haben hernach wieder von der Seite der geistigen Bildung selbst ein Skeptizismus sich dagegen bildet, der diese Vorstellungen als gehaltlos darstellt. Dies sind nun die beiden Endpunkte dem Resultat nach ganz gleich, der Form und Genesis nach rein entgegengesetzt. Wenn wir den ganzen Übergang von dem einen zu dem andern uns in dieser Beziehung ausfüllen wollen, so erhebt sich der Mensch über jene untergeordnete Stufe, wird durch den geringern Kampf mit der unzureichenden Außenwelt, [in] den Vorstellungen freier, entwickelt sich auch das Gebiet von Vorstellungen von einem künftigen Dasein. Allein so wie es überwiegend in Bildern besteht und also in jenem Gebiet, wo das Vorstellungsvermögen in Bildern sich bewegt und zu Gedanken noch nicht gekommen ist, ist auch der Gehalt dieser Vorstellungen sinnlich. Schreitet nun die Entwickelung fort und gewinnt einen geistigen Gehalt und tritt auch das Gattungsbewußtsein mehr hervor auf welches die ganze Denkthätigkeit ihre entscheidende Richtung hat und lenkt sich der Selbsterhaltungstrieb mehr auf diese Seite hinab, so entwickelt sich hier zu gleicher Zeit jenes Gebiet von Fällen, wo das Gattungsbewußtsein sich in seiner beschränkten Form als Gesammtleben doch nicht selten die Foderung macht das Einzelleben in Gefahr zu geben. Das 19–20 Kombinationen] Kombinationen sich

29 unzureichenden] unzumäßigen

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Gattungsbewußtsein tritt in allen diesen Fällen mehr hervor, wenn das persönliche Element des Selbsterhaltungstriebs keinen Rückhalt mehr hat. Der Einzelne in seinem Verhältniß zur Gesammtheit muß einer Entsagung des Lebens fähig sein ohne Rechnung auf die Zukunft. Es zeigt sich von hier aus ein ethischer Grund zu gewissem Skeptizismus, der sich geltend machen kann, ohne daß darin die geringste Gewißheit liegt auf die Wahrheit desselben. Wir können daher nicht sagen, daß, weil uns diese ganze Fortschreitung, von jenem in dem unentwickelten Zustand begründeten Bewußtsein von dem Einzelleben bis zu diesem Skeptizismus, in Beziehung auf den geistigen Lebensgehalt erscheint in diesem Skeptizismus mehr Wahrheit sein müsse. Es ist nur die Richtung des geistigen Elements geltend zu machen über das sinnliche in der Willensbestimmung. Wir können aber sagen, wir haben keinen Grund die Wahrheit von jenen Vorstellungen zu bezweifeln, aber wir sind uns bewußt daß wir auf die nämliche Weise handeln würden. Das Resultat hieraus ist, daß dies ganze Gebiet von Vorstellungen in dem Selbsterhaltungstrieb | seinen Grund hat, daß es sich geltend machen würde, wenn nicht dieser in einem solchen geistigen Leben, wie das menschliche ist, einen Blick über dasselbe hinaus gewinne. Aber dies ist kein Grund dagegen, auch kein Grund dafür. Wenn man behaupten will, es wäre eine Unwahrheit in der Natur, wenn dem Menschen der Trieb zu solchen Vorstellungen eingepflanzt wäre. Das gäbe keine Befriedigung desselben, so hat diese Behauptung keinen hinreichenden Grund. Es spricht sich darin nur die Wahrheit der menschlichen Natur aus, wenn man sie auf diese Weise faßt. Wollte man auf der andern Seite behaupten, diese Vorstellungen wären falsch, weil es dem Menschen möglich wäre sich auf der höchsten Stufe der Entwickelung und bei der höchsten Willenskraft von denselben loszumachen, so muß man auch dies für den eigentlichen Ausdruck der menschlichen Natur halten. Wir haben daher für unser Gebiet nichts zu sagen als, es läßt sich einsehen, daß diese Vorstellungen Resultate des Selbsterhaltungstriebes sind, nur setzen sie eine gewisse Entwickelungsstufe in den Menschen voraus, aber nur die auf welcher ein freies Leben anfängt; sie modifiziren sich je nachdem die freie Entwickelung fortschreitet, aber ob sie wahr sind oder nicht ist eine Unterscheidung die mit unserer Untersuchung als Thatsache des Bewußtseins nicht zusammenhängt. Wenn wir uns sie als mit dem Selbsterhaltungstrieb in Verbindung stehend betrachten, wie verhalten sie sich zu dem Gebiet desselben, welches wir bis jetzt uns entwickelt haben? Hier tritt die Sache so [vor Augen], es ist allerdings leichter 28 Willenskraft] Willenskraft sich unserer] über ihre

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zu begreifen wie der Mensch seinem Leben ein Ende machen kann durch eine freie Handlung, wenn er in diesen Vorstellungen einer Zukunft versirt und ihm diese That nicht als Beendigung seines Einzellebens erscheint. Nun ist wahr, daß auf jenem niedrigen Entwickelungspunkt, wo der Mensch noch keiner über das Leben hinausgehender Vorstellungen fähig ist, diese Vorstellungen nicht findet, aber nicht weil ihm jene Vorstellungen nicht zu Hülfe kommen, sondern überhaupt, weil das Bewußtsein noch zu wenig in seinem Gegensatz entwickelt ist. Wenn nun das, daß Vorstellungen von einem künftigen Leben die freiwillige Beendigung des gegenwärtigen erleichtern müssen, doch nicht eintritt, sondern wir häufiger finden, daß diese Vorstellungen den Selbstmord zurückhalten[,] findet sich doch dies nur da und in dem Maaße als diese Vorstellungen mit den religiösen Überlieferungen zusammenhängen und so daß ein nothwendiges Band angenommen wird zwischen den freien Handlungen des Menschen und der Entwickelung seines Daseins. Nun aber können wir Beides einander gegenüber stellen als Extreme in | Beziehung auf den Selbsterhaltungstrieb, daß der Mensch sich in die Zukunft versetzt mit seinen Vorstellungen und in seinen Gedanken das Leben über die irdische Existenz seiner Persönlichkeit hinausführt und andrerseits, daß er im Stande ist den vor ihm liegenden Theil des Lebens sich abzuschneiden. Beziehen wir beides auf den Selbsterhaltungstrieb, so bezeichnet uns beides die höchste Beweglichkeit des Menschen und seiner Freiheit. Jene Vorstellungen sind Produkte der menschlichen Selbstthätigkeit und diese ist es also, welche die Schranken des Lebens aufheben will, welche den natürlichen Lauf unterbricht im Widerspruch mit dem, was sich von selbst würde ergeben haben. Beides dokumentirt also die Freiheit des Menschen in Beziehung auf die natürlichen Schranken. So also beweist Beides dasselbe, diesen höhern Grad von Freiheit des Menschen; aber nun können wir den nur anerkennen auf das Bestimmteste in den Fällen der ersten Art[,] für die Fälle der andern müssen wir noch eine andere Analogie aufsuchen um den Bestimmungsgrund zu finden. Indem wir es hier immer mit den einzelnen Funktionen des geistigen Lebens zu thun haben können wir hier keine Untersuchungen anstellen über die krankhaften Zustände der Seele überhaupt. Dies wird erst an einem andern Orte möglich sein. – Wir können nun dabei stehen bleiben als sie eine Erscheinung in seinem Selbsterhaltungstrieb 38 sie] es 31–33 Zusatz SW III/6, S. 282: „Denn was ich jezt gesagt, betrifft nur die Möglichkeit der Handlung selbst, aber nun fragt sich, welches ist das Motiv, aus welchem sich eine solche die Natur und ihre Schranken aufhebende Handlung denken läßt, ohne daß wir eine geistige Zerrüttung annehmen?“

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selbst sind und eine Form derselben haben wir schon beseitigt. Was sich zurückführen läßt auf einen Zustand des Gattungsbewußtseins läßt sich nicht als eine Vernichtung des Selbsterhaltungstriebes ansehn, nur weil das Aufhören des Persönlichen damit zusammenhängt. Man muß dabei immer mit ins Auge fassen, daß in unserm Selbstbewußtsein doch das Einzelleben schließlich als solches als ein Vergängliches gesetzt ist. Insofern wie es sich bloß um das persönliche Moment des Selbsterhaltungstriebes handelt, sind hier die Fälle sehr mannigfaltig. Es liegen indeß hier 2 Gesichtspunkte in der Art wie wir alle einzelnen Funktionen behandelt haben. Es giebt theils ein Versenktsein des ganzen Lebens in den Moment, welches wir im Ganzen als einen sehr unentwickelten Zustand überhaupt betrachtet haben, indem das Geistige noch nicht so frei gewesen. Wenn wir nun sagen, es muß bei dieser Erscheinung vorausgesetzt werden, daß der Zustand welcher beendet wird als ein unerträglicher in das Bewußtsein aufgenommen sei, so liegt darin ein Versenktsein in den Moment. Ohne einen gewissen Grad desselben läßt sich gar keine Existenz denken; es würde Zerstreuung entstehen; ein solches Versenktsein aber, wo Alles zurücktritt haben wir schon in vielen Fällen gesehen. Das Bewußtsein selbst muß eine Unerträglichkeit in dem Selbstbewußtsein darstellen. Dann ist die Handlung nichts als die Beendigung dieses Zustands; sie ist zugleich die Beendigung des Lebens, aber dies tritt gar nicht hervor, so bald wir uns alles Versenktsein in den Moment nicht vollständig denken. Dies ist ein unvollkommner Zustand; Es kommt auf den Inhalt des Zustands gar nicht an, so bald wie nur dies maximum in der sinnlichen Bestimmtheit des Selbstbewußtseins annehmen. Es kommt hier nur darauf an die Thatsache zu erklären und dies kann nur geschehn, wenn wir ihn in eine Analogie bringen mit [dem] schon erklärten. Wir haben gesehen, wenn wir eine einzelne Funktion betrachten in Beziehung auf die Totalität ihres Gegenstandes so gehört es mit zur Differenz in den Einzelwesen, daß sie in der ersten Periode der Entwickelung ein Verhältniß finden zwischen dem Subjekt und den Richtungen auf einen bestimmten Theil der Funktionen, das ist Nei|gung. Wenn nun eine solche zu einem maximum steigt, wo sie sich Alles untergeordnet hat und es tritt nun eine Unmöglichkeit ein dies Verhältniß zu realisiren, kann dies ein Bewußtsein einer Unerträglichkeit des Daseins geben. Dies ist nicht das Versenktsein in den Moment, sondern das Leben in der Zukunft und es gehört nur die Überzeugung dazu, daß das Verhältniß sich nicht ändern lasse. Hierin haben wir also denselben Typus der Unerträglichkeit des Zustands und wenn wir eine solche setzen und dabei die Fortdauer des Lebens 1 sind] ist

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müssen wir eine Wirksamkeit anderer Elemente annehmen und also die der Neigung zerbrechen oder einen Mangel in der Überzeugung, daß der Zustand sich gleich bleibe. In diesem Falle wird das vorher gefaßte Bild ein anderes. Allein daß eine solche nicht entsteht beruht nicht in dem Versenktsein in den Moment, sondern hängt davon ab, woran man den Zustand der unerträglich ist haftend denkt, an dem Veränderlichen oder Konstanten. Je mehr wir nun an den Selbsterhaltungstrieb die ganze wirkliche Lebensthätigkeit anknüpfen um desto mehr sind wir geneigt zu behaupten, wenn eine solche Neigung den Selbsterhaltungstrieb beherrscht, so sei dies an und für sich schon ein krankhafter Zustand. Unsere Erklärung versirt ganz in diesem Gebiet und setzt die Möglichkeit krankhafter Zustände des geistigen Lebens voraus. Wie dies von Vielen bestritten ist und der Satz aufgestellt, daß alle Störungen im Seelenleben von dem Zusammenhange mit dem Organismus abhänhgig wären so behauptet man auch, daß alle krankhaften Zustände des Organismus aus denen des Geistes entspringen. Von unserm Standpunkt aus räumen wir der einen Hypothese so viel ein als der andern, das Gegenseitige müssen wir von hier aus als das Wahrscheinliche erklären. In der Art und Weise, wie wir die einzelnen Funktionen betrachtet haben, liegt schon die Voraussetzung der Möglichkeit solcher krankhafter Zustände ohne den Zusammenhang mit dem Organismus. Wenn wir uns zwischen 2 Endpunkte gestellt denken und wenn sie sich allmählig aus dem Zustand der Indifferenz haben herausarbeiten lassen, haben wir in diesen beiden Momenten schon die Möglichkeit von dem, was man unter krankhaften Zuständen verstehen kann. Sowie wir eine Einheit und in der die Mannigfaltigkeit haben, so ist ein bestimmtes Verhältniß dieser unter sich und zu einer Einheit das, was die eigentliche Formel des Lebens ausmacht. Die Wandelbarkeit dieser Verhältnisse haben wir als den Grund der persönlichen Differenzen angesehen. Wir haben hier ein 2faches, die freie Entwickelung der einzelnen Funktionen in sich selbst und das Verhältniß derselben zu den übrigen. Beides muß zusammen bestehen können; aber es | ist möglich, daß Beides nicht zusammen besteht. Wir sehen die Möglichkeit daß die freie Entwickelung einer Funktion ihre Beziehung auf eine andere hemmte, aber eben deßwegen, weil diese so genau verwandt sind mit den Differenzen innerhalb des einzelnen Lebens und dem Begriff der Gattung, daß wir sagen, wenn es nicht eine solche Mannigfaltigkeit gebe, in welcher sich die größere Lebenseinheit des Menschen manifestirt, würde es auch unmöglich krankhafte Zustände dieses Lebens geben können. Von krankhaften Seelenzuständen können wir nicht reden ohne dieses Gebiet der Differenzen ins Auge gefaßt [zu] haben und dies muß uns einen Übergang bilden von diesem elementarischen Theil zu dem andern.

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Der Selbsterhaltungstrieb ist schon die Selbstthätigkeit betrachtet in ihrer Beziehung als Einheit auf die Gesammtheit der Funktionen. Dies liegt in der Formel, daß dieser Selbsterhaltungstrieb nichts sei als die lebendige Richtung des Subjekts auf das Fortbestehen als das, was es ist. Indem es ein Auffassen und von dem Äußern Affizirtes war ist es ein Zusammenfassen von dem Äußern in jedem Moment unter den eigentlichen Typus dieses bestimmten Einzellebens, so daß, könnten wir einen einzelnen Moment eines einzelnen Menschen wenn er auch überwiegend rezeptiv wäre, vollständig inne haben, wir darin die Formel für sein ganzes Leben fänden. Dies haben wir freilich aufgestellt. Aber eine sehr nahe liegende Frage übergangen, weil sie von diesem Punkt aus nicht beantwortet werden kann. Nämlich wenn wir uns denken das zeitliche Leben unter dieser zeitlichen Entwickelung und dann auch unter der Form des Herabsteigens nach dem Hinaufsteigen, ob nun auch die persönliche Eigenthümlichkeit des Daseins[,] indem sie [sich] von einer solchen Indifferenz an, allmählig entwickelt, auch wieder hernach eine zurücktretende ist und die persönliche Eigenthümlichkeit in der spätern Zeit weniger sich in der Thätigkeit manifestirt als in der Zeit welche dem Kulminationspunkt nahe liegt. Wir haben überall in der Betrachtung der Funktionen des geistigen Lebens die persönlichen Differenzen vorausgesetzt und den Ort derselben in Beziehung auf die einzelnen Funktionen gefunden, aber die eigentliche Einheit derselben lag nicht in unserer Aufgabe und die Lebenseinheit zu betrachten hatten wir nur erst Veranlassung zur Betrachtung auf den Selbsterhaltungstrieb. Wir haben aber nun noch alle diese verschiedenen Differenzen ins Auge zu fassen. Sie beruhen auf dem Verhältniß der Mannigfaltigkeit der Funktionen zu der Einheit des geistigen Seins überhaupt und zugleich auf der zeitlichen Form des Seins in dem Zusammensein dessen, was wir von Anfang an in unserer Betrachtung gesondert haben, das Psychologische. | Hier entsteht also die allgemeine Frage, die wir bei dem 2ten Theil unserer Darstellung vorzüglich im Auge haben, inwiefern Alles, worin sich die Zeitlichkeit ausspricht, seinen Grund hat nur in der Leiblichkeit des Seins oder auch in der Geistigkeit desselben. Ob wir diese Antwort geben können, können wir im Voraus nicht behaupten. Wir haben es nur zu thun mit dem, was thatsächlich vor uns liegt. Läßt sich dies begreifen wenn wir das Zeitliche rein in dem Organischen suchen oder wenn wir es auch als die Bedingung des geistigen Seins für sich selbst betrachtet ansehen. Wir müssen also hier im voraus auf 10 vollständig] davor könnten

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diese Zusammengehörigkeit des Geistigen und Leiblichen zurückgehen. Wir werden also die ganze Zeitlichkeit der Entwickelung und alle Differenzen in der Art und Weise der Bewegung des zeitlichen Seins von einem Moment zum andern in der Gesammtheit der Funktionen erfassen, um das Gebiet der Differenzen in den Erscheinungen des geistigen Lebens daraus zu erklären. Wir müssen hier überall von dem Zusammensein des Geistigen und Leiblichen ausgehen, weil wir hernach doch in der Abstraktion versiren müssen, weil wir das Leibliche insofern es mit dem Geistigen zusammen ist, doch nicht für sich betrachten. Das letzte Ziel dieser Betrachtung ist also nur, nun das Individuum, als solches so viel als möglich zu verstehen. Nämlich die einzelnen Funktionen sind in Allen dieselben; jede für sich entwickelt und manifestirt sich freilich auf verschiedene Weise und in verschiedenem Grade. Allein das sind erst die Elemente zu der Anschauung des einzelnen Seins. Wenn unsere Aufgabe ist das Individuum zu verstehen ist das nicht eingeschränkt auf die Persönlichkeit im engsten Sinne des Wortes, sondern die großen Massen sind ebenfalls solche Persönlichkeiten. Innerhalb derselben sind die einzelnen Persönlichkeiten, die alle in dem gemeinsamen aufgehen müssen, nicht ein Totales, sondern weil diese großen Massen ebenfalls ihren zeitlichen Verlauf haben, repräsentiren die Einzelnen nur einen bestimmten Moment in der Entwickelung der Persönlichkeit des Ganzen dem sie angehören und diese Persönlichkeit könnte nicht dieselbe sein in einem andern Zeitraum der Entwickelung der ganzen großen Masse, der sie angehört. Ohne die Beziehung beider auf einander ist es nicht möglich das eine oder das andere zu verstehen. Man versteht nur einen Einzelnen, wenn man ihn nicht bezieht auf den Ausdruck und die Entwickelungsstufe des Ganzen, dem sein ganzes Leben in seinem Verlauf angehört und umgekehrt. – Es ist hier die erste Differenz die Geschlechtsdifferenz. Aus einem 2fachen Grund stellen wir diese Betrachtung hier an die Spitze, einmal hängt dies unmittelbar zusammen mit dem Moment des Gattungsbewußtseins in dem Selbsterhaltungstrieb, indem die einzelnen Funktionen nichts sind als die Richtung auf eine Erhaltung der Gattung in dem Einzelwesen, dann, weil sie am meisten zusammenhängt mit den leiblich gegebenen Differenzen, also mit dem Physiologischen. Überall ist der Ursprung noch eine solche Indifferenz zwischen dem | bloß Organischen und Geistigen. Es ist immer ein Gegenstand des Streites gewesen, ob es im Psychischen eine wirkliche Differenz zwischen beiden Geschlechtern gab, ob sie sich nicht bloß zurück[führen lasse] auf die organischen Differenzen und die Differenz der Erziehung. Wo schon immer es noch Vertheidigungen gegeben hat der Ansicht, daß überhaupt alle Differenz der Einzelnen nur in der äußern Relation liege, ist es natürlich, daß diese Ansicht sich am längsten und

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stärksten erhält in Beziehung auf diese einzelne Frage. Wenn man den ganzen Gegenstand in seinem natürlichen Verlauf betrachtet, so ist die Differenz zwischen beiden Geschlechtern in der geistigen Entwikkelung weniger hervortretend, je geringer der Entwickelungsexponent ist; aber wie sie sich stärker entwickelt, kann daraus nicht geschlossen werden, daß das bloß von den äußern Einwirkungen herrühre. Die Probe auf diese Behauptung ist noch nie im Großen gemacht, denn es würde noch gar nicht hinreichen, wenn man in der Erziehung die Differenz der Geschlechter ganz vernachlässigen wollte, sondern man müßte auch das Verhältniß ganz umkehren. Wenn dann dieselben Erscheinungen sich ergeben wie gehabt wäre es entschieden, daß keine geistige Entwickelung durch die organische Differenz begründet wäre. Das letztere scheint unmöglich, weil keine Gesammtheit die auf einer höhern Entwickelungsstufe steht, ihr Fortbestehen auf einen solchen Versuch wird stellen wollen. Aber in dieser Abneigung zeigt sich ein tiefes Gefühl, daß auch die Voraussetzung einer psychischen Differenz in der Natur selbst liege. Es ist bekannt, daß ein Theil der Sokratischen Schule und wahrscheinlich Sokrates selbst diesen Unterschied in der Theorie völlig geleugnet hat. Nun ist eine solche Erziehung, wie sie Plato in seiner Republik vorschlägt, nie zu Stande gekommen und er hat auch nur schwach erklären können, daß die Unfähigkeit der Theilnahme an öffentlichen Geschäften ein Hinderniß für die Gleichmäßigkeit der Erziehung für das öffentliche Leben sei. Ganz anders konnte die Sache betrachten und die Standhaftigkeit einer solchen Theorie, welcher das bürgerliche Leben nur als einen Nothstand ansieht. Aber gerade in solche Theorien ist dieser Gegenstand gar nicht aufgenommen, sondern eine ursprüngliche psychische Differenz angenommen. Die Sache steht aber eben noch so zweifelhaft wenn man die Differenz annimmt. Wie soll man diese Differenz ansehn? ist zwar [eine] Differenz da, aber ohne Verschiedenheit des Werthes, bloß in der Formation der Richtung, oder ist sie auch eine quantitative? Man kann sich bis auf einen gewissen Grad überzeugen, daß wir hier keine volle und klare Entscheidung geben können. Denn auf jeden Fall, setzt man eine Differenz voraus so ist sie doch so, daß man, wenn man jedes Geschlecht für sich betrachtet diese ganz eigentlich für eine individuelle halten muß. Diese Individualität ist dann durch allgemeine Begründungen und durch Combination mit solchen nie anders als durch Approximation zu erreichen | und eine eigentliche unmittelbare 31 quantitative?] quantitative. 19–20 Vgl. Platon: Politeia 376d–541b; Opera 6,245–380, 7,1–181; Werke 4,152– 637

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Anschauung fängt nur immer von der Oberfläche von den Äußerungen des menschlichen Lebens an und kann nie in das Innerste zurückgehen. In der Sprache selbst und durch die Sprache ist es schwer den Hergang des menschlichen Lebens genau festzuhalten und mitzutheilen, wie viel weniger in diesem Falle, wo uns, auch bei organischen Differenzen, die Analogie fehlt. Wie geben wir eine Entscheidung? Wenn wir die Sache im Großen betrachten haben wir es zunächst nur mit den Wirkungen der Erziehung und Sitte und persönlichen Lebensüberlieferungen zu thun; fassen wir die Sache bei den Einzelnen und vergleichen also die Art, wie der einzelne Lebensmoment zu Stande kommt, ob man hierin eine Differenz findet, so fehlt es an den Mitteln, weil wir selten bis zur ursprünglichen Einheit eines Moments durchdringen können. Es ist also sehr schwierig hierüber eine solche Entscheidung zu geben. Es ist aber ziemlich dasselbe mit jenem andern Punkt, ob überhaupt die einzelne Individualität schon etwas ursprünglich Gegebenes ist. Wir können die Frage ganz auf diese reduziren und hätten sie ganz beantwortet wenn wir sagen könnten vorausgesetzt es ist in jedem Einzelnen ursprünglich schon etwas angelegt und wir könnten das entscheiden[,] ist dieser durch die Geschlechtlichkeit bestimmt? Wolle man andrerseits von der Voraussetzung einer ursprünglichen Gleichheit ausgehn, ist dann die Einwirkung der organischen Differenz der Geschlechter auf das Psychische so, daß sie durch andere überwogen werden kann und wieder aufgehoben oder nicht? Wenn wir nun sicher gehen wollen, müssen wir beide Methoden mit einander kombiniren. Die Frage, wenn eine Differenz anzunehmen ist, ob diese eine qualitative oder zugleich auch eine quantitative sei ist dann wieder noch eine besondere und von einer ganz eigenthümlichen Schwierigkeit, aber doch so, daß man sie bis auf einen gewissen Grad von der ersten Frage lösen kann. Denn ganz anheimgestellt, ob die Differenz ursprünglich ist oder nur geworden können wir untersuchen, ob nun, wenn man auf die Gesammtheit sieht, die Kraft des einzelnen Lebens in der geistigen Gesammtheit in dem einen Geschlecht ihre Wirkung größer erscheint als in dem andern. Fangen wir bei der letzten Frage an, weil sie bis auf einen gewissen Grad erledigt werden kann ohne die andere zu berühren, so, wenn man auf die einzelnen Lebensfunktionen sieht, in der Gesammtheit ihrer Entwickelung erscheint in allen Einzelnen, das männliche Geschlecht als das eigentlich Leitende, das weibliche als nachfolgend. Wir mögen sehen auf die Funktion der Denkthätigkeit oder auf die Funktion der Kunst und auf die welche wir neben diese gestellt haben, auf die Macht, welche der Mensch durch die Naturkräfte und über 20 bestimmt?] bestimmt.

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die Naturkräfte ausübt, werden wir überall die eigentlichen Entwickelungspunkte von dem männlichen Leben ausgehend finden. Aber dies ist nichts Entscheidendes, weil wir hier nur von dem | Gesichtspunkt des bürgerlichen Lebens ausgehen. Die Frage ist hiedurch nur insofern entschieden wenn man behaupten kann, es sei rein in den Thätigkeitsverhältnissen der beiden Geschlechter der Grund daß das männliche Geschlecht die Leitung des bürgerlichen Lebens hat. Aber das Organische ist hier auf eine zu bedeutende Weise im Spiel als daß man es übersehen könnte. Das bürgerliche Leben beruht auf dem Naturbeherrschungsprozeß und dieser beginnt mit der Anwendung der körperlichen Kraft. Für den männlichen Körper giebt es anfangs nichts als den Gegensatz zwischen Schlaf und Wachen; das weibliche Geschlecht ist außer diesem noch einem andern Wechsel unterworfen, wenn es die Bestimmung seiner Organe zur Erhaltung der Gattung erfüllen soll und so also im Nachtheil gegen das männliche Geschlecht und es wäre also eine Ungleichheit der Bestimmung, in der auch eine Gleichheit der Leitung sein solle. Sehen wir auf die ersten Anfänge des Naturbeherrschungsprozesses giebt es immer noch eins her; wo das Maaß durch die organischen Kräfte ausgerichtet wird. Es fehlt uns aber immer etwas um eine bestimmte Entscheidung zu fassen. Kehren wir aber die Sache um und fragen, wenn wir auch nun als ein freies Spiel der Combination uns das Umgekehrte denken wollten und im Zusammenhange damit, daß in den einzelnen Funktionen die leitenden Impulse ebenso von dem weiblichen Geschlecht ausgingen wie jetzt von dem männlichen, ob wir das denken können, ohne unser ganzes Bild von der menschlichen Natur zu zerstören. Aber dies kann nur von der Gewohnheit herrühren und das Urtheil kann gegründet sein in der Art wie uns das Ungewohnte affizirt. Wir kehren aber eine andere Seite der Sache heraus. Der Punkt auf den wir zuletzt zurückgekommen sind ist doch wieder der organische, daß die Weiber empfangen und gebären und in der Zwischenzeit eines Einflusses auf das Ganze nicht fähig sind. Was ist denn in dem eigentlichen geistigen Leben, was sich daran unmittelbar anschließt? Es ist die Einwirkung des weiblichen Geschlechts auf die Neugebornen, dies ist etwas so Großes und etwas so Bestimmtes, daß dadurch Alles aufgehoben zu werden scheint, was man als einen Vorzug des männlichen Geschlechts in dieser Beziehung ansehen kann. Die Differenzen werden also, wenn sie werden, am meisten durch diese äußern Einwirkungen und wie das männliche Geschlecht die Leitung des bürgerlichen Lebens hat so hat das weibliche die Leitung des männlichen Lebens, nähmlich des künftigen, aber auch bei der Voraussetzung der ange33 anschließt?] anschließt.

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bornen Differenzen erfolgt doch die erste Entwickelung überall durch den Einfluß des weiblichen Geschlechts, also auch die erste Ansicht dazu, worin das Höhere sich entwickelt wird die Zirkulation zu einem Einfluß auf das Niedere gelegt. Jeder muß zugeben, daß in dem Lebenszeitraum, wo die Leitung des | weiblichen Geschlechts dominirt und dominiren muß, nicht schon eine gewisse Gewalt des Geistigen in dem Menschen über die niedern Funktionen entwickelt wird, ist in einer spätern Lebensperiode durch alle übrigen Einflüsse es nicht leicht möglich dies nachzuholen. Stellen wir so die Sachen neben einander und betrachten sie ganz im Großen, so kann man kein anderes Bild davon fassen, daß sich beides in dem Einfluß auf die menschliche Natur und ihre Entwickelung ganz gleich stellt. Aber die qualitative Differenz tritt noch dadurch hervor, wenn wir die wesentliche Wirksamkeit des weiblichen Geschlechts hierin setzen, ihr Einfluß auf das geistige Leben ist ganz vorzüglich der bildende Einfluß den sie auf die erste Lenkung eher üben; Es hat da der Einfluß des Männlichen nicht einen solchen Einfluß auf das weibliche, daß dadurch dieser Einfluß auf die künftige Generation geändert würde. Man muß also von dem geschichtlichen Gesichtspunkt aus sagen, daß sich in dieser Beziehung beides gleich stelle. Alle Einwirkungen, welche die gesellige Entwickelung und das öffentliche Leben auf die weibliche Natur ausüben und ausüben können um den Einfluß auf die künftige Generation anders zu modifiziren, sind doch nur solche daß ganz der Erfolg davon abhängt von der Art wie sie in dem weiblichen Gemüth aufgenommen und verarbeitet werden, daß es sich auf diesem eigenthümlichen Gebiet fort erhält. Der Einfluß den die Leitung hervorbringt ist ein nicht zu berechnender, obschon, was sich überwiegend als Wirkung dieses weiblichen Einflusses manifestirt, ist die regelmäßige allmählige Fortentwickelung. Was in der Entwickelung als eigentlicher Entwickelungsknoten erscheint hat einen andern Ursprung und tritt diesem gegenüber. Wenn wir aber das ganze Leben betrachten als ein Beziehen dieser beiden und Ineinandergreifen, so sind sie in Beziehung auf das ganze geistige Dasein ganz gleich gestellt. – Die Ausnahmen bestätigen die Regel. Wenn z. B. Jemand etwas angeben wollte als den überwiegenden Typus des weiblichen Gemüths und er wollte sich dabei auf einzelne Beispiele beziehen, so wäre es unrecht; wollte Jemand nachweisen daß etwas in dem weiblichen Geschlecht zurückgedrängt sei und in der Ausnahme nur wenig hervortrete, so ist das ein solcher Fall. Die Frage über den psychischen Unterschied über beide Geschlechter können wir nicht beantworten, weil wir den Einfluß der Erziehung, Sitte usw. nicht wegschaffen können und hiemit könnte 28 manifestirt, ist] manifestirt ist,

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nur im Einzelnen der Versuch gemacht werden. Es läßt sich nun über die Sache etwas vorhersehbar machen wenn man diesen Unterschied ganz bei Seite setzt und fragt, wo zeigt sich im wirklichen Leben der Unterschied zwischen beiden Geschlechtern in der Seelenthätigkeit? Man müßte also die ganze Lebensweise ändern, wenn nicht ein anderes Resultat herauskommen solle. Fragt man weiter unter welchen Bedingungen wäre dies möglich, so weist dies auf etwas Früheres zurück. | In dem Beruf des weiblichen Geschlechts für das psychische Gebiet liegt schon eine überwiegende Beschäftigung mit dem Einzelnen und in Verbindung damit eine Abwendung des Großen und Allgemeinen, insofern man es von Seiten der Selbstthätigkeit, des Heraustretens betrachtet. Wenn es darauf ankommt, Differenzen in der Erscheinung des menschlichen Geistes auszumitteln muß man sie wieder in die Region stellen, wo der Entwickelungsexponent ein bedeutender ist. Bei solchen auf niedriger Bildung stehenden Völkern sind wir außer Stand gesetzt Differenzen aufzufinden. Aber man kann hieraus nicht schließen, weil sie da nicht sind, sind sie nicht ursprünglich, sondern sie können nicht zum Vorschein kommen. So wie wir uns auf das Gebiet des mehr entwickelten menschlichen Lebens stellen, so liegt darin eine Conzentration auf das Einzelne in dem Treiben des Familienlebens. Dieser Zeitraum des Lebens, in welchem die Geschlechtsfunktionen vor sich gehen ist auch der wo die Geschlechtsdifferenzen am meisten entwickelt sein müssen. Ein Zurücktreten in dem ganz gemeinsamen Verhältniß wird möglich sein, weil die besonders im gemeinsamen Gebiet zurückhaltende Pflichterfüllung aufhört, aber wir finden doch überall als Regel die weibliche Thätigkeit in dem Hauswesen bestimmt und das bleibt das eigentliche Centrum desselben. Wir können den ganzen Gegenstand nur richtig ins Auge fassen, wo es schon einen bestimmten Gegensatz giebt zwischen dem öffentlichen und häuslichen Leben. Hier finden wir in dem männlichen Geschlecht die Richtung auf das öffentliche Leben vorherrschend. Die Frauen gehen in die Angelegenheiten des öffentlichen Lebens vermittelst des häuslichen ein. Diese umgekehrte Unterordnung ist überall allgemeine Regel. Insofern sie durch die Sitte bestimmt ist[,] dies gehört zu dem, was wir nicht auf allgemeine Weise bestimmen können. Aber wenn wir auch beide in dieser Bestimmung völlig gleich stellen wird doch das weibliche Geschlecht in jener Periode von dem öffentlichen Leben abgezogen. Daraus entsteht eine Ungleichheit: das männliche Geschlecht gewinnt einen Vorsprung, der nicht wieder aufgehoben werden kann. Schon dies ist ein zu jenem Hinzukommendes; es 4 Seelenthätigkeit?] Seelenthätigkeit.

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ist eine allgemeine Erfahrung, daß das weibliche Geschlecht in Hinsicht auf das Öffentliche immer hinter jenem zurückbleibt, so bald es in seinen Beruf eingetreten ist. In der spätern Zeit ist hierin keine Änderung mehr möglich, denn wenn die Frauen nicht mehr gebären, entwickeln sich auch keine neuen Kräfte mehr in ihnen. Wir müssen nun auf den entgegengesetzten Punkt gehen und das Verhältniß von der Seite der Ausnahmen betrachten. So erscheint zuerst nur als eine Ausnahme, die hie und da aber in das öffentliche Leben als Gegensatz der Analogie eingedrungen ist, daß | Frauen die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten haben. Dies kann, wo es vorkommt, nicht einmal als eine Maxime angesehn werden, die einen innern Grund hätte. Denn dann müßte man ebenso dem weiblichen Geschlecht an allen öffentlichen Geschäften Theil geben. Also bezieht sich dies immer nur auf die höchste Spitze und ist eine nur in äußern Beziehungen gegründete Maaßregel. Hieraus läßt sich gar nichts schließen. Wenn in solchen Ausnahmefällen auch wirklich überwiegend wäre, daß Frauen die zur Regierung gelangen, auch ausgezeichnet sind, so würde uns dies nicht berechtigen auf eine gleiche Anlage in dem Umfassen der Verhältnisse der großen Angelegenheiten zu schließen. Was sich hervorhebt wird bemerkt. Von Elisabeth von England, von Katharina von Rußland redet Jeder; Niemand von der letzt verstorbenen Königin von Portugal. Selbst bei diesen Ausnahmen sind Impulse die rein von einzelnen Lebensverhältnissen ausgehen mehr überwiegend in weiblichen Regierungen als in männlichen und dies sind solche die von Beziehungen auf das männliche Geschlecht herrühren. Diese Ausnahmen können daher nicht in die Wagschale gelegt werden. – Nun haben wir andere Verhältnisse des öffentlichen Lebens in den Gebieten der Wissenschaft und Kunst. Auch hier ist es nur Ausnahme, wenn Frauen sich in diesem Gebiet auszeichnen und selbst die Ausgezeichneten sind den Ausgezeichneten des männlichen Geschlechts nicht gleich zu stellen. Noch nie hat eine Frau an der Spitze einer philosophischen Schule oder Richtung in der Wissenschaft gestanden, auch keine Eigenthümlichkeit in der Kunst, sondern sie ist überwiegend nachbildend und hierin zeichnet man für etwas aus, wofür man Männer nicht auszeichnen würde, so hat hier auch die Ausnahme die Regel selbst bestätigt. Nun haben wir aber keine Ursache im Voraus anzunehmen, daß eine absolute quantitative Ungleichheit auf der psychischen Seite zwischen beiden Geschlechtern statt findet. Wenn dies das Zurücktretende ist, was ist das Hervortretende? Sagen wir nun, daß die nach Außen gehende Selbstthätigkeit, so wie man das Große und Allgemeine auffaßt 21–22 Anspielung auf die am 7. Januar 1830 verstorbene Charlotte Joachime von Spanien (geb. 1775), Prinzessin von Spanien und Königin von Portugal und Brasilien.

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zurücktritt, wie steht es um das andere Element, um die Empfänglichkeit? Wenn wir sagen ja das objektive Bewußtsein, das eigentliche Erkennen ist nicht in einem dominirenden Grade vorhanden, weil es sonst auch in dem eigenthümlichen Typus dieser Funktion, in der Wissenschaft, sich zeigen müßte, wie steht es um die subjektive Form des Bewußtseins? Die betrachtet giebt ein Resultat, wodurch die quantitative Ungleichheit wieder aufgehoben wird, die qualitative giebt sich nie so bestimmt zu erkennen. Wir sind schon öfter darauf, als auf ein allgemein Anerkanntes zurückgegangen, daß das Einzelne | als solches nie vollkommen durch allgemeine Vorstellungen durchdrungen und aufgefaßt werden kann. Nun ist aber die Sprache nur für allgemeine Vorstellungen; es giebt aber kein objektives Bewußtsein, keine Denkthätigkeit, als mittelst der Sprache und in der Sprache. Die ursprüngliche Auffassung des Einzelnen ist also unter der Form des subjektiven Bewußtseins und so wie wir dies an die ganze Art zu sein des weiblichen Geschlechts halten, so haben sie hierin eine Virtuosität, Stärke und Richtigkeit in der unmittelbaren Auffassung des Einzelnen durch das Gefühl, die sich manifestirt durch einen unleugbaren Vorzug der Frauen in der Menschenkenntniß. Sie haben dieselbe nur in der unmittelbaren Auffassung des Einzelnen; auf allgemeine Classifikationen gehn sie nicht zurück. Wenn wir aber nun auf das Große sehn finden wir hier etwas ganz Ähnliches. Sind sie zurücktretend in Beziehung auf das Erkennen in der wissenschaftlichen Form, ist dagegen wiederum das Gebiet des Religiösen, welches nichts ist als das Gefühl des subjektiven Bewußtseins, aber für dieselbe Potenz als das Erkennen, und ihr ganzes Leben wird durch diese Bestimmtheit des Selbstbewußtseins geleitet und geordnet. Wenn wir dies, was wir anerkanntes hergenommen haben anwenden auf das eigenthümliche Gebiet ihrer Thätigkeit, so finden wir es hierin bestätigt. Die Art wie sie sich in die Kinder hineinlegen, geht rein aus von jener Auffassung des Individuellen; darin haben sie eine Kenntniß des Maaßes, welches sie nicht in Worten mittheilen können, weil es nicht auf allgemeinen Vorstellungen beruht, welches sie aber immer in ihrem Betragen mit einer gewissen Richtigkeit leitet. Ebenso werden wir auch sagen müssen, wenn wir sie in ihrer ruhigen Wirksamkeit betrachten ist dieselbe immer durch das Religiöse geleitet. Daher also es ist keineswegs ein solches Kleben am Einzelnen, daß es nie ein Verhältniß wäre zwischen ihnen und einem einzelnen sondern in dem Religiösen ist das Selbstbewußtsein in seiner höchsten Potenz und eine dadurch geleitete Wirksamkeit ist durch das Gattungsbewußtsein geleitet, in seiner höchsten Form. Es ist das rein Menschliche, was sie ergriffen haben, vermittelst 26 und] davor so )sind sie* ausgeg

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dessen und worauf sie wirken. Ihre Wirksamkeit hat wieder das Einzelne zu ihrem Gegenstand. Betrachten wir wieder den Zusammenhang zwischen dem häuslichen und öffentlichen Leben, verschwindet der quantitative Unterschied auch hier, weil die Frauen von ihrer häuslichen Stellung aus einen indirekten Einfluß vermittelst der Geselligkeit [ausüben], die sich an das häusliche Leben anschließt, auf das öffentliche, welcher wieder nicht berechnet werden kann, weil er von dem Einfluß | ausgeht, den sie auf Einzelne üben. Wir lassen daher nicht als allgemeine Regel aufstellen, wenn die Frauen regieren, regieren sie durch die Männer und umgekehrt, das Umgekehrte gilt nicht in dem Grade als das ist, so ist es doch oft sehr bemerkbar, welchen Einfluß die Frauen auf das öffentliche Leben haben. Daß nun diese Bewußtseins Differenz besteht, die diesen gegenüber ist [ist] auch die Eigenthümlichkeit des männlichen Geschlechts im Bewußtsein, und entwickelt [sich] weiter schon in der Zeit wo die Entwickelung der Persönlichkeit noch nicht bis zur Wirksamkeit der Geschlechtsthätigkeit gelangt ist und nach dem Cassation finden darin, müssen wir schon im Voraus annehmen. Daher allerdings solche Experimente, Knaben unter Mädchen zu bringen und sie zu verfremden, daß sie zum Bewußtsein des [andern] Geschlechts gelangen, würden nichts dagegen beweisen, weil dies nicht naturgemäße Entwickelung ist und aus einer einzelnen Widernatürlichkeit welche nicht einmal eine Ausnahme ist, denn diese ist etwas Gewordenes nicht etwas Gemachtes; aus jener allmähligen Entwickelung der Differenzen und Zurücktreten kann man nicht mit Sicherheit schließen, daß die psychische Differenz durch die physiologische der Geschlechtsdifferenz bestimmt ist. Sondern die leibliche Geschlechtsdifferenz steht im Zusammenhang mit allen leiblichen Funktionen. Wir haben noch eine ganz ähnliche Differenz zu betrachten, weil sie mit dem Physiologischen zusammenhängt und ebenso streitig ist, wie sich dabei das Psychische verhält[,] das ist die Differenz der Temperamente. In dem Ausdruck liegt eine deutliche Hinweisung auf den eigentlichen Gehalt; es liegt darin eine Beziehung ursprünglich auf das Zeitmaaß, dann aber überhaupt auf Maaß, was sich, wenn auch mittelbarer Weise auf Zeit zurückführen läßt. Wenn man die Sache geschichtlich betrachtet, so sind die Beobachtungen auf dieser Seite von dem physiologischen Gebiet aus[gegangen], und dies zeigt sich auch in der Bezeichnung. Wir können, indem wir die Sache hier nun auf die Form der psychischen Thätigkeit beziehen, die Beziehung auf das Ethische nicht leugnen, aber nur mit Rücksicht auf die Frage, ob eine von diesen Formen der ethischen Entwickelung günstiger sei als die andere oder die Reihen derselben als ethische Entwicke31 eine] keine

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lungsstufen zu betrachten wären. Das letzte wird nicht leicht Jemand behaupten wollen. Wollte man es annehmen, so müßte man auch zugleich annehmen, daß jeder Einzelne ursprünglich schon auf eine gewisse ethische Stufe gesetzt sei ohne seine Thätigkeit, oder auf derselben zurückgehalten werde ohne sie überschreiten zu können. Denn das Temperament ist in sofern etwas Bestimmtes daß keiner aus dem einen in das andere übergeht, wiewohl es ein Maaß in ihm sein kann. Wenn wir nun diese Ansicht insoweit beseitigen, daß wir jeder dieser Arten, wie die psychischen Thätigkeiten bestimmt sind eine gleiche moralische Geltung an und für sich zuschreiben, so daß das Ethische ein anderes sei | in dem Typus seiner Entwickelung, aber nicht daß ein bestimmtes Maaß für die ethische Entwickelung für jeden gegeben sei. Die ursprüngliche und am längsten geltend gewesene Bezeichnung ist bekannt. Durch einen jeden der Ausdrücke desselben ist ein bestimmter Typus bezeichnet in der Art und Weise, d. h. in der Stärke und Schwäche und in der Succession der psychischen Thätigkeit. Was aber nun eigentlich damit bezeichnet sei ist die schwierige Frage. Man kommt mit ganz einfachen Beziehungen dabei daher nicht recht aus. Die Bewegungen führen auf physiologisches zurück, aber auch wieder auf ein bestimmtes physiologisches System, welches den Grund zu dem Abweichenden und über das Maaß Hinausgehenden, zu allen krankhaften Zuständen in den organischen Flüssigkeiten sieht. Wollten wir davon ausgehen, gingen wir über unser Gebiet hinaus und geben uns einer bestimmten Ansicht im Voraus hin. Wir wollen fragen, wenn wir zurückgehen auf die Art, wie wir das ganze geistige Leben konstruirt haben, was würden sich da für Differenzen ergeben, die in der Entwickelung des geistigen Lebens in der Zeit statt finden können? Wir haben betrachtet das geistige Leben unter 2 verschiedenen Hauptformen, die wir als einander coordinirt ansahen und die verschieden durch einander bedingt waren, die Rezeptivität und Spontaneität und diese haben wir bezogen auf alle Funktionen des geistigen Lebens. In einem jeden Moment sind hierin alle diese Funktionen nothwendig zusammen thätig nur in verschiedenem Maaß. Wenn wir uns nun daraus den ganzen Verlauf des Lebens konstruiren, fassen wir es auf der einen Seite als eine Reihe von Momenten, deren jeder ein Zusammensein aller wesentlicher Funktionen ist und sie unterscheiden sich von der Art wie beide durch einander bedingt und auf den andern bezogen werden. Moment ist aber nicht Zeitgröße, sondern nur Zeiteinheit d. h. von einem Quantum von Zeit ist eine solche bestimmte Art und Weise des Zusammenseins der wesentlichen Zustände abgeschlossen und es geht ein Zusammensein auf eine andere 7 ihm] ihnen

28 können?] können.

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Weise an, so daß ein Leben gefaßt wird als eine Reihe von diskreten Größen in der Zeit. Durch alle diese durch geht aber ein sich selbst gleich Bleibendes und dies war uns immer nur das Ichsetzen selbst. Eine andere Grundbetrachtung, nämlich das, wiewohl auch im verschiedenen Maaße in dem Einzelwesen zusammenseiend, das Selbstbewußtsein auf das Einzelwesen bezogen und das Selbstbewußtsein auf die Gattung bezogen, bedingt wesentlich die ethische Entwickelung indem es das Verhältniß dieser beiden zu einander [ist,] was wir bei der ethischen Entwickelung ins Auge zu fassen haben. Dies würden wir also hier beseitigen müssen, da das Temperament keine ethische Beziehung ist. | Wollen wir uns hier nicht zersplittern in dem Einzelnen führt uns unsere bisherige Construktion auch auf eine Quadruplizität. Aber wir können nicht behaupten, daß es dieselbe sei. Wenn nämlich jede Differenz dieselbe bleibt, so ist, wenn wir uns den Wechsel der Momente denken einmal in Beziehung auf das Verhältniß der Rezeptivität und Spontaneität als in der Unterordnung derselben unter einander wechselnd, haben wir eine Differenz gesetzt, die aber gar nicht eine sich gleich leibende ist, wodurch also auch Persönlichkeiten nicht von den andern unterschieden werden können, sondern eine solche könnten wir nur setzen, wenn wir die Unterordnung des einen unter das andere als die herrschende ansehen. Gehen wir davon aus haben wir hier eine Duplizität und es mag nun unter den Einzelnen eine große Menge geben, bei welcher dieser Wechsel gerade das Herrschende ist. Wenn wir uns nun aber denken Andere, einestheils als solche in welchen die Spontaneität überwiegend bestimmt ist durch die Rezeptivität und also mehr als Reaktion erscheint und wiederum Andere, wo die Rezeptivität überwiegend bestimmt [ist] durch die Spontaneität, so daß alles in sich Aufnehmen auf ein gewolltes Aufnehmen zurückgeht, so werden diese beiden auf eine konstante Weise von einander unterschieden werden. Je mehr der Wechsel die Regel unterbricht, um desto weniger wird die Differenz hervortreten; je konstanter sich die Hauptregel zeigt, um desto bestimmer wird sie erkannt werden können. Die Differenz wird stärker und schärfer hervortreten, je nachdem die Regel durch den Wechsel unterbrochen wird. Das ist die eine Seite. Nun aber finden wir noch einen ähnlichen Gegensatz, wenn wir auf die Art sehn, wie das Leben als eine Reihe von diskreten Momenten erscheint. Wir haben die Zeiteinheit nicht als Größe bestimmt, aber das Leben selbst ist Naturbestimmungen untergeordnet in welchen die Zeiteinheit als Größe bestimmt ist. Wenn wir uns ein einzelnes menschliches Dasein denken auf eine natürliche Weise verlaufend, bietet es uns einen solchen Zeitverlauf dar, welchen wir nach konstanten Zeiteinheiten messen. Jeder Tag ist eine Zeiteinheit als Größe. Wenn

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wir also hier das Ganze nehmen und nun den Moment als solchen als die gewordene Bestimmtheit des Zusammenseins der Funktionen, die sich aber nachher wieder auflöst, so haben wir hier eine Aufeinanderfolge in ein bestimmtes Maaß eingeschlossen und diese Aufeinanderfolge ist eine Bewegung der Lebenseinheit von einem Moment zum andern bis die Zeitgröße erfüllt ist; jede Bewegung steht unter dem fließenden Gegensatze von schnell und langsam, wobei man immer ein bestimmtes Maaß im Auge hat. Wenn in derselben Zeitgröße die Bewegungen, die Momente in großer Menge | auf einander folgen, aber deßhalb auch ein Kleines sind für sich betrachtet, so ist das die eine Bestimmtheit; wenn die Bewegung als eine langsame erscheint, aber deßwegen jeder Moment selbst einen größern Inhalt hat ist das die entgegengesetzte Bestimmtheit. Haben wir kein Maaß im Auge scheint uns dieser relative Gegensatz nur als ein unbestimmtes Mehr und Minder. Der Gegensatz von Schnell und Langsam setzt immer voraus, daß wir ein Maaß im Auge haben. Denken wir uns eine von diesen beiden Bestimmtheiten konstant haben wir eine solche Duplizität wie vorher. Denken wir uns aber hier den Wechsel, so wäre die Bestimmtheit aufgehoben, sie tritt also mit Sicherheit nie stärker hervor. Wir haben also hier eine Vierfältigkeit, eine Bestimmtheit der Rezeptivität durch die Spontaneität und eine Bestimmtheit der Spontaneität durch die Rezeptivität, einen Verlauf des Lebens in großen Momenten und einen Verlauf des Lebens in kleinen Momenten. Wie verhalten sich diese gegen einander? Wenn wir die eine auf die andere beziehn, kann es sich so verhalten, wenn ich von dem ersten anfange und mir denke einen Lebensverlauf in welchem überall die Spontaneität das die Rezeptivität bestimmende ist, ist dadurch der Unterschied zwischen Spontaneität und Rezeptivität nicht aufgehoben, es ist auch nicht ein so vollkommnes Ineinandersein derselben, daß sich nicht, wenn wir es auf Zeittheile reduziren, die eine oder andere für sich betrachten ließe. Es kann daher in diesem Übergewicht der Zeitverlauf, wenn wir ihn auf die einzelnen Funktionen beziehen, auf diese Weise bestimmt sein, daß die untergeordnete Funktion auf entgegengesetzte Weise bestimmt sei als die dominirende. Stellen wir die andere Duplizität oben an und denken uns also einen Lebensverlauf aus großen Momenten, so kann dieser ein solcher sein, daß die Spontaneität überwiegt oder ein solcher, daß die Rezeptivität überwiegt, denn an und für sich ist keins wesentlich mehr an die eine oder andere Zeitform gebunden. Es giebt große d. h. wieder eine Mannigfaltigkeit in sich schließende Momente der Spontanetät, aber auch kleine, wo das Heraustretenwollen sich in einem kleinen Zeitraum erfüllt und einem andern Platz macht. Wir haben also hier wieder eine Duplizität. Fassen wir dies zusammen müssen wir die Möglichkeit einer solchen

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Quadruplizität eingestehen; sie ist klar aus dem einen Gesichtspunkt, aus dem andern haben wir es nur als abstrakte Möglichkeit gefaßt. Wenn wir nun auf die Physiologie zurückgehen, so besteht hier das Leben auch aus einer Reihe von Bewegungen und diese haben auch den 2fachen Charakter mehr die Spontaneität darzustellen und mehr die Rezeptivität. Wenn wir an einzelnen Funktionen uns | dies darstellen wollen haben wir theils nicht den Gegensatz von willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen. Dieser geht auf den Einfluß des Psychischen auf das Physiologische zurück. Wollen wir nun also, weil die aufgestellte Differenz nur auf der Form des Lebens selbst beruht [dies] einmal als Zeitverlauf und dann als Gegensatz der Funktionen darstellen, in dem Leiblichen aufsuchen, werden wir es in den unwillkürlichen Bewegungen aufsuchen. Wenn wir nun hier den Blutumlauf betrachten haben wir eine Reihe von Bewegungen welche als zyklisch erscheinen, denn es geht ganz in sich selbst zurück; aber wir haben hier eine Differenz des Langsamen und Schnellen und die erscheint ebenfalls als etwas in jedem einzelnen Leben in dem gesunden Zustand Konstantes, aber nur in den verschiedenen Perioden einer Differenz unterworfen. Wenn wir auf ein anderes System der unwillkürlichen Bewegungen sehen haben wir die Respiration; es veranschaulicht sich hier der Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität; der Zusammenhang des physischen Lebens mit der Außenwelt ist hier und das Einathmen repräsentirt die Rezeptivität und das Ausathmen die Spontaneität. Wir haben also hier allerdings diese beiden Gegensätze auch, wobei wir nicht behaupten, daß es diese beiden leiblichen Differenzen wären, auf welche man die Kontruktion der Temperamente gebaut hätte, weil sie von dem Physiologischen ausgehen, sondern wir wollen nur den bestimmten Zusammenhang des Physiologischen mit dem Psychischen zur Anschauung bringen und ebenso denselben Gegensatz an dem physischen Leben. Es fragt sich nun, ob diese Eintheilung des psychischen Lebens auch als ein Konstantes nachweisen oder ob sie sich auflösen läßt in die gewöhnliche Theorie von den Temperamenten. Wenn wir nun die aufgestellten Differenzen, wie sie sich im Leben manifestiren müssen, betrachten so steht die Sache so: 2 werden sich überwiegend in den selbstthätigen Momenten manifestiren und wieder einander entgegengesetzt sein in Beziehung auf den Gehalt dessen was ein Mensch thut; 2 werden überwiegend sich in der Rezep14 zyklisch] so SW III/6, S. 306; Ms.: psychisch 8–9 Zusatz SW III/6, S. 306: „Denn willkürliche sind solche, die durch das psychische bedingt werden und wo das leibliche sich receptiv verhält, wogegen die unwillkürlichen nicht durch das psychische bestimmt werden und auf dem Gebiet des leiblichen die Selbstthätigkeit darstellen.“

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tivität zeigen und ebenso sich entgegengesetzt sein durch die Schnelligkeit oder Langsamkeit der Bewegung. Die ersten werden sich um so deutlicher manifestiren je mehr die Rezeptivität der Spontaneität untergeordnet ist, die andern, je stärker die Rezeptivität hervortritt vor der Spontaneität. Wenn nun in einem Leben die selbstthätigen Momente in einer gewissen Langsamkeit auf einander folgen ohne durch eine große Lebhaftigkeit der Rezeptivität unterbrochen zu werden, so stimmt dies sehr mit dem zusammen was man gewöhnlich mit dem Ausdruck des Phlegmatischen bezeichnet; wenn dagegen die Momente der Selbstthätigkeit rasch aufeinanderfolgen, aber sie sind in einem geringern Umfange, ohne von lebhafter Rezeptivität unterbrochen zu werden, so ist dies das cholerische Temperament. Es ist nun etwas, was wir mit hineinzumischen pflegen in das Bild in | Beziehung auf unsere Bezeichnung. Bei dem cholerischen nämlich denken wir immer überwiegend an Zorn, bei dem Phlegmatischen an Gleichgültigkeit. Das scheint in unserer Erklärung gar nicht zu liegen. Darin was wir in Beziehung auf unsere Grundanschauung gesagt haben, liegt schon, wenn wir das phlegmatische Temperament für sich betrachten daß die Rezeptivität der Spontaneität untergeordnet ist; nun hat aber jede Selbstthätigkeit ihre Richtung. Die Affektionen von Außen lassen keine Spur zurück, wenn sie nicht im Zusammenhange sind mit der Selbstthätigkeit. Dies kann allerdings in dem Leben selbst, wo sich eine Menge von Null darbietet, wo den Einen doch sehr interessirt, was nicht in der Reihe der Spontaneität [des andern] liegt, leicht den Schein der Gleichgültigkeit haben; es ist aber nichts als die Rezeptivität in der Abhängigkeit von der Spontaneität. Verläuft letzte in einer größern Reihe von Momenten; wo sie selbst einen größern Wechsel haben; aber es ist sehr Unrecht, wenn man dem, wo der eigentliche Typus das Phlegmatische bildet eine solche Gleichgültigkeit zuschreibt, wegen des Unterschieds des Interesses im einzelnen Fall. Sehen wir auf die Affektionen der Rezeptivität, so kann diese einen doppelten Ausgang nehmen. An und für sich ist die Richtung auf die Mittheilung um so stärker, je stärker der Eindruck ist, dann ist auch ein Zusammenhang zwischen dem Affizirtwerden und der Selbstthätigkeit; die Mittheilung liegt in dem Gebiet der Rezeptivität selbst; sie ist zwar ein Akt der Spontaneität, aber auf die Rezeptivität bezogen. Wenn also wir sagen hier ist die Rezeptivität der Spontaneität untergeordnet, liegt darin, daß ein jeder Eindruck mehr in Beziehung auf die Spontaneität aufgefaßt wird als an und für sich und so ist auch die Richtung auf die Mittheilung nicht vorherrschend. Es gehört also zum Typus des phlegmatischen Temperaments, weniger Äußerungen über 24 nicht] )nicht*

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die empfangenen Eindrücke zu geben. Wenn man nun aber auch häufig genug mit dieser Bezeichnung die Vorstellung der Unthätigkeit verbindet, ist das etwas ganz Falsches; sie ist gar nicht in dieser Beziehung die Sache des Temperaments, sondern es kommt ihr eine große natürliche Ausdauer zu[.] Die Trägheit ist ein mehr oder weniger von der Spontaneität selbst, zeigt ein größeres oder geringeres Maaß von psychischem Leben überhaupt an, hat es aber nicht mit einer solchen Differenz zu thun. Es ist vielmehr die Ausdauer in einer ruhigen Thätigkeit, wo Alles von rein innerer Bewegung ausgeht; was wir dabei die Größe des Moments genannt haben ist, daß die Entschlüsse solche sind die gleich große Reihen von Handlungen unter sich befasssen und die Ausdauer von dem einmal in die Selbstdarstellung aufgenommnen ist die Eigenthümlichkeit des Temperaments. Vergleichen wir damit das Cholerische und fangen mit dem letzten Punkt an, so liegt darin auch das Übergewicht der Spontaneität, aber indem sie sich in kleinen Bewegungen äußert, so daß jede kleine | Thätigkeit etwas für sich ist, so ist hier ein abspringender Typus in den Äußerungen der Selbstthätigkeit. Wenn wir nun vorhergesagt haben, wir denken uns bei dem cholerischen Temperament immer den Zorn oder die Neigung zum Zorn als etwas sehr Wesentliches, so scheint das nicht ein solcher Hauptpunkt, sondern wir müssen das erst auf etwas Anderes reduziren. Was das cholerische Temperament mit dem phlegmatischen gemein hat ist, daß die Affektion der Rezeptivität ebenso wenig bei dem cholerischen in bloße Selbstdarstellung übergehn, sondern in die reale Reaktion. Nun sind die Affektionen unter diesem Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen befaßt und reale Reaktionen giebt es doch eigentlich nur in dem Gebiet der menschlichen Äußerungen. Wenn es nun dem cholerischen Temperament leichter sein soll in Aktion zu gehen auf unangenehme Reaktion als auf angenehme, so ist das erste nur mehr hervortretend. Wenn wir nun zu den beiden andern übergehen, welche überwiegend durch die Rezeptivität bestimmt sind, werden wir hier wieder sagen das Bestimmtsein der Rezeptivität in kleinen Momenten ist der Typus des sanguinischen Temperaments, das Bestimmtsein der über das Spontane hervortretenden Rezeptivität in großen Momenten ist der Typus des melancholischen Tempera28–29 Aktion] über Thätigkeit 31 welche überwiegend durch die Rezeptivität bestimmt sind] so SW III/6, S. 309; Ms.: wodurch überwiegend die Rezeptivität bestimmt ist 29–30 Zusatz SW III/6, S. 309: „Aber immer werden wir das Zurükktreten aller Reaction, die bloß mimisch und bloße Selbstdarstellung ist, gegenüber der realen Selbstthätigkeit und eben diese verbunden mit dem schnellen Wechsel als das eigenthümliche des cholerischen Temperaments ansehen.“

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ments. Hier sind wir wieder etwas ganz Anderes zu denken gewohnt. Wir nehmen in unser Bild von einem Melancholischen immer auf eine vorherrschende Neigung zum Trübsinn, ein größeres Verharren bei den unangenehmen Affektionen als bei den angenehmen; bei dem sanguinischen setzen wir nicht das große Verharren bei angenehmen Affektionen voraus, sondern denken hier durchaus die Leichtigkeit des Übergangs mit. Wenn wir fragen, was ist bei dem melancholischen Temperament die Darstellung von dem, was wir das Vorherrschen der Rezeptivität mit ihrer Bewegung in großen Momenten nennen? Jede Bewegung zerfällt in kleine Momente, sie bilden aber ein Ganzes, indem sie durch Willensbestimmung vereinigt werden. Eben so haben wir es hier zu setzen in Beziehung auf die Rezeptivität. Der große Moment wird immer nichts sein als eine Reihe von kleinen; aber diese sollen durch dieselbe Affektion bestimmt sein. Wenn wir nun bedenken, daß Affektion unter dem Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen steht und eine Reihe von rezeptiven Momenten [eins sein soll], so wird dieser sein müssen ein angenehmer oder unangenehmer. Das Temperament in unserm Sinn wird sich darin manifestiren, wenn eine ganze Reihe von Momenten denselben Typus hat. Dies ist gerade das, was wir durch den Ausdruck Stimmung bezeichnen; wenn das, was uns affizirt, nur insofern aufgenommen wird als es in der Rezeptivität den schon gegebenen Charakter annimmt also in einer unangenehmen Stimmung nur das aufgenommen wird, was denselben Typus annimmt; das andere wird gar nicht aufgenommen, sondern nur verfälscht. Es ist das das Verharren in einer Stimmung. | Das Verharren wird allmählig abnehmen und dann kann eben so leicht die entgegengesetzte Stimmung eintreten. Man giebt allgemein zu, daß melancholische Menschen auch wieder fähig sind in einen hohen Grad von fröhlicher Stimmung, in einen Zustand von Ausgelassenheit zu gerathen, so daß auch nichts aufgenommen wird, so lange die Bewegung dieselbe Richtung hat, was nicht diesen Typus annimmt. Es hat hier dieselbe Bewandniß, daß man gewöhnlich an ein Übergewicht der trübsinnigen Stimmung denkt kommt daher, weil diese nur einen stärkern Eindruck macht, weil wir uns ihr entgegenstellen: in die heitere Stimmung gehen wir leichter ein. Wenn wir bei der physiologischen Seite stehen bleiben ist es nun von dem Wechsel des Lebens abhängig, ob mehr trübe oder ausgelassene Stimmungen vorkommen. Ein Anderes ist die Frage, ob dasjenige, was die physiologische Seite dieses Temperaments ist, zugleich eine solche ist, worin eine überwiegende Richtung auf das Auffassen des Trüben in der Temperatur des Leiblichen selbst liegt und daraus läßt sich die Erschei9 nennen?] nennen.

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nung noch allgemein und bestimmt erklären. Betrachten wir die Sache nun auf dem psychologischen Gebiet, können wir sie nicht anders fassen. Was zuletzt das sanguinische Temperament betrifft so hat dieses gemein mit dem melancholischen, aus dem wir es nicht besonders herausgehoben haben, daß wenn überhaupt die Rezeptivität vorherrscht, deßwegen die bloße Selbstdarstellung vor der realen Reaktion vorherrschen muß. Nun so herrscht hier die Rezeptivität vor, bewegt sich aber in kleinen Momenten. Sehen wir dies nun als den Gegensatz des melancholischen an, können wir es in der negativen Formel fassen, es ist der Mangel an Beharren in dem Eindruck; kein voriger Eindruck übt eine Einwirkung auf den folgenden aus, denn dies aber ist die Gewalt der Stimmung. Nun sind wir freilich auch gewohnt in dem Sanguinischen zu denken ein Übergewicht von heiterer Auffassung; aber darin ist wieder Vieles bloß Schein, indem die unangenehme Affektion einen stärkern Eindruck macht, betrachten wir dies, daß sie schnell vorüber geht, mehr als wenn dasselbe begrenzt in der heitern Stimmung, weil wir der niederdrückenden eine größere Aufmerksamkeit schenken indem wir uns ihr entgegenstellen. Auf der physiologischen Seite kann in demjenigen Zustand, welcher diese Beweglichkeit der Rezeptivität repräsentirt, etwas gegeben sein, wodurch auch im leiblichen ein Vorherrschen auf die Lebensförderung [liegt] als umgekehrt. So stellen sich also die Differenzen an und für sich betrachtet und wir kehren nun zu dem zurück, was wir anfangs gesagt haben. Indem wir Rezeptivität und Spontaneität sondern, kann dies niemals ein Absolutes sein. Wir werden also sagen, das phlegmatische Temperament z. B. | prägt sich desto mehr aus in jedem Einzelnen, je weniger die vorherrschende Richtung auf die Spontaneität unterbrochen ist durch die Rezeptivität. Dies kann aber nie eine vollkommne Null sein; weil das Leben nur in dem Zusammensein von diesen beiden beruht; auch in dem Leben von diesem Temperament kommen Zeiten wo die Rezeptivität eintritt. In dem phlegmatischen betrachten wir doch nur als untergeordnet, eine Richtung entweder auf das sanguinische oder auf das Melancholische. Zeigt sich die Rezeptivität wo sie hervortritt nur in kleinen Momenten ist das Sanguinische neben dem Phlegmatischen vorhanden, zeigt sie sich in großen Momenten das Melancholische. Aber weil die Rezeptivität etwas untergeordnetes ist, kann sie sich bald so bald so zeigen und dann zeigt sich das Phlegmatische als das allein Dominirende. Auf dieselbe Weise finden wir es bei allen andern Temperamenten. – Wenn wir auf den relativen Gegensatz zwischen der Rezeptivität und Spontaneität zurückgehen, so können sie in demselben Maaß als sie entgegengesetzt 11 aus] ein

27 weniger] so SW III/6, S. 312; Ms.: mehr

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sind, auch verschieden bestimmt sein, eine Einheit muß dabei jedoch zu Grunde liegen. Diese gehört zu dem Individuellen; der Typus eines solchen Temperaments wird also immer desto stärker hervortreten, je weniger die entgegengesetzte Weise auf eine unabhängige Art sich geltend macht. Ist das letztere der Fall, so kann sie entweder keinen bestimmten Typus haben und ist dann auch ohne Einfluß auf den persönlichen Lebensverlauf und erscheint dann nicht durch einen innern Grund, sondern durch ein äußeres hervortreten. In einem gewöhnlichen Lebensverlauf, wo der Wechsel [in den Eindrücken,] die eine Stimmung hervor bringen können, in der Natur der Sache liegt, kann nicht als ein Merkmal der innern Temperatur hervortreten. Wenn man Alles von dieser Art absondert stellt sich die Sache so, es kann Zeiträume geben, in welchen das einfache Temperament durchaus allein das bestimmende ist, weil der entgegengesetzte Zustand zurückgedrängt ist. Das ist aber schon ein Zustand von entschiedender Einseitigkeit, in welchem sich das Subjekt befindet, denn es ist das Gleichgewicht von Spontaneität und Rezeptivität aufgehoben zu Gunsten eines von beiden. Denken wir uns das Zurückgedrängte als wachsend, so ist es ein bestimmbares; erscheint es nicht bestimmt auf die eine oder andere Weise ist auch das Wachsen mehr von Außen her als von Innen her zu erklären, weil das Innere als eine ursprüngliche Einheit ein solches Individuum von der entgegengesetzten Seite auch bestimmt, wird immer eine geringere Einseitigkeit sein als in jenen. Wenn aber die zurücktretende Seite auf dieselbe Weise bestimmt ist, also wo das Phlegmatische dominirend ist, die Rezeptivität melancholisch sich ausdrückt ist eine größere Einseitigkeit als wenn sie sich sanguinisch zeigt, weil die Unfähigkeit zu ihren Bestimmungen von beiden Seiten hervortritt. | Ein anderer Punkt ist, wenn wir darauf sehen, daß das physische Einzelwesen doch nur in dieser Beziehung zu verstehen ist, zu der größern Persönlichkeit der es angehört, mit der Voraussetzung, daß es auch Nationaltemperamente giebt, können wir auf dieselben Alles bisher im Allgemeinen Gesagte übertragen. Aber es tritt in diesem großen Gebiet allerdings eine Differenz in einer Beziehung auf das Verhältniß des Einzelnen zur Gesammtheit [ein]. Wenn in einem Volk das Nationaltemperament so dominirt, daß in den Einzelnen sehr wenig Differenz ist und das nur als ein minimum erscheint, was von dem Einzelnen als solchem ausgeht, deutet das auf einen Zustand, wo das Einzelleben wenig Freiheit hat, wo es ganz und gar von dem Nationaltypus dominirt ist. Je mehr Differenz sich, aber doch so, daß das Nationaltemperament hervorsticht, in dem Einzelwesen findet und es also ein persönliches Temperament ist neben dem 30 zu] e

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nationalen, um desto größer ist die innere Mannigfaltigkeit und um desto mehr kann die Art, wie sich die Einzelnen different von einander entwickeln, die Einseitigkeit im Ganzen entwickeln. Je weniger das persönliche Temperament in der Potenz des Nationaltemperaments steht und ein Gleichgewicht zwischen beiden ist, um desto größer ist die Entwickelung des Lebens im Ganzen. Aber es giebt hier ein maximum wo das Verhältniß den entgegengesetzten Charakter annimmt. Denken wir uns die Einzelnen so von sich abweichend in ihrem Temperament muß das Nationaltemperament verschwinden. Dann ist aber auch die Gemeinsamkeit des Lebens geringer und es erscheint diese mehr als etwas Willkürliches, durch äußere Gründe gegeben, als daß ein inneres dabei zum Vorschein käme. Indem wir nun von vornherein davon ausgingen, so kann eine solche Gesammtheit, in welcher es an der gemeinsamen Naturbestimmung fehlt, nicht als eine natürliche erscheinen. Die Forschung wird dahin geleitet, die Zusammengehörigkeit einer solchen Masse als solche anzusehen, der das Naturtemperament fehlt. Wenn z. B. auf demselben Raum durch allgemeine Bewegung die Bevölkerung gewechselt habe oder überhaupt aus ganz verschiedenen Stämmen zusammengesetzt ist so kann sich da natürlich ein Nationaltemperament nicht zeigen, weil die Gemeinsamkeit kein Naturprodukt ist. Das persönliche Temperament wird da dominiren; wenn wir also hier das Vollkommne darstellen wollen, finden wir es nur in der Mitte, in einem solchen Zustand der Gesammtheit, wo ein Temperament als eine gemeinsame Größe erscheint, aber nicht in einem solchen Grade festzuhalten und nicht so einseitig bestimmt, | daß nicht die Individuen für sich ihre Entwickelung haben könnten. Wenn wir nun die Sache auch noch betrachten aus dem Gesichtspunkt der Geschlechtsdifferenz und fragen hat jedes Geschlecht auch seine eigenen Gränzen in Beziehung auf die Temperamentsbestimmung, wird dies aus der Art, wie wir die Differenzen gefaßt haben sich von selbst ergeben. In dem männlichen Geschlecht im Ganzen muß ein Übergewicht sein des Temperaments, in welchem die Spontaneität hervortritt, in dem weiblichen Geschlecht wo die Spontaneität mehr unter der Potenz der Rezeptivität steht. Wenn man nun aber einem Mann zuschreibt, daß in seinem Wesen etwas Weibisches sei, und umgekehrt ist man immer mehr geneigt, dies dem Charakter zuzuschreiben als dem Temperament. Das erstere ist ein Gegenstand den wir noch vor uns haben; allein wir finden in dem Temperament selbst die Möglichkeit dazu. Es ist nicht zu leugnen, daß je mehr die Spontaneität unter die Potenz der Rezeptivität gestellt ist, wir um so mehr geneigt sind einem Manne etwas Weibisches zuzuschreiben, in 8 von] auf

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dem Verhältniß als es zum Vorschein kommt. Ebenso wenn wir uns denken ein Individuum des weiblichen Geschlechts, worin die Spontaneität das Hervortretende ist, müssen wir in demselben auch voraussetzen eine Neigung über die eigenthümliche Sphäre der Thätigkeit nach Außen hinauszugehen. Wiederum müssen wir sagen, es ist ein Zeichen der Freiheit in dem Geschlechtscharakter, worin Abweichungen nach diesen Gränzen hier vorkommen und es gilt hier dasselbe, was wir von dem Verhältniß zwischen dem nationalen Temperament und dem persönlichen gesagt haben; wir bemerken das Hervortreten des Persönlichen gegen das Geschlechtstemperament, nur dann als ein Mißverhältniß, wenn das Geschlechtstemperament dadurch ganz zurückgedrängt ist, wogegen es ein Zeichen ist, von der freien Entwikkelung des Einzellebens, wenn eine große Mannigfaltigkeit der Temperatur sich zeigt. Wir müssen daher eine Mannigfaltigkeit von Verhältnissen zwischen dem Geschlechts- und dem Nationaltemperament als möglich setzen und hier zeigt nun auch die Erfahrung dasselbe. Wo das nationale Temperament so dominirt, daß die Individuen sich wenig von einander unterscheiden, ist der Unterschied auch der Geschlechter in Beziehung auf das Maaß der Lebensbewegung und der Charakter derselben das Einzige, was dominirt. Es giebt aber dann verschiedene Bahnen, in denen sich das Temperament konstant entwickelt und das Geschlechtstemperament ist nur ein neues Gewicht auf der Seite des Gemeinsamen. Wir müssen uns also hier wieder den Werth, als einen ganz | zusammengesetzten denken. Es muß einen freien Spielraum geben, in dem sich Eigenthümlichkeit und Temperament entfalten. Wenn daher das allgemeine Gefühl sich auf eine solche Weise stellt, daß man lieber nicht will in einem Geschlecht eines Volkes eine solche freie Entwickelung sehen, daß es Einzelne giebt, die auch an der Gränze erscheinen, so zeigt das auf ein Zurückgesetztsein der Persönlichkeit überhaupt. Je mehr das sich geltend macht um desto mehr läßt man sich die Entwickelung bis an die Gränzen gefallen. So wie diese überschritten werden in größerm Maaße ist wieder ein krankhafter Zustand der Gesammtheit. Es giebt nun allerdings noch eine Beziehung, nämlich das Verhältniß der Temperamentsverschiedenheit zu den verschiedenen Lebensaltern. Wir sind immer davon ausgegangen hier etwas ursprünglich Gegebenes zu finden und also auch etwas, was sich in der einmal gestalteten Einheit selbst gleich bleibt. Denken wir uns eine Nation und wir schreiben ihr ein bestimmtes Temperament zu, nehmen wir auch an, daß sich dies nicht ändere. Es könnte sich nur ändern in dem Maaß als es fremde Elemente in sich aufnehme. Das Bestreben eines Volks sich vor fremden 37 Einheit] Einheit sich

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Elementen zu sichern kommt aus dem Selbsterhaltungstrieb her, es will als etwas fortfahren zu sein, was es ist und das Verbieten der Ehe mit verschiedenen Völkern kommt daher, wenn es auch nicht so zum Bewußtsein kommt. Dieses Gesetz zeigt aber weiter, daß es eine Richtung auf das Entgegengesetzte ist. In solchen Nationen daher, wo die Individualität ganz unter der Potenz der Nationalexistenz steht, wird auch eine Neigung zur Geschlechtsverbindung mit Personen von einer andern Abstammung sich gar nicht manifestiren. Wenn wir uns dies also denken aus [dem] vorherigen wird doch das Nationaltemperament fortbestehen; entsteht aber ein völliges Gleichgewicht, so ist der nationale Selbsterhaltungstrieb geschwächt und wir finden das Volk in einem Zustand wo das Volksthümliche Gefahr läuft durch das sich Geltendmachen des Persönlichen unterzugehn. Niemals aber können wir uns denken, daß das nationale Temperament in ein entgegengesetztes übergehen könne; vielleicht ist es mit einem Volk dahin gekommen, daß die Volksthümlichkeit als Temperamentsbestimmung nicht mehr existirt, ist es auch so sehr gegen alle andern Nationalexistenzen kompromittirt, daß es sich gegen dieselben nicht wird halten können, weil das nicht mehr vorhanden ist, was als dasselbe fortbestehen will, sondern nur die Einzelnen wollen als solche fortbestehen. Ebenso müssen wir auch sagen, wie wir hier in | dem Temperament ein Konstantes annehmen, kann auch das Temperament eines einzelnen Menschen nicht in das entgegengesetzte übergehen. Dennoch ist es nicht zu leugnen, daß es ein gewisses besonderes Verhältniß der menschlichen Lebensalter zu diesen Temperamentsdifferenzen giebt. Wir können dies hier nicht in seinem ganzen Gehalt entwickeln, sondern nur im Voraus etwas Gegebenes annehmen. Wie haben wir das aber in Verbindung zu bringen mit dem Festgestellten? Es giebt hier 2 Gesichtspunkte. Einmal, es kann sehr leicht auf einer Stufe des persönlichen Daseins, wo die beiden Hauptthätigkeiten noch nicht vollkommen entwickelt sind, das Temperament verkannt werden, weil diejenige Seite noch nicht zu ihrer rechten Erscheinung gekommen ist, welche von Anfang an darauf angelegt ist das Maaß des Lebens zu bestimmen. Die Rezeptivität entwickelt sich eher als die Spontaneität und letztere nimmt wieder ab und es kann daher ein falscher Schein von einer Änderung entstehen, weil man das für das Temperament hält, was es nicht war, oder sich schon zurückgezogen hat. Das persönliche Temperament läßt in den verschiedenen Lebensaltern einen verschiedenen Grad der Spannung zu, so daß es Temperamentszustände giebt, die in den verschiedenen Lebensaltern dominiren, ohne eigentliche Änderung des Temperaments. Jedes Temperament kann zugleich ein 15 vielleicht] vieleicht

28 Festgestellten?] Festgestellten.

31 das] davor leicht

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Ausdruck sein für die intelligente Funktion; Man kann damit keine Beziehung aufstellen, in welcher das eine Temperament eine vorzüglichere oder etwas schlechtere Form als die andere [hätte], außer wenn der Ort, den der Einzelne einnimmt gerade mit dieser Naturbestimmung in Widerspruch stände. Dies ist dann eine unrichtige Vertheilung der Kräfte. Wenn wir die Temperamente einfach betrachten und dann auf ihre Extreme [sehen], so kann das phlegmatische dahin führen, daß sich Alles auf einen einzigen großen Impuls reduzirt und daß wenig Beweglichkeit da ist für etwas, das nicht in diesen Impuls aufgenommen ist. So ist die Willensbestimmung, durch welche sich Jemand seinen Beruf bestimmt, die größte; reduzirt sich Alles auf diese ist damit eine Indifferenz gesetzt gegen Alles, was außer diesem Berufsleben liegt. Etwas Ähnliches findet statt, wenn wir uns diesem gegenüber das melancholische Temperament denken, wo die Rezeptivität das Hervorstechende ist und wir ebenso auf das Extrem einer Formel sehen müssen, auf eine einzelne Affektion, welche dem ganzen Leben die Stimmung giebt. Hier werden wir nun sagen müssen, es giebt ein sich selbst in dem Zusammenhange mit dem Ganzen finden; wir können in der Entwickelung einen Moment annehmen wo der Einzelne zum Bewußtsein seiner Stellung zum Ganzen kommt, wo sich also die Totalität des Lebenskreises in Beziehung auf seine Persönlichkeit bestimmt fixirt; das | Extrem besteht nun darin, wenn in dieser Stimmung das ganze Leben verläuft. Die beiden andern Temperamente tragen offenbar in ihrem Extrem gedacht die Zersplitterung des Daseins in sich; das sanguinische in seinem Extrem ist durchaus von dem Moment abhängig; die Spontaneität tritt nur unter der Form der Reaktion hervor. Denken wir uns dies in seinem maximum besteht eine eigentliche Entwickelung der Denkthätigkeit nicht mit diesem Temperament zusammen; der Eindruck und das Bild dominirt; die Denkthätigkeit wird daher zurückgehalten auf der Stufe wo sie selbst auf den Bildern verweilt. So wie die Denkthätigkeit sich in ihrer eigenthümlichen Form entwickelt ist jeder allgemeine Begriff eine so große Einheit, welche sich auch hier in einer Reihe von Momenten entwikkelt. Dies steht im Gegensatze gegen diese Naturbestimmtheit. Wie die allgemeinen Begriffe und Formeln ins Leben eingedrungen sind, werden sie zwar aufgefaßt, aber doch nur als Moment, daher man das Extrem auch oft bezeichnet als die Unfähigkeit den Unterschied zwischen dem Großen und Unbedeutenden zu fixiren, weil ihm Alles nur das Momentane wird. Dasselbe gilt von dem cholerischen Temperament. An einen ganzen Zusammenhang der Thätigkeit ist bei einem Extrem auch nicht zu denken. Die Kraft erscheint in den meisten Fäl27 hervor] vorher

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len sehr bedeutend, weil die Rezeptivität erst immer nur als Veranlassung zur Spontaneität hervortritt; aber es ist immer nur einzelne Bewegung und kein anderer Zusammenhang darin als die Identität der Persönlichkeit und es wird so gehandelt wie [sich] die Totalität des Moments auch auf die Persönlichkeit bezieht. Die ganze Reihe erscheint daher immer als Resultat der momentanen Eindrücke und alle diese bestehen nur in der Einheit des Subjekts. In dem sich beziehen auf die Persönlichkeit liegt das, daß man glaubt, der Zorn sei das Herrschende, weil die einzelne Persönlichkeit nothwendig sich immer im defensiven Zustand befindet. Sie soll im Zusammenhange mit einem größern Ganzen diesem untergeordnet sein. So sehen wir, wenn wir diese Bestimmtheit in ihrem Extrem betrachten eine wesentliche Beschränkung. Denken wir nun aber die psychische Thätigkeit in dieselbe Mannigfaltigkeit der Formen zertheilt und sehen auf die Gesammtwirkung, so ergänzt nur das eine das andere und es wird daher im Ganzen für die Gesammtwirksamkeit und die Gesammtkraft des menschlichen Geschlechts dasselbe sein, ob die größere Zahl in der Einseitigkeit der Temperamente steckt oder Gleichgewicht erhält. Aber hier thut sich nun die Differenz auf; der Einzelne in der Einseitigkeit des Temperaments versenkt ist nicht ein so reiner Ausdruck der Totalität. | Hier kommen wir also einer Aufgabe näher, der wir uns jetzt nicht mehr entziehen können, nämlich einen Unterschied zu fixiren von den Einzelwesen in ihrem Verhältniß zu der Totalität. Wir können hier, wo wir es rein mit der Betrachtung der geistigen Thätigkeiten als Natur zu thun haben keine andere Differenz fixiren, als diese, wie sich der Einzelne sowohl quantitativ als qualitativ zur Totalität verhält. Der stellt ein günstigeres Resultat dar, der an und für sich ein Repräsentant der Totalität ist. Aber die quantitative Differenz ist anzunehmen. Es giebt Einzelwesen deren Dasein ein größerer Theil ist von der Gesammtheit als Andere. Ein wie größerer Theil und ein wie vollkommnerer Repräsentant des Ganzen der Einzelne ist um desto vortrefflicher ist er als Einzelwesen. Aber vor dieser Betrachtung müssen wir noch eine andere Bestimmtheit des Einzelnen ebenfalls in Erwägung ziehen, nämlich den Charakter in der Differenz von dem Temperament. Es ist mit solchen Ausdrücken immer etwas sehr bedenkliches; sie haben ihren ersten Ort in der Sprache des gemeinsamen Lebens und kommen aus diesem endlich in die wissenschaftliche Darstellung, sehr häufig ohne daß das Unbestimmte desselben weggenommen sei. Mit dem Ausdruck Temperament ist es auch dasselbe; hier konnten wir aber weniger zu der ganzen Wahrnehmung kommen, weil immer 6 der] des

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zugleich etwas Physiologisches und Pathologisches wovon wir abstrahiren mußten, darunter verstanden wird. Mit dem Ausdruck Charakter verhält es sich gar nicht so, denn insofern wir einem Menschen Charakter zuschreiben, denkt Jeder dabei etwas von der leiblichen Beschaffenheit Unabhängiges und es wird immer ein gewisser Grad der Herrschaft der geistigen Funktionen über das Leibliche dabei vorausgesetzt. Aber die Gebrauchsweise des Ausdrucks ist sehr verschieden. Einige wollen den Ausdruck nur gebrauchen als einen einfachen Ausdruck, so daß sie nur den Gegensatz annehmen, Charakter haben oder Nicht Charakter haben, eine Mannigfaltigkeit in dem Charakter gar nicht annehmen. Andere lassen zwar diesen Gegensatz auch gelten, aber nur als den schärferen Ausdruck des Mehr und Minder, so daß sie meinen, es könne kein Mensch sein ohne davon etwas an sich zu haben. Dagegen treten nun diese Differenzen heraus und sagen es giebt einen solchen und solchen Charakter, also wieder etwas, was unter der Potenz der Persönlichkeit steht. Offenbar gehen beide von einem verschiedenen Gesichtspunkt aus, verstehen aber dasselbe. Wir müssen nun entweder diese verschiedenen Gesichtspunkte aufsuchen oder fragen, wenn wir diese nicht kennten, würden wir glauben können, daß wir so weit in unserer Entwickelung gediehen sind, um aus dem Bisherigen die vorher gestellten | Aufgaben zu lösen. Wir thun das letztere, wobei es freilich ungewiß ist, wenn wir nun aber finden was uns fehlt, ob es das sein wird, was durch jenen Ausdruck bezeichnet wird, aber wenn wir Alles beisammen haben werden wir ganz gleichgültig zur kritischen Betrachtung des durch diesen Ausdruck bezeichneten übergehen. Wir haben die Verschiedenheiten des Geschlechts und Temperaments beider reduzirt auf das Verhältniß der beiden Hauptthätigkeiten in Beziehung auf die Entwickelungsweise des Lebens in der Zeit, dabei aber auf das Verhältniß zwischen dem persönlichen und dem Gattungsbewußtsein in seinen verschiedenen Abstufungen keine Rücksicht genommen. Wenn wir nun sagen es giebt aber eine quantitative Differenz des Einzelnen in Beziehung auf die Gesammtheit, so wird wenn wir uns denken wollten, einen Einzelnen, dessen Dasein ein größerer Theil von der Bewegung und Entwikkelung des Ganzen ist ohne daß das Gattungsbewußtsein bei ihm das wesentlich Bestimmende gewesen ist, dieser Werth ein zwar großer, aber bewußtloser sein. Aber selbst wenn er so instinktartig ist, so ist darin doch eine Richtung über die Persönlichkeit hinaus und eine die Persönlichkeit nothwendig unterordnende Thätigkeit mit gesetzt. Wir werden das daher auf das Verhältniß des Gattungsbewußtseins zum 8 nur] so SW III/6, S. 321; Ms.: nicht Andrer hier

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persönlichen reduziren. Wie läßt sich das in einer solchen Mannigfaltigkeit denken, daß daraus eine solche Werthdifferenz entsteht? Denken wir uns den Einzelnen auch nur in Beziehung auf die beschränkte Gesammtheit der er zunächst angehört und ihn immer durch das persönliche Bewußtsein, schreiben wir ihm einen Mangel an Freiheit oder Willenskraft zu. Indessen, wenn wir hier den Sprachgebrauch nehmen, wie er uns gegeben ist, ist dies nicht ausschließlich gemeint, wenn wir Jemanden für einen Freiern ansehn als einen andern, allein auch ganz abgesehn von dem Gattungsbewußtsein, wenn nun der Einzelne sich selbst als eine Einheit in der ganzen Entwickelung seiner Thätigkeit festhält und nicht von dem Moment bald zu dieser bald zu der Entgegengesetzten hingezogen wird schreiben wir ihm doch eine Willenskraft zu. Je mehr die verschiedenen Momente des Lebens in ein solches Verhältniß treten, daß der frühere in dem spätern verneint werden muß, um desto weniger sprechen wir dem Einzelnen Willenskraft und Freiheit zu, weil er in dem spätern nicht will, was er früher war. Je mehr dieser Raum vorkommt, um desto weniger Freiheit und Willenskraft schreiben wir ihm zu. In dem gegenwärtigen Moment soll der künftige auch schon so gegenwärtig sein, wie in diesem künftigen der ver|gangene. In diesem Zusammenwerden des Zukünftigen und Gegenwärtigen finden wir schon die Unabhängigkeit von dem Moment und den ersten Grad der Freiheit. Hier ist also doch immer nur die Beziehung auf die persönliche Einheit, die aber festgehalten wird und das Übergewicht hat über das bloß Momentane. Dabei wird die Totalrichtung des Einzelwesens allerdings entgegengesetzt sein der Richtung der Gesammtheit. Aber allerdings werden wir sagen, daß der Einzelne eine größere Beziehung auf die Totalität hat, wenn es nicht die persönliche Einzelheit ist, welche so über den Moment dominirt, wenn sich die Freiheit des Bewußtseins zeigt, sondern wenn in die Persönlichkeit auch das Verhältniß zur Gesammtheit aufgenommen ist. Dies ist offenbar eine größere und denken wir uns auf diese Weise fort, [und stellen uns einen Einzelnen vor,] welcher auch das Verhältniß des Moments in der Entwickelung der Gesammtheit zu der Totalität der Gesammtheit in der Entwickelung betrachtet[,] die ganze Einheit gegenwärtig habe[,] und in diesem Bewußtsein der Gesammtheit soll ebenso mitgesetzt sein [das] Bewußtsein des Verhältnisses desselben zu der Totalität des menschlichen Geschlechts und zur Totalität der Entwickelung, so ist dies das vollkommenste was wir uns in einem Moment denken können, weil die Gesammtheit der Intelligenz das Gegenwärtige und Bestimmende ist. Wir haben also eine große Abstufung. Je mehr neben dem unmittelbar gegebenen Einzelnen auf diese 2 entsteht?] entsteht.

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Weise mitgesetzt ist und [man] dieses untergeordnete wieder selbst mitgesetzt hat, um desto größer ist die Freiheit; die individuelle Kraft. Aber dies gilt ebenso von der Rezeptivität als der Spontaneität. Eine andere Frage ist, ob diese Abstufung überhaupt oder in gewissen Gränzen aufgefaßt oder auf ein bestimmtes Gebiet bezogen, das ist, was man Charakter nennt. Wenn wir auf das über das Temperament Gesagte zurückgehn, müssen wir zugeben, daß in einem jeden solch eine Hinneigung sei zu dem Extrem und jedes also eines Correktivs bedarf. Wenn sich dies findet in der entgegengesetzten Bestimmtheit der untergeordneten Funktion hat es dasselbe in sich selbst. Es ist aber offenbar, wenn wir auf den Gegensatz zurückgehen zwischen dem Persönlichkeitsbewußtsein und Gattungsbewußtsein daß das Correktiv auch sein kann in dem Verhältniß des letztern zu dem erstern und insofern dies ein konstantes ist, scheint es das zu sein, welches die vor Augen hatten, welche meinten, der Charakter sei eine einfache Position zu dem es nur eine Negation gebe. Wenn wir annehmen, daß ein jeder durch sein Temperament bestimmt wird, wird man das als Charakterlosigkeit bezeichnen, weil alles konstante darin liegt, was durch die Natur in einem Zusammenhang mit dem Physiologischen gegeben ist, wobei sich die Gewalt der Intelligenz als Null zeigt. So wie man aber das eine auffaßt unter der Form einer Macht in der Natur, welche bei der in dem | Individuum gegebenen Natur anfangen muß sich zu manifestiren, so liegt darin immer ein Correktiv in der Einseitigkeit des Temperaments. Das Gattungsbewußtsein ist doch auch nur ein klar durchgebildetes insofern die Totalität der Individuen in dem Begriff der Gattung mitgesetzt ist, zu gleicher Zeit, weil hier eine unmittelbare Beziehung der unendlichen Vielheit auf die Einheit wäre, wäre es ein verworrenes, wo nicht zugleich eine Richtung gegeben ist auf eine Vielheit. Es wird das Gattungsbewußtsein sich ausprägen in dem Bewußtsein der bestimmten Gesammtheit zu welcher der Einzelne gehört. Aber diese in ihrer Zusammengehörigkeit mit allen andern gedacht. Das setzt jedoch schon einen höhern Grad von Entwickelung voraus, aber ist selbst wieder einer großen Mannigfaltigkeit in der Entwickelung fähig, so daß es sich denken läßt in einer Annäherung an das Instinktartige. Es wird dann allerdings die Beziehung auf die unmittelbare Gesammtheit ins Bewußtsein kommen. – Wir haben auch, indem wir die Temperamentsverschiedenheiten behandelten, diese ebenfalls auf die natürlichen Gesammtheiten bezogen und gesagt, hier wäre dasselbe wie in den Einzelnen nur in größerm Maaßstabe und die Temperamentsdifferenzen der Einzelnen könnten nur recht verstanden werden durch das Verhältniß mit den volksthümli28–29 zugleich … auf] )zugleich … auf*

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chen Temperaments Differenzen. Machen wir nun die Foderung, haben wir nun auch der Gesammtheit ein solches Correktiv zugeschrieben, so daß, will man die Einzelnen so unterscheiden und es als verschiedene Grade der Vollkommenheit erscheint, wir dies auch von dem Volke sagen und damit auch einen Gegensatz aufstellen zwischen Völkern welche einen Charakter haben und nicht? Die Frage müssen wir bejahen, wenn wir nicht alles Gesetzte wieder umstoßen. Wir werden aber auf dasselbe zurückgeführt und einem Volk Charakter beilegen, wenn es ein Correktiv für die Einseitigkeit seines Temperaments hat, das nicht wieder im Temperament [selbst] liegt, sondern in einem reinen Impuls. Dies können wir immer nur bezeichnen durch eine leitende Idee die wir einer Gesammtheit einwohnend denken. Es wird nicht leicht [Jemand] diesen Gegenstand ins Auge fassen, ohne sich zugleich zu der andern Ansicht zu wenden, daß man auch gerade eine Mannigfaltigkeit in dem Charakter sich annehmen muß. Man kann allerdings einen Unterschied machen zwischen Völkern die Charakter haben und solchen die keinen haben, wiewohl man die Letzten nur als das Zusammengefaßtsein des Mehr und Minder unter einem relativen Gegensatz ansehen kann. Dann scheint offenbar, daß wir überall nach der Bestimmtheit des Nationalcharakters fragen und dem einen Volke einen andern zuschreiben als dem andern. Halten wir die Abstufung fest von dem Gattungsbewußtsein herab bis zur persönlichen Einzelheit, finden wir auch einen Wechsel zwischen einem natürlich Gegebenen und einer Manifestation der Freiheit, indem das, was aus dem einen Gesichtspunkt als das eine erscheint, aus dem andern das andere wird. | Denken wir uns die Intelligenz in der Verbindung mit der menschlichen Organisation für diese Erde als Eins, aber in dieser Verbindung liegen schon die Differenzen prädeterminirt, die sich in den verschiedenen großen Massen manifestiren. Wenn wir das Eigenthümliche einer solchen großen Masse betrachen in seiner Wirksamkeit in dem Einzelnen, so erscheint es uns, weil es der Ausdruck ist von der Differenz, was in dem Einzelnen als solchem gegeben ist zu dem was in der Masse als solcher gegeben ist als Freiheit des Einzelnen. Der eigenthümliche Charakter der Masse der doch der Ausdruck ist von der Beziehung auf jene absolute Freiheit des Geistes der menschlichen Organisation, ist auch wieder die Freiheit der Masse. Wenn wir nun die Temperamentsverschiedenheit als eine natürlich gegebene betrachten, nach dem unmittelbaren Zusammenhange der leiblichen Funktionen mit den geistigen so meinen wir mit dem Charakter das, was wir auf die Seite der Freiheit stellen und in einem relativen Gegensatz gegen 6 nicht?] nicht.

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das natürlich Gegebene betrachten. So wie wir aber bei jener auf diesem Gebiete absoluten Einheit stehen bleiben verschwindet uns da der Unterschied ganz und das zwischen dem natürlich Gegebenen und einem Andern, was wir als Freiheit setzen, so daß wir dasselbe aber unter dem einen oder andern Gesichtspunkt betrachten. Die Freiheit ist die Natur des Geistes in seiner Vereinzelung betrachtet, indem jeder in der Vereinzelung sich in Beziehung setzt mit dem Höhern. Überall wo wir das Losreißen von der natürlichen Bestimmtheit finden, welches statt findet insofern als innerhalb dieses natürlich Gegebenen ein Spielraum ist, durch die Wirksamkeit eines Impulses der die Beziehung auf ein Größeres ausdrückt werden wir den Charakter setzen. Wir sind bloß von dem Gesichtspunkt des Correktivs gegen die Temperamentsverschiedenheit ausgegangen, welches in dem Geistigen selbst liegt. Wenn wir nun fragen, worin sich der Charakter wesentlich manifestirt, so liegt er wieder nur in der Beziehung dessen, was wir als Einzelwesen ansehn auf die Gesammtheit, welcher es angehört. Wenn wir nun diese Formel auf eine reale Weise ausfüllen wollen, müssen wir sagen: Eine jede solche Gesammtheit hat eine bestimmte Aufgabe des Geistes überhaupt, welche ihre eigenthümliche Existenz bezeichnet, die bestimmt ist nach der räumlichen und zeitlichen Gesammtheit und der Modifikabilität der geistigen Funktionen in der menschlichen Natur überhaupt. Betrachten wir dies nun in Beziehung auf die Totalität des menschlichen Geschlechts ist es die Aufgabe des nationalen Daseins. Betrachten wir die Einzelnen in einer solchen Gesammtheit, so hat er in dem Maaße Charakter als er sich seines Antheils an dieser Gesammtaufgabe bewußt ist, und in diesem Bewußtsein die leitende Idee ist. Denken wir uns nun einmal das einzelne Leben in einem entwickelten Volke, wo die Lebensverhältnisse sehr komplizirt sind, ist es möglich | daß die Lage eines Einzelnen begünstigend und erleichternd ist, daß er sich seinen ihm geliehenen Antheil an der Gesammtaufgabe aneigne, daß er aber auch mancherlei Schwierigkeiten zu überwinden hat. Je mehr letzteres der Fall ist, um desto mehr manifestirt sich in ihm der Charakter. Je mehr das erstere der Fall ist, nicht um desto weniger Charakter hat er, aber um desto weniger hat er Gelegenheit ihn zu manifestiren, und man wird ihn nur finden in denjenigen Einzelheiten, wo sich die Schwierigkeiten zeigen. Je konstanter Jemand diese Aufgabe verfolgt, um desto mehr müssen wir ihm Charakter beilegen. Nun wird es leicht sein auch da, wo keine ungünstigen Verhältnisse dominiren doch zu finden an der Art, wie der Einzelne sich in der Temperamentsverschiedenheit [verhält], daß es ihm an Charakter fehlt, so sich alle seine Momente aus jener allein erklären lassen. Allerdings das Urtheil ist immer sehr dem Irrthum unterworfen und es ist leichter es richtig zu fällen, wo der Streit zwi-

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schen der leitenden Idee und den äußern Verhältnissen ins Auge fällt. Den Ausdruck leitende Idee nehmen wir im weitesten Sinne. Sie hängt zusammen mit der unmittelbaren Form des Selbstbewußtseins. Wenn wir aber weitergehen und darauf sehn, was wir schon entwickelt haben, daß es in der Mannigfaltigkeit der Funktionen auch wieder bestimmte Verhältnisse giebt, wenn wir auf die Totalität des Gegensatzes sehen und also die Tendenz haben, auch wieder einer persönlichen Bestimmtheit, z. B. ist das mit in Anschlag zu bringen indem Einer sich sein Verhältniß zu der Gesammtaufgabe stellt. Das kann erst geschehen auf einer gewisssen Entwickelungsstufe, wo die Beweglichkeit in den einzelnen Funktionen des leiblichen und psychischen Organismus [nicht] mehr so groß ist, daß ein Wechsel statt finden kann. Es tritt eine Mannigfaltigkeit ein, die eine andere ist als das Verhältniß zwischen der Temperamentsverschiedenheit und der Beziehung des Einzelnen auf die Gesammtheit und dies scheint der Gesichtspunkt derer zu sein, die eine Mannigfaltigkeit des Charakters annehmen, denn wenn wir dies zusammenfassen, die gewordenen Neigungen und die Temperamentsverschiedenheit, so ist in beiden eine unendliche Mannigfaltigkeit gesetzt. Der Charakter manifestirt sich in diesen. Jeder muß sich so, wie er sich gerade findet in diesem Zeitpunkt der Entwickelung zugleich mit dem Entlassensein aus dem Zustand des überwiegenden Bestimmtseins durch Andere, sein Verhältniß zur Gesammtheit bestimmen und aus dieser Eigenthümlichkeit sich seinen Antheil an der Gesammtaufgabe bestimmen. Auf diese Weise werden wir beide Gesichtspunkte vereinigen können denn es bleibt immer die Hauptdifferenz ob sich eine solche leitende Idee in dem einzelnen entwickelt oder nicht; daher hat er Charakter oder nicht. Wie in der Manifestation des Charakters findet sich hernach die Mannigfaltigkeit. Jeder Einzelne, je mehr er Charakter hat, um desto mehr hat er auch seinen | eignen. Dadurch drücken wir auch zugleich die Festigkeit des Bandes [aus] zwischen der leitenden Idee und Allem, was zu der einzelnen Bestimmtheit des Menschen gehört, die für ihn auf diesem Punkt eine schon gewordene ist und in diesem Festhalten und richtigen Gebrauch des schon Gewordenen um sich seinen Antheil an der Gesammtaufgabe zu bestimmen und ihn auszufüllen, zeigt sich der individuelle Charakter. Das Charakterhaben ist eine höhere Stufe des Daseins, bewährt sich aber nur in der Individualität des Charakters. Denken wir uns dies verringert, müssen wir immer in der leitenden Idee ein Schwanken annehmen; es ist nur ein Abstrahiren von dem nothwendig sich entwickelnden Individuellen, was den Charakter als ein einfaches darstellt. Das ist nun ganz dasselbe für den Einzelnen und für jede wirklich natürliche Gesammtheit. Nur daß es allerdings uns leichter werden mußte den Zusammenhang was hier Stufe

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ist und das Individuelle zu finden, indem wir zuerst auf das Große sehen. Sofern in der Differenz insofern sie Stufe ist, Wahrheit ist, so ist auch in derselben eine große Mannigfaltigkeit. Wenn man die Mannigfaltigkeit des persönlichen Charakters klassifiziren will, die Klassifikation kann nur etwas Leitendes sein, um das Individuum in seinen bestimmten Gränzen aufzufassen. Das eigentlich Individuelle darzustellen ist nun nicht mehr unsere Sache. Das Resultat der Betrachtung des Individuellen hat nur den Bestimmungsgrund in dem Betrachtenden selbst, daher nichts mehr ein Gegenstand der Differenz der Urtheile ist als eben dies. Betrachten wir auf der einen Seite das Gebiet der Geschichte, auf der andern des täglichen Lebens, sehen wir wie verschieden sich überall die Auffassung des Individuellen gestaltet. Sowohl man in der Gegenwart mehr den Einfluß als den innern Zusammenhang jeweils betrachtet, erkennt man, so wie sich die Betrachtung nach dem Innern wendet ist die Differenz wieder das Innere der Betrachtenden selbst und es giebt hier gar kein regulatives Prinzip. Es könnte sich daher hier nur handeln um [eine] allgemeine Klassifikation. Allerdings diese ist auch etwas unthunliches; denn Menschen, bei denen wieder eine bestimmte Lebensweise, Entwickelungsprinzipien zu Grunde liegen, wäre der Werth nicht wie wir ihn hier suchen müssen. Wir wenden uns nämlich hier zu dem letzten, den Abstufungen [des Werthes]. Wir haben hier in dem was uns die letzte Betrachtung ergeben hat 2 Ausgangspunkte. Wenn wir einem Einzelnen überhaupt Charakter zuschreiben bestimmen wir dadurch, wenn auch nur relativ ein größeres Maaß von Antheil des innern Prinzips an allen Veränderungen, Bewegungen und Äußerungen, wogegen wenn wir einen Einzelnen als charakterlos darstellen, wir ihm das in einem gewissen Grade absprechen. Wenn wir nun fragen nach dem Grunde aller Veränderungen in ihm und nach den Ursachen, warum sich dies gerade in ihm ergiebt, | werden wir den Grund in dem finden, was wir im Vergleich mit jenem das Äußere nennen müssen. Denken wir ihn in der Gewalt des Temperaments so ist dies ein innerer Grund, aber im Vergleich mit jenem ein äußerer, weil er in dem Gebiet liegt, wo ein Einfluß des Leiblichen auf das Geistige ein unverkennbarer ist. Es ist aber hier noch etwas Anderes zu betrachten. Nämlich zu diesen äußern Einflüssen gehört eine große Masse von psychischen Einflüssen, die aus dem gemeinsamen Leben kommen. Wie stehen die beiden, die wir so gegenüberstellen, in dieser Beziehung? Wenn wir sagen wollten, der einzelne Charakterhabende steht über allen Einflüssen die aus dem Gesammtleben kommen, so würden wir damit etwas 12–13 gestaltet] so SW III/6, S. 330; Ms.: betrachtet dem] indem

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ganz Anderes sagen, als wir mit dem Ausdruck Charakter bezeichnen. Derjenige ist immer noch ein größeres Quantum in dem Ganzen, welcher den durch das gemeinsame Leben gegebenen Impulsen folgt, als der, welcher sich von ihnen losmacht. Wir werden also zunächst nur den Unterschied so fassen, bei dem einen ist das Verhältniß zu dem Gesammtleben, mit in die bestimmende Einheit aufgenommen, bei dem andern kommen diese Einflüsse nur an ihn durch das Medium seines Temperaments und seiner Stimmung und also eigentlich nicht insofern sie reine Einflüsse des Gesammtlebens sind, sondern insofern sie sich in jenem schon brechen und also unter dem Miteinfluß des Einzelnen. Hier zeigt sich eine große Differenz in Beziehung auf die Art wie gemeinsame Bewegungen zu Stande kommen. Denken wir uns eine ganz charakterlose Gesammtheit und diese ist eine solche, wo das Nationaltemperament dominirt und es wenig individuelle Entwikkelung auch schon von dem physiologischen Prinzip aus giebt, wird es gemeinsame Bewegungen geben, so bald ein gemeinsamer Impuls da ist. Denken wir uns eine eben solche Masse, wo die individuellen Temperamentsdifferenzen mehr hervortreten ohne daß der Charakter das Ausgleichende wäre, würde das eine Zerfallenheit in Beziehung auf das gemeinsame Leben zur Folge haben, und dies ist dann der Zustand in welchem sich in der Masse die Selbstliebe geltend macht und die Kraft des gemeinsamen Daseins als Null erscheint. Wenn wir also nun zum Einzelnen zurückkehren, da wo wir dem Einzelnen Charakter beilegen, finden wir in diesem schon ein bestimmtes Verhältniß zwischen dem Einzelnen und dem gemeinsamen Leben. Wo das nicht ist, ist die Möglichkeit eines solchen Zerfallens des Gemeinsamen gleich mitgesetzt, aber auch nur die Möglichkeit, denn es kommt auch auf die Beschaffenheit der äußern Impulse an. Ohne daß die eigentliche Dignität der Lebenskraft verschieden wäre, kann eine große Verschiedenheit stattfinden in Beziehung auf die gesammte Entwickelung. Aber in dieser Differenz haben wir nicht das ganze. | Wenden wir uns zuerst nach Oben, werden wir sagen müssen, konstante Einflüsse auf das gemeinsame Leben werden immer nur von denjenigen ausgehen können, welche Charakter haben, alle andern Einflüsse Anderer werden immer nur scheinbar ihnen zugeschieben werden können. Aber hiemit ist auch noch eine große Differenz in dem Einzelnen selbst zulässig, die wir nur recht ins Auge fassen können, wenn wir wieder auf das Gesammtleben hin sehen. Wir halten hier wieder den nämlichen Unterschied fest. Wir finden Völker welche einen sehr geringen Entwickelungsexponenten haben. In diesen kann also auch der Antheil des Einzelnen an den Gesammtbewegungen wie19 wäre] würde

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der nur ein geringer sein und denken wir uns solche Masse, wo die individuellen Differenzen gering sind, ist auch die Differenz zwischen dem Einfluß den der Einzelne auf das Ganze ausübt und den das Ganze auf den Einzelnen ausübt gering. Je mehr der Einzelne ein rein aliquoter Theil des Ganzen ist, ohne Eigenthümlichkeit desto weniger sind beide zu unterscheiden. Eine solche Gleichheit aber ist immer zugleich eine geringste Entwickelung. Wenn wir uns nun denken sollen von einem solchen Zustand aus eine größere Entwickelung entstehen, müssen wir annehmen, diese größere Entwickelung muß durch äußere Impulse hervorgebracht werden oder sie muß entstehen durch eine Entwickelung von Ungleichheit in der Masse selbst. Das erste läßt sich auch denken, aber nur wenn sehr bedeutende Veränderungen in dem Gesammtzustand eintreten. Die Einflüsse müssen mitgetheilt werden von Andern, die eine größere Entwickelung haben und diese nun selbst ihnen so mittheilen oder sie müssen von ihrem Boden gelöst werden. Wir finden auch Beides mit einander verbunden und wenn wir fragen nach dem Grund der Entwickelung unserer modernen Welt werden wir beides zusammen finden. Aber es ist auch unvermeidlich, daß dann zugleich sich ein Prinzip der Ungleichheit entwickelt in der Masse mit der solche Veränderungen vorgegangen sind und dies kann auch auf unmittelbare Weise geschehen, nur daß es wunderbarer erscheint. Hier kommen wir auf einen Punkt, wo wir uns das maximum des Einzelnen denken können, nämlich so daß der größere Entwickelungsexponent und also der ganze Typus des Lebens sich in einem Einzelnen entwickelt und dieser eben deßwegen einen dominirenden Einfluß auf die Masse ausübt. Wir werden noch dahin kommen, daß wir solche Fakten nothwendig annehmen wenn gleich die Beweise dazu an der Gränze der geschichtlichen Überlieferung stehen, weil sich sonst das Geschehen nicht erklären läßt. Wir haben hiebei vorzüglich die Entwickelung des bürgerlichen Zustands im Sinn, wir können ihn denken als ein rein allmählig Werdendes. | Es sind dann die Annäherungen an den bürgerlichen Zustand und der bürgerliche Zustand selbst schon da, aber es fehlt die äußere Form, die nichts ist als das Aussprechen und dies kann durch einen sehr geringen Anstoß zu Stande kommen. Dann haben wir aber gar keine Ursache von der Entwickelung des bürgerlichen Zustands an, ohne daß etwas Anderes hinzukomme, ein Prinzip von Ungleichheit vorauszusetzen. So wie wir aber als geschichtliche Erfahrung nicht leugnen können, daß in vielen solchen isolirten Massen der bürgerliche Zustand sich unter der Form der Ungleichheit entwickelt hat, so hat der Typus eine solche bewußte Zusammengehörigkeit und also 38 vorauszusetzen] so SW III/6, S. 334; Ms.: sich entw

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ein bestimmtes Zusammenwirken der Kräfte in einem Einzelnen entwickelt und dieser hat dadurch einen bildenden Einfluß auf die ganze Masse genommen. Wie sollen wir uns die Entstehung eines solchen Einzelnen aus dieser Masse heraus denken? Wir kommen hier an die Gränze des Geheimnißvollen, wo wir unmittelbar zurückgeführt werden auf den Geist schlechthin als das Prinzip der Entstehung des Einzelnen schlechthin. Liegen einmal in der Natur der Geistes alle diese Differenzen des Einzelnen können sie auch zum Vorschein kommen, irgend wo zuerst. Jeder Einzelne der sich in gewissem Sinne ursprünglich von Andern unterscheidet, ist nicht abzuleiten aus der Masse (nicht!). Hier sind wir nun an der Gränze schlechthin, wenn wir von dem Einzelnen als solchen reden, der ist der Größte, der eine neue Lebensform, in das Gesammtleben bringt in das er tritt, in dem sich ein größeres Maaß von Geist zusammendrängt, als in dem Einzelnen ist. Daher ist es auch natürlich, daß solche Einzelnen überall in einem gewissen Sinne als übermenschlich angesehen werden. Alle Vorstellungen eines höhern als menschlichen Wesens, die wir nur daraus ableiten können, daß die geistigen Erscheinungen das innewohnende Bewußtsein von dem Geist nicht erschöpfen, treten in Wirkung und wenn man von solchen Einzelnen sagt, sie wären übermenschlichen Ursprungs, so wird dadurch bezeichnet, daß sie nicht aus der Gesammtexistenz, in welcher sie entstehn, als ein in sich Abgeschlossenes zu erklären sind und daß sie nur aus einem reinen Zufluß des allgemeinen Lebensquells können begriffen werden. Wir kommen also hier auf den Begriff des Heroischen im engern Sinne dieses Wortes, das eigentliche Fundament solcher Darstellung; das worin sie ihre Wahrheit haben und woraus sie dadurch auch wieder sich bewahrheiten, sind diese bildenden Einflüsse Andrer, aus welchen ein anderer Gesammtzustand entsteht und nahmentlich sind es die Staatenbildner, denen dieser heroische Charakter beigelegt wird. Einen solchen Einfluß auf die Masse auszuüben ist das Größte, was man sich denken kann. Ja wenn wir die Folgen davon fassen, wird es uns sich noch | viel größer darstellen. Denn denken wir uns so einen Einzelnen als den Urheber eines neuen Lebenstypus und daß die Gesammtheit erst durch ihn zum Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit komme und dies unterscheide bestimmt den bürgerlichen Zustand von dem frühern so bekommt nun auch erst die Masse einen gemeinsamen Charakter. Das gemeinsame Leben wird nun erst ein bewußtes stetiges. Die nationale Eigenthümlichkeit wird das Abbild seiner persönlichen 10–11 Zusatz SW III/6, S. 334: „sondern sie wird dadurch eine neue, was wir nur aus der das ursprüngliche Sein bildenden Kraft des Geistes im allgemeinen erklären können,“

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Eigenthümlichkeit und er drückt ihr das Gepräge seiner persönlichen Eigenthümlichkeit auf; denn in dieser ist offenbar der Impuls des Gesammtlebens, aus diesem ist das Ganze geworden. Wir müssen nun allerdings uns diesen Einfluß auch nicht zu groß denken, er ist, nicht nur selten, sondern nie ein solcher der sich gleichmäßig über alle Funktionen erstreckt. Der bürgerliche Zustand hat nur das Verhältniß zur Natur zum Gegenstand, um durch Zusammenwirken der Kräfte zur Gesammtherrschaft über die Natur selbst zu verhelfen. Und dies ist das nächste Gebiet dieses dominirenden Einflusses Einzelner unter dem Ausdruck der Heroen. Wenn wir dies aus einem andern Gesichtspunkt betrachten, so wird eine solche Wirkung wie diese ganz auf den Typus des Künstlerischen zurückkommen. Es ist dabei mehr oder weniger bestimmt ein Urbild in demjenigen von dem die Wirkung ausgeht und der Theil des menschlichen Geschlechts, mit dem er zusammengehörig ist, ist das worin er das Urbild ausführt. Es ist ein Kunstwerk, wo sich die Masse nur in der Form der lebendigen Empfänglichkeit verhält, aber das Verhältniß zwischen dem, in dem das Urbild ist und der Masse selbst in der Abstufung des geistigen Werthes könnte dasselbe sein. Wenn wir nun in der Geschichte erste Annäherungen der Versuche finden, welche nicht zu Stande kommen, ehe ein solches Bilden von selbst kommt, müssen wir das nach der Analogie auch an den geschichtlichen Gränzen voraussetzen und das Verhältniß solcher Naturen erscheint daher stärker als man gewöhnlich glaubt, wenn man alle die in der Approximation derselben waren mit hinzunimmt. Wir haben besonders auf die Rücksicht genommen, durch welche durch einen solchen Prozeß die bürgerliche Gemeinschaft zu Stande gekommen ist. Es giebt aber auch eine andere, die theils verbunden ist aber auch getrennt, die Bildung der Religionsgemeinschaften, die es gar nicht zu thun hat mit der Naturbeherrschung, mit der Wirksamkeit nach Außen, sondern nur mit der Steigerung des Selbstbewußtseins, aber allerdings nur in der lebendigen Beziehung auf das objektive Bewußtsein auf der einen und der Willensbestimmung auf der andern Seite. Hier finden wir dasselbe und [können] auch zurückgehen an die Gränze des Geschichtlichen. Bisweilen ist das Religionstiften mehr in Verbindung mit dem Politischen, bisweilen mit der Spekulation, bisweilen tritt es aber ganz einzeln hervor. Hier findet sich dasselbe, aber nur noch bestimmter, das Zurückgehen auf einen Einzelnen, welcher für die Masse begeisternd ist und sein eigenes gesteigertes Selbstbewußtsein durch Erregung auf sie überträgt. Wir haben hier, weil das Resultat ein Inneres ist, keinen Grund, das Verhältniß als ein | anderes zu stellen; es ist eben das Heroische. – Dies giebt den Übergang zu einem 3ten Punkt. Wenn wir schon hier einen Zusammenhang mit dem Politischen und Spekulativen finden und

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wenn außerdem das Ganze in beiden verschiedenen Hauptformen doch immer als Kunstwerk erscheint, wenn wir uns die Religionskraft nicht als die Mittheilung der innern Neigung des Selbstbewußtseins in dem Einzelnen, sondern ebenfalls der Organisation der Gemeinschaft [denken], so ist hier derselbe Typus. Dies zusammen führt uns darauf, das was dort untergeordnete Funktion war, unmittelbar in Eins zu schauen und die Entwickelung der Denkkraft in ihrem eigenthümlichen Charakter und ebenso dann auch von der Erregtheit des Selbstbewußtseins ausgehend [die] Kunst wieder auf die gleiche Weise fortschreitet, daß wir auch da finden, solche Formen des Denkens und solche Urbilder der künstlerischen Produktion, welche national werden, ebenfalls ursprünglich von Einzelnen ausgegangen sind. Hier ist freilich der Charakter der Wirkung ein anderer, die Differenz aber dieselbe. Wir finden hier nicht mehr auf dieselbe Art in der allgemeinen Auffassungsweise das Zurückführen auf ein Übernatürliches. Wenn wir uns auf dem Gebiet des Erkennens und der Kunst Thätigkeiten die ursprünglich sind auf einen Einzelnen zurückführen und doch aus dem Gesammtleben nicht erklären können, müssen wir sie doch aus der ursprünglichen Beschaffenheit der Seele und also aus dem Urquell des geistigen Wesens erklären. Weil wir es aber nicht mehr auf dieselbe Weise mit dem Verhältniß des Menschen zur Außenwelt zu thun haben, sondern es mehr ein in sich Abgeschlossenes ist, finden wir hier eine andere Bezeichnung als das eigentlich Charakteristische, dem Heroischen gegenüber[,] das Geniale. Die Beziehung ist hier von einem ebenso in das Unbestimmte zurückgehenden Ursprung, darunter gedacht wird eine auf eine große Masse wirkende und sie sich assimilirende größere Kraft des Einzelnen. Wenn wir nun auf der einen Seite gesehen haben, wie in dem Umkreise des Heroischen es Annäherungen giebt und dadurch also das Verhältniß sich zu steigern schien, so, ist das bürgerliche Leben einmal zu einer gewissen konstanten Entwickelung gelangt und in einem gewissen Grade in die Masse eingedrungen, so läßt sich ein Wiedererscheinen dieses Verhältnisses nicht denken ohne vorherige Zerstörung und was sich als ursprünglich produktiv zeigt erscheint in der Folge nur an solchen Punkten, eine aus der Gesammtheit zu begreifende Zerstörung, wo solche Entwickelungen an ihr natürliches Ende gelangt sind. Die geistigen Funktionen, diejenigen mit eingeschlossen, durch welche das herrschende Verhältniß des Menschen über die Außenwelt bestimmt wird, müssen sich ganz anders gestalten in isolirten Massen. | Dieselbe Gestaltung kann nicht fortbestehen, wenn die Organisationen mit einander in Berührung kommen, wenn eine Masse influenzirt wird durch 38 bestimmt wird,] bestimmt, wird

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eine andere mit einem schnellern Entwickelungsexponenten und so sehen wir die Nothwendigkeit eines Hervortretens Einzelner, die umformen, was so nicht weiter fortbestehen kann, die Heroen. Je mehr die Berührung aller Massen allgemein geworden ist, um desto mehr verschwindet auch die Nothwendigkeit der Zerstörung und das Verhältniß hört also auf ein naturgemäßes zu sein. Sehen wir aber auf das Gesagte über die Approximation, so kann das Verhältniß heroischer Naturen zur Masse nicht dasselbe bleiben, wiewohl es nicht mehr hervortreten kann. Dann soll es aber natürlich auch nicht auf dieselbe Weise erscheinen und sich geltend machen können, sondern es sollen nur Personen die Spitze bilden in Beziehung auf dasjenige, was in Allen dasselbe ist. Denken wir uns aber wirklich ein solches Verhältniß vorhanden ohne Veranlassung, sich wie früher geltend zu machen, so kann es sich spalten in seinem Effekt, indem es sich zurückzieht in dem Vorangehn auf der schon geöffneten Bahn und dies ist die Äußerungsweise der überwiegenden Kraft des Einzellebens, welche dem Zustand des Gesammtlebens angemessen ist. Aber wir können uns auch denken übergreifende Erscheinungen welche Zerstörungen verursachen, vielleicht von dem Bewußtsein getrieben, daß noch etwas der Umbildung nöthig ist. Daran sehen wir das Gesetzwidrige in den Äußerungen einzelner psychischer Naturkräfte, also die Ausartung des Verhältnisses. Denken wir uns dasselbe in seiner gesetzmäßigen Entwickelung bleibend, müssen wir sagen, daß auch in der Masse das Verhältniß ein anderes wird, wie wir sie uns denken. Bei den eigentlichen heroischen Entwickelungspunkten wie unter der Form lebendiger Rezeptivität, wird sie in solchen ausgezeichneten Vorbildern nur den Typus erkennen, den sie selbst schon in sich hat und also in einer freien Nachbildung. Eben dies ist die Stufe auf welcher überhaupt die Differenz auf dem Gebiet des Genialen stehen bleibt, weil es hier von dem Gebiete der Wissenschaft und der Kunst nicht auf das Bilden eines gemeinsamen Lebens ankommt, in welchem der Einzelne ein integrirender Bestandtheil ist, sondern dadurch daß sich derselbe Typus des Denkens in dem Einzelnen erzeugt, wird die geniale Natur nur wirksam, indem die Richtung auf die Produktivität schon in dem Einzelnen ist und indem sie dasselbe auffassen, sie davon angesprochen werden, daß sie dieselbe Form der Produktion in sich erkennen. | Auf dieser Stufe müssen wir uns die Masse als immer mehr hervorgehoben denken und die einzelnen heroischen [und genialen] Naturen in einer geringern Differenz von derselben. Stellen wir uns in einem so ruhigen Entwickelungsgang an das Ende, können wir es nun nur denken als eine Approximation der Gleichheit und alle Zustände 26 wird] werden

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in denen die Differenz unter der Form der höchsten Spannung hervortreten sind nur anfängliche Zustände und nur wenn wir uns denken [eine] Zerstörung der Gesammtheiten fordern wir, daß die Ungleichheit erscheint, aber auch hier in einem geringern Maaße, als in jenem geschichtlichen Anfangspunkt. Das menschliche Geschlecht müssen wir uns daher in einer abnehmenden Ungleichheit denken und je mehr diese schon das naturgemäße Ganze bildet, um desto schwerer wird es die frühern Verhältnisse nachzubilden, um desto weniger also wird es natürlich erscheinen in Beziehung auf das Einzelne auf ein solches relativ Übernatürliches [zurückzugehen], und eine solche Nothwendigkeit des Einzelnen zu begreifen aus dem unmittelbar geistigen Leben, dies in die Vorstellung aufzunehmen, weil es in dem wirklichen Leben nicht mehr hervortritt. Nur die, welche mehr zu Spekulation und Lebendigkeit des Selbstbewußtseins geeignet sind, werden sich das längst Vergangene auf eine lebendige Weise nachbilden können. Es liegt in der Natur, daß von der Zeit an, wo die Berührung der vorher isolirt gewesenen Masse vollständig geworden ist und wo sich ein Gleichgewicht in der allgemeinen Cirkulation [ ] muß sein Hervortreten herrschen und [wo] genialere Naturen anfangen sich zu verringern, und auch das Bedürfniß von stark hervortretenden Naturen aufhört und nur in dem geschichtlichen Leben eine Nachbildung der höhern Verhältnisse möglich ist. Je mehr eine Bildung des Gesammtlebens, eine bürgerliche oder religiöse, und eine Organisation der Wissenschaft und Kunst im Ganzen einen geschäftlichen Typus annimmt nur in diesem Maaße kann sich auch nothwendig das lebendige Nachbilden der frühern Verhältnisse [einstellen], aber doch immer so daß die Nothwendigkeit der wiederkehrenden Erscheinung gar nicht ins Leben aufgenommen wird. Wir waren ausgegangen von der Differenz die wir zuletzt aufgefunden hatten zwischen dem Charakterhaben und der Charakterlosigkeit und hatten uns von da nach Oben gewendet und waren so gekommen zu dem Auffassen einer solchen Dignität des Einzellebens, welche bildend auf die ganze Masse einwirkt. Wenn wir nun in der letzten eine allmählige Annäherung gefunden hatten, einen Übergang von der lebendigen Empfänglichkeit zur freien Nachbildung und endlich ein Selbstbewußtsein in denjenigen Einzelnen, welche den Durchschnitt des Lebens darstellen, von der Suffizienz von | solchen besonderen Einzelnen, die sich erheben, so werden wir auch das Bedürfniß fühlen von da wieder herabzusteigen. Wenn wir nun hier bei dem Punkt wieder anfangen, den wir dort als die Charakterlosigkeit bezeichnet haben, ein Bestimmtsein der geistigen Funktionen in ihrer 10 und] auf einstellt

18 Cirkulation] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl

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Entwickelung durch dasjenige vermöge dessen sie mit dem Leiblichen zusammenhängen und in einem Verhältniß gleicher Wechselwirkung damit stehen. Ist nun das Leibliche des Menschen offenbar in der organischen Gestaltung gegründet und müssen wir die ganze organische Welt als eine zusammengehörige Reihe ansehen, von der Alles, was nicht das Menschliche selbst ist, für uns lediglich zur Außenwelt gehört, während wir das Menschliche vermöge des Geistigen in ein anderes Verhältniß zu uns stellen, so ist doch die leibliche Seite, durch welche wir mit der Außenwelt zusammenhängen für jeden Einzelnen[,] ist das Leibliche seines eignen Seins nichts als das ihm zunächst gegebene Außerihm. Daher es immer in unsern geistigen Äußerungen ein solches Schwanken von dem leiblichen Sein giebt, daß wir es bald mit zu dem Ich rechnen bald zu dem Äußern und also die Bestimmtheit des Lebenszusammenhanges durch das Leibliche ist immer schon als eine Abhängigkeit von dem Äußeren zu gestalten. Aber es muß hier auch eine Mannigfaltigkeit von Abstufungen geben, bis wir zu dem minimum der menschlichen Entwickelung kommen. Wenn wir Alles, wiewohl sich dies gar nicht behaupten läßt, uns denken und ebenso alle religiösen Gemeinschaften bestimmt von Einzelnen ausgegangen wären, könnte Alles Opposition gegen den Impuls, wovon sie ausgegangen sind, [sein.] Wir können hier noch eine andere Formel aufstellen nämlich wenn wir uns denken ohne daß ein solcher Einfluß statt gefunden habe, eine Richtung in einer Masse, welche schon a priori diesem Einfluß widerstrebt und also verhindert daß ein Einzelwesen aufstehen kann. Dies ist dasjenige was die Griechen durch den Ausdruck βαρβαρος bezeichnen wollten, indem sie die Gestaltungen außerhalb ihres Vaterlandes nicht als Gestaltungen eines Gemeinsamen ansahen. Sie schrieben andern Völkern eine Unfähigkeit den bürgerlichen Zustand in sich zu entwickeln zu. Hier wird also keine reale Opposition gegen die Richtung eines heroischen Einzelwesens gedacht, aber schon in der Masse, daß ein solches Einzelwe11 Äußerungen] Äußerungen es

25 ein] kein

16–17 Zusatz SW III/6, S. 341–342: „Wenn wir auf die beiden höchsten Punkte zurükkgehen, das heroische und geniale, so können wir fragen, ob nicht noch etwas höheres möglich sei, nämlich die Vereinigung beider auf einer Stufe. Aber die Geschichte bietet nichts dar, was man so ansehen könnte, und es läßt sich auch im voraus einsehen, daß hier | eine Einwirkung der einzelnen auf die große Masse nicht stattfinden könnte. Das Gleichgewicht scheint mehr auf der Seite der Empfänglichkeit zu sein als auf der Seite der Productivität und in der lezteren nur auf der Stufe, die nicht erfinderisch ist, sondern sich an das gegebene hält. Auf der andern Seite können wir von jenem Punkt aus auf das reine Gegentheil sehen und fragen, ob es einzelne Entwikklungen der menschlichen Natur giebt, welche die Opposition bilden zu dem heroischen und genialen. “

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sen nicht in ihr entstehen kann. Die persönliche Opposition gegen ein gebildetes Gemeinwesen kann nur statt finden unter der Voraussetzung, daß ein solches da ist. Dies kann nur statt finden, so lange noch keins da ist, wird aber angesehen als die Fortsetzung des Zustands, der überall einmal gewesen sein muß. Denken wir uns eine solche Masse außerhalb allem Zusammenhang mit den gebildeten Massen, so ist dies eine noch nicht eingetretene Entwickelung. Denken wir sie in Berührung, gewinnt die Sache die Gestalt einer solchen positiven Opposition. | Hier haben wir das Bestreben des Einzelnen sich einer höhern Entwickelung zu entziehen und also eine Richtung das Selbstbewußtsein rein haben zu wollen in dem Gegensatz gegen ein Gesammtbewußtsein, nur daß freilich in dem Ausdruck ein bestimmter Wille gesetzt ist. Dies kann man so streng nicht nehmen, wiewohl Einzelne das mit vollkommnem Bewußtsein in sich tragen. Ja es hat auch Theorien gegeben, welche dasselbe gesagt haben. Denn wenn Jemand das Gesammtleben nur in der Form will, daß er Despot sei und die andern seine Sklaven, will [er] dasselbe und Alle, welche behaupteten, daß der bürgerliche Zustand entstanden sei durch das Recht [des Stärkern], sagen dasselbe. Betrachten wir das Verhältniß in dem Einzelnen für sich allein müssen wir entweder dies begreifen aus einem abnormen Übergewicht eines einzelnen selbstsüchtigen oder sinnlichen Triebes und also die Selbsterhaltung auf einen solchen reduzirt, wo dies Übergewicht nicht bestehen könnte im Zusammenhang mit einem Gesammtleben und das ist die Opposition aus wilder Leidenschaftlichkeit. Wenden wir dies auf die Masse an, so läßt sich um so natürlicher eine solch positive Opposition gegen einen bildenden Einfluß denken, wenn die Masse selbst eine solche Leidenschaftlichkeit auf eine bestimmte Richtung hin hat. Ohne eine solche könnten wir es und nur denken als Unempfänglichkeit für die Entwickelung des Gegensatzes zwischen dem Besondern und Allgemeinen und dies gränzt mehr an die Passivität als an die positive Widersetzlichkeit. Sehen wir auf das Gebiet des Genialen und also auf der einen Seite auf die bildende Entwickelung der erkennenden Thätigkeit und der Kunst, so werden wir hier die positive Opposition unter derselben Form wie dort uns schwerlich denken können, ausgenommen es sei ein solcher bestimmter Alleinbesitz derjenigen Vorstellungen, die wir noch unter den Begriff der Bilder gebracht haben, daß ein Widerwille da sei, diese der eigentlichen Entwickelung in der erkennenden Thätigkeit unter der Form des Gedankens unterzuordnen. Hier haben wir freilich dasselbe, denn das Bild ist immer das Einzelne und es ist also darin immer die 23 reduzirt] reagirt

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Opposition gegen den Gedanken. Es ist nur hier schwer möglich, sich dies anders als Unfähigkeit und also mehr als Passivität, als Mangel von besonderer Empfänglichkeit zu denken, aber nicht als positiven Widerstand. Wenn wir was hier Bezeichnung der Passivität in den Elementen [ist] auf die Combination anwenden, so ist diejenige Combination welche ganz in dem Gebiet der Bilder versenkt bleibt, Aberglaube und hierin ist der positive Widerstand gegen die Entwickelung des Erkennens. Wenn ein Einzelner ganz in der Gewalt des Aberglauben ist, so kann in ihm kein eigentliches Erkennen entstehn. Sehr Vieles wird in dem Streit der entgegengesetzten Theorien | Aberglaube genannt, was es in sich selbst nicht ist. Will man sich den Aberglauben erklären, ohne Beispiel kann man nur sagen, es ist eine solche Kombination, welche ein schlechthin Einzelnes als das Allgemeine setzt, denn überall wo man solche gesetzlichen Verbindungen aufstellt ist es nichts Anderes als daß man ganz die Prinzipien des allgemeinen Zusammenhanges leugnet. Nun ist aber das Einzelne, das Bild und also haben wir hier die Combination auf derselben Stufe. Wenn wir auf das Gebiet der Kunst sehen, ist es gar nicht möglich, daß der Mensch bestehen könne ohne Alles was in das Gebiet der Kunst fällt. Denn er kann nicht bestehen ohne bestimmte Verhältnisse zu Dingen sich zu bilden, in diesen wird es immer einen relativen Gegensatz von Stoff und Form geben und in letzterm immer die Aufgabe die Kunst [zu] sehen und man wird nichts auf der Seite des Stoffes thun können ohne zugleich auf der Seite der Form. Wir dürfen nur auf die alltäglichsten Bedürfnisse sehen, um zu beantworten, daß Stoff und Form sich immer zugleich entwickeln, die Form mag im Vergleich mit Andern so abentheuerlich erscheinen als sie wolle. Hier könnten wir uns also einen positiven Widerstand nur denken, wenn möglich wäre, daß der Mensch sich lieber dessen was durch die materielle Seite der QFigurR begründet wird enthielte, als daß er eine Form hervor brächte. Es giebt eine Stufe wo alle diese Bedürfnisse noch nicht sind, aber solch positiver Widerwille gegen die Formbildung kann dabei nicht zur Anschauung gebracht werden. Diese ist nur da, wo sich nirgends ein konstanter Typus bildete, wo Alles als Willkühr des Einzelnen erscheine. Man müsse dann sagen, so wie man dies fände könne man es nur ansehen als eine Reihe des Gefälligen. Dann würde auch die bloße Willkühr die in dem Wechsel als Formlosigkeit angesehen werden müßte, auf diesen Trieb reduzirt werden können. Es muß nicht möglich sein, hier das Negative zur wirklichen Darstellung zu bringen, weil das ganze Leben nichts ist als Formbildung. In den Operationen des leiblichen Organismus gehen die materielle Assimilation und die 6–7 Aberglaube] davor ist

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Formbildung zusammen und es müßte einen Widerspruch des Lebens in sich selbst darstellen, wenn eine Trennung statt fände in dem bewußten Zustand des Lebens. Hier kann das Niedrigste doch immer nur erscheinen als ein minimum von Empfänglichkeit, aber auch dies [wird] schon zu dem stärksten Gegensatz zu dem Genialen, das Stupide, die absolute Unempfänglichkeit für den Reiz der Form auf dieser Seite und auf der andern für die Macht des Gedankens. Zwischen diesen Endpunkten liegt Alles, was wir vorher aus dem einen Gegensatze entwickelt haben, also von dem Heroischen und Genialen aus auf beiden Seiten, zunächst eine bewußte Theilnahme an dem Einfluß des Heroischen und Genialen auf die Masse, | nächstdem die bloße Empfänglichkeit für die von dort ausgegangenen Impulse. Dies ist aber nur ein relativer Gegensatz, denn auch das einzelne Leben ist nicht ohne Selbstthätigkeit möglich. Der Mangel der Selbstthätigkeit kann immer nur unter der Form des Widerstandes zur Anschauung kommen und hier geht die negative Seite an. Wir haben mit Fleiß dies Beides in sich vollkommen parallel gehalten, obschon in dem gewöhnlichen Urtheil ein großer Unterschied gemacht wird. In dem Heroischen liegt das ganze Gebiet des Lebens, was man gewöhnlich das Sittliche zu nennen pflegt; denn wir haben auf der einen Seite das Bürgerliche, auf der andern das Religiöse. Das wovon wir das maximum durch den Ausdruck des Genialen fixirt haben wird gewöhnlich nicht als das Gebiet des Sittlichen mit konstituirend gedacht, es gehört nicht zur Sittlichkeit, wenn es Unempfänglichkeit giebt für das Gebiet der Gedankenbildung und der Kunst. Nehmen wir die Sache aber tiefer, sieht man auf die Werthdifferenz des einzelnen Lebens muß man die gleichen Reihen in diesen beiden Reihen als auch völlig denselben Werth aussprechend denken. Die Widersetzlichkeit gegen die Entwikkelung des Genialen ist eine ebenso starke Opposition gegen die Entwickelung des Menschen als die Widersetzlichkeit gegen das, was von den heroischen Impulsen ausgeht. Wollen wir uns hieraus ein Bild zusammensetzen von dem Ganzen des menschlichen Geschlechts müssen wir das zu Hülfe nehmen. Das Heroische und Geniale kann nur als solches hervortreten bei einem noch ganz unentwickelten Zustand der Masse, denn da kann es nur als Impuls gebend erscheinen. Der Spitzen des menschlichen Geschlechts kann es daher nur Wenige geben, weil dazu immer eine Masse gehört. Der Werth der Masse kann nur nach dem Verhältniß zu der Spitze bestimmt werden. Da ist die größte Entwickelung wo die Differenz am schnellsten in Abnahme ist, wo der Assimilationsprozeß gegen das Höhere im Einzelnen am schnellsten vor sich geht. Dies ist die Annäherung an die Gleichheit, 11 nächstdem] Nächstdem

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welche nothwendig aus diesem Verhältniß hervorgeht. Denn ohne eine solche Kraft der Assimilation wären diese Einzelnen nicht das, wofür wir sie setzen. Denken wir uns nun mit einer solch beschleunigten Entwickelung in eine ferne Zukunft, wird die Veranlassung nach dem Grund der Differenz unter Einzelnen zu fragen, ebenso wie die Differenz selbst verschwinden. Führen wir uns aber rückwärts, in die ersten Anfänge der Bildung, so wird man dann auch nicht zu fragen [haben] nach dem Grunde der Differenz der Einzelnen, sondern nur nach dem Grund der Differenz überhaupt, denn der Einzelne wird nur mit seiner Stellung in der Gesammtheit und indem wir | das Geschlecht betrachten, so ist es der Typus desselben von der Ungleichheit an die Gleichheit sich anzunähern. Er tritt am stärksten hervor, wo die Entwickelungsfähigkeit am stärksten ist, und umgekehrt. Denken wir uns eine gleichmäßige Entwickelung, so werden wir diese immer in demselben Grade als einen geringern Entwickelungsprozeß ansehen als sie in geringern Massen sich darstellen. Wenn man aber bei den Einzelnen als solchen stehen bleiben wolle müßte man wieder auf das gemeinsame Physiologische und Psychische zurückgeführt werden und also zuletzt auf die Zeugung. – – Gehen wir auf die beiden höchsten Punkte, das Heroische und Geniale zurück, so kann man fragen, ob auch noch ein Höheres möglich ist, die Vereinigung von beiden. Allein die Geschichte besthätigt keine solche Vereinigung derselben. Es läßt sich auch einsehen, daß der Einfluß der Einzelnen auf größere Massen dabei nicht bestehen könnte. – – Wenn wir die Verhältnisse dessen, was man Seelenbildung nennen kann in Bezug auf das einzelne Leben, in diesem Gebiet bestimmen könnten, würde man manche Fragen beantworten können. Es ist uns jetzt noch übrig die Betrachtung der Verschiedenheit des Einzellebens in seinen verschiedenen Erscheinungen. Wir haben hier zu unterscheiden einen sich beständig wiederholenden Wechsel d. i. die Unterbrechung der Seelenthätigkeit durch den Schlaf und die verschiedenen Perioden des Lebens welche sich unterscheiden als ein Zunehmen und ein Abnehmen bis zum Verschwinden des Einzellebens. Was das erste betrifft, den Gegensatz zwischen Schlaf und Wachen, so hängt derselbe bestimmt mit dem leiblichen, der Naturseite des Menschen zusammen. Es [ist] hier auch wieder, wenn man auf das Verhältniß zur äußern Natur sieht, das menschliche Leben an diesen Wechsel gebunden, aber in einem andern Grade. Bei den Thieren finden wir das Übergewicht des Erstern auch so, daß das Wachen mehr gebunden ist an die Zeit des Lichtes, es giebt aber auch ganze Klassen von Thieren, 10 Gesammtheit] Geshht

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wo das Umgekehrte statt findet. Bei dem Menschen ist auch hier eine Art Freiheit. Er kann sich die Naturgränzen verändern, aber im Allgemeinen ist er auch der großen Hauptregel unterworfen. Es ist hier offenbar eine Differenz in den leiblichen Verrichtungen, auf die wir uns nicht einlassen können. Das nächste leibliche, welches im Zusammenhange mit dem Psychischen steht ist das Verhältniß der Sinne, welche sich zum Theil unwillkührlich schließen oder doch eine zunehmende Unthätigkeit. Es fragt sich nun, inwieweit ist Alles, was in der Seelenthätigkeit sich ändert nur von diesem Physiologischen abhängig oder sind sie auch an und für sich diesem unterworfen? Hier tritt eine Frage über den Traum ein. Es sind Spuren der Erinnerungen an Seelenthätigkeiten, die in der Zeit des Schlafes vor sich gegangen sind. Man kann in der Theorie unterscheiden den Traum selbst und die Erinnerung an den Traum, so daß man die Hypothese auf|stellen kann[:] Jeder träumt. Wir gehen wieder auf die Andern Funktionen aller Seelenthätigkeiten zurück, nämlich einmal Eindrücke von Außen und die freie Thätigkeit von Innen her. Wenn wir die letzte betrachten in der Annäherung an den Schlaf, müssen wir sagen, sie manifestirt sich häufig als ein Kampf gegen den Schlaf. D. h. es ist eine größere Anstrengung nöthig, um zusammenhängend gewollte Seelenthätigkeit wie in der Zeit des Wachens zu Stande zu bringen. Indem wir in einem solchen Zustand den Willen allerdings lebendig finden gewinnt es den Anschein, als ob der Eindruck der Freiheit gefährlich werde. Es ist aber eine andere Erscheinung nicht zu übersehen. Wir haben früher gesehen, daß es auch in wachenden Zuständen eine Thätigkeit der Vorstellungen giebt, welche mit den von dem Willen angelegten Bewegungen der Seelenfunktionen nicht zusammenhängt, sondern obwohl sie freie sind, ihren Grund in frühern Momenten haben. Dies ist die Art von Vorstellungen die in den gewollten Kreis von Thätigkeiten gar nicht gehören, dazu erst werden durch andere Vorstellungen, welche in diesen Kreis gehören oder nun, indem wir von dem äußern Eindruck abstrahiren, sich doch von denselben Vorstellungen die Bilder bilden, die erst hienach hervortreten. Bei dem Annähern des Schlafes und dem Kampf gegen denselben ist ein Vortreten nicht gewollter Bilder und Vorstellungen zu bemerken. Dies ist die erste Wurzel des Traums. Denn denken wir uns die freie Produktivität können jene Thätigkeiten noch fortbestehen, die mit diesem Kampf nichts zu thun haben. Wenn wir denselben Zustand finden ohne alle Beziehung auf die Annäherung des Schlafes, daß die unwillkürlichen Vorstellungen mit einer großen Stärke und gleichsam hemmend gegen die gewollten Thätigkeiten auftreten ist dies Zerstreuung, eine gewisse Unfähigkeit, 17 letzte] so SW III/6, S. 349; Ms.: erste

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die gewollte Thätigkeit festzuhalten. Dieser Zustand ist in Beziehung auf die eigentliche Lebensaufgabe ein krankhafter Zustand aber von der Annäherung an den Schlaf ein natürlicher Zustand, er ist der Vorläufer des Sieges des Schlafs über das Wachen. Wir haben aber noch nicht gehandelt von dem, was man im Allgemeinen als Krankheitszustand in Beziehung auf die eigentlich psychischen Funktionen ansehen kann, denn Alles, was wir als Werthunterschied der einzelnen Seelen dargestellt haben und was sich auf das Verhältniß des Gesammtbewußtseins [zu dem Einzelnen] in den einzelnen Momenten bezieht, unterscheiden wir bestimmt von den Krankheitszuständen der menschlichen Seele. Hier finden wir einen solchen und materiell dasselbe. Hier entsteht die Frage, inwiefern dies ein Punkt ist, von welchem aus man mehrere oder alle Krankheitszustände erklären kann. Wenn nun aber der Gegensatz zwischen Wachen und Schlaf überhaupt ein leibliches Element auf eine überwiegende | Weise einschließt, so müssen wir sagen, daß insofern wir von den Seelenkrankheitszuständen mehr und mehr die Analoga in dieser Region finden, alle Krankheitszustände in einem solchen Versenktsein der eigentlichen psychischen Funktionen in der Abhängigkeit von einem andern als psychischen Prinzip ihren Grund hätten. Dies wird schwerlich der Fall sein und ist dann zugleich eine Indikation uns diese Krankheitszustände zu theilen. Offenbar, wenn wir die Annäherung an den Schlaf in Beziehung auf die Thätigkeit des Vorstellungsvermögens weiter verfolgen, so werden diese unwillkürlichen Thätigkeiten ohne Ausnahme solche, welche in die Klasse der Bilder gehören und also mit organischen Eindrücken irgend einer Art in Verbindung stehen. Wenn wir uns denken wollen eine Thätigkeit der eigentlichen Denkfunktion auf dieselbe Weise zwischen eintreten, wie wir ja im wachenden Zustand abgelenkt werden auf einen verwandten, so werden wir es denken müssen als eine Rückkehr zum Wachen. Die Thätigkeit des eigentlichen Denkens ist der Verkehr mit Begriffen, nicht mit Bildern. Die Ausführung von gewollten Thätigkeiten gehört in diese Klasse, sofern sie überhaupt auf Zweckbegriffen beruht und die Richtung solche Thätigkeiten fortzusetzen, erfodert den wachen Zustand. Je mehr diese auf Gewalt gebaut, um so mehr werden alle geistigen Thätigkeiten unterbrochen, geschwächt und cessiren endlich. Nun ist aber offenbar die Produktion und Reproduktion von Bildern ebenfalls eine Seelenthätigkeit und wir unterscheiden sie bestimmt von dem Materiellen. Wenn die Annäherung an den Schlaf ein Zurücktreten der Denkthätigkeit und Willensthätigkeit ist, aber ein Hervortreten des freien Spiels mit Bildern, so wäre darin noch keine Vereinigung, sondern nur eine Veränderung, so daß die höhere Art der Seelenthätigkeit zurück, die andere hervortritt. Nun aber ist die 2te Stufe dieser Annä-

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herung, daß auch diese Bilder sich verdunkeln und also auch die Seelenthätigkeit in der Reproduktion sich schwächt und es erscheint uns als ein allmähliges Verschwinden des Bewußtseins. Das erste ist nur der Anfang. Die Macht der Selbstthätigkeit hört zuerst auf, späterhin das unwillkürliche Spiel der Vorstellungen und Bilder. Es sinkt aber je näher der Moment des Schlafes kommt, Beides mehr in die Bewußtlosigkeit zurück. Nun aber kommt uns der Traum in Beziehung auf welchen wir nichts haben, was in das Gebiet unserer Untersuchung gehört, als die Erinnerung die er beim Erwachen zurückläßt, die man aber schnell fixiren muß. Wir haben früher gesehen, daß der Fall nicht selten ist, daß Sinneseindrücke darüber entstehen, die in dem Moment gar nicht ins Bewußtsein aufgenommen werden aber hernach hervortreten, so daß die Rezeptivität nur durch die Richtung die Einwirk|samkeit bezwinge. Es ist aber gewiß ein sehr seltener Fall, daß man sich später eines Traumes erinnert. Will man nun annehmen, daß man immer träumt, muß man auch eine Gradation annehmen zwischen Traumbildern, die im Moment des Erwachens auftreten oder nicht, das Einschlafen müssen wir dadurch auf 2 verschiedene Formeln zurück bringen. Das eine Mal, wenn wir [es] annehmen als das reine Einschlafen ohne Traum, als einen Nullpunkt des Bewußtseins, der Rezeptivität und der Spontaneität. Wenn sich aber an das Einschlafen gleich der Traum anschließt, so erscheint der Traum ohne daß ein eigentlicher Nullpunkt eingetreten sei als Fortsetzung jenes unwillkürlichen Spiels von Vorstellungen. Es giebt aber auch noch ein anderes Ende in Beziehung auf welches wir den Traum betrachten können. Denken wir uns das Einschlafen als den Nullpunkt des Bewußtseins und also als eine größere Unterbrechung der Seelenthätigkeit, während der freilich die organischen Thätigkeiten, aber nur in dem Maaß, als sie nicht mit der Seelenthätigkeit zusammenhängen im Unterbewußtsein fortgehen, ist das Wachen Wiederanfang des Bewußtseins. Wie fängt dies wieder an? Mit der Rezeptivität oder Spontaneität? Wir haben hier wenn wir auf die Erscheinung sehen auf einen sehr bedeutenden Unterschied Acht zu geben. Es giebt Menschen, welche um zu erwachen eines äußern Anstoßes bedürfen, Andere welche ohne denselben mit gleicher Leichtigkeit erwachen, ja es giebt eine Herrschaft des Willens über das Erwachen, Andere denen das Erwachen habituell ist. Denken wir hier an eine Herrschaft des Willens über das Erwachen müssen wir den Wiederanfang des Bewußtseins an die Spontaneität knüpfen, denn sie ist sogar das Erweckende. Auf der andern Seite ist der Wiederanfang des Erwachens mit der Rezeptivität. Es muß ein Eindruck gemacht werden auf die Sinne, um 34 bedürfen] so SW III/6, S. 353; Ms.: erwachen

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das Bewußtsein wieder zu erwecken. Nun sieht man es an als ein Maaß für die Tiefe des Schlafs wie stark die Eindrücke sein müssen um das Erwachen zu befördern und es giebt also in der Nullität des Bewußtseins eine Intensität. Aber in wiefern dies mit dem Zustand der Seelenfunktionen selbst zusammenhängt und ob nicht die Intensität dagegen spricht, daß hier eine eigentliche Null sei, dieser Gegenstand macht die Frage auch von der psychischen Seite viel komplizierter. Es giebt einen bestimmten gegenseitigen Einfluß der psychischen und der bloß organischen Funktionen. Beide erscheinen dabei unter einem allgemeinen irdischen Naturgesetz, unter dem der Oscillation, es ist ein Steigen und Fallen der eigenthümlichen Existenz von einem Nullpunkt an steigend und dann wieder zurücksinkend, nicht in einer gleichmäßigen Bewegung, denn in der Regel ist das Erwachen ein weit schnellerer Prozeß als das Einschlafen. Der Zeitraum jedes Tages theilt sich wieder. Der Ernährungsprozeß wird durch [den] Bedarf konsumirter Kräfte geweckt und sobald er be|friedigt wird ist wieder ein Übergewicht der organischen Funktionen über die psychischen. Wenn wir das Psychische in dem Zwischenraum zwischen Einschlafen und Erwachen, dem Traum betrachten, haben wir ein Analogon desselben, ein gewisses Spiel von Vorstellungen beim Wachen gefunden und der Traum erscheint als ein sich beschränken auf ein solch freies Spiel von Bildern bei einer eigentlichen Unthätigkeit der Denkfunktion, die freilich nicht absolut erscheint, da im Traum oft mehr oder weniger zusammenhängende Gespräche vorkommen. Man kann dies aber nicht als allgemeine Einwendung anführen, weil die Gedanken doch nur lose an den Bildern hängen. Wir müssen noch auf einen andern Punkt achten. Wir haben darauf aufmerksam gemacht, daß es auch Sinnesthätigkeiten giebt, die nicht mit den Sinneseindrücken von Außen [zusammenhängen], aber auch deßhalb im Innern bleiben. Sie sind das innre Hören und das innre Sehen. Wenn diese doch organische Funktionen sind, können wir auch die Totalität nur organischen Bewegungen zuschreiben, denn ohne Bewegung giebt es keine organischen Funktionen. Die Bewegung muß mehr an den innern Enden des Organs sein. Hier ist alles Weitere ganz physiologisch und würde auch nicht in unsere Betrachtung gehören, wenn es etwas Bestimmtes darüber zu sagen gäbe. Allein der Gegenstand ist noch nicht erschöpft. Ein solches läßt sich auch im Traume denken im Zusammenhange 2 des Schlafs] der Eindrücke

33–34 des Organs] so SW III/6, S. 355, Ms.: des Innern

14–15 Vgl. SW III/6, S. 354: „Aber im Verhältniß der Anstregung zeigt sich nach Verlauf eines Tages die Nothwendigkeit, die Anstrengung zu vermehren, wenn dasselbe geleistet werden soll. Es giebt hier aber ein ähnliches Verhältniß dazwischen, wodurch sich der Tag noch mehr theilt,“

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mit diesen Vorstellungen. Aber eben dies giebt uns einen Anlaß, eine beschränkte Ansicht abzuweisen als ob alle Bilder im Traum aus Erinnerungen herrühren müßten. Wie in der Nacht alle Bewegungen auch in der Natur stärker wahrnehmbar sind, ebenso geht es mit den innern Erregungen der Organe, die am Tage gar nicht zu Bewußtsein kommen, weil beständig viel lebhaftere Eindrücke von Außen sie zurückdrängen. Wenn die Außenwelt geschlossen ist, bieten die organischen Bewegungen, welche noch fortdauern, einen Einfluß dar auf die Sinnesorgane, so daß dadurch Eindrücke entstehen, die gleich wieder Bilder erregen. Es läßt sich im Einzelnen oft nachweisen, wie eine kleine Unregelmäßigkeit im Blutumlauf traumartige Zustände von ganz eigenthümlicher Beschaffenheit hervorbringt. Hier zeigt sich also wieder ein Untergeordnetsein der psychischen Funktionen unter die organischen und hieraus läßt sich allgemein der Zustand des Traumes begreifen, nicht [aber] die Fragen daraus entscheiden ob der Traum im Schlaf ein permanenter Zustand ist, ob es Schlaf ohne Traum giebt, ob der Traum nur an dem Ende des Schlafes ist. Man hat keine Ursache ein gänzliches Aufhören der psychischen Funktionen während des Schlafs für etwas Unmögliches zu halten, denn es wäre für das Subjekt eine leere Zeit, denn sie ist für dasselbe gar nicht. Dies müssen wir also unentschieden lassen. Wenn aber an der Beschaffenheit der Traumbildung abzunehmen ist die Unterdrückung der Willensthätigkeit findet das eine bedeutende Ausnahme im wandelnden Zustand. Häufig ist das Reden im Schlaf, welches doch ein Akt der Selbstthätigkeit [ ] | nur im Wachen stärker. Doch im wachenden Zustand ist eine Analogie. Man findet sehr häufig, daß Menschen die Lippen bewegen und für sich sprechen. Es ist eine unbewußte organische Funktion, keine Willensthätigkeit. So wie wir hier das Übergewicht der Richtung auf die Außenwelt wegdenken, so kann die bloß innre organische Bewegung zu einer äußern werden. Eine noch stärkere Seite ist das Nachtwandeln, wovon sich unleugbare Beispiele finden, daß im Schlaf sehr zusammengesetzte willkürliche Handlungen verrichtet werden. Es ist aber dabei keine eigentliche Willensthätigkeit zu denken, sondern organische Bewegungen, die irgendwie mit der Traumbildung zusammenhängen. Häufig jedoch kommen solche Erscheinungen vor, 20 eine] k

24–25 Selbstthätigkeit] es folgt ein Spatium von einer halben Zeile Länge

24–25 Zusatz SW III/6, S. 356: „Einmal ist bekannt das Reden im Schlaf, was doch ein Eintreten der Spontaneität ist, wiewol man es gewiß nicht als eigentliche Willensthätigkeit ansehen darf, weil in Beziehung auf die Leichtigkeit der Erinnerung kein Unterschied zu bemerken ist, was doch der Fall sein müßte. Da kein Denken ohne Worte ist, so ist es natürlich, daß kein inneres Sprechen stattfindet, und es ist nur eine stärkere organische Erregung, wodurch das innere Sprechen zu einem äußeren wird.“

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die sich auf das einzelne Leben am Tage beziehen. Der Zusammenhang der Traumbildung mit dem wachen Zustand kann ein sehr verschiedener sein. Es kann eben solch unendlich kleine organische Erregungen geben, welche die Erinnerung verwenden, dies ist gewöhnlich etwas Habituelles, ihr Zustand ist weniger frei. Der Unterschied, daß es sich hier um rein willkürliche Bewegungen handelt ist nicht so bedeutend als man sich gewöhnlich denkt. Auch bei der Aufnahme von Eindrücken ist immer etwas Willkürliches mit und der Gegensatz zwischen willkürlich und unwillkürlich ist nur ein Unterschied des Mehr und Minder. Daß hiebei selten Mißgriffe vorkommen in den willkürlichen Bewegungen ist nichts Wunderbareres als dies, daß einer der im Schlafe redet sich nicht öfter verspricht als wenn [er] im Wachen redet. Allerdings erscheint dies von einer gewissen Seite angesehen als eine geringere Intensität des Schlafs, weil solche psychischen Thätigkeiten vorkommen welche verwandt sind mit der Willensthätigkeit, welche das absolut Präsummirende während des Schlafs ist, und eine größere Intensität, weil die Bewegungen größer sind, und es nicht unterbrochen wird. Man sollte meinen durch sein eigenes Sprechen müßte er aufwachen. Man kann sich dies bloß vertheilen, wenn man dabei auf das Verhältniß des bloß Organischen zu dem Psychischen sieht. Nun aber müssen wir auch einen andern sehr schwierigen Gegenstand mit zur Betrachtung ziehen, nicht als unmittelbar dem Phänomen des Schlafs angehörig, aber doch durch dasselbe veranlasst. Dies ist die so weit verbreitete Meinung von der Bedeutsamkeit der Träume. Wir müssen wenigstens damit anfangen dies als eine Meinung zu betrachten und nicht als wirkliche Eigenschaft des schlafenden Zustands, können aber dann nicht so leicht darüber weggehen. Man kann leichter sagen als beweisen, daß dies auf eine untergeordnete Stufe der geistigen Entwickelung zeigt. Es liegt dabei ein merkwürdiges Faktum zu Grunde, die Aufmerksamkeit auf die Träume. Ohne diese könnte eine solche Meinung nicht entstanden sein. Wir haben hier das Analogon schon in dem, daß man zweifelt ob es nicht weit mehr Träu|me gebe als Erinnerungen der Träume. Diese Meinung ist nicht bloß Resultat einer Theorie. Es liegt dabei zu Grunde, daß man sich bewußt ist, die Erinnerung an den Traum sei nichts Unwillkürliches, denn dann könnte es ohne jene Theorie Niemandem einfallen das zu behaupten. Dies ist schon der Anfang von dem Glauben an die Bedeutsamkeit der Träume. Er ist nur dem Grade nach verschieden; Interesse am Traum nehmen, infofern man ihn als eine psychische Lebensthätigkeit ansieht oder insofern man den Vorstellungen des Traums eine Bedeutsamkeit beilegt. Ebenso ob man sich kümmert um die Ursache, 17 weil die Bewegungen] )weil die Be*wegungen

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aus welcher die jedesmalige Bestimmtheit der Traumbildung enstanden ist, also zurückführen in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Wenn wir von der einen kein Aufhebens machen, so haben wir es von der andern auch nicht nöthig. Auf dem gewöhnlichen Standpunkt wo wir unser ganzes Leben aus dem Gesichtspunkt des Willens betrachten, gehen uns die Träume gar nichts an. Dann haben wir ebenso wenig Ursache uns um die bestimmte Beschaffenheit der Bilder zu bekümmern in ihrer Entstehung als ihrer Bedeutung für die Zukunft. In Beziehung auf dies Zurücksehen giebt es eine alte moralische Ansicht der Sache. In Platos Republik ist eine merkwürdige Stelle. Plato sagt, es könne sich kein Mensch ganz freisprechen von dem, was er an Andern tadelt; sondern derjenige sei in dieser Beziehung der Beste und glücklichste, dem dasjenige was Andere wachend zu thun im Stande sind, nur im Traume einfällt. Er bringt also den Traum in das Sittliche hinein. Wir müssen von hier aus zurückkommen auf die unwillkürlichen Vorstellungen, die es auch im Wachen giebt. Nun wohl, nächst dem, dem solche Dinge nur einfallen im Traum, ist derjenige der beste, dem sie zwar einfallen im Wachen, aber als durchgehende Vorstellung ohne Einfluß auf seinen Willen. Es ist nicht zu leugnen, daß sehr häufig der Mensch träumt, daß er etwas thue, was er durchaus unfähig ist zu thun im Wachen. Um dies seinem eigentlichen Gehalt nach zu verstehen fragen wir, ist es wahrscheinlich, daß Jemand eine Handlung träumt, welche in dem Gesammtleben, dem er angehört, gar nicht vorkommt. Es ist hier freilich ein Unterschied zwischen denen die ein geschichtliches Leben führen und den Andern. Diese Vorstellungen gehören weniger dem Einzelleben an, haben aber eine Wahrheit in Beziehung auf das Gesammtleben, wovon doch beständig Erinnerungen in ihm liegen. In der Traumbildung findet sich ein offenbares Übergewicht des allgemeinen Lebens, aber nur in dem, was für sie wirklich ist, über das Persönliche weil die Willenskraft im Schlaf zur Ruhe gelegt ist. Hieraus läßt sich Alles erklären, was mit dem Charakter des Menschen ganz widerstreitend vorkommt. | Der Traum hängt sehr nahe zusammen mit den Eindrücken auf Organe von Innen her. Dies findet seine Bestätigung in den Fieberphantasien der Kranken, welche ihren psychischen Elementen nach ganz den Charakter des Traums an sich tragen. Wenn die Sinne nicht geschlossen sind, so ist doch die ganze Art und Weise völlig traumartig. Auch werden diese Zustände durch ein Wachen unterbrochen, es ist immer dabei eine Erscheinung, wenn gleich die Sinne vorher nicht 3 kein] so SW III/6, S. 358; Ms.: ein

33 232.] 234.

10–14 Platon: Politeia 576b; Opera 7,248; Werke 4,738–739

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geschlossen waren. Wir haben auch hier solche Elemente, die ganz denselben Charakter einer zur Ruhe gelegten Willensthätigkeit, aber eines gewissermaßen mechanischen Prozesses in den Entstehungen von Vorstellungen durch innre Anregungen darstellen. Verbinden sich damit willkürliche Bewegungen im Zusammenhang mit den Vorstellungen, ist hier ebensowenig eine Willensthätigkeit wie bei den Nachtwandlern; es ist wie eine Vertauschung derselben Elemente durch physiologische Ursachen. Wir finden aber hierin keine Veranlassung, woraus wir uns die Meinung von der prophetischen Bedeutung des Traums erklären. Sie beruht nur auf dem Verkennen solcher Analogien. Es giebt Spuren, sofern man die letzt genannten Zustände schon als Wahnsinn betrachtet, man überhaupt allen Wahnsinn für prophetisch gehalten hat, in dieser Analogie zwischen den Fieberphantasien und dem Traum einen Übergang von dem Traum zum Wahnsinn, denn die Fieberphantasien gehen oft in einen permanenten Wahnisnn über. Wenn wir nun anerkennen müssen, daß uns in der Darstellung der Träume der persönliche Charakter ganz verschwindet und der Traum sich nur aus solchen Elementen zusammensetzt, welche mehr dem Gesammtbewußtsein angehören, von dem Subjekt selbst anderwärts aufgenommne Vorstellungen, reine Glieder des eigentlichen Lebens. So erscheint der Traum als Zurücktreten des einzelnen Lebens und als Hervortreten des allgemein Psychischen. Denken wir uns nämlich das Gesammtbewußtsein weg, verschwindet auch der Grund, wie von Außen produzirte Vorstellungen eine Macht bekommen sollten. Hier nun sind wir auf einem Punkt, wo wir eine andere Form des Traumes betrachten, in welcher vielleicht der Schlüssel zu allem noch Dunkeln liegen würde. Es ist nämlich eine schon sehr alte Erscheinung, wir finden sie schon von Alters her in den nicht empirischen ärztlichen Schulen und Traditionen, wie diese an manchen Orten mit priesterlichen Verrichtungen zusammenhängen, daß wir Notizen finden von künstlich hervorgebrachtem Schlaf nicht ohne von vorn herein Beziehung zu nehmen auf den Traum. An vielen Orten waren die Tempel die ausschließlichen Örter dafür; religiöse Einwirkungen waren dabei nicht ausgeschlossen, es setzte aber einen krankhaften Zustand voraus. Hier findet sich ganz vorzüglich der bedeutsame Traum, oft zurückgehend auf den eignen Zustand, dann auch sich verbreitend über Gesammtangelegenheiten. Aus der Heiligkeit des Ursprungs konnte leicht der Glaube entstehen an die Bedeutsamkeit solcher mit göttlichem Einfluß [hervorgebrachter] Träume. | 23–24 Zusatz SW III/6, S. 361: „Ist sie nun eine solche, daß sie dem persönlichen Combinationstypus, wenn er da wäre, widerstrebt, so sehen wir ein Zurükktreten der Individualität und ein Hervortreten der Universalität.“

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So bald der Wille ganz Null geworden ist, erscheint der Mensch auch in allen seinen Erscheinungen als Naturwesen und eben deßwegen tritt hier auch dasselbe Verhältniß ein. Der Wahnsinn ist ein aufgehobener Freiheitszustand und Beides in dieser Analogie könnte [als] das eine eben so gut als das Andere, der Traum als ein zurückgehender Wahnsinn, der Wahnisnn als ein fortgesetzter Traum betrachtet werden. Die Unsicherheit der ganzen Vorstellung hat sich auch seit der ältesten Zeit zu erkennen gegeben in einer Klassifikation der Träume, indem die einen dargestellt wurden als Offenbarung der Gottheit, die andern, wo die Götter ihr Spiel treiben wollten mit den Menschen. In neuern Zeiten hat sich dieselbe Erscheinung häufig wieder hervorgethan. Es ist nicht zu leugnen, daß es eine Menge von Relationen über diesen Zustand giebt, die sich durch einen größern Mangel von Kritik auszeichnen. Alles Einzelne an und für sich betrachtet verliert doch seine Glaubwürdigkeit und man kann nicht sagen, was darin Wahrheit und Täuschung sei. Bei der ganzen Thatsache ist etwas, man kann sie nie anders als eine Modifikation des Traumes ansehen. Denken wir uns die persönliche Individualität theils für die Vorstellungsbildung zurücktretend[,] zeigt sich darin von selbst der Einfluß einer andern Persönlichkeit auf die Vorstellungsbildung. Die Vorstellungsbildung scheint mehr demjenigen anzugehören, welcher den Zustand des künstlichen Schlafs hervorgebracht hat. Das Medium der Mittheilung ist ein Dunkles, liegt aber außer unserm Gebiet, denn es ist organisch vermittelt. So wie wir aber von dem unleugbaren Element aller Traumbildung, dem zurücktretenden persönlichen Charakter ausgehen, werden sich die Thatsachen dieser Art sehr leicht hieraus erklären lassen. Wenn wir aber gesagt haben, bei diesem Zurücktreten des Individuellen erscheint das psychische mehr unter der Potenz des allgemeinen Lebens, können wir auch sagen, es läßt sich hier als ein Motiv wie sich die Vorstellungen bilden auch ansehen als das Interesse an dem Gesammtleben und also eine Richtung auf das Gesammtleben. Dies kann den Inhalt der Vorstellungen bestimmen. Daß nun Alles, was sich als ein solcher Inhalt manifestirt, aber mit der Gegenwart nicht übereinstimmt als Zukunft angesehen wird liegt ganz in der Natur der Sache, aber dies ist keine Wahrheit. Die Beschaffenheit der Vorstellungen in dieser Beziehung ist ein Zufälliges. Wir kommen hier auf einen Gegenstand, der seinen Ort hätte finden können in unserer 17 als] als als 3–10 Vgl. Platon: Theaitetos 157e–158a; Opera 2,81–82; Werke 6,48–51; Phaidros 244a–245c, 265a–b; KGA IV/3, S. 184–192, 322–324 10–12 Zusatz SW III/6, S. 362: „und wir kennen sie unter dem Namen des magnetischen Schlafs oder des Somnambulismus.“

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bisherigen Untersuchung, wenn man im Zusammenhange mit den regelmäßigen Funktionen davon hätte reden können, nämlich das Ahnungsvermögen d. h. es giebt in jedem Menschen Vorstellungen von dem Künftigen. Sie sind etwas mit der Freiheit des Menschen nothwendig Zusammenhängendes. Jeder Zweckbegriff einer Handlung ist an und für sich eine Vorstellung von dem Künftigen. Nun aber kann kein solches Vorgebildetes in der Zukunft | wirklich werden als unter Voraussetzung gewisser Bedingungen. Es giebt gar keinen Zweckbegriff und keine Perzeption von einem Werke als im Zusammenhange von dem Gesammtzustand eines Künftigen ist. Hier haben wir also etwas mit den wesentlichen Funktionen des Menschen Zusammenhängendes, aber nicht so daß alle Vorstellung von dem Künftigen gebunden ist an den Zusammenhang mit Zweckbegriffen und Conzeptionen. Es giebt ebenso durchgehende Vorstellungen, die in die Reihe der freien Thätigkeiten gar nicht gehören und nun wird die Wahrheit des Gesammtgefühls ein Maaß sein für die Quantität von Wahrheit in solchen Vorstellungen. Es ist darin stets eine Wahrheit, aber das quantitative Verhältniß kann ein sehr verschiedenes sein. Wir haben also hier das Wesen der Sache ergriffen und werden Alles prophetisch nennen, was sich in solchen durchgehenden Vorstellungen und in solchen Äußerungen des Ahnungsvermögens als Wahrheit zeigt. Nun also, insofern der Traum ebenfalls aus solchen Elementen zusammengesetzt ist, wird [es] überall, wo die Traumbildung Beziehung auf das Einzelleben hat, ein Quantum von Wahrheit geben, aber nie so, daß man darauf Rechnung machen kann, sondern so, daß man immer im Voraus, daß eine Wahrheit darin sein werde annehmen kann, aber ganz in diesem unbestimmten Sinn. Wenn nun dies im Traum sein kann, kann es auch im künstlichen Traum sein und in diesem werden wir leicht eine besondere Region nachweisen können, von der sich sagen läßt, daß das größte Quantum von Wahrheit in der Traumbildung sein kann. Nehmen wir die Traumbildung zusammenhängend mit innern Erregungen, so wird, sind die äußern Sinnesenden geschlossen, ein größeres Vermögen da sein, erregt zu werden durch die innern Eindrücke und also eine größere Wirksamkeit der innern physiologischen Zustände auf die Vorstellungen. Nehmen wir noch dazu, daß in dem künstlich erregten Schlaf auch ein überwiegender 28 künstlichen] so SW III/6, S. 364; Ms.: künftigen 17–18 Zusatz SW III/6, S. 363–364: „keinesweges als ob das, was ein größeres Quantum | von Wahrheit in sich hat, einen andern Grund hätte, sondern dieser ist völlig derselbe und beruht auf dem Verhältniß, in welchem der einzelne zu dem Gattungsbewußtsein steht.“

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Einfluß dessen der den künstlichen Schlaf hervorbringen kann, liegt, weil der Combinationstypus des Schlafes unterdrückt ist und dieser zusammengesetzt aus dem Physiologischen, so kann dies der Gegenstand des Traumes sein und das ist nun der Zusammenhang in diesem ärztlich hervorgebrachten künstlichen Schlaf. Dasselbe findet sich nun auch in der Form des magnetischen Schlafs. Aber keineswegs ist hieraus zu schließen, daß dies ein erhöheter Seelenzustand sei, es bleibt ein untergeordneter weil die Willensthätigkeit aufgehoben ist. Denken wir auch ein maximum von Wahrheit, so ist das Quantum von Wahrheit immer nur ein Zufälliges. Daher nun offenbar das habituell werden auch ein habituelles Unterdrücktsein des wahren freien Einzellebens ist, welches sich nur im Zusammenhange mit dem krankhaften Zustand denken läßt, weil im gesunden die Freiheit sich immer so geltend macht, daß allen äußern Einflüssen widerstrebt wird. Denn zur Gesundheit | gehört ja auch das natürliche Verhältniß zwischen den organischen und psychischen Funktionen. Wenn man sich dächte, ein Mensch im gesunden Zustand, wollte sich einem Andern so hingeben, den künstlichen Schlaf in sich erregen zu lassen, um ein unbestimmtes Quantum von Wahrheit hervorzubringen, so wäre das der offenbare Wahnsinn. Aber das wirkliche Vorkommen dieser psychischen Zustände in Krankheitszuständen und die Möglichkeit, daß alle diese verschiedenen Momente überwiegend hervortreten können und die im Allgemeinen schon zuzugebende Differenz zwischen Wahrheit und bloß freiem Spiel [ist] unmöglich abzuleugnen, nur daß die Wahrheit stets das bloß Zufällige ist und es ist nicht möglich Gesetze darüber aufzustellen, und so ist in allen diesen Erscheinungen nicht mehr Gesetzmäßigkeit als diesem ganzen Gebiet zukommt. Wir betrachten die Verschiedenheit der geistigen Funktionen in den verschiedenen Lebensaltern. Der Anfang des Lebens ist nicht eher als mit dem Anfang willkürlicher Bewegungen [im Mutterleib] wahrzunehmen. Wollen wir diesen einen psychischen Impuls zu Grunde legen würde dies ein großes Übergewicht von Spontaneität über die Rezeptivität zeigen. Die Sinne sind geschlossen und da die Respiration auch nie statt findet wären nur Erregungen der psychischen Organe durch den Ernährungsprozeß [der Mutter] bedingt. Es ist daher wahrscheinlich, daß diese Bewegungen nur ein organischer Prozeß sind, wie im Schlaf. Wir können aber nicht sagen, daß der Mensch überhaupt noch kein Subjekt psychischer Thätigkeit sei; sie latitiren unter 1 künstlichen] so SW III/6, S. 364; Ms.: künftigen so SW III/6, S. 366; Ms.: Objekt 5–6 Siehe die Sachanmerkung oben, S. 610

5 ärztlich] ärtzlich

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den organischen. Mit der Geburt geht nun eine bedeutende Veränderung mit dem organischen Zustand selbst vor, die Cirkulation ändert sich und die Respiration entsteht. Es wird hier das Einzelwesen ein ganz abgeschlossenes, bleibt dasselbe jedoch nur im künstlichen Zustand; denn solange die Mutter das Kind nährt ist immer noch eine psychische Abhängigkeit denn es nimmt durch die Milch das Kind auch an den psychischen Zuständen der Mutter Theil, insofern sie physische Zustände hervor bringen. Von da nehmen wir auch schon den Anfang psychischer Thätigkeit an. Das Auge ist das erste Organ, wovon man bestimmt sagen kann, daß es sich öffnet und daß sich Veränderungen durch den Eindruck darin manifestiren. Es öffnet und schließt sich das Auge, je nachdem der Reiz des Lichtes wirkt; ob es Rezeptivität oder Spontaneität sei ist nicht bestimmt zu sagen. Sehr bald treten Erscheinungen ein aus welchen man ein Erkennen des Menschlichen schließt d. i. zunächst das eigenthümliche Verhältniß zwischen Mutter und Kind; die Gesichtszüge wirken auf das Kind; es beantwortet das Lächeln der Mutter mit seinem eigenen. Aber hier ist immer noch ein so großer Antheil von organischem Zusammenhang, daß es schwierig ist den psychischen auszumitteln. So wie nun aber auf der einen Seite die Eindrücke des Auges bestimmter werden, das Kind verschiedene Theile des Raumes unterscheidet und willkürliche Bewegungen entstehn, ist hier eine psychische Thätigkeit, eine Identität von Rezeptivität und Spontaneität. | Auch das Selbstbewußtsein tritt bestimmt hervor, aber hier auch nur mit einer solchen zweifelhaften Auslegung, so bald ein bestimmter Gegensatz von mimischen Äußerungen sich darstellt. Das Schreien der Kinder bei der Geburt ist ein besonderer organischer Prozeß. Aber sobald sich hernach der Gegensatz zwischen Schreien und Lächeln entwickelt bezieht sich beides offenbar auf Selbstbewußtsein. Man setzt Befriedigung oder Störung voraus bei dem Lächeln oder Schreien. Wenn man die Gleichheit der Temperatur im Mutterleibe betrachtet und sieht wie diese unmöglich zu erhalten ist, so ist das ein solcher Zustand, wo ein Ausdruck des Mißbehagens natürlich erscheint ohne eigentliche Störung von organischen Operationen. Um so mehr hat man das Selbstbewußtsein als affizirt anzunehmen und also einen Wechsel von Zuständen. So lange aber die Kinder sich nicht die Sprache aneignen bleibt ihr Zustand ein gar nicht genau zu Erforschendes, weil mit ihnen keine Versuche angestellt werden können. Bei dem Aneignen der Sprache müssen wir ein bestimmtes Hervortreten der Spontaneität annehmen. Es ist hier keine Nachahmung, die sich auf die dem Kinde schon bekannten Zustände bezieht, es ist rein das Erwecktwerden der Denkthätigkeit 5 die Mutter das Kind] das Kind die Mutter

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durch die Mittheilung. Aber es ist hier eine so bestimmte Lücke, daß es unmöglich ist diesen Prozeß auf einen allmähligen Übergang zurück zu führen. Das Kind giebt Töne von [sich] von Anfang an; es entwikkelt sich dann ein Unterschied, das Lächeln geht auch bald in Ton über. Die Art wie die Wahrnehmung sich das Selbstbewußtsein affizirt, d. h. wie Kinder von dem Gegenstand affizirt werden, ist das nächste; auch mimische Äußerungen welche sich auf die Wahrnehmungen beziehen treten hervor. Aber wir haben hier nur das Totalbild in seinen Differenzen ohne daß die Identität des Gegenstandes dem Kinde schon einwohnt. Wenn das Kind eine bestimmte Hinneigung zu einem Gegenstande gezeigt hat, dieser wird ihm wieder gegeben und hier findet dieselbe Hinneigung statt, so ist dies immer noch kein Grund. Hier ist der Gegensatz zwischen der objektiven und subjektiven Seite des Selbstbewußtseins so wenig entwickelt, daß man keine Operation so oder so bezeichnen kann. Noch weniger ist an eine Continuität des Bewußtseins zu denken. Wenn die Kinder von selbst sich nur in der 3ten Person durch die Bezeichnung ihres Nahmens reden, so sind sie sich hier selbst Gegenstand geworden, sie äußern sich selbst auf dieselbe Weise wie [über] einen andern Gegenstand. Wenn sie aber einen Gegenstand an seinen Nahmen fixirt haben, so ist es immer zweifelhaft, ob sie die Identität des Gegenstandes dabei schon im Auge haben oder nur die Identität des Eindrucks. Sollen wir uns nun denken es wäre eine Continuität des Selbstbewußtseins da, müßte das einen so bestimmten Unterschied machen zwischen dem auf sich selbst und auf andere gerichteten Selbstbewußtsein. Indem das Kind von seinem momentanen Zustand wie von einem 3ten redet und also allerdings das Selbstbewußtsein beschreibt | so ist die Reflexion die eigentliche Form des Zustands. Eine Kontinuität des Selbstbewußtseins kann man nicht voraussetzen. Diese ist nicht eher bis das Kind die Bedeutung des Ich, welches ihm in der Sprache schon bestimmt vorgekommen ist, begriffen hat und damit beginnt eine dunkle Continuität des Selbstbewußtseins. Es ist hier ein Unterschied, der in dieser Zeit stark hervorzutreten scheint, nämlich wenn wir unsere Erinnerung betrachten. Wenn man dies als die äußerste Gränze betrachtet, daß sich keiner solcher Zustände bewußt ist, die über das Ichsagen hinausgehen. Aber wir möchten nicht behaupten, daß die Continuität des Selbstbewußtseins bestimmt von da anfange. Wir müssen nun überhaupt gestehen, daß wir überhaupt keine Continuität des Selbstbe10–13 Vgl. SW III/6, S. 368: „Wenn das Kind eine Hinneigung zu einem Gegenstande manifestirt hat und es wird ihm aus dem Auge gerükkt und nachher wieder gezeigt, so läßt sich aus derselben Manifestation, die dabei wieder erfolgt, nicht schließen, daß das Kind die Identität des Gegenstandes erkennt.“

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wußtseins unmittelbar haben, wir haben kein stetiges Bewußtsein von Zuständen, sondern es giebt hier eine große Menge von Momenten die ganz überschüttet werden von den folgenden und nie in die Erinnerung treten. Die Möglichkeit der Continuität des Selbstbewußtseins ist gegeben, so bald das Ich im Bewußtsein hervortritt. Von diesem Moment an sind nur diejenigen Hindernisse in der Continuität des Selbstbewußtseins, welche das ganze Leben hindurch fortdauern. Vor dem Ichsagen sind dagegen eigenthümliche Hindernisse, so lange das Kind sich nur in den vorübergehenden, gar nicht zusammenhängenden Eindrücken fixirt. Wir müssen also das in Beziehung auf das Selbstbewußtsein auf eine bestimmte Epoche setzen. Damit aber setzen wir es indirekt als eine Epoche des objektiven Bewußtseins. Wenn wir nun aber fragen ist [es] schon früher wo das Aneignen der Sprache überhaupt anfängt oder erst in diesem Moment der eigentlichen Denkthätigkeit, welche von den Bildern gelöst ist, schon in Wirksamkeit getreten? Das Auffassen von Bezeichnungen der Gegenstände involvirt noch nicht Denkthätigkeit an sich, denn die Nahmen sind ein Zeichen für die Bilder und der Anfang ist nur eine solche Übertragung der Bilder auf die Sprache. Sehen wir auf die beiden Hauptelemente der Sprache, das Nomen und Verbum, können wir hier einen andern Unterschied bestimmen, so lange das Conjugiren, durch welches allein Satzbildung entsteht, [nicht] hervortritt [ ] Können wir nun die Satzbildung ansehen als den eigentlichen Beweis von dem Anfang der Denkthätigkeit? Man kann dies nicht bestimmt sagen, wenn man den Begriff nimmt in seinem Unterschied von den allgemeinen Bildern. Es ist hier nichts als nur das bestimmte Bezeichnen von den Zuständen des Gegenstandes und von den Verhältnissen zu dem Moment. Es ist immer noch ein Unterschied, wenn der Satz gebildet wird und ein Kind durch die Sprache unterscheidet einen gegenwärtigen Zustand von der Erinnerung. Es giebt Zeiträume, wo sich Gegenwart und Zukunft noch verwirren in dem Kinde. Auch wenn wir das Kind finden von dem redend, was es thun will, so ist dies durchaus nur ebenfalls das Bild | des Zustands oder der Handlung, welches ihm vorschwebt. Wenn nun das vorkommt was sich wieder als Begriff, nicht als Bild fixiren läßt, so achten wir auf die nicht mehr sinnlichen Prädikate. Wir sehn die ersten Begriffe als die bestimmten Zeichen an. Die Denkthätigkeit fixirt sich erst, wenn ethische Vorstellungen mitgetheilt werden. So wie sich das Sol16 getreten?] getreten. 21 so] So 22 hervortritt] hervortritt ist es folgt ein Spatium von ca. einer halben Zeile Länge, zu ergänzen wohl ist gar keine Combination im Bewußtsein. (vgl. SW III/6, S. 370)

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len z. B. unterscheidet von dem Wollen, das Gute von dem Wohlgefälligen, ist die Denkthätigkeit in dem eigentlichen Sinne entwickelt. Dies ist die erste Wurzel und erst von hier geht es auch auf die Gegenstände. Wenn das Bewußtsein unter der Potenz der Bilder mit den organischen Eindrücken anfing und die Reflexion erst später hervortrat als ins Bewußtsein aufgenommen fängt das eigentliche Bewußtsein mit dem selbst an und geht erst in die eigentlichen Sinne über. Diese [erste] Periode ist in Hinsicht der Entwickelung die reichste; die psychischen Thätigkeiten fangen überhaupt leichter mit [ ] an und also von hier aus, weil sie das Vorhergehende immer in ein verhältnißmäßig dunkeles stellen der Entwickelungsexponent immer als sehr groß erscheint. Diese Periode zerfällt uns wieder in mehrere Abschnitte. Der erste, das Abstrahiren von den Gegensätzen zwischen organischen und psychischen Funktionen, ist ganz in den Organismus versenkt. Die plastische Thätigkeit der Ernährung, Ausbildung ist weit überwiegend. Der Schlaf zeigt auch auf die geringe Entwickelung des Bewußtseins. Das Erwachen geht in der ersten [Periode] allmählig vor sich und wird immer wieder unterbrochen. Diese Zeit schließt sich ab, wo das Kind als Aufnehmendes zu einer gewissen Selbstständigkeit gekommen ist, was die vollendete Zahnbildung anzeigt. Dies ist die Zeit, wo erst die Gegensätze im Gebiete des Psychischen anfangen sich zu entwickeln. Dies gilt auch vom Gegensatz der beiden Formen des Bewußtseins und zwischen Rezeptivität und Spontaneität. Sobald die Sprachentwickelung bis zur sichern Bezeichnung des Selbst gekommen ist, muß man diesen Gegensatz als construirt ansehn; das Selbstbewußtsein unterscheidet sich von dem Gegenständlichen und in demselben entwickelt sich das Bewußtsein von den verschiedenen Eindrücken, welche der Rezeptivität und Spontaneität angehören. Der Zusammenhang zwischen organischen und psychischen Thätigkeiten tritt aber immer noch überwiegend hervor. Das richtige Gleichgewicht zwischen den plastisch organischen Thätigkeiten und den erkennenden ist die eigentliche Gesundheit dieser Periode. So wie eines von beiden aus seinem bestimmten Verhältniß heraustritt ist auch die Entwickelung in Beziehung auf die innerste Lebenseinheit gefährdet. Wir finden hier besonders 2 Abweichungen, ein unverhältnißmäßiges Hervortreten der erkennenden Thätigkeit, verbunden mit körperlicher 9 mit] es folgt ein Spatium für ein Wort, zu ergänzen wohl einem Nullpunkt (vgl. SW III/6, S. 371) 6–7 Vgl. III/6, S. 371: „so fängt die eigentliche Denkthätigkeit mit dem eignen Selbstbewußtsein an und geht erst von da in das allgemeine Gebiet der Außenwelt über.“

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Schwäche, so daß es schwer zu entscheiden ist welches Ursache und Wirkung ist und ein krankhaftes Hervortreten der plastischen Thätigkeit verbunden mit einem Zurücktreten der erkennenden Thätigkeit. Die Abhänigkeit der psychischen Thätigkeit von den organischen Veränderungen zeigt sich auch darin daß so leicht die Entwickelung derselben gehemmt wird und die Kinder auf Veranlassung von einzelner organischer Zerstörung auf derselben stehen bleiben. | Wenn wir dazu nehmen (unsere Beobachtungen darüber sind nicht allgemein) daß die Sterblichkeit in dieser Periode ausnehmend groß ist, so giebt uns das das Bild von einer großen Masse von angelegtem Leben, die nicht zur vollständigen Entwickelung gelangt. Im Ganzen erscheint dies als eine Unverhältnißmäßigkeit zwischen der Produktivität des menschlichen Geschlechts und den äußern Bedingungen des Daseins. In der 2ten Periode [der Kindheit] finden sich die Gegensätze der psychischen Thätigkeit. Schmerz und Lust treten einander scharf gegenüber, aber die subjektive Form des Bewußtseins übt noch ein Übergewicht über die objektive; so wie immer zwar schon das Denken im eigentlichen Sinn hervorgetreten ist, aber die Bilder sind das Dominirende. Das Denken hat sich schon in dieser Zeit befestigt. Der Endpunkt ist die Entwickelung des Geschlechtstriebes, welchen wir als Beginn der 2ten Periode, der Jugend, setzen. Hier erwacht eine ganz neue organische Gewalt und das Verhältniß des Einzelnen zur Gattung tritt mit in das organische, physische Leben ein. Man findet häufig, daß dieser Zeit vorangeht eine Verworrenheit des Bewußtseins in dieser Beziehung, ein Isoliren beider Geschlechter von einander, eine Abneigung derselben gegen einander und ein Faktor, das Bewußtsein der Differenz zwischen den Geschlechtern, liegt also schon in dem Bewußtsein, aber nur unter der Form eines unbestimmten Impulses, der andere Faktor, die positive Entwickelung ist noch nicht eingetreten. Die ganze Entwickelung leidet in dieser Zeit eine Art von Störung, was mit diesem innern Entwickelungsknoten des ganzen Lebens zusammenhängt. Man findet dies sowohl in Beziehung auf die Ausbildung der erkennenden Thätigkeit als auch in Beziehung auf die Willensthätigkeit, welche sich in der Periode der Kindheit nur immer an der Willensthätigkeit der Erwachsenen entwickelt. Die erste Leitung hiezu ist immer die Abhängigkeit des Kindes von der Mutter. Wenn das psychische Leben unter einer andern Form ist, tritt das Bewußtsein von der Abhängigkeit ein, mit der das Kind Alles empfangen muß. Alle psychische Thätigkeit entwickelt sich in der Form der Rezeptivität. Jeder Mensch würde sich die Sprache erfinden, 21 Jugend] doppelt unterstrichen

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wenn sie nicht schon gegeben wäre, aber doch nimmt das Kind indem es in diesem Bestreben ist die Sprache zu entwickeln die Sprache auf von der es umgeben ist und das eine und das andere gehören auf die natürlichste Weise zusammen. Aber eben dies Aufnehmen der Sprache zeigt die Unterordnung des Einzelnen unter das Gesammtleben. Dies ist aber die erste psychische Selbstthätigkeit. Es ist daher die ganz natürliche Richtung. An diesem Ende der Kindheit wo in dem Organismus die Veränderung und Entwickelung der geschlechtlichen Funktionen entsteht, findet man häufig eine Störung in den Verhältnissen und also auch eine Veränderung in dem Verhältniß | des Subjekts zu den schon Entwickelten. Dies ist [mit] einem Zurücktreten der geistigen Thätigkeit selbst verbunden. Auch hier eine Abhängigkeit der psychischen Thätigkeit von der organischen Entwickelung. Sobald die Geschlechtsfunktion entwickelt ist, ist auch die Selbstständigkeit des Einzelnen in psychischer Hinsicht vollkommen. Gehen wir nun zurück auf das über die psychische Geschlechtsdifferenz Gesagte, so kommt diese auch zu ihrer vollkommnen Entwickelung. Mit diesem Entwickelungsknoten muß die ganze psychische Differenz der Geschlechter zugleich entwickelt erscheinen. Das tritt nicht als ein Sprung hervor, sondern mit jedem bestimmten Entwickelungspunkt ist auch immer schon eine Annäherung zu einem vollkommnen Dasein dieser Differenz mit gesetzt. In dem ganzen Leben offenbart sich dies schon in der 2ten Periode, wo zwar der Zweifel eintritt, ob das etwas rein Natürliches ist, oder wie viel Antheil daran die Erziehung hat. Doch würde dies nicht da sein, wenn nicht die Geschlechtsdifferenz [die] auch in dem psychischen Gebiet wirkt, da wäre. Es würde sich da wieder mehr die Neigung manifestiren die Differenz zu überwinden. Wenn wir also das Einzelleben in seiner vollständigen Entwickelung betrachten, so ist das zugleich auch der Anfang von allen leidenschaftlichen Zuständen, die sich freilich auch schon in der letzten Zeit der Kindheit auf eine gewisse Weise manifestiren, aber doch nur in vorübergehenden Momenten. In der Periode der Jugend aber ist das der eigentlich unterscheidende Punkt, was natürlich mit dem vollständigen Persönlichkeitsbewußtsein zusammenhängt. So wie in der Entwickelung der Geschlechtsfunktionen schon die Richtung liegt auf die Bildung eines eignen Bekanntenkreises, tritt ein Bewußtsein der Unabhängigkeit ein, welches sich mit der Verschiedenheit des Charakters auf unabhängige Weise in beiden Geschlechtern manifestirt, in dem weiblichen bestimmt sich das Verhältniß des Einzelnen zu den Einzelnen, in dem männlichen bekommt es diese 2fache [Richtung], das 17 diesem] diesem ganzen

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Verhältniß des Einzelnen zu Einzelnen stellt sich als ein unabhängiges [dar], und das ist die Freiheitsliebe, aber auch die Richtung auf das Gesammtleben auf die entwickelte Thätigkeit, das ist das Gesellige. Es ist offenbar, wenn wir zurückgehen auf das früher Gesagte, auf das Befaßtsein des Einzelnen unter dem Charakter der Volksthümlichkeit, daß dies die vorherrschende Form ist, in welcher das Verhältniß des Einzelnen zum Gesammtleben sich gestaltet. Indem nun aber das Bildliche immer noch das Vorherrschende ist, kommt auf die Entwickelung des Gesammtlebens viel an. Am einfachsten wird sie erscheinen unter dem natürlichen Verhältniß des Politischen und Organischen, das Verhältniß in welchem Volk und Staat dasselbe ist. Sonst ist eine Duplizität der Beziehung, und drängt sich auf als eine von Natur gegebene, und indem ist die ganze Lebensgestaltung eingedrückt. Denken wir uns einen so unvollkommnen | Zustand, einen Gegensatz von feindlich gegen einander gerichteten Funktionen, die gesellige Entwikkelung schließt sich hier zunächst an das kleinste an und hier wirkt der leidenschaftliche Charakter der Jugend überwiegend. Es ist einem Übergewicht des sinnlichen und einer Beschränktheit des Auffassungstriebes der Spontaneität in Beziehung auf das Gesammtleben zuzuschreiben. Nur in außerordentlichen Verhältnissen kann das Entgegengesetzte hervortreten. Sonst ist es immer das Natürliche, daß die Jugend in ihrer geselligen Entwickelung das kleine fortführt und ein innerer politischer Gegensatz wo er ist, sich auf das Leidenschaftlichste gestaltet. Dies ist auch die Periode, in welcher sich alle die verschiedenen Zweige der Rezeptivität und Spontaneität in dem Erkennen und Bilden entwickeln. Es entsteht die Richtung auf die Kunst und die Wissenschaft nach Maaßgabe, wie Beides in die volksthümliche Masse eingedrungen ist oder nicht. Dies ist immer ein Maaßstab, wie diese Richtungen entwickelt sind, wie sie sich der Jugend einbilden. Es entsteht eine Neigung entweder zu einem Verfallen des eben recht hervorgetretenen Einzelwesens in eine Mannigfaltigkeit von einzelnen Richtungen oder ein Wechsel in größern Zeiträumen, welches Beides auf der einen Seite von einer innern Unbestimmtheit der Indifferenz ausgeht, weil der Charakter noch nicht zu einzelnem Bewußtsein gekommen ist und das Verhältniß des Einzelnen zum Gesammtleben noch nicht sich in sich selbst gestaltet hat. Hieraus zeigt sich die Nothwendigkeit das in dieser Richtung begriffene Einzelwesen doch in einem Zustand der Abhängigkeit zu halten, weil die natürliche Ordnung ist auch in dieser Beziehung, daß das Verhältniß zur Gesammtheit, sich zur Rezeptivität zuerst entwickelt, ehe es sich als Spontanei11 Staat] so SW III/6, S. 376; Ms.: Staat nicht Ms.: Verfahren

30 Verfallen] so SW III/6, S. 376;

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tät entwickeln kann, aber es ist immer eine Unvollkommenheit in dem Gesammtleben, die nothwendig mit einer Störung der persönlichen Entwickelung verbunden sein muß, wenn dies Verhältniß des Einzelnen zur Gesammtheit sich nicht auf die äußerliche Weise geltend macht. Denn wo das Eintreten des Einzelnen in das Gesammtleben ganz den Charakter eines unmerklichen Überganges hat, wenn es nicht an irgend einen Punkt bestimmt fixirt wird, muß es auch in dem Bewußtsein etwas Schwankendes bleiben und in dem Einzelnen entweder sich eine Richtung gegen das Gesammtleben manifestirt, oder das Umgekehrte. Das hängt mit der Gestaltung des Gesammtlebens selbst zusammen. Je mehr dies den Typus eines eigentlichen Volkslebens trägt, desto bestimmter wird das Verhältniß der beiden Generationen sich äußerlich fixiren. Und je mehr die Jugend ihre Stellung erkennt um desto gesünder kann die ganze Entwickelung vor sich gehen. Je weniger dies der Fall ist, um desto mehr entwickelt sich eine bloß persönliche Tendenz und das ist die antisoziale Richtung, wo es dem Gesammtleben an einer bestimmten Richtung fehlt. Dies drückt sich in den verschiedenen Verhältnissen der Gesellschaft verschieden aus. | Das Ende dieser Periode ist, daß die Entwickelung der Geschlechtsfunktionen [in] eine [ ] und daß der Einzelne eine Bestimmung trifft in Beziehung auf das Gesammtleben, welche der reine Ausdruck ist der Verhältnisse seiner Persönlichkeit zu der Gesammtheit. Gehen wir aber von hieraus rückwärts finden wir noch Erklärungen, die das vorbereiten. Es wird hier auch wieder eine 2te Hälfte geben, die mehr als Annäherung an das Ende zu betrachten ist. Wenn, was das erste betrifft, nun offenbar für das psychische Verhältniß 2er Menschen eine verschiedene geschlechtliche Rücksicht gewesen ist, müssen wir auf einen Punkt zurückgehen, wo das Geschlechtsverhältniß eine Richtung nimmt auf das Psychische, auf das Suchen und Vergleichen der Gemüther. Eine ähnliche Erscheinung ist auf der andern Seite. Sie ist freilich nur mit Bestimmtheit wahrzunehmen als [es] eine Freiheit des Einzelnen in dem Gesammtleben giebt. In einem Gesammtleben, welches noch durch Kasteneinrichtungen dominirt ist, kann die Freiheit des Einzelnen nicht zu Bewußtsein kommen. Wo in Beziehung der Geschlechterprinzipien ein herrschendes Prinzip der Ungleichheit waltet, ist die Freiheit in einem bestimmten Kreis gebannt; alles Hinausgehn über denselben erscheint als eine Opposition 10 oder] wie 13 Generationen] so SW III/6, S. 377; Ms.: Geschlechter 21 eine] es folgt ein Spatium von einer viertel Zeile Länge, zu ergänzen wohl den eigenen und den äußeren Verhältnissen entsprechende Geschlechtsgemeinschaft ausgeht (vgl. SW III/6, S. 377)

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gegen den Charakter des Gesammtlebens und also als ein krankhafter Zustand. Wenn wir uns denken ein Gesammtleben, welches in dieser Beziehung frei von allen Schranken ist, ist der Zustand gegenüber gestellt einem Ganzen von unendlicher Mannigfaltigkeit. Denken wir uns gar keine Zwischenglieder muß der Fall durchaus eintreten, daß der Einzelne durch dieselbe Mannigfaltigkeit erdrückt wird. Dies ist auch allerdings die eine psychische der Jugend eigenthümliche Krankheit, daß durch das abwechselnde Angezogenwerden bald von dieser bald von jener Seite des Gesammtlebens und durch [Mangel an] Klarheit des Selbstbewußtseins ein festes Urtheil über seine Stellung im Gesammtleben unmöglich wird und wenn dann die Zeit, wo die Lebensbahn fixirt werden soll, vorübergeht, ist gewöhnlich ein ganz zerfahrenes Leben die Folge davon und dies ist das eine unglückliche Ende dieser Lebensperiode. Nun ist aber auch natürlich, daß es hier Zwischenglieder giebt. Es gestaltet sich nämlich so wie in dieser Periode das Bewußtsein des Gesammtlebens zuerst erwacht, auch ein bestimmtes Gesammtbewußtsein in der Beziehung der Geschlechter, das ist das Ehrgefühl, worin ein Streben liegt, das persönliche Gefühl in Übereinstimmung zu setzen mit dem Gesammtgefühl. Wenn sich aber ein abgeschlossenes Gesammtleben unter der Jugend selbst bildet so ist dies völlig verloren für die richtige Lebensleitung und wo eine Opposition sich bildet zwischen der Jugend als Einheit und dem reifen Alter muß eine große Masse von jugendlichen Naturen verloren gehn. Die andere Krankheit in dieser Periode ist analog dem, wovon wir in der Betrachtung der Kindheit geredet haben, dem Versenktsein der Seele in dem Organischen. | Das dominirende Organische ist hier die Geschlechtsfunktion, die man auch hier betrachten muß, sofern die Kraft der Gattung sich entwickelt hat. Das Bewußtsein davon, zu welchem die ganze Persönlichkeit durchdringt wird ein dominirendes Element. Hier besteht das Versenktsein der Seele in dem Organismus eben darin, daß Alles sich auf die Darstellung dieses Kraftgefühls richtet. Es ist immer schon gefährlich, wenn das Selbstbewußtsein sich auf vorzügliche Weise darin gefällt, den Grad von physischer Kraft in dem Einzelnen zu einer vergleichenden Darstellung zu bringen, wenn ein Wetteifer besteht. Hier sind die verschiedenen Richtungen in Beziehung auf das sittliche Gefühl weit von einander getrennt, aber in Beziehung auf die Ge35 besteht] anbesteht 1–2 Zusatz SW III/6, S. 378: „Da aber solche Einrichtungen nicht permanent bleiben können, so erscheinen die Ausnahmen, die zuerst als ein krankhaftes Ueberschreiten der Schranken betrachtet werden, in späterer Zeit als der Anfang einer neuen Periode, was sich darin zuerst zeigt, daß sie im öffentlichen Urtheil anders beurtheilt werden.“

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sammtheit der psychischen Thätigkeiten stehen sie auf einer Stufe. Das reine Versenktsein der Seele in die Geschlechtsfunktion ist nichts als die Wollust, das Dominiren des Geschlechtstriebes. Hier ist wieder ein sehr bedeutender physiologischer Zusammenhang. Es giebt hier sehr begünstigende und auch wieder sehr gefährliche Einwirkungen, die ihrer Natur nach physisch sind. Es giebt eine Lebensweise, welche den Trieb auf übermäßige Weise nutzt. Wo diese dominirt, wird die organische Gewalt so groß, daß sie durchaus die bessern Seelen in Gefahr bringt. Eine andere Lebensweise beschleunigt das Erwachen des Geschlechtstriebes nicht; die gymnastische Thätigkeit, wie sie an und für sich aus dem Bewußtsein der körperlichen Kraft hervorgeht, kann ein kräftiges Gegengewicht werden gegen das Übergewicht des Geschlechtstriebes. Wenn wir uns dagegen eine verweichlichte Jugend denken, und noch dazu eine solche die in je mehr Gemeinschaft steht mit dem verweichlichten reifern Alter, so ist hier in der Lebensweise überall das reizende Element und so hängt das Verhältniß in welchem der Jugend diese gefährliche Zeit entsteht gar sehr von dem Zustand des Gesammtlebens ab. Aber es giebt in dieser Gymnastik selbst wieder einen höchst gefährlichen Mißbrauch, wenn die Virtuosität nicht sowohl in der Spontaneität als in der Rezeptivität gesucht wird. Auch hier giebt es eine natürliche Abstufung auch des Ehrgefühls. Wenn die Jugend sich kräftig zeigt, in der Art, wie sie sich äußern Einflüssen aussetzt, wo die Kraft nur als Widerstand erscheint. Das ist eine ganz gesunde Äußerung wenn sie in Opposition tritt mit einem verweichlichten Leben. Aber es giebt darin eine Überschreitung des Maaßes, wodurch das körperliche Gleichgewicht zerstört wird. Noch viel gefährlicher ist eine verwandte Richtung, die auf den Ernährungstrieb gerichtet ist. Wenn nämlich eine Virtuosität darin gesucht wird, wieviel Widerstand geleistet | werden kann, gegen das Übermaaß von Nahrung. Es entwickelt sich hieraus, daß ein Werth auf diese Widerstandsfähigkeit gelegt wird und eine Selbstzufriedenheit, daß auch eine erkünstelte Fähigkeit entsteht, wo wieder auf eine andere Weise ein Versenktsein der Seele in dem rein Organischen statt findet. Wenn wir von dem Hauptcharakter dieser Periode, nämlich der Entwickelung der Geschlechtsfunktionen und in Verbindung damit dem vollständigen Fixiren der psychischen Geschlechtsdifferenzen zurückgehen, so ist dies die letzte Entwickelung in dem Leben des Einzellebens, indem es rein das Gattungsleben ist, was sich in der Persönlichkeit 30–33 Vgl. SW III/6, S. 381: „denn was daraus entsteht ist eine gefährliche Fertigkeit in dem, was andern bedenklich ist, gleichgültig zu sein, also eine Abstumpfung des sittlichen Gefühls gegen das Uebermaaß, wozu dann noch dies kommt, daß nachher ein Werth auf diese Widerstandsfähigkeit gelegt wird und ein Versenktsein der Seele in das rein organische eintritt.“

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fixirt. Das Selbstbewußtsein entfaltet sich hier in seiner Vollkommenheit. Dies soll zugleich die Gränze sein in Beziehung auf das ganze Leben zwischen dem Übergewicht der Rezeptivität über die Spontaneität welches die Kindheit dominirt und dem Übergewicht der Spontaneität über die Rezeptivität im reifen Lebensalter. Dies ist nicht ein Moment, sondern ein mehr oder weniger diese ganze Periode der Jugend Bezeichnendes. Die Rezeptivität ist immer noch das Hervortretende. Die Spontaneität erst das aus dem maximum sich Entwikkelnde. Es treten noch 2erlei Betrachtungen ein; in der ganzen Periode bis zur Pubertät ist eigentlich das sanguinische Temperament das Vorherrschende. Das persönliche Temperament ist in Jedem von Anfang an angelegt, aber mag [es] sich in dem Einzelnen entwickeln wie es wolle, so ist doch das Sanguinische am meisten hervortretend und aus demselben allgemeinen Kindheitscharakter entwickelt sich erst das persönliche Temperament wirklich. Das organische Zeichen des Temperaments ist die rasche Cirkulation des Bluts in kleinen Bewegungen und dies ist ein Typus, den wir für dieses Temperament gesetzt haben. Die psychischen Thätigkeiten müssen erst aufnehmen durch Imitation aus der menschlichen Welt und durch Wahrnehmung aus der äußern Welt ehe sie zur Wirksamkeit gelangen. Es mag paradox klingen, aber ist doch wahr, daß das charakteristische Temperament der Jugend das melancholische sei. Es ist eine einseitige Ansicht, wenn man sich denkt, der Trübsinn sei vorherrschend hierin, vielmehr die Herrschaft der Stimmung in einer größern Masse von Bewegungen; ob die heitere oder die trübe die vorherrschende ist, hängt von etwas für unsere Betrachtung rein Äußerlichem ab. Wie eben das, daß die Jugend dem Einfluß der Stimmungen unterworfen ist, welche einen Einfluß über große Massen ausüben, ist etwas in der Natur der Sache Liegendes. Daß das Vorherrschen in der Jugend noch nicht sein kann. Die Richtung der Spontaneität kommt daher, weil diese noch in der Entwickelung begriffen ist. Aber daß das Entwickeln der Spontaneität als Reaktion mehr von herrschenden | Stimmungen abhängt als von einzelnen Eindrücken ist das Charakteristische. Wo die Reaktion von momentanen Eindrücken abhängt ist ein krankhafter Zustand der Zerstreuung, der die vollkommne Entwickelung der Spontaneität unmöglich macht. Die 2te Betrachtung ist diese. Wenn wir uns denken das vollständige 3 über] zwischen 29–31 Vgl. SW III/6, S. 382: „daß dagegen die Spontaneität nicht überwiegen kann, liegt darin, daß sie erst in der Entwikklung begriffen ist und ihren eigentlichen Gegenstand noch nicht ergriffen hat.“

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Lebensbewußtsein und die sich entwickelnde Spontaneität als Reaktion, so ist das erste was von einem erfüllten Selbstbewußtsein als Reaktion sich ergiebt die Darstellung. Diese nimmt der Natur der Sache nach einen bedeutenden Raum ein, welches hernach wieder zurücktreten muß. Die Rücksicht auf die Darstellung der Persönlichkeit ist etwas der Jugend ganz Natürliches und wo dies fehlt ist das Lebensbewußtsein nicht so stark als es eigentlich sein sollte oder eine Antizipation einer spätern Lebensperiode hat die Jugend verschlungen. Dies gestaltet sich in dem weiblichen Geschlecht als Darstellung des Ebenmaaßes, der Anmuth und der Schönheit, in dem männlichen als Darstellung der Kraft und Beweglichkeit. Verwechselt sich [der Typus] der Geschlechter in dieser Beziehung so nennen wir dies in der männlichen Jugend das Weibische und daraus ist ein krankhafter Zustand. Aber nur so wie diese leibliche Selbstdarstellung schon unter den Typus der Kunst fällt, finden wir auch dasselbe in Bezug auf die größere Rezeptivität. Es ist offenbar daß nun auch die Lebensbilder, die Bilder von allen menschlichen Verhältnissen müssen entwickelt sein und es ist dies eine nothwendige Bedingung wenn nachher ein kräftiges, selbstthätiges Leben entstehen soll. Hier finden wir die Darstellung noch bestimmter auf dem Gebiet der Kunst und es ist etwas der Jugend Eigenthümliches diese Richtung auf die Kunst. Wenn keins von beiden zu einer gewissen Entwickelung kommt, hängt dies nun gar zu leicht damit zusammen, daß die Selbstdarstellung sehr vorherrscht, oder daß schon zu viel Antheil an dem thätigen Leben, besonders an mechanischer Thätigkeit, der Jugend aufgedrungen ist. Nun aber ist es auf der andern Seite eben so gefährlich, wenn diese Richtung verkannt wird, wenn statt sie als eine allgemeine Jugendrichtung aufzufassen, man sie ansieht als einen persönlichen Beruf. Und dies ist eine Gefahr, der viele unterliegen, daß sie sich über ihren Beruf täuschen, aus der leicht eine Abneigung gegen alle verschiedenen Zweige des thätigen Lebens entsteht. Diese Richtung hat ihre Quelle wieder in der Eitelkeit. Es ist natürlich, daß die Abtheilung, indem sie nur auf ganz bestimmte Entwickelungspunkte geht, wobei zum Theil das Physiologische mit in Betracht gezogen wird, nun keine bestimmten gleichzeitigen Momente auffinden könne. | Es kommt nur darauf an, sondernde und leitende Ideen innerhalb des zeitlichen Verlaufs aufzustellen. Die Periode des reifern Alters haben wir festgestellt in der Beziehung auf das Gesammtleben und das Gattungsleben, das Knüpfen des ehelichen Bandes und die Feststellung des Berufs. Es giebt in einer solchen Entwickelung des Gesammtlebens wie jetzt in unsern Europäischen Völkern, eine Möglichkeit 23 Selbstdarstellung] Selbstdarstellung,

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sich ohne einen bestimmten Antheil an der Gesammtthätigkeit die sich auf den Naturprozeß bezieht, durch das ganze Leben hindurch zu finden. Wenn wir aber eine Neigung dazu annehmen, so ist diese wesentlich mangelhaft. Nämlich das Gesammtbewußtsein tritt in seinen relativen Gegensatz gegen das Persönliche nicht ganz heraus. Es giebt nun in der Masse eine ganz ähnliche Psychologie, daß die ganze Berufsthätigkeit, die dem Wesen nach ihre Beziehung hat auf den bürgerlichen Verein, doch nur wieder in Beziehung auf das Familienleben bezogen wird. D. h. die bestimmte Thätigkeit in dem bürgerlichen Leben wird nicht als Beruf sondern nur als Erwerbszweig behandelt. Der Unterschied ist hier ein bloß innerlicher; in der äußern Entwickelung wird es in den meisten Fällen nicht zu unterscheiden sein, ob eine Beziehung auf das Gesammtleben genommen [wird] oder nicht. Das ganze psychologische Faktum ist aber ein ganz anderes. In dem andern Falle tritt es stärker heraus. Beides ist sich ganz gleich, vermengt aber doch unter einander und steht in einem bestimmten Verhältniß. Denn wenn sich in den höhern Ständen die Neigung entwikkelt ohne bestimmten Beruf ein bloß genießendes Leben zu führen, so entsteht in der Masse die Meinung, daß Jene das Berufsleben für eine Last ansehen. Ebenso aber auch, je stärker nun Jenen aus der Masse entgegentritt, daß Jeder nur sein Berufsleben als eine Sache der Noth betrachtet; desto mehr muß die Neigung entstehn, sich ihm zu entziehen. Der Gesammtzustand ist in beiden Fällen ein Mangel an Entwikkelung des Selbstbewußtseins in der Spontaneität. Wir finden ganz analoge Erscheinungen, aber es kommt etwas Eigenthümliches hinzu, nämlich wir finden häufig schon von den Alten ausgesprochen als eine vielfältig vorherrschende Meinung, daß die Bildung des häuslichen Lebens nur als eine Last die um des Gemeinwesens willen aufgenommen wird angesehen wird. Die Auffassung dieses Gesichtspunktes ist in einem ähnlichen Motiv gegründet wie das Vorige. Es wird sich dies zeigen in der Abneigung ein häusliches Leben zu stiften, wenn nicht besondere Verhältnisse dazu drängen also wieder um eines Andern willen. Es zeigt sich hier diese Abweichung mehr in den höhern Ständen, aber doch auch wiederum ist das Ähnliche in der Masse, nämlich wenn der Beruf nur betrachtet wird als Erwebszweig[,] wird auch von Vielen die Stiftung des häuslichen | Lebens durch die Ehe auch auf den Erwerb bezogen. Betrachten wir dies als einen Gesammtzustand unter gewissen Verhältnissen, so ist es eine Abweichung von der natürlichen Entwickelung. Der Grund und Sitz davon liegt in einem Geschlechtsbewußtsein entweder in einer mangelhaften oder krankhaften Entwickelung desselben. Das reine Geschlechtsverhältniß insofern 26–29 Vgl. Platon: Nomoi: 773b; Opera 8,293–294; Werke 8,1,398–401

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es ebenso sehr ein geistiges als organisches sein soll kann zu seiner Entwickelung nicht gelangen, wenn die Seele in der Jugend überwiegend in dem Organischen versenkt gewesen ist. Das geistige Element geht dabei nothwendig verloren. In allen Ausschreitungen des Geschlechtstriebes liegt der Grund zu Verkrüppelung auf die Richtung der Bildung des häuslichen Lebens. Aber es giebt hier auch noch einen allgemeinen Grund, das Verhältniß der Entwickelung überhaupt in den beiden Geschlechtern. Wir haben im Allgemeinen schon dazu aufmerksam gemacht, wie wir auch hier in der Entwickelung der beiden Geschlechter den Gegensatz finden, der sich überall geltend macht, daß die Entwickelung unter der Form der Gleichheit oder Ungleichheit vor sich gehe. Ein ganz anderes Verhältniß muß sich gestalten, wenn sie sich in ihrer Entwickelung in einem gewissen Verhältniß parallel bleiben. In jedem Gesammtleben bildet sich ein gewisses Gefühl dafür, was für eine Thätigkeit in dem gemeinsamen Leben und was für [ein] Typus sich auf das eine oder andere Geschlecht bezieht; es bildet sich eine gewisse Geschlechtssitte. Aber wir finden dies sehr verschieden und [es] erscheint als etwas Fremdartiges, wenn die Verhältnisse sich anders gestaltet haben. Es ist, wo sich eine solche Ungleichheit entwickelt das Natürliche, daß das weibliche Geschlecht in ein Verhältniß der Unterordnung tritt und nun in einem solchen sich entwickelt. Es giebt aber auch dazu ein Umgekehrtes, was sich im Einzelnen wie im Ganzen findet, aber auf sehr ungleiche Weise beurtheilt wird. Das ist daß im Gegensatz gegen jenes sich auch in der Gesellschaft ein Übergewicht des weiblichen Geschlechts entwickelt und bis zu gewissem Grad ausschließlich eine Entwickelung der männlichen Thätigkeit auf die öffentliche Meinung des weiblichen Geschlechts. Wenn sich nämlich das Geschlechtsleben in der männlichen Jugend auf naturgemäße Weise entwickelt, muß es sich auch ursprünglich als Verhältniß des Geschlechts zum Geschlecht manifestiren, ist aber dann eins mit dem persönlichen Selbstbewußtsein der Geschlechter. Darin liegt schon die Richtung auf die Verbindung mit einem Individuum des andern Geschlechts zu einem festen gemeinsamen Leben. Wenn wir aber dies letztere als den Endpunkt ins Auge fassen, das andere als den andern, so wird das eine aus dem andern. Das weibliche Geschlecht erscheint aber nie als Gesammtheit wie das männliche. Es ist hier der Punkt, wo sich auch jene krankhafte Erscheinung anknüpft. Wenn hier gleich die Richtung auf die Befriedigung des Geschlechtstriebes genommen wird, entsteht die wollüstige Zerstreuung. | Setzen wir aber dieses das Naturgemäße erst an das Ende, so ist es nur die Neigung zur Annäherung. Der eigenthümliche Charakter 40 dieses] diesen

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liegt also in diesem Übergange. Wenn der Anfang desselben ist, daß sich die Geschlechter bewußt werden und das Ende das Knüpfen eines solchen Lebensbandes, so ist das Geschäft der Jugend durch eine solche Reihe von Annäherungen hindurch zu einem solchen Ende zu gelangen. Die Beschäftigung mit dem andern Geschlecht hat einen nicht unbedeutenden Theil mit der Lebensentwickelung und der Lebenszeit. Wenn man das in seinem richtigen Verhältniß betrachtet stellt sich der Einzelne dem Einzelnen gegenüber als der Repräsentant seines Geschlechts gegenüber und sucht sein Geschlecht bei dem andern geltend zu machen. Dies ist Galanterie im guten Sinne des Worts, das Bestreben den Geschlechtscharakter so in sich darzustellen, daß er bei dem andern Geschlecht sich geltend macht. Dasselbe in dem weiblichen Geschlecht ist die Coketterie, die reine Beziehung auf das andere Geschlecht in der Selbstdarstellung. Es kann also jedes Verhältniß annehmen je nachdem der Charakter der Gleichheit oder Ungleichheit in der Geschlechtsentwickelung vorherrscht. Die Beziehung auf das andere Geschlecht muß auf eine geistige Weise sich zeigen, je nachdem das Verhältniß sich gleich stelle. Denken wir eine Richtung auf die Stiftung eines ehelichen Lebens als ein so wichtiges Ziel der Jugend vorschreitend als die Bestimmung der Berufsthätigkeit liegt in dem sich selbst geltend machen bei dem andern Geschlecht dem weiblichen Geschlecht zu erkennen zu geben, wie groß der Einfluß des weiblichen Geschlechts auf den Einzelnen und das Gesammtleben [ist]. Dies hat sich in keiner Lebensform stärker entwickelt als im Ritterthum. Dies also kann eben deßwegen eine in der Volksbildung nur vorübergehende Erscheinung sein. Die Unterordnung des weiblichen Geschlechts unter das männliche selbst unter den härtesten Formen, ist immer da, wo auch in den bürgerlichen Verhältnissen das Prinzip der Ungleichheit auf hervorragende Weise dominirt. Diese Ungleichheit beider Geschlechter in ihrer Existenz hängt auch mit der langsamen Entwickelung zusammen. Diese Ungleichheit hat immer ihren Grund in der Differenz der körperlichen Kräfte, aber es liegt dabei immer ein Zurücktreten des Gesammtbewußtseins zu Grunde und ein solch überwiegendes Versenktsein ist immer das Zeichen eines geringern Entwickelungszustands oder Fähigkeit. Aber ein 2tes ist die in so vielen Völkern sich findende Vorstellung von einer überwiegenden Heiligkeit der Entfernung von dem Geschlechtsverhältniß. Dies ist etwas Naturwidriges. Denn da ein Bestehen des menschlichen Geschlechts auf einer Geschlechtsgemeinschaft beruht, der Einzelne sich in jedem natürlichen Zustand der Gattung unterordnet, erscheint es naturwidrig das als eine Verringerung des persönlichen Werthes anzusehen. Ein Naturwidriges ist aber nie allein. Wo sich diese Stimmung in der |

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Masse entwickelt ist sie eine religiöse. Aber wir können sie nie anders anschauen als daß sie eine krankhafte Entwickelung des Religiösen ist. Es ist das Naturwidrige hier immer von dem Mittelpunkt des ganzen geistigen Seins hervorgetreten. Es ist aber dies auch nur möglich bei einer naturwidrigen Entwickelung des Geschlechtsverhältnisses selbst und auf eine solche kann jenes bezogen werden. Es ist die natürliche Weise der Betrachtung von dem Anfangs- und Endpunkt [dieser Periode] auszugehen. Wenn das häusliche Leben und der Antheil an dem Gesammtleben bestimmt ist, von welchem Punkt aus eine sehr große Entwickelung statt findet nach Maaßgabe des Zustands der Gesammtheit, halten wir doch die beiden Punkte fest, von welchen die Fortentwickelung ausgehen muß. Man hat sich hier oft gesagt, daß die Kinder erst die Erziehung des Menschen vollenden. Es liegt ein Einfluß auf der einen Seite auf der Regelmäßigkeit des häuslichen Lebens und auf der daraus erwachsenden Jugend. In dem weiblichen Geschlecht entwickelt sich in dem Leben mit den Kindern die unmittelbare Anschauung des Individuellen zu ihrer höchsten Vollkommenheit. Sie können immer die genaueste Rechenschaft ablegen von dem Zustand des kindlichen Gemüths. Dies ist aber auch zugleich die Art wie das weibliche Geschlecht sich selbst auffaßt. Der Einfluß von Grundsätzen ist überhaupt bei vielen nicht so groß, bei dem weiblichen Geschlecht noch geringer. Der Mann hat vorzüglich auch im häuslichen Leben das Gesetz aufrecht zu erhalten, die innerliche Beziehung des häuslichen Lebens als des eigentlichen einzelnen in dem häuslichen Verein. Mit dem letztern, so ist das auch das konstante Bewußtsein, wodurch das ganze Dasein geleitet wird und das Übergewicht von diesem über alle zerstreuenden Motive [zusammengefasst]. Dies ist das natürliche Hinaufsteigen zu dem höchsten Punkt des einzelnen Lebens. Es ist natürlich, daß eine große Differenz hier statt findet in Beziehung auf die Lage des Einzelnen und den Zustand der Gesammtheit. Es sind in der Masse die Differenzen weit weniger als in denjenigen Stufen der Gesellschaft, oder in derjenigen Gesellschaft wo eine mannigfaltigere Entwickelung statt findet und indem der Entwickelungsexponent größer ist auch das Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen weit mannigfaltiger sein kann. Je mehr auf der niedrigen Stufe Beides aus einander tritt, um desto mehr kann man, weil auf der bewußten Übereinstimmung dieser Werth des Einzelnen beruht [diesen Werth bestimmen]. In dem Befolgen des allgemeinen Ganzen erscheint 1–3 Zusatz SW III/6, S. 389–390: „indem sich darin ein Gegensaz fixirt, den wir gleich a priori als falsch ansehen müssen, zwischen dem Verhältniß des einzelnen zum absoluten Sein und dem Verhältniß des einzelnen zur Gattung; denn sonst wäre es unmöglich, daß die Realisation | des Verhältnisses des einzelnen zur Gattung angesehen werden könnte als eine Störung des Verhältnisses des einzelnen zum absoluten Sein.“

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das sehr oft als ein bloß mechanisches, was auf einer höhern Entwikkelungsstufe die höchste Äußerung der bewußten Freiheit ist. Ebenso erscheint das Hinausgehen aus der Bahn des Lebens auf niedriger Stufe mehr von mechanischen Einflüssen abhängig, durch Nachahmung oder Reiz, wo bei einem großen Spielraum der Entwickelung diese Abnormitäten das größte Räthsel sind. Dies giebt uns Veranlassung, hier über den Zusammenhang der einzelnen Lebensmomente etwas zu sagen. Wenn wir Alles bisher Gesagte zusammenfassen ist es nicht schwer, daß wir alles Einzelne in dem einzelnen Leben selbst auch | aus diesem allgemeinen Zusammenhange begreifen. Etwas Anderes ist es den Zusammenhang des Einzelnen, wie es die Zeit erfüllt, ebenso zu begreifen. Jene Aufgabe des Begreifens des Einzelnen führt uns immer nur zurück auf die aufgestellten wesentlichen Funktionen. Betrachten wir aber das Leben in seinem zeitlichen Verlauf, gerade wo es in dem maximum seiner Kraft steht, und von dem männlichen Leben erwarten wir die größte Stärke des Charakters, den vollkommnen Einfluß der Einsicht. Jeder Tag bildet eigentlich für Jeden ein solches Räthsel, wenn nun bald die psychischen Thätigkeiten rascher, kräftiger, richtiger vor sich gehn, bald sie schlaffer erscheinen, bald eine größere Gewalt der allgemeinen Impulse, bald ein Einfluß der bloß durchgehenden Vorstellungen, bald ein sinnlicher Reiz überwiegen, bald mit großer Leichtigkeit überwunden wird, dies zu begreifen scheint unmöglich. So wie man von der Voraussetzung ausgeht, daß das psychische Vermögen in allen psychischen Seelen ursprünglich gleich ist, so entsteht die Aufgabe, alle diese zu reduziren auf ein Produkt, wozu man die verschiedenen Faktoren sieht, woraus es zusammengesetzt ist. Die mathematische Psychologie hat ebenso wie wir den Anfangspunkt der Untersuchung auf einem Anfangspunkt in den Resultaten, denn wenn wir einzelne Momente mit einander vergleichen fassen wir sie zusammen in mathematischen Ausdrücken. So wie man diesen Endpunkt mit der ursprünglich vollkommnen Gleichheit zusammenstellt, entsteht die Aufgabe die Glieder zwischen dem Anfangspunkt und dem Resultat als Größen darzustellen und dann wird immer wieder das, vermittelst dessen der eine Moment aus einem andern entstanden ist etwas von Außen gekommenes sein müssen. Aber diese Voraussetzung hat keine Haltung in dem, was uns unmittelbar gegeben ist. Die Subsummtion des Einzelnen unter den Charakter der Volksthümlichkeit schließt eine Differenz in sich mit zu einem andern 26–27 Zusatz SW III/6, S. 392: „Denn wenn das psychische Vermögen in allen gleich ist, so muß die Verschiedenheit aus dem entstehen, was von außen aufgenommen wird in den verschiedensten Formen und im Zusammenhange mit dem innern und da kann man sich vorstellen, daß sich das alles auf einen Calculus müsse zurükkführen lassen.“

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Angehörenden. Dies führt uns zurück auf eine Quelle der Ungleichheit. Gehen wir von hier aus müssen wir sagen, daß der Grund der Differenz zwischen 2 Momenten immer zugleich ein innerlicher sein wird. Wenn wir 2 Individuen in demselben Moment denselben Einflüssen aussetzen wird das Resultat in Beiden ein verschiedenes sein. Diese Verschiedenheit hat aber nicht darin ihren Grund, daß dem Einen schon anderes Äußerliches eingebildet ist, sondern weil jeder eine andere Art hat das von Außen kommende zu verarbeiten. Das Leben fängt an auf eine Weise, in welcher es noch gar kein Continuum für die Erinnerung darbiethet, es ist selbst wieder eine zum Theil von organischen Zuständen abhängige Differenz, daß der eine fester mit seiner Erinnerung in eine große Vergangenheit zurückgehen kann. Aber auch wo dies schwächer ist, wird der sich selbst zum Gegenstand macht, einer Identität bewußt sein, in jedem spätern Alter mit dem frühern. Die eigenthümliche Lebenseinheit kann nie auf eine Formel zurückgebracht werden | und widersetzt sich daher dem mathematischen Verfahren. Wenn wir nun aber bedenken, in welche Unendlichkeit sich das mathematische Verfahren verlieren muß, so liegt schon darin ein hinreichender Grund, es bei Seite zu legen, denn ein aus einer unendlichen Menge von Gliedern bestehendes Resultat ist keines. Dagegen giebt es eine andere Erscheinung nämlich die daß bei einem gewissen genauern Zusammenhang des Einzelwesens [mit der Gesammtheit] es sehr leicht ist von einem Andern voraus zu wissen, wie sich in einem bestimmten Moment seine innere Lebenseinheit entwickelt. Dies erfolgt aber nicht auf dem Wege des Kalküls sondern ist etwas Divinatorisches. Denn dies Vorbilden von dem nächsten Moment eines Andern ist ebenso eigentlich ein Werk der Berechnung in der Entwickelung eines eignen Lebensmoments aus einem frühern. Wenn wir dies bis auf einen gewissen Grad verallgemeinern führt es uns auf eine Voraussetzung, die jener der mathematischen Psychologie auf eine gewisse Weise verwand ist, nämlich in einem Individuum sind in einem gewissen Sinne alle Andern gegeben. Man kann nun sagen, da die Totalität dieselbe ist, ist jeder Einzelne derselbe. Es ist aber nicht in demselben Verhältniß, daß in Jedem Alle gegeben sind. Es wird gewiß sehr Viele in Frankreich gegeben haben, die mit der größten Bestimmtheit in sich haben vorbilden können, wie sich das gemeinsame Leben in solcher Krisis habe entwickeln können. Diese Sicherheit ist nichts Anderes, als das Resultat von dieser Verwandschaft und darin liegt aber, daß Jedem ein allgemeines Bild vorschwebt, von der Art wie sich der Einzelne gegen das Gesammtleben stelle. Aber sie können nicht ebenso uns sagen, was unter ähnlichen Umständen bei einem andern Volk sich ergiebt. In dem Zuge, der sich überall bei einem gewissen Entwickelungsgrad findet, in Berührung mit andern

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Völkern zu treten, liegt die Richtung, auch dieses Lebens aus sich selbst entwickeln zu wollen. Diese Voraussetzung ist sehr anwendbar im Großen, denn in demselben Maaße als sich mir die Lebenseinheit eines Einzelnen nur als lebendiges Mitgefühl einbildet, in dem Maaße bin ich im Stande die Entwickelung des nächsten vorzubilden. In demselben Maaße als Einer seine Lebenseinheit im Gefühl aufgefaßt hat, ist er im Stande seine eignen Momente vorzubilden. Alles Bilden von Zweckbegriffen wo das ganze Leben in dieser Periode des reifen Alters eine Reihe von solchen sein soll ist nichts als ein Vorbilden künftiger Momente. Dies geht allerdings nur von der innern Lebenseinheit aus. Nun finden wir eine doppelte Differenz. In dem Einen ist das Bilden eines Zweckbegriffs eine regelmäßige Operation, von welcher das Ganze des Lebens ausgeht, in dem Andern etwas ganz Fehlendes. Die andere Differenz ist, in dem einen ist ein konstanter Zusammenhang zwischen dem Bilden von Zweckbegriffen und dem Resultat[,] in einem Andern etwas ganz Unbestimmtes. Diese Differenzen sind die Formel für die Verschiedenheiten | in dieser Periode des Lebens. Denn schon wenn wir auf die Geschlechtsdifferenz sehn, so ist das Bilden des Begriffs etwas viel regelmäßigeres in dem männlichen als in dem weiblichen. Der Grund von allen Differenzen läßt sich darauf zurückführen, worin dann schon ein Anderes mit [ein]geschlossen liegt, nämlich der Umfang in Beziehung auf die Gesammtheit der menschlichen Thätigkeit, in welchem sich die Zweckbegriffe des Einzelnen bewegen. Wenn wir von der festen Position des Einzelnen ausgehen, so giebt es von da an eine regelmäßige Entfaltung seiner Thätigkeit. Aber doch sind die Einzelnen hier sehr verschieden, indem der Eine mit seiner Zweckbegriffbildung aus dem bestimmten Kreise nicht heraustritt, die andern einer freien Entwickelung der Thätigkeit auch außerhalb dieser Gränzen sich hingeben. Je mehr es in einem Gesammtleben von dieser letzten Art giebt desto stärker ist seine Entwickelung. Je mehr Zweckbegriffe in diesem weitern Sinne in dem Leben des Einzelnen, um desto größer ist der Einfluß der erkennenden Thätigkeit. Je weniger solche in dem Leben vorkommen, um desto mehr ist der Einzelne zerstreuenden Impulsen unterworfen und das verringert den allgemeinen Gehalt des Einzellebens am meisten. So wir nun sahen, daß der Charakter der Jugend war sich allen Impulsen zu öffnen, weil es ein Übergewicht der Rezeptivität war, so wird [dies] in dieser [ersten] Periode des männlichen Alters am häufigsten vorkommen, aber soll unterworfen werden durch den Einfluß dieser festen Punkte. Das sich 10 Zusatz SW III/6, S. 395: „und es giebt keine sichere Art sie zur Anschauung zu bringen, als wenn wir alle Zwekkbegriffe und Conceptionen von Handlungen mit ihren Resultaten in ihrer natürlichen Folge beisammen hätten.“

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Orientiren in diesen beiden[, Ehe und Beruf,] ist das Prinzip [der Unterwerfung] aller zerstreuenden Motive unter diese konstanten; aber darin stellt [sich] das Verhältniß der Zweckbegriffe zu den Resultaten der Stärke und Willenskraft dar. Daß der Impuls derselbe bleibt bis das Resultat erreicht ist, daß die Wirksamkeit desselben wohl unterbrochen werden kann, aber nicht aufgehoben wird, bis er zu seinem Resultat gelangt, ist die Stärke der Willenskraft. Will man berechnen, wie diese zu einer größern oder geringern Willenskraft, zu einer größern oder geringern Denkthätigkeit gelangt, wird man immer irren. Aber es ist ein Verhältniß zwischen der Entwickelung des Einzelnen und der Gesammtheit und diese sind unter einander bedingt, nach dem Maaß wie Einzelne in dem Verhältniß zu einander stehn. Aber das mathematische Bestreben dabei muß das ganz Untergeordnete sein. |

14 sein.] An dieser Stelle endet die Nachschrift. Es folgen noch etwa vier Vorlesungsstunden, vgl. SW III/6, S. 397–405.

Die Vorlesung im Wintersemester 1833/34 Berliner Nachschrift

Anfang der Vorlesung im Winter 1833/34. Anonyme Nachschrift, Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Signatur Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 3, Mappe 20, Bl. 1r

Schleiermacher. Psychologie.

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Nehmen wir den Ausdruck Seelenlehre, so ist die einleitende Erklärung eine Analyse dieses Ausdrucks; es fragt sich, was wir unter Seele verstehn und unter Lehre. Gesetzt unter Seele verstehen wir dasselbe; so unterschied man doch schon früher in der Deutschen Philosophie eine empirische und rationale Lehre der Seele, erstere nach der Erfahrung, letztere a priori. Unter Seele verstand man nicht immer dasselbe, und die empirische Seelenlehre war oft nur eine Sammlung von Anecdoten aus der Seelenlehre; die rationale SeelenLehre aber führte meistens in Verlegenheit. Genau genommen sollte der Inhalt aller Erfahrung voran gehen; nun liegt etwas allerdings allen Vorstellungen zum Grunde, das Ich; ohne dieses Subject kann ja nichts über diesen Gegenstand ausgesagt werden, soll nun an dieses alles angehängt werden, so ist dies das Allereinfachste, eine Lehre aber kann doch nicht am Einfachsten hängen bleiben, sondern es muß noch etwas dazu kommen, über das die Lehre sich verbreitet. So erschlich sich die rationale SeelenLehre immer Lehrsätze oder Hypothesen aus der Erfahrung. In unserer Zeit ist dieser Gegensatz mehr verschwunden, aber soll dies ein zusammenhängender Complex seyn, so fragt sich: Was für einen Platz soll diese SeelenLehre einnehmen im Verhältniß zu allen andern Wissenschaften? Diese Frage muß allen Disciplinen voran gehen, aber meistens ist dies viel leichter[;] z. B. die Alten theilten in Logik, Physic und Ethik, und alles andre reihte sich leicht an. Aber hier ist das das Schwierige, daß alles Wissen aus der Seele hervor geht, und so kann die SeelenLehre 2 verschiedene Plätze einnehmen. Gehen wir von der Eintheilung der Alten aus, und sagen: eine Disciplin stellt die Gesetze des Denkens auf, so ist dies nur Eine Function der Seele, und die Seelenlehre muß eigentlich vorausgehen. Die Ethik ferner geht aus von der Vollkommenheit der Seele, und der Begriff der Seele wird dabey voraus gesetzt. Endlich wie kommen wir zum ersten Begriff 1 Schleiermacher.] am Rand 6–8 Vgl. Wolff (1728), insbesondere S. 51 23–24 Vgl. Diogenes Laertius (1761), Bd. 1, S. 10–11; (1692), 1,17–18; Vitae philosophorum 1,13–14

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einer Natur? nur durch Thätigkeiten der Seele, aber geben alle Seelenthätigkeiten dazu einen Beytrag? Nein, also muß auch hier unterschieden und abgegrenzt werden, und somit wird die SeelenLehre auch wieder voraus gesetzt. – Auf der andern Seite wenn wir alles Wissen in eine Ordnung gebracht haben, so ist die Seele erst in ihrer Vollständigkeit, wenn dieses alles in ihr ist, und es muß das Verhältnis des Wissens und Seyns in der Seele erst eingesehen werden, und somit gehörte die Seelenlehre ans Ende, und erst wenn alles andre da und geordnet ist, ist diese möglich. Wie stellen wir uns gegen diese Duplicität? Wollten wir nach letztrem verfahren, so müßten wir alles Wissen in bestimmter Ordnung voraus setzen. | Allein wir gehen nach dem erstern. Was sich als Lehre der Seele aufstellen läßt, als dem Bestreben des Wissens vorangehend, ohne Voraussetzung von etwas Philosophischem das wollen wir geben. Dieß ist schwierig für jeden einzelnen Punct. Es ist nicht anders möglich als von den Thatsachen des Bewußtseyns mit bekannten Ausdrücken zu sprechen aber diese haben nicht bey Allen gleichen Werth, und dieß sollte doch nothwendig seyn. Dieß ist schon der Fall bey den meisten Ausdrücken des gewöhnlichen Lebens, hier aber im Philosophischen Gebiethe noch viel mehr. Es fällt hier sehr schwer, Ausdruck von allgemein anerkannterem Werthe aufzufinden; alle unsre Ausdrücke müssen einen philosophischen Stempel haben; setzt man nun das Philosophische voraus, so muß man die philosophische Bedeutung der Wörter beybehalten. Setzt man das Philosophische aber nicht voraus, sondern nimmt die Ausdrücke aus dem Leben, so muß man sie erst definiren; Dieß muß aber auch mit Worten geschehen, und so gehen wir im Kreise herum, doch durch Aufklärung des Bewußtseyns wird die Differenz gehoben werden können. Unter dem Ausdruck Seele verstehen nicht alle dasselbe und die Schranken stehen nicht fest. Im Leben sind immer Leib und Seele zusammengehörige Ausdrücke, Leib ist immer in Bezug auf Seele, denn sonst sagen wir Körper, Materie etc. Eben so ist Seele immer mit Leib verbunden; wie es auf der Seite des Leibes erste Aufgabe wäre, ihn gegen Körper etc. abzugrenzen, so müssen wir mit dem Ausdruck Seele abgrenzen gegen andres ähnliche, was zwar nicht vorhanden ist, aber was wir uns doch denken können, also eine Seele abgesehen von dem Leibe. Doch auch diese Trennung vom Leibe geht nicht an. Drükken wir uns aus über die Erde als Wohnort der Körper und auch der Seelen, so nennen wir sie einen Weltkörper ohne Seele, die Alten aber nahmen auch eine Weltseele an, und mußten sie also Leib nennen, 39–40 Vgl. Platon: Timaios, insbesondere 30a–37c; Opera 9,305–317; Werke 7,37– 53; Nomoi 896e–899d; Opera 9,90–97; Werke 8,2,298–311

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und hier müßte erst untersucht werden, wer Recht habe. Abgesehen vom Organischen und Unorganischen, wie weit geht die Geltung des Ausdrucks Seele? Wir denken zunächst dabey an den Menschen, aber auch den Thieren schreiben wir eine Seele zu, und damit entsteht schon eine Schwierigkeit für das Ganze. Zu sagen, es verstehe sich, daß man nur menschliche SeelenLehre meine, ist willkürlich; schreiben wir aber auch den Thieren eine Seele zu, so geht in ihnen etwas Ähnliches vor wie in den Menschen. Nun kann man entweder sagen: es sind gewisse Vorkommenheiten, die Thiere und Menschen gemein haben, nun aber kommt bey der menschlichen Seele noch anderes hinzu, und so wird sie eine menschliche Seele, oder aber man sagt: Unter den Vorkommenheiten in der thierischen Seele ist nichts ganz gleich wie in der menschlichen; es ist nur eine Ähnlichkeit, und in allen fixirten Momenten ist bey einander was der Mensch mit dem Thier gemein hat, und was er für sich hat. Beydes führt zu ganz verschiedenen Resultaten, und die Differenz müßte durch die Ganze SeelenLehre hindurch gehen bey diesen verschiedenen Verfahrungsarten. Wir haben nun aber zu einer solchen Abgrenzung kein Recht, denn | diese müßte in der Physic geschehen, die wir also voraus setzen müßten; wir setzen aber nichts voraus, und können dieß somit nicht lösen. – Sehen wir ferner auf die Zusammengehörigkeit von Leib und Seele, so sind auch diese Grenzen schwierig. Die Alten unterschieden in der Seele 2erley Vorkommenheiten, vermittelte durch den Leib, und unvermittelte, z. B. Sehen und Hören sind Vorkommenheiten in der Seele, aber durch den Leib vermittelt, Denken aber ist nicht vermittelt. Allein dieß hält nicht Stich; denn es gibt auch ein Sehen, das nicht durch die Augen vermittelt ist, und das wir umso mehr für eine Virtuosität der Seele halten, je mehr es dem Sehen mit den Augen ähnlich ist, z. B. ein Mahler sieht innerlich sein Bild, und wenn das Äußere Bild dann diesem Innern entspricht, ist es gerathen. Ebenso kann man nicht denken ohne Worte, und so ist das Denken auch durch den Leib vermittelt. Unvermittelt nannte man auch das Wollen, allein es verhält sich damit eben so, denn man muß den Anfang der Thätigkeit schon hierin setzen, und auch dieß ist also vermittelt durch den Leib. Es ist also verkehrt, eine SeelenLehre für sich aufzustellen, sondern wollen wir von menschlicher Seele sprechen, so müßte man auch immer von menschlichem Leibe reden; dieß wäre Anthropologie, aber dieß wollen wir nicht. Auch in der Anthropologie muß diese Scheidung von Seele und Leib gemacht werden, und so kommt diese immer vor, wir mögen es angreifen wie wir wollen. – 22–25 Vgl. Platon: Timaios, insbesondere 28a–29a, 31b; Opera 9,301–303, 307; Werke 7,32–35, 40–41

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Nun aber wissen wir noch nicht was wir der Seele zuschreiben müssen; gehen wir vom Gewöhnlichen aus, so besteht der Mensch aus Leib und Seele; wäre diese Scheidung richtig, so hätte es keine Schwierigkeit; aber auch sie ist entstanden aus der Annahme der nicht zu realisirenden Trennung. Nirgends ist uns weder der Leib ohne Seele gegeben, noch die Seele ohne Leib; es ist also nur eine Voraussetzung, daß dieß müßte getrennt werden können, und zwar nicht nur in Gedanken, sondern im Seyn. In Absicht auf den Leib wissen wir bestimmt das Gegentheil. Zwar kann man auch fragen: Wann und wo fängt der Leib an? Die Sonderung zwischen Körper und Leib? In den Thieren ist schon Leib, denn es ist eine Seele da mit eigenthümlichen Gesetzen. Dieß geht herab steigend bis zu den Grenzgebiethen des Animalischen und vegetabilischen Lebens: Auch im letztren Gebiethe finden wir Leben und eigenthümliche Gesetze. Die Alten sahen auch die Pflanzen als beseelt an, also die Erscheinung als Leib. Allerdings ist die Annäherung ans Anorganische schon groß, aber das Sichernähren schrieben die Alten ja schon der Seele zu. Steigen wir noch weiter hinab, so kommen wir vom Animalischen und vegetabilischen Gebiethe auf ein Zweifelhaftes, wo Körper und Leib nicht zu unterscheiden ist. Ferner wo fängt das beseelte Wesen an, Leib zu haben? Dieß führt ins Geheime Gebieth der Erzeugung hinein. Man kann allerdings gehen bis auf die ersten Rudimente des Leibs; aber man kann auch bis auf die ersten Rudimente der Seele gehen; denn schon in diesen ersten Keimen des Lebens liegt Bewegung; was die | Alten schon der Seele zuschrieben. So also ist es im Allgemeinen und Einzelnen. – Wo können wir also anfangen? Wir müssen noch den Ausdruck Geist in unsre Untersuchungen hinein ziehen. Betrachten wir Leib und Seele zusammen, so liegt Körper so auf der Seite des Leibs, das Zusammenseyn mit der Seele negirend, Geist aber ebenso auf der Seite der Seele ohne Leib. Was gewinnen wir dabey? Den Weg von der ersten Stelle der SeelenLehre zu ihrer letzten. Bey Geist abstrahiren wir vom Zusammenseyn mit dem Leibe, und alles Wissen und Erkennen schreiben wir dem Geiste zu. Hier kann uns ein Canon entstehen, wenn wir Körper, Leib, Seele und Geist zusammen stellen, und die Seele heraus heben. Wir können alles ausschließen, was bloß Körper ist, und ebenso was bloß Leib ist ohne Beziehung auf die Seele; ebenso können wir abstrahiren vom Geiste, der keine Zusammengehörigkeit 14–17 Vgl. Aristoteles: De anima 415a–416b, 434a; Opera 1,407; ed. W. D. Ross 32– 37, 82–83 23–25 Vgl. Nomoi 895c–896a; Opera 9,87–89; Werke 8,2,294–297; Aristoteles: De anima, insbesondere 405b; Opera 1,382; ed. W. D. Ross 9–10

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mit dem Leibe hat; nun aber kennen wir den Geist überall nur als Seele, d. h. mit dem Leib zusammen, – könnten wir aber etwas finden, was im Geiste das Zusammenseyn mit dem Leibe negirte, so gehörte dieß nicht in unser Gebieth. Aber wollten wir weiter hinab steigen und das Leibliche als solches hinein ziehen, so wäre dieß auch wieder ein Fehler. Also alles Verhältniß von Leib und Körper gehört nicht in unser Gebieth z. B. nehmen wir die Richtung der Seelenthätigkeiten zum Geiste, so müssen wir sagen, ein großer Theil unseres Erkennens kommt durchs Sehen, und der Ort der Vermittelung ist das Auge: also ohne Kenntniß des Auges ist das Erkennen nicht ganz zu begreifen. Allein dieses gehört in die Physiologie, und wir schließen es aus, denn durch die Kenntniß des Auges kommen wir nicht bey zum Übergang der Äußeren Bilder zum Gedanken. Das also liegt außerhalb unserer Untersuchung, und wir fangen mit dem an, was das letzte ist, mit dem Acte des Sehens selbst. Den Prozeß selbst aber außer Acht gelassen. Denken wir uns ferner die Gemüthsbewegung der Scham, so gehört dieß ins Gebieth der Seele, aber immer fast ist damit etwas Leibliches verbunden, ein Angefülltwerden der feineren Blutgefäße im Angesicht, was nur bey krankem Zustand fehlt. Wollten wir aber das Sichschämen und das Rothwerden als Einheit betrachten, so kommen wir nirgends hin, und wir sagen darum: das Rothwerden sey eine Folge des Sichschämens, nimmt also das letztere für sich. Jedenfalls können wir das Causalverhältniß nicht umkehren. Hier ist also ein Leibliches, das eine constante Begleitung des Seelischen bildet, aber wir müssen beydes für sich betrachten. – Sagen wir weiter: Nun wohl das mag feststehen, daß wir alle physische Begleitung als solche von der SeelenLehre weglassen, aber sollen wir es auch ignoriren, | ob überhaupt eine solche physische Begleitung da sey? Wollten wir ja sagen, und uns nur auf das Geistige beschränken, so würde unsre Erkenntniß der Seele unvollständig, denn die Thätigkeit der Seele in den einzelnen Acten käme uns aus der Betrachtung heraus, also die ganze Zusammengehörigkeit. Diese also müssen wir festhalten, aber nur als etwas Gegebenes, ohne in die Gründe hinein zu gehen. – Setzten wir so Seele und Leib als zwey, und stellten uns gegenüber: 1) die Seele kommt zu gewissen Erkenntnissen nur durch das Sehen, so ist hier die Seele durch den Leib bestimmt. Dieß müssen wir also zusammen behalten, aber den Proceß, wie das Bild Vorstellung wird, lassen wir weg. 2) Im zweyten Beyspiele bestimmt die Seelenthätigkeit die leibliche Erscheinung; auch hier müssen wir beydes zusammen behalten, aber wie die leibliche Erscheinung durch das in der Seele Vorgehende bestimmt wird, ist rein physiologischer Art. Also alles in unserm Gebiethe wol6 Körper] Körper also

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len wir immer in seiner Zusammengehörigkeit betrachten, Seele und Leib, aber das Wie davon schließen wir aus. – Ebenso gingen wir aus unserm Kreise heraus in der Verbindung von Seele und Geist. Wir wollen von dem im Menschen Vorkommenden allerdings das Geistige zur Anschauung bringen; Geist aber führt uns aus der Nothwendigkeit des Zusammenseyns von Leib und Seele hinaus, also alles, wodurch dieses Zusammenseyn negirt würde, läge außerhalb[,] außer unserm Gebiethe. Die Beyspiele sind hier nicht so nahe, aber es gibt doch deren im Alterthum und bey uns. Viele alte Philosophen hatten die Vorstellung einer Weltseele; hier war auch Seele, aber bezogen auf ein ganz anderes als gewöhnlich. Diese Vorstellung hat nur im Denken eine Realität, und es liegt darin die Aufgabe die einzelne Seele zurück zu führen auf dieses Allgemeinere. Hätte man nun sagen wollen: man könne in der besondren SeelenLehre keinen Schritt thun ohne vollständige Kenntniß des Verhältnisses zur Weltseele, so führte uns dieß eben aus unserm Kreise heraus. – Wir haben die gemeine Vorstellung von Gott als einem Geistigen, und noch das Verhältniß der Seele zu Gott könnte ebenso gefragt werden, ehe man in der SeelenLehre irgend etwas machen könne. Man hat gesagt, die Seele sey eine Emanation Gottes, werde von ihm zu jedem Leben erst geschaffen etc. Alle diese wollen dies Geistige im Menschen auf einen allgemeinen Geist zurück führen, allein das liegt außer dem Zusammenhang von Leib und Seele, also außer unserm Gebiethe.

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Zu den obigen 2 Beyspielen von Gesicht und Gefühl gehört noch die Willensbestimmung, die immer in ein Physisches übergeht, das Sichbewegenwollen ist ein Psychisches, das, was darauf folgt, ist aber etwas Organisches. Wir nehmen also bey ersterem auf den letztren immer | Rücksicht, wie aber die Willensbestimmung zur Bewegung wird, das lassen wir in unsrer Wissenschaft bey Seite. 14 besondren] besondrs

29 Seite.] es folgt ein senkrechter Strich

9–10 Vgl. z. B. Platon: Timaios: „In dieser Erwägung fügte er die Vernunft in eine Seele und die Seele in einen Körper ein, und fügte so aus ihnen den Bau des Weltalls zusammen, um so naturgemäß das möglichst schönste und beste Werk vollendet zu sehen. Und so darf man denn als wahr scheinend aussprechen, dass diese Welt als ein beseeltes und vernünftiges Wesen durch des Gottes Absicht entstanden ist.“ (30b–c; Opera 9,305–306; Werke 7,38–39), sowie Platon: Nomoi 889b, 902b; Opere 9,74– 75, 102; Werke 8,2,274–275, 320–321

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Also diejenigen Thätigkeiten, die wir psychisch nennen, sind auch geistig, aber das rein Geistige lassen wir weg, und nehmen nur die Gesammterscheinung der Seele, in der alle Erscheinungen bestimmt sind durch das Zusammenseyn mit dem Leib. Ausgeschlossen ist also alles Metaphysische und Transcendentale, was dort seine wichtige Stelle hat, hier aber nicht. Wenn man sagt: Geist steht entgegen der Materie, Stoff, und wenn das erste schlichthin innerlich ist, so ist das zweyte schlichthin äußerlich: aber beyde gehören zusammen. Ins erste gehört alles Denken, ein Inunsseyn, in das zweyte das Seyn, das Außerunsseyn; beydes zusammen ist die Wahrheit des Denkens in Beziehung auf das Seyn und umgekehrt. Diese Frage bezieht sich auf alles Denken durch sinnliche Wahrnehmung, aber in unser Gebieth gehört sie nicht, sie ist rein philosophisch, dialectisch. Die Resultate dieser Untersuchungen müssen wir allerdings hier annehmen, aber die Entscheidung selbst nicht. Man könnte sagen, unsre Untersuchung sey von geringem Nutzen, weil wir alles andre Wissen über die verwandten Gebiethe auf der Seite lassen. Allerdings hätte sie mehr Werth, wenn sie ans Ende aller Wissenschaften treten könnte, aber dieß ist unmöglich, weil wir das Wissen alles nicht voraussetzen können, das erst am Ende aller Geschichte vollendet ist. Es müsste dann alles, was in der Seele weiter vorkommt, nur eine Wiederhohlung seyn von schon Vorhandenem, von schon vorhandenem Begriffsgehalt und von schon vorhandenen Ausdrucksschätzen; durch neue Erscheinungen in beyden Beziehungen gäbe sich das Wissen als noch nicht vollendet zu erkennen. Da es also keinen Moment gibt, in dem das Wissen vollendet wäre, und da alles Fortschreiten im Wissen eine Verständigung d. h. eine psychische Handlung nothwendig ist, so gehört also unsre Wissenschaft voran, wenn ein gemeinsames Fortschreiten möglich seyn soll. Wir müssen 2erley genau unterscheiden, die objective Wahrheit, die Vollendung des Wissens, auf der andren Seite die Art und Weise, wie eine erkennende Thätigkeit in Beziehung auf diese Wahrheit in der Seele ist, ob es in einer ist als ein Wahres oder als ein Zweifelhaftes oder Falsches; dieß ist die subjective Wahrheit, Gewißheit. Nur die letztre gehört in unser Gebieth, die erste gar nicht. So ist unsre Aufgabe auf beyden Seiten begrenzt, aber außer dieser Negation ist noch nichts bestimmt. – Wir haben schon bemerkt, daß wir nicht wissen, wo die Seele als Erscheinung für uns anfange im Allgemeinen und im Einzelnen; im Allgemeinen fragten wir: wo ist der Punct, wo die Seele sich trennt wie sie Gegenstand unsrer Untersuchung seyn kann und wo nicht? – Beyde Fälle müssen wir erst ent8 gehören] gehören aber

40 unsrer] unsrer unsrer

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scheiden, ehe wir beginnen können. Nach dem gewöhnlichen Leben scheint die Entscheidung leicht. Im Einzelnen können wir sagen: der Mensch schon als Embryo hat ein eignes Leben, und wenn dieß schon erst ein Werdendes ist, so müssen wir doch | die Duplicität setzen, die nicht erst mit der Geburt eintreten kann. Also schon vor der Geburt gibt es Seelenthätigkeiten. Aber diese können wir nicht als Bewußtseyn auffassen, und die bestimmte Unterscheidung der Seelenthätigkeiten von den körperlichen ist eben das Bewußtseyn. Diese Antwort liegt nahe; aber man spricht doch schon im gemeinen Leben immer von Bewußtlosigkeit und Bewußtseyn und verschiedenen Stufen des letztren, und so verschwindet obige Unterscheidung wieder. So wie es verschiedene Stufen des Bewußtseyns gibt, hört jene Unterscheidung auf, und Bewußtlosigkeit erscheint nur uns als solche, ist aber eine niedre Stufe des Bewußtseyns. Diese Unterscheidung ist also schwer zu fixiren. – Nehmen wir das Allgemeine und suchen, das Menschliche zu isoliren, so sagen wir: Formen eines geistigen Daseyns, die entweder ohne Zusammenhang mit Leiblichem gedacht werden sollten, oder mit einer höhern Organisation, wo die gegenseitige Beziehung von Seele und Leib eine ganz andre wäre und die beydseitige Unabhängigkeit vollständig, sind uns nicht gegeben. Allein wir kennen Erscheinungen, wo Leib und Seele sich finden, dann aber und bis zum fast gänzlichen Verschwinden des Geistigen im gebundenerem Zusammenhang sich verlieren; unter diese gehört die menschliche Gestalt. Allein diese Grenze ist auch nicht sicher; es gibt thierische Gestalten, die der menschlichen sehr ähnlich sind, und wo die Differenzen nicht auf das Zusammengehören von Leib und Seele sich beziehen, z. B. daß die Affen 4 Hände haben, fixirt nicht ihren innren Unterschied vom Menschen. – Wie wir sagen, der Mensch bestehe aus Leib und Seele ebenso sagen wir im gewöhnlichen Leben, die menschliche Seele bestehe aus Sinnlichkeit und Vernunft; wollen wir nun sagen: wo Sinnlichkeit und Vernunft zusammen ist, da ist das menschliche Gebieth; wo das eine dieser beyden fehlt, gehört nicht zum Menschlichen? Dieß wäre also kurz: Der Gegenstand unserer Untersuchungen ist die vernünftige Seele. Allein auch hier gibt es eine sceptische Betrachtung, die die Sache schwierig macht. Z. B. Ist eine wahnsinnige Seele auch eine vernünftige Seele? Wenn man auf die Thätigkeiten sieht, so ist keine Manifestation der Vernunft da, und nur durch diese Manifestationen kennen wir ja die Seele. Wollten wir aber die wahnsinnige Seele ausschließen, so würde dieß eine sehr hinderliche Grenze für uns seyn; es gibt ja auch intermittirende Zustände des Wahnsinns, und so würde unser Urtheil sich immer ändern müs21 finden] findet

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sen; ebenso gibt es gewaltsame, aber auch allmählige Übergänge in diesem Zustand, wo die Grenze verschwindet. Wir müssen also wieder auf die menschliche Gestalt zurück kommen, und jede Seele eine Seele nennen, wenn sie in einer menschlichen Gestalt vorkommt, und das Prädicat der Vernünftigkeit fällt weg. Man hat hier einen vermittelnden Ausdruck gefunden, und gesagt: wir betrachten die Seele als Leben, und alles Leben wechselt zwischen Gesundheit und Krankheit, und somit sind die Zustände der Seele krankhaft, wo die Vernunft ganz latitirt, wenn auch der körperliche Zustand, der doch zur Seele gehört, sich nicht verändert hat. Auch hier kommen wir auf Schwierigkeiten, die wir nicht vollständig lösen können, weil wir das Physiologische nicht vollständig voraussetzen können; und eine Vollständigkeit des Wissens überhaupt. |

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Es ist allgemein angenommen, daß man überall bey der menschlichen Gestalt auch eine Seele annimmt, aber hier ist dann wieder schwierig zu sagen, wie weit die menschliche Gestalt gehe. Anfangs hielt man die Neger nicht für Menschen, und auch die anerkennende traditionelle Ansicht mußte sich erst verificiren: Eben so schwierig ist die Grenze vom Thierischen aus gegen den Menschen. Hat man sich nun die Vernunft als Merkmahl der menschlichen Seele aufgestellt, so zeigen sich bey den Thieren einzelne Äußerungen und Erscheinungen, die auch hier die Grenze erschweren. Welches ist dann aber das characteristische Merkmahl? Dieses am Ende erst aufzustellen, führt uns im Dunkeln herum, wollen wir es aber zuerst, so müssen wir ins Metaphysische eingehen. Nehmen wir die 2 Fragen: Wo fängt die menschliche Seele im Allgemeinen und Einzelnen an, und: Wo sollen wir die Betrachtung anfangen, bey der Geburt oder in der vollen Entwicklung? – so sollten wir für beyde Eine Antwort haben. Bleiben wir beym Einzelnen stehen, und sagen: das Einfachste und Constanteste ist das Ich. Wo sich dieses bestimmt manifestirt, ist der sichere Anfang unsrer Untersuchungen im Einzelnen. Dieß wäre zwar kein absoluter Anfangspunct, aber doch ein Scheidungspunct. Betrachten wir die menschlichen Lebensäußerungen in den ersten Anfängen, so hat die Beobachtung immer etwas hypothetisches, und sicher wird sie erst, wenn das Kind spricht, was erst die Beobachtung verificiren kann; hier hat auch das Ichsetzen seinen Ort, und erst dann ist der Mensch zum Selbstbewußtseyn gekommen; so lange das Kind in der dritten Person redet, ist noch kein Aneinanderreihen einer constanten Identi-

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tät. Dieß ist ein fester Punct, aber nicht absolut, sondern nur für die Beobachtung; hier geht erst ein sicheres Verhältniß der Verständigung über die Seele an. Die Kinder reden zwar viel früher, als sie Ich sagen, aber hier legt der Mensch noch nicht Zeugniß von sich ab über die Einheit seines Daseyns. Man kann ebenso nicht sagen, daß die menschliche Seele nicht erst mit dem Reden anfange vernünftig zu seyn; aber unsre Wahrnehmungen haben dann nur in sofern einige Gewißheit, als eine Art von Antwort wenigstens bey ihnen erscheint. Wollte man dieß als sicheres Zeichen der Seelenthätigkeit, als Anerkennung des Menschlichen ansehen, dem nur die Sprachwerkzeuge noch fehlen, so ist dieß auch eine gewagte Behauptung; eher ist es eine Unvollkommenheit der psychischen Entwicklung überhaupt, die freylich mit einer physischen verbunden ist. Wir stehen auch oft in einer Wechselwirkung mit den Thieren, die uns näher treten, und es frägt sich: Ist das Verhältniß der Verständigung zwischen Menschen und Hausthieren dasselbe wie mit den noch sprachlosen Kindern? sagen wir: ja, so geht der specifische Unterschied wieder verloren. Wir müssen aber durchaus über den Anfang des Menschlichen zuerst im Klaren seyn; und wir haben keinen sicherern Anknüpfungspunct als den der Sprache, und wenn wir obige Schwierigkeit des Wahnsinns da hinzu|nehmen, so ist hier die Entscheidung dieselbe. Bey den kleinen Kindern arbeiten wir auf die Entwicklung der Sprache hin, und erwarten sie, bey den Thieren nicht, also ist auch hier die Sprache die Scheidung. Unter den Wahnsinnigen gibt es wenige, bey denen der Gebrauch der Sprache ganz aufhörte, wenn auch der Zusammenhang fehlt; das Organische und Logische bleibt meistens, wenn es auch viele Ausnahmen in beyden Fällen gibt. Doch diese Zustände hängen in einer ununterbrochenen Continuität zusammen mit den gesunden Zuständen der Vernunft und Sprache; wie wir bey den Kindern die Entwicklung der Sprache erwarten und darauf hinarbeiten, so auch hier auf die Wiederkehr der Sprache und Vernunft, und alles absolute Verzweifeln daran ist voreilig. Dieß sind zwar nur Erfahrungsregeln, aber wir machen sie mit innerer Nothwendigkeit. Wir wollen aber auch eine Verfahrungsregel, wie weit wir unsre Aufgabe und unsren Gegenstand ausdehnen sollen. Somit würden wir innerhalb unsrer Grenzen das Physische und Metaphysische die menschliche Gestalt und Sprachfähigkeit als Merkmahle angeben können für den Gegenstand unsrer Untersuchung, beydes als unzertrennlich verbunden. Überall leitet uns dieß; wollten aber wir den Scepticismus hierin vollständig machen, so könnte man sagen: Wenn einer aus unserm Welttheil in einen andern kommt, so kennt man ja dort seine Sprache nicht und kann sie leicht für eine Art von thierischen Tönen halten, weil ihnen keine logische Geltung derselben klar wird. Allein darauf kann man

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antworten: Wenn diese Töne nicht von einer menschlichen Gestalt herkämen, würde ich sie allerdings nur für thierisch halten, so aber nicht. – So kommen wir wieder auf den Anfangspunct von der andren Seite zurück. Fragen wir: Gib doch Rechenschaft davon, wie du dazu kommst, die menschliche Gestalt und Sprachfähigkeit zu identificiren? so ist die Antwort: weil ich mein Selbstbewußtseyn auf diese beyden Puncte zurückführe, denn über den Anfang der Sprache geht keine Erinnerung zurück. Gehen wir ins Gebieth der alten Philosophen zurück, und bleiben bey Aristoteles, der die verschiedenen Vorstellungen über verschiedene Gegenstände möglichst vollständig zusammenstellt; in seinen Büchern über die Seele sagt er: alle über die Seele Denkenden bestimmen die Seele durch 3 Momente, die eigne Bewegung, das Bewußtseyn und das Unkörperliche. Dieß stellt er als das Gemeinschaftliche alles bisherigen Nachdenkens darüber zusammen. Dieß ist auf der einen Seite eine viel weitre Bestimmung und es ist doch etwas darin, das wir ausgeschlossen haben, das Unkörperliche, was die Sache so darstellt, als ob in der Seele alles Körperliche negirt werden könnte, wir hingegen haben gerade diese Zusammengehörigkeit behauptet. Dieß macht die Grenzen enger, aber wir haben sie auf der andren Seite enger gemacht, indem wir Bewußtseyn und Bewegung, letztre den Pflanzen, erstres auch den Thieren zuschrieben. Allerdings spricht Aristoteles nicht bloß von der menschlichen sondern von der Seele überhaupt; aber es liegt doch darin eine ganz andere Bestimmung als in der unsrigen. | Das erste, niedrigste Vermögen der Seele nennt er das ernährende, δὑναμις, was wir als das Physische davon ausschließen; also ψυχὴ und Seele sind gar nicht gleichmäßig bestimmt. Hier sehen wir, wie schwankend die Untersuchungen sind über einen sichern Anfangspunct. Aristoteles hält nun die ψυχὴ fest als ein sich allmählig Entwikkelndes, und legt den Pflanzen die ψυχὴ bey, weil sie die δυν. θρεπτ. haben, aber das Zweyte, das Bewußtseyn, haben sie nur in untergeordnetem Grade, z. B. das Zusammenziehen bey der Berührung. Bey den Thieren sey das Bewußtseyn mannigfaltiger, also auch die Bewegung; in dem Menschen sey das Bewußtseyn vollständig im νοῠς, λογικὴ, Vernunft. Wie steht unsre Fassung zu dieser? Diese Darstellung wäre uns erst möglich am letzten Ort der SeelenLehre wenn schon 10 Aristoteles] Aristoteles zurück 18 alles] als 30 δυν. θρεπτ.] Abkürzung für δυναμις θρεπτικη

19 behauptet] behauptet haben

9–14 Aristoteles: De anima 405b; Opera 1,382; ed. W. D. Ross 9–10 25–26 Vgl. Aristoteles: De anima 414a–b; Opera 1,389; ed. W. D. Ross 30–32 29–35 Vgl. Aristoteles: De anima 414a–415a; Opera 1,398–399; W. D. Ross 30–34

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der ganze Complexus der Wissenschaften gegeben wäre, weil hier erst das Menschliche und Untermenschliche in seinen Unterschieden bestimmt gegeben wäre. In dieser Darstellung ist auch ψυχὴ mehr als Leben qualificirt, als bey uns; zwar meint er Leben ζωὴ und Lebendiges ζῶον; aber wenn wir ein Verhältniß dieser beyden aufstellen so setzen wir das Ernähren ins Leben, nicht in die Seele, Aristoteles aber rechnet es zur ψυχὴ[.] Man sieht daraus, wie es ist mit dem Übersetzen solcher elementarer Ausdrücke von einer Sprache in die andre; die Begriffe sind ganz anders gefaßt, und so können auch die Resultate nicht identisch seyn. Dieß führt uns nun wieder auf das Zusammenseyn eines Leiblichen mit dem zurück, was auch wir der Seele zuschrieben. Wenn wir nun das Ernährende dem Organismus zuschrieben, nicht der Seele, so fragt sich: Ist denn gar nichts dabey, was wir der Seele zuschreiben müssen? Allerdings, aber wir sondern es. –

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[5. Stunde] Die Platonische Bestimmung auf der andern Seite sagt, daß jede Seele ein Unsterbliches sey, und geht so ins metaphysische Gebieth hinein, statt wie die Aristotelische ins physische. Wir haben beydes ausgeschlossen, und betrachten immer nur die Zusammengehörigkeit beyder. Es handelt sich hier also in beyden Fällen nicht nur um verschiedene Übersetzungen des Worts ψυχὴ sondern nur verschiedener Vorstellungen indem überhaupt niemand bey uns die Ernährung zur Seele rechnet, und eben so wenig mit der Unsterblichkeit in der Seele anfängt in der SeelenLehre. Aristoteles rechnet also zur Seele die Selbstbewegung, das Bewußtseyn und das Unkörperliche. Erstres legen wir dem Leben überhaupt bey, unbestimmt ob es eine Seele habe oder nicht indem wir ja nur die menschliche Seele berücksichtigen. Wie steht es aber um das Unkörperliche? Wir nennen das Ähnliche die Immaterialität der Seele; Materie und Körper ist aber ziemlich Eins, und so stimmt es hier zusammen. Aber wenn Aristoteles sagt, daß alle Denker der Seele die Unkörperlichkeit zuschrieben, so ist dieß bey uns nicht immer so der 16–17 Platon: Phaidon 73a, 88b, 100b, 105e–107d; Opera 1,165, 200, 226, 240–243; Werke 3,55,107, 147, 165–171 25 Vgl. Aristoteles: De anima 405b; Opera 1,382; ed. W. D. Ross 9–10 31 Vgl. Aristoteles: De anima 405b; Opere 1,382; ed. W. D. Ross 9–10

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Fall gewesen, und Viele haben ihr Materie zugeschrieben. Kurz nach Aristoteles haben die Stoiker den Satz aufgestellt, die Seele sey ein σῶμα, indem sie dieses in einer andern Bedeutung nahmen, wie es bey uns oft geht. Was hat aber | Aristoteles unter ἀσώμ. verstanden indem er sagt, daß alle darin übereinstimmen? Viele hatten doch gesagt, die Seele sey ein Luftding und anderes, wie konnte er dann seinen Satz aufstellen? Er muß es haben vereinigen können. Wenn wir in Absicht auf die Zusammengehörigkeit von Leib und Seele den Gegensatz von Tod und Leben betrachten, so wurde von jeher der Tod angesehen als Trennung des Leibes von der Seele; der Leib aber fängt mit dem Tode an, Körper zu werden, und dem chemischen Processe anheim zu fallen. Was geht im Tode in Absicht auf das Leben verloren? Der Leib hört auf, Ort des Bewußtseyns zu seyn. Also wenn Aristoteles davon ausging, daß alles, was aufhört beym Aufhören des Leibes ein Beseeltes zu seyn, aufs Bewußtseyn zu beziehen sey, so konnte er allerdings sagen, daß die Seele in so fern ein ἀσώματον sey. Was wir vom Bewußtseyn sagen können, ist dieß, daß es nie ein körperliches Prädicat haben könne, in keiner Gemeinschaft mit dem Körperlichen stehen könne, also ein ἀσώματον[.] Nach dem Tode geschieht in unserem Leibe nichts mehr, was wir auf ein Bewußtseyn beziehen können; das Körperliche aber ist noch alles da, und da durch den Tod nichts Körperliches aufhört, so ist das abwesend Gewordene, die Seele, nichts Körperliches. Wollen wir dieß Negative in ein Positives verwandeln, so kommen wir zurück auf das Verhältniß der Bewegung, die wir der Seele zuschrieben, zu dem rein geistigen Leben unsres Geists, und dieß ist eben das Mittlere, das Bewußtseyn des Aristoteles. Dieß ist nichts Leibliches; was wir in der Erscheinung des Lebendigen der Seele zuschreiben, das ist das Schlechthin Innerliche, das wir Bewußtseyn nennen. Hier kommen wir zu einer Ausgleichung unsrer Vorstellungen mit den antiken. Wenn wir die 3 Momente des Aristoteles [die er] als Wesen des Begriffs ψυχὴ ansieht, annehmen, so gehen sie weit über unsre Definition hinaus, denn ein Analogon von Bewußtseyn, ein Innerliches zu Äußrem, finden wir auch bey den Thieren. Wollen wir aber unsre Untersuchungen aufs Menschliche beschränken, so fragt sich, wo ist die Grenze zwischen dem Bewußtseyn im Gebieth des Lebens unterhalb dem Menschlichen und im Menschlichen selbst? 4 ἀσώμ.] Abkürzung für ἀσώματος 1–3 Vgl. Aristoteles: De anima 405a; Opera 1,381–382; ed. W. D. Ross 8–9 4– 5 Aristoteles: De anima 405b; Opera 1,381; ed. W. D. Ross 9–10 5–6 Vgl. Aristoteles: De anima 405a; Opera 1,381–382; ed. W. D. Ross 8–9 24–26 Aristoteles bestimmt die Seele als Bewegung und Wahrnehmung; vgl. Aristoteles: De anima 403b; Opera 1,380; ed.W. D. Ross 4–5

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Aristoteles hat nicht nur das Menschliche bezeichnen wollen in seinem Bewußtseyn, sondern auch das Thierische; unter uns ist es schon lange eine streitige Frage gewesen, aber führen wir sie auf die Cartesianische Theorie zurück, so ist es als identisch genommen worden, den Thieren das Bewußtseyn ganz abzusprechen und sie als Maschinen anzusehen. In diesem Falle wäre ihnen aber auch die Selbstbewegung abzusprechen, und diese wäre nur eine Wirkung äußerer Reize. Dieß hieße aber zugleich auch, das Leben aufheben; diejenigen die den Thieren alles Analoge von Bewußtseyn absprechen, behaupten zugleich, daß ihnen auch die Selbstbewegung abzusprechen sey, und geben die Zusammengehörigkeit von beydem zu. Zusammengehalten mit der Naturkunde der jetzigen Zeit müßte nun gezeigt werden, wie durch äußre Reize der chemische Proceß in den Thieren aufgehoben werden könne. Allein alle äußeren Reize sind doch immer solche, die den Gesetzen des chemischen Processes folgen, und wären sie das einzige agens, so | müßten sie diese auch in die Thiere hinein bringen. Sind die Elemente der Thiere aber nicht Producte des chemischen Processes, so darf man das selbstbewegende Princip auch nicht in ihnen läugnen; und eben so wenig das Analogon von Bewußtseyn. Aber können wir dieß so fixiren, daß wir das Menschliche bestimmt davon unterscheiden können? Hier kommen wir wieder auf den schon behandelten Punct zurück, das Factum des Ich sagens. Wir haben schon gesehen, daß in den menschlichen Seelenthätigkeiten von diesem Punct des Ichsagens an es uns unvermeidlich ist, den ganzen Verlauf der Seelenthätigkeiten als ein stätiges, aber immer anders modificirtes Ichsagen anzusehen. Dieß leidet viele Ausnahmen, z. B. Schlaf etc. aber dieß ist uns bekannt genug; aber doch ist uns der Mensch nur derselbe, wenn sein Ichsagen immer dasselbe ist, und ein Beharrliches darstellt. Wollen wir dieß als das Unterscheidende des Menschlichen darstellen, daß wir im Kinde doch schon die menschliche Seele anerkennen, weil wir das Ichsagen im Werden sehen und erwarten, und sagen: die Seelenzustände unter anderer als menschlicher Gestalt sind solche, bey denen wir das Ichsagen ganz läugnen müssen, – so könnten wir dieß eigentlich nur sagen, wenn wir ins Ichsagen noch etwas anderes hinein legen. Wir können es nicht absolut läugnen, daß in den Thieren keine Art von Ichsagen sey, aber das können wir behaupten, daß dieß außer unsrer Kenntniß und Wahrnehmung liegt. Unsren Anfangspunct also können wir nicht anders stellen, als so daß er eine practische Begründung hat, d. h. hier, wir haben keine Ursache, die Thiere als Ichsagend zu betrachten. In einem gewissen Sinne also lassen wir die Frage unbeantwortet, in einem andren beantworten wir 3–5 Ausführlicher behandelt Schleiermacher dieses Thema in SW III/4.1, S. 268–269

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sie bestimmt, indem wir sagen, wir haben keinen Grund, in den Thieren ein Ichsagen anzunehmen, wohl aber im Menschen. Hier kommen wir auf die Sprache zurück; was ist es hier für uns? Nichts anderes als die Manifestation des Ichsagens an andre, die auch als Ichsagend betrachtet werden. So geht dieß über die Sprache vermittelst der Stimmwerkzeuge hinaus, denn auch alle Gebehrde ist eine Manifestation des Ichsagens, und das ganze Gebieth der Bezeichnung ist das, auf das wir zurück kommen. Wo wir die menschliche Gestalt haben, setzen wir voraus nicht nur die beständige Manifestation der innren Thätigkeit, sondern die Gleichheit und Gemeinschaft der Bezeichnung; dieß ist identisch mit der Anerkennung des andren als meinesgleichen und identisch daß ich in meinem Ichsagen das Bewußtseyn der Menschheit habe, und in der Gemeinschaft dieser Bezeichnung das Bewußtseyn der Gemeinschaft der ganzen Menschheit. Also daß das Kind noch nicht ichsagen kann, hindert nicht, daß es nicht von Anfang an Manifesation seiner Seelenthätigkeit habe, indem wir auch immer uns Mühe geben, immer mehr in Verbindung und Gemeinschaft mit ihnen zu kommen. Ob wir also unter der Menschheit noch Seele finden oder nicht das berührt uns hier nicht sondern wir bleiben beym Menschen und nehmen als Merkmahle neben der menschlichen Gestalt die Gemeinschaftlichkeit der Beziehungen an, die wir zusammen doch das Ichsagen nennen können. |

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Als Grenze sind uns nun erschienen die menschliche Gestalt als physisches Merkmahl und das Ichsagen als geistiger Punct. Beydes führt uns auf die menschliche Gattung; denn die menschliche Gestalt reproducirt sich immer wieder durch die Erzeugung und daß der Mensch nach seinem Wesen immer derselbe bleibt constituirt die menschliche Gattung. Doch diese Identität der Subjecte ist immer zugleich eine Differenz; denn sonst hätten wir zu unsrer Wissenschaft nichts nöthig als die Kenntniß unsrer selbst. Doch dieses Verhältniß des Einzelnen zur Gattung als Differenz kann sehr verschieden gefaßt werden, und es frägt sich ob diese Untersuchung auch in unser Gebieth gehört. Wie wir die Idee der menschlichen Gattung und die Reproduction durch die Erzeugung betrachten, so erhält sich immer die Gattung und doch die Individualität des Einzelnen, und da fragt sich: Ist dieß auch ein Product von beyden Momenten oder kommt es von einem Dritten Äußren her? Sagt man, die Menschen werden erst im Leben verschie37 her?] her.

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den, so setzt man den Grund ganz außerhalb; Sagt man, die Differenzen auch im Bewußtseyn seyen zurück zu führen auf eine leibliche Differenz, so ist dieß etwas andres. Ein Drittes sagt man, wenn man annimmt, das Geistige sey auch von Anfang an verschieden. Nun frägt sich: Sind alle diese Voraussetzungen richtig oder welche? – Wir setzen voraus und wissen es aus uns selbst heraus, daß die einzelnen Momente des Bewußtseyns oder Ichsagens immer verschiedene sind, und verschiedene Verschiedenheiten sich immer wiederhohlen. Setzen wir die Scheidung dieser voraus, so wäre es Gegenstand unsrer Untersuchung, sie in ihren Verhältnissen zu einander zu betrachten. Wir müssen vorher etwas darüber feststellen; denn sagt man, die menschlichen Individuen werden nur andre im Leben von einer ursprünglichen Gleichheit aus, so ist dieß so viel: Das Ursprüngliche des Menschen, das erste Ichsagen ist in allen identisch, aber durch die Verschiedenheit der Umgebungen und des Orts, und da jeder Lebensmoment ein Product dessen ist, was hier und so auf die identischen Subjecte wirkt, so kommen verschiedene Resultate heraus, – sagt man, diese verschiedenen Resultate seyen nur Resultate der äußren Wirkungen, so gibt es dann keine Differenz der Verknüpfungsweisen der Einzelnen außer durch äußre Einwirkungen. Stellen wir uns aber vor, daß wenn Subject A auch von Anfang an an der Stelle von B gewesen wäre so würde es doch ein andres Subject geworden seyn, so entsteht die Ansicht einer Verschiedenheit im Individuum. Liegt diese innre Verschiedenheit im Physiologischen, so ist das Ichsagen, das Geistige doch identisch, und nur der Einfluß des Orts ist verschieden; auch so hätten wir also eine geistige Identität von Anfang an, nur würde die Leiblichkeit mit den äußren Verhältnissen die Verschiedenheit bewirken. Doch dieß gehörte dann ins Physiologische und nicht in unser Gebieth. Gibt es aber eine Differenz der einzelnen Subjecte als solche, so ist die Differenz entweder so, daß in dem einen gewisse Äußerungsweisen vorkommen, im Andren fehlen, oder in jedem kommen dieselben geistigen Verrichtungen vor, aber sie sind in einer quantitativen Differenz, woraus eine Differenz in den zeitlichen Resultaten entsteht. Erstres würde auf einen Unterschied führen von Thätigkeiten im Ichsagen, die die einen haben und andre nicht, die also unwesentlich wären und solchen, die jedem Subject wesentlich wären. Im zweyten Falle wären alle Geistesthätigkeiten | wesentlich, nur dem Grad nach verschieden. Setzen wir ersteres, so müßten wir untersuchen, welche Äußerungsweisen wesentlich und welche unwesentlich seyen; im zweyten Falle wären wir dieser Aufgabe überhoben, und die ganze Aufgabe würde einfacher. Woher soll uns hier die Entscheidung kom2 seyen] sey

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men? Wollten wir fürs erste nur die Äußerungsweisen betrachten, in der Hoffnung, es entscheide sich im Verlaufe von selbst, so wäre dieß etwas sehr Ungewisses. Dieß läßt schließen, daß die Entscheidungen eigentlich schon in unsren Voraussetzungen liegen; doch dieselben Voraussetzungen liegen auch auf einem streitigen Boden. Es liegt uns vor die Geschlechtsdifferenz als Bedingung der Reproduction; dieß ist etwas wesentliches, und die Bedingung der Fortpflanzung Ichsagender Geschöpfe oder Menschen. Ist diese Differenz auch nur eine Differenz der äußren Lage? oder ist sie ganz nur in der Leiblichkeit eingeschlossen? oder ist sie ein solches Zweydeutiges, ein leiblich und geistig Differentes zugleich? Das erste hieße: das menschliche Leben entsteht in der Gebärmutter bisweilen als ein männliches, zuweilen als ein weibliches; es gibt Stadien in der Entwicklung wo die Geschlechtsdifferenz noch nicht hervor tritt, und andre, wo sie hervor tritt; aber sie ist doch schon da, ehe das Geschöpf ein abgeschlossnes Ganzes ist, ist also ein Product äußrer Umstände und Relationen. Wollen wir dieß sagen? Wir können zugeben, daß die leibliche Geschlechtsgestaltung aus äußren Verhältnissen her ist, weil sie sich fixirte, ehe die innere Geschlechtsverschiedenheit sich ausgebildet hat; allein wenn unsre Untersuchung über die Seele und das Ichsagen anfängt, ist dieß uns schon gegeben, und die innere Differenz liegt vor, wenn sie auch gegründet war ursprünglich in der leiblichen Differenz. Also ist es immer noch nicht entschieden, ob die Differenz ursprünglich leiblich oder auch geistig war. – In vielen Völkern hat es Zustände gegeben, in denen die Verschiedenheit der Geschlechter in allen freyen Handlungen von der Annahme einer Unterordnung des Weiblichen unter das Männliche aus betrachtet wurde, und so das Weibliche schwächer sey als das Männliche. Die Theorie der psychischen Gleichheit beyder Geschlechter bey den Alten stellte sich dieser Ansicht gegenüber. Die erstre Ansicht müßte annehmen: es gibt geistige Thätigkeiten im Menschen, die bey dem Weiblichen Geschlechte fehlen, und zwar sind es grade die leitenden Thätigkeiten; oder aber: es sind zwar alle geistigen Thätigkeiten auch im weiblichen Individuum da, aber sie steigen im männlichen höher auf; eins von diesen beyden muß man angenommen haben, sonst wäre es eine bloße Gewaltäußerung gewesen. Die entgegengesetzte Ansicht aber müßte annehmen; die Differenz der Geschlechter ist nur in der leiblichen Seite des Organismus; vermöge dieser besondern Geschlechtsverrichtungen gibt es nur gewisse Zeiten, wo die weiblichen Individuen von gewissen Geistesthätigkeiten ausge27 betrachtet] betrachten

35 gewesen] gewesen seyn

28–29 Anspielung auf Platon: Politeia 449a–471e; Opera 7,1–49; Werke 4,367–439

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schlossen werden müssen; im Ganzen und Allgemeinen aber ist | kein Unterschied. Das Eine nun geht darauf aus, fürs ganze Leben ein Übergewicht des Männlichen zu constituiren; das andre aber geht auf Gleichstellung aus im ganzen ethischen Gebiethe, jene nothwendigen momentanen Dispensationen abgerechnet. Sollen aber unsre Untersuchungen der ganzen Ethik zum Grunde liegen, so sind wir hier an einem bedeutenden Scheidepunct. Haben wir nun im Bisherigen schon einen Grund zur Entscheidung, oder müssen wir jetzt dabey stehen bleiben: wo das Subjective Gegenstand unsrer Betrachtung wird, ist die Differenz schon da, ob sie aber eine geistige oder bloß leibliche sey, müssen wir hier noch [dahin] gestellt seyn lassen? Aus dem Verhältniß des Einzelwesens zur Gattung folgen uns noch ähnliche Differenzen wie diese zwischen den Geschlechtern.

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[7. Stunde] Umkreis der Differenzen. Gehen wir davon aus, daß erst mit dem Auffassen der Sprache eine constante Beobachtung des Wesens der Seele möglich ist, so erscheint auch die menschliche Sprache als eine Mehrheit, und nie war ein Zustand Einer Sprache da, da es ferner schon vor der Sprache andre Beziehungen gibt in Gebehrden, so sind auch diese wieder different, überhaupt alle äußren Manifestationen der psychischen Zustände sind different. Fragen wir: Ist diese Differenz psychisch ein Ursprung oder ist sie nur Physiologisch begründet oder gar nur äußerlich? so sind diese Fragen hier viel schwerer zu beantworten. Nach unsrer jetzigen Geschichtskenntniß müssen wir sagen: je weiter die Sprachen von einander entfernt sind, um so mehr sind auch andre physiologische Differenzen gesetzt; betrachten wir die Sprachen in den größren Annäherungen, so finden wir mancherley Übergänge. Sprachen theilten sich oder es entstand aus verschiedenen Sprachen eine Dritte. So gibt es hier Differenzen der Sprachen, die nur äußerlich [sind] z. B. Eroberungen etc. Sind die Differenzen größer und mit physiologischen Differenzen verbunden, z. B. verschiedene Gestalt, da ist ein Zusammenhang zwischen der Construction der Sprache und der physicalischen Beschaffenheit. Ein andrer Punct ist unabhängig von mehr und weniger z. B. 2 Sprachen, die ziemlich gleich ausgebildet sind, aber bis ins Lautsystem verschieden sind, haben meistens nur wenig termini in ihrem ganzen Umfange, die innerlich nach ihrem Begriff völlig identisch wären, und nur im Laute verschieden. Wenn dieß etwas beweisen soll, so muß dieses Wenige 37 Wenige] Wenige sich

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anderwärts her eingesehen werden können, warum es identisch ist z. B. die gemeinsame Aufnahme eines Begriffs von einem dritten Volke. Doch selbst dieser Fall kommt nicht häufig vor. In den Europäischen Sprachen finden wir 2 Gebiethe, die dahin gehören. Die Europäischen Völker haben das Christenthum aufgenommen, das zuerst anderswo feststand und im Neuen Testament fixirt war. Aber sind dann die Ausdrücke aus diesem in allen Sprachen gleichbedeutend? Keineswegs. Ebenso ist es mit der Philosophie. Die meisten Völker haben hier aus der lateinischen Sprache geschöpft und in dieser verhandelt. Seit sie aber angefangen haben in ihrer eignen Sprache zu verhandeln, ist doch die ganze Identität verloren gegangen, | und es finden sich bedeutende Differenzen. Wichtig die Frage: Worin haben diese ihren Grund? Nehmen wir dazu, daß oft in demselben Volke in kurzer Zeit diese beyden Gebiethe sich verschieden gestalten mit verschiedenen Formeln, und wir fragen: ist dieß dasselbe Verhältniß, in welchem die Terminologien der einzelnen Secten Eines Volkes zu einander stehen, so müssen wir sagen: Es ist innerhalb Eines Volkes ein leichteres Auflösen dieser Differenzen als derjenigen aus verschiedenen Sprachen. Da aber das meiste in der Sprache sich innerlich im Volke erzeugt, so sind diese Differenzen meistens unüberwindlich, und vergleichen wir Sprachen, die nicht nur Mundarten sind, so gibt es gar keine Ausdrücke, die einander vollkommen correspondirten in 2 Sprachen. Daher jede Unternehmung, eine Sprache in die andre aufzulösen, immer in der Form aufgelöst werden muß, aus einer Einheit eine Vielheit zu verwandeln, d. h. für Einen Ausdruck immer mehrere zu setzen. Hier ist also schon eine psychische Differenz gegeben, nicht nur im Lautsystem, sondern im Gedachten, und es zeigt sich, daß die verschiedenen Völker auch ein verschiedenes Denken haben. Nun aber ist wieder zu fragen: Ist diese Differenz eine ursprüngliche, und zwar auch psychisch, oder nur physiologisch und local? d. h. hängt diese Differenz nicht etwa bloß zusammen mit den climatischen Verhältnissen eines Volkes? Doch sie mag sich entscheiden wie sie will, so betrifft sie uns nicht denn die Individuen bilden sich schon dieses System an, ehe wir sie betrachten können, und bewegen sich in demselben. Setzen wir uns in den Zustand eines allgemeinen Weltverkehrs, so scheint es leicht, einem Kinde von Anfang an 2 verschiedene Sprachen beyzubringen, auf dieselbe Weise wie in Einer Muttersprache. Dieß ist leicht zu machen, und es gibt dann eine Zeit, wo das Kind eben so zufrieden ist, wenn es sich in der einen wie in der andern Sprache äußert. Aber dieß kommt nur eine gewisse Zeit lang, aber später muß es sich doch entscheiden, d. h. daß es doch nur in Einer Sprache denken wird, oder wenigstens in Gewissen Gebiethen in der einen, in andern in der andern. Also im Weltverkehr bedienen sich

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viele Einzelne mehrerer Sprachen gleich bequem, aber alles Denken ist doch in der Muttersprache, und diese Regel steht über der künstlichen Ausnahme. Daraus folgt, daß wir diese Differenzen anerkennen, und in unsre Untersuchung aufnehmen müssen. Doch diese hängt mit andren zusammen; wir können uns nicht diese Eine Function des Denkens isoliren, so daß wir sagen könnten; ein Volk ist ein Ort, wo sich die Manifestationen des Denkens durch die Sprache so different zeigen, in allem andren aber sind keine Differenzen mit andren Völkern. In diesem Falle würde die Sprache allein das Wesen der menschlichen Gattung ausmachen, die andre wäre etwas Zufälliges, weil sie sich so leicht übertragen, oder man könnte sagen: diese Function, weil sie solchen Differenzen | unterworfen ist, ist eine untergeordnete, das aber, worin alle übereinstimmen, ist das Wesentliche. Beydes kann man behaupten, je nachdem man das Wesen des Menschen als ein innerlich individuelles oder aber allgemeines annimmt. Es gibt aber gar kein solches isolirtes Verhältniß, sondern wo wir eine solche differente Sprache finden, da ist auch eine Verschiedenheit des Characters und der Combination der Lebensmomente. Wenn nun aber die Seele doch dasselbe seyn soll, wenn auch diese Äußerungen verschieden sind, so müssen wir schon in ihr diese Differenzen annehmen, sonst begreifen wir jene nicht. Nun gehen wir wieder zum Einzelnen zurück. Es soll nun frey einer behaupten können; die Verschiedenheiten der Seelenäußerungen seyen nichts Ursprüngliches, sondern nur durch Ort und Lage bedingt. Wir setzen nun den Fall, er soll 2 Menschen, die anfangen Gegenstände unsres Beobachtens zu werden, in die gleichen Umstände bringen; was ergibt sich wohl daraus? Beyde sollen jetzt denselben Lebensmoment haben, alles äußerliche soll gleich auf sie wirken, und dennoch macht jeder ein Eignes daraus, was nur in den Momenten verschwindet, wobey der Einzelne als solcher verschwindet. Jener Vertheidiger aber sagt: jeder macht einen andren Lebensmoment aus dem Gleichen, darum weil er schon als ein andrer dazu gekommen ist. Dieß ist richtig, aber je weiter wir zurück gehen, desto weniger ist dieß der Fall, und endlich, wenn die Äußerungen gleich scheinen, so ist noch nicht das Vermögen da, die innren Verschiedenheiten zu manifestiren, und der Gegenstand liegt nicht deutlich vor. Also wo der Einzelne für uns ein Gegenstand wird, da ist die Eigenthümlichkeit des Wesens schon gegeben, also ist für uns gleichgültig, ob diese Verschiedenheit angenommen wird als etwas Innres oder als etwas Körperliches oder als Äußres; sobald die Seele als Gegenstand uns vor7–8 zeigen] zeigt

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liegt, liegen auch die Differenzen uns vor in ihr und mit ihr. Wir müssen die Art und Weise, wie sie eine verschiedene ist und wird in unsre Untersuchungen aufnehmen.

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Wenn wir das agens aller Seelenthätigkeiten als Eins annehmen könnten in allen, so hätten wir immer die verschiedenartigen Verfahrungsweisen desselben nachzuweisen; wenn aber jede Seele ein Eigenthümliches ist, so müssen wir auch auf diese Differenzen Rücksicht nehmen. Da wir aber die Frage unentschieden ließen, ob diese Differenzen in jedem Individuum etwas Ursprüngliches seyen oder etwas durch Äußerliches erst Gewordnes, so können wir nicht dafür stehen, ob wir im Fortgang unsrer Untersuchungen diese Entscheidung finden werden. Doch seyen diese Bedingungen, welche sie wollen, so nehmen wir doch die menschliche Seele, wie sie vorliegt, als ein Mannigfaltiges an. Unsre Untersuchung zerfällt in 2 Theile, 1) den elementarischen, in dem wir die verschiedenen Thätigkeitesformen im Subject in ihren gegenseitigen Differenzen auffassen, wodurch wir das gewinnen, daß wir alles das lebendig anschauen, was uns, wenn wir die geistige Thätigkeit in irgend einem Momente hemmen, den Inhalt dieses Moments angibt. Dieß ist also ein rein Elementarisches, nur der Stoff unsres Gegenstandes ohne Zusammen|hang und Zusammenwirkung. Was ist der Einfluß davon auf die ganze wissenschaftliche Aufgabe? Alles, was wir durch diesen Ausdruck Wissenschaft bezeichnen, ist nur geworden durch solche Thätigkeiten dieses agens. Wir sind uns gewohnt, dieses ausschließlich dem Denken zuzuschreiben; alle andren Thätigkeiten der Seele scheinen also außer dieser Wissenschaft zu liegen. Aber wie kommt die Seele zum Denken, und was ist dabey das wissenschaftliche Element? Vieles hängt ab eben von jenen andren Seelenthätigkeiten, die wir vom Denken different halten. In der Naturkunde sind alle Hauptsätze Resultate der Denkthätigkeit, und beruhen auf Begriffen; aber wenn wir sehen, wie wir doch nur durch die sinnliche Wahrnehmung zu jenen Sätzen kommen, so haben wir hier schon ein Zusammenwirken verschiedener Thätigkeiten. Gehen wir noch weiter, so hängt das Werden dieser Complexe davon ab, daß die Individuen überwiegend ihre Richtung auf gewisse Gegenstände 14 elementarischen] doppelt unterstrichen

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nehmen. Soll der ganze Proceß verstanden werden, so müssen wir also auf die Verschiedenheit der Intressen der Individuen kommen. Wir können also den ganzen Proceß nie verstehen, wenn wir bloß auf die Seelenthätigkeit sehen, die sich im Product manifestirt. Aber eben dieses verschiedene Intresse ist ja nur das Verhältniß gewisser bestimmter Thätigkeiten zu allen uns gleichen andern; also können wir keine einzelne Seelenthätigkeit isoliren, sondern immer alle zusammenhalten. Können wir das, was wir Wissenschaft nennen, nicht völlig erkennen, ohne die Kunst, d. h. ohne die ganz verschiedene Behandlungsart derselben Gegenstände, die wir auch für die Erkenntniß betrachten können, z. B. alle Versuche zur Förderung der Wissenschaft, die eigentlich Kunst sind, so sehen wir hier wieder das Zusammenwirken des Organisirens und Symbolisirens. Dieß hat Einfluß auf alle Aufgaben des Lebens, denn in diese beyden Gesichtspuncte gehören alle. Halten wir uns eine Gesammtaufgabe aller Menschen vor, nach der jeder Mensch andre Menschen um sich hat, auf die er wirkt, was die Alten Seelenleitung nannten, so ist diese allgemeine practische Aufgabe nicht zu lösen, ohne Kenntniß alles dessen, was in der Seele vorkommt. Diese elementarischen Untersuchungen haben also Einfluß auf alles, was Lebensaufgabe für uns seyn kann. Der zweyte Theil, der uns das Zusammenseyn dieser verschiedenen Elemente in verschiedener Art und Weise darstellt, wodurch uns erst ein lebendiges Bild des Zusammenseyns aller Thätigkeiten dieses Agens wird, ist nothwendig wenn uns nicht alles Einzelne gänzlich verschwinden soll, was wir Geschichte nennen; denn diese ist nur der Entwicklungsproceß dieses geistigen Agens in seiner verschiedenen Art da zu seyn im menschlichen Geschlechte. Wollen wir zu einer Einheit kommen, so müssen wir die Wechselwirkung der verschiedenen Seelenthätigkeiten der verschiedenen Menschen kennen, so müssen wir jenes Elementarische zusammenfassen für einen einzelnen Menschen und das Zusammenseyn aller Menschen, wenn wir | geschichtliche Momente verstehen wollen. Dieß ist aber eben das Selbstverständniß des geistigen agens, und so lange wir die Art des Verlaufs des einzelnen Individuums und der Individuen mit einander nicht klar anschauen können, so fehlt es am Selbstverständniß des geistigen agens, am klaren Bewußtseyn. Also ist neben dem Elementarischen noch ein constructiver Theil zur Klarheit zu bringen. Unsre Untersuchungen sind also die unerläßliche Bedingung der Richtigkeit des Denkens und Lebens, der Eingang also zu aller klaren Erkenntniß und allem klaren Handeln. Sehen wir auf die mögliche doppelte Stellung der SeelenLehre ganz vorn oder ganz hinten in der Wissenschaft überhaupt zurück, so haben wir allerdings erstre Stel-

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lung gewählt, sehen aber doch, daß eigentlich auch die letztre noch Statt finden sollte, und es entsteht jedenfalls eine Differenz derselben Wissenschaft, je nachdem sie vorn oder hinten steht, und die erstre Stellung gibt allerdings ein viel mangelhafteres Resultat in allen einzelnen Puncten und im Ganzen. Dessenungeachtet ist dieß eine nothwendige Aufgabe; aber lösen wir uns die Formel genau auf, die SeelenLehre vor allem Wissen und die SeelenLehre nach allem Wissen, so sind dieß nur Gedachte, nicht Gegebene, wir sind so wenig vor allem Wissen als in der Vollendung desselben. Stellen wir uns aber in das Werden des Wissens hinein, so ist es möglich, daß wir Elemente des vollendeten Wissens und das, was im Wissen als Element verschwunden ist, verwechseln. Dieß sind alles streitige Dinge, und wir haben also nur Streitiges wovon wir ausgehen können. Dieß gilt aber von allem Wissen, das sich nicht löst als ein Vollendetes Wissen vom Werden desselben; dieß ist in jedem unvollendeten Wissen unvermeidlich. Können wir es nicht anders als so wagen, so müssen wir immer gut auf der Huth seyn, und nichts feststellen in Worten und Formeln, ohne gewiß zu werden, daß wir uns alle dabey dasselbe denken, und nichts feststellen, ohne auf die entgegengesetzte Seite zu sehen, und zu untersuchen, ob sich von da aus nicht manches als ein vorüber gehender Irrthum im Wissen zu erkennen gebe. Dieß ist freylich ein Unendliches, aber in sich selbst muß jeder diese Untersuchung anstellen; denn jeder mitgetheilte Gedanke hat immer für den dem er mitgetheilt wird, einen Grad von Gewißheit oder Ungewißheit. Was uns im ersten Moment gewiß wird, damit haben wir diesen Versuch nicht zu machen; was aber im Moment der Mittheilung ungewiß ist, das muß der Aufnehmende zu berichtigen suchen; und es ist nöthig, daß sich beym Einzelnen der Grad der Gewißheit und Ungewißheit klar heraus stelle. –

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Haben wir schon einen Gedanken aufgestellt, von dem wir nun ausgehen könnten? Alles Bisherige ist immer noch in der Aufgabe, daß wir unter Seele uns etwas Bestimmtes denken wollen, aber wir haben nur gesehen, wie Verschiedenes dabey gedacht werden kann und worden 4 mangelhafteres] über schwächeres

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ist; das Gewisse, was wir | aufgestellt haben, ist nur dieß: Wir wollen stehen bleiben bey der menschlichen Seele, und lassen die Fragen bey Seite, ob auch außer dem Menschlichen eine Seele anzunehmen sey. Ferner: im ganzen Umfange des Menschlichen sehen wir nur das als Seele an, was mit dem Ichsagen oder Sichselbstsetzen und Sichselbsthaben in Verbindung steht. Denken wir uns darunter dasselbe, so haben wir einen Anfangspunct; aber jemehr wir uns alle dasselbe denken, um so einfacher muß der Gegenstand seyn, aber dann wird es schwierig seyn, das Elementarische aus diesem Einfachen des Ichsagens zu entwickeln. Also entsteht uns noch die Aufgabe, das Einfache so zu stellen, daß es ein Entwicklungsprincip des Mannigfaltigen werden kann. Man könnte freylich sich so aushelfen, daß wir damit anfingen, die verschiedenen Ausdrücke für die Thätigkeiten des Ich zusammen zu stellen in richtiger Ordnung; dieß wäre ein rein empirisches Verfahren. Wir können dieß nicht schlechthin verwerfen ohne uns bewußt zu seyn warum. Die Ausdrücke in der gewöhnlichen Sprache werden nicht immer gleich genommen, z. B. Empfindung und Gefühl, Vorstellung und Begriff, wobey wir uns doch nicht an Eine Schule halten könnten. Dieser Schwierigkeit ließe sich zwar abhelfen durch eine genauere Vergleichung, die doch nicht zu einer Einheit führen würde durch genauere Bestimmung, womit wir der Sprache einen Dienst leisten würden. Daß wir so alle Seelenthätigkeiten zusammenbrächten, wäre keinem Zweifel ausgesetzt, ausgenommen wir zweifelten, daß die Sprache sich schon so über alle Gebiethe erstreckt habe. Dazu aber haben wir keinen Grund; aber die Schwierigkeit geht an, wenn wir daran den constructiven Theil knüpfen wollten und eine Verbindung derselben finden für die persönliche Einheit und die Einheit der Menschheit. Hier müßten wir ein Princip der Anordnung haben, und dieses gäbe uns die gewöhnliche Sprache nicht und darum genügt uns ein solches empirisches Verfahren nicht. Wenn wir doch auf das Bedürfniß getrieben werden, ein Princip der Anordnung zu finden, so ist es besser, es gleich anfangs aufzusuchen und es an die Spitze zu stellen. Aber bleiben wir dabey stehen, daß wir uns nur an die constanten Thatsachen des Ichsagens halten, so biethet sie uns nichts Mannigfaltiges dar. Wir wollen einen Versuch machen, der uns zu einer nothwendigen Bedingung des Ichsagens führt. Betrachten wir dieß in der Sprache, so können wir nicht umhin eine Zusammengehö20 nicht] nichts 1–6 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 16: „Unsere Aufgabe ist demnach 2fach: 1) Alle verschiedenen Thätigkeiten der Seele in ihrer Verschiedenheit und Beziehung auf das Menschliche Seyn zu begreifen. 2) Diese in Bezug auf die Einheit der menschlichen Gattung aufzufassen. –“

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rigkeit von ich und du anzuerkennen, und ersteres ist nur da, wo das Zweyte ist, d. h. in gehörig weitem Umfang, nicht bloß von einem andren menschlichen Individuum; dieses würde aber zu nichts führen, denn es wäre wieder ein ich. Wir meinen aber unter dem du alles, was wir vom ich unterscheiden. Durch dieses du bringen wir ins Ichsagen eine Duplicität; wie verhält sich diese zur vorausgesetzten Einfachheit? Dieß ist auf die Formel zurück zu bringen, daß das Ichsagen bedingt sey durch ein Zugleichsetzen eines andern. Ist das Ichsagen eine schlechthin einfache Thatsache, so müssen wir uns darüber genauer verständigen, weil wir es mit einem Zwiefachen identificiren. – | Können wir uns in irgend einem Moment festhalten, wo unsre ganze Seelenthätigkeit nur ein Ichsagen wäre? Nein. Wollten wir dieses festhalten, so kämen wir nicht zum Gehalt eines menschlichen Lebens; sondern ein solcher Moment des reinen Ichsagens kommt uns gar nicht. Wenn wir das Leben, wenn es von selbst verläuft, in irgend einem Moment betrachten, so finden wir es nicht so; wir können es künstlich machen durch einen Scheidungsproceß, aber in sich ist das Ichsagen nicht ein Einfaches. Ist das Ichsagen so viel als Selbstbewußtseyn, so müssen wir sagen, daß wir uns unser selbst immer bewußt sind in einem bestimmten Zustande, der sich ändert, und das Ichsagen ist das Festhalten des Ich in diesen Änderungen. Ist dieß dasselbe was wir ein Dusagen genannt haben? Wir können es noch nicht identificiren; sondern was mit dem Ichsagen wesentlich verbunden ist in einem bestimmten Momente, ist nur das Unterscheiden dieses Moments von einem andren, wo das Ichsagen mit andren Momenten verbunden ist. Z. B. wir sind uns in einem bestimmten Moment als vorstellend bewußt; wenn wir nun sagen können: wir können nicht vorstellend gedacht werden ohne ein Etwas der Vorstellung, so wäre in diesem Falle allerdings ein du eingeschlossen. Doch auch in diesem Falle wäre es nicht das Allgemeine, denn wir könnten uns ja auch uns selbst vorstellend denken, und dann wäre das Vorgestellte kein du, sondern nur ein bestimmtes Verhältniß des Ich. Also dieses du lassen wir noch weg: aber nehmen wir einen andren ähnlichen Terminus dazu, und sagen: ich bin mir meiner bewußt als empfindend, fühlend etc. so haben wir doch eine verschiedenartige Gestaltung des Ichsagens, aber indem wir das Ich doch als dasselbe immer setzen, so ist es zwar immer dasselbe aber es ist nur, indem es irgend eine Bestimmtheit in sich hat, ein Vorstellen, ein Wollen, Empfinden etc. Also das Ichsagen trägt schon in sich die Beziehung auf ein andres, aber nur ein solches, das innerhalb des Ich selbst gesetzt ist, also das Ich in seiner Identität 10 es] ihn

31 selbst] selbst uns

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und Verschiedenheit. So müssen wir zugeben, daß das wirkliche Ichsagen nie ein rein Einfaches ist, sondern immer mit einem Prädicat verbunden, und jener Wechsel auf die Einheit bezogen ist die Einheit des Lebensverlaufs. – Dasselbe von einer andern Seite: Wir nennen Moment ein beliebiges Minimum von Zeit; ist das Ichsagen ein solches Einfaches, so haben wir schon gesagt, wir finden das Ich so und so in irgend einem Momente des Lebens und sagen damit: so ist das Ich wenn wir es in irgend einem Momente ergreifen, diesen Inhalt hat es in einem Lebensmoment. Wodurch würde einem einfachen Ichsagen ein Moment? es gäbe keine Theilung der Zeit und also auch keine Wiederhohlung des Ichsagens, kommt es aber vor verbunden mit diesem und jenem, so haben wir diese Theilung, Anfang und Ende, Wiederhohlung: daß wir ihm also die Zeit mitgeben, sagt schon, daß es kein Einfaches sey. – Gehört aber zum Ich immer ein Du, und ist dieß das gemeinsame Bewußtseyn aller, so muß sich dieß zeigen in unsren Zuständen aller. Denken wir uns ein menschliches Individuum allein aber umgeben von einer Menge von Gegenständen, die das Du bilden; wir wollen uns hier das Ich denkend vorstellen, oder empfindend oder wollend, so müssen wir sagen: in sofern es vorstellend ist, so wird es niemals in diesem Zustande bloß Ichsagen, sondern es unterscheidet das Vorgestellte von sich selbst, und es sagt: Ich stelle mir dieses vor. Denken wir das Ich für empfindend, | so läßt es sich denken, daß es eine Beziehung macht zwischen dem Umgebenden und sich selbst, aber eben so gut daß es diese macht auf ein mit ihm selbst Gesetztes, doch immer nur so, daß dieß wieder eine Unterscheidung ist zweyer Momente ohne Einfluß der äußeren Gegenstände. Aber wenn es z. B. empfindet, setzt aber seine Empfindung in einen Theil des Leibes hinein, oder es gibt einen Theil der Umgebung als den Ort an, woher ihm die Empfindung kommt, und auch hier ist es eine Unterscheidung des Ich von einem andren, sey es der Leib oder etwas Äußres. Ist es möglich, daß ein menschliches Leben verliefe, daß das Leben nur eine Unterscheidung verschiedener Momente wäre ohne Unterscheidung des Ich von einem Du? Jeder wird sagen: Nein; solche einzelnen Momente wären immer umgeben von solchen, wo das Ich etwas von sich unterschieden hat. So ist also auch diese Unterscheidung von Zuständen wieder abhängig gemacht von einer Unterscheidung des Ich von einem Du, und dieß ist die Bedingung des Lebensverlaufs. Kommt diese Unterscheidung aber vor von leiblichen Zuständen, die nicht getrennt sind vom innren Ich, und auch vom ganz Äußren, so müssen wir noch einmahl zurück gehen auf das Eins von Leib und Seele, um 21 stelle] stellt

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diese beyden Fälle zu unterscheiden. Hier kommen wir dann auf den allgemeinen Ausdruck Leben, das auch unter dem menschlichen Ich statt findet.

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Gehen wir zurück auf den Stoff, so müssen wir unterscheiden zwischen dem Organischen und Anorganischen; im erstern ist Leben; aber die Grenze ist zweifelhaft. Um diesen streitigen Punct ins Auge zu fassen, müssen wir ausgehen von dem, was man beym Leben voraussetzt, daß es unter dem Seyn einiges gebe, was als ein Vereinzeltes in sich erscheine, was in der Bewegung begriffen sey von außen her, und andres, was das Princip in sich selbst hat, doch natürlich auch mit Einwirkung von Außen. Das ganze Gebieth von Bewegungen von außen heißt Mechanismus, das der Bewegungen von innen Organismus. Sehen wir auf das Gebieth des menschlichen Lebens, so finden wir verschiedene Anwendungen; wenn Menschen von untergeordneter Bildung eine Taschenuhr sehen, halten sie es für ein innres Leben, wir halten es aber für eine willkührliche Zusammensetzung; jenes ist also eine falsche Anwendung. Woher ist es, daß das ganze Gebieth des Organismus selbst in höheren Gebiethen oft ein streitiges ist? Ein solches ist die Vegetation, und wenn es Bewegungen gibt, die oft mehr vegetabilisch oft mehr animalisch erscheinen, so zieht sich dieser Streit auch auf das Animalische hinüber. Wir finden sich bewegende Gestalten, wo wir eigentlich kein innres Princip finden, und wo nur die Spuren früherer Bewegungen vorhanden sind, z. B. ein Stein mit KrystallSpitzen, den wir doch ins anorganische Gebieth setzen. Ebenso von der andren Seite her in der Vegetation, wo die Bewegungen zwar innere sind, aber nicht nothwendig das Princip derselben. In einem reifen Samenkorn finden wir keine Spur von Bewegung, und diese fängt erst an mit äußrem Einfluß; so ist es aber auch im Animalischen. Der Zusammenhang einer solchen Reihe von Erscheinungen, in denen einzeln der Anfang des Lebens nicht innerlich zu sehen ist, soll uns darin nicht außer dem Organischen fallen, denn die spätren Bewegungen sind doch nicht mehr durch äußren Einfluß bloß erklärlich. – | In der Eintheilung der Gestirne hat man die einen angenommen als durch einen ursprünglichen Stoß in Bewegung gesetzt, und dieß ist eine solche Zurückführung, die Alten aber nahmen sie belebt und beseelt an. An der Erde aber z. B. müssen wir unterscheiden die Bewegung im Raum, und die innren Bewegungen, vermöge deren die Vege12 innen] innen den

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tation sich immer erneuert; die erstren sind offenbar mehr anorganisch und äußerlich, die letztren mehr innerlich. Im Großen und Kleinen also finden wir diesen Gegensatz, der strebt realisirt zu werden, und die Versuche, die Eine Seite ganz aufzuheben, erscheinen immer als Extrem. Wollte man im Seyn allen Mechanismus läugnen und alle Bewegung innerlich setzen, so wäre dieß ein Extrem; eben so wenn man sagen wollte, alles sey Mechanismus, und nichts Leben. Das Wahre ist aber, daß man im Innerlich bewegten den äußren Einfluß nie läugnen kann. Den Gegensatz von Tod und Leben aber kann sich keiner nehmen lassen. Finden wir einen Krystall auf dem Felde isolirt, so wird keiner glauben, daß er hier isolirt entstanden sey, sondern er ist ein losgerissenes Stück von einem frühern Zusammenhang im Gebirge, wo die Bewegung statt fand; so ist es im ganzen Gebirge. Wollten wir sagen: dieß könne zurück geführt werden auf die innren Lebensbewegungen der Erde, so hätten diese in Absicht auf diese Wirksamkeit jetzt aufgehört, und es wäre wenigstens jetzt ein Todtes, das in der Atmosphäre verwittert. Betrachten wir den Gegensatz von Leben und Tod im Organismus, so biethet uns ein Leichnam keine andern Erscheinungen mehr dar, als chemische, also anorganische; dennoch sind alle Organe noch da, die früher innre Bewegung hatten, und durch sie entstanden waren. Wollte man nun sagen: diese innren Bewegungen der Organe seyen auch durch chemischen Proceß entstanden, so wüßte man Leben und Tod in ihrem Gegensatz nicht zu erklären. Dieß ist der Grund, warum Plato die Seele ein ἀσώματον nennt. Wie das innre Princip aufgehört hat, ist eben so räthselhaft wie das Anfangen, aber wir betrachten es nur in der Zeit, in der es vorhanden ist. Also bleiben wir dabey: das Organische hat sein Bewegungsprincip in sich; das Anorganische außer sich. So haben wir ohne alles Metaphysische den Begriff des Lebens festgehalten. Was ist das Leben? Wenn wir den Gegensatz aufstellten vom Lebenden und Todten, so setzen wir eine Vielheit, indem wir einiges als lebend setzen, andres als todt. Wie verhält sich nun Lebendes in seinem Seyn im Vergleich zum Todten? Denkt sich jemand das Leben als eine Reihe von Bewegungen rein von innen heraus ohne äußren Einfluß? Nein: Was wir als Lebendiges setzen, ist unter sich sehr verschieden, und wir unterscheiden es darnach, wie mannigfaltig und von welcher Art die Bewegungen durch das innre Princip sind. Die Frage, warum wir A ein Lebendiges nennen und B ein Todtes, da doch erste24–25 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 21: „Daher sagt Aristoteles: daß alle die ψυχη für ein σωματον halten, denn sonst wäre alles geistige ein leibliches.“ Gemeint ist Aristoteles; vgl. De anima 405b; Opera 1,382; ed. W. D. Ross 9–10

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res nicht immer in Bewegung ist, und Letztres nicht immer ohne Bewegung, lassen wir bey Seite und sagen uns: Jedes Lebende hat das Princip der Bewegungen in sich, | und sein Leben besteht eben in einer Reihe von Bewegungen, die wechseln. Hat nun dieser Wechsel von Bewegungen auch rein seinen Grund innerhalb? Nein, sondern wir setzen jedes Lebende in Wechselwirkung mit andren, und eine Mitwirkung des Äußren nehmen wir allein an unbeschadet dem Begriff des Lebens selbst. Welches ist dann das Verhältniß des einzelnen Lebendigen zu allem außerhalb desselben? Wir kommen hier auf den Gegensatz von thun und leiden. Auch diese Grenze ist sehr unbestimmt in der Anwendung; die Glieder des Gegensatzes aber werden von allen gleich gefaßt. Nehmen wir leiden, so führt dieser Ausdruck auf eine Duplicität, denn indem wir das Leidende setzen, gehen wir auf etwas andres zurück; was im Einzelnen rein in sich selbst begründet ist, nennen wir nie ein Leiden. Ist es mit dem Thun eben so? man könnte sagen: jede innre Bewegung ist ein Thun, ohne daß wir an ein Andres dabey zu denken haben. Aber wir könnten so viel Innres im Einzelnen auch ein Leiden nennen, und der Gegensatz hätte so eine ganz andre Bedeutung. Im obigen Sinne aber ist das Thun auch ein solches, das auf ein andres geht. Beyde Ausdrücke sagen also ein Verhältniß zwischen Zweyen aus; in sofern im Einen das Thun ist, ist im Andren das Leiden, und umgekehrt. Das ist die allgemeine Erklärung; aber die Ausdrücke für die beyden Seiten des Gegensatzes in verschiedenen Sprachen haben nicht ganz denselben Sinn; z. B. ποιεῖν und πάσχειν ist bestimmter als unser thun und leiden, indem im ποιεῖν mehr die Beziehung auf ein zweytes liegt; daher würden wir vielleicht besser wirken sagen. Wir müssen uns aber nur dieses Zusammenseyn als Bedingung des Gegensatzes fest halten. Was ist der Sinn dieses Gegensatzes? Setzen wir 2 Zusammenseyn, in einem ein Thun, im andren ein Leiden, so ist das, worin wir ein Thun setzen, in einem Übergewicht, d. h. es ist das Bestimmende, das Leidende ist aber das Bestimmte. Jedes Zusammenseyn von Dauer ist immer ein Wechsel von diesen beyden; denn ohne Wechsel hat es in sich selbst keine Dauer. Wenn nun beyde lebendige sind, so ist das Verhältniß ein völlig Gleiches. Denken wir uns aber im Gegensatz ein Lebendes und ein Todtes, so müssen immer auch vom Todten aus Bestimmungen auf das Lebende ausgehen, sonst selbst der Wechsel; doch muß sich die Differenz des Lebenden und Todten zu erkennen geben in Leiden und Thun.

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Mit dem Bewußtseyn um sich oder Selbstbewußtseyn ist also nothwendig ein Bewußtseyn um etwas außer dem Ich verbunden. Wenn

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wir uns Zustände des Selbstbewußtseyns sich einander anschließend denken z. B. eine Abwechselung von Hitze und Frost, oder aber wenn wir durch die Luft gehen, und haben jeden Augenblick einen andren Geruch, so haben wir bey letztrem das bestimmte Gefühl, daß etwas außer uns den Wechsel bewirke, beym ersten nicht nothwendig. Keins von beyden aber ist ein eigentliches Dusagen. Was ist für uns nun der Sinn von beyden? Das erste ist ein Zustand im Organismus, letztres auch, denn ehe die wechselnden Gerüche Bewußtseyn werden, sind sie Affectionen der Organe. Leiten wir das eine von außen ab, das andre nicht so müssen wir dieß hier nicht rechtfertigen, es sind Veränderungen im Ichsagen durch den Organismus. Können | wir dieß nicht als eine innre Entwicklung ansehen, nach der Zusammengehörigkeit von Seele und Leib? Davon ging früher die idealistische Ansicht aus, die den Unterschied aufhob zwischen organischen Veränderungen im Organismus, und solchen, die von außen her kommen, und letztres ganz zweifelhaft ließ. Wir wollen darüber noch nicht sprechen, und setzen obige beyde Fälle gleich als etwas Innres ohne Rücksicht auf etwas Äußres. Denken wir uns die Affection des Geruchorgans als einen früheren Zustand vor dem Selbstbewußtseyn, so ist jenes ein unbewußtes, physiologisches, leibliches. Jene Veränderung von Frost und Hitze kann einen äußren oder innren Grund haben, dieß nehmen wir hier gleich an, und wir nehmen es jetzt an als ein Innres; diese Veränderung ist eine Alteration im Blutumlauf, es ist also ein körperliches System, das mit dem Bewußtseyn nicht zusammen hängt. Also ist es in beyden Fällen der Organismus in dem Gesetztseyn des Körperlichen ohne das Ichsetzen. Es kommt also ein andres Ichsagen erst durch eine Veränderung des pathologischen Zustands, durch organische Veränderungen zu Stande. Stellen wir uns aber vor im Zustande des Denkens also im Zustande des Bewußtseyns, aber in dem die Gedanken wechseln, ist im Bewußtseyn ein beständig andres, und wir wollen uns dieß vorstellen in einer ununterbrochnen Reihe. Was ist hier das, das das Wechselnde vom bleibenden Ich unterscheidet? Auf eine organische Veränderung können wir hier nicht zurück gehen, wie oben. Dieser ganze Verlauf hat also seinen Grund im Ich allein. Anders ist es im Gespräch mit andren; hier tritt immer das Auffassen der fremden Gedanken zwischen die unsrigen als Erregung. Denken wir aber für uns allein, so fehlt uns ein solches Anregendes; also ist die Veränderung des Ich anders begründet im Ich als das Ichsagen selbst. Wollte man sagen: das Ich ist nur in einer Selbstentwicklung, die reine Selbstentwicklung des Ich ist, wie im Organischen die Selbstentwicklung, so wäre dieß 16–17 sprechen] absprechen

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eine gute Parallele, allein: Überall, wo wir eine Verschiedenheit im Ich annehmen, müssen wir ja andres im Ich begründet setzen, als das Ich selbst. Eine gewisse Theorie hat gesagt, das identische Ichsagen sey ein leerer Schein, eine Abstraction, und das Subject sey in jedem Moment ein andres durch andre Erregung. Allein so würden wir unsre Aufgabe, alles, was im menschlichen Daseyn vorkommt, auf ein Ich zurückführen, müssen fallen lassen. Wir müßten einen Sprung machen von der Einheit zur unendlichen Vielheit und Kleinheit, und dabey ist kein eigentliches Wissen möglich. Wo wollen wir aber die Differenz setzen? Man könnte sagen, alle fortwährenden Gedankenreihen, wo das Denken von selbst ein andres wird, sind eigentlich von außen veranlaßt. Ja wohl, solche Fälle gibt es, z. B. wenn ich reden höre und die Gedanken eines andren auffasse. Ebenso wenn wir unter das Denken auch das Vorstellen mitbegreifen, wo dann durch das Wandeln der Augen die äußre Erregung immer eine andre wird, die wir auf ein Innres zurück führen. Wenn wir nun aber von allem Äußren abstrahiren, und die eine innre Veränderung annehmen, wie ist es hier? Wir müssen 2 unterscheiden; es gibt Gedankenreihen, die gewollte sind, wo die Aufeinanderfolge der Gedanken nur die Lösung ist von der Einheit, die ich mir als Aufgabe gesetzt habe. Hier sind aber verschiedene Gedanken oder Zustände Eins in der Aufgabe. Der andre Fall ist, wenn diese Gedankenreihe nicht eine gewollte ist; wir nennen dieß: einfallen. Hier finden wir uns in einem Gedankenspiel, wo Gedanken werden, die man nicht gewollt hat. Diese beyden | Fälle sind wohl zu unterscheiden. Im ersten Falle ist die Vielheit nur eine scheinbare, und alles vereinigt sich im Willensact. Ist dieser nun entstanden im Lesen eines Buchs oder im Gespräch, so ist dieß der Grund desselben und die Entwicklung ist nur ein Verharren in diesem Willensacte, und jede Veränderung hat denselben Grund. – Ganz anders ist es mit dem freyen Gedankenspiel. Anerkennen wir die Formel: es gebe kein Selbstbewußtseyn ohne ein Bewußtseyn von etwas, und wir fragen: ist dieses Gedankenspiel ein Bewußtseyn von etwas oder nur eine Entwicklung des Selbstbewußtseyns? so ist dieß gewiß hier noch sehr schwer zu entscheiden. Denn alles, was wir im Bewußtseyn von etwas als das Objective setzen, das ist hier gar nichts, und hemmen wir uns in einem Momente, so werden wir uns der Nichtigkeit des Gedankenzusammenhangs bewußt. Dieß ist das, was wir Phantasiren nennen. Aber irgend wo muß doch der Grund des Wechsels seyn; wo? Es ist ein Product von irgend einer Reihe von früheren Momenten. Es ist oft nichts als ein Gewebe von Erinnerung; ein innres Spiel mit früheren Bewußtseynszuständen, die wir wieder in Bewegung setzen. Wir können uns entweder einen Zustand denken in welchem innerlich nur Bilder wechseln, Gesehenes; fixirt man den Moment, und zeichnet

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das Bild, so wird man sich dessen bewußt. Es kann aber auch eine Reihe von Gedachtem seyn, Vorstellungen in diesem Sinne. Im ersten Falle geht der Zustand auf die Gesammtheit des Gesehenen zurück, und hängt damit zusammen, im zweyten Falle aber ist es ein Verkehr mit der Sprache, die Vorstellungen haben wir schon in demselben Maaße, als wir die Sprache schon haben. Dieß ist das objectiv gewordene Bewußtseyn, nicht das Ich selbst, und eben so die Bilder sind das Resultat der Wirkungen auf das Ich. Was ist also der Unterschied zwischen dem freyen Gedankenspiel und einer gewollten Gedankenreihe? Im letztren Falle ist die Einheit eine bestimmte; im ersten Falle ist es auch eine Gedankenreihe, aber sie ist nicht so bestimmt. Der Willensact fehlt auch nicht ganz; es ist der Mangel eines andren Willensactes. Es ist also doch der Grund im Ich, ein Sichhingeben an Vergangnes. Also selbst da in einer Reihe von Thätigkeiten, wo das Ich immer ein andres wird und wo wir nichts auf ein Physiologisches zurückführen können, kommen wir doch auf Identität von Seele und Leib zurück. Dieses Zusammenseyn des Ichsagens, ob des Sichimmergleichen, oder des Sichimmerändernden ist nur das Resultat des Zusammenseyns des Ich mit allem andren, das uns immer vermittelt ist durch die Zusammengehörigkeit von Seele und Leib, welche letztre den Zusammenhang des Ich mit allem andren vermittelt. Das Ich und das Andre ist also unzertrennlich; nie haben wir ein Ichsagen ohne daß zugleich ein Andres mitgesetzt sey.

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Sehen wir nun auf das Psychische und Organische und lassen bey letztrem unentschieden ob es organische Thätigkeiten von innen oder Affectionen von außen seyen, und sagen, für uns ist der eigentliche Gegenstand das Psychische, so fragt sich: Wie ist Psychisch und Organisch zu scheiden? Alles worin das Bewußtseyn versirt, nehmen wir zu den psychischen Thätigkeiten; die Bewegungen aber schieben wir den Organen zu; und es frägt sich da jedes Mahl, wo der Anfang des Bewußtseyns dabey sey. – Die Griechen scheiden nicht wie wir, und schieben die Thätigkeiten der Ernährung der ψυχὴ zu. Wenn | diese ruhig ihren Gang geht, findet dabey gar kein Bewußtseyn statt; ist ein Bewußtseyn damit verbunden, so ist es die Folge einer Störung dieser Thätigkeit. Daß aber dem Leibe Nahrungsstoff zugeführt wird, ist nichts Bewußtloses, denn es ist eine gewollte Thätigkeit, und ihr geht 31–32 Zum Beispiel Aristoteles: De anima 414b, 432a–b, 433b; Opera 1,389, 403– 404, 405–406; ed. W. D. Ross 31–32, 77–79; 81–82

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voraus Hunger oder Durst, was immer mit einem Bewußtseyn verbunden ist. Also die ernährende Thätigkeit ist bewußtlos, und der krankhafte Zustand, der mit einem Bewußtseyn verbunden ist, ist eine Ausnahme. Die Ernährung aber ist durch eine bewußte und gewollte Thätigkeit bedingt, und es steht dem Menschen frey, durch Unterlassung dem Leben ein Ende zu machen. Auch hier also ist eine Verbindung von Psychischem und Organischem, aber die Griechen nannten nur den organischen Theil, und schrieben ihn der ψυχὴ zu. Unser gestriges Resultat war, daß wir die Aufeinanderfolge der Momente neben dem gleichen Ich aus andern Einwirkenden erklären müssen, und also das Gleichbleibende, die Seele, und das Mitwirkende, der Organismus einander gegen über stehen. Es frägt sich: Was ist das Verhältniß der Selbstthätigkeit der Seele zur Einwirkung des Organischen? Es handelt sich hier um ein Quantitatives und dieß kann nur mathematisch bestimmt werden. Zuerst frägt sich: ob diese Einwirkung immer verhältnißmäßig die gleiche sey zur Stärke der Selbstthätigkeit oder nicht? Ferner: Kann man sich eine Umkehrung dieses Verhältnisses denken? D. h. ist das Ichsagen Selbstthätigkeit, der Organismus mit der Außenwelt ein Mitwirkendes zu jener Bestimmtheit, so denken wir uns natürlich erstres immer als das Größere, das Mitwirkende als kleiner; das Umgekehrte nun wäre, wenn das Mitwirkende zur größren Thätigkeit würde, also zum Bestimmenden, die Selbstthätigkeit aber zum bloß Mitwirkenden. Da beydes immer beysammen seyn muß, so kommen wir zu 2 Extremen: das Ichsagen kann ein absolutes Maximum seyn, das Mitwirkende ein Minimum; oder umgekehrt letztres ein Maximum, und das Ichsagen ein Minimum; Null kann nie eins werden, sonst hätten wir keinen Moment mehr. Wir haben uns ja schon von der alten Ansicht entfernt, daß die Seele thätig seyn könne ohne den Leib; denn man kann nicht sagen, daß die Seele das Denken verrichte ohne den Leib, d. h. ohne die Sprache, die ein Leibliches ist, inneres Reden und Hören; und auch das Wollen verrichtet die Seele nicht ohne den Leib. Wäre letztres nicht so, so gehörten die Willensthätigkeiten nicht in unsre Untersuchung und diese wäre QlahmR; sie wäre dann aber auch nicht mehr das, was wir denken. Wir wollen nun den einen Seelenact der Selbstbestimmung setzen in einem Subject und fragen: wie kommen wir zum Bewußtseyn eines Willensacts? Das eine ist eine bloße Vorstellung, in welchem Zustand sich das Subject durch eine bestimmte Thätigkeit befände. Aber dieß ist doch kein Willensact, sondern nur die Thätigkeit, in welcher wir uns schon des Grundes zu einer Reihe von Thätigkeiten bewußt sind. Zwischen jene bloße Vorstellung und den Willensact tritt noch verschiednes Andres; schon der Wunsch enthält mehr als die bloße Vorstellung und ist doch noch kein Willensact;

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jene Vorstellung kann auch eine Überlegung werden, ob ein solcher Zustand werden soll oder nicht, und doch ist dieß noch kein Willenact. Von einem Willensact haben wir nicht eher ein Bewußtseyn, bis wir uns bewußt sind, daß die Reihe von Thätigkeiten angefangen hat d. h. bis die Bewegung angefangen hat. Freylich ist diese Bewegung die Ausführung, aber der Willensact muß diesen Anfang schon in sich tragen. So wie aber ein Anfang von Bewegung gesetzt ist im Wollen, nun auch | rein innerlich, so ist natürlich Seele im Leib schon zusammen thätig; der Entschluß ist parallel dem innren Sprechen beym Denken. Nun frägt sich: kann das Eine ein Maximum und das andre ein Minimum seyn und so durch alle Stufen? Kommen Zustände vor, wo das Bewußtseyn ein Minimum ist, das Maximum im Leiblichen? und kommen Zustände vor, wo die Bewegung ein Minimum ist, und alles andre im psychischen Gebiethe? Wir müssen uns dazu den ganzen Verlauf des Lebens vergegenwärtigen. Das menschliche Leben wird eigentlich erst Gegenstand der Untersuchung, wenn das Ichsagen zur Klarheit gekommen ist, mit der Sprache, die dem Organismus angehört, und das frühere ziehen wir nur darum mit hinein, weil da die Vorbereitung auf diesen Zustand statt findet. Ein Kind kommt nicht in Einem Moment zur Sprache mit dem ersten Laute; dagegen kann es schon früher auch im Besitz der Sprache seyn, wenn es hört und versteht, und ein anderes kann äußre Fertigkeit haben, ohne innres Verstehen. Dieß ist also ein allmähliges, und wir können nicht anders, als mit dem Anfang des Lebens die Untersuchung anzufangen. Dieser kann aber genommen werden von der Geburt an; aber dieser selbst ist eigentlich schon eine Lebensthätigkeit des Geborenwerdenden, also das Leben ist schon früher da, aber es ist nicht Gegenstand beständiger Beobachtung, sondern nur theilweiser. Nun also von der Geburt an ist schon eine Vollständigkeit der äußren Lebensthätigkeiten, aber das Bewußtseyn ist dabey noch ein Minimum. Hier haben wir das Eine Extrem allerdings, und von dem an entwickelt sich allmählig das Bewußtseyn bis es zum Selbstbewußtseyn, Ichsagen wird. Wollten wir auch das Ende des Lebens ins Auge fassen, und sehen, ob da das entgegengesetzte Extrem liege, so ist allerdings der Tod das Aufhören der organischen Lebensbewegungen; wenn nun dieser Momemt auch oft plötzlich einzutreten scheint, so ist doch der Organismus irgend wie dazu vorbereitet, und es ist also ein Zurücktreten des leiblichen Lebens vor dem Tode anzunehmen; bey natürlichem Tode ist klar, daß die Altersschwäche dieses Zurücktreten ist. Aber wie steht es da um die Thätigkeiten des Bewußtseyns? Oft hat es das Ansehen, daß die 5 die] die die

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Thätigkeiten, die wir unmittelbar zum Ichsagen zählen allmählig abnehmen; doch dieß ist nur im Zusammenhang mit dem Abnehmen der organischen Bewegungen richtig, das Denken aber ist sehr oft völlig ungestört und unverringert bis zum letzten Momente, und nur die Seelenthätigkeiten die mit dem Organischen zusammenhängen, nehmen ab. Es gibt also ein Extrem, wenn auch nicht ein allgemeines, in den Zuständen, die dem Tode voran gehen. Doch dabey haben wir nicht nöthig stehen zu bleiben, sondern es frägt sich, ob sich diese Stufen nicht im Leben selbst wiederhohlen und also dem Lebensverlaufe angehören.

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Haben wir ein Maximum und Minimum so haben wir auch alle Zwischenstufen, und eine Gleichheit beyder; doch auch hier ist ein Maximum und ein Minimum möglich sc. beyder zu gleich; im letztren Falle ist auch ein Minimum von Leben. Es gibt Lebenserscheinungen, die mit einander verglichen sich so stellen, daß sie relativ ein Minimum oder ein Maximum sind, und eine Reihe von Differenzen liegt dazwischen. Es gibt Gegenden für die Menschliche Natur, wo sie wirklich beyde als ein Minimum erscheinen, und andre Gegenden, wo die ganze Entwicklung als ein Maximum erscheint. – Also quantitativ haben wir das Verhältniß beyder Kräfte gegen einander und das Zusammenseyn beyder zu unterscheiden. | Etwas andres ist wieder das dynamische Verhältniß, und es gibt hier 2 verschiedene Verhältnisse, und zurückgeführt auf die beyden Kräfte sind alle Lebensmomente von 2erley Art, nämlich so daß entweder das Bewußtseyn das Primitive und Bewegende ist, oder aber die Bewegung im Organismus ist das Primitive und das folgende Bewußtseyn ist das Secundäre. Da wir die psychischen Bewegungen allein hier zu betrachten haben, so gestaltet sich das Verhältniß für uns noch anders. So ist im erstren der genannten Fälle eine Selbstthätigkeit gesetzt, und der Organismus folgt erst nach; im zweyten Falle geben die Bewegungen des Organismus den Impuls, und das Bewußtseyn nimmt ihn auf. Wäre dieß nicht so, so müßten wir uns beydes immer gesondert erhalten. Allerdings ist dieß ein streitiger Gegenstand, und es waren verschiedene Systeme; allein die Verschiedenheit geht von einem ganz andren Punct aus, sc. der Leib als besondere Substanz und die Seele eben so; dann frägt sich: ob die eine Substanz auf die andre wirke, oder ob dieß nur ein Schein sey, und das Zusammenwirken beyder nur ein Nebeneinanderseyn. Wir haben die Frage nach einer Duplicität der Substanzen gar

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nicht berührt, sondern wir betrachten das Ganze nur als einen Complex von Lebensmomenten, die von beyden zusammen gebildet werden; die Frage betrifft also bey uns bloß die verschiedenen Thätigkeiten ohne Differenz der Substanzen. Denken wir uns einen Act wie das Vorstellen gesehener Gegenstände, so unterscheiden wir die beyden Momente, es ist eine Veränderung in dem bestimmten Organ, das während des Sehens in Thätigkeit ist; aber das Vorstellen ist im Bewußtseyn, und wir sondern es vom Organismus. Beydes ist nicht dasselbe, und jeder kann sich dieser Thatsache bewußt werden bey Betrachtung von Gegenständen, wo das Vorstellen oft zurückbleibt, wenn man z. B. mit andrem geistig beschäftigt ist. Es ist also ohne das andre möglich, und wo beyde zusammen sind, ist in diesem Fall das Organische das Erste. Die Seite des physischen Sehens betrachten wir hier natürlich nicht, sondern nur das Bewußtseyn dabey, und wir sagen: in diesem Fall wird dieses durch das Organ bestimmt, bekommt einen Impuls, das Aufnehmen desselben ist dann wieder eine Selbstthätigkeit. Es ist umgekehrt im Physiologischen mit den gewollten Bewegungen; das Wollen gibt hier den Impuls, und der Organismus nimmt ihn auf, und dieses Aufnehmen ist wieder Selbstthätigkeit des Organismus. Also in diesen Bewegungen ist der Organismus receptiv, doch nur durch seine Selbstthätigkeit, und die physiologische Aufgabe wäre hier, diese Selbstthätigkeit zu untersuchen. Diesen Gesichtspunct müssen wir festhalten für die Theilung unsrer Aufgabe, indem alle unsre Aufgaben uns in diese beyden Momente zerfallen; entweder ist das Bewußtseyn receptiv, oder aber es ist selbstthätig und der Organismus ist receptiv. Es frägt sich nur, ob wir auch so scheiden können, wo die Selbstthätigkeit des Ichsagens aufhört und die Organische Bewegung anfängt und umgekehrt. – Eine andre Frage wäre diese: wenn wir die dynamische Frage mit der quantitativen vergleichen; das Impulsgebende ist immer | das Dominirende und umgekehrt, nun aber gab es auf der quantitativen noch eine Gleichheit und für beyde Kräfte zugleich ein Maximum und ein Minimum. Gibt es auch ein solches Gleichseyn im Dynamischen, so daß man nicht sagen kann, welches den Impuls gebe? Unter Moment verstehen wir eine Zeiteinheit, begrenzt von beyden Seiten, aber diese Zeiteinheit darf nicht unendlich klein seyn, sondern ist ein Zeitraum. Nun frägt sich: Wenn ich einen Moment denke, wo das Bewußtseyn den Impuls gibt, auf den die physische Bewegung folgt, so theilt sich der Moment auch der Zeit nach in 2 Theile, von denen der erste das Bewußseyn ist, und der zweyte die Bewegung. Wäre nun beydes zugleich und nicht zu unterscheiden, so wäre auch der Moment nicht zu theilen. Wäre dieß, und wir könnten nicht sagen, welches das Erstre sey, so könnten wir diesen Lebensmoment nicht allein betrachten, denn er wäre von etwas

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Früherm abhängig; wir könnten dann keine Sonderung der Momente erhalten der Form nach, sondern nur der Motive nach. Wir müssen also nicht annehmen, daß einem solchen Momente ein andrer umgekehrter vorangehe, und ein umgekehrter folge: wollten wir ein dynamisches Verhältniß ganz läugnen, so könnten wir keine Momente unterscheiden. Das dynamische Verhältniß in seiner 2fachen Gestalt ist also ein wesentliches Element in unsrer Wissenschaft; gibt es Momente im Leben, wo wir die Scheidung noch nicht machen können, so sind es noch unerforschte Momente, die erst klar werden müssen. Allerdings könnten wir Erscheinungen finden, in denen dieses dynamische Verhältniß aufgehoben erscheint, aber dieß sind eben noch nicht erkannte Erscheinungen. – Abgesehen von der Form gibt es also auch materiell verschiedene Momente, solche Bewußtseynszustände von der erstren oder letztren Form von sehr verschiedenem Inhalt; es gibt eine Menge dem Inhalte nach verschiedene Lebensmomente, wo das Ichsagen receptiv ist und wo es Anstoß gebend ist. Das Bewußtseyn kann dem Inhalt nach in beyden Fällen ein sehr Mannigfaltiges seyn. Es ist natürlich, daß diese Differenzen des Inhalts immer ein Gegenstand der Beobachtung waren, und das öffentliche und gemeinsame Denken davon afficirt wurde. Diese Differenzen wurden auf 2 verschiedene Weisen betrachtet. Wir wissen ursprünglich nur um das Einsseyn des Bewußtseyns und Organismus im einzelnen menschlichen Leben, und das Zusammenseyn von Leib und Seele; aber das Zusammenseyn der Seele mit allem Äußren ist vermittelt durch den Organismus. Das erste Außer ihm ist der Organismus. Sagt man, die Differenzen des Inhalts sind solche, welche sich beziehen auf das Äußre, so ist dieß die eine Seite; sagt man aber weiter: das System des Bewußtseyns ist kein identisches, sondern ist ein Zusammenseyn von verschiedenen Functionen, so gibt es hier eine andre Differenz abhängig davon, welche Function des Bewußtseyns dabey thätig gewesen sey. Es ist eine andre Function des Bewußtseyns, wenn es durch einen Sinn in Bewegung gesetzt wird, und eine andre Function, wenn es in Begriffen versirt und combinirt. Wie haben wir diese Differenzen des Inhalts zu berücksichtigen und zu behandeln, um das Ganze des Bewußtseyns in einer gewissen Ordnung zu umfassen?

[14. Stunde] Diese Verschiedenheit also nehmen wir an, keineswegs aber als verschiedene Seelenkräfte, die man oft personificirt darstellt, und so 35 umfassen?] umfassen.

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nothwendig die Einheit der Seele verliert. | Das alles lassen wir bey Seite, und suchen Puncte auf für eine Subordination. – So wie wir einen vollständigen Moment, Zeiteinheit haben, ist ein Psychisches und ein Organisches Element beysammen: das ist das Allgemeine. Ferner so wie wir das Ichseyn, Selbstbewußtseyn an die Sprache knüpfen, so an das Gattungsbewußtseyn, und hierin die Differenz setzen zwischen dem Einzelnen und seiner Getrenntheit und dem Einzelnen als Theil der Menschheit, so haben alle Momente eine Beziehung auf beydes, das immer zusammen ist. So wie wir in einem Momente ein Übergewicht des Gattungsbegriffs setzen, so fordern wir dieß für alle, so wie wir aber das Einzelwesen als solches vorherrschen sehen, abstrahiren wir von jenem. Man nennt das Eine das Subjective, das andre das Objective; letztres ist eigentlich das, das außer mir liegt, ein Gegensatz zu mir, aber hier ist kein solcher Gegensatz, sondern es ist das von Anfang an gesetzte Zusammenseyn des Einzelnen mit Vielen. Betrachten wir Thätigkeiten, wobey das Organische das Impulsgebende ist, also alles, was durch die Thätigkeit der Sinne bedingt ist, so haben wir hier den Gegensatz von Empfindungen und Wahrnehmungen. Nehmen wir eine Gesichtsthätigkeit, die uns eine Vorstellung außer uns gibt, so nehmen wir dieß als eine Wahrnehmung, wie nehmen das Gesehene als Seyn, als Wahres. Nehmen wir eine Geruchsthätigkeit, so nennen wir dieß gewöhnlich eine Empfindung. Doch nur in der Beziehung als darin ein Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen liegt, und dieß ist eine momentane Bestimmtheit des Selbstbewußtseyns; aber wird mir in einer Geruchsthätigkeit weniger etwas wahr als durch das Gesicht? Nein, wenn wir die gehörigen Kenntnisse dazu bringen; wir nehmen auch Dinge dadurch wahr. Auch die Gesichtsthätigkeiten haben diesen Gegensatz; es gibt Affectionen des Gesichts, gegen die wir uns zu verschließen suchen, dieß ist also das Unangenehme, ebenso hat jeder Farben, die er liebt und die er nicht liebt. Dennoch unterscheiden wir Gesicht und Geruch, indem im Geruch für das gewöhnliche Leben die Empfindung des Unangenehmen und Angenehmen vorherrscht, im Gesicht aber das Wahrnehmen. Wie verhält sich nun dieß für das Bewußtseyn des Gattungsbegriffs und des Einzelwesens? Das Angenehme und Unangenehme beziehen wir vorzugsweise auf die Identität des persönlichen Ich; Bey der Wahrnehmung aber verlangen wir, daß es dem Andren, und allen Andren auch so seyn soll, so sehr er [sich] im Angenehmen und Unangenehmen von mir unterscheiden mag. Eine Ausnahme in jenem wird als Krankheitszustand angesehen. Letztres nennt man nun das Objective, ersteres das Subjective; aber es ist gar nicht so, als ob beym einen ein Gegenstand gesetzt werde, beym andren nicht. Doch es gibt nun Momente von beyderley Art; und wir beziehen es nicht auf einzelne Momente,

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sondern durch Zusammenfassung sehen wir es als Character der ganzen Thätigkeit an. – Beyde Glieder sind hergenommen von Thätigkeiten, wo das Organische den Impuls gibt; und in diesen sehen wir den zwiefachen Character der überwiegenden Beziehung auf das Einzelwesen und den der überwiegenden Beziehung auf den Gattungsbegriff. In der Sprache nun ist letztres vorherrschend und wird bey allen Sprachen vorausgesetzt; dieses beziehen wir durch die Sprache auf das Denken, das eigentlich individueller Natur ist, und sehen dieses also an als Thätigkeit des Gattungsbewußtseyns; nennt man aber das Denken ein Objectives, so ist es unrichtig, denn es ist doch immer im Denkenden, nicht außer ihm. | Ebenso ist es mit den Wahrnehmungen; bey diesen machen wir die Forderung, daß sie in allen sollen identisch seyn, nicht aber daß sie dem Gesehenen sollen gleich seyn, worauf eigentlich der Ausdruck Objectiv zu führen scheint. – Stellen wir diesen Gegensatz fest und fangen die Betrachtung des Menschen mit der Sprache an, so wollen wir damit nur sagen: wir fangen da an, wo das Persönliche nicht nur, sondern auch das Bewußtseyn des Gattungsbegriffs in ihm vorhanden ist; erstres ist immer zuerst da. Wenn wir einen Moment in uns ausschließlich auf die Besonderheit des Ich sich beziehend denken, läßt sich nun davon aus eine Mittheilung an andre machen? Wir finden nähmlich, daß wir beständig unter einander auch in diesen Beziehungen zu thun haben und einander mittheilen wollen in dem, was persönlich ist. Dann aber muß der Gegensatz zum Theil aufgehoben werden im Zusammenseyn beyder Beziehungen; wir können nicht anders als dieß mit zu dem Wesen der Stetigkeit des Ichsagens rechnen, daß wir immer beydes auf einander beziehen, das ist der Character des menschlichen Lebens. Für jedes Einzelwesen ist also diese Beziehung gesetzt d. h. jeder, indem er in sich beydes auf einander bezieht, zugleich auch die Beziehung bey allen andren auf dasselbe Gattungsbewußtseyn setzt. Jeder hat das Gattungsbewußtseyn und jeder ist ein integrirender Theil der Gattung, und dieses Bewußtseyn ist um so erfüllter, je mehr wir das Bewußtseyn der Besonderheit der Einzelnen haben. Ohne letztres ist erstres nur eine Form, mit ihm aber eine lebendige Anschauung. Also das sich selbst andren in seiner Besonderheit geben und andre so auffassen wollen, und so das Einzelwesen zur Darstellung zu bringen, ist ein allgemeines Streben. Wir unterscheiden das Darstellen unsrer Besonderheit und unseres Gattungsbewußtseyns; erstres kann in dem Andren nur eine Auffassung seyn, nicht eine Thätigkeit, letztres aber soll in Andern Thätigkeit werden. Freylich durch Mittheilung eines Eigenbewußtseyns an einen andren will ich auch, daß eine Art Thätig11 den] der

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keit in ihm entstehe, doch nur in Beziehung auf mich, daß er sich nähmlich gegen sich nicht so benehme, daß er mir unangenehm werden muß; beym allgemeinen Bewußtseyn aber ist diese Beziehung auf mich nicht da. Wir bringen also den Inhalt der psychischen Thätigkeiten unter allgemeine Puncte. Es gibt solche psychischen Zustände, die wir überwiegend auf die Besonderheit beziehen, und die wir als solche haben, und andre, die wir auf das Gattungsbewußtseyn beziehen, und sie als solche haben. Ferner es gibt Zustände, die überwiegend darstellend sind d. h. der Ausdruck des Ich in seiner Besonderheit, und andre, durch die ich etwas hervorbringen will, die also wirksam sind. Beydes scheint auf einander zurückzugehen, und im ersten haben wir besonders gesehen auf Zustände, wo das Psychische mit der Receptivität beginnt, in dem letzten auf das aus sich herausgehen, wo also das Psychische selbst beginnt und den Impuls gibt. Ist dieß eine vollständige Eintheilung? so daß es nicht mehr InhaltsDifferenzen geben kann in den einzelnen Momenten? |

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[15. Stunde] Nun bekommen wir 4 Zustände: 1) solche, wo die Seele receptiv ist, und zwar a) so, daß die Einzelnheit des Subjects sich ausspricht oder b) daß sich die Identität mit andren darin ausspricht; ersteres ist das Empfinden, das zweyte das Wahrnehmen. Bey beyden ist das Ende [ein] rein Inneres, was wir empfinden, ist immer das Selbstbewußtseyn als eines Veränderlichen im Gegensatz von angenehm und unangenehm. Das Wahrnehmen ist auch ein in sich bleiben des Bewußtseyns aber es wird zugleich noch etwas anderes in dasselbe aufgenommen. Es gibt viele Zustände, wo beydes verbunden ist. Wenn wir unsre Wahrnehmungen ganz vorzüglich durch das Gesicht bekommen, so sehen wir gewöhnlich ohne innere Veränderung des Selbstbewußtseyns; es ist nur das Bewußtseyn dieser Gegenstände als in uns gesehen. Wenn wir schmecken, so ist es rein ein Bewußtseyn ohne einen bestimmten Gegenstand, wir sind uns nur einer Veränderung im Organ bewußt. Nehmen wir auf andre Weise den Gegenstand wahr, dann beziehen wir die Empfindung wohl auf den Gegenstand, aber dieß ist schon eine Vermischung von zwey Dingen. Merkten wir das Etwas nicht auf der Zunge, so wüßten wir nicht, ob der Geschmak sich von innen oder von außen gebildet hätte. Wenn dagegen gewisse Farbmischungen und Lichtverhältnisse uns unangenehm sind, andre 31 einer Veränderung] so Nachschrift Iffland, S. 34, Ms.: eines Bewußtseyns

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angenehm, so ist dieß auch eine Empfindung, aber dieß ist etwas ganz andres als die Wahrnehmung. – Denken wir mehrere in einem Raum, so setzen wir voraus, daß alle dasselbe wahrnehmen, wenn aber mehrere um dieselbe Schüssel versammelt sind, setzen wir nicht bey allen denselben Geschmack voraus. Daß dieß qualitativ verschiedene Zustände sind, wird durch sich selbst klar. Beydes fällt in die Receptivität. Man kann zwar auch hier auf ein Früheres zurück gehen, das psychisch ist, d. h. unsern Wahrnehmungen geht der Wille, wahrzunehmen voran, allein wir nehmen hier nur die Thätigkeit an sich. Das Wahrnehmen nun setzen wir als ein Gemeinsames, das Empfinden aber als ein Besonderes. Wenn es scheint, als ob Empfinden und Wahrnehmen auch gebraucht werde für Zustände, bey denen keine körperliche Veränderung voran gehe, so müssen wir diese Untersuchung noch verschieben: und wir bleiben einstweilen beym Bewußtseyn einer organischen Veränderung. 2) Zustände, wo das Psychische das erste ist, und das Organische das dadurch Bedingte. Auch hier haben wir a) ein Besondres und b) ein Allgemeines zu unterscheiden. Denken wir uns, daß vom Ich aus organische Veränderung bewirkt werde, so hat dieß die Meinung, daß sie entweder wieder andre organische Bewegungen bewirke, oder aber sie haben die Richtung, daß nur die geschehenen Veränderungen andrer sollen kenntlich gemacht werden. Im ersten Falle sind die Wirkungen solche, die bekannten Gesetzen, physisch oder mathematisch unterliegen; wenn wir unseren Gliedmaßen den Impuls geben, uns anders wohin zu bringen, so bringen wir einen andren Zustand in den Gegenständen hervor, auf die unser Organismus wirken will, und dieß geschieht nach bekannten Gesetzen, die für alle dieselben sind z. B. keiner geht rechts, wenn er links gehen will. – Aber alle organischen Bewegungen, die nichts andres bewirken, als daß andre unsren Bewußtseynszustand erkennen sollen, diese beziehen wir auf die Besonderheit des Subjects. Hier kann man allerdings sagen: Wir beziehen dieß auf die Besonderheit des | Subjects: wenn es ein Empfindungszustand ist, aber, könnte man sagen, das Darstellen des Bewußtseyns, das stellen wir doch uns vor als etwas Allgemeines das allen erkennbar und gleich ist. Allein es verhält sich so: Wenn wir in gewissen Gemüthszuständen geneigt sind zu weinen, so ist es eine Veränderung des Gemüthszustands, die durch diese organische Veränderung indicirt wird. Jeder, der einen andern weinen sieht, setzt voraus, daß sein Gemüthszustand ein bestimmter sey, und so sehen wir den Zusammenhang der Empfindung und des Zeichens als identisch an, aber genauer genommen ist es doch nicht so. Wir wundern uns oft, wenn einer weint, dessen Gemüthszustand wir kennen, und uns wundern, wenn ein andrer nicht weint; es gibt also hier Ausnahmen von der Regel. Wie weit

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gehen diese? Das Verhältniß zwischen dem Gemüthszustand und den Indicationen ist vielleicht ein andres in verschiedenen Lebensaltern, eben so in verschiednen Völkern. Nach beydem also nehmen wir nicht die Identität der Verbindung beym ganzen menschlichen Geschlechte an, sondern es ist etwas Individuelles, freylich nach Gruppen, die ähnlich sind. Nun ist das Weinen in einer Gemüthsbewegung eine unwillkürliche Bewegung, und wir setzen nicht voraus, daß dadurch einer einem andern sich wolle zu erkennen geben. Willkürlicher ist schon alle Gebehrde; will einer seinen Gemüthszustand durch Gebehrden kund geben, so setzt er voraus, der andre beziehe dieselben auf etwas Psychisches. Freylich kann der eine andre Gebehrdensysteme haben als der andre, aber durch lange Beobachtung kann man sich darüber vereinigen, und im Allgemeinen setzt man die Identität darin voraus bey allen Menschen. – Kommen 2 Menschen zusammen, die sich in der Sprache nicht verstehen, so suchen sie sich durch Gebehrden zu verständigen, aber diese Gebehrden sollen nicht die Gemüthszustände, sondern das objective Bewußtseyn ausdrücken; also können diese Bewegungen auch Vorstellungen bezeichnen. Merken wir auf diese Doppeldeutigkeit der Gebehrden voraus, so kann ursprünglich keiner wissen, welches von beyden sie seyn sollen, und dieß setzt schon voraus, daß die Gebehrden nicht auf Identität beruhen. Sind 2 Menschen länger zusammen, so müssen sie diese beyden Arten allerdings bald unterscheiden. Eine Analogie beyder gibt es immer. Aber soll ich den Gemüthszustand eines andren aus den Gebehrden kennen lernen, so kommt es nicht nur auf die Qualität, sondern auch auf die Quantität an. Käme ein Nordländer in ein südliches Volk, so würde er aus der Stärke ihrer Gebehrden und Stimmen leicht ganz falsche Schlüsse auf ihren Gemüthszustand machen. Die Identität also erstreckt sich höchstens auf kleinere Gemeinschaft, nicht auf die ganze Menschheit. Also nicht nur, was erkennbar gemacht werden soll, sondern auch die Kundmachung selbst ist individuell, und so können wir bestimmt unterscheiden, das was wirksam seyn soll, von dem, was nur darstellen soll; in beydem ist das Psychische das Erstere, und das Organische folgt erst darauf.

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[16. Stunde] Es frägt sich nun aber, ob es nicht während des Zusammenseyns von Psychischem und Organischem Momente gebe, wo nur das Psychische thätig sey? Natürlich müßte es auf der Seite der Spontaneität des Psy24 andren] andrs

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chischen seyn, Momente, die ganz psychisch wären ohne eine Wirkung auf das Organische. | Zwar haben wir schon gesagt: Alles was ein Gedanke ist, wenn es auch äußerlich nicht hervortritt, sey schon ein Wort, und innerlich ein Organisches. Es gibt im wachenden Zustande Successionen von sinnlichen Gegenständen, wo doch nichts Organisches zum Grunde liegt, doch ist ursprünglich die Vorstellung von dem Organischen entlehnt. Zwar ein Denken, das ein lautes Sprechen wird, hat eine Tendenz auf Mittheilung, und diese beruht auf dem Gattungsbegriff; diese spontane Thätigkeit will in Andren Gedanken hervorbringen. Ein innres Denken kann dieß nicht bewirken wollen; und wir denken uns ein im Denken Bleibenwollen; dieß ist vom Vorigen verschieden. Haben wir hier etwas außer unsrer Eintheilung? Ja und nein! Hier muß zuerst der Ausdruck Wort erörtert werden, unter dem wir bisher eine zeitliche Einheit verstanden haben. Also in einer solchen innren Thätigkeit ist Denken und Reden Eins, so daß der Zeit nach nicht, sondern nur der Dignität nach unterschieden werden kann. Betrachten wir den dazwischenliegenden Fall, daß wir, ehe das Sprechen anfängt, gehemmt werden durch irgend etwas andres. Dieß setzt voraus, daß schon ein inneres Sprechen vorangegangen ist, das noch nicht zum Sprechen kam, so daß die Einheit des Impulses ihr Ende nicht erreicht hat. Oft sind wir uns dieses Dazwischentretenden nicht bewußt, indem Denken und Reden oft Eins ist; oft aber wohl, z. B. im Gespräch, wo wir die Antwort schon gedacht haben, ehe der andre spricht, und erst nachher soll sie gesagt werden. – Fragen wir nun: Gibt es ein inneres Denken von Zusammenhang, das nicht wollte Rede werden? Hätten wir solche, so wären es solche, die psychisch rein emanent wären. Jeder ist sich nun dessen bewußt auf allgemeine Weise, z. B. wenn wir schreiben, so haben wir auf gewisse Weise eine Gedankenreihe in uns; aber indem wir sie einzeln ausbilden, können wir sagen: Ich will nun noch nicht schreiben, sondern bloß denken; aber dennoch denken wir um des Schreibens willen. Also sie beyden Glieder trennen sich der Zeit nach, nicht aber der Sache nach: das fallengelassene Denken ist kein vollendetes. – Denken wir uns einen bildenden Künstler: ehe er anfängt zu arbeiten, hat er ein innres Bild, das er darstellen will, aber da dieß allmählig nur entsteht, so wird innerlich wieder vieles anders, bis es zur Ausführung kommt. Dieß aber auch keine vollzogene Handlung, sondern nur ein Durchgehendes. Alles von der Art aber kann keine Änderung in unsrer Eintheilung machen, es sind nur Glieder, die nicht für sich geworden sind, und also nicht für sich betrachtet werden können. – Nun aber gibt es ein innres Denken, das nicht wollte nach außen heraus 18 werden] wird

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treten? Nein; mittelbar oder unmittelbar ist alles innre Denken und Bilden von der Art nur ein innrer Durchgangspunct, der mittelbar oder unmittelbar mit einem Äußern zusammen hängt. Denken wir uns einen Denkkünstler und einen Bildenden Künstler, so finden wir bey ihnen Gedanken und Bilder, die innerlich aufsteigen und wieder vergehen; diese an sich sind emanente Thätigkeiten; aber das ist eben nicht ihr Wesen, sondern sie sind nur Vorbereitungen für das, was heraus treten soll; sie sind nur Unterlagen für das, was auf ihnen sich fertig bildet. Also auf dem ganzen Gebiethe der Spontaneität finden wir dasselbe; so wie wir eine Handlung vergleichen, um irgend eine Veränderung hervor zu bringen, so ist der sogenannte Zweckbegriff das | Erste; und die Handlung fängt immer mit ihm an, für sich allein aber scheint dieser Zweckbegriff ein rein Innres zu seyn, das wieder in sich zurück fallen kann. – Emanente Thätigkeiten, die gar nicht heraus treten sollen, gibt es gar nicht. Zwar gibt es oft Vorstellungen, die jeder gleich verwerfen muß als etwas Thörichtes, z. B. wenn einer sich denkt, wie er handeln würde, wenn er der Türkische Kaiser wäre. Allein dieß ist nicht einmahl ein Ansatz zu einem Handeln, weil es außer unserm Handeln liegt. Es liegt mit dem Organischen aber doch zusammen, denn ich muß es gehört haben, nicht was ich denke, spreche ich auch innerlich, aber auf eine Handlung ist es allerdings nicht abgesehen. Was haben solche Vorstellungen eigentlich für einen Gehalt? Es sind Vorstellungen von sich selbst; und keiner denkt sich aus der Besonderheit des Andren heraus seine Handlung, sondern nur aus sich aber aus den Verhältnissen des andren heraus. Es sind also Momente eines hypothetischen Selbstbewußtseyns. Alle Überlegungen aber, die einer bloßen Handlung voran gehen, sind ja auch dieß; ich denke mir einen Zweckbegriff einer Handlung unter gewissen Voraussetzungen. Dann ist es der Anfang des Handelnwollens, das nur noch auf die Umstände wartet. Jenes ist nun grade dieß: ich sehe ein Product meiner Individualität in fremden Verhältnissen, und setze meine Besonderheit mit meinem Coefficienten: dieß kann sich nur anschließen an das Bewußtseyn der sittlichen Besonderheit. Auch dieß gehört also zur Receptivität, denn ich setze mich in äußre Verhältnisse hinein, und dieß ist ein Unvollendetes von Außen, wie jenes frühere bloß Ansätze des Denkens waren. Auch dieß sind also bloße Durchgangsmomente; und wenn sie auch ethisch als Thorheiten zu verwerfen sind, da man zur Schärfung des Selbstbewußtseyns in der Nähe bessre Gelegenheit hat, so haben sie doch ein Analogon für das Psychische und es sind Durchgangsmomente. Also alles, was uns ein wirklich psychisches Vorkommen ist, fällt in eins unsrer 4 Glieder: Spontanei12 Erste] davor das

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tät, Receptivität, Allgemeinheit und Individualität. – Nun aber wenn wir fragen: wie man sich die Seelenthätigkeiten mittheilt, so sagt der eine Vorstellung, Gefühl, Begehrung, ein andrer etwas andres, und es scheint, als ob dieß sich nicht auflösen ließe in unsre Eintheilung und wir eine ganz neue Seele aufstellen wollten. Allein es ist bis jetzt nur von den Seelenthätigkeiten die Rede gewesen, einzeln, jede für sich betrachtet, nicht von der Art, wie im Leben sie verbunden sind. Im Begehrungsvermögen denkt man sich den Menschen in einem innren Zustand, aber aus diesem heraus ein Streben zu einem andren; also ist dieß keine reine Seelenthätigkeit. Nehmen wir Vernunft, Verstand, Sinnlichkeit so sind diese Ausdrücke uns noch ganz ununterschieden in dem, was wir als Spontaneität und Receptivität gesetzt haben. Also in unsrer Eintheilung ist noch nicht alles gesondert, was sich sondern läßt, aber dieß werden nur untergeordnete Sonderungen seyn; von der Art aber, wie dann der Verlauf des Lebens seinen Grund hat im psychischen Subject; davon haben wir noch nichts gesagt: das gehört nicht in unsren elementarischen Theil, sondern in den zweyten constructiven. Einiges also bleibt bis dorthin verschoben. |

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Wenn man eine Theorie von verschiedenen Seelenvermögen aufstellt, so werden sie oft selbst in theoretischen Schriften personificirt, und das Ich zerfällt in eine Menge von untergeordneten Ich, und das Leben in einen Conflict. – Wir sind bis jetzt stehen geblieben bey dem Verhältniß der psychischen Thätigkeitsformen zum Ichsagen und zur Außenwelt, und es fragt sich: Wie verhalten sich diese Formen in Einem Momente gegen einander? Hier gibt es 2 streitige Ansichten; die eine ist diese: Man stellt verschiedene Thätigkeitsformen auf, und fragt: Wie bestimmt es sich, daß verschiedene psychische Thätigkeiten der Zeit nach auf einander folgen? Entweder sagt man nun: das psychische Subject sey dabey immer leidend, und nur die Stärke der Eindrücke sey verschieden. Eine andre Ansicht ist diese: das psychische Subject gehe über von einem Zustand in den andren, ohne daß man die Gründe angeben könnte, oder mit absoluter Freyheit. Diese Form ist eigentlich nur die Negation der erstern. Wir können keine von beyden annehmen, sonst zerfällt alles Bisherige. Das erste: es hängt von der Stärke der Eindrücke ab, wenn die Momente auf einander folgen. Damit wird gesagt, daß das Übergehen von einer Thätigkeit zur andren nicht spontan von dem Subject ausgehe, sondern es sey 28 folgen? folgen.

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receptiv dabey. Man kann sagen, wir erhalten immer Aufforderungen von andren durch Hören und Reden zur Thätigkeit; nun aber ist nicht das Organische das Aufregende, sondern die Gedanken des Andern. Nun also wären dieß doch unmittelbare Einwirkungen auf das Subject nur durch die Organe der Stimme und des Gehörs. Aber wir haben schon gezeigt, daß im Denken überall ein Zusammenseyn von Denken und Sprechen sey, dessen ungeachtet können die Einwirkungen von den einen auf die andren auf dem Denkgehalt beruhen, nicht auf dem Organischen. Wären nun diese Einwirkungen wirklich ebenso wohl unvermittelt, und organisch vermittelt, so befindet sich in beyden Fällen doch das psychische Subject in einem receptiven Zustand. Wenn nun sein Übergehen in einen andren Moment durch äußere Einwirkungen vorgeht, so ist das psychische Subject nicht nur receptiv, sondern passiv. Wir aber sind bisher immer davon ausgegangen, das psychische Subject als ein Agens darzustellen, sey das Subject receptiv oder spontan. Geschieht das Übergehen von einem Moment in den andren durch Passivität, so ist auch der Inhalt des zweyten Moments von äußrer Einwirkung, und so gäbe es keine Selbstthätigkeit des psychischen Subjects. Alles wären nur Abspiegelungen vom äußern im psychischen Subject. Diese Ansicht ist gegen unsre Grundvoraussetzung. Sagt man dagegen: Das Übergehen zu einem andren Moment geschehe ohne alle äußre Einwirkung, und man nennt dieß absolute Freyheit. Wir haben das Leben da gesetzt, wo ein für sich Gesetztes so dargestellt sey, daß es den Grund seiner Bewegungen zum Theil in sich habe. Damit setzten wir schon die Möglichkeit eines Zusammenhangs mit allem Äußern. Das hängt aufs genauste zusammen mit dem, was wir Receptivität genannt haben, so daß auch was von außen wirkt, durch das innre Leben im Subject zu einem besondern Seyn werde. Nehmen wir einen Stein, so ist dieser verschiedener Bewegungen fähig; wirft man ihn, so ist der Grund der Bewegung ganz außer ihm; aber der schwerere Stein macht doch eine andere Bewegung als der leichtere, und so ist die Bewegung doch zum Theil in ihm | begründet. Jeder solche Körper ist auch durch den beständigen Verwitterungszustand, theils von außen theils durch seine Natur bestimmt; denn dieselbe Witterung wirkt verschieden auf verschiedene Gegenstände. Man könnte nun sagen, unsre Erklärung von Leben passe ja auch zum Todten? Es fehlt bey diesem das Zusammenseyn von Receptivität und Spontaneität denn es geht keine Thätigkeit vom Stein aus; denn wenn der Stein auch gleich durch die Verwitterung der Atmosphäre verändert wird und wirkt auf den Werfenden, so ist dieß doch 13 vorgeht] übergehen

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keine Action des Steins, sondern er ist dabey ganz passiv. Das psychische Subject so bestimmt, hätte also kein Leben. Da die Momente der Receptivität mit Momenten der Spontaneität wechseln, und dieß würde durch Einwirkungen von außen veranlaßt, so hörten die Spontaneität und Receptivität auf, und es würde eine bloße Passivität. – Bey der Andren Ansicht verschwindet die Receptivität ganz; das sind die ehemahligen Idealisten, die alles Äußre als ein vom Subject Hervorgebrachtes ansahen. Hängt der Übergang von einem Moment zum andern nur vom Ich ab, so gilt dieß auch von den Momenten der Receptivität, und auch diese Momente sind dann Momente der Spontaneität, unabhängig von äußern Einwirkungen. Hier verwandelt sich das Subject in ein Wesen von einer rein emanenten Selbstthätigkeit ohne Zusammenhang mit etwas Äußerm. In diesem Fall hört die Einheit des Psychischen und Organischen auf, und erstres kann nur in sich selbst betrachtet werden, weil es nur durch sich selbst bestimmt ist. Das Psychische Subject veranlaßt allerdings die organischen Thätigkeiten, aber auf das, was daraus werden soll, hat es keinen Einfluß. Die einzige Consequente Durchführung dieser Ansicht ist der absolute Idealismus, und das Ich ist rein bestimmt durch sich selbst. – Wenn aber das, was wir zu Grunde gelegt haben, beyde Extreme ausschließt, so müssen wir uns aus unsren bisherigen Sätzen den Übergang erklären als Übergang aus einem Zustand in den andern, da wir durch vorige beyde Arten es nicht konnten. Hier kommen wir auf große Schwierigkeiten, aber wir müssen hier entscheiden, und es darf nicht mehrere verschiedene Übergänge geben, sonst würden unsre Sätze fehlen. Wir setzen voraus, das Leben, der Verlauf psychischer Thätigkeiten ist ein Aufeinanderfolgen von ungleichen Zuständen, die wir einzeln als Momente vergleichen mit den Vorigen und Folgenden. Diese Ungleichheiten müssen doch unter Spontaneität und Receptivität, Allgemeinheit und Individualität begriffen seyn. Zuerst fällt man auf ein Maximum, so daß wir den ersten Moment unter eine der obigen Formen setzen, den Folgenden unter die entgegengesetzten, und theilen so die Momente ein ohne Rücksicht auf quantitativen Gehalt. Nehmen wir dieses Maximum von Differenzen an, so muß die eine Thätigkeit Null werden, wenn die andre anfängt, und umgekehrt.

[18. Stunde] Daraus würde folgen, daß die Thätigkeit des Bewußtseyns eine Täuschung sey, und die Identität des Ich in ihrer Zeitlichkeit auch, da ja 16 Psychische] Pych

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jeder Äußerung des Ich ein Nichtseyn voranginge. Entspräche aber ein solches Aggregat von Unzusammenhängendem unsrem Bewußtseyn? Nein. – Ferner wenn wir in einem Moment uns fixiren in unserm psychischen Seyn, so finden wir immer in einem Momente eine Menge früherer Momente, wodurch jenes aufgehoben wird. – Jede Thätigkeitsform beruht auf gleich wesentlichen Momenten, die zum Leben gehören, das immer Receptivität und Spontaneität verbindet, Allgemeinheit und Individualität, und da in jedem Moment etwas seyn muß, daß im | Vorigen und Folgenden auch ist, so zieht sich also ein Constantes durch alle Momente hindurch. Wenn also in irgend einem Moment nur Eins von diesen 4 Null wäre, so wäre das Leben Null, weil ihm ein Element fehlte, und das psychische Leben wäre nur beysammen in einem Aggregat von Vielen, nicht in jedem Einzelnen. Das Bewußtseyn aber sagt jedem, daß er in jedem Momente derselbe sey und der Ganze. Also sind jene Thätigkeitsformen immer zusammen: Spontaneität, Receptivität, Allgemeinheit und Individualität, und die Momente sind nur so zu unterscheiden durch das Verschiedene Verhältniß dieser 4 zu einander. Nur eine solche Darstellung entspricht dem Bewußtseyn von der Stetigkeit unsres Daseyns. Dadurch nun ist aber doch die Aufgabe noch nicht gelöst, den Grund zum Wechsel der Momente zu finden. Sagen wir: die verschiedenen Thätigkeitsformen bestehen nur in einem verschiedenen Verhältnisse jener 4 Beziehungen, so ist doch immer ein Hervorragen der einen über die andren, und so ist es ein beständiges Wogen, wodurch der Gehalt der Momente bestimmt würde. Nun ist dieser Wechsel eine Variation, und wir fragen wieder: Wo ist der Grund, warum dieses Auf- und Abwogen die verschiedenen Momente bestimmt? Es frägt sich nun wieder, ob eine jener obigen einseitigen Antworten passe. Weiter können wir jetzt die Untersuchungen nicht treiben; wir wissen, daß in jedem Momente alle Thätigkeitsformen da sind, nur in verschiedenem Verhältniß; die nähere Beantwortung aber gehört in den constructiven Theil, nachdem wir die Elemente kennen gelernt haben. Also wo ein psychischer Gehalt im menschlichen Leben ist, sind alle jene Thätigkeiten vorhanden, nur in verschiedenem Verhältniß. Wollen wir diese Formel zur Anschauung bringen, so fragt sich: Welches sind diejenigen Formen, die in einem solchen Verhältnisse sind, daß das Steigen der einen das Fallen der andren nothwendig macht? Wir müssen diese Frage an unser Bewußtseyn halten, insofern es Gattungsbewußtseyn ist; aber einer Antwort aus dieser steht immer eine andre aus dem Standpunct des Individuum gegenüber, d. h. es scheint immer 2 Arten der Beantwortung dieser Formel zu geben in der Anschauung. Gibt es aber eine 14 jedem] jeder

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solche allgemein gültige Antwort, so muß sie aus dem Gattungsbewußtseyn geschehen. Da aber die Antwort auch die Wahrheit des Einzelwesens ausdrücken muß, so muß sie vom Individuellen ausgehen. Also müssen Gattungsbewußtseyn und individuelles Bewußtseyn in einander aufgehen, wenn eine Antwort beydes enthalten soll. Dieß scheint aber obige Eintheilung aufzuheben; denn dieses Ineinanderaufgehen scheint nur so möglich, daß das Gattungsbewußtseyn die Gesammtheit des Individuums aufnimmt, oder daß das Individuum sich mit allem andren ins Gattungsbewußtseyn hinein setzt. Es scheint also, als ob es kein vollkommenes menschliches Leben gäbe, ohne Beysammenseyn von beydem, so daß in jedem menschlichen Moment ein Gestiegenseyn der einen Seite, und Gesunkenseyn der andren nicht möglich wäre, weil jedes durch das andre bedingt ist. Diesem müssen wir ausweichen können, wenn unsre Formel concret werden soll. Dieß wäre nur möglich, wenn jenes Bedingtseyn beyder die Differenz der Momente nicht aufhöbe. Etwas Ähnliches muß sich auch ergeben mit der Receptivität und Spontaneität; auch hier entsteht ein Bedingtseyn beyder durch einander ohne daß die Differenz der Momente dadurch darf verloren gehen. – Wie soll nun das Auf- und Abwogen | jener 4 bestimmt werden, wenn wir doch eine Doctrin erhalten sollen, die sich durchführen läßt? Jeder muß sagen: Ich bin eben dadurch ein Einzelner, daß sich aus dem Gattungsbewußtseyn mein Wesen erklären läßt. Ebenso jede allgemeine Erklärung über die Gründe dieser Differenzen muß als eine allgemeine jene Beschaffenheit haben, aber insofern sie die Wahrheit des individuellen Seyns ausdrücken soll, muß es dadurch nicht aufgehoben seyn, sondern seine volle Befriedigung finden. Auf einfache Theorien läßt sich dieß nicht reduciren, wie wir schon oben gesehen haben bey den 2 Extremen. Erst in Constructiven Theil kann diese Antwort kommen, weil wir erst dann wissen, wodurch das gleichmäßige Seyn von diesen beyden bedingt ist. Aber betrachten wir näher die Erklärung über die Differenzen der Momente, so haben wir in Beziehung auf die Gegensätze ein Maximum des Einen gegen ein Minimum des andren erhalten, und dieß gilt von beyden gleichmäßig; dominirt das Gattungsbewußtseyn, so tritt das Individuelle zurück, dominirt die Spontaneität so tritt die Receptivität zurück. Aber gibt es nicht auch ein Minimum des Einen zusammen mit dem Minimum des andren, und ebenso ein Zusammenseyn von 2 Maximen? Da das Bewußtseyn ein sich entwickelndes ist, so verhalten sich allerdings die ersten Momente des Bewußtseyns des Lebens so zu den entwickelsten. Dieß ist aber nur eine Differenz 13 Diesem] Dieß 14 ausweichen] am rechten Rand markiert mit ? darüber ohne Einfügungszeichen Allgemeinheit und Individualität

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des Gehalts dem Quantitativen nach, nicht dem Specifischen nach; denn im ersten Fall ist der ganze Lebensmoment ein Minimum, doch auch in ihm ist ein Übergewicht des Einen microscopisch. Übertragen wir dieß auf den ganzen Lebensverlauf, so erscheint er als eine solche Formel des Wachsenden und Wiederherabsteigenden, von einem allseitigen Minimum zum Maximum und wieder zurück zum Minimum. Dieß sind nur die allgemeinsten Gegensätze, und in ihnen sind wieder viele Untergegensätze verborgen, und jedes müssen wir für sich betrachten. Wo sollen wir anfangen? Jede Entscheidung ist willkürlich wenn wir nicht eine völlige Gleichheit voraussetzen, sondern eines dem andren vorsetzen, und das Resultat ist ein verschiedenes, je nachdem man mit dem einen oder andren anfängt. Und doch müssen wir mit einem anfangen, aber dabey müssen wir immer dieses schon durchführen, daß in jedem, das ein Entgegengesetztes hat, dieses schon mitgesetzt ist; und in jedem Gegensatz müssen wir den Gegensatz desselben dabey haben. So können wir nie von der Lebendigkeit der Anschauung looskommen, und uns in Formeln verlieren; wir haben dann das Seyn in seiner lebendigen Wahrheit.

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Es gibt nun, wie gesagt, Zustände, wo beyde Theile ein Minimum, und solche wo beyde als Maximum zusammen sind, von der Geburt an aufwogend und gegen das Ende wieder zurücksinkend, Entwicklung und Nachlassung. Doch dieses Minimum und Maximum beyder finden wir auch sonst mitten im Lebensverlauf, in den Momenten, wo das psychische Leben in besonderer Spannung ist, und wo es zurücktritt, Zerstreuung, ähnlich dem Schlafe, und Begeisterung. Diese beyden Zustände wiederhohlen sich oft, ja jeden Tag; das allmählige Erwachen ist das Sammeln des Bewußtseyns, ein Wiederanfangen der psychischen Thätigkeit mit beydseitigem Minimum; ebenso beym Einschlafen wieder. Dagegen die regelmäßige Thätigkeit des Tages ein Maximum. Wenn uns diese beyden Zustände das ganze Leben begleiten, so müssen | wir alle Momente betrachten als fähig eines Zurücktretens oder einer Entwicklung; so sind die einzelnen Thätigkeiten anzusehen. Das Natürlichste ist, daß wir bey der Thätigkeitsform anfangen, mit der das Leben beginnt. Dieß ist ein Minimum von psychischer Thätigkeit. Obgleich wir das Individuelle erst mit der Sprache vollständig haben, so müssen wir doch schon die Vorbereitungen betrachten, und alles, was uns später willkürlich erscheint, müssen wir auf

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dieses agens zurück beziehen. Was ist wohl das Primitive im Leben, eine Receptivität mit einem äußerst geringen Minimum von Psychischem, oder ein Psychisches mit einem Minimum von Organischem? Die Differenzen lassen uns hier fast ganz im Stich, und die Zustände bleiben fast dieselben, ob wir sie der Receptivität oder Spontaneität zuschreiben. Das Kind äußert seine Existenz durch Geschrey? Dieß ist eine organische Bewegung, die vom Psychischen ausgeht; dieß ist eine Spontaneität, aber diese ist schon das Zweyte, denn es ist die Äußerung eines Zustands, in den sich das Kind nicht selbst gesetzt hat, ein Afficirtseyn. Hier ist Receptivität in Spontaneität übergegangen. Aber man kann die Sache auch umgekehrt ansehen; in den ersten Momenten nach der Geburt kann ebenso gut die Spontaneität als das Primitive gedacht seyn. Schon vor der Geburt war Spontaneität da in organischen Bewegungen, und ebenso wenn es nun an die Welt tritt. Es ist zwar kein Bewußtseyn dabey, aber doch ist das Geschrey eine willkürliche Bewegung; nie ist im Leben das Geschrey unwillkürlich, höchstens unbedacht. Wir können nun ebenso gut sagen, das Psychische das unter dieser organischen Bewegung latitirt, ist ein Spontanes. Also beydes kann gleich seyn, weil beydes noch nicht zu unterscheiden ist. – Das Kind öffnet seine Augen; dieß ist ein Reiz des Lichts, welches eine specifische Veränderung bewirkt; dennoch gehört das Öffnen des Auges zu den willkürlichen Bewegungen. Auch dieß also können wir als Receptivität und als Spontaneität ansehen. Wie das Gesicht das erste Medium ist, wodurch das Äußre in uns hinein kommt, so ist eben so gut auch das Öffnen des Auges das erste Streben, die Welt aufzufassen, und das Licht ist im letztren Fall nur die Veranlassung. Also auch das Öffnen des Auges kann Receptivität und Spontaneität seyn. – Schon hier kann eine der beyden extremen Ansichten anknüpfen: die eine sagt: von außen kommt das Licht, öffnet die Augen, und eben so bringt das Licht durch Beleuchtung die Bilder ins Innere; und so würde das Psychische in allen Veränderungen von außen bestimmt. Die Andren sagen: das Öffnen des Auges ist eine willkürliche Bewegung mit psychischem Impuls, und dieser ist die hier noch unbewußte Richtung auf das Erkennen. Hier stehen schon die beyden Extreme neben einander, das absolute Bestimmtseyn von außen – und von innen. Wir isoliren nicht so, sondern nehmen an, in diesen ersten Zuständen seyen beyde Ansichten gleich begründet, und nehmen in jedem immer auch das Entgegengesetzte als Minimum wenigstens an. – Im Schreyen und im Öffnen des Auges liegen die Anfänge zu 2 Reihen: das Schreyen ist die Selbstäußerung des Ich in seiner Besonderheit; 10 übergegangen] übergegangen ist

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das Öffnen des Auges ist das Streben zum Aufnehmen der Bilder. Dieses ist das Objective, jenes | das Subjective. Beym Objectiven nehmen wir an, daß alle in diesem Auffassen übereinstimmen müssen, und alle Individualität verschwindet; beym Subjectiven gilt das individuelle Bewußtseyn; das Ich äußert sich in seiner Besonderheit; so haben wir schon hier die Anfänge zum Identischen, Bewußtseyn der Welt, und zum Individuellen, Selbstbewußtseyn. Der Gesichtssinn ist eine von den organischen Functionen, die deren Zusammenhang zwischen der Außenwelt und dem Subject vermitteln; das Geschrey hängt zusammen mit den Sprechwerkzeugen, die das Zusammenseyn der Einzelnen unter sich vermitteln, und auf das Zusammenseyn der Einzelwesen gehen. Hier haben wir also alle Puncte schon. Doch für das Individuum selbst sind diese Puncte noch nicht gesetzt, sondern dieß bewährt sich uns erst dadurch, daß das Individuum die Sprache ergreift; da wir dieß aber voraussetzen in der menschlichen Gestalt, bewährt durch die Geschichte so ist es für uns doch der erste Anfang. – Können wir nun sagen: So gewiß das Eine ist, ist auch das andre und die ersten Lebensäußerungen können nicht einseitig seyn? Dieß ist wenigstens die allgemeine Voraussetzung. Wenn ein Kind nicht gleich nach der Geburt schreyt, so entsteht Besorgniß für sein Leben; und öffnet es nicht seine Augen, so ist man besorgt für sein Organ. Man legt also beyden dieselbe Nothwendigkeit bey. Indem der menschliche Organismus hervortritt in die Welt, so sind die ersten elementarischen Berührungen Luft und Licht; beyde sind neu, und hängen zusammen mit den organischen Veränderungen, die mit der Geburt vorgehen. Auch diese beyden sind in diesen ersten Momenten indifferent in Absicht auf Receptivität und Spontaneität des Kindes; beyde üben einen Reiz, und beyde werden doch von innen her aufgenommen. Sie bedingen das allgemeine Verhältniß des Menschen zur Außenwelt; und schon hier in dem Anfange ist Spontaneität und Receptivität beysammen. [ ]| Bey jedem ersten Anfang setzen wir etwas Früheres voraus, z. B. beym Öffnen des Auges den Lichtreiz, und eben so etwas Späteres, nähmlich die Gesammtheit aller Gesichtsbewegungen, die das Individuum characteristisch darstellen sollen; und so ist alles sowohl receptiv als spontan anzusehen, und beyde sind immer beysammen.

[20. Stunde] Alles Bisherige gehört zu den Sinnesthätigkeiten, und mit diesen fangen wir an. Ist das erste Geschrey eine Wirkung der Luft auf das 26 Auch] Auch gegen 30–31 beysammen.] Es folgt ein Spatium von etwa zwölf Zeilen, versehen mit der Bemerkung: Es fehlt nichts.

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Organ der Respiration, so ist dieß nach unsrer Sprache eigentlich keine Sinnesthätigkeit, insofern nur die 5 Sinne gemeint wären; allein es hat sich der Sprachgebrauch längst geändert, und dem Besondren steht ein Allgemeiner Sinn gegenüber; man hat dieß den Hautsinn genannt, weil das Empfängliche die ganze Oberfläche des Körpers ist, die innre und äußre Oberfläche. Hier wäre es die innre Oberfläche. Dieser innre Sinn manifestirt sich als Veränderung der äußren Lebensbeschaffenheit, die nicht durch einzelne Eindrücke, sondern durch den allgemeinen Einfluß der Atmosphäre bewirkt werde. Wenn sich dieß allerdings physiologisch ganz isoliren läßt, die Wirkung und Reaction durch die Temperatur, und so gehört es als ganz im Organismus ruhend, nicht zum Psychischen. Aber durch die Stärke und Continuität wirkt es allerdings auch auf das Psychische und immer ist das Bewußtseyn davon etwas Psychisches, wenn auch receptiver Art; ein Wille gehört dazu, um einem Einfluß dessen auf die psychischen Thätigkeiten zu widerstehen; und so lassen sich diese Veränderungen nur außer das Psychische stellen, insofern die Fertigkeit des Widerstands so stark ist, daß kein Wille mehr dazu nöthig. Wer es dazu gebracht hat, daß die Temperaturveränderung keine psychischen Veränderungen in ihm wirkt, der hat das Physische ganz isolirt. Aber dieß ist nicht ursprünglich, sondern durch eine Reihe von Willensthätigkeiten gewonnen. So ist das Isoliren innerhalb des Organismus nur relativ möglich, und sie ist auch ein psychisches Element. Wir richten aber auch außerdem die Willensthätigkeit darauf bey jedem Verlangen, uns einer freyen Atmosphäre auszusetzen, wenn auch gleich diese Willensthätigkeit vom physischen Bedürfniß ausgeht. Das Bewußtseyn dieses allgemeinen Sinns ist ein Allgemeines, doch mit dem Bewußtseyn des Persönlichen, der Zusammenhang und das Verhältniß zwischen äußrer Atmosphäre und dem persönlichen Leben. In jedem Augenblick gehen diese Einflüsse mit ein, wenn auch als Minimum. Wir können diesen Sinn den subjectiven nennen, weil er nur den Zustand des Individuums aussagt im Verhältniß zu den äußren Lebensbedingungen. Nehmen wir das Andre das Öffnen des Auges, so ist dieß mehr ein besondres, bestimmtes Organ, der bestimmte Gesichtssinn; aber dieß ist nur die erste, von allen andren Sinnesthätigkeiten abhängige einzelne Thätigkeit. Wenn wir nun den Hautsinn den subjectiven nannten, so ist dieser besondere ein objectiver zu nennen, doch nur relativ. Man kann die ganze Oberfläche auch ansehen als bestimmtes Organ, und die Einwirkung der Atmosphäre ist nicht ein Eindruck eines bestimmten Gegenstands, sondern allgemein der Luft auf das Individuum als solches; beym Auge aber wirken bestimmte Gegenstände auf das Gesicht, und diese Gegenstände wirken auf alle Men36 Hautsinn] Hauptsinn

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schen mit gesunden Augen | gleich, und so ist dieß ein objectiver Sinn. Da wir beym obigen allgemeinen Sinn nicht voraussetzen können, daß immer dieselben Empfindungen bey allen seyen, hier aber wohl, so liegt darin die Voraussetzung, daß das auf letztre Art sich bildende Bewußtseyn ein gemein Menschliches sey, nicht auf das besondre Individuum bezogen. Der Standpunct aber, wo dieses wieder relativ wird, ist der: Wenn wir bey den ersten Gesichtsthätigkeiten stehen bleiben, so ist eigentlich von Gegenständen noch nicht die Rede, sondern das Auge hat es nur mit dem Licht zu thun, es fällt in dasselbe nur die Differenz des Lichts, der Gegensatz von Licht und Schatten, und Differenzirungen der Brechungen des Lichts, also Lichtgrade und Farben. Sagen wir, daß dieß die verschiedenen Gegenstände seyen, so beruht dieß auf Operationen, die wir vom Gesichtssinn sondern müssen. Stellen nun an und für sich die Gesichtsthätigkeiten nicht Gegenstände sondern Lichtdifferenzen dar, so bleibt zwar das stehen, daß die Wahrnehmungen des allgemeinen Sinns rein innre sind, bey denen wir vom Äußren ganz abstrahiren, es sind nur Wahrnehmungen unsres Zustands; das Sehen ist aber auch nichts andres als der Zustand des bestimmten Organs, aber die Lichtdifferenzen nehmen wir wahr als ein Äußres. Dieß bleibt immer stehen von jenem Gegensatz. Wir haben zwar Wahrnehmungen des Gesichtssinns, wo wir uns von nichts Äußrem bewußt sind, aber es sind doch ursprünglich äußre Wirkungen. Wenn wir schwebende Flecken sehen oder Funken, so ist dieß auch irgendwie eine durch Außen gewordene innre Affection des Auges, die wir nach der Analogie auf etwas Äußres übertragen. Dieses Bewußtseyn, daß es nichts Äußres sey, haben wir nur aus Erfahrung, der eignen und der anderer, aber ursprünglich sind wir geneigt, dieß als Äußres zu setzen. Hieraus ergibt sich eine Verringerung jenes Gegensatzes; nur die Übereinstimmung mit andren und die Erscheinung gibt uns ein Recht, die Gesichtsthätigkeit auf Gegenstände zu beziehen, d. h. auf etwas Äußres, was nicht zum Ich gehört. Betrachten wir so das Gebieth der andern Sinne, so finden wir schon ein ganz verändertes Verhältniß zu den Gegenständen. Derjenige Sinn, der dem Gesicht am nächsten zu stehen scheint, ist das Gehör. Aber hier ist es ganz dasselbe. Wie wir sagen, die Gesichtseindrücke enthalten ursprünglich nur Lichtdifferenzen so ist das Gehörte nichts andres als schwingende Luft, und wenn wir dieß auf Gegenstände übertragen, auf Gegenstände, die wir tönende nennen, so beruht dieß auch auf andern Operationen, und ist der Gehörsinn einmahl geöffnet, so repräsentirt er den ganzen Raum, und seinen Gegensatz von schwingender und nicht schwingender Luft. Und so ist es hier dasselbe nur daß wir hier doch die Gegenstände oder die Töne 9 nur] nur,

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nicht so ganz außer uns hinaus setzen und ohne Verbindung mit uns selbst. Bey den andren Sinnen tritt das Gegenständliche noch viel mehr hervor.

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Geruch und Geschmak scheinen sich mehr auf die Seite des allgemeinen Sinns hinzuneigen. (Sehen wir auf die organischen Bedingungen dieser Sinne und das Resultat derselben, so sind wir nicht berechtigt, das Bewußtseyn von Gegenständen dem Gesichtssinn beyzuschreiben. Der Gesichtssinn stellt uns eigentlich immer nur eine Fläche | vor, und alle Bilder im Innren des Auges liegen auf einer Scheibe. Erst andre Operationen geben uns die Vorstellung von Massen und ihrer gegenseitigen Verhältnisse. –) Der allgemeine Sinn hat es immer zu thun mit den atmosphärischen Gegensätzen, denen der Temperatur und dem Hygrometrischen, daher haben an diese 2 Puncte sich die ersten Elemente der Naturbetrachtung angeschlossen. Wie verhalten sich nun hier Empfindung und Wahrnehmung, und wie beym Gesicht? Im Resultat jenes allgemeinen Sinns für das Bewußtseyn ist die Empfindung das Primitive, und die Wahrnehmung das Secundäre. Beym Gesichtssinn scheint es umgekehrt zu seyn, so daß wenn die Lichtdifferenzen nicht so groß sind, keine Empfindung entsteht: daher ist hier die Wahrnehmung das Constante. Dieß ist also ein Gegensatz. Es knüpft sich beym allgemeinen Sinn die Wahrnehmung viel unmittelbarer an die Empfindung, als die Naturkunde die Mittel angegeben hat, die Wahrnehmung zu isoliren. Dieß kann man erst, wenn man etwas außer sich aufstellt, Wärmemasse etc. So ist Wahrnehmung und Empfindung nicht genuin auf einander zu beziehen und doch nicht zu trennen, denn die Temperatur kann sich auch innerlich verändern. Aber das Constante ist hier allerdings, daß die Empfindung das Primitive ist. – Im Gesichtssinne sind wir uns fest bewußt, daß die Wahrnehmung immer das Primitive ist; die Empfindung ist nicht nur das Secundäre, sondern das nur an gewisse Verhältnisse Gebundene, und der Sinn kann nur so lange fortfahren, als die Empfindung nicht da ist; denn sind wir geblendet oder müssen uns übermäßig anstrengen, so wird die Wahrnehmung unsicher, bis die Empfindung beseitigt ist. – Wie steht es nun um das Verhältniß von Receptivität und Spontaneität in diesen beyden? Es mag seyn, daß das erste Öffnen des Auges angesehen werden kann als Wirkung des Lichtreizes, als receptiver Zustand, an Passivität gren13 Hygrometrischen] so Nachschrift Iffland, S. 49, Ms.: Hydrometrischen

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zend; aber da dieser Lichtreiz wirkt auf die Empfindung, so ist der ganze folgende Verlauf des Sehens nicht mehr aus diesem Lichtreiz zu erklären, denn je mehr sich der Sinn ausbildet, desto mehr verschwindet die Empfindung. Das Geöffnetseyn des Auges müssen wir ansehen als auf die Spontaneität des Bewußtseyns zurück gehend, wenn gleich der erste organische Anfang anzusehen ist als Einwirkung auf das Organ. So haben wir also auf der einen Seite einen freyen Naturzusammenhang, der in der Spontaneität sich am meisten negirt, im psychischen Subject aber ist es das Aufnehmenwollen der Außenwelt durch diese Lichtdifferenzen, also spontan. Da aber das Wollen im Augenblicke des Sehens auf einer ganz andren Seite seyn kann, so geht das Organische zwar immer fort, aber ist kein Aufnehmenwollen da, so sagen wir doch nicht, es entsteht aus den Gesichtseindrücken kein Bewußtseyn. Also das Bewußtseyn gehört hier ganz der Spontaneität an, aber diese ist gebunden an die ursprüngliche Einwirkung von etwas Äußrem auf ihren Sinn durch den Lichtreiz. Dagegen ist die Empfindung nur etwas das Fortgehen des Organischen Unterbrechendes. Wie entsteht beym allgemeinen Sinn die Wahrnehmung aus der Empfindung? Gerade aus diesem bestimmten Bewußtseyn der Unwillkürlichkeit, Nichtspontaneität entsteht daß wir die Ursache außer | uns setzen. Es ist also bey der Wahrnehmung ein Minimum von Spontaneität, wenn die Empfindung zur Reflexion wird. Das Kind weiß nichts von einem Äußerlichen bey Wärme und Kälte, sondern dieß entsteht erst auf diesem rein negativen Wege durch die Reflexion. Daher so bald hier ein Irrthum entsteht, daß wir das, was einen innern Grund hat, der Athmosphäre beylegen, so hängt es zusammen mit einem mangelhaften Zustand des augenblicklichen Selbstbewußtseyns. Wo geht die Verbindung mit der Spontaneität hier an? Wenn uns die Empfindung durch die Reflexe zur Wahrnehmung wird, so hängt dieß eigentlich mit dem Sinn nicht zusammen. Nun aber findet allerdings von diesen Empfindungszuständen aus ein Einfluß auf die Gesammtheit der psychischen Operationen Statt. Betrachten wir die Empfindungszustände im allgemeinen Sinn, so gibt es Puncte auf dieser Scala, wo wir unmöglich andre Thätigkeiten fortsetzen können, sondern gehemmt sind. Im ruhigen Zustande betrachtet müssen wir sagen: bey großem Frost wird es unmöglich, eine zusammenhängende Gedankenreihe zu verfolgen, weil die Empfindung uns abzieht, und es entsteht ein Zustand der Anstrengung, doch auch so nur bis auf einen gewissen Punct, wo auch diese aufhören muß. Dieses Gehemmtseyn der ganzen Spontaneität liegt außerhalb des Sinns. Also: je stärker die Empfindung ist, desto mehr hat sie einen hemmenden Einfluß auf die Spontaneität aber je mehr der Sinn ein allgemeiner ist, desto weiter erstreckt sich die Hemmung auf die ganze Spontaneität; beym

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Einzelnen Organ aber erstreckt sich die Hemmung nur auf das Organ. Je weniger wir auf der andren Seite beym allgemeinen Sinne von der Empfindung übernommen werden, um so ruhiger geht die Spontaneität ihren Gang. Auch hier haben wir also Receptivität und Spontaneität; beym allgemeinen Sinn ist es das Verhältniß des einzelnen Subjects zu der Gesammtheit der Umgebungen, und so auch zu der Spontaneität. – Es kommt darauf an, daß wir alle übrigen Sinnesthätigkeiten zu diesen 2 entgegengesetzten im richtigen Verhältnisse auffassen. Dem allgemeinen Sinn am nächsten ist der Geruch, weil dieser Sinn auch von der Atmosphäre afficirt wird, d. h. von einem alterirten Zustande derselben. Im Fortgange scheint auch der Geruch auf Wahrnehmung von Gegenständen zu führen, aber er schließt sich doch ganz in der Empfindung, und die Wahrnehmung ist immer schon eine fremdartige Operation. Auch afficirt kein Gegenstand unmittelbar den Geruch, sondern erst durch Mittheilung an die Atmosphäre.

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Der Geschmak ist dem Geruch sehr verwandt; die Empfindungen sind analog; wir finden oft eine Übereinstimmung des Geruchs und Geschmaks bey demselben Gegenstand oder vergleichen den Geruch des einen mit dem Geschmak des andren. Die Differenz ist schwer anderswo als im Organ selbst zu finden. Beym Geschmak findet immer eine Berührung des Organs statt; und so steht auf der andren Seite dieser Sinn mit dem Tastsinn in Verbindung, weil hier auch eine unmittelbare Berührung ist. So steht er in der Mitte zwischen dem allgemeinen Sinn und dem Tastsinn. Geruch und Geschmak versiren allein in der Empfindung, und erst naturwissenschaftliche Kenntnisse gehören dazu, wenn aus ihnen | eine Wahrnehmung, Erkenntniß des Gegenstands erfolgen soll. Denn das allgemeine Beziehen auf einen Gegenstand ist noch keine bestimmte Wahrnehmung, wir erkennen nur gewisse Eigenschaften oder Elemente des Gegenstands, aber nicht den Gegenstand in seinem ganzen Seyn. Der Tastsinn ist dem Gesichtssinn am verwandtesten, indem er immer auf die Wahrnehmung ausgeht, es ist etwas außer uns, mit dem wir uns durch Berührung in Verbindung setzten: dieß gilt ganz gleich auch von unserm Körper. Es gibt allerdings auch eine den Tastsinn begleitende Empfindung, aber diese hängt nicht mit dem Wesen desselben zusammen, ist ein Subjectives im Gegensatz zur Wahrnehmung, die ein Objectives ist. Es liegt ihm zum Grunde der Widerstand den unsere Organe finden bey willkürlichen Bewegungen. Im Zusammen-

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hang mit diesem entsteht uns das Bewußtseyn, das wir Undurchdringlichkeit nennen. Der verschiedene Grad und die verschiedene Art und Weise dieser Wahrnehmung, d. h. wenn einer diese aussagt, wie der Aggregatzustand des Gegenstands geändert werden kann, gibt uns immer schon eine Kenntniß, wie mit diesem Gegenstand zu solchen Veränderungen müßte zu verfahren seyn. Dieß beruht aber schon auf Erfahrungen. Dieß ist in großer Analogie mit dem Gesichtssinn. Hier erhalten wir immer eine Totaliät des Raums, und je mehr Lichtdifferenzen da sind, desto mehr sondern wir, sind keine Lichtdifferenzen da, so ist dieß für das Gesicht der leere Raum. Im Tastsinn können wir umgekehrt nur beym Einzelnen beginnen und erst bey einer Totalität der Bewegungen erhalten wir eine Totalität des Raums; also die Totalität kann beym Tastsinn nur durch einen Complex auf einander folgender Bewegungen gegeben werden, was im Gesichtssinn ein Ursprüngliches ist. Aber beyde Sinne ergänzen sich in dieser Beziehung auf einander, und es wird uns etwas ein Gegenstand dadurch, daß es an beyden Sinnen sich bewährt, und wenn später das Gesicht darüber es allein entscheidet, so sind dieß immer Anticipationen des Tastsinns nach früheren Erfahrungen. Wenn wir ein Bild als Gegenstand setzen, so heißt dieß, es wird sich für unsern Tastsinn als Undurchdringliches setzen. Verschließen wir die Augen, und finden uns zu recht durch den Tastsinn, dann ist es umgekehrt; wir sagen vor dem Öffnen des Auges: diese und jene Gegenstände werden in dieser bestimmten Lage sich dem Auge darstellen. Auch dieß beruht auf Erfahrung. Fassen wir die ganze Region der Sinne zusammen so zeigt sich noch ein andrer Unterschied; sc. daß einige als leitende erscheinen, andre als hinzukommende. Der allgemeine Hautsinn bleibt immer in der Empfindung; damit ist schon gesagt, daß dieser Sinn kein leitender ist, weil er uns keine Anleitung gibt zum objectiven Bewußtseyn. Der Geruch ist die Empfindung von einer Veränderung in der Atmosphäre, oder eines bestimmten Orts derselben; darin liegt schon eine Anleitung, den Gegenstand zu suchen. Das Gehör steht hierin in Verbindung mit dem Geruch, die Affection kommt aus einem bestimmten Ort der Atmosphäre, und so gibt uns dieß auch Anleitung den Gegenstand zu suchen. In beyden Fällen ist es der Gesichtssinn und Tastsinn, der die Wahrnehmung vollendet. Gesichtssinn und Tastsinn sind in beständiger Verbindung, und hier geht der Gesichtssinn immer ursprünglich voran, und es geht die Gesammtoperation des objectiven Bewußtseyns von der Gesammtheit aus zum | Einzelnen, und sind wir beym Einzelnen, dann untersuchen und bewähren wir es durch den Tastsinn. Stellen wir einmahl den allgemeinen Sinn auf die Seite, weil dieser ganz im Gebieth der Empfindung bleibt, aber betrachten die andren

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Sinne für die Wahrnehmung, so gibt kein Sinn für sich allein ein bestimmtes Bewußtseyn, sondern dazu ist die Concurrenz von mehreren Sinnen nothwendig. Dazu gehört, daß die Sinnesthätigkeit nicht ein durch sich selbst Abgeschlossenes ist, sondern immer noch andre Operationen, z. B. willkürliche Bewegungen dabey sind und eine Beziehung der verschiedenen Momente auf einander. Vergleichung mit dem analogen Thierischen. Die vollkommneren Thiere haben mehr oder weniger dieselben Functionen und Organe wie wir in dieser Beziehung. Freylich sind wir so von ihnen gesondert, daß wir keine bestimmte Kenntniß haben können, was bey ihren Sinnesthätigkeiten das Bewußtseyn sey, wir können nur negativ schließen. Wir finden die verschiedenen Sinnesthätigkeiten bey den meisten Thieren nicht so unterschieden; sie haben eigentlich kein specifisches Organ für den Tastsinn, und kommen so zum analogen Bewußtseyn der Gegenstände nicht[,] sondern die Operationen des Tastsinns verbinden sich bey ihnen nur mit den willkürlichen Bewegungen, aber eben ohne bestimmtes Organ für den Tastsinn; und so kommen sie nicht zum Bewußtseyn des Raums durch das Tasten. Der Gesichtssinn ist meistens beschränkt auf einen geringeren, beschränkteren Raum um ihrer Vierfüßigkeit willen; aber die Analogie des Auges mit dem unsrigen zeigt, daß sie auch Bilder haben müssen. Was für Operationen knüpfen sich nun an den Gesichtssinn an? Auch willkürliche Bewegungen wie wir; aber was diese für ein Resultat für ihr Gesicht haben, ist uns nicht klar; alle diese willkürlichen Bewegungen sind lediglich veranlaßt durch den Selbsterhaltungstrieb, und haben sie auch ein Analogon vom objectiven Bewußtseyn, so bezieht es sich doch immer auf diesen Trieb, nicht aber ein Aufnehmenwollen der gesammten Außenwelt. Hier ist also ein ganz andrer Kreislauf angelegt, da alle willkürlichen Bewegungen, die sich an die Sinne anknüpfen, zurück gehen auf den Erhaltungstrieb. Wenn ein Thier seine Nahrung sucht, so ist es nur ein Zusammenwirken von Gesicht und Geruch, aber jeder dieser Sinne ist prädeterminirt auf den Kreis von Gegenständen, die zur Erhaltung des Thieres gehören. Es gibt für sie gar kein Object das sich nicht unmittelbar auf das Subject beziehe, und beyde treten nicht auf bestimmte Weise auseinander. Das menschliche Bewußtseyn entfernt sich so immer mehr vom thierischen, je mehr sie sich entwickeln im Auseinandertreten der Empfindung und Wahrnehmung und der Trennung des rein objectiven Kreises von dem, der sich auf die Existenz des Subjectiven bezieht. Doch auf keiner Stufe ist das menschliche und thierische sinnliche Bewußtseyn sich gleich; sondern diese Trennung und Befreyung ist das characteristisch Menschliche. 24 sind] sind alle

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Daraus folgt, daß wir von Anfang an im System der menschlichen Sinnesthätigkeiten eine Befreyung vom bloßen Erhaltungstriebe, und eine Verbindung von Empfindung und Wahrnehmung annehmen. Ferner haben wir gefunden, daß andre Thätigkeiten hinzutreten müssen immer, ehe eine Sinnessthätigkeit vollendet sey. Der allgemeine Sinn ist am wenigsten ein leitender, d. h. daß er am | wenigsten andre Sinnesthätigkeiten zur Vervollständigung hervorruft. Auch die, die ihm am nächsten stehen, auch wenn sie ursprünglich nur Empfindung sind, haben doch als Ende die Wahrnehmung, doch erst nachdem sie andre Sinnesthätigkeiten hervor gerufen haben; und dieß bildet eben den weitren Kreis der menschlichen Sinnesthätigkeiten. Wenn Geruch und Geschmack am meisten andre Sinnesthätigkeiten hervorrufen, so sind diese Sinne auch beym Thiere die am meisten leitenden, doch nur für willkürliche Bewegungen zur Selbsterhaltung, und damit ist der Kreis geschlossen. So ist es auch mit dem Gesicht und Gehör; alles, was nicht zur Selbsterhaltung gehört, geht an den Thieren vorüber. Das Thier ist also nur ein Ort für die Wechselwirkung der Sinnesthätigkeiten zur Selbsterhaltung. – Wir wollen einmahl davon abstrahiren, daß zur menschlichen Sinnesthätigkeit noch etwas mehr gehöre, so könnte durchaus auch bey aller Leitung gewisser Sinne keine objective Anschauung und Wahrnehmung entstehen. Freylich beym Thiere ist auch etwas innerlich Bestimmendes, eben der Erhaltungstrieb, aber weiter nichts, und damit ist der Kreis geschlossen, der je nach Verschiedenheit der Bedürfnisse der Thiere etwas größer oder etwas enger seyn kann. So kommen wir auf das pflanzenähnliche Minimum, wo keine willkürliche Bewegung ist, bis hinauf zum Maximum der Locomotivität. Die Differenz des Menschlichen vom Thierischen ist also die Befreyung der Sinnesthätigkeiten von der Abgrenzung des Selbsterhaltungstriebs. Aber was tritt denn da an die Stelle des Selbsterhaltungstriebes? Der allgemeine Sinn führt eigentlich nie auf eine reine Wahrnehmung; aber was ist die Beziehung dieser Lebenszustände, die entstehen aus den atmosphärischen Differenzen? auf einem gewissen Grade werden sie Hemmungen der psychischen Thätigkeiten; also nur in einem gewissen Kreise der atmosphärischen Temperatur gehen die psychischen Thätigkeiten ungehindert fort. Wir sehen aber auch eine Erweiterung und eine Beschränkung des Maaßes, das durch andre Theile des psychischen bedingt ist. Der Grünländer und Esquimaux finden sich durch ein solches Extrem nicht gehemmt, sie sind auf die1 Vgl. Nachschrift Stern, Bl. 25r: „Schleiermachers Psychologie den 21ten November 1833 an dessen 65ten Geburtstage“

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sem Puncte der Scala einheimisich. Dieß hängt zusammen mit einer Beschränktheit ihrer psychischen Operationen selbst. Wir wären darin gehemmt, aber doch wäre eine Möglichkeit, uns dagegen abzuhärten, und dieß ist dann ein durch die eigne Kraft Hervorgebrachtes; also die Extreme selbst reizen die Willensthätigkeit zu Ausdauer. In großer Kälte ist uns Anfangs eine zusammenhängende Gedankenreihe unmöglich, aber wir können uns daran gewöhnen. Eben so ist es mit dem Extrem von Hitze. Dem gegenüber steht die Verweichlichung; dieser Einfluß ist nur ein Mangel der Willensthätigkeit; doch liegt immer etwas Positives zum Grunde. Wenn wir gehemmt werden in unsrer Thätigkeit auf den Extremen, so nennen wir dieß nicht Verweichlichung, aber wenn hier in unserm Clima der eine auf einen sehr kleinen Kreis von Differenzen beschränkt ist, so sagen wir: der hat sich verweichlicht. Was ist hier das Positive? Es ist nichts andres, als Verwöhnung. Da es eine freye Hingebung ist, sagen wir nicht: der Mensch ist verweichlicht worden, sondern er hat sich verweichlicht, und dieß ist das Positive, das wir dabey setzen: der Mensch | will nicht weiter gehen. Betrachten wir diesen allgemeinen Sinn, so zeigt sich das eigenthümlich Menschliche in dieser Beweglichkeit, den Raum der Temperatur zu erweitern, ohne in der Thätigkeit sich hemmen zu lassen. Dieß ist Freyheit im Vergleich mit den Thieren, ein höherer Grad von Kraft, vom Menschen ausgehend. Machen wir ähnliche Versuche mit den Pflanzen und Thieren, so gibt es allerdings solche, die in allen Climata bestehen können, andre, die sehr beschränkt. Doch dieß trifft nur die Gattungen, nicht aber die Individuen, es müßte dann ein Krankheitszustand seyn, wenn ein Individuum sich von der Gattung entfernte. Auch dieser weitre oder engre Kreis für die Thiere hängt damit zusammen ob es seine Selbsterhaltung in weitren oder engren Kreisen nur realisiren kann. Beym Menschen ist also Befreyung der Willensthätigkeit von solchen äußren Beschränkungen. – Nehmen wir die andren Sinne, so sind die einen ursprünglich Empfindung, die andren ursprünglich Wahrnehmungen, aber erstre sind nur vollendet, wenn sie Wahrnehmung werden, letztre aber sind gehemmt, sobald sie anfangen Empfindung zu werden. Was ist denn eigentlich die Differenz zwischen Empfindung d. h. Bewußtseyn meiner selbst als in einem Zustande, und zwischen Wahrnehmung d. h. meinem Bewußtseyn von etwas außer mir? Das eine ist ein Bewußtseyn von mir, und das andre ein Bewußtseyn von anderen; doch das Ichsagen als Constantes ist auch ein Bewußtseyn von mir, aber nicht unter einem im Gegensatze stehenden Zustande. Die Richtung der Sinnesthätigkeit, die sich erst in Wahrnehmung vollendet, ist nichts andres, als die Richtung darauf, mit dem Bewußtseyn von mir selbst zu haben das Bewußtseyn von allen andren. Constituirt aber Empfänglichkeit und

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Selbstthätigkeit den Begriff des Lebens überhaupt, was constituirt den Begriff des eigenthümlich menschlichen Lebens? Wir sind noch nicht im Stande, diese Formel in ihrem ganzen Umfange zu bestimmen, aber doch in Beziehung auf die Sinnesthätigkeit, die wir jetzt betrachten.

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Was wir sagten über die Differenz des Menschlichen und Thierischen, bezog sich nur auf das Ergebniß der Sinnesthätigkeiten, nicht aber auf Alles. Ebenso wenig sind die Formeln als metaphysische Theoreme anzusehen, sondern sie sollen nur einzelne Puncte fixiren. Um das Reinmenschliche zu bestimmen, müssen wir bey dem beginnen, was im Verlauf des menschlichen Lebens über das der Thiere hinaus ist. Sagen wir, das, was der Gesichtssinn uns gibt, sondert sich durch den Tastsinn in eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen nach Undurchdringlichkeit und Entfernung, so gehen diese Operationen vor ohne alle Beziehung auf das Subject in seiner Besonderheit. Fragen wir: was ist hievon ausgegangen das letzte Resultat der gesammten Sinnesthätigkeiten, indem auch Geruch und Geschmack in Wahrnehmung übergehen? so ist es das Weltbild, das in uns liegt, und alles Einzelne ist ein Theil von diesem, und jede Correction ist eine Berichtigung dieses Bildes. Obschon ein Bild eigentlich nur für das Gesicht ist, so läßt es sich doch so erweitern, daß es jede Vorstellung ist, die auf den Sinnesthätigkeiten ruht, also hier der Complex alles des Einzelnen, was auf unsrer Wahrnehmung ruht. Denken wir uns die Vollständigkeit aller Sinnesthätigkeiten, so müssen wir sagen, es gibt keinen Einzelnen, der mit seinen Sinnesthätigkeiten dieses Gesammtbild erhalte, aber wir wissen auch, daß wir | die Wahrnehmungen andrer in uns übertragen können durch Analogie unsrer eignen Wahrnehmungen. So ist dieses Weltbild eigentlich ein Gesammtbild des ganzen menschlichen Geschlechts; das ist das im Werden begriffne Resultat aller Sinnesthätigkeiten. Vergleichen wir dieß mit dem thierischen Leben, dessen Sinne nur auf das Äußere gehen, das eine Beziehung auf seine Existenz hat, so ist das thierische Leben der Gesammtausdruck für diese Beziehungen, und der Selbsterhaltungstrieb öffnet die Sinne. Ist die Selbstthätigkeit der menschlichen Sinne eine sich auf Andre übertragende und nicht in Einem bleibende, sondern erst etwas wer6 das] die 17–19 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 58: „so ist es das Weltbild, welches wir durch die Sinne erhalten und jede andre Wahrnehmung ist eine Correction dieses Weltbildes.“

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dendes durch das Zusammentreten mit andren, so ist hier obiges Verhältniß gar nicht. Nehmen wir eine Thiergattung, so finden wir hier in allem, was wir analog als eine Objection betrachten können, das Einzelwesen für sich, und jedes muß den ganzen Kreilauf wieder durchmachen. Der Mensch aber als das Ichsagende trägt die Identität des Bewußtseyns als Einzelner und des allgemeinen menschlichen Bewußtseyns in sich, und so stehen die Sinnesthätigkeiten in ihrem letzten Resultate, dem Weltbild in keinem Verhältniß zum Einzelwesen als solchem; indem sie aber vom Ich doch ausgehen, haben sie ihre Beziehung auf das Menschheitsbewußtseyn, für das einzelne Leben aber müssen wir doch auch ein abgeschlossnes Ganzes denken, und so liegt in der Wechselbeziehung des Menschen als solchem zu allem Äußren doch gerade das, daß dieß eben zu seiner Selbsterhaltung gehört; und diese Übertragung gehört mit zum Kreislauf des Menschlichen. Gehört dieß aber zur Existenz des Menschen im Allgemeinen die in jedem Einzelnen sich auch ausspricht, so ist dieß also auch die Existenz des einzelnen Menschen, und erst in diesem Übertragen und Zusammenfügen des Einzelnen zum Weltbilde liegt die Vollendung der menschlichen Aufgabe. Fragen wir, ob die bisher aufgestellten organischen Systeme von Thätigkeit hinreichen zur Aufstellung dieses Weltbilds, so können wir dieß noch nicht beantworten, es würde eine rein naturwissenschaftliche Untersuchung, die außer unsres Gebieths läge. Aber fragen wir, hätte diese Behandlung irgend einen Sinn, so müssen wir uns sagen: die ganze Behandlung würde sich darin auflösen, daß wir sagten, der Mensch kann keine andren Vorstellungen vom Weltbilde erhalten, als durch seine Receptivität bedingt sind, und die Frage wäre eine leere. Fingirten wir uns, daß wir eigentlich anders woher Wahrnehmungen und Vorstellungen von wirksamen Potenzen haben könnten, als durch unsre Sinne, so würden wir dieß allerdings als einen Mangel ansehen für die Erkenntniß des Weltbildes. So aber wie es steht, kann es dem Menschen gleich seyn, was außer seiner Sinnenreceptivität noch andres da sey; für ihn ist es nicht da, so wenig wie für das Thier das, das nicht zu seiner Lebenserhaltung gehört. – Vergleichen wir die Sinne nach ihren Beyträgen zu diesem Weltbilde, so sind der Gesichtssinn und Tastsinn die ersten Grundlagen, und was vom Geschmack und Geruch Gegenstand oder Wahrnehmung wird, geht in jene beyden ein. Aber das Gehör? was leistet dieses zu unserm Weltbilde? was erlangen wir dadurch für Wahrnehmungen? Wir können versucht seyn zu sagen, es seyen solche, die unter uns gar nichts sind. Es sind allerdings Gegenstände, aber wir empfangen dadurch nichts, was am Gegenstande etwas wäre. Der Ton eines Körpers ist 16 also auch] also auch zur

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uns eine Relation seiner Oberfläche zur sie berührenden Luft. Durch das Hören erfahren wir auch nichts von der Luft als Körper, sondern es ist uns eine Relation zwischen ihr und den Gegenständen. So hat man sceptizirt über das Gehör, aber eben dieß hat man auch gesagt vom Gesicht, das uns eigentlich auch den Gegenstand nicht kennen lehrt, | sondern nur die Lichtverhältnisse. Wir könnten dieß noch weiter ausdehnen auf andre; aber daraus folgt nur, daß kein einzelner Sinn uns das gesammte Weltbild gibt, aber gerade Geruch und Geschmack tragen am meisten dazu bey, uns die innren Qualitäten der Dinge zum Bewußtseyn zu bringen.

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[25. Stunde] Das Weltbild bezieht sich auf die Gesammtheit der sinnlichen Wahrnehmungen, jetzt aber noch keineswegs auf die Gesammtheit der Begriffe, wenn wir gleich voraus gesetzt haben, daß wir zu jener Gesammtheit nicht gelangen können ohne Dazwischentreten von Begriffen, die aber gar nicht als solche betrachtet werden. Wir haben uns nun ganz auf die eine Seite der Sinnesthätigkeiten hingewendet, aber wir haben gesehen, daß es keine Sinne gibt, die nur subjectiv wären, sondern immer gehen sie auch auf Wahrnehmung, und eben so gibt es keine rein objective Sinnesthätigkeit sondern immer ist auch eine Empfindung dabey, und diese Seite müssen wir auch noch berücksichtigen. Dieses, daß die Sinnesthätigkeit insofern sie auf Wahrnehmung ausgeht, ihren Trieb nach Auffassung des Weltbilds hat, haben wir als das rein menschliche und allgemein angesehen, gegenüber dem Individuellen der Empfindung. Daß jenes aber der Trieb auch ein spontaner sey bey seiner Receptivität ist noch etwas sehr Streitiges; wir aber haben ihn so genommen und ihn dem Selbsterhaltungstrieb gegenüber gestellt. Jenes erstre geht ganz über das Intresse des Einzelnen hinaus, und darum geht es von der allgemeinen Richtung des Menschseyns aus, nicht vom Individuum. Man hat dieß bestritten, und gesagt: der Mensch geht so wenig über das Einzelwesen hinaus als das Thier, und dieß sey immer nur eine Täuschung. Dieß ist die streng egoistische und skeptische Ansicht; sie ist egoistisch, weil sie alle Sinnesthätigkeit, und was sich darauf baut, auf das Einzelwesen beschränkt; denn wenn dieß gilt von den Sinnesthätigkeiten so folgt es auch für die ganze Denkthätigkeit. Das Positive dieser Ansicht ist eine völlige Unterordnung der Wahrnehmungsthätigkeit unter die Empfindung. Läugnet man das Hinausgehen über das individuelle Subject und läßt die Selbsterhaltung allein walten, so abstrahirt man

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auch von allem Seyn außer dem Einzelwesen[,] ausgenommen das, was sich auf das Einzelwesen bezieht, und diese Ansicht hebt in dieser Beziehung den Unterschied des Menschlichen und Thierischen auf, nur daß der Kreis bey jenem größer sey und er das erste Thier wäre; für beyde gäbe es Eine Formel. Wie müssen wir dieß widerlegen? Müssen wir sagen: Ja das ist von der unsrigen ganz verschiedene Grundvoraussetzung, und von da an gehen wir natürlich aus einander? Dann wäre es nur die Sache einer bestimmten Wahl, und wir könnten nichts thun, um einen Gegner auf unsre Seite hinüber zu ziehen. Wollen wir auf unsrer Grundlage eines specifischen Unterschieds zwischen Mensch und Thier, den wir Intelligenz nennen können, weiter fortbauen, ohne uns um die andre Ansicht zu bekümmern, oder wollen wir uns gleich jetzt noch jene Grundlage untersuchen, und sie als untergeordnet in die unsrige aufnehmen? Stehen bleibend bloß bey der Sinnesthätigkeit könnten wir wohl nichts als bey der Differenz bleiben. Sagen wir: die Denkthätigkeit von der die Richtung auf die Wahrnehmung ausgeht, sey rein getrennt von dem Trieb der Selbsterhaltung, und gehn wir nach außen, so erkennen wir darin ein Intresse des psychischen Subjects am Seyn überhaupt; denn was wir Weltbild genannt haben, ist uns ein durch die Sinnesthätigkeiten vermitteltes | Bewußtseyn vom Seyn. Jene andre Ansicht dagegen läugnet dieses Intresse am Seyn überhaupt; es ist ihnen auch gleich, wie sich das durch die Sinne vermittelte Bewußtseyn zum Seyn verhält. Was ist denn das für ein Verhältniß zwischen dem durch die Sinne vermittelten Bewußtseyn und dem Seyn, sc. dem Resultat nach. Fassen wir dieses Gesammtresultat unter dem Nahmen Weltbild zusammen so liegt darin allerdings jenes Verhältniß bestimmt ausgesprochen. Wir sehen gewisse Vorstellungen als falsch an und andre als wahr, dieß ist nur ein verschiedenes Verhältniß des durch die Sinne vermittelten Bewußtseyns und des Seyns. Z. B. wenn eine Lichterscheinung vor uns tritt, so geschieht es zuweilen, daß wir dazu uns einen Körper denken; kommen wir hinzu, und sehen daß es nicht so ist, so sagen wir daß wir uns geirrt haben; wir hatten also die Combination mit einer zweyten Sinnesthätigkeit anticipirt, und diese Anticipation war falsch. Haben 2 eine verschiedene Vorstellung, die auf verschiedenen solchen Schlüssen beruhen, so sind diese beyden im Widerspruch, und es ist eine allgemeine Thatsache, daß jeder den Irrthum zu beseitigen sucht. Könnten wir unsren Gegner in diese Behauptung einschließen, so hätten wir ihn schon widerlegt, denn als Gegner dürfte er gar nicht um die Berichtigung seiner Vorstellung sich bekümmern. Zwar kann es Einfluß geben auf meine Lebenserhaltung von einer solchen Täu14 aufnehmen?] aufnehmen.

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schung, oft aber ist dieß für diese ganz gleichgültig, und in diesem Fall müßte jener sich gar nicht um Berichtigung seiner Vorstellung bekümmern. Nun aber ist eben dieses Intresse an der Berichtigung der Irrhtümer bey dem Einen stark, bey dem andren schwach. Daraus aber folgt noch nicht, daß es im Menschen ganz fehlen könne, und ein erkünsteltes sey, wo es im Menschen ist. Also eine solche Differenz von mehr und weniger müssen wir zugeben, aber ein gänzliches Fehlen geben wir nicht zu, denn sonst wäre es nicht ein Bestandtheil des menschlichen Bewußtseyns. Können wir gegen die Behauptung etwas Positives aufstellen, daß das Intresse an der Wahrheit in vielen Menschen Null sey, und in allen andren ein erkünsteltes? Erkünstelt will sagen, daß etwas könne ins menschliche Leben hineinkommen in so großer Constanz, was in seinem Wesen an sich nicht hinge, sondern nur erzwungen sey. Dieß hieße so viel: es haben es einige Menschen andern beygebracht, und so hat es sich verbreitet. Wozu? jeder Mensch hat es nicht in seiner Gewalt, alle Vorstellungen, die sich auf seine Existenz beziehen, in größter Genauigkeit beysammen zu haben; sucht er diese von andren zu bekommen, so können letztre ihr eignes Intresse in die andern hineinbringen, wie man es schon vom Guten und Bösen behauptet hat. Taxirt man von dieser Voraussetzung aus die Menschen, so kommt die Sache natürlich ganz anders zu stehen. Wir sagen: die Menschen, in denen sich jenes Intresse am stärksten ausspricht, sind die Vollkommensten; der Gegner aber sagt, die, die sich am meisten darum bekümmern, sind die, die sich am meisten einordnen lassen, und die, die sich am wenigsten darum bekümmern, seyen die, die an der Wahrheit am meisten festhalten. Könnten wir sagen, dieß werde von Natur kein Mensch annehmen und behaupten, so hätten wir gewonnenes Spiel. Allein dieß können wir nicht voraussetzen, und diese beyden Behauptungen bleiben also stehen als doppelte Wahl.

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Es entstehen 2 verschiedene Vorstellungen vom richtigen und verkehrten psychischen Verlauf des Lebens. Diese Thatsache müssen wir feststellen, daß 2erley solche Vorstellungen seyen. Aber die Erklärung derselben fällt nicht mehr ins Gebieth der Sinnesthätigkeiten. Bleiben wir noch | bey diesen, und sehen, wie aus denselben unser Ende zu Stande komme, so scheint dieß in den constructiven Theil zu gehören; aber insofern wir dabey nicht außer die Sinnesthätigkeiten gehen wollen, so gehört es hieher. Denken wir uns einen Menschen mit gesun-

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den, geöffneten Sinnen, receptiv, so ist diese beständige Änderung von verschiedenen Momenten, die durch die äußren Dinge gewirkt oder doch veranlaßt werden. Soll das Resultat davon das vollendete Weltbild seyn, so haben wir schon gesagt, daß der Einzelne dieß nicht erreichen könne, sondern nur durch Mittheilung und Zusammenfügung von Eigenem und Fremdem, was wir noch nicht betrachtet haben. Aber abgesehen davon ist in Hinsicht auf den einzelnen Moment, wenn sich die Gegenstände ändern, so hört die Sinnesthätigkeit jedesmahl auf; aber hört auch das Bewußtseyn auf, oder bleibt es? Im erstern Fall wird unser Resultat gar nicht zu Stande kommen, außer etwa durch Reproduction, wenn dieß möglich wäre. Der Mensch muß mehr in seinem Bewußtseyn haben können als er vor seinen Sinnen hat, sonst wäre keine Vermehrung möglich. Diese Reproduction wäre Erinnerung. Jene Thatsache steht fest, und so muß das Bewußtseyn erklärt werden können in seinem Verharren oder in seiner Wiederkehr. Nun aber sagt man auch, daß das Bewußtseyn durch Sinnesthätigkeit nicht wieder vergehe, sondern bleibe, und daß es nicht erst reproducirt worden sey, sondern immer darin geblieben sey, und wenn wir oft mehr oft weniger im Bewußtseyn haben, so sey es nur, weil wir es nicht darin haben wollten. Zu welcher dieser Ansichten wollen wir uns halten, zum Verharren im Bewußtseyn oder zur Reproduction? Die Hauptsache ist, ob das Bewußtseyn durch Sinnesthätigkeit Einmahl Null werde in der Zwischenzeit, oder ob es nur latitire ohne verschwunden zu seyn. Wir haben das Factum schon zugegeben, daß unsre Sinne können geöffnet seyn, aber das dazu gehörige Bewußtseyn ist nicht entstanden, und zwar darum nicht, weil die Function des Bewußtseyns in diesem Moment anders beschäftigt war. Wir haben vom Denken noch nicht gehandelt, aber es ist doch eine Thatsache, daß wenn wir angestrengt im Denken versunken sind, unsre Sinne geöffnet seyn können, ohne daß wir dadurch zu einem Bewußtseyn kommen. Viele Menschen verschließen auch wenigstens die Augen beym Denken, oder thun dieß nicht und werden doch nicht gestört. Wenn ich nun einem sage: du hast dieß nicht gehört, weil du im Denken begriffen warst, und war dein Ohr bis ins Innerste offen, und so beschäftigt, daß daraus Bewußtseyn werden konnte? Darüber kann ein solcher keine Rechenschaft geben. Darin haben wir schon die Ungewißheit, wie weit in einem solchen Zustand die organische Operation sich vollende. Daß die nach außen gerichteten Enden des Sinns afficirt werden, ist gewiß, aber wie weit nach innen diese Receptivität sich fortsetzt ins Physiologische das können wir nicht mehr gehörig bestimmen. Es verhält sich mit der Reproduction der Sinnesthätigkeiten in solchen Fällen natürlich, wie mit den ersten Aufnahmen überhaupt. – Die eine jener Ansichten nun behauptet, der Zusammenhang

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zwischen Sinnesthätigkeit und Bewußtseyn ist an erstre gebunden, und verschwindet damit; es gibt aber eine Möglichkeit das Bewußtseyn später zu reproduciren ohne Sinnesthätigkeit; die andre Ansicht sagt: das Bewußtseyn bleibt, aber tritt zurück, wenn wir die Aufmerksamkeit auf etwas andres richten, wie schon beym ersten Aufnehmen. Im letztren Falle nehme ich das Bewußtseyn, wenn es einmahl entstanden ist, als etwas | Bleibendes an, freylich von der Willensthätigkeit abhängig in quantitativer Verschiedenheit. Die andre Ansicht aber nimmt ein Aufhören des Bewußtseyns mit dem Aufhören der Sinnesthätigkeit an, aber Möglichkeit der Reproduction. Wir können auch hier nicht aus der Beobachtung entscheiden, denn um zu entscheiden müßten wir zu gleicher Zeit in 2 Zuständen seyn. Aber man könnte sagen: ob das Bewußtseyn vorhanden sey als Minimum, oder aber ganz verschwunden, dieß sey ein bloßer Wortstreit; aber es ist nicht so, weil wir im Zweyten Falle annehmen müßten, daß ein Bewußtseyn nach seinem gänzlichen Verschwinden wieder auf eine andre Art entstehen könnte. Auf eine bloße Wahl aber können wir es nicht ankommen lassen. – Sehen wir auf das andre Ende, sc. wo das Bewußtseyn wieder erscheint, – können wir ein Bewußtseyn davon haben, wie dieses Bewußtseyn wieder entsteht? Es kommen Fälle vor, wo es uns Aufgabe wird, ein bestimmtes Bewußtseyn wieder zu haben, aber wir haben eine unbestimmte Vorstellung davon, daß es schon da gewesen sey in dieser Form, und dann steht eine Willensthätigkeit das Fehlende zu ergänzen. Hier haben wir aber 2 Momente, von denen der eine für die eine Ansicht spricht, der andre für die Zweyte; und es kommt nur darauf an, welchen dieser Momente [wir] für den entscheidenden ansehen. Doch gibt uns dieß die Thatsache, daß wir etwas, das mit der Sinnesthätigkeit entstand, im Bewußtseyn haben, ohne es reproducirt zu haben. Dieß entscheidet also doch dafür, daß ein solches Bewußtseyn nicht ganz wieder verschwinde. Nehmen wir hinzu, daß nur Bewußtseyn von Vergangenem wiederkommt, ohne daß wir eine Richtung darauf haben, so erklärt sich dieß viel leichter aus dem Beharren als aus der Reproduction, denn es fehlt ja aller Impuls. Wie bezeichnet die Sprache diese beyden Ansichten? Gedächtniß ruht auf der Voraussetzung des Verharrens, und ein gutes Gedächtniß ist dieß, daß das Minimum des Bewußtseyns bey einer weniger ein Minimum sey, aber bey einer andren. Erinnerung im activen Sinn bezeichnet die Reproduction. Je besser das Gedächtniß eines Menschen ist, desto weniger braucht er sich zu erinnern, und umgekehrt. Und so sind dann in der Sprache beyde Ansichten bestimmt niedergelegt. Frage ich mich: Wie war doch dieß? so habe ich die Sache eigentlich schon im Gedächtniß, aber nicht bestimmt, und darum suche ich mich an das Mangelnde zu erinnern, also ist Verharren und Reproduction beysam-

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men. Somit verschwindet die Nothwendigkeit, eine eigne Function anzunehmen für ein früher vorhandenes aber wieder entstandenes Bewußtseyn; das Bewußtseyn hat seine Dauer für sich abgesehen von der Sinnesthätigkeit und das Hervorrufen des Bewußtseyns zur ursprünglichen Stärke ist eine Wirkung derselben Willensthätigkeit von der überhaupt das Entstehen des Bewußtseyns ausgeht. Aber freylich quantitativ ist dieß in verschiedenen Menschen verschieden, und somit: Was einmahl Bewußtseyn geworden ist, ist nicht mehr schlechthin der Zeit unterworfen, d. h. es kann aus verschiedenen Momenten auf verschiedene Weise zum Vorschein kommen, aber es hat sein psychisches Leben, wenn es auch nie bestimmt wieder hervor tritt; aber die Quantität, die das Bewußtseyn durch die Sinnesthätigkeit erhält, ist überhaupt bey verschiedenen Menschen sehr verschieden. Dieß ist die allgemeine Lösung. Aber die Frage nach der Art dieser quantitativen Verschiedenheit ist dann wieder eine andre. |

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Wir haben noch 2 andre Sätze aufzustellen, denn wir behaupteten, es sey die organische Operation der Sinnesthätigkeit nur eine Veranlassung, um die psychische Entwicklung zu fördern, ja sogar hat man behauptet, es seyen 2 parallele Linien, die Sinnesthätigkeit und die Entwicklung der Vorstellungen, aber ohne Verbindung und gegenseitige Bestimmung. Die andren sagen: Das Beharren bey einer Vorstellung durch Sinnesthätigkeit oder die Wiederhohlung derselben sey nur ein Zurückbleiben des sinnlichen Eindrucks, der im Gehirn sey erhalten; aber dieß erklärt nichts, und man muß wieder fragen, wie jene Eindrücke ruhen und wie sie wieder angeregt werden können; und durch die obige Parallele wird die Einheit des Lebens zerstört. – Sollen wir aber zwischen obigen 2 Sätzen auf der vorigen Seite, ob das neuerwachte Bewußtseyn sich neu wiederhohle nachdem es geruht, oder ob es immer geblieben, und jetzt nur neu modificirt werde, entscheiden, so müssen wir uns nach unsrer Grundvoraussetzung, der Continuität des Lebens zu letzterm bekennen; denn auch das kleinste Intervall würde diese Continuität zu einem bloßen Aggregat machen, weil alle psychischen Thätigkeiten mit organischen zusammenhängen, selbst das Denken. Aus unsrer Behauptung folgt: Die organischen Sinnesthätigkeiten nach Wahrnehmung enden in einem Bewußtseyn von einem getheilten Seyn, und dieses Bewußtseyn bleibt, wenn ein neues entsteht, und wird zusammengedrängt durch dasselbe und so schiebt sich ja das ältre Bewußtseyn unter eine größre

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Zahle von Bewußtseynmomenten und Thätigkeiten. Nun haben wir schon gesagt, daß oft ein sehr weit zurückgetretenes Bewußtseyn wieder frisch hervor tritt nach Analogie der jetzigen Sinnesthätigkeit, die ein analoges Bewußtseyn bewirkt, oder auch dieß kann entstehen durch eine Willensthätigkeit die aber auch auf einer Sinnesthätigkeit beruht. Beydes beruht auch auf dem Beharren des Bewußtseyns, das zu verschiedenen Zeiten nur verschieden stark ist. Betrachten wir das Bewußtseyn in Verbindung mit der Sinnesthätigkeit und das Beharren desselben als das Wesen, so ist die Möglichkeit, daß es in verschiedenen Momenten verschieden stark seyn kann keine besondre Function, sondern es ist nur das Verhältniß eines einzelnen Bewußtseyns zu der ganzen Masse desselben. Dieß also ist das Gedächtniß. – Bey der Erinnerung kommt ein Willensact dazu, aber das Gelingen ist ebenfalls nichts besondres, sondern es beruht auf der Stärke der Willensthätigkeit und auf jenem Verhältniß. Das Gedächtniß und die Erinnerung also sind keine besondren Vermögen, sondern sie sind das Gesetztseyn des Beharrens des Bewußtseyns nach dem Verhältniß der Stärke zum Gesammtbewußtseyn. Hier haben wir schon eine Differenz wenn bey Verschiedenen das Weltbild verschieden zu Stande kommt. Schon die Differenz der Stärke der verschiedenen Sinnesthätigkeiten führt darauf; denn das Weltbild entsteht durch Zurückrufen aller Sinnesthätigkeit und ihres Gesammtbewußtseyns und durch die verschiedene Stärke der Willensthätigkeit; je nachdem einer nun in diesem Zurückrufen mehr Lebendigkeit und Willenskraft zeigt, so muß sein Weltbild ein eigenthümliches werden. Diese Differenzen werden erklärt durch die Voraussetzung einer Differenz der Lebensthätigkeiten bey verschiedenen Menschen. Gehen wir auf die subjective Seite der Sinnesthätigkeiten besonders abhängig vom allgemeinen Hautsinn, d. h. auf das Bewußtseyn der Zustände nach den atmosphärischen Einflüssen, die also besonders die Empfindung begründen. Wir haben gesehen, daß die objectiven Sinnesthätigkeiten getrübt werden, wenn die Empfindung | stark wird. Nehmen wir nun aber das durch Sinnesthätigkeit veranlaßte Bewußtseyn von einem innren Zustande, was ist von diesem das eigentliche Ende? wir haben schon gesagt, daß alle, auch diese Sinnesthätigkeiten sollen in Wahrnehmung übergehen. Beyde können nur bis auf einen gewissen Grad coexistiren. Der allgemeine Sinn, als die Lebensverhältnisse bedingend, steht mit allen andren in Verbindung, und ist hier die Empfindung sehr stark, so würden alle andren Sinnesthätigkeiten gelähmt ohne Bewußtseyn. Der Zustand ist bey den Sinnen eine vorherrschende Receptivität, doch immer mit innrem Leben, 17 Bewußtseyns] Bhwßtseyns

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mit einem innrem Triebe. So wie die Empfindung nun so stark wird, daß die Wahrnehmung gehemmt wird, so muß die Willenthätigkeit dieß finden. In Absicht auf den allgemeinen Sinn ist dieß Abhärtung und Verweichlichung. Dieß scheint ein positiver Gegensatz zu seyn, aber Verweichlichung ist nur die Negation der erstern Willensthätigkeit. Es ist nähmlich eine Möglichkeit, die Grenzen des objectiven Bewußtseyns bey einem hohen Grade von Empfindung zu erweitern: dieß ist die Abhärtung. Freylich ist die hemmende Wirkung des allgemeinen Sinns quantitativ nicht bey allen Menschen gleich stark, und jeder kann durch seine Willensthätigkeit sich denen nähern, bey denen ursprünglich diese hemmende Wirkung geringer ist. Dieß ist eine Vermehrung des objectiven Bewußtseyns durch Anstrengung. Wo ein geringres Quantum von Willensthätigkeit ursprünglich ist, da ist auch eine geringre Anstrengung möglich; z. B. ein Kind und ein erwachsner Mann. Hier also endet die Reihe in einem Resultat für die Willensthätigkeit[;] je stärker diese ist, desto weniger gehemmt wird das objective Bewußtseyn. – Ist denn die Verweichlichung ein Positives? Man kann sagen: die Kraft des Einzelwesens wird geringer durch den Nichtgebrauch d. h. je öfter das Subject unterlassen hat, seine Willensthätigkeit gegen die Hemmungen der Affectionen zu richten, um so weniger kann es später davon Gebrauch machen. Dieß wäre ein Positives, und endete in der Unmöglichkeit des Gebrauchs, so daß keine Affection mehr zu überwinden wäre. Dieß ist aber jetzt noch ein unerwiesenes Extrem. Oder man kann sagen: die positive Verweichlichung ist nur ein Schein, beruhend auf Vergleichung verschiedener Subjecte mit einander. Denken wir uns 3 Menschen, von denen einer von Natur weniger afficirbar ist, der andre der es mehr ist, und den dritten, der es noch viel mehr ist. Macht nun der letzte von seiner Willensthätigkeit zur Unterdrückung der Hemmung immer Gebrauch, der zweyte nicht so kommt dieser unter den Dritten herunter, und dieser hätte sich verweichlicht, womit wir nicht behaupten wollen; daß seine Kraft sich vermindert hat, sondern nur daß er in ein verschiedenes Verhältniß zum andren gekommen ist. Eben dieß kann geschehen zwischen dem Ersten und Zweyten. Bey diesem Factum und dieser Erklärung müssen wir einstweilen noch stehen bleiben.

[28. Stunde] Es kommen uns auch Empfindungszustände von innen her; sie sind freylich nicht normal, d. h. im gesunden Zustande existiren sie nicht 8 Abhärtung] Abhärung

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aber wenn er alterirt wird, gibt es Empfindungszustände die dieß aussagen. Sie sind wieder von doppelter Art, entweder beziehen sich mehr auf den allgemeinen Sinn, nur daß sie die innren Lebensbedingungen betreffen in der Gleichmäßigkeit aller Lebensfunctionen, oder sie sind speciell, letztre sind Schmerzen, kranke Schmerzen, jene allgemeines Unwohlseyn. Je mehr es natürlich ist, um so mehr geht ihnen ein allgemeines Abnehmen der Lebenskraft voraus: verfolgen wir dieß bis auf den Punct, wo diese Abnahme noch nicht Statt finde, so kann dieser Anfang auch mit einer | Empfindung verbunden seyn, aber gewöhnlich ist es dieß nicht sondern mehr Wahrnehmung in Vergleich mit frühern Zuständen, und die Wahrnehmung wird erst nachher Empfindung. Auch für den äußern Sinn sind Wärme und Kälte entgegengesetzte Zustände, und der schnelle Übergang gibt eine Empfindung der langsame nicht. Also ein Bewußtseyn entsteht dadurch nur unter der Form des Gegensatzes. Freylich ein Zustand des Schmerzes ist ein Empfindungszustand, der auf einen alterirten Lebenszustand zurückführt. Gibt es nun aber ein positives Gesundheitsgefühl? Man besinnt sich, ob man ja oder nein sagen soll, und die Antwort hängt von der Art dieser Besinnung ab. Vergleicht man, so sagt man ja; hat man nur die Einzelheit des Moments im Sinne, so sagt man nein. Wenn wir aber vergleichen, so rufen wir den Gegensatz hervor; also insofern ein Krankheitszustand plötzlich aufgehört hat, gibt es ein Gesundheitsgefühl. Also Empfindung ist nur unter der Form des Gegensatzes. – Ist eine Sinnesthätigkeit und ein Bewußtseyn da so kann letztres zurücktreten bis auf ein Minimum, und hervor bis auf ein Maximum und dieß Verallgemeinern gibt die Möglichkeit einer Concentration des Bewußtseyns auf einen bestimmten Gegenstand, und alles andre tritt noch mehr zurück, wie die Sinnesempfindungen selbst. Der Gegenstand dieser Concentration kann kleiner und größer seyn. Ebenso ist eine Ausdehnung der Wahrnehmung auf ein Maximum von Gegenständen, so daß im Bewußtseyn auch eine Masse von Erinnerung seyn kann. Dieser Gegensatz ist keineswegs bestimmt durch die Beschaffenheit des Wahrgenommenen, wie die Empfindung dadurch bestimmt ist, sondern ob eins oder das andre sey, hängt nur von der Richtung des agens ab. Also die Wahrnehmungszustände sind nicht durch den Gegensatz bestimmt, sondern nur durch den agens wird ein Gegensatz: Hingegen die Empfindungszustände beruhen ganz auf dem Gegensatz, ohne daß der agens dieß bestimmen kann. Wie steht es also mit dem Bleiben und Vergehen beyder? Die eine Seite der Empfindungszustände ist nur möglich, unter der Voraussetzung, daß die andre nicht sey, denn wenn wir Wärme und Kälte zugleich empfinden, so sind es nur partielle Empfindungen, und beruhen auf Krankheitszuständen, und also das Entstehen des Gegensatzes ist nur

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durch das Verschwinden des Gegensatzes möglich. Freylich gibt es auch Empfindungszustände, die neben einander seyn können, aber dann müssen es Empfindungen von ganz verschiedener Art seyn, und entgegengesetzte. Bey den Wahrnehmungszuständen gilt dieß nicht und wenn es hier ein Gesammtbild gibt im Weltbild, so ist etwas ähnliches bey den Empfindungszuständen nicht möglich. Können wir also kein solches Gesammtresultat angeben? Ja, aber es stellt sich ganz anders: Das Gesammtergebniß kann nur auf dem Ichsagen beruhen, und es ist kein Ganzes in demselbigen Moment, sondern in der Gesammtheit der Momente, und da ist es das Selbstbewußtseyn als Bewußtseyn der absoluten Veränderlichkeit des Ich. – Wenn die Empfindungszustände Willensthätigkeiten hervorbringen können, die den Einfluß der erstren auf die Wahrnehmung hemmen, so wird das Bewußtseyn des Ich als eines absolut Veränderlichen, eines Passiven erst activ, wenn die Empfindung auf einen bestimmten | Grad steigt, damit verbunden aber ist immer das Bewußtseyn der Möglichkeit, den Einfluß der Empfindung zu hemmen. So sind wir auf ein ganz entgegen gesetztes Ende gekommen; die Wahrnehmung fängt mit einer Selbstthätigkeit an, und hört in der Empfindung auf, die Empfindung fängt ohne Selbstthätigkeit an, und endet in derselben. Hier sind wir mit der Sinnesthätigkeit zu Ende. Nun können wir an die Wahrnehmung das Denken oder an die Empfindung die Willensthätigkeit anknüpfen. Freylich scheint bey letztrer die Selbstthätigkeit nur eine Reaction, allein obschon die Aufnahme in die Wahrnehmung eine Receptivität ist, so ist doch eine Selbstthätigkeit dabey; und ebenso ist die Wahrnehmung durch Empfindung keine bloße Reaction, sondern auch daraus kann ein Denken entstehen, wie aus der Wahrnehmung eine Empfindung und dadurch ein Wollen. Gehen wir noch einmahl auf die Wahrnehmung zurück, so ist jede solche schlechthin ein Einzelnes, das als solches sich allmählig bestimmt aus einer chaotischen Mannigfaltigkeit. Schließen wir den Gesichtssinn in sich ein, so sind, was wir sehen, nur verschiedene Lichtverhältnisse auf einer Ebene, und daß uns diese Ebene ein körperlicher Gegenstand wird, beruht auf andren Operationen. Also das Sehen ist eine Raumanschauung unter der Form der Ebene, und je mehr wir sehen, desto mannigfaltiger sind die Lichtverhältnisse; in einem leeren Raum sehen wir eigentlich nur die Grenzen. Diese Lichtverhältnisse sind nur verschieden, insofern sie sich begrenzen, und es gibt eine Mannigfaltigkeit von Umrissen. Haben wir dadurch schon Einzelheiten bestimmt? Nein. Sehen wir hernach Gegenstände als das Gesehene, so bleiben wir nicht beym Sehen allein, und wir theilen 4 den] der

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dann nicht rein nach der Differenz der Lichtverhältnisse. Woher entsteht dann die Vorstellung von Gegenständen? So wie innerhalb eines Gegenstandes noch Lichtdifferenzen sind, habe ich keinen Grund vom Auge aus dieß als Eins zusammen zu fassen, und dieß ist bey jedem Gegenstande der Fall. Hier muß also etwas ganz andres vorgehen, ehe wir zu Gegenständen kommen. –

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Wie steht es um den Gehörsinn? Was wir dadurch wahrnehmen, ist nur die schwingende Luft. Solche Bewegungen gehen immer von einzelnen Puncten aus. Denken wir uns den uns umgebenden Raum mannigfaltig in Schwingung gesetzt, zerstört nicht das Eine das Andre? ist hier ein so reines Zusammenseyn wie auf dem Felde des Gesichtssinns? Wenn die eine Schwingung von der einen Seite kommt und die andre von der andren, so werden sie sich aufheben, und ebenso können sie sich aufheben dadurch daß die stärkere die schwächere verschlingt. Kommen wir durch den Gehörsinn zu einer Wahrnehmung von tönenden Gegenständen, vom Ursprung der Schwingungen? Nein, dieß ist erst eine fremde Combination. Der Gehörsinn hat das Seinige gethan, wenn wir eine Mannigfaltigkeit von Tönen hören, und so hätten wir dann ebenso ein ausgefülltres Gehörfeld. Nicht einmahl bestimmt können wir dann einzelne Töne gegen einander abgrenzen. In der Nacht hört man vieles aus weiter Ferne, was bey Tage gar nicht ins Bewußtseyn kommt. Zum Theil erklärt man dieß aus einem veränderten atmosphärischen Verhältniß, doch ein andrer Grund ist der, daß bey Tage die Einzelnen Gehöreindrücke weit mehr einander bedrängen und aufheben. – Der Geruch und Geschmack bilden sich im thierischen Leben zuerst aus, weil die Erhaltung des Lebens vorzüglich auf ihnen beruht. Aber wir können nicht behaupten, daß im thierischen Leben das bestimmte Auseinandertreten | von Wahrnehmung und Empfindung statt finde, also Vorstellung von Gegenständen was das Characteristischmenschliche ist; im thierischen Leben also schließt sich hier der Cyclus früher. Wie diese Sinne im Menschen sich zuerst entwickeln, wissen wir nicht, nur daß später diese Sinne wieder zurück treten, indem die späteren Zustände und Tätigkeiten diese ersten verschlingen. Überhaupt die Stätigkeit des psychischen Lebens geht erst mit der Sprache an; somit haben wir nicht eher eine Sicherheit über das Vorstellen von Gegenständen als durch das Medium der Sprache. Dieß gibt sich zwar schon in der Gebehrdensprache des Kinds kund, doch erst wenn sie zusammentritt mit der Auffassung

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der Sprache. Wir können also nur Negatives und Allgemeines über diese vorbereitenden Thätigkeiten sagen; erst mit der Sprache aber tritt die Klarheit und das Positive ein. Was sich gleichmäßig über die Gegenstände erstreckt ist dieß, daß allerdings vor der Sprache schon solche wahrgenommen werden, aber dieß ist nur Einzelnes, und bezieht sich auf die Lebenserhaltung und das Gattungsbewußtseyn. Gehen wir auf unsre ursprüngliche Eintheilung zurück, so haben wir noch 2 nicht berührt, die Manifestation und die Werkbildung. Das erste ist eine von innen ausgehende Thätigkeit, die Andre unsresgleichen voraussetzt, denen wir uns manifestiren wollen. Nehmen wir das Ich in seiner Veränderlichkeit durch die verschiedenen Beziehungen der Empfindung, so geht dieß immer aus nur in eine Richtung auf die Wahrnehmung, aber ebenso geht es aus in eine solche Darstellung. Jeder als Moment sich bestimmende Zustand des Ich in seiner Veränderlichkeit, je mehr er sich heraus hebt, desto mehr geht er in eine solche Darstellung über. Dieß ist der erste Anfang des Heraustretens des innren Agens aus seiner Innerlichkeit. – Die allgemeine Erfahrung lehrt, daß alle innren Empfindungen sich irgend wie in Bewegungen äußern, wozu auch der Ton gehört. Hier steht die innre Empfindung als heraustretend irgend wie in der selbstbewußten Selbstbestimmung, aber eben so ist es auch ein Unwillkührliches. Z. B. das Stöhnen bey gewissen Schmerzempfindungen, das doch vor sich geht, wenn niemand da ist, und ebenso zu rechter Zeit, wenn jemand da ist; doch können wir uns dessen bis auf einen gewissen Grad enthalten. Hier ist also wieder Receptivität und Spontaneität beysammen. Das Unwillkürliche darin fassen wir als rein organischen Zusammenhang, und sehen es an als eine bloß organische Reaction, und als solche können wir uns dessen nicht enthalten. Nehmen wir es aber als psychisch als aus einer Empfindung hervorgehend, so ist es eine Äußerung. Wir können von beyden Beyspielen anführen: sagen wir, es gibt Selbstäußerungen, wo wir auf die Gegenwart Andrer keinen Bezug nehmen, doch so, daß wir sie nicht ganz als rein organischen Proceß ansehen können, wie ist dieß [zu] erklären? Entweder reduciren wir diesen Fall auf die Andren, und sagen, wir thun dieß aus Gewohnheit, weil wir es thun, wenn Menschen da sind; oder wir sagen: wir thun es für uns selbst. Aber was ist dieß? wir müssen die 2 Momente verknüpfen, das äußre einer Empfindung und das Aufnehmen dieser Äußerung. Der Schmerz ist der | überwiegend passive Zustand, in dem die Empfindung beruht; ist diese Äußerung activ, so füge ich also zur Passivität eine Activität hinzu; nehme ich meine Äußerung wahr, so 19 äußern] äußert 20 selbstbewußten] so Nachschrift Iffland, S. 74, Ms.: bewußtlosen 21 Z. B.] z. B.

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bekomme ich das Bewußtseyn von meiner Selbstthätigkeit und es ist dieß ein Nichtwollen im Zustande der Passivität [zu] seyn. Allein, könnte man sagen: ich könnte ja das Bewußtseyn haben ohne die eigentliche Ausführung; dieß ist richtig, und manifestirt sich auf höhrer Stufe; wenn ich sage: ich bin im Zustande des Schmerzes vor andren aber ich enthalte mich der Äußerung desselben. Dieses Sichenthalten können ist ein Überwiegen der Spontaneität über die Receptivität, ein größres Gelöstseyn vom Sinnlichen, organisch Bedingten. – Die Äußerung der Empfindung bloß für mich ist also gleichsam eine Rechenschaft an sich selbst von der Vollständigkeit des Bewußtseyns; diese ist das Fixiren des Moments für einen künftigen; denn es ist der Übergang in einen folgenden Moment, somit die Vollständigkeit des vergangenen Moments. Durch die Äußerung transmittire ich diesen Moment in den Folgenden. Im entwickelteren Zustande kann dieß auch bloß innerlich geschehen; auf dieser Stufe des Bedingtseyns des Psychischen durch das Organische aber ist dieß der natürliche Hergang: daß diese Äußerung Statt findet ohne Rüksicht auf die Gegenwart andrer. Geschieht dieß aber für mich bloß, so kann ich fragen: wie verhalten sich hier persönliches Bewußtseyn und Gattungsbewußtseyn? Diese Vervollständigung des Bewußtseyns ist das Intresse des Gattungsbewußtseyns, und es ist ein unvollständiges Verfahren, dieß nur als organische Reaction anzusehen, wobey wir beym Thierischen stehen bleiben. – Gehen nun diese Thätigkeiten nur auf Darstellung des Ich, so geht diese Selbstdarstellung durch die ganze Stätigkeit des Lebens hindurch und ist beständige Vermittlerin für die Vollständigkeit des Selbstbewußtseyns und das Übertragen an Andre. Auch hier setzen wir: die Selbstdarstellung wird erst vollständig, wenn sie durch die Sprache geleitet wird, durch sie erklärt, denn die Sprache ist die bestimmte Vermittlerin für die Übertragung an andre. –

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[30. Stunde] Nehmen wir die Selbstdarstellung an das, was außer uns ist, die bildende Thätigkeit, so fragt sich: wo fängt diese an? was ist das erste Resultat der nach außen gehenden Selbstthätigkeit des innren agens? Nichts andres als die Fortdauer des Lebens, denn dieses ist beständig an Acte der Selbstthätigkeit gebunden. Betrachten wir den Respirations- und Ernährungsproceß, so müssen wir sagen, in erstrem kommt uns nichts zur Wahrnehmung, wodurch Selbstthätigkeit entstanden wäre, wohl aber beym Ernährungsproceß das Erneuern und Vermehren der organischen Masse; das Resultat ist die Fortdauer und Ent-

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wicklung der äußren Person. Das Äußre des Menschen ist also das erste Resultat seiner Selbstthätigkeit. Freylich bey den ersten Lebensäußerungen kommen wir in ein Ineinander der Receptivität und Spontaneität in dem der Befriedigung immer das Bedürfniß voran geht, aber die Spontaneität tritt immer mehr hervor. Somit erscheint dieß überwiegend als Spontaneität, und so haben wir auch schon die ersten Anfänge der | Selbstäußerung und Werkbildung gefunden. Gehen wir zur werkbildenden Thätigkeit über, die alles einschließt, wodurch durch das Subject Änderungen in der Sinnenwelt hervorgebracht werden sollen, so sind dieß Bewegungen der Gließmaßen, wodurch das Kind Dinge ergreift, zunächst zur Ernährung, also ein rein organischer Proceß. Dieß an sich ist Analogie mit den Thieren, wenn es nur nach dem greift, was auf seine Existenz geht, nicht nach anderem. Doch diese Beschränkung dauert fast gar nicht, sondern das Kind greift auch sehr bald nach anderem, freylich mit einer gewissen Verwirrung, indem es auch dieß zum Munde führt. Aber schon solche Versuche macht das Thier nicht. Wodurch wird aber das Greifen des Kindes hervor gelockt? Wir haben beym Sehen gesagt, daß in den chaotischen Lichtdifferenzen Abschnitte sind, aber diese beschreiben nicht nothwendig die Gegenstände; denken wir uns aber in diesen Lichtdifferenzen eine Bewegung Eines Gegenstands während die andren ruhen, so ist dieß ein neuer Act des Sehens, und dieser Gegenstand scheidet sich als Einer von dem andern als durch die Einheit der Bewegung. Das ist nun auch das natürliche, daß das Kind nach dem greift, was sich bewegt, und durch das Bewegen desselben erregt man seine Aufmerksamkeit und sein Streben, es zu fassen. Dieß unterscheidet sich schon von dem Trieb der Selbsterhaltung, und ist schon ein Geöffnetseyn des Sinns mit völlig spontanem Character. Dieses Geöffnetseyn des Sinns ist einerseits die Reaction der Eindrücke, andrerseits aber auch eine selbstthätige Richtung. Dazu kommt nun noch die Richtung nach dem Gegenstande durch den Tastsinn, um sie dadurch wahrzunehmen, und um durch die eigne Bewegung die Bewegung jener zu hemmen; auch die Richtung nach dem Munde ist ein Streben, den Gegenstand auch durch den Geschmack kennen zu lernen. Auf diesen 3 Momenten, 1) auf dem primitivischen Gesichtseindruck 2) auf dem Unterscheiden des in der Einheit der Bewegung Begriffenen und 3) auf dem Fixiren durch den Tastsinn beruht das Fixiren und Wahrnehmen der Bilder. Dadurch ist schon viel gesagt über die sogenannten angebornen Ideen. Wenn wir nähmlich sagen, schon jetzt haben wir Thatsachen in der Wahrneh8 wir] wir über 18 Kindes] so Nachschrift Iffland, S. 77, Ms.: Thiers netseyn] Geöffnetseyns

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mung, die das Animalische völlig durchbrechen, lange ehe die Sprache da ist; eine Richtung, die unbestimmte Vielheit zu sondern in Bestimmtes! Nehmen wir dieß als spontane Thätigkeit, so ist es eine Richtung auf das Bewußtseyn, das ein Vorauswissen von dem noch nicht da seyenden Bewußtseyn voraussetzt. Wenn die Selbstdarstellung zur Vollendung kommt durch die Wahrnehmung der Darstellung andrer, so beruht dieß auf dem Gattungs- und Selbstbewußtseyn; so bald sich das Kind in einem solchen Gesprächszustand befindet, und dabey befriedigt ist, so ist darin ein Erkennen eines Menschlichen, aber eben so wenn es das was sich durch Bewegung als Eins ihm darstellt, als Einheit zu erfassen sucht, so liegt darin auch das Bewußtseyn von einer Getheiltheit des Seyns außer uns: Das Eine ist die Richtung auf das Menschseyn, das andre die Richtung auf das Seyn überhaupt, unter Voraussetzung seiner Getheiltheit in Bestimmtheiten. Denken wir uns das Kind in einer solchen vermittelten Verbindung mit andren und eine solche Befriedigung, und wir fragen: erkennt es in ihnen die einzelnen Personen, oder nur das allgemein Menschliche? so ist letztres gewiß das Ursprüngliche, erstres das Secundäre. Ebenso so wie eine Masse sich bewegt, so entsteht ein Bild, und so wie sich die ergreifende Thätigkeit darauf richtet, so erlangt dieses Bewußtseyn eine größre Bestimmtheit. Denken wir uns das Kind in einem solchen Bewußtseyn successiv mit mehreren | Analogen [Gegenständen], so finden wir schon ein Trennen und Zusammenfassen des Analogen ohne bestimmte Unterscheidung der einzelnen Gegenstände. Kommt später derselbe Gegenstand wieder vor auch ohne Bewegung, so wird er auf das Analoge wieder bezogen, und es ist hier eine Genesis von allgemeinen Bildern, wobey allerdings auch häufige Aberrationen vorkommen, die sich erst allmählig berichtigen. Hat sich aus dem allgemeinen Gesichtseindruck ein vierfüßiges Thier in Bewegung gesetzt, so ist das Bild unbestimmt das der Gattung; das der Art, das einzelne bestimmte Thier; aber nachher werden alle analogen Gesichtseindrüke darauf bezogen; immer kommen mehr Differenzen in die Gegenstände hinein, und die Unterschiede stellen sich bestimmter fest, das Bewußtseyn füllt sich mit einer Mannigfaltigkeit von verschiebbaren Bildern, von denen jedes eine große Reihe von Bildern unter sich subsumirt. Nehmen wir aber mehr das Innre, so liegt in der Auffassung des Menschlichen das Bewußtseyn des Lebens; ähnlich dem Selbstbewußtseyn, und dieses bringen die Kinder oft auch bey den Thieren in Anwendung, indem sie mit ihnen sprechen wollen. So wie dieß in einem Fall gesetzt ist, im andren negirt, so geht dieß über die Unterscheidung der äußren Bilder hinaus, und bezieht sich auf eine 8 sich] sie

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Analogie des Selbstbewußtseyns; und dieß ist eine Vorbereitung auf die Lösung des Innren von dem Organischen, die durch die Sprache zu Stande kommt.

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Fassen wir den Gegensatz von Gattungsbewußtseyn und Bewußtseyn von andrem, so ist es der von Mensch und Ding; dieß ist uns ein fester Punct. Wollen wir sagen, dieser Gegensatz müsse auch wieder auf einer höheren Zusammenfassung beruhen, so ist dieß ein Punct, der, ohne [dass] die Sprache gegeben ist, nicht kann fixirt werden und wir bleiben bey diesem Gegensatz. Wenn wir aber die verschiedenen Thätigkeiten auf diesen Gegensatz beziehen, so kommen wir darauf, unsre bisherige Entwicklung zu vergleichen mit den gewöhnlichen Ausdrücken. Betrachten wir es in seiner Richtung von dem Bewußtseyn zum Bilde und weiter zur Vorstellung und zum Begriff, so nennt man dieß alles gewöhnlich Erkenntnißvermögen; dieselben Vermögen in der Beziehung, wie sie von der Selbstthätigkeit des Individuums ausgehen, so bekommen wir das gewöhnliche Begehrungsvermögen. Dieß ist aber nicht ein vom Vorigen Verschiednes, sondern beydes ist immer mit einander; worin endigt das Aufsuchen des Menschlichen in der Gesammtheit der Sinneseindrücke, so ist es eben das Erkennen, und der in dem Sichwiedererkennen liegenden Befriedigung; das nennt man aber eben im gewöhnlichen Leben Begehrungsvermögen. Der Ausdruck Vermögen ist uns noch gar nicht vorgekommen, und hängt mit der Scheidung von Erkennen und Begehren zusammen. Dieß beruht auf sehr alten Fehden. Vermögen soll eine Möglichkeit ausdrüken, und so sind beyde Ausdrücke nur Verschiedene Möglichkeiten, die im Subject liegen. Bey einer gewissen Betrachtungsweise kann man allerdings beydes sondern, wenn wir einzelne Momente herausreißen, aber das ist eine Art, das Subject zu fixiren, die uns nicht vorgekommen ist. Wenn man ein Individuum ergreift in einem Zustande des Begehrens, so ergreift man es, ehe man etwas an ihm betrachten kann, ergreift man es im Erkennen, so betrachtet [man] immer es zu spät, im letzten Fall betrachtet man nur ein Residuum von einem Moment, im erstren Fall nur die Anstalten zu einer Thätigkeit. Ergreift man ein Subject im Erkennen, so ergreift man nur das Residuum eines Moments; das aus einer bestimmten Sinnesthätigkeit entstandene Bewußtseyn nach außen geworfene Bild muß als etwas Beharrliches im Individuum gesetzt werden, nur quantitativ unter das Bewußtseyn | 35 entstandene] entstandenes

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im Ganzen getheilt. Das objective Bewußtseyn also in jenem Falle ein Gewordenes, und rein abstrahirt vom Werden desselben. – Das Ergreifen des Subjects im Begehren ist nur eine Anstalt zu einer Thätigkeit. Wir sind ausgegangen von der Thätigkeit des Subjects in receptiver und spontaner Beziehung, und haben den Gegensatz von Psychischem und Organischem in dieser Zwiefältigkeit gesetzt. Denken wir uns das Einzelwesen im Ergriffenhaben eines einzelnen Menschen, im Erkennen, so ist dieß vermittelt durch das Organische, sonst wäre jedes Subject gegen das andre absolut verschlossen. So bald wir aber anticipiren können, die Thätigkeiten des Psychischen sind in beydem wesentlich gleich, so können wir in diesem Verkehr vom Organischen abstrahiren, und es unmittelbar betrachten. So stehen zwey psychische Subjecte eben so in diesem zwiefachen Zustande der Receptivität und Spontaneität. Diese Duplicität also hat einen weitren Umfang als wir Anfänglich sagten, nähmlich im Psychischen sowohl als im Organischen. Allein was ist denn im Begehren gesetzt, gesondert vom Erkennen? Es liegt schon etwas Specielleres darin, das Ende muß immer ein Haben seyn. Es soll also im Ausdruck Begehrungsvermögen eine Möglichkeit im Subject liegen zu Thätigkeiten die auf ein Haben ausgehen, dieses Haben ist aber eine Beziehung von etwas andrem zum Subject. – Sagen wir: das Subject übt eine Selbstthätigkeit um Nahrungsstoff zu suchen, zu nehmen mit vollem Bewußtseyn, so ist dieß die allereigenthümlichste Beziehung auf das Haben: der Gegenstand des Begehrens geht ins Ich über. Es gibt nun ein Stiften von solchen Beziehungen, die nicht mehr so weit gehen; z. B. das Suchen des Schutzes gegen die Witterung, hier legt das Subject nur etwas zwischen den äußren Gegenstande und sich selbst, und darin ist das Begehren zu Ende. Wie können wir dieß weiter erstrecken? Das Kind greift nach einem Gegenstande, wenn es sich als Einheit aus der chaotischen Masse heraus hebt durch Lichtgrenzen aus der Bewegung, und denken wir, daß das Kind den Gegenstand ergriffen hat, und so ist das Begehren zu Ende, es hat den Gegenstand. Kann man aber hier Begehren und Erkennen trennen? Dieß müssen wir doch gewiß hier verneinen, wo weiter keine Beziehung des Gegenstands auf das Subject und Vereinigung mit demselben vorhanden ist; das Ergreifen ist vielmehr nur eine andre Art des Erkennens. Also das Begehren ist ein Act, der in das Erkennen gehört. Also indem man beym Begehren nur ausgeht von einer bestimmten Richtung der Thätigkeit so kann man eigentlich auch nicht urtheilen, bis der Act vollendet ist, was das Motiv gewesen sey. Sehe ich ein Kind ergreifen, so ist es möglich, daß es den Gegenstand zum Munde führen will, es kann aber auch seyn, daß es ihn nur betrachten will, das eine ist Erkennen, das andre Selbsterhaltungstrieb.

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Gehen wir nun aus von der Richtung auf das Menschliche und das Sächliche, so könnte man sagen, dieser Unterschied sey auch nicht festzuhalten, denn der Mensch in seiner äußren Erscheinung sey ja ein Sächliches. Allein dieses Nichtunterschiedenseyn ist nur in den dunkelsten Momenten; sobald Bewußtseyn da ist, ist diese Unterscheidung bestimmt da. – Abstrahiren wir nun von allen Vermögen, und reden nur von Thätigkeiten, so frägt sich: was ist der Unterschied zwischen den Beziehungen der menschlichen Thätigkeit auf das Menschliche, und auf das Sächliche? Im ersten ist die Identität | des Selbstbewußtseyns mit dem Gattungsbewußtseyn; letzteres: das eigentlich wirksame. In der Beziehung auf das Sächliche kommt der Gegensatz erst vor, wenn die Dinge Wahrnehmung oder Empfindung werden; so wie wir etwas als Wahrnehmung setzen, setzen wir sie als ein allgemein Menschliches, da ist die Identität zwischen dem Gattungsbewußtseyn und einzelnen Bewußtseyn, nur daß das persönliche Bewußtseyn alterirt seyn kann und oft nicht das ganze Gattungsbewußtseyn einschließt. Wird aber die Beziehung des Außeruns zu uns eine Empfindung, denn darin ist das persönliche Selbstbewußtseyn, das nicht nothwendig in allen dasselbe seyn muß; und die Art wie wir dieses subjective Bewußtseyn und jenes objective äußern, hat eine ganz verschiedene Wirkung; im ersten Fall soll der andre mich nur in meinem momentanen Zustand fassen, im letztren lege ich mein Bewußtseyn nur ins allgemein menschliche Bewußtseyn nieder. Duplicität ist also im Menschlichen ursprünglich, im Objectiven oder Sächlichen nur mittelbar. Die Beziehungen des Subjects auf das Menschliche und die auf das Sächliche müssen wir also bestimmt sondern.

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Daß wir den Ausdruck Vermögen nicht wollen, hat 2 Gründe 1) weil es nur eine Möglichkeit bezeichnet, ohne zu sagen, wodurch es auch wirklich werde, und so entsteht keine Vollständigkeit der Bewegung. Daher so viel Problematisches in diesen Richtungen. 2) Erkenntnißvermögen und Begehrungsvermögen, die die ganze Seele gänzlich erschöpfen sollen, schließen einander gar nicht aus, und sind doch nicht vollständig. Wir sind davon ausgegangen, daß bey der Theilung von Receptivität und Spontaneität nie eins ganz Null sey, die objective Beziehung aber würde gerade dagegen sprechen. Auch ergreift der Ausdruck Begehrungsvermögen das Subject zu früh, Erkenntnißvermögen zu spät. – 9 Sächliche?] Sächliche

11 Sächliche] Sächliche ist

32 aus] auch

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So wie sich die Sinnesthätigkeit im Chaotischen entwickelt, so entsteht eine Sonderung zwischen dem Menschlichen und Sächlichen. Dieser Gegensatz ist unvollständig; denn im Sächlichen ist nichts gesetzt, sondern nur etwas geläugnet, also nur ein Herausheben eines Theils des höhern Ganzen in einer bestimmten Beziehung und außer dieser Beziehung ist der Gegensatz nichts. In der Richtung auf das Menschliche und Sächliche ist immer ein Identisches, aber im Menschlichen noch etwas andres daneben, und dieß eben wird herausgehoben. Die Richtung, das Seyn aufzunehmen, die Richtung auf das Erkennen ist ein beyden Gemeinsames, und die besondre Beziehung desselben auf das Menschliche ist nur ein bestimmtes Verhältniß der Heraushebung; außer dem Verstehenwollen ist noch die Richtung des Liebenwollens, i. e. das theilweise mit sich Identificiren und von sich Unterscheiden. Der Begriff des Seyns ist ein Identisches zwischen uns und allem andren; aber der Unterschied ist ein specifischer zwischen diesem und jenem; die Identification des Menschlichen ist eine ganz andre als die mit dem Seyn als solchem. Erstre hat ihren bestimmten Ort im Bewußtseyn als Selbstbewußtseyn und Gattungsbewußtseyn; die zweyte Identification aber ist eine viel fernere. Das Sächliche, woraus wir das Menschliche herausgehoben haben, hat nie die jenige Gegenseitigkeit der Richtung; die eben in Liebe liegt. Also die Richtung auf das Verstehen verbreitet sich über Menschliches und Sächliches gleichmäßig, ohne Unterschied; aber die Richtung auf die Gegenseitigkeit der Beziehung, Liebe, ist dem Menschlichen eigen. Wie weit haben wir das Verstehenwollen gebracht? Wir haben mit der Sinnesthätigkeit angefangen, doch mit Selbstthätigkeit verbunden, Öffnen der Sinne. Zuerst haben wir das Chaotische als Peripherie | der Sinnesthätigkeit betrachtet, dann jenes gesondert und die Bilder betrachtet; jene Bilder als Bewußtseyn waren uns etwas Schwankendes, nur Momentanes; nicht auf Beharrlichkeit bezogen, mit Bewegung und Stufe; aber eben wenn wir diesen Wechsel näher betrachten, so zeigen [sich] jene Bilder doch in denselben als ein Beharrliches. Eben so schwanken jene Bilder zwischen Selbstbewußtseyn und Gattungsbewußtseyn. Diese verschiebbaren Bilder in ihrer Unbestimmtheit, sind nun alles, was wir bis jetzt gesehen haben. Erst mit der Sprache ist die Fixirung der Bilder möglich. Wir gehen also zur Sprache über, doch schicken wir noch eine Entwicklung voraus. Wir haben nun bisher immer ein Selbstbewußtseyn und Gattungsbewußtseyn anfangend von der Geburt angenommen. Aber hat alles menschliche Leben seinen Anfang genommen mit 21 die eben] der eben

35 gesehen] Gesehen

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der Geburt? Kann die SeelenLehre für beyde dasselbe seyn? Ja, so bald Selbstbewußtseyn und Gattungsbewußtseyn bey ihnen zusammen waren. Über das Gewordenseyn der ersten Menschen existirt uns nichts und somit können wir an ihr Werden nichts anknüpfen; also müssen wir sie nehmen als Gewordene. Nehmen wir aber irgend einen Anfang des Seyns als Bewußtseyn in ihnen, so wird alles Bewußtseyn durch die Sinnesthätigkeit dasselbe seyn; nehmen wir aber das Bewußtseyn weg, so war es ein Chaotisches um sie her, das sich allmählich löste wie wir gezeigt haben. Also haben wir keine Differenz. Ebenso die Unterscheidung des Selbstbewußtseyns und Gattungsbewußtseyns war gegeben, sobald 2 waren, und diese mußten doch seyn zur Fortpflanzung der Gattung. Also ist es unnütz, auf die ersten Menschen Rücksicht zu nehmen, es ist gar keine Differenz. Nun aber die Entwicklung der Sprache. Bey uns entwickelt sie sich bey den Kindern durch die Erwachsenen; bey den ersten Menschen konnte dieß nicht so seyn; sind sie aber ganz anders als wir zur Sprache gekommen, so ist die Sprache für sie etwas ganz andres, und sie sind von uns verschieden gerade da, wo das characteristisch Menschliche angeht. Müssen wir dieß zugestehen, so geht uns der Begriff der menschlichen Gattung verloren, und mit ihr unsre Grundvorstellung, daß das Gattungsbewußtseyn wesentlich und ursprünglich sey. Also müssen wir sagen: wir fassen die Entwicklung des Bewußtseyns durch die Sprache unrichtig, wenn der erste Mensch nicht auch darunter gehört. Nehmen wir die Entwicklung des Bewußtseyns vor der Sprache durch die Sinnesthätigkeiten und dann das durch die Sprache, so fehlt uns ein Übergang zwischen beyden, wir müssen einen Anknüpfungspunct finden für die Sprache. In der Differenz der Auffassung der Dinge an sich und Bezeichnung durch das Wort finden wir ihn nicht. Bey der Sprache ist das Organische das Zusammenwirken gewisser Werkzeuge, durch die der Ton ein articulirter wird. So bildet sich uns neben der Gebehrde auch der Ton, die ähnlich sind, und an die wir anknüpfen das Bewußtseyn von dem, was in uns und von dem was außer uns ist.

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Viele philosophische und theologische Forscher haben die Sprache bey den ersten Menschen vom Verkehr mit übermenschlichen Wesen her1 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 84: „kann die Seelenlehre denn eine andre seyn für die nicht gebornen und für die gebornen?

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geleitet, dieses letztre nun ist nicht mehr, also wäre ein Element im ursprünglichen menschlichen Seyn untergegangen.| In welchem Verhältniß steht das Denken mit der Sprache zu der Entwicklung der Sinnesthätigkeit[?] Bleiben wir stehen bey der allgemeinen Vorstellung des Tons, so haben wir schon entwickelt, daß die darstellenden Thätigkeiten dasselbe organische Element haben, und noch ein andres, die willkührlichen Bewegungen, Gebehrden. Diese letztren ersetzen unter gewissen Verhältnissen die Sprache, theils kommen sie wieder zu Hülfe z. B. 2 Menschen von unbekannten Sprachen reden die sogenannte Gebehrdensprache, ein Denken unter der Form der Gebehrden; diese sind dann zu unterscheiden von denen, die nur einen innren Zustand sollen anzeigen. Nun wie verhält sich die Sprache als Ton zu dem Ton, der bloß darstellend ist? Wir kennen allerley Bezeichnungen von Empfindungszuständen durch den Ton, denen aber meist das Articulirte fehlt, und dieß ist der specifische Unterschied. Was bloße Ausrufe, Seufzen ist, hat nichts Articulirtes, und wenn statt ihrer articulirte zum Vorschein kommen, so hat dieß etwas Ungehöriges an sich; wir sondern beydes bestimmt. Was ist dieses Specifische des Unterschieds? Das bestimmte Auseinandertreten, Gegensatz zwischen Selbstlautern und Mitlautern, wodurch die Sylbe erst möglich wird und das ganze Sprachsystem. Hier haben wir eine Anknüpfung, ein Äußerlichwerden eines Bewußtseynszustandes durch den Ton; ein Äußerlichwerden des Denkens durch den Ton aber ist die Sprache. Es ist also eine Art von Anknüpfung, und es ist eine Art coordinirtes Glied zu jenem. Es sind die sogenannten Sprechwerkzeuge dem Menschen eigenthümlich, so daß es den Thieren ganz fremd ist, und selbst durch Dressur nie characteristisch menschlich zum Vorschein kommt. Es stellt sich dar ein Zusammenhang in den Thieren des Mangels des Auseinandertretens des subjectiven und objectiven Bewußtseyns mit dem Mangel des Auseinandertretens des articulirten und unarticulirten Tons. Schon dem Kinde gehen Töne dem Sprechen lange voraus, freylich das Lächeln ist anfangs sprachlos, das Weinen ist der erste darstellende Ton; dann aber entwickelt sich das laute Lachen und ein ganzes System von Tönen, ehe die Sylben und der Gegensatz von Selbstlauter und Mitlauter hervor tritt. Wir haben gesagt, die darstellenden Thätigkeiten ruhen auf dem dem Selbstbewußtseyn mitgegebenen Gattungsbewußtseyn wenn andres Menschliches zur Anschauung kommt, so daß es eine Gegenseitigkeit der Mittheilung ist; in diesem Cyclus ist die ursprüngliche Befriedigung des menschlichen Bewußtseyns. Wenn dieß auch vorkommt ohne andres Bewußtseyn, so sey es, sagten wir, doch auch ausgegangen von beyden constitutiven Elementen, und nur ein Fassen des Ver-

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gänglichen über die Vergänglichkeit hinaus. Ist auch das Denken, wie es in der Sprache hervortritt, unterschieden von der Sinnesthätigkeit, auf die Mittheilung berechnet, und auf anderem Menschlichen beruhend? Leicht können wir uns vorstellen, das Denken stehe mit der Mittheilung gar nicht in Verbindung, und es sey nur die vollständige Entwicklung des einzelnen Menschen. Auf der andren Seite können wir auch sagen, ein Mensch sey nicht entwickelt, bis er sich mittheilen kann, so viel er auch vorher gedacht haben mag. Beydes ist richtig. Sagen wir aber, der Unterschied sey nur eine Mittheilung an andre und an sich selbst; welches ist das Ursprüngliche? ehe sich dieß so spaltet, ist immer schon die Mittheilung an andre voran gegangen, und dieß ist also das Ursprüngliche. Wir sprechen denkend für andre und denken sprechend ebenso für uns allein; ist hier auch das erstre das Ursprüngliche oder umgekehrt? Die Analogie zwischen beyden Theilen ist stärker, wenn wir es gleich beantworten wie das Vorige. Allein dieß stellt sich nicht so leicht und von selbst so dar. | Das Sprechen kommt beym Denken für sich nicht klar zum Vorschein; mit andren aber muß es [zur] vollen Ausbildung kommen. Dieß führt uns zurück auf die relative Trennung von Denken und Sprechen; ganz können wir es nicht trennen weil es immer beysammen ist, und bey bloßen Bildern ist noch kein Denken da, weil die Sprache fehlt. Wird gesprochen auf eine Art, daß kein Denken dabey ist, so hört es uns auf, ein Sprechen zu seyn. Könnten wir uns bey dieser Unterscheidung bewußt werden, welches das andre hervor rufe, so könnten wir auch unterscheiden, welches das Ursprüngliche sey; aber dieß können wir nicht. Also müssen wir wieder fragen: wie sich das Denken mit dem Sprechen als Mittheilung verhält zu der Mittheilung durch die darstellenden Thätigkeiten? Hier kommen wir wieder auf das Selbstbewußtseyn und Bewußtseyn um anderes, was auch nie ganz zu trennen ist. Betrachten wir das bildliche Vorstellen in seiner Beziehung zum Selbstbewußtseyn? Dieß können wir immer beachten wenn wir genau aufmerken. Wenn sich das Chaotische sondert in eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen, und [wir] eine selbstthätige Richtung dazunehmen, so ist diese nie gleich für alle Theile, und dieß constituirt einen Unterschied im Selbstbewußtseyn; das Eine zieht mich an, das andre läßt mich gleichgültig. In dieser Differenz ist ein bestimmtes, den Momentanen Zustand aussagendes Selbstbewußtseyn. Wie kann dieß Gegenstand der Mittheilung werden? wenn das Unterscheiden des Gegenstands, auf das ich mich concentrirt habe, hervor tritt, d. h. also mein Intresse an einem Gegenstande. Bey den Kindern schon finden wir dieß. Wenn das Kind auf einen Gegenstand zeigt, will es sein 7 entwickelt] entwickeln

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Intresse daran darstellen durch die Gebehrde; aber wenn wir uns in einer darstellenden Thätigkeit Bewegung und Ton sich ergänzen sehen, so kommt hier der Ton der Bewegung zu Hülfe, aber der Ton wird nicht das Sprachzeichen für den Gegenstand seyn, sondern es spricht nur das Intresse dar in unarticulirter Weise. So wie nun eine Sicherheit in diese Mittheilung kommen soll, wiewohl als bloße Darstellung, so ist es erst, wenn der Ton den Gegenstand bezeichnet, und hier haben wir schon den Anfang der Sprache. Denn dieser Ton bezieht sich auch immer auf andre Anwesende, Verkehr mit ihnen.

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Gehen wir so bey allem in der Sprache auf das Gemeinsammenschliche aus, auf die Mittheilung, so führt uns dieß eben auf die Sprache als ausgehend von der Anerkennung und Liebe zu den Menschen. Beym Zusammenseyn zweyer Generationen muß dieß eben so seyn wie bey der Sprachausbildung der ersten Menschen. Wir können den ersten Menschen auch nur denken in der Dupilcität des Geschlechts, und so ist hier auch die Anerkennung des Menschlichen, und das Mittheilen der eignen Zustände und das Mittheilen der Eindrücke der Gegenstände. Es wäre auch etwas ganz Unrichtiges anzunehmen, daß bey 2 Generationen die Sprachbildung des jüngern Geschlechts nur Nachahmung sey; vielmehr bilden die Kinder ihre eignen bezeichnenden Töne, ordnen sie aber später der gewöhnlichen Sprache unter, also ist es nicht bloße Nachahmung; Receptivität, auch hier ist es Spontaneität, nur durch die Liebe der Gemeinschaft ordnet sich das Besondre dem Allgemeinen unter. Das Sichbewußtwerden der Sprechwerkzeuge und das Bewußtseyn des objectiven Moments der Zustände ist Eins und dasselbe. Einseitig haben wir bisher nur ausgesprochen von der sich sondernden Mannigfaltigkeit von Bildern, die Gegenstände werden; diese Sonderung entstehe am meisten aus der Bewegung; aber eben von diesem Moment des Sichbewegens hatten wir ganz abstrahirt. So also bekämen wir eine Sprache | nur aus Substantiven. Der Ausdruck durch die Sprache ist aber in dem Satz. Vom verbum haben wir noch nichts gesagt. Es ist hier immer derselbe Process, daß die Entwicklung des Bewußtseyns das Heraustreten der Gegensätze ist, indifferent neben einander, Selbstbewußtseyn und Bewußtseyn von Etwas. Wenn nun durch die Bewegung die Gegenstände am bestimmtesten sich sondern, so haben wir wieder ein chaotisches Zusammenseyn von 2en, es 20 die Kinder] die Kinder ihre Kinder

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sondert sich der Gegenstand aus der Masse und 2) es wird besonders betrachtet das Sichbewegen, das Veränderliche der Lage der Dinge, einer Thätigkeit. Also muß mit dem Bewußtseyn der Gegenstände auch das der Thätigkeiten, Bewegungen entstehen, und dann ist auch der Satz da im organisch gebildeten Bewußtseyn. Nur in der Combination von beyden ist erst der eigentliche Act der Sprache oder des Denkens. Gehen wir zurück auf die Mannigfaltigkeit der Bilder, so kann dieser Act der Sonderung nicht bezeichnet werden durch die Gebehrde, sondern erst durch den Ton, durch die Sprache, und dieß ist gleich im ersten Menschen und im Gebornen. Also die Entwicklung des Bewußtseyns bis dahin und die Combination seiner Glieder ist gebunden an die Bezeichnung durch die Sprache, und reine Gebehrdensprache verbindet sich hier immer mit der Tonsprache, doch so daß letztere herrschend wird, erstre zurück tritt. Es ist nothwendig daß wir uns bewußt werden, daß beydes dasselbe und daß das Denken sich auch leicht ließe an die Zeichensprache binden. Durch die Veränderungen in der chaotischen Masse der Gegenstände wird das Bewußtseyn sich des Systems der Sprechwerkzeuge bemächtigen; bey unsrer Genesis der psychischen Entwicklung kommt dieses Bewußtseyn zuerst durch das Ohr den Kindern zu, durch das Sprechenhören. Es ist jetzt ausgemacht, daß es keine Stummgebornen gibt, sondern nur Taubgeborne, also nur der Mangel des Gehörs veranlaßt den Mangel der Sprache. Wie entwickelt sich aber das Denken in der Form des Satzes, wo das Gehör fehlt? In der Zeichensprache, durch die die Taubstummen sich einander verständlich machen. Daraus könnte man schließen, daß dadurch zugestanden sey, daß der Gebrauch der Sprechwerkzeuge nur Nachahmung sey. Allein so ist es nicht sc. gerade bey dem Denken, wie es mit dem Sprechenwollen anfängt, geht dem Sprechen das innre Hören voran, auf das bloß äußere Hören dürfen wir nicht zurück gehen. Das äußre und innre Hören hängen zusammen und der Mangel des innren Hörens hemmt den Gebrauch der Sprechwerkzeuge. Wenn man sieht, wie dieß jetzt ersetzt wird bey den Taubstummen, so ist gewiß, daß wenn man den Mangel des innren Hörens schneller bemerkt, so wäre die Sache weit leichter, indem man da schon das Gesicht und den Tastsinn an die Stelle des Gehörs setzt; freylich geht die Sache langsamer, aber es geht doch durch das Sehen der Sprechwerkzeuge. Wir könnten nicht begreifen, wie sich die Sprache oder das Denken von den Taubstummen 18 Sprechwerkzeuge] Sprechwerkzeuge sich 36–37 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 89: „und so bilden sie sie nach, indem sie die Tonsprache sehen und tasten lernen, was auch ein inneres werden muß.“

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bilden könnte, wenn dieses an die Tonsprache allein gebunden wäre. Sie bilden sich immer eine Zeichensprache, auch die die schwer sprechen lernen; letztre aber lassen diese Zeichensprache später fallen. Bey den Taubstummen ist dieß anders; wenn sie zur Reproduction der Tonsprache gekommen sind, so brauchen sie doch die Zeichensprache unter sich, aber dieß widerspricht der Behauptung nicht, daß sonst die Tonsprache über die Zeichensprache siege, denn hier sind die Leute schon an die Zeichensprache gewohnt. Dieß sind die beyden Auswege der menschlichen Natur; die organische Ausbildung der Hand und des Gesichts ist die Organisation für die Zeichensprache, die Sprechwerkzeuge für die Tonsprache. Also erstre weicht letztrer nach und nach, und wird bloße Begleitung und Darstellung des subjectiven Bewußtseyns. | Also je mehr das Denken in einem Subject ohne Affection ist, desto mehr fehlt die Gebehrde da, so wie aber das subjective Bewußtseyn am objectiven Theil nimmt, tritt die Gebehrdensprache hinzu, und so unterscheiden wir die verschiedenen Völker darin in ihrer verschiedenen Erregbarkeit des subjectiven Bewußtseyns. – Ist das Denken nur möglich in der Sprache, sey sie Gebehrde oder Tonsprache, so ist dieß ein neuer Entwicklungsknoten, und diese Function erstreckt sich auf alle bisherigen psychischen Thätigkeiten. Denken wir das Bewußtseyn des Ich in seiner Besonderheit und als Gattungsbewußtseyn und den Verkehr des Menschen mit andren und mit sich selbst, so ist diese Reflexion, in der das Einzelwesen sich selbst zum Gegenstand wird, sc. das Ich in seiner Veränderlichkeit wird Gegenstand des Ich als Gattungsbewußtseyn, so kann dieß als Function auch erst hervor treten durch die Sprache. Wenn die Kinder sich der Sprache bemächtigen, sprechen sie lange Zeit hindurch von sich in der dritten Person; dann sprechen sie eigentlich für andre, in deren Stelle sie sich setzen; dieß können sie nur thun vermöge des Ich als Identischem, also mit Überwiegen des Gattungsbewußtseyns das wesentlich in allem Sprechen und Denken ist. In diesem Zurücktreten der Subjectivität im Ergreifen der Sprache ist dieses Gattungsbewußtseyn aufs stärkste ausgedrückt, und erst später kommt die Subjectivität mit dem Ich in die Sprache hinein, in der es etwas ganz Secundäres ist. –

[35. Stunde] Das Denken in der Form der Sprache ist eine neue Potenz der Entwicklung. Vergegenwärtigen wir uns, was uns immer nur durch die

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Sprache wird, alles Wissen um die Natur, das Philosophische, das über die sinnlichen Bilder hinausgeht, ebenso das Auffassen der innren Wahrnehmungen durch das Ichsagen, so ist da eine weitre Fortentwiklung, die sich zu den festgewordnen Bildern auch im größren Maßstab verhält, als diese zu den chaotischen Massen. Es ist das Auffassen des Chaotischen die erste Äußerung der psychischen Thätigkeit, wie sie aus dem Organischen heraustritt. Haben wir anticipirt, daß das Sondern der Bilder ein zweyter Act sey, und das Entstehen des Weltbilds ein drittes, so ist auch dieses nur durch die Sprache möglich; sonst ist es nur ein Haben des Wahrnehmenden in seiner Äußerlichkeit. Das Denken in der Sprache besteht in einer Verwandlung des Äußren ins Innre und das Weltbild wird Weltbegriff, wo alles, was wir uns als Umsetzen des Bildes in den Satz [denken,] immer ein Umwandeln des Äußren ins Innre ist. Denken wir uns einen einfachen Satz als Hauptwort und Zeitwort und als Gegenstand davon ein Bild, so ist in diesem Satze nur eine Aussage über einen solchen Zustand, in dem sich ein so Gesetztes befindet; immer aus der Möglichkeit des Wechsels in bestimmte Momente bestimmt. Dieß ist nur ein Äußerliches; aber bleibt dieser Gegenstand Gegenstand einer Reihe von Aussagen, so liegt darin schon die Richtung einer Verwandlung des Äußren ins Innre; denn was ist das Ziel davon? das Auseinandertreten der chaotischen Einheit in die Mannigfaltigkeit von Bildern, und diese Sätze nun streben nach einer innern Einheit zurück, daß, was wir als Wesentliches bekommen, vom Zufälligen sich scheidet. Dieß ist nichts andres als das Setzen einer Reihe von Zuständen, die zusammengenommen und ohne Zeitfolge, in ihrer Verbindung das Beharrliche des Gegenstands aussagen und das Wesentliche zusammenfassen. So wie wir uns das Weltbild dachten, als gesammte Mannigfaltigkeit der Bilder in einer Einheit, so ist dieß immer doch nur eine äußre Einheit, und der Weltbegriff hat bey jedem Einzelnen alles auszusondern, was ihm nur zukommt in seinem Zusammenseyn mit andren Dingen. – Wenn wir diesen Proceß weiter entwickeln wollten und sagen, darin liege die Fortschreitung zum Wissen, so kommen wir aus unsrer Entwicklung | heraus. Wir haben nicht auf eine solche Entscheidung auszugehen, sondern haben die Mannigfaltigkeit zu betrachten, die sich bildet mit der Entwicklung der Sprache. Wir betrachten die beyden Formen der ersten Elemente, Hauptwort und Zeitwort, das Bild des Dings und 6 die] das 31–34 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 92: „Da stehn wir an Gränze dessen, was hierher gehört und was Philosophie oder Metaphysik oder Dialectik wäre; So wie wir von hier aus sagen: nur so kann fortgeschritten werden um das vollkommene Wissen zu haben, so sind wir außerhalb unseres Gebiets.“

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auf das Bild der Veränderung ausgehend; und hier läßt sich ein umgekehrtes Unterordnen denken des Einen unter das andre; es entsteht in beyden Fällen eine ganz andre Reihe, ob man den Dingen die Thätigkeiten oder umgekehrt unterordnet. In der Geschichte ist hier nun ein Wechsel zwischen diesen beyden Arten der Behandlung; z. B. Wärmestoff, damit verband man die Vorstellung einer Materie, eines Dinges, und erklärte sich Änderungen aus den Wirkungen eines Dinges. Allein dieß verlor sich alles, und man reducirt das Ganze auf Thätigkeiten. Ebenso wird das Entstehen eines Gewitters gesetzt als ein Ding; und doch ist es nur eine Entwicklung von Thätigkeiten, und es ist da kein Ding, sondern nur ein Cyclus von Veränderungen. Wollen wir dieß strenger fassen so lösen wir dieß auf in andre Vorstellungen und Äußerungen, z. B. es donnert und blitzt, wobey das Schwebende des Dings aufhört. Durch diesen Wechsel der Unterordnung entsteht eine Veränderung der Reihe des Denkens; denken wir uns das Wissen vollendet so muß diese Änderung aufhören, d. h. es wird dann für alles Gegebene nur Eine Betrachtungsweise geben als die sichere, und das Schwanken muß aufhören. So lange dieses besteht, ist eine Unsicherheit in der Umsetzung des sinnlichen Bewußtseyns in die Form des Denkens, was eben eine Umsetzung des Äußren in ein Innres ist. – Die Differenz hat ihren Grund in der Art wie dieses Umsetzen nie am sinnlichen Bewußtseyn allein hergeführt werden kann, sondern noch von etwas andrem abhängt, worüber aber nicht alle einig sind. – In der Sprache sind eine Menge von Elementen gegeben, die sich gar nicht auf das sinnliche Bewußtseyn reduciren lassen, z. B. Wärmestoff; die Wärme ist ein sinnliches Bewußtseyn, Stoff ebenso, aber beydes zusammen ist etwas, das nicht unser sinnliches Bewußtseyn ist, sondern die Aussage, daß das sinnliche Bewußtseyn Wärme in einem besondren Stoff ist, aber nicht in den Gegenständen; hier erst ein Versuch, das Äußre in ein Innres umzusetzen, daß es das Wesen eines bestimmten Stoffes sey; die Wärme aus sich zu produciren. Dieß ist keine äußre Erscheinung, sondern eine innre Combination. – Alle Substantive die eigentlich Eigenschaftswörter sind, sind eben dieß, und gehen über das sinnliche Bewußtseyn hinaus; es wird als Permanentes gesetzt, was das sinnliche Bewußtseyn als Momentanes setzt. Solche Begriffe verändern immer ihren Werth im Denken, obgleich sie immer in der Sprache bleiben; der Wechsel im Denken ist oft so rasch, daß die Sprache nicht folgen kann, und darum die alten Ausdrüke beybehält. Alles geht darauf zurück, entweder das beharrliche Seyn den Thätigkeiten über- oder unterzuordnen. – Das Eigenthümliche der Sprache und des Denkens in der Sprache nun beruht nicht auf Hauptwort und Zeitwort sondern in der Combination derselben zum Satz. Bleiben die Sprachen aber im einfachen

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Satze, so könnten wir die Sprache von den sinnlichen Wahrnehmungen nur unterscheiden durch diese einfache Combination. Allein nun haben wir den zusammengesetzten Satz, und diese Combinationen gehen gar nicht mehr auf das sinnliche Bewußtseyn, z. B. die combinatorischen Elemente, die Sätze verbinden. Wird hier etwas Neues im Denken und dann äußerlich in der Sprache? So kämen wir ja mitten im Verlauf wieder auf einen Anfang, und wir gäben das Erklären auf. Dieß geht zurück auf das innre | Selbstbewußtseyn und diese Combinationen sind nur Darstellungen davon, Umbildungen des sinnlichen Bewußtseyns in den Begriff. In 2 so verbundenden Sätzen ist nur eine Aussage vom Zustande des denkenden Subjects in diesem Act, eine Beschreibung, wie es in der Mannigfaltigkeit der gesonderten Momente Eins werden will. Dasselbe bezieht sich aber auch zugleich auf das Umwandeln des Äußren ins Innre, aber es sind dieß nur Zeichen für die Activität des denkenden Subjects in diesem Proceß der Umkehrung des Scheins in das Seyn.

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Wir haben gesehen, daß die Richtung auf das Auffassen des Äußern zum Auseinandertreten in Bilder verhalte sich so wie die erste Sprachbildung zur vollen Entwicklung der Sprache; so daß der Weltbegriff, wie das Weltbild aus einem Continuirlichen entsteht. Der Weltbegriff ist ein Resultat des Forschens; die Richtung auf das Forschen ist schon in dem ersten Elemente dieselbe wie in der höchsten Entwicklung. Betrachten wir den Punct, wo das Bewußtseyn bey dem Menschen still zu stehen scheint mit dem ersten Impuls, so scheint dieß allerdings auf Verschiedenes, ein niedres und höheres Bewußtseyn zu führen, was die Identität des Impulses aufheben würde. Viele bleiben ja stehen beym Auffassen des Äußren und Bezeichnung desselben in der Sprache, aber von einem Innerlichwerden desselben ist nicht die Rede, sagt man. Allein unsre Annahme stößt dieß um, und setzt Einen Impuls. Es läßt sich nicht nachweisen, daß bey einem Menschen, der zur Entwicklung der Sprache gelangt, eine Unfähigkeit sey in Absicht auf den Proceß des Wissens. Also das Stehenbleiben auf einem bestimmten Punct und das Weiterdringen kann nicht bedingt seyn durch eine ursprünglich Verschiedene Thätigkeit, sondern nur durch ein verschiedenes Verhältniß dieser Thätigkeit zu andern. Auch bey ihnen ist nie das Streben nach einem Weltbild, sondern nach einem Weltbegriff. 5 Wird] Wir

18 erste] erste erste

25 Verschiedenes] Verschiedenes zu führen

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Aber ihr Leben ist oft so zertheilt, daß sie dieser Thätigkeit nicht so viel Zeit widmen. Worauf geht die Entwicklung der combinatorischen Thätigkeit in der Sprache zurück? Das Eine ist die Flexibilität der Sprachelemente zu einander, woraus die Möglichkeit des Satzes entsteht. Wir müssen das verbum nach dem substantivum richten und ebenso das adjectivum zum substantivum. Das Zweyte sind die für sich bestehenden, die Verbindung der Sätze bewirkenden Elemente. Conjunctionen. Da die Einheit des Satzes ohne die ersten nicht möglich wäre, so sind diese letztern ausgehend auf das Denken, in so fern es eine Reihe, einen Complexus von vielen Sätzen bildet, ein aus vielen Sätzen bestehender Denkact. Letztre Combination ist oft eine falsche, oft eine wahre, und so ist es eine freye Abbildung der innern Thätigkeit, die in jedem Individuum eine andre seyn kann bey demselben Wahrnehmungsstoff. Dieses Fortschreiten des Denkens, das auf der beständigen Gegenwärtigkeit der Sinneseindrücke und ihrer Gedanken beruht ist die Freyheit dieser Combination. Schon von Anfang an haben wir unterschieden die objective Richtung des Bewußtseyns und die auf sich selbst zurückgehende, Wahrnehmung und innrer Moment; dieses letztre nun entstand aus dem allgemeinen Sinn und der subjectiven Seite aller Sinne und hatte den Character des subjectiven Bewußtseyns. Beydes sinnliches Bewußtseyn gestaltet sich um zum Satz und es gibt auch in der Sprache ein alles objective Bewußtseyn begleitendes Subjectives. Denken wir uns dieß als eine Reihe von Sätzen, so sind die | Combinationen in der Sprache, nichts andres als dieses Subjective das das Bild begleitet. Jede Reihe läßt sich in der Formel fassen: Ich bin in diesem bestimmten Denken, und für jeden andren liegt darin die Besonderheit des Subjects in Beziehung auf den identischen Stoff. Vergleichen wir die Gedankenreihen mehrerer Subjecte, so ist es nur die verschiedene Thätigkeitsweise verschiedener Subjecte. Die Gesammtheit der Sprachelemente muß also zur Anschauung bringen die verschiedenen Möglichkeiten des Auffassens und Denkens in dem Einzelnen. Bringen wir es auf das Wahre und Falsche zurück, so sagen wir: in wiefern diese Sprachelemente wahr sind in ihrem Gebrauch, so drücken sie das Seyn der Dinge aus. Hier sind wir wieder an einer Grenze gegen die Speculation. Nehmen wir an, daß in dem, was eigentlich nur Fortschreiten im Denken ist, auch die Wahrheit der Dinge ausgesprochen ist, so liegt darin ein bestimmtes Verhältniß des Seyns und der Combinationen des Denkens als identisch. Nur in diesem Falle können wir zu einer Wahrheit gelangen. Könnten diese Elemente nichts ausdrücken, als das Fortschreiten des Denkens in einem bestimmten Subject so

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wären alle gleich wahr und unwahr. – Dieß führt uns auf die verschiedene Art, wie wir uns selbst finden in diesem Fortschreiten des Denkens und auf die verschiedene Art, wie wir uns das Denken andrer aneignen. Gewißheit und Ungewißheit und Zweifel. Was ist der Unterschied dieser beyden Zustände? Der Zustand der Gewißheit ist eine Anticipation, denn so lange es nur subjective Überzeugung ist, ist es nur Anticipation der Anerkennung der Identität einer Combination mit dem Seyn des Dings. Stelle ich mir aber vor, es könne eine mehr entsprechende Combination geben, so bin ich im Zustande des Zweifels. Eben daraus daß jeder sich abwechselnd in diesem Zustande befindet, darin erkennen wir wie die Identität des Impulses in Allen, eine Richtung des Denkens auf das Seyn und das Verhalten desselben. Worauf es beruhe, daß wir uns in diesen Zuständen abwechselnd befinden, läßt sich hier noch nicht beantworten; wir wollten nur auf die Thatsache aufmerksam machen. Das aber das letzte Ziel nur seyn kann die Identität des Seyns und Denkens, so liegt bey diesen Thätigkeiten allein derselbe Impuls zu Grunde. – Wir haben bis jetzt alle Beyspiele von den äußren Sinneindrücken hergenommen, wir hätten sie aber auch nehmen können vom subjectiven Bewußtseyn; das Seyn des psychischen Subjects ist auch nur die Manifestation seiner verschiedenen Thätigkeiten, und dieß bildet das innre Seyn als Gegenstand. Wie jenes das äußre Seyn als Gegenstand; diese beyden Gesammtentwicklungen stehen einander gegenüber; beyde Seiten haben wir gleichmäßig im Sinne gehabt.

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Sehen wir auf die verschiedenen Zustände im Denken, die Überzeugung oder Gewißheit, oder Ungewißheit oder Zweifel, so ist dieß dasselbe für beyde Regionen, ja selbst für die vorbereitenden Thätigkeiten des Denkens; so wohl beym Denken als Resultat des Zusammenseyns unsres Denkens mit dem Seyn als beym Denken als Vorbereitung und Meditation auf ein Thunwollen; bey beyden ist die Fortschreitung eine vollkommen freye, und in beyden Regionen gehen wir nur auf ein Aufgehen des Denkens im Seyn. In der Deutschen Philosophie gab es seit Langem eine Partey, die eine zweyfache Potenz des Bewußtseyns sc. nicht beym Übergehen des Denkens in die Sprache, sondern viel später erst einen starken Abschnitt macht, wo das Denken rein innerlich wird. Dieß hebt aber die 1 wären] wäre nendere

8–9 mehr entsprechende] so Nachschrift Iffland, S. 95, Ms.: bezeich-

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Einheit des menschlichen Bewußtseyns oder die persönliche Einheit auf, denn es gab hier keinen Übergang von einer Potenz in die andre. | Nach unsrer Darstellung ist das Ganze Eine ununterbrochene Reihe; vom chaotischen Sinneseindruck geht es fort zur Sonderung der Bilder, zum innren Denken etc. Mit dieser Thätigkeit verbinden sich dann die Zustände der Überzeugung und des Zweifels, subjective Zustände, die sich nur beziehen auf die Fortscheitung des objectiven Bewußtseyns. – Den Grund und Zusammenhang davon, daß Überzeugungen auch wieder sich aufheben können, können wir hier noch nicht untersuchen. Wenn wir diese Zustände des Selbstbewußtseyns vergleichen mit denjenigen Momenten des Selbstbewußtseyns durch die Sinneseindrücke im Gegensatz von angenehm und unangenehm, so ist die Analogie klar; in der Überzeugung ist Befriedigung, im Zweifel ein Mangel der Befriedigung. Wenn wir die unangenehmen Eindrücke auf den allgemeinen Sinn betrachten, so sind es Puncte auf einer Scala, indem die Lebensthätigkeit selbst ein Veränderliches ist; wo sie frisch ist im Bewußtseyn, ist Befriedigung, wo sie gehemmt erscheint im Bewußtseyn, da ist Mangel an Befriedigung. Dieser Gegensatz entspricht also der Veränderlichkeit der Lebensthätigkeiten, ein Steigen und Sinken derselben. Nun wie ist es mit Gewißheit und Zweifel? Dieß kann sich auch nur beziehen auf die Lebensthätigkeit aber nicht im Allgemeinen sondern in der bestimmten Function des Denkens, und so ist Gewißheit Befriedigung für das Bewußtseyn, für das Denken; je wichtiger ein Gedanke ist, der uns gewiß ist, desto größer ist die Befriedigung und umgekehrt. Da dieses sich erst mit dem Denken entwickelt, und nicht dem sinnlichen Bewußtseyn anhaftet, so fällt uns auf, daß dieser Punct noch eine neue Wichtigkeit durch diesen Gegensatz erhält. Worauf beruht es, daß dieser Gegensatz nur auf das Denken geht und nicht auch auf das sinnliche Bewußtseyn? Im letzten Gebiethe haben wir die wesentliche Differenz zwischen dem Menschlichen und Thierischen gefunden; das Auseinandertreten des Subjectiven und Objectiven und das Fehlen dieser Sonderung, diese Sonderung aber erfolgt erst sehr langsam und setzt sich weit hinaus fort. Wie steht es nun um das bildliche Bewußtseyn? indem es seine Bestimmtheit erhält durch die Sinne, liegt es auf der äußren Berührungsfläche des Subjects mit den äußren Dingen, im Zusammenfließen von beydem, ein unvollständiges Auseinandertreten der subjectiven und objectiven Seite. Denken wir uns das Bewußtseyn ausgebildet ohne das Denken, und fragen nach Gewißheit und Ungewißheit, so kommen wir darauf, was man nennt: die Sinne täuschen nicht sondern nur das Urtheil. Gibt es 8 daß] daß auch

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im sinnlichen Bewußtseyn den Gegensatz von Gewißheit und Ungewißheit? Nein, der Sinneseindruck ist, und das Bild ist auch. Aber denken wir uns das Übertragen in einen Satz, dann entsteht die Möglichkeit z. B. ein Individuum mit einem kranken Auge z. B. mit der Gelbsucht, so entsteht eine gemeinsame Beschaffenheit der Bilder, und diese ist wahr, denn es ist der wahre Sinneseindruck auf das Subject. Wird aber gedacht, diese Eigenschaft inhärirte den Gegenständen, so ist dieß nicht mehr Bild, sondern Gedanke. Erst vom Denken geht die Richtung des psychischen Subjects in die innren Beziehungen der Dinge ein, das sinnliche Bewußtseyn bleibt nur am Äußren, also in leztrem Fall kann kein Gegensatz von Gewißheit und Ungewißheit seyn, denn es ist nur eine äußre Berührung; erst mit dem Denken tritt der Gegensatz ein. Hier tritt zugleich mit der Richtung auf das Innre des | Seyns eine neue Modification des Selbstbewußtseyns ein, Befriedigung und Mangel desselben; und diese neuere Richtung zeigt erst das eigentliche Wesen der ganzen ursprünglichen Richtung auf das Wissenwollen um die Dinge außer sich, und diese Befriedigung nur zu finden im ungestörten Fortgang dieses Aufnehmens. Also durch den ganzen Sinnenapparat und das Denken und Sprechen wollen wir nur das Seyn ins Selbstbewußtseyn aufnehmen. Dieß ist etwas Spontanes, und zugleich das Bewußtseyn des Subjects von seinem Zustand in dieser Selbstthätigkeit; während das Angenehme und Unangenehme überhaupt das sinnliche Bewußtseyn sich nur bezieht auf das objective Bewußtseyn seines Zustands, der überwiegend receptiv war. – Auch dieses Selbstbewußtseyn in den Subjecten kann in großer quantitativer Differenz vorhanden seyn, viele Menschen sind nicht sehr reizbar über Gewißheit und Ungewißheit im Denken, sie sind eigentlich ganz stumpf, andre sind sehr reizbar, und finden gar keine Ruhe, bis sie zur Gewißheit gekommen sind. Dieß hängt damit zusammen, daß überall in den selbstthätigen Richtungen des psychischen Subjects ein Großes liegt in der Übung d. h. die Thätigkeit wird nicht nur leichter, sondern tritt auch bestimmter hervor durch die Wiederhohlung. Menschen also, die selten im Denken seyn können, die kommen auch nicht zur Klarheit und nicht zum bestimmten Gegensatz von Gewißheit und Ungewißheit; dieß gehört aber in den constructiven Theil. Hier geht uns nur daraus hervor, daß in den Zuständen eine quantitative Differenz vorwaltet, doch so daß sie nirgends auf Null kommen kann.

[38. Stunde] Denken als Sprache und Sprache als Denken. Das daß das psychische Subject Menschliches außer sich erkennt, und sich mittheilen will, ist

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der Ausgangspunct für beydes. Das Denken, wie es auf der Anerkennung des Menschlichen beruht, also auf dem Gattungsbewußtseyn, enthält die Forderung, daß das Denken bey allen dasselbe seyn soll; die Richtung auf die Mittheilung nun involvirt nothwendig die Richtung auf Ausgleichung der Differenzen. Ein andres ist, daß es tathsächlich ist, daß die Menschen erst allmählig zu einem Wissen von einander kommen, und dieß involvirt, daß viele Differenzen vorhanden seyn können, ehe sie zusammen kommen, und sich besprechen. Jedes Individuum ist in der Erfindung begriffen, aber jedes eignet sich auch die Sprache an, wie es sie vorfindet, und ordnet seinen Theil diesem unter. Dieß ist der erste Ausgleichungsproceß. Denken wir uns aber die ganze Masse der Sprache, in der diese Ausgleichung statt findet, so kommen wir auf die Eigenthümlichkeit eines Volkes, in so fern es Eine Sprache spricht; kommt ein Individuum in ein andres Volk, so findet es ein andres modificirtres Denken und Sprechen, und dieß ist das Resultat der mangelnden Ausgleichung. Hier wäre es zwar möglich, daß die Verschiedenheit der Sprachen nur physiologisch wäre, nur den Lauten nach, nicht aber den Vorstellungen und Begriffen nach. Man kann sich dieß denken, aber es findet sich nirgends wirklich vor. Jedes Element der Sprache, in so fern es physiologisch ein andres ist, ist auch in seinem Vorstellungsgehalt ein andres, und es gibt in keiner Sprache ein Wort, das genau einem in der andren entspräche, nicht mehr und nicht weniger; wir müssen bey der Übertragung immer eine | Mannigfaltigkeit aufstellen und doch gehen sie nie gegen einander auf; und so finden wir immer in jeder Sprache ein verschiedenes Denken, was ein Mangel der gegenseitigen Ausgleichung ist, weil die Menschen nur allmählig zusammen kommen. Die letzte Tendenz ist allerdings eine endliche völlige Ausgleichung; das Mittel dazu ist aber eben die Verschiedenheit der Sprachen. Jede bestimmte Sprache ist die Art und Weise, wenn in einer bestimmten Masse die Ausgleichung des Denkens zu Stande kommt, und die gesammte Sprache ist der Gesammtausdruck des ganzen Volkes. Was ist nun aber der Gehalt der Differenz der Sprachen? Wir müssen zuerst sondern die Verschiedenheit der Laute, und dieß führt uns nun auf eine Verschiedenheit in den Sprechwerkzeugen; ferner gibt es Differenzen in Beziehung auf den Umfang einer Sprache und des Denkens; diese ist nur eine Differenz der Zeit, eine arme Sprache zeigt an, daß das Quantum in diesem Volke ein geringres ist als in einem andren; dieß zeigt aber nur ein langsames Fortschreiten. Doch jede Sprache ist auch ein andres individualisirtes Denken; dasselbe Wort hat in der einen Sprache immer eine etwas andre oder weitre oder engre Bedeu41–1 Bedeutung] Bedeutung haben

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tung als in der andern. Wollen wir aber abstrahiren von der Differenz von Reichthum und Armuth, und wollen uns denken daß eine Sprache völlig entwikelt sey, so haben wir doch ein andres, individualisirte Totalität. Dieses ist der Weltbegriff. Daß das Seyn der Gegenstand des Denkens ist und umgekehrt ist unser Anfangspunct. Ursprünglich ist dieses Seyn gegeben als Chaotisches aber dieses gestaltet sich in einer bestimmten Mannigfaltigkeit; es wird das getheilte Seyn; die Totalität dieses Bewußtseyns ist das Weltbild. Das Denken nun ist das Umsetzen des Bilds in das Wort; nun aber ist das Denken nicht mehr ganz an die äußre Berührung gebunden, sondern das innre getheilte Seyn spiegelt sich darin ab, aber auch dieses getheilte Seyn ist ein ursprünglich Zusammengehörendes Ganzes, eine Einheit. Das Denken in seiner Mannigfaltigkeit sich entwickelnd, ist die nach innen fortschreitende Analyse des Weltbegriffs; in ihrem Fortschreiten ist aber die Sprache nur das Hinzielen auf diesen Weltbegriff der nirgends und nie vollkommen gegeben ist. Weltbegriff ist auf der einen Seite schon Vorausgesetztes, auf der andren Seite ein nie Vollendetes; in diesem Zusammenseyn ist eine Grenze für die Sprache und den Weltbegriff. Wir haben ebenso gesagt, das sinnliche Bewußtseyn im Objectiven und Subjectiven sey nie ganz vollendet, und die Sonderung ebenfalls nicht; eben darum auch weil der Weltbegriff nie streng gesondert war, sondern theils vorausgesetzt, theils angestrebt, und so ist in jedem Denkact immer auch etwas Chaotisches. – Das Denken ist nur unter der Voraussetzung des Seyns, der Mannigfaltigkeit nach einander entsprechend. Das Denken, wie es ursprünglich bedingt ist durch die Mittheilung, hat zum Grunde die Identität des Seyns und Bewußtseyns. Dieß ist ein Grenzpunct; es ist dasselbe wovon wir ausgehen; sagen wir: in dieser Beziehung von Seyn und Bewußtseyn ist doch ein relativer Gegensatz; – so ist dieser Gegensatz auch ein Chaotisches. Das Bewußtseyn ist ja nur eine bestimmte Art des Seyns, und die Differenz vom Seyn ist ein Chaotisches im Bewußtseyn. Wenn wir denken 2 Sprachen ganz gleich in der Ausdehnung ihrer Entwicklung und auf das möglichste Maximum ihrer Annäherung, so ist dann der Weltbegriff in beyden wesentlich dasselbe. Dagegen wenn | 2 Sprachen auf dieser Klarheit beruhen, mit der im Bewußtseyn überhaupt die Gegensätze geschieden werden, so wird diese Gleichheit auch eine Gleichheit der Differenz von Seyn und Bewußtseyn. Also beydes hätten wir ausnehmen können von der Behauptung, daß jedes Sprachelement in jeder Sprache ein eigenthümliches sey; Welt und Seyn hätten wir ausnehmen sollen. Allein dieß sind nur Grenzpuncte alles Denkens; alles Gedachte ist nicht Seyn überhaupt, sondern bestimmtes Seyn; und die 19 das] daß

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Gesammtheit unsres Denkens ist noch nicht Welt, weil das Ganze noch nicht erschöpft und nicht alle Grenzen bestimmt sind; Seyn ist nur der Ausgangspunct, von dem wir schon weg gegangen sind, und Welt das Ziel, bey dem wir noch nicht angekommen sind, und so heben diese beyden Begriffe jene Behauptung nicht auf. Aber wie kann dann das Denken als vom Gattungsbegriff ausgehend ein Gemeinsames seyn? Jede Sprache ist für ein Volk die Ausgleichung des Denkens. Das Denken zwar wird in jedem Individuum ursprünglich auf eine eigenthümliche Weise, und nirgends entsteht es mit bloßer Passivität des Individuums, und so entsteht das Denken in jedem Individuum besonders, und jeder ist ein innerlich Verschiedenes, so daß das Denken in jedem auch eine Verschiedenheit des Seyns ausdrückt, verschieden vom Denken jedes andern. Geht diese Differenz durch die Ausgleichung eines Volks verloren? Nein, denn wie sollte es sonst zugehen, daß wir in jedem Gedankencomplex einen bestimmten Menschen erkennen; also trotz der Ausgleichung reproducirt sich diese Differenz doch wieder. Zwey sehr extreme Subjecte aus derselben Sprache verstehen sich nicht vollkommen sondern sie müssen sich wiederum ausgleichen. Die Ausgleichungskunst bezieht sich nicht nur auf verschiedene Sprachen, sondern auch auf die eigne. Also ist die Ausgleichung auch in derselben Sprache nie vollendet. Denken wir uns ein Volk, das Eine Sprache spricht, in verschiedenen Zeitpuncten, so ist es eine allgemeine Erfahrung: Wo ein Volk einen bedeutenden Raum umfaßt hat in der Entwicklung des Denkens und der Sprache; und wir können unterscheiden Zeiträume, wo die Einheit noch nicht da war, und wo sie da war. So auch bey uns z. B. die Differenz des Oberdeutschen und Niederdeutschen, ausgeglichen erst durch das Hochdeutsche. Doch in jeder jener beyden Mundarten lebt und redet noch das gemeine Volk; und ein Oberdeutscher und Niederdeutscher, obgleich beyde das Hochdeutsche kennen, sind doch noch verschieden; früher aber hatten sie noch gar keine Ausgleichung. Ursprünglich sind es nur Komplexe von Familien, die sich zu Einer Sprache ausgleichen: die aber, die sich nicht mit ihnen ausgleichen, stehen meistens in feindseligem Verhältniß zu einander. Eine Menge von kleinen Völkerschaften vereinigen sich nach und nach zu einem Volk und zu einer Sprache; wenn das geschehen ist, ist schon eine Menge vom individuellem Bewußtseyn untergegangen; aber wie sich im einzelnen Menschen die Eigenthümlichkeit reproducirt, so wird sie sich auch in derselben Sprache reproduciren in verschiedenen Denkacten und Sprachen, und beyde Tendenzen sind immer zusammen. Können sich also eben so auch alle Völker zu Einer Sprache vereinigen? Nein; dann 13 andern] anders

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müßten alle jene Individualisierungen des Denkens untergehen, und diese wollen wir, sie gehören in den Begriff der menschlichen Gattung. Man könnte zwar | sagen: Nun die Individualitäten könnten sich ja doch wieder reproduciren; allein die Individualisirung wäre doch beschränkt; und wir wollten sie und wollten sie zugleich nicht. Also die Verschiedenheit der Sprachen muß bleiben. Ein allgemeines Gefühl weist das Gegentheil zurück als einen Verlust.

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Setzen wir voraus ein ursprüngliches Isolirtseyn einzelner kleiner Theile des menschlichen Geschlechts mit besonderen Sprachen, so hängt dieß zusammen mit der verschiedenen Constitution dieser einzelnen Theile, besonders der Sprechwerkzeuge und des Gehörs; erbt sich diese Verschiedenheit fort, und es ginge die besondere Sprache doch verloren, so entstände eine Disharmonie, ein Unzusammenhang. Und doch ist jenes Forterben ein allgemein Angenommenes. Das vorausgesetzte Factum also, die Möglichkeit Einer allgemeinen Sprache ist also zu negiren, denn die Ausgleichung mit andren Völkern geht immer nur von einzelnen Puncten aus, das Forterben aber der Individualität ist allgemein. Und doch soll das Denken in Allen Eins seyn, so daß jene äußre Einheit auch da seyn sollte: allein für das menschliche Geschlecht wäre dieß ein mangelhaftes Denken, indem in allen andren ja die Individualität bliebe. Gehen wir von diesem Resultat der Identität des Denkens aus, so fragt sich: ist diese wirklich nur auf Ein Volk zu beschränken und Eine Sprache? Dadurch würden wir unsrer ursprünglichen Forderung untreu, daß alles Denken identisch seyn soll. Doch auch jene beschränkte Einheit in einem Volke ist unerreichbar. Die Sprache eines Volks verändert sich zwar allmählig, aber nur in sehr großen Zeiträumen, doch nach den Producten eines Volks zu schließen sind diese Veränderungen in verschiedenen Zeiten sehr verschieden, oft ist die Veränderung sehr schnell, z. B. das Französische vor und nach der Revolution, die für die Sprache ein Entwicklungsknoten ist. Es sind nun da natürlich solche zusammen, die mehr das Frühere und solche, die mehr das Spätere repräsentiren, und zwar diesen ist die Mittheilung schon erschwert. Eben so wo das Denken sich auf eine streitige Weise entwickelt, wo auch das reine Aufgehen der Gedanken in einander nicht möglich ist, bis die Differenzen sich allmählig gehoben haben. Zwar sollten die Philosophen, die den Streit der Gedanken veranlassen, auch die Sprache lenken, und könnten es 20 wäre] würde

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auch, aber sie stehen dem gewöhnlichen Leben zu fern. Also auch für die einzelnen Völker ist keine volle Einheit der Sprachen ohne Differenzen möglich. Nun gehen wir noch einmahl auf die verschiedenen Völker zurück nach den Differenzen ihrer Constitution und darum auch der Sprache; eben darum nun, weil das menschliche Geschlecht sich über die ganze Erde verbreiten, und das Bewußtseyn des Seyns in allen Climata sich entwickeln soll, so wäre es ein unersetzbarer Verlust, wenn die Verschiedenheit der Sprache und des Denkens aufgehoben würde. Die Verschiedenheit der Sprache hängt zusammen mit den NaturDifferenzen, und kein Glied darf fehlen. Also das Denken soll überall identisch seyn, aber zugleich alles Seyn ins Bewußtseyn nehmen; jenes Seyn aber ist außer und von den Menschen ein Verschiedenes, also muß auch das Denken und | Sprechen sich differentiiren. Wie im Großen, so hält sich dieß auch im kleinen Kreise. Eine Sprache [ist] nach verschiedenen Perioden verschieden, und nach den verschiedenen geistigen Abtheilungen der Gesellschaft. Also diese Differenz im Großen und Kleinen gehört wesentlich zum vollkommenen menschlichen Denken. Dennoch soll es identisch seyn in allen. Wie ist dieß zu lösen? Es gibt 2 verschiedene Wege, die man eingeschlagen hat, der Eine ist nur in einzelnen Fällen versucht worden von einzelnen Menschen: Neben den differenten Sprachen eine andre Sprache willkührlich zu bilden, die dieselbe seyn könnte für alle. Ein andrer Versuch ist, nicht eine Sprache für das Ohr, sondern nur ein Zeichensystem zu bilden, vermittelst dessen jeder in seiner Sprache dasselbe dächte. Das erste ist die Aufgabe Einer allgemeinen Sprache ohne Aufhebung der verschiedenen Sprachen; das andre ist die sogenannte Pasigraphie. Durch beydes wäre die Aufgabe gelöst, und es wäre eine Einheit der Sprachen da für die wissenschaftlichen Menschen, und doch bliebe die Verschiedenheit der Sprachen. – Der Zweyte Weg ist der einer möglichsten Theilnahme der Einzelnen an allen Sprachen, so daß alle Sprachen gleichsam seine Muttersprachen wären; in einem solchen wäre untergeordnet die Differenz des Denkens aufgehoben. Diese Ausgleichung entwickelt sich am meisten im practischen Verkehr. Dieser Versuch wird aber natürlich nie ganz allgemein. Doch dazu gesellt sich das Verlangen nach der Production der fremden Sprachen, in denen sich die Individualität am bestimmtesten ausspricht, sc. der Kunstwerke. Dieß kann sich immer mehr ausdehnen, und immer mehrere können an dieser Ausgleichung arbeiten, so daß die Gemeinschaft mit den andren Sprachen als etwas ganz Ungehemmtes erscheint. – Welches wäre die vollständigste Lösung der Aufgabe? Gewiß das letzte. Der Pasigraphie könnte man sich nur in einem sehr beschränkten Umfange bedienen, denn man müßte die Differenz des Denkens auf ein unmit-

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telbar Identisches reducirt haben; nun aber gäbe es auch wieder Zeichen für das, was wirklich different wäre, doch so bezeichnet, daß das Analoge ins Bewußtseyn käme. Ein solches System ließe sich nur brauchen, wo das Denken am meisten in die Analogie der mathematischen Formel fällt, und ein Kunstwerk ließe sich auf keinen Fall reproduciren aus und für verschiedene Sprachen. – Bey einer allgemeinen Tonsprache wäre die Möglichkeit und die Beschränkung dieselbe, denn eine solche könnte das Eigenthümliche der andren Sprachen nicht aufnehmen, sondern nur ausschließen, und so müßte sie sich auch auf das formulare Denken beschränken. Dieß geht am meisten auf Zahl und Maaß zurück, also auf das Äußerlichste; die Gegenstände des Verkehrs und Handels ließen sich so beseitigen, nicht aber das lebendige Gespräch und die Kunst. – Zwar ist auch auf dem Dritten Wege eine Ausgleichung nicht möglich, es ist immer ein Unterschied seines Verhältnisses zu seiner habituellen Sprache und zu denen, über die sein Herrschen sich ausdehnen kann. Man kann es so weit bringen, in fremden Sprachen zu denken in bestimmten Fällen, und dieß läßt sich beym Hören leicht merken. Doch ist es wie das Habituelle; so unsre lateinischen Compositionen mit wenigen Ausnahmen. Nie wird ein | Deutscher mehr lateinisch und griechisch denken als deutsch. Aber jeder nimmt an dieser Art der Ausgleichung so viel Theil, als er es bedarf und nach dem Standpuncte seiner Bildung und seines Lebens. Nur in bestimmten Individuen und nur in bestimmten Gebiethen löst sich die Aufgabe ganz.

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Wir gehen nun über zum subjectiven Bewußtseyn, und begleiten es eben so vom ersten Anfang bis zu einem letzten Resultate. Wir haben gesagt, daß der Hauptsinn für das objective Bewußtseyn, das Gesicht, am wenigsten mit dem subjectiven Bewußtseyn befaßt sey. Bey den andren speciellen Sinnen ist der Geschmackssinn das Maximum für das objective Bewußtseyn durch den Gegensatz vom Angenehmen und Unangenehmen. Dieser Gegensatz bildet sich freylich erst allmählig, und der Gegensatz zum Thiere bezieht sich darauf, daß dieses von gar nichts Notiz nehme als von dem, was zu seiner Selbsterhaltung gehört, und daß dieses sich gleich mit dem Thiere assimilirt ohne Gegensatz. Dieser größre Gegensatz des Menschen ist also ein Zeichen für größre Freyheit, zwar ist dieses Angenehme und Unangenehme nicht immer das Heilsame und Schädliche, sondern diese Empfindung beginnt nur [als] das objective Bewußtseyn. Es ist im Geschmackssinn nur die un-

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mittelbare Berührung, und soll dieß zum rein objectiven Bewußtseyn kommen, so muß das Subjective aufhören, die Empfindung und andre Operationen dazu kommen, durch Abstraction freylich dieses dann allein vom Geschmack auszugehen. Sind wir über die einzelnen Sinne hinweg; beym Auseinandertreten der einzelnen Bilder aus dem Chaotischen, ist dann mit dieser Erweiterung des objectiven Zustandes auch ein bestimmtes subjectives Bewußtseyn verbunden? Allerdings wird diese Erkenntniß eine angenehme Empfindung erregen, doch nur allgemein. Blendet etwas das Auge, so hören die Gegenstände auf, und das Ganze wird wieder chaotisch, und es ist eine unangenehme Empfindung. Denken wir stärker hervortretende Gegenstände, aber ohne Blendung und Störung, so ist dieses bestimmte Auseinandertreten ein gesteigertes Wohlgefallen der psychischen Natur. Verringern wir die Eindrücke, so kommen wir bald auf einen Zustand der Gleichgültigkeit, wenn die Eindrücke so schwach sind, daß sie sich nicht gegenwärtig erhalten können, sondern schon zum Verschwinden bestimmt erscheinen, während die stärkern beharrlich erscheinen. So sehen wir also verschiedene Grade der Befriedigung d. h. an und für sich gestalten sich diese Empfindungen noch nicht zum wirklichen Gegensatz, denn unter Null herab kommt es nicht. Soll ein Gegensatz entstehen, so muß etwas Neues dazu kommen. Denken wir uns eine bestimmte Willensäußerung in Beziehung auf diese Auffassung, daß eine gewisse Region des Chaotischen Gegenstand des Willens wird für die Erkenntniß, so tritt die Form des Gegensatzes ein. Auch innerhalb des Kreises kann er entstehen, wenn etwas, was festzustehen schien, wieder aufgehoben wird, d. h. wenn etwas früher für Wirklich Gehaltenes sich als Schein zu erkennen gibt; und so sehen wir, wie diese Function den Gegensatz nur aufnimmt als Spontaneität. Diese ist zwar schon von Anfang da in der Richtung des Sonderns des Chaotischen. | Nun 2 Puncte, das Ergreifen der Sprache und damit verbunden das Anerkennen des Menschlichen, und ihr Einfluß auf das Selbstbewußtseyn. Betrachten wir das Selbstbewußtseyn auf dieser Stufe, so kommen wir auf das Factum, daß das Ganze Leben, das der Entwicklung der Sprache vorangeht, für das Individuum verloren ist ohne Erinnerung. Viele erinnern sich zwar weiter zurück als andre, wiewohl bey keinem ein constantes Bewußtseyn über diesen Punct zurück geht. Nehmen wir zusammen die allgemeinen Zustände des allgemeinen Sinns und die innren Affectionen, durch die das Leben in seinen einzelnen Functionen sich ausspricht; gehen wir weiter auf den Zustand der geringren oder größren Befriedigung aus den objectiven Sinnesthä32 ihr] ihren

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tigkeiten, so sind dieß noch gar nicht Momente, die das Ichsagen bestimmt voraussagen, weil das Subjective und Objective noch vermischt ist, bis das Einzelwesen sich selbst Object wird, das Daseyn Contiunität im Bewußtseyn erhält. Dieser Zustand tritt aber immer ein erst mit der Sprache, denn erst durch sie wird das Bewußtseyn Continutität, während es früher nur wechselnde Momente hat. Man sollte nun denken, daß es für das Individuum auch mit diesem Augenblick ein stetiges Bewußtseyn gab, wegen der Vorstellung in der Sprache fixirt; allein diese Continuität ist nicht da, und sie ist eigentlich streng genommen nie da, d. h. das psychische Subject setzt sich in jedem Moment als dasselbe für die ganze Gegenwart, aber es hat diese nie ganz, sondern nur die Momente die mit der Gegenwart in bestimmter Beziehung stehen. Sich selbst als Gegenstand gesetzt, wissen wir, daß wir immer in die Reihe des Seyns gehört haben, aber diese Reihe haben wir nie vollständig vor uns, sondern wir können nur einzelne Partien wieder hervorrufen. Hieher gehört nur, daß das Selbstbewußtseyn in Absicht auf Vergangenheit nur ein Aggregat von einzelnen Momenten ist, und auch als dieses ist es nur möglich durch das Fixiren in der Sprache und in Gedanken. Was bringt die Anerkennung des Menschlichen im Bewußtseyn hervor? Diese ist die Erscheinung als Gattungsbewußtseyn; im Allgemeinen gestaltet sich nun ein Verhältniß zwischen jedem Einzelnen und durch andre die ihm constant wieder vorkommen; da aber nicht nur das Menschliche allein erkannt wird, sondern auch die einzelnen Personen, so entsteht ein bestimmtes Verhältniß zu denen, die in unsren Lebensverlauf besonders hinein gehören; dieß sind die geselligen Verhältnisse. Ist ein Mensch einmahl in diesem Besitze, so müssen wir sagen: wie es für das physische Leben einen Gegensatz gibt von Hemmungen und Förderungen desselben, so geschieht für das Zusammenseyn der Menschen dasselbe und es entwikelt sich auch eine Reihe von angenehmem und unangenehmem Bewußtseyn aus der Gesammtheit des geselligen Zustands. Allerdings hat dieß einen andren Character, da es auf das Menschliche auf die Gesammtheit des Psychischen bezogen wurde, aber es sind doch nur Bestimmtheiten des Einzelnen als solchen, und auf das Gattungsbewußtseyn führt uns zurück die Anerkennung, daß die Affectionen von Menschen ausgegangen seyen. | Nun aber kommt dazu, daß wir afficirbar sind rein durch das Afficirtseyn anderer. Bisweilen verwirrt sich zwar dieß mit jenem, aber im Einzelnen können wir doch bestimmt fixiren. Wenn ein Einzelner, der uns nahe steht, in einem gehemmten Zustande ist, so können wir als Einzelwesen einen entgegengesetzten Zustand für uns dar33 Psychischen] Pych

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aus entstehend denken; ist er für unser Leben fördernd, so ist seine Lebenshemmung auch die unsrige; ist sein Einfluß auf uns aber ein nachtheiliger, so wird seine Lebenshemmung für uns eine Lebensförderung. In diesem Gegensatz zeigt sich, daß das Afficirtseyn vom Afficirtseyn Andrer selbstischer Natur ist. Nun aber sind wir auch eines reinen Angestecktwerdens fremder Lebenszustände fähig ohne alle Beziehung auf unser Selbst. Selbst im letztren Fall, wenn durch eine fremde Hemmung eine eigne Förderung entsteht, kann einer doch mit jenem empfinden, während ein andrer freylich sich rein im Selbstischen bleibt. Erstres ist das Bewußtseyn des Gattungsbewußtseyns, und wenn wir gar keine Differenz hätten für Eine und fremde Lebenshemmungen, so wäre in diesem das Selbstische ganz untergegangen im Gattungsbewußtseyn. Dieses Maximum ist allerdings unerreichbar, und ebenso ist kein Mensch absolut auf das Selbstische eingeschlossen. Zwischen diesen beyden Puncten aber erkennen wir die wesentliche Differenz dieser beyden Affectionen; und das Gattungsbewußtseyn schließt ebenso den Gegensatz von Affectionen in sich wie das Selbstbewußtseyn. Gibt es einen Conflict zwischen beyden, so entsteht eine verschiedene Richtung auf die Schätzung der verschiedenen Lebensmomente; der Eine kann sagen: ich möchte das Afficirtseyn durch das Gattungsbewußtseyn loosseyn zur Förderung eines eignen Lebenszustands, und ein andrer kann das Gegentheil wünschen. Diese beyden Entscheidungsarten entstehen zugleich mit dem Conflict. –

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[41. Stunde] Die Theilnahme an den Zuständen Andrer ist freylich schon der vor Ergreifung der Sprache, und wenn sich einer stellt, er weine, so geben sie sich alle Mühe ihn zu trösten. Allein eine Continuität des Bewußtseyns findet sich doch erst mit der Sprache. So ist es auch mit dem Gattungsbewußtseyn in seiner Trennung in angenehme und unangenehme Zustände. Dieß ist ein neuer Kreis von Affectionen, die bey den nächsten Umgebungen, bey den geselligen Verhältnissen anfangen. Die Characteristischste Unterscheidung dieser Zustände von dem bloßen Gattungsbewußtseyn fanden wir darin, daß so wie in Beziehung auf das Subject selbst das Leiden eines andern meine Freude werden kann und mein Leiden, beym erweiterten Gattungsbewußtseyn aber ist es immer ein Leiden; das letztre ist ein in der Form des Selbstbewußtseyns erscheinendes Gattungsbewußtseyn. Dieß bloß zu beschränken auf die möglichsten Kreise, und zu sagen, es sey auch 21 eignen] eignes

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bloß selbstisch, ist unwahr. Dieß hängt nur damit zusammen, daß das Verständniß des andern allerdings davon abhängt, daß uns seine Erscheinung eine gewohnte ist, und wir in näherem Kreise seine Analogie mit | uns desto leichter auffassen; auch dieß wird eine Sache der Übung. Betrachten wir diese Erweiterung, so theilt sie sich in 2 Richtungen: das eine ist die persönliche Wahlanziehung, ein Verhältniß zwischen einem Einzelnen und einem andren ohne auf das Selbstische zurückzugehen; davon ist Freundschaft das Maximum, ein Constantes, in Thätigkeit seyendes Verhältniß der gegenseitigen Theilnahme. Es findet hier eine große Scala statt von einem Maximum, zum Minimum der Freundschaft. Worauf beruht diese Differenz? das kann erst der constructive Theil zeigen. Die zweyte Richtung, specifisch verschieden, ist das Verhältniß des Einzelnen zu einer Organisation von Einzelnen, in der er sich seiner als eines integrirenden Bestandtheils bewußt ist. Dieß ist zuerst im öffentlichen Leben der Jugend in Instituten für gemeinsame Erziehung, und heißt Gemeinsinn. Schon früher finden wir den Menschen in der Familie als einem Organisirten, allein dieser Gemeingeist entwickelt sich erst später, und bis dahin walten die persönlichen Beziehungen vor, theils weil hier sehr starke Differenzen der Einheit entgegen treten, das Verhältniß des Kinds zu den Eltern und das zu den Geschwistern sind so verschiedene Verhältnisse daß das Bewußtseyn der Differenz stärker ist als das der Einheit; auch darf ja das Kind nicht ganz selbstständig auftreten, und die Eltern dominiren. Nun aber wo wir den Gemeingeist finden, da kann ebenfalls auch noch einzelne Wahlanziehung seyn; beydes sind Momente des Selbstbewußtseyns. Das Gebieth des Gemeinsinns erweitert sich immer mehr; das der Wahlanziehung kann sich wohl ändern, aber nicht leicht erweitern. So scheidet sich dieses Gebieth bestimmt von jenem. Bey letztrem findet die Erweiterung statt, daß das Eintreten ins bürgerliche Leben die weitre Stufe darin ist, und da entwickelt sich der Gemeingiest, der auch wieder verschiedene Abstufungen zuläßt, je nachdem die bürgerliche Einheit mit der Einheit der Natur und Sprache zusammen fällt. Man kann glauben, daß die Einheit von beyden erst die vollständige Entwicklung dieses Selbstbewußtseyns sey (Gemeinsinn ist das Receptive; Gemeingeist das Spontane). – In der Regel nun ist die Organisation, in der das Maximum des Gemeinsinns im Einzelnen sich entwickelt auch der Ort, wo die Wahlanziehungen gewöhnlich geschehen: allein diese Regel hat viele Ausnahmen. Denken wir uns die Richtung auf die Wissenschaft und die Gemeinschaft der Sprache darin, so öffnet sich die Möglichkeit der 24 finden] findet

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Wahlanziehung außer dem Gebieth des Gemeinsinns; und so gibt es auch zwischen diesen beyden Conflicte. Das andre Gebieth kann auch das Religiöse seyn statt das bürgerliche, und auch dieß kann die Wahlverwandtschaft außer die bürgerliche Einheit hinaus führen. Freylich setzt dieß immer eine Gemeinschaft der Sprache und des geistigen Verkehrs voraus über die bürgerliche Einheit hinaus. | Hier werfen wir eine etwas fremdartige, ethische Frage auf, die wir hier nicht leicht übergehen können, eigentlich ist im Seelenleben, das wir betrachten, das Unsittliche wie das Sittliche, allein es gibt doch Puncte, wo wir nach dem Verhalten in ethischer Beziehung fragen müssen[.] Hier: Ist das, was wir jetzt entwickelt haben, als das ins persönliche Bewußtseyn übergehende Gattungsbewußtseyn, Gemeinsinn und Wahlanziehung selbst das Sittliche oder ein Verschiedenes? Wir beantworten dieß aus unserm eigenen Gebiethe. Denken wir uns ein Verharren des Individuums im persönlichen Selbstbewußtseyn und einen Mangel an Entwicklung dieses Elements in seine beyden Richtungen, so finden wir da kein Sittliches, und ein solches Zurückbleiben wäre zugleich ein sittlicher Mangel. Stellen wir [uns] aber auf den andern Punct und fragen: Denken wir uns ein Individuum in welchem das ganze Gebieth des Gemeinsinns so ausgebildet ist, daß in allen Verhältnissen eine Erregbarkeit des Bewußtseyns durch die Zustände andrer, wer sie auch seyen, in ihnen ausgebildet ist, und ebenso eine beständige Erregbarkeit der Wahlanziehung, wäre dieß die sittliche Vollkommenheit? Ist die vollständige Entwicklung des Selbstbewußtseyns in dieser Höhe die Vollendung der menschlichen Entwicklung überhaupt? Wir setzen uns den Einzelnen in eine Position, in eine Organisation, wo das Positive ein bestimmtes Naturgebieth ausfüllt, in einem ein ganzes Volk umfassenden bürgerlichen Verein, so müssen wir doch auch andre ausdenken außer diesem Volke, und eine Beziehung auf sie; der Gemeinsinn nun verhält sich zum Äußren ebenso wie der Einzelne Mensch zum andren, sc. geselliger Verhältnisse fähig. Der Einzelne nun als Glied des Gemeinsinns ist nun ebenfalls afficirt durch die Affectionen des Gemeinsinns durch Äußre Gemeinschaften. Diese gehören immer in so fern in die ethische Entwicklung als sie den Gegensatz rein ausbilden, die Erweiterung an sich nicht. Entwikkeln sich auch leidenschaftliche Zustände und Handlungen, so sind dieß Zustände des Gemeinsinns, die nicht ethisch vollkommen sind, und so liegt in diesen noch nicht ethische Vollkommenheit; erst wenn die Möglichkeit der Conflicte aufgehoben wäre, wäre diese sittliche Vollendung darin. – 9 das Unsittliche] davor ist liche

9 Sittliche] so Nachschrift Iffland, S. 110, Ms.: Unsitt-

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Der Gemeinsinn und die Wahlanziehung gehen nothwendig zurück auf das Gattungsbewußtseyn. Denken wir uns nun aber allerdings eine Erweiterung zu einer zusammengesetzten Persönlichkeit, aber doch abgeschlossen in bestimmten Kreisen mit der Möglichkeit einer feindseligen Richtung gegen andre; so ist dieß wohl ein Anfang des Gattungsbewußtseyns nicht aber seine Vollendung. Also nur unter der Voraussetzung einer im Einzelnen bestehenden Beziehung auf die Gesammtheit des menschlichen Geschlechts, wo das Selbstbewußtseyn sich mit diesen identisch fühlt, und alles dazwischen liegende nur als einzelnes Organ dafür darauf bezieht, nur in sofern liegt darin die sittliche Vollkommenheit. Dieß ist der Endpunct in der erweiterten Ausbildung, und ist indicirt schon in der Familie, aber eben so wenig als hier kommt dort der Mensch so leicht zum Bewußtseyn der Einheit des menschlichen Geschlechts und der menschlichen Natur, weil die Totalitität der Zeit und des Raumes | ins Bewußtseyn müßte aufgenommen seyn, was nie in der Wirklichkeit, sondern nur dem Princip nach möglich ist.

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Diese Unterscheidung des geselligen Bewußtseyns vom sittlichen hört auf, sobald eine Gemeinschaft, in der wir leben, angesehen wird als integrirender Bestandtheil der Menschheit. Ist diese Trennung aufgehoben, und ist dieß das Sittliche selbst, so wäre das Gattungsbewußtseyn mit dem Selbstbewußtseyn identisch, oder dieses jenem immer untergeordnet, so daß das Selbstbewußtseyn nach jenem Ziele hin immer sittlich wäre. – Bleiben wir dabey stehen, so haben wir die Verhältnisse, die aus beyden hervor gehen, erschöpft, das Selbstische und das Gattungsbewußtseyn nach seiner Trennung in Wahlverwandtschaft und Gemeinsinn. Läßt sich aus diesen Elementen nichts weiter entwickeln, und nehmen wir für das objective Bewußtseyn zusammen was sich uns aus der Sprache ergab; so ist in dem objectiven Bewußtseyn wie es endet im Wissen und im subjectiven wie es endet im geselligen Zusammenleben, alles enthalten, und wir könnten weiter gehen. Allein wir finden noch 2 andre Erscheinungen, die nicht unter jene gehören. Dazu rechnen wir nicht einmahl, was man auch aufführen könnte: den Gegensatz des engeren und weitren Selbstbewußtseyns z. B. Denken wir uns einen, eine Gemeinschaft Repräsentirenden, so wird sein persönliches Leben gehemmt werden durch jeden Moment, wo das Leben des Ganzen sich gehemmt sieht und umgekehrt, von außen her und von innen, und so sind beyde identisch.

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Gehen wir dagegen auf den ersten Anfang zurück, und setzen das Einzelwesen in Beziehung zur Natur ohne Menschen, so haben wir den Gegensatz des Angenehmen und Unangenehmen, und es entsteht eine Selbstthätigkeit gegen alle Hemmungen des Lebens. Dieß ist die ursprüngliche Reaction gegen das Ergebniß in der Receptivität. Und wenn noch nichts im Menschen entwickelt ist, als das Lebensbewußtseyn so ist damit alles erschöpft. Gehen wir dagegen aufs gesellige Leben, wo die Hemmungen von andren Menschen herkommen, so hört die Unmittelbarkeit im Verhältniß der Einwirkung die wir erfahren, und der Gegenwirkung auf, und es tritt etwas dazwischen, das in der Sprache unterschieden wird, so also auch im Bewußtseyn. Wir unterscheiden zwischen dem Bewußtseyn des gehemmten Zustands und der Gegenwirkung etwas in der Mitte, sc. Affect oder Gemüthsbewegung, wovon im Naturzustand des Menschen nichts zu seyn scheint; hier ruft die Empfindung gleich die reagirende Thätigkeit hervor, und einen in der Mitte liegenden Punct haben wir nicht. Denken wir uns aber eine im selbstischen Zustande gestörte Entwicklung durch gesellige Verhältnisse, so entsteht eine Richtung zur Gegenwirkung, die wir aber von der Gegenwirkung unterscheiden; es ist Zorn. Bey Naturempfindungen ist dieß nicht zu finden, und wir haben also im geselligen Leben eine besondre Region: Affect, Gemüthsbewegung. Dieß ist nicht nur dem Selbstischen eigen, sondern auch dem weiteren Selbstbewußtseyn wenn das Leben des Ganzen gehemmt ist. Wir nennen es dann nicht Zorn, ὀργὴ, der immer aufs Selbstische geht, und nennen es Unwille, θυμός. Beydes hat also seinen Grund in der Verschiedenheit der Natureinwirkungen und der Einwirkungen von der Menschheit aus; letztres muß also im Gattungsbewußtseyn seinen Grund haben, weil es nicht auf Naturursachen, sondern auf freye | Ursachen geht. Findet es sich auch bey Naturursachen, so beruht es auf Personificationen der Naturzustände. Betrachten wir dieses Moment näher, so entsteht die Frage: Denken wir uns den Gemeinsinn in Beziehung auf ein bestimmtes Ganze vom menschlichen Seyn, und es entsteht eine Störung desselben von außen her, so fragt sich: Macht es einen Unterschied, ob ich dieß beziehe auf eine persönliche selbstische Handlung eines andren, oder auf die Handlung eines andren als Theil eines Ganzen? Wir machen diesen Unterschied gewöhnlich nicht, aber es fragt sich: Sollten wir ihn nicht machen? Der Einzelne, wenn er als Theil des Ganzen handelt, handelt doch mit größrem Recht, als wenn er bloß für sich handelt. Dieß ist die reine Repräsentation des Sittlichen, wie wir es bezeichnet haben; sagen wir: ich kann ein größres Ganzes, das eine Gemeinschaft hemmt, nicht anders betrachten denn 13 der] die

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einen Einzelnen, so liegt darin die Forderung, daß kein andres Ganzes auf ein andres hemmend wirken solle. Betrachten wir diese Reihe, den Affect, die Gemüthsbewegung und dann die reagirende Thätigkeit, so liegt schon in dieser Reihe, daß die Wirksamkeit des reinen Gattungsbewußtseyns zuerst in dem Mittelgliede ist, im Affect und dann erst in der Gegenwirkung. Der Zorn gehört nicht hier hinein als ein rein Selbstisches; allein er hat doch seinen Grund darin, daß man dabey ein Unrecht voraussetzt, und der Zorn hat somit wenigstens dieselbe Genesis wie der Unwille. Liegt nun dieses Gebieth außer unsrer Classification, da es weder Receptivität noch Wirksamkeit nach außen ist? Wir haben noch einen Ort, wohin wir es beziehen können: wir nennen es Darstellung, und der Mittelzustand erscheint so, daß wir der Empfindung erst einen Raum geben für die Darstellung, ehe die reagirende Thätigkeit erscheint. Es gibt zwar einen Affect, der sich innerlich verschließt, aber dieß ist immer eine gewaltsam gehemmte Darstellung und es ist doch die Richtung auf die Darstellung. Zum Grunde liegt die Voraussetzung von der Kraft des Gattungsbewußtseyns das eben afficirt ist. Noch fehlt bey unsrer Darstellung das Religiöse und das reine Wohlgefallen und Mißfallen. Letztres hat eine Beziehung auf die objective Seite des Bewußtseyns, denn erst muß ich etwas aufgenommen haben, ehe ich von Wohlgefallen oder Mißfallen reden kann; aber es ist nicht das Erkennen selbst, Gewißheit oder Ungewißheit. Zwar ist eine Analogie mit jenem da, weil es das objective Bewußtseyn auch begleitet, aber es ist nicht so bestimmt ein Selbstbewußtseyn wie Gewißheit und Ungewißheit; jenes Wohlgefallen und Mißfallen haftet immer an einem Gegenstand, die Gewißheit und Ungewißheit aber ist rein in mir. – – Abstrahiren wir beym Religiösen von allem Zusammengesetzten und fassen es in seiner Einfachheit, so gehört es doch in jenen Raum, wo wir auch das Selbstbewußtseyn und die Gemüthsbewegung zu finden haben; aber es hat seinen Ursprung nicht in Naturbeziehungen und nicht in Geselligen Beziehungen. | Sagen wir: es ist ein Bewußtseyn das einen dritten Gegenstand außer uns hat, sc. Gott, ein höchstes Wesen, so müssen wir erst fragen: Woher ist diese Erklärung? liegt dieß so unmittelbar in der Erscheinung, die wir so nennen, oder ist es erst geworden aus der Erklärung derselben? Es käme also darauf, ob wir ein Wissen von diesem Gegenstande haben, und ob erst nachher aus dem Wissen das entsteht, was wir das Religiöse im Gemüthszustande nennen? Dann muß die Erkenntniß in demselben Subject sein, wie der Gemüthszustand, und man muß auch nachweisen, wie jene Erkenntniß entstehe. Was wir als religiösen Gemüthszustand betrachten, erstreckt sich aber viel weiter, als alles Wissen um diesen 24 Gewißheit] Gehwißheit

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über alles hinausgehenden Gegenstand, und somit können wir jenes nicht aus diesem erklären, und so ist die Thatsache des innren Bewußtseyns viel weiter, ja auch ganz verschieden oft von der Erkenntniß, und postulirt also eine ganz andre Erklärung.

[43. Stunde] Es bleibt uns also noch übrig das Ästhetische oder Wohlgefallen am Schönen; es hat eine Ähnlichkeit mit der Überzeugung, und wir nennen gewöhnlich die Triplicität: Das Gefühl des Wahren, Guten und Schönen. Erstres ist die Gewißheit der Überzeugung. Das Zweyte ist die Bestimmtheit des Einzelwesens durch das Gattungsbewußtseyn. Das Gefühl des Schönen wenden wir an bey Gegenständen der Natur, der menschlichen Gestalt und noch tiefer hinein. Wo fängt es an in Absicht auf die äußre Natur, unterschieden vom Gefühl des Wohlbefindens? Es kann nicht eher entstehen, als bis wenigstens der Proceß des objectiven Bewußtseyns bis zur bestimmten Auseinanderhaltung der Bilder fortgeschritten ist; was Gegenstand des Wohlgefallens ist, ist dann entweder ein Einzelnes oder ein Complex von Einzelnen. Sieht man einen Fruchtbaum blühen, so ist dieß kein reines Wohlgefallen, sondern hat etwas Selbstisches. Anders ist es mit dem Wohlgefallen an einem schönen Baum; hier ist kein Selbstisches, z. B. bey einem Waldbaum, wo gewiß niemand an das schöne Feuer im Ofen denkt. Das Wohlgefallen beruht darauf, daß der einzelne Gegenstand in einem nahen Verhältnisse zum allgemeinen Bilde, das in uns entstanden ist, steht; und die Differenz der einzelnen Dinge derselben Gattung in dieser Beziehung erfordert noch eine besondre Auseinandersetzung. Das Einzelne ist ein ausschließendes Product der Naturthätigkeit, die durch das allgemeine Bild repräsentirt wird. Bey jeder Thiergattung denken wir an eine Naturkraft, die sie producirt und reproducirt; betrachten wir das Einzelne, so steht das Werden desselben zugleich auch unter andren Bedingungen, die der Entwicklung förderlich und hinderlich seyn können. Sind die Abweichungen des Einzelnen vom allgemeinen Bilde, so erregt dieß ein Mißfallen an einzelnen Dingen. Der Wahrheit der Sache schadet dieß nicht, auch mit dem Guten hat es nichts zu schaffen. Ist die Abweichung ein Maximum so nennen wir es verkrüppelt, häßlich, alles in Beziehung auf das allgemeine Bild. Die Hemmung oder Förderung unsres selbstischen Lebenszustands hängt damit gar nicht zusammen. – Aber wie sind wir zum allgemeinen Bilde gelangt? | 9 die] das

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Es liegt jenseits der Erinnerung und Sprache, aber diese Bilder sind nur entstanden durch Selbstthätigkeit, die Wirkung des einzelnen Bildes auf die Organe ist nicht zugleich das Entstehen des allgemeinen Bildes, sondern es ist ein Product der Selbstthätigkeit, und nur so kann es fortbestehen. Verschwinden einmahl plötzlich alle Exemplare des allgemeinen Bildes und es kommen nur abnorme zum Vorschein; so wäre das allgemeine Bild in Gefahr verloren zu gehen, weil es nicht mehr reproducirt wird. Ist diese Thätigkeit eine besondre Lebensfunction, so finden wir eine Beziehung auf unsren Lebenszustand, nicht eine selbstische, sondern auf das Gattungsbewußtseyn, denn es ist wesentlich, daß diese Bilder in allen dieselben seyen. Halten wir dieß Moment fest, und ziehen noch dazu, daß es sich zugleich handelt um die Art und Weise einer Naturthätigkeit in verschiedenen Zuständen, so ist gewiß: wenn die Fälle der Abweichungen überwiegend wären, so ginge das Bild verloren; und ebenso würde auch das Bestehen der Naturkraft gefährdet, und [sie] hört auf dieselbe zu seyn. Es ist also eine Beziehung auf die menschliche Gattungsfunction, und zugleich auf das äußre Seyn; und das Mißfallen ist beydes, Wahrnehmung des defecten Zustands des Seyns und dieser Function; beyde werden als Eins gesetzt. Es ist zugleich die Theilnahme, Mitgefühl am unvollkommenen Zustande des äußren Seyns, das über das Menschliche hinaus geht. Dieses Abweichende aber in allen Gattungen ist nur das Seltene, und dieß dämpft das Mißfallen durch das Überwiegen des Gewöhnlichen. Das Vorherrschende ist das, worin wir nur in geringerm Grade das Mitwirken von andren auf das Entstehen des Dings aus seiner Gattungskraft sehen. Aber eben so selten wie jene Abweichungen sind die einzelnen Gegenstände, die ganz mit unsrem Bilde übereinstimmen: dieß ist dann das positive Wohlgefallen. Es ist eine wohlthuende Affection unsrer zusammenfassenden Thätigkeit und zugleich ein wohlthätiges Mitgefühl mit der reinen Thätigkeit der Naturkräfte. – Wenden wir dieß an auf die menschliche Gestalt, so ist die Schönheit ebensowenig das Gewöhnliche als die Abnormität; letztre ist immer die Wirkung fremder Potenzen auf die Naturkraft. Doch was auch nicht gerade als Abnormität erscheint, erfüllt doch nicht ein solches Maaß adäquater Erscheinung, daß es das positive Wohlgefallen erregt. – Allein nun gibt man allgemein zu, daß die Urtheile über das Einzelne nicht bey allen Menschen dieselben sind, mithin außer dem Gattungsbewußtseyn zu liegen scheinen. Viele Orientalische Völker haben einen ganz andren Typus einer schönen menschlichen Gestalt als wir; daraus könnte man schließen, es könne dieß nicht dem Gattungsbewußtseyn angehören; weiter können wir sagen, daß auch der Eindruck andrer Gegenstände nicht bey allen derselbe ist. Hier müssen wir wieder auf die Art zurückgehen auf die Bildung dieser Bilder

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und die Art und Weise, wie das menschliche Geschlecht verschieden existirt. Wie wir beym einzelnen Menschen in seinem persönlichen Wohlgefallen | auf die Zeit der Kindheit zurück gehen müßten, so bey diesem Gattungsgefühl auf die ursprüngliche Bildung und Lebensart eines bestimmten Volkes unter einem bestimmten Clima. Dieses Bild nun setzt sich fest in dem bestimmten, abgeschlossenen Volke, daß der Zusammenhang desselben mit andren Völkern dagegen als untergeordnet erscheint. So ist die Verschiedenheit der Bilder natürlich. Indeß wäre diese Thätigkeit des Gattungsbewußtseyns erst dann vollendet, wenn ein Bild entstünde, das alle Volksdifferenzen in sich aufnähme. Eben so ist es mit den Bildern der äußren Natur, die auch zusammen hängen mit dem Wohnen eines Volkes unter bestimmten Naturverhältnissen, und auch dieß sollte aufgehoben werden. – Dieß führt auf den Begriff Geschmack: wenn einer anders über die Sachen urtheilt als andre, so sagen wir: er hat einen besondren Geschmack, d. h.die Bilder haben sich bey ihm auf eine besondere Weise festgestellt. Je mehr dieser Geschmack abweicht in einem Volke, desto mehr fehlt ein allgemeiner Nationalgeschmack. Dieß geht auch auf die Kunstproductionen, aber diese, als Selbstthätigkeit, gehören noch nicht hieher, doch ohne einen allgemeinen Nationalgeschmack gibt es keine allgemeine Kunstproduction. – Dieß war nur eine Erklärung am Einzelnen; aber es gibt auch ein Wohlgefallen an einer Zusammenstellung, z. B. Gegend, Natursonne. Kommt in einer solchen Zusammenstellung Einzelnes Abnormes vor, so verringert dieß das Wohlgefallen an der Zusammenstellung zwar, aber doch ist dieß etwas andres. Auch im menschlichen Gebiethe finden wir dieß, ein Wohlgefallen an der Zusammenstellung menschlicher Gestalten, dieß sehen und sahen die Mahler überall. Dieß ist keineswegs bloß das zusammengerechnete Wohlgefallen an Einzelnen. Wir sind gewohnt, als zusammengehörende Begriffe zu betrachten, und doch zu scheiden das Wohlgefalleln am Schönen und das am Erhabenen. Dann sagt aber doch jeder, daß das Wohlgefallen am Erhabenen nicht sowohl im einzelnen Gegenstande als in der Zusammenstellung liege. Ist dieß aber aus demselben Princip zu erklären wie das Wohlgefallen am Einzelnen?

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[44. Stunde] Wohlgefallen am Schönen? Es bezieht sich auf das Einzelne, doch gibt es auch ein Wohlgefallen an Zusammenstellungen. Aber wie steht es mit einer schönen Gegend? oder mit einem Berge? Darauf können wir 16 ihm] ihm bey ihm

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nicht bestimmt antworten. Eben so nicht auf die Frage: Was ist das Wohlgefallen an Kunstwerken? Die Antwort geht für uns aus der Kunstthätigkeit hervor. Die ganze Frage reducirt sich also in ihrer bestimmten Fassung nur auf das Menschliche. Es ist mit dem Wohlgefallen aber der Naturschönheit bey verschiedenen Menschen und in verschiedenen Zeiten verschieden z. B. das Alterthum ist ein Minimum von unserer Zeit. Die Schönheit wurde reducirt auf eine höhere Potenz des Lebens und Götter mußten die todten Naturkräfte beleben, also konnte der Sinn für Naturschönheiten sich nicht unmittelbar aussprechen. Sehr viele, selbst poetische Naturen haben gerade für die Natur keinen Sinn, sondern lassen sich nur vom Menschlichen afficiren. Wir müssen hier auch auf den Begriff des Lebendigen zurückgehen. Auf wissenschaftliche | Anschauung kommt es nicht an dabey, sondern es ist die allgemeine Zurückführung, die bestimmt besteht zwischen Raum und Zeit, die wir immer auf einander reduciren; das ist der reine Gesetz des Innern. Ein zweyter Punct ist der, daß die äußre Natur von uns immer aufgefasst wird in Beziehung auf den Menschen. Wie stellt sich hier die Abstufung? gibt es bey Zusammenstellungen auch ein Mißfallen, oder ist es nur ein mehr und weniger. Die Beziehung der Natur auf den Menschen führt auf ersteres. Denken wir uns eine größre Naturzusammenfassung, die den Eindruck macht, daß da für den Menschen gar nichts zu thun sey, so muß dieß ein Gegenstand des Mißfallens werden. Ein einförmiger und steriler Raum, Wüste, hat ein positives Mißfallen; als Mangel des Wohlgefallens ist es die Einförmigkeit, als Mißfallen aber ist es ein Verzehren von menschlichen Kräften, wenn die darauf gerichtet werden. Es ist dieß nicht dasselbe was man als Wohlgefallen an der Musik ein geheimes Zählen genannt hat, das sich aber beym Umgewichten gar nicht findet. Die Beziehung der Natur auf den Menschen aber ist eine absolute Norm, die jedem gegenwärtig ist: eine Angemessenheit der Natur für die Kräfte des Menschen. Man könnte zwar sagen, dieß gehe auf den Nutzen; allein es ist nicht die Beziehung auf einen bestimmten Zweck und auf einen bestimmten Gegenstand. Man muß Einförmigkeit und Sterilität als wesentlich zusammengehörig annehmen beym positiven Mißfallen. Es ist das Lebendige, durch den Menschen Bewegliche nach allen Seiten, Beziehung auf den Menschen und Mannigfaltigkeit in den Dingen selbst. Man sagte auch, dieses Wohlgefallen sey bestimmt durch die Einheit in der Mannigfaltigkeit und der Mannigfaltigkeit in der Einheit. Allein dieß findet sich ja überall und es gab gar kein Mißfallen. Bey unsrer Erklärung aber ist die Einheit im Einen, die Mannigfaltigkeit im Andren. Je mehr letztre die Einheit zugleich mit erreicht, und die Einheit in der Mannigfaltigkeit erscheint, desto vollkommner wird das Wohlgefallen. Es ist z. B. ein

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Aberglaube, für jede Gegend Wasser zu verlangen, da doch Mannigfaltigkeit und Einheit da seyn kann ohne Wasser. Ganz recht aber hat man, es zu verlangen bey unsrer Erklärung, da das Wasser eine Hauptbedingung des menschlichen Lebens und Wirkens ist. Eben so ist es bey einer unübersehbaren Wasserfläche [da] wird von einem reinen Wohlgefallen keine Rede seyn; auch hier fehlt nicht nur die Mannigfaltigkeit, sondern das ganze andre Glied des Gegensatzes. Also könnte man sagen, wo Starres und flüssiges ist, und beydes belebt und mit leblosem Wechsel, da muß überall Wohlgefallen seyn? Allein so stellt sich die Sache nicht; trotz allem dann kann das Wohlgefallen fehlen. Zuerst müssen wir uns denken ein Mehr und Minder des Wohlgefallens, und man kann von jedem fordern, daß jeder in der Natur bey diesem Zusammenseyn in Wohlgefallen sey, nur ein Mehr oder Minder. Aber diese Elemente sind ja überall? Es ist zwar immer die Rede von Zusammenstellung, aber es muß doch auch ein abgeschlossnes Bild, ein Bestimmtes seyn; und man kann sich in weiten Distanzen in der Natur bewegen, aber bis | man zu einem solchen abgeschlossnen Bilde kommt, fehlt das positive Wohlgefallen; nur da sagen wir, wir sehen eine Gegend, und es bildet sich ein Mehr und Minder des Wohlgefallens, bis dieß abgeschlossene Bild, als Einheit der Zusammenstellung erscheint, sind wir immer im Suchen. Wenden wir dieß an auf das Menschliche und das Wohlgefallen und Mißfallen der Zusammenstellungen, so ist das Ansehen eines bloßen, unordentlichen Gedränges kein positives Wohlgefallen am Schönen; wohl können wir uns freuen über die Masse des Lebens; aber es ist bloß Mannigfaltigkeit und keine Einheit. Wollten wir analysiren, so fänden wir wohl mehr Gegenstände des Mißfallens als des Wohlgefallens. Bey einem positiven Wohlgefallen müssen wir Beziehungen des einen Menschen zum andren finden, und erst wenn es so ist, daß sich ein gegenseitiges Verhältniß z. B. des Verstehens der Bewegung, daraus entwickeln kann, haben wir ein positives Wohlgefallen dem Stoffe nach: die Leichtigkeit des Zusammentretens zu einer Einheit des Lebens. Wo dieß fehlt, ist ein positives Mißfallen, Gefühl des Bedrängtseyns. Unterschied zwischen dem Schönen und Erhabenen. Diese Zusammenstellung und Unterscheidung ist ganz modern, im Antiken war vom Erhabenen nur die Rede im Gebiethe des Menschlichen. Dieß ist dann aber ein rein Intelligentes; in der menschlichen Gestalt an sich gibt es in dieser Beziehung keine Erhabenheit. Der Olympische Jupiter war erhaben, weil er über die menschliche Gestalt hinaus ging, die schöpferische Kraft darin feststellte. Das Erhabene ist immer nur die schöpferische Kraft, das Andre Bewegende, und Forttreibende. 28 Wohlgefallen] Wohlgefallens

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Wir sind also dabey in einem Zustande der Passivität. Hat man dieß nun auf die Natur zurück geführt, so ist es auch dieses Beziehen des Vorhandenen auf das Werden und auf eine unendliche Kraft bey der Schöpfung. So wie ein Solches durch Verwitterung leidet, z. B. ein ungeheurer Fels, oder aber er ein Steinbruch geworden ist, dann verschwindet der Eindruck des Erhabenen, und nur die Vergleichung der kleinen menschlichen Gestalt dagegen kann dieses Fehlen wieder ersetzen. Dieß ist wieder eine Vergleichung ganz andrer Art, doch auch hier ist es wieder ein Product des menschlichen Geistes; und das rein Intelligente liegt außer unsrer Betrachtung, und also das ganze Gebieth des Erhabenen, das mehr auf die Seite des Religiösen hin liegt.

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Noch bleibt uns in Absicht auf das Selbstbewußtseyn das Religiöse übrig; die Bestimmung darüber ist sehr schwierig; wir finden uns auf einem sehr allgemeinen Standpuncte, und haben es allgemein mit der menschlichen Seele zu thun, abgesehen von Ort und Zeit, auf der andren Seite aber auf einem besonderen Standpuncte, da wir es rein mit dem Selbstbewußtseyn zu thun haben, mit Momenten eines innren Zustands, ohne daß diese eine Reihe bilden. Wir sind gewohnt, hier Wahres und Falsches zu unterscheiden, allein hier kommt es uns nicht darauf an, wir suchen nur die Function, nicht die Differenzen. Eine andre schwierige Unterscheidung ist Religion und Superstition. Wie wollen wir also unser Gebieth fixiren? Die verschiedenen Abstufungen, die wir schon | im Selbstbewußtseyn fanden, waren: das erste, das physische Selbstbewußtseyn im rein sinnlichen Gebiethe als gehobenes oder gehemmtes Leben; da stand uns das Einzelnwesen allen andren gegenüber als solches; wir konnten diesen Momente ergreifen noch vor dem Ichsagen, vom ersten Lebensaugenblicke an. Damit war aber immer verbunden eine Reaction, abgesehen von der Manifestation; jene zeigt sich am stärksten auf der vegetativen Seite der Lebensfunctionen, bey Hemmungen. – Wir stiegen dann weiter hinauf, indem wir das Gattungsbewußtseyn zuzogen, die Anerkennung des Menschlichen im Gegensatz zu allem andren; auch hier fanden wir verschiedene Bestimmtheiten, aber besonders den Gegensatz des Gattungsbewußtseyns und des Einzelnbewußtseyns; beyde können in einen Conflict mit einander gerathen. – Noch weiter gingen wir auf die Bestimmtheit des Selbstbewußtseyns als Wohlgefallen an Gegenständen der Natur. Aber was ist dann hier das bestimmte Selbstbewußt26 gegenüber] Gegenüber

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seyn? sagen wir das persönliche, so kann dieß allerdings so bestimmt seyn, wenn die Gegenstände in Beziehung stehen mit dem persönlichen Daseyn; allein dann ist es ein interessirtes Wohlgefallen, nicht ein Wohlgefallen an den Gegenständen selbst. Allerdings können wir es auf das Persönliche beziehen, indem der Geist seine Bilder in der Natur vollkommen zu finden sucht; dieß ist eine Lebensförderung; entstehen die Dinge diesen Bildern nicht, so ist es eine Lebenshemmung. Auf dem menschlichen Gebieth sind wir uns schon bewußt geworden des Identificiren mit Andren, d. h. des Mitgefühls, insofern der andre mit uns ein Ganzes constituirt, ein Klares oder ein Größres z. B. Familie und ganze Menschheit. Zwischen beyden haben wir eine große Reihe von Stufen für diese Identification, aber alle beruhen auf dem menschlichen Gattungsbewußtseyn. Im Wohlgefallen an einem Gegenstande ist nicht nur das Wohlgefallen an einer Thätigkeit darin, sondern ein Wohlgefallen an seinem Seyn, analog mit dem Mitgefühl. Setzen wir dieses Wohlgefalllen am Menschlichen am Anfang einer Reihe von Thätigkeiten, dann hört die Analogie mit dem Wohlgefallen an der Natur auf. Lassen wir jenes aber fallen, so wissen wir, daß wir uns in das Seyn der Natur hineinsetzen können, so wie wir es als Lebendes setzen; hier also gibt es ein Übergreifen des Mitgefühls für die Gattung auf alles Leben. – Das Erhabene ist der Eindruck einer Kraft auf uns in ihrer Function oder in ihren Resultaten. Dazu gehört freylich schon eine ziemliche Bildung z. B. bey einer steilen Felsmasse muß ich mir dazu denken können, wie dieß so geworden ist; doch dieser Ausdruck des Erhabenen kommt auch nur vor, wo die Natur aufgefaßt wird von der Seite der Kraft und des allgemeinen Lebens. Worin beruht das Specifische beym Eindruck des Erhabenen? Es ist eine Kraft, gegen die die menschliche Kraft verschwindet, und dieses Bewußtseyn verbunden mit der Sympathie mit der gestaltenden Kraft ist das Specifische für diese Eindrücke. Werden wir uns bewußt, daß es Eindrücke gibt, bey denen eine Kraft verschwindet gegen andre, und wo ich doch diesen Eindruck suche und will, so ist dieß | nur so als Lebensförderung empfunden worden, wenn ich mich mit dem Gegenstand identificire. Es ist also in der menschlichen Seele nicht nur das Gattungsbewußtseyn als Selbstbewußtseyn, sondern wenn sie alles andre Seyn hervor rufen kann durch Bild und Begriff so hat sie auch hiefür Sympathie; Was ist aber hier das erweiterte Seyn wie beym Gattungsbewußtseyn das Menschseyn? Das sich selbst als getheilten Seyns bewußtseyn. – Dabey nun können wir nicht stehen bleiben, bey dem auf alles Endliche ausgedehnten Bewußtseyn. Was sich nun noch 38–39 Zusatz Nachschrift Iffland, S. 122: „d. h. als identisch mit allem andern was als dasselbe gesetzt wird; zugleich ist es von allem andern unterschieden;“

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anschließt erweiternd, das ist eben das Religiöse. Getheiltes Seyn und endliches Seyn nahmen wir vorhin gleichbedeutend; da alles getheilte Seyn einander entgegen gesetzt ist, ist es begrenzt und endlich. Der Mensch findet sich zuerst als reines Einzelwesen, und betrachten wir diese Function schon in den ersten Momenten des Daseyns, so kann sie sich nur mit den andren Functionen aus dem Chaotischen entwikkeln. Der Mensch findet sich zuerst, anderen gegenüberstehend, dadurch gefördert und gehemmt, in einer entgegengesetzten Bestimmbarkeit, aber auch dagegen reagirend. Nun aber haben wir gesagt, er finde sich auch mit allem andren Seyn identisch; also: der Mensch findet sich als alles getheilte Seyn in sich tragend, und sich mit diesem identisch. Ist hier nun möglich eine solche Entgegensetzung wie beym unmittelbaren Selbstbewußtseyn zwischen gefördertem und gehemmtem Leben? Wir haben das Selbstbewußtseyn immer unter dieser Entgegensetzung; denken wir uns das reine Menschheitsbewußtseyn, da ist noch eine Möglichkeit diesen Gegensatz aufzustellen, die menschliche Gattung steht der Natur gegenüber. Ist aber der Mensch auch identisch mit der Gesammtheit alles Seyns, so weit unsre Weltkenntniß geht, so fragt sich: ist ein Selbstbewußtseyn in dieser Erweiterung möglich? Ja, aber nur, insofern jener Gegensatz auch der ist, der auf dem Mitgesetztseyn eines andren beruht. Wenn es also auf unsrem Punct kein Mitgesetztseyn eines Andren gäbe, so gäbe es für diese Identification kein wirkliches Selbstbewußtseyn. Was ist denn in seinen allgemeinsten Beziehungen das, was wir allgemein als religiöses Bewußtseyn setzen? Eben das, daß wir noch ein andres setzen, das jenen Gegensatz fixirt; es muß etwas seyn, das nicht zur Gesammtheit des getheilten Seyn gehört, aber das Gesammtbewußtseyn desselben bedingt. Ist eine solche Richtung in der menschlichen Seele, so erscheint dieß nicht mehr als subjectives Bewußtseyn sondern als objectives. Die Richtung auf ein solches ist immer das Product der Richtung auf die allgemeine Erweiterung des Selbstbewußtseyns. Dieses andre nun kann diese Aufgabe nur dann lösen, wenn es so ist, daß der Mensch nicht dagegen reagiren kann, wenn er es kann gegen alles getheilte Seyn; im Polytheismus war dieses Andre wieder getheilt, und der Mensch konnte reagiren gegen die einzelnen Theile, also war dadurch die Aufgabe nicht gelöst, aber dennoch war es ein Religiöses, weil es da war um der Erweiterung des Bewußtseyns willen auf alles getheilte Seyn. |

[46. Stunde] Es könnte scheinen, als ob so die Thatsache des religiösen Bewußtseyns eine doppelte wäre, die Identificirung mit dem getheilten Seyn

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und die Erweiterung über das Seyn hinaus; allein beydes ist dasselbe und kann nur mit einander bestehen. Zuerst fragen wir, ob eine solche Erweiterung des Selbstbewußtseyns über das Gattungsbewußtseyn hinaus etwas Wahres oder nur etwas Hypothetisches in der Seele sey. Hier kommen wir zurück auf die Vergleichung des subjectiven und objectiven Bewußtseyns. Letztres fängt an mit den chaotischen Eindrücken, schreitet dann fort zur Sonderung in die einzelnen Bilder; diese werden dann wieder Collectivbilder, die in die Gedanken und Begriffe übergehen. Hier haben wir also die Form, wie alles getheilte Seyn zum objectiven Bewußtseyn wird. Auch das Gattungsbewußtseyn, objectiv betrachtet, fängt an mit der Unterscheidung des Menschlichen überhaupt, so daß nun alles andre nicht mehr dem Einzelnen, sondern dem Begriff Mensch gegenüber gestellt wird. Bey diesem getheilten Seyn nun aber sind wir immer geblieben; aber nach der Analogie, die die einzelnen Bilder in allgemeine umsetzte, haben wir nun auch hier die Aufgabe alles Einzelne in einem allgemeinen aufzufassen. Jene Gesammtheit fassen wir im voraus zusammen im Begriff Welt, die uns zwar immer erst wird, nie vollkommen da ist. Dieß ist eine Anticipation, entwickelt sich aber nothwendig von innen heraus. Das andre ist der Gedanke des Seyns überhaupt, der aber nicht als Totalität gedacht wird, sondern nur als das in allen Gesonderte selbstige; das Eine aber ohne das Andre kann nicht seyn; das Seyn ist so wenig wahrnehmbar als die Welt. Nehmen wir beydes zusammen und wollen es als das höchste setzen im objectiven Bewußtseyn, so ist es immer möglich bey einer solchen Zweyheit stehen zu bleiben. So lange wir diese beyden so sondern, so fehlt uns überall das Letzte; von dem Seyn ist keine Nothwendigkeit zu der Totalität zu kommen, wenn nicht von außen her die Differenzen gegeben werden; also ist es immer der erste Anfang, weil nichts daraus herkommen könnte. Eben so wenn wir uns denken, wir hätten von den Differenzen aus die Richtung auf die Totalität genommen, auf die Welt, so würde keine Nothwendigkeit seyn, von der Totalität der Differenzen aus auf den Begriff des Seyns als Grundlage zu kommen; also beydes bleibt gesondert. – Was müßte denn aber das endliche Letzte seyn? das, worin dieses beydes Eins seyn sollte und das Auflösen der Sonderung beyder in sich schlösse, müßte ebenso außer der Welt wie außer dem Seyn seyn. Das war die Form, unter der diese Richtung von Anfang an verfolgt wurde, um auf den letzten Schlußstein des objectiven Bewußtseyns zu kommen. – Nehmen wir dieß so, und gehen auf das subjective Bewußtseyn zurück, so ist die Parallele zwischen beyden vollendet; dort finden wir dasselbe aber nur unter der Form des Selbstbewußtseyns, das einzelne Ich setzt sich bestimmt durch dieses. Das Sichidentificiren mit dem Seyn eben ist parallel mit

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dem, daß wir Welt und Seyn gleich nothwendig denken müssen, können aber dabey nicht stehen bleiben. Die Parallele ist auf alle Weise vollständig, und so gewiß wir das Bewußtseyn in dieser Theilung haben, muß auch jeder Theil so analog fortsetzen bis zum letzten Schluß. Aber kann nun dieser letzte Schluß auf dieselbe Weise gedacht werden, wie das andre Seyn? Nein. Ebenso | kann das Selbstbewußtseyn das über die Identifizirung mit dem Seyn hinaus fällt, unter derselben Form des Gegensatzes sich gestalten, wie dieses subjective Selbstbewußtseyn? Nein. – Von der objectiven Seite aus haben wir es nur in der Besinnung über das Seyn als nothwendig allem Denken zum Grunde liegend; eben so beym subjectiven Selbstbewußtseyn haben wir es nie an und für sich, sondern immer nur mit allem andren Selbstbewußtseyn zusammen in sofern dieses die innerste Durchdringung ist. Wir lassen uns nun zugeben, daß diese Erweiterung des Selbstbewußseyns über die Identificirung mit der Welt hinaus nothwendig sey, und wir kommen zum Bewußtseyn davon eben nur durch diese Nothwendigkeit. – Gehen wir zurück auf die allgemeine Relation zwischen dem Denken als der allgemeinen psychischen Thatsache und dem Seyn als Gegenstand des Denken, so müssen wir uns fragen: Wollen und können wir dieses als die Aufgabe und Function des menschlichen Geistes als etwas Fragmentarisches und Zufälliges denken, oder als etwas Erschöpfendes, mit dem Aufgehen des Einen in das andere? Sagen wir erstres, so geben wir es auf, eine Forschung über dieses aufzustellen, denn jede wäre Null und nichtig; jede solche Antwort würde uns nöthigen, jede solche Frage aufzugeben, denn in einem Zufälligen ist kein Gesetz. Also ist es etwas Erschöpfendes. Ebenso müssen wir sagen, daß unsre Aufgabe für die Form unsres Seyns nicht vollendet wäre ohne daß wir fortschritten bis auf diesen Punct. Freylich dieses Letzte über die Differenz und Abstraction hinausliegende können wir nie als einen Gedanken für sich allein haben, wie die Differenzen, und eben so wenig können wir es subjectiv nicht für sich allein haben, weil es nicht unter den Gegensatz der Wechselwirkung fällt. Also ist darin der Gegensatz von subjectivem und objectivem Bewußtseyn, Erkennen von etwas und Sichbestimmtwissen, aufgehoben; es repräsentirt nie das objective und nie das subjective Bewußtseyn allein, sondern nur das Beyden zum Grunde Liegende. Wollen wir nun auch sagen; nach allem, was in dieser Art Differenz ist, können wir hier nicht fragen, so frägt sich weiter: Wenn wir dieß nie für sich haben, sondern immer nur an dem andren, so müßte 29 fortschritten] fortgeschritten

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eigentlich nachgewiesen werden, daß wir es am andren immer haben, sonst könne es ja nur in einzelnen Fällen als ein Andres hinzu. Also wir haben die Gewißheit, daß dieses Letzte eine Nothwendigkeit ist, wenn die Gesammtheit aller psychischen Thatsachen nicht etwas Fragmentarisches und Verworrenes seyn soll; allein vorausgesetzt wir dieß nie können als ein Getrenntes und Besondres haben, wie können wir es dann irgendwie im Bewußtseyn haben, da wir es ja nie bekommen können, denn so wäre es etwas Besondres. Also dieß führt auf die Voraussetzung, daß es überall ist, d. h. es gibt keinen Moment des menschlichen Bewußtseyns in dem nicht auch dieses zugleich läge. In jedem sind wir uns bewußt als identisch mit allem Seyn und in Verbindung mit etwas über die Wechselwirkung hinaus; freylich ist auch hier das Sondern ein allmähliges, so daß wir es im Bewußtseyn immer mit dem andren haben, aber erst allmählig sich sondernd. | Wir haben es daher aufzusuchen und nachzuweisen selbst in seinen unvollständigsten Äußerungen, doch dieß ist erst möglich, wenn wir die Elemente alle beysammen haben. Dieser Parallelismus ist aber nicht im Bewußtseyn immer beysammen, oder nie, aber wir in der Darstellung müssen es so geben, da wir nicht von einzelnen Momenten sprechen können. So geht der Parallelismus noch weiter als wir sagten. Wir sagten, die Bestimmtheit des Bewußtseyns, das sich über das ganze Getheilte Seyn verbreitet, haben wir nie allein, sondern immer in und mit einem andern. Niemahls füllt eine einzelne Function einen Moment so aus, daß alle andern Null werden; das Leben hätte keine Continuität, sondern wäre atomistisch; also tritt immer Eine Function nur stärker heraus als die andere. In der Reflexion des Selbstbewußtseyns kommen zwar solche Täuschungen vor, daß wir in einem Momente von Einer Function erfüllt uns scheinen, allein es ist eine bloße Täuschung.

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[47. Stunde] Die Sache selbst können wir noch nicht ganz übersehen, es fehlt uns noch alles, was die freye Selbstthätigkeit voraussetzend als Rückwirkung wieder freye Thätigkeit wird. Die Art, wie diese Selbstthätigkeit im Ethischen ist, liegt ganz auf der Seite der Spontaneität, die noch vor uns liegt. Mehr oder weniger ist in allen Menschen eine Richtung, diese Bestimmtheit des Selbstbewußtseyns mit den übrigen zusammen zu haben. Wenn es aber absichtlich hervorgebrachte Vereinigungen gibt, dieses Bewußtseyn gegenseitig zu wecken und mitzutheilen, so 1 immer] doppelt unterstrichen

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ist dieß schon ein Maximum, das eine freye Selbstthätigkeit hervorrufen will. Als Minimum aber finden wir sie bey allen, bey denen die Sonderung der Functionen schon bestimmt gesondert sind. Wenn wir das, was wir Naturgefühl nennen können, bey uns betrachten, das freylich bey Verschiedenen verschieden ist, worin schon die Sympathie mit dem allgemeinen Leben das Characteristische bildet, so ist eben immer darin ein Trieb, über das Sichtbare hinaus zu gehen. Wenn man oft darüber gestritten hat, was hier das Ursprüngliche sey, die Bestimmtheit des Selbstbewußtseyns oder der Gedanke, so verwechselt man beym Letzten oft 2 ganz verschiedene Thatsachen. Auf der Seite des objectiven Bewußtseyns ist eben diese Richtung, den Gedanken Welt und den Gedanken Seyn aufzuheben in Einem Gedanken, aber diese Richtung ist auch in allem, was als objectives Bewußtseyn Erkennen und Wissen ist. Hier finden wir alles bezogen auf den allgemeinen Gedanken Welt und auf die Grundlage derselben[,] das Seyn; ohne diese Puncte kommt gar kein Wissen zu Stande, sie sind bey allem, aber nicht im Bewußtseyn, sondern wir finden sie nur beym Werden des Bewußtseyns, aber immer finden wir da auch den Trieb, auf das Eine zurück zu gehen, und so ist dann der Parallelismus des subjectiven und objectiven Bewußtseyns in diesem Werke Eins. Nun gibt es aber wieder etwas davon verschiednes, ein Sichbesinnen über die Zustände des Selbstbewußtseyns das an sich kein Denken ist. Dieses Sichbesinnen ist ein andrer Proceß, als der ursprüngliche Proceß beym objectiven Bewußtseyn das Wissen werden will. – Wenn wir uns die Richtung auf das Transcendente wegdenken, so müssen wir uns auch alles wahrhaft Menschliche wegdenken. Z. B. können wir uns das Zugleichseyn des Einzelwesens als solches | und als Gattungswesen denken, ohne zugleich auch ein Hinausgehen auch über dieses hinzu zu denken? Nein, es liegt schon die Richtung zum Transcendenten darin. In Beziehung auf das Selbstbewußtseyn ist dieß so entschieden, daß wir uns fragen: Was ist der Unterschied im Selbstbewußtseyn von Menschen, die einen Gegensatz zu einander bilden? Das ist immer das Niedere, im Höhern aber sind sie Eins, und nur durch dieses kommen wir zu einer Einheit. Je beschränkter das Subject ist, desto dunkler freylich erscheint dieß, und je entwickelter, desto klarer. Dieß tritt immer hervor als ein Bestimmtseyn von außer dem Einzelwesen her, wogegen nicht zu reagiren ist; was Gegenstand für unsre freye Selbstthätigkeit seyn kann, muß nothwendig wieder ein Vereinzeltes seyn, wenn auch noch so sehr zusammen gefaßt z. B. jeder kann sagen, daß er reagiren kann auf das ganze menschliche Geschlecht, insofern seine freyen Handlungen sich auf dasselbe so beziehen, daß dadurch etwas in ihnen gesetzt wird; durch jenes Höchste aber sind wir absolut bestimmt, und können nicht dagegen reagiren.

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Wenn wir aber sagen, dieses Transcendente wirke unsre Selbstthätigkeit, so wird im Transcendenten nichts durch diese freyen Handlungen, sondern nur im Vereinzelten. Dieses Transcendente nun aber muß als ursprünglich und continuirlich im Bewußtseyn des Menschen gesetzt seyn, sonst wäre es nicht wesentlich für den Menschen. Dieses ist das natürliche Ende für die ganze bisher betrachtete Seite; denn so wie wir diese Seite der Receptivität bezeichnet haben als schon in den ersten Anfängen des menschlichen Lebens liegend, wie die Spontaneität, so haben sich uns vom ersten Augenblick an die verschiedenen Formen des Afficirtseyns gebildet im Leiblichen und Geistigen bis zur Gattung; schon in letzterm liegt etwas über das Einzelwesen Hinausliegendes, was oft jenes zurück drängt, und dieß ist eine Rückkehr auf den ersten Punct. Denn wenn ich auch glaube, in irgend einer Thätigkeit in einem Moment ganz aufzugehen, so ist es doch nicht richtig, sondern das andre zieht sich nur vor diesem Überwiegenden zurück; darin liegt der Gegensatz zwischen dem Klaren und dem Chaotischen; das Dominirende ist das Klare und Bestimmte, das Zurücktretende ist in diesem Momente das Chaotische, und so erscheint, wenn schon im ersten Moment das Einzelwesen durch die Gesammtheit afficirt ist, diese ganze Reihe von Zuständen nur als einzelne Puncte, die sich aus dem Chaotischen klarer hervorheben; das Bestimmte in dem Moment wird ein Größres, aber das chaotisch Zurückbleibende ist das Überwiegende; die Gesammtheit des getheilten Seyns nun im Momente finden wir zum Theil ausgesprochen im Gattungsbewußtseyn wiewohl nur von Einer Seite. Denken wir uns nun, daß das Transcendente so hervorträte als ein sich Isolirendes, so müßte das Subject mit der Gesammtheit des sinnlichen Seyns ins Chaotische zurück sinken; also ist jenes auch nie als Getrenntes da, sondern immer mitgesetzt als Menschliches bey allem Selbstbewußtseyn. Denken wir uns ein möglichstes Aufgehen des Subjects in einem Momente als Sensation ohne religiöse Mitbestimmtheit, so ist dieß schon ein Übergang | ins Animalische, denn das Menschliche findet eben in jenem seine Bewährung. So ist jeder Moment des Selbstbewußtseyns auch erfüllt von religiöser Bestimmtheit; und jede Bestimmtheit des Selbstbewußtseyns als unfähig, jenes Religiöse aufzunehmen, erscheint uns als etwas Wegzuschaffendes, Verworrenes; denn das Religiöse verschafft eben jedem Momente das Klare.

[48. Stunde] Alles, was wir unter Receptivität zusammenstellten, ging aus von einer Action, die dem Subject des psychischen Lebens von außen kam, alle

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freye Selbstthätigkeit aber ist eine Bewegung von innen nach außen. Nehmen wir aber die ganze Stufenfolge von Bestimmtheiten des Selbstbewußtseyns so sind in den ersten Momenten Receptivität und Spontaneität im chaotischen Zustande: weiterhin sonderten sich beyde bestimmter von einander. Noch weiterhin zeigten sich die Acceptionen der Sinne von außen her, auch der Eindrücke des Menschlichen. Dieses Wiederfinden im Gattungsbewußtseyn war als ein Affectionszustand anzusehen. Allein denken wir uns das Gattungsbewußtseyn wie wir es aufstellten, [als] das sich mit der menschlichen Gattung Identificiren, so ist dieß etwas andres, und kommt nicht mehr von außen her. Doch ist der Zustand selbst analog den Zuständen der Receptivität und wir können es doch nicht der Spontaneität zuschreiben. Dieß könnte nicht vorkommen, wenn nicht das Menschliche dem Einzelwesen entgegenträte, aber es ist die Richtung in jedem Individuum zu diesem Gattungsbewußtseyn zu gelangen; das Entgegentreten des Einzelnen also bewirkt dieß nicht sondern veranlaßt es nur. – Nun sagen wir, es gibt auch eine Gleichheit des einzelnen Subjects mit allem Vereinzelten Seyn, so ist auch dieß eine Prädetermination, denn das gesammte äußere Seyn stellt sich uns auch nie ganz dar, sondern nur einzelne Theile. Ohne jene ursprüngliche Anlage wird das Seyn nicht Bewußtseyn werden. Die Identification des Einzelnen mit dem Seyn ist dadurch bedingt, daß jeder Theil auf einen andern zurück weist, und wir das Seyn an sich nicht wahrnehmen. Auch dieß ist eine Prädetermination. – So kommen wir am Ende wieder auf den Anfang zurück: in dem, was den Character der Receptivität hat, aber nie aus einem Factum des Afficirtseyns zu erklären ist, erscheint wieder die Identität von Receptivität und Spontaneität wie im Anfang. Dieß bahnt uns den Weg zur freyen Selbstthätigkeit.

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Dazu haben wir die Grundzüge schon gelegt; das objective Bewußtseyn nach dem Geöffnetseyn der Sinne haben wir gleich anfangs so betrachtet, daß das Sichöffnen ebenso gut spontan seyn kann als auch eine Reaction durch äußren Anstoß. Dabey haben wir die allgemeinen Eindrücke der Sinne betrachtet ohne Sonderung. Was die Sinneseindrücke veranlaßt, kann nicht auch diese Sonderung veranlaßen, und also schon diese ist Spontaneität. Also schon von dem an haben wir die Spontaneität immer mit gehabt. – Ferner betrachten wir das Individuum wie es ans Licht tritt, so finden wir im Physischen schon die willkührlichen Bewegungen, die zuerst auch in ihrer Verworrenheit liegen, sie lassen sich ansehen als Reactionen zu sinnlichen Eindrükken, z. B. das Schreyen ist die Manifestation einer Bestimmtheit des

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Gemeingefühls, also eine Reaction. Dasselbe gilt auch von den Bewegungen der Gliedmaßen, sie sind Anfangs immer durch etwas hervor gerufen; innerlich | ist die Möglichkeit zu allen Bewegungen gleichmäßig, tritt also eine bestimmte heraus, so muß sie irgendwie bewirkt worden seyn, sey es nun ein Äußres oder eine innre Selbstthätigkeit. Dieß hat Veranlaßung gegeben zu folgender psychologischer Behauptung: Die Selbstthätigkeit als Lebensfunction ist gegen alle möglichen Bewegungen indifferent, wird also eine bestimmte wirklich, so muß ein bestimmender Grund hinzu kommen, der von der Lebensthätigkeit different ist. Da somit die innre Selbstthätigkeit immer dieselbe ist, und gegen alle Möglichen Änderungen sich gleich verhält, so kann man sie ganz aus dem Calculus lassen, und sagen, die Lebensbewegungen sind allein bestimmt von diesem Dritten Äußren. Dieß heißt aber die Selbstthätigkeit ganz aufheben. Geht man noch weiter, und sagt, der Mensch ist nur Etwas im Ganzen des Seyn, und was von ihm gilt, das gilt von allen andren; also bey der Untersuchung alles andren muß man das Wesentliche außerhalb des Gegenstandes sehen, alles ist Gegenseitigkeit in der Wirkung des Einen auf das Andre; so aber ist alles aufgehoben, das Seyn geht unten durch und es ist nur ein gegenseitiges Spiel der Dinge. – Wenn wir uns auch dieß im Allgemeinen gefallen ließen, so könnten wir es doch beym Menschen nicht denn wir haben schon angenommen, daß der Mensch als Einzelwesen das Princip eines eigenthümlichen Verlaufs in sich hat. Legen wir dieses zu Grunde, so können wir diese Einheit nicht mehr aus dem Spiele lassen, so daß die Menschen nur durch Ort und Zeit verschieden wä2 Gliedmaßen] Gliedmaßen sagen

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7–10 Möglicherweise Anspielung auf Scheidler, Karl Hermann: Propädeutik und Grundriß der Psychologie, 2. Aufl., Darmstadt 1833: „Das allgemeinste Merkmal des Lebens ist (worauf auch die Etymologie dieses Wortes hindeutet) Thätigkeit, Bewegung, und zwar nicht eine einzelne Thätigkeit, sondern ein gewisser Verlauf verschiedener und zusammenhängender (ein Proceß), ferner muß dieselbe Selbstthätigkeit seyn, Thätigkeit aus individuellen Kräften, d. h. aus solchen, die nicht der ganzen Körperwelt (wie Zug und Stoß, chemische Affinität) angehören, sondern in dem Einzelwesen selbst gegründet sind, also von innen, nicht (blos) von außen her bewirkte Bewegung; daher sich die Lebensbewegungen nicht aus physischen oder mechanischen und chemischen Kräften und Gesetzen erklären und ableiten lassen. Diese Selbstthätigkeit der lebenden oder v. D. ist jedoch keine unbedingte, sich selbst genugsame: das Leben ist kein rein immanenter Zustand, sondern bedingt durch die Wechselwirkung mit der Außenwelt; die Lebensbewegung, (z. B. die Ernährung, Fortpflanzung, Muskel-Nerven-, Säfte-Bewegungen) finden nur unter gewissen Verhältnissen zu den Außendingen, unter der Bedingung des Vorhandenseins gewisser äußerer Verhältnisse oder Agentien statt, welche leztere Reize (stimuli, incitamenta, potentiae irritantes) heißen, indem sie die lebenden Körper zu Thätigkeitsäußerungen anreizen oder anregen.“ (S. 243–244 [SB 1679])

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ren. Dann träte dieß ein: gesetzt auch, man gäbe diese Eigenthümlichkeit beym Menschen auf, so müßte man eben so alle Differenzen des Seyenden überhaupt aufheben, der Dinge, Gattungen etc. – Also die willkührlichen Bewegungen im Anfange des Seyns kann man ansehen als Reactionen, weil die bestimmte Bewegung eine Veranlaßung haben muß, doch nicht als Ursache, sondern nur als Hinlenkung der Selbstthätigkeit auf einen bestimmten Punct, und die Hauptsache ist hier die allgemeine Beweglichkeit. Alle Zustände, die dem Ichsetzen vorangehen, sind nur etwas Vorbereitendes, erst mit dem Ichsetzen geht der eigentliche Verlauf des psychischen Subjects an auch für die Spontaneität. Alle diese Bewegungen sind von der Art, daß im Ich selbst sie gegründet seyn müssen vermöge der Beweglichkeit nach allen Seiten hin, die sich aber durch äußre Veranlaßungen bald da – bald dorthin lenken. Diese beyden Coefficienten sind nicht eher für das Einzelwesen, bis es zum Ich gekommen ist. Lassen wir diese frühren Zustände bey Seite, und betrachten die Entwicklung der Selbstthätigkeit. Wir haben hier 2erley zu unterscheiden, das mehr Physiologische und das mehr Psychische; vorläufig können wir bey der alten Terminologie bleiben, bey der Trennung dessen, was die Seele durch sich selbst und was sie durch den Leib verrichtet. – Es geht im menschlichen Organismus vieles vor, was Thätigkeit ist, was wir aber nicht auf das Subject zurück führen. Alle rein vegetativen Processe, ebenso die animalischen ohne Bewußtseyn, sind solche Thätigkeiten, die wir nicht auf das psychische Subject zurück führen, weil das Bewußtseyn nicht als agens dabey ist. Die ganze Ernährung geht vor ohne Bewußtseyn; nur die Störungen treten ins | Bewußtseyn, dasselbe gilt vom Blutumlauf und Athemholen, und wir sagen, sie gehören nicht zum psychischen Subject sondern sind das Animalische. Gehen wir aber von diesem selbst aus, so geht der Ernährungsproceß rein so vor sich, wenn wir ihn als innren ansehen, sehen wir aber auf seinen Anfang, das Nahrungzuunsnehmen, so geschieht dieß nicht ohne Bewußtseyn das dem Proceß vorangeht und ihn begleitet. Darin liegt der Grund, warum die Alten diesen Proceß als psychisch ansahen. Versetzen wir uns in jene Denkungsart, so müssen wir sagen, das Kind ist noch der unvollständige Mensch, man muß ihn in seiner Entwicklung setzen, da ist der Mensch sich bewußt des Bedürfnisses der Nahrung und der Wirkung derselben. Auch beym Sprechen ist ja nur der Anfang mit Bewußtseyn verbunden, und es verliert sich im Reden selbst, so wie der Besitz der Sprachen anfängt; bey den Taubstummen, die zu sprechen anfangen, ist gewiß ein Bewußtseyn der Bewegung der Sprechwerkzeuge. So ist es also mit der Ernährung 14 dorthin] dorthin sich

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auch; und wir müssen also genauer scheiden. Die Ernährung und das Sprechen hat eine Physiologie und das Bewußtseyn geht eigentlich nur voran; beym Ernähren geht es nicht weiter als bis zum Zusichnehmen der Speise; sonst aber sind wir uns nur der Störungen bewußt. Wir müssen also immer da trennen, wo Bewußtseyn ist, und wie weit es in jedem Falle geht.

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Gehen wir aus von der Einheit der in jedem Momente zusammen treffenden Puncte der Receptivität und Spontaneität und nehmen das, was wir über die Receptivität gesagt haben zu Hülfe, um unser Gebieth zu übersehen, so erhalten wir Folgendes: Wir können zuerst die Bewegungen (nicht räumlich), an denen sich die Thätigkeit zeigt, eintheilen in solche, die an und für sich emmanent sind im Einzelnen und in solche, die eine Richtung nach außen haben: letztre sind durch das Leibliche vermittelt, haben aber doch einen psychischen Anfang. Es gibt solche, die bloß Bewegungen des Bewußtseyns sind, theils solche, die die Richtung zu einer Verbindung haben zwischen dem psychischen Subject und andern. Auch dieß sind nicht ausschließende Gegensätze, sondern nur verschiedene Momente a potiori benannt. – Sehen wir auf das Zusammenseyn der Momente der Spontaneität zusammen mit den Momenten der Receptivität so haben wir Bewegungen des Bewußtseyns und auch heraus tretende, die nur Manifestationen des bestimmteren Selbstbewußtseyns sind. Wir finden sie gleich in den ersten Lebensanfängen, wo die subjective und objective Richtung noch nicht recht gesondert sind, denn alle Ausdrücke des Schmerzes und Wohlgefallens in Ton und Geberde, sind nur solche Manifestationen, wenn die Subjecte in einem Moment afficirt sind. Alle sind darum nur in einem Minimum spontan, nähmlich in der Reaction auf eine Affection. Wie ist es aber mit den innren Bewegungen im Bewußtseyn zusammen mit den Momenten der Receptivität? Die innre Beweglichkeit des psychischen Subjects so fern sie einen Organismus bilden, d. h. eine Gesammtheit verschiedener Functionen, die Eins sind, so ist die Richtung des innren Agens gegen diese Functionen doch nicht Null, wozu schon das gehört, daß das Subject sich in einem Momente ausschließend für die eine Thätigkeit bestimmt. Also zu allen Momenten, in denen ein objectives Bewußtseyn | wird, muß in irgend einer vorhergehenden Affection der Coefficient liegen, der die Beweglichkeit des psychischen Subjects in dieser Richtung 26 Moment] Moments

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grade bestimmt. – Hier kommen wir auf die sogenannte Freyheit des Individuums im geistigen Sinne. Betrachten wir das Individuum in der freyen Selbstthätigkeit nach allen Momenten hin, so wird es doch irgendwie so bestimmt auf diese bestimmten Momente, und daraus hat man oft die Freyheit des psychischen Subjects geläugnet. Allein der Ausdruck Freyheit ist sehr vag; wir denken uns das Gegentheil des Mechanischen darunter. So wir uns denken das Individuum in dieser Wechselwirkung mit allem, womit es zusammen ist, und diese Wechselwirkung soll in ihren verschiedenen Äußerungen als Größe betrachtet werden, so denkt man sich dieß mechanisch und sagt: die Freyheit ist aufgehoben. Denken wir uns aber das menschliche Subject und sagen, sein Innerstes sey seine lebendige Beweglichkeit, so setzen wir es nicht als durch Zusammensetzung geworden, sondern als innres Princip, das wir in seinem Voninnenherausgehen betrachten wollen. Dieses Innre ist doch innre Freyheit genannt worden, die freye Beweglichkeit; so auch im Bürgerlichen die Nichtbestimmtheit durch Andres. Also: wir fangen gerade mit der Freyheit an; aber so wie wir diese nicht als Einheit, sondern als Mannigfaltigkeit betrachten, und doch die Acte als Einheit, so frägt sich: Wie werden die verschiedenen Acte in ihrer Differenz bestimmt? Entweder durch die Bestimmtheit des Subjects selbst, so daß jedes Subject seine eigne Methode der Bewegung hat, oder durch die Art der äußren Affection, und die bestimmte Bewegung ist Reaction und doch Freyheit. Denn auch bey letztem wäre die Freyheit nicht aufgehoben, sondern nur zusammen gedacht mit dem Zusammenseyn des Individuums. Allein wir sagen nicht nur das letztre, sondern auch das erstre, und combiniren beydes, indem jedes Subject nach unsrer Ansicht ein solches bestimmtes Gesetz in sich trägt, das in die Bestimmung der einzelnen Acte eingeht anders als bey einem andern Subject. Also werden die Acte der Bestimmtheit in gewissen Bewegungen selbst wieder von dem bestimmten Selbstseyn des Individuums ausgehen. Hat man für die Freyheit auch hievon nicht genug, sondern verlangt, daß auch dieses innre Gesetz durch seinen Willen müsse entstanden seyn, so sagt man etwas Unmögliches, da man das Spätre als Grund des Frühren setzen will. – Also das Individuum in der Function des objectiven Bewußtseyns oder Denkens ist indifferent gegen jede Bestimmung, seine innre Beweglichkeit ist auf die Gesammtheit des Denkens gerichtet, verwirklicht aber in jedem Momente nur das vom Denken, wovon es afficirt ist nach seiner persönlichen Eigenthümlichkeit. Haben wir also diese beyden Zweige der Selbstthätigkeit die Manifestation und die Freyheit im 5 geläugnet] geläugnet hat

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Denken, so fehlt uns noch die Selbstthätigkeit die auf eine Verbindung des Individuums mit andren hingeht. Die ersten Anfänge sind noch in den ersten chaotischen Äußerungen des Selbsterhaltungstriebes, nach denen das Kind instinctartig die Nahrung ergreift mit willkührlicher Bewegung, die die Richtung hat, etwas | mit sich zu verbinden oder bestimmter, Besitzzuergreifen. Ist durch diese 3 die Spontaneität erschöpft? Ja; denn betrachten wir das Einzelwesen für sich in seinem innren Verlauf, so haben wir nichts zu entwickeln als die Momente des Bewußtseyns und diese sind nun vollständig gesetzt; so lange das Subject afficirt wird, wird es auch bestimmt zu einer Art des Denkens, und es entsteht ein objectives Bewußtseyn dadurch. Aber eben so ist auch das Selbstbewußtseyn hier inbegriffen, insofern die Selbstthätigkeit darin auszusprechen ist, denn das Subject kann sich ja auch in sich abschließen. Betrachten wir das Einzelwesen nicht in sich selbst, so betrachten wir es im Zusammenseyn; da gibt es sich entweder an das Zusammenseyn hin in allen Acten der Manifestation oder es ist ein Ansichziehen des Zusammenseyns, ein in sich aufnehmen und dieß geschieht durch die Acte der Besitzergreifung; denn bey dem Selbsterhaltungstrieb können wir hiebey nicht stehen bleiben wegen der Verbindung des Selbstbewußtseyns mit dem Gattungsbewußtseyn, wodurch alles Ansichziehen im menschlichen Gebiethe ein Besitzergreifen ist. Weder im Einzelwesen als solchen noch im Zusammenhang mit andren finden wir ein drittes repräsentirt, sondern wir haben alles umfaßt. Wir können die Sache zur Probe noch von einer andren Seite her betrachten. Wir fragen: Was ist von den Acten der Spontaneität das Gesammtresultat? Was ist das Resultat der Productivität im Denken? Die Wissenschaft, die Identität des Seyns und Bewußtseyns darstellend. Was ist das Gesammtresultat der Manifestationsmomente? In der höchsten Entwicklung ist es die Kunst; denn jedes Kunstwerk ist nur ein Act der Manifestation des Einzelnen in einem bestimmten Acte des Daseyns. Dieß ist weniger klar als das erste, aber bleiben wir stehen bey den ersten Anfängen und entwickeln sie, so ergibt sich dieß. Alle leiblichen Ausdrüke von Schmerz und Wohlgefallen sind solche Manifestationen; sie sind die ersten Anfänge der spätren Mimik und Music, Manifestationen durch Bewegungen und Töne; denn alle unsere Instrumente sind nur Ergänzungen und Erweiterungen der menschlichen Stimme. Aber freylich: wenn nun jemand sagt: wenn dieß so ist, so müßte auch ein großes Dichterwerk auch nur die Manifestation eines Individuums seyn? Ja allerdings, das Kunstwerk soll nichts andres seyn als Manifestation des Individuums und alle andren 1 Selbstthätigkeit] Selbthätigkeit

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Zwecke wären unrein. Soll aber nichts Bestimmtes dadurch hervorgebracht und erreicht werden, so ist es eben eine Manifestation des Individuums. Aber ist es auch die Manifestation des Individuums in einer Bestimmtheit? Ja, denn es geht doch auf einen ersten Moment zurück, wo es dem Künstler Bewußtseyn wird; es ist ein solcher Manifestationsact gewesen, der ihm bewußt geworden ist als ihn in jedem Momente ganz erschöpfend, sonst hätte er es nicht gewählt für eine solche Masse von Thätigkeiten. Bleibt man so beym innren Entstehen stehen und entfernt alle fremden Zwecke, so ist die Kunst eben nur ein Sichmanifestiren; und sind Wissenschaft und Kunst die Resultate von beyden Reihen, so fragt sich noch: Was ist das Resultat der besitzergreifenden Thtätgkeit? – | Sie fängt an mit dem Selbsterhaltungstrieb und geht auf Vereinigung des äußren mit sich; ihr Ziel ist Cultur d. h. das Beherrschtseyn der Natur durch den Menschen für den Menschen. – Ist diese Eintheilung richtig, so muß in diesen Resultaten alles liegen, was als Werk der menschlichen Selbstthätigkeit erscheint. –

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Gehen wir von der Productivität des Denkens aus, und sehen auf das Verhältniß desselben zu den andren Thätigkeiten, so zeigt sich, daß die unmittelbaren Reactionen der Receptivität vom Denken ganz unabhängig sind. Verfolgen wir dieß aber weiter, so daß die Totalität davon Kunst wird, so tritt hier die Production im Denken hinzu; dann ist der Zusammenhang zwischen dem Afficirtseyn und der Manifestation aufgehoben, indem das Denken dazwischen kommt; und das Ganze erscheint als ein Doppeltes, eine unmittelbare Reaction und eine Reaction durch Willensbestimmung. Diese Duplicität haben wir also; es ist kein Willensact, wenn jemand durch Töne seinen Schmerz ausspricht; das andre aber ist das vorher gedachte Handeln, das Wollen. – In der besitzergreifenden Thätigkeit ist dasselbe; das erste Ergreifen der Brust durch das Kind ist selbstthätig, aber ohne Denken und Wollen; später aber tritt zum Besitzergreifen die Productivität im Denken dazu. Dieß ist also der Einfluß, den die Productivität im Denken auf die andere Selbstthätigkeit hat. Aber ist im Denken selbst auch dieser Gegensatz zwischen unmittelbarer innrer Beweglichkeit und einem damit verbundenen Wollen? Ja, es entstehen in uns Gedankenreihen, weil wir wollen, weil wir ihre Richtung und Fortschreitung schon zum Voraus gewollt haben. Meditation. Aber es gibt auch Gedanken, die in uns werden ohne ein solches Vorhergedachtes, ohne 1 Zwecke] so Nachschrift Iffland, S. 134, Ms.: MQ R

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einen bestimmten Willensact. Dieser Gegensatz gibt sich am stärksten dadurch zu erkennen, daß uns oft Gedanken gegen unsren Willen entstehen. Wenn wir nun unser Denken auf einen bestimmten Gegenstand richten, so entstehen nebenbey Gedanken, die nicht dazu gehören; sie sind nicht nur ohne unsren Willen, sondern gegen denselben, und wir suchen sie zu entfernen. Dieser relative Gegensatz ist also ein ganz Allgemeines, und die menschliche Selbstthätigkeit hat diese beyden Formen; sie ist die unmittelbare innre Selbstthätigkeit und andrerseits das Gebieth des Wollens. Das richtige Verhältniß beyder haben wir aufzufassen. Es kann scheinen, als wenn die unmittelbare Lebendigkeit nur die ersten Anfänge einnehme, und daß im Fortgang in alles der Wille hineintrete, dieß ist im Allgemeinen wahr; allein denken wir uns in unsrem Leben eine Zeitbestimmung für die Ergreifung der Nahrung, so ist dieß ja auch unter den Willen gebracht, und so kommt noch nicht alles unter den freyen Willen. Es gibt bey gewissen Arten innrer Bewegung einen Unterschied der Äußerungen eines Menschen, in welchem der Wille noch nicht sehr entwickelt ist, von einem, bey dem er es ist. Im ersten ist die Äußerung wild, im letztren gemäßigt. Wollten wir aber sagen; es sey das allgemeine Gesetz der menschlichen Natur, daß sie mit der Unmittelbarkeit anfange und dann den Willen überall aufnehme, so müssen wir da bald Halt machen. Es gibt immer noch Anfänge, die rein im Gebiethe der Unmittelbarkeit liegen, und zwar des Größten in allen Gebiethen. Sagen wir: von der unmittelbaren Äußerung in Ton und Bewegung, unterscheidet sich | ein Kunstwerk eben durch den Zutritt des Willens, so ist dieß richtig, aber wie entsteht dieses Kunstwerk? Setzt sich der Künstler hier mit dem Vorsatz zu erfinden, so wird es kein großes Kunstwerk werden; der erste Gedanke vom Kunstwerk muß ein Unmittelbares seyn, das sich erst später im Willen fixirt. – Eben so ist der wichtigste Act der Besitzergreifung der Entschluß zu einem Berufe; wie entsteht dieser? Er kann durch Überlegung entstehen; aber dieß ist nicht die schönste Art und Weise, sondern wenn eine bestimmte Richtung im Menschen bestimmt sich offenbart, dann ist dieß der wahre Entscheid, jenes ist nur eine Nachhülfe dazu. – Im Denken selbst ist dieß besonders klar; wir finden immer einen Punct, wo Meditation und Entschluß immer erst an eine Äußerung der unmittelbaren Beweglichkeit anknüpft. – Also kann man nicht sagen, das eine sey nur in der ersten persönlichen Entwicklung und das andre später, sondern in jeder Reihe ist dieses Unmittelbare das erste, und das Gebieth der Willensbestimmung das Zweyte. Verhältniß dieser beyden Formen. Nach dem Bisherigen ist keins als das Höhere zu taxiren; sie für die ganze Lebensentwicklung auszugleichen, ist immer eine schwierige Aufgabe, und streitig. Auch hier

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kommen wir auf den Ausdruck Freyheit; man sagt das sich selbst bestimmende Denken im Wollen sey die Freyheit, und die unmittelbare Bewegung sey untergeordnet. Andre sagen umgekehrt, diese Unmittelbarkeit sey die Freyheit, und das Wollen sey schon Calculus und Meditation. Denken sich nun unter Freyheit beyde dasselbe? Schwerlich. – Gibt es eine bestimmte Art der Unterscheidung, wie sich beyde Formen der Selbstthätigkeit zum Ich verhalten? in welchen tritt das Ich mehr hervor und in welchen zeigt sich ein Andres außerhalb wirksam? Dieß würde uns offenbar die Frage entscheiden; denn wo das Ich stärker hervorträte, da wäre die Freyheit. Fangen wir an bey Momenten der unmittelbaren Selbstthätigkeit, doch außer der chaotischen Verworrenheit, und fragen uns: Ist dieser Moment ein reiner Ausdruck des psychischen Subjects? so liegt die Sache so: Sagen wir: Ich habe kein Bewußtseyn darüber, wir dieß entstanden ist, – so liegt darin für unsre Frage eine Indifferenz. Aber wollten wir es so fassen, daß die Möglichkeit einer Gleichheit auf beyden Seiten sey, so wäre dieß viel zu viel aus der Negation geschlossen; es liegt nur darin, daß die Frage darauf nicht anwendbar ist. Gehen wir weiter, so müssen wir sagen: es gibt viele solche Anfänge, aus denen weiter nichts wird; an andre aber knüpft sich die Willensbestimmung an. Können wir da sagen, warum das Eine verfolgt wird, das andre nicht? Nein, sonst müßte diese Willenbestimmung auf einer frühren beruhen; also die unmittelbare Lebendigkeit ist immer das Erste, und die Willensbestimmung ist immer ein zweyter Moment. Scheint der Entschluß das Erste zu seyn, so gründet er sich schon auf ein frühres. Nur so lange die unmittelbare Beweglichkeit in voller Kraft vorhanden ist, ist auch das psychische | Subject in voller Kraft vorhanden. –

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Das Schwierige ist natürlich zu erklären, wie ein Moment der Selbstthätigkeit zu Stande kommt unter dem Einfluß des Gedankens, nicht unmittelbar. Dem Masseninhalte nach sind die ersten Momente weit die überwiegende Zahl, und letztre die unmittelbaren zeigen nur ein Minimum. Beym Denken bildet sich streng der reative Gegensatz aus; denn wenn hier Thätigkeiten vorkommen im Gegensatz mit einem Gewollten, so ist der Gegensatz viel stärker, als in unmittelbaren Thätigkeiten, weil der Widerspruch in derselben Function liegt: ich will denken, und denke, was ich nicht denken will. In anderen unmittelbaren Functionen ist es nur der Widerspruch ihres natürlichen Fortgangs. Ist der

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Impuls im Willen stark genug, so kommen keine andren Gedanken zu Stande. Bey andren Functionen ist ein solcher Widerspruch kein Widerspruch in der Function selbst. Wie ist es denn mit dem Einfluß der Function des Denkens auf andre Functionen, vermöge der es allein Gewolltes gibt. Wir werden hier auf die Einheit des Lebens zurückkommen; in der die einzelnen Functionen gegründet sind; also: in dem Einen ist die Möglichkeit des Einflusses des Gedankens auf andre Functionen stärker, im Andern schwächer. – Suchen wir entgegen gesetzte Puncte im Maximum und Minimum. Letztres wäre, wenn ein Einzelwesen unzugänglich wäre für den Einfluß des Gedankens auf die übrigen Thätigkeiten. Können wir aber sagen: diese Thatsache bestimmt den Werth des Individuums selbst als ein Minimum? Nein; wenn nur jede Function an sich ihren kräftigen Weg hat; es kann dann aus der unmittelbaren Einheit des Lebens in jeder Thätigkeit alles geschehen; es gehört nur zu dieser Persönlichkeit eine größere Isolirung der Thätigkeiten. Denken wir uns diesen Einfluß des Denkens gleich Null, aber den Einfluß des subjectiven Bewußtseyns als Maximum so ist der Fall ein andrer, und es fragt sich: ist letztre Thätigkeit so weit gekommen bis zur Identität des Selbstbewußtseyns und Gattungsbewußtseyns bis zur Entwicklung des Religiösen? Dann ist es eine andre Form als wenn dasselbe geschähe vom objectiven Bewußtseyn, vom Denken aus. Läßt sich einer leiten vom objectiven Bewußtseyn, von Grundsätzen, die nur empirisch sind, und somit nur partiell, so ist dieser Einfluß des Gedankens mehr etwas Nachtheiliges, und es wäre besser, das subjective Bewußtseyn nähme diese Stelle ein. Also wir können uns eine völlig subjectiv entwickelte Selbstthätigkeit denken ohne Einfluß des Gedankens; ebenso gut wie mit dem Einfluß des Gedankens; und keine hat an sich bestimmte Vorzüge vor der andren nach dem Begriffe des Menschen. – Wir müssen hier auf das Verhältniß des Selbstbewußtseyns und Gattungsbewußtseyns zurückkomen, und uns die Aufgabe stellen, in Beziehung auf dieses Verhältniß die Selbstthätigkeit zu bestimmen. Auch hier gibt es ein Minimum und ein Maximum d. h. wir können uns denken ein Individuum in Ausübung der Selbstthätigkeit in den verschiednen Richtungen des Subjects, so daß in allen diesen Beziehungen die Selbstthätigkeit eine rein persönliche ist, also das Gattungsbewußtseyn als Kraft wäre hier Null. Ein selbstständiger Moment würde dadurch gar nicht afficirt. Ein solcher entspräche gar nicht mehr dem Begriff des Menschen, weil beydes zusammen das Wesen des Menschen constituirt. Je geringer die Kraft | und der Einfluß des Gattungsbewußtseyns desto weniger entspricht er der Idee des Menschen. – Umgekehrt wenn einer nur die Gattung zu fördern sucht, und das Individuum ganz sinken läßt, so wäre auch der Charac-

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ter des Menschlichen verloren. Auch hier also können wir nur bis zu einem Minimum kommen. Die Gattung ist nur in der Gesammtheit der Individuen, und es ist nicht möglich die Gattung zu wollen, und die Individuen zu negiren, also auch sich selbst nicht. Wir haben es hier nicht mit moralischen Principien zu thun, also folgendes Beyspiel nicht in diesem Sinne zu nehmen. Man hat einmahl das Princip aufgestellt, daß das Wesen der Moral sey, daß keiner seine eigne Glückseligkeit suche, sondern nur die der andren, d. h. der Einzelne soll sich selbst in seiner Selbstthätigkeit negiren, soll aber eine Richtung haben auf die andren Individuen. Warum aber soll er sich ausschließen? es geschieht ja nur ein schlechter Tausch damit, den man gern zurück nähme, so daß man sich gegenseitig die Vollmacht zurück gäbe. – Also bleiben wir bey der Formel: Wenn der Gegensatz aufgehoben ist, so daß die Richtung auf das Individuum nur die auf die Gattung ist, deren Organ der Einzelne ist, und ebenso umgekehrt, so ist diese Aufhebung des Gegensatzes das Wahre; dieß ist das Maximum der Selbstthätigkeit in ihrer innren Kraft und Klarheit. – Hat nun die Selbstthätigkeit durch sich selbst die Form der Unmittelbarkeit und die Form des Einflusses der Gattung die des Einflusses des Gedankens? In diesem Falle wäre letztres weit das Bessre als das erstere. Allein es ist dieß nicht der Fall, sondern betrachten wir das allmählige Hervortreten der Gattung als bestimmender Kraft beym andren, so ist jede Bestimmung der Selbstthätigkeit, die auf ein Geselliges ausgeht, nicht mehr eine Bestimmung durch die reine Persönlichkeit; das Intresse des Einzelnen an den mit ihnen Verbundenen repräsentirt schon das Gattungsbewußtseyn; es gibt also eine Bestimmtheit der Selbstthätigkeit für die Gattung ohne Vermittelung des Gedankens. Das Denken ist immer nur in Wenigen, aber das Intresse des unmittelbaren Subjects für das Ganze ist in allen. Denken wir uns die Richtung auf die ganze Menschheit, ist dieß da ebenso? Im subjectiven Selbstbewußtseyn haben wir das Transcendente, das wir als Gipfel das Religiöse genannt haben, und darin ist die Richtung auf die Gattung schon mit eingeschlossen; ohne daß wir sagen können, der Gedanke als objectives Bewußtseyn sey darin. – Wollen wir also die Einzelwesen vergleichen in ihrer Selbstthätigkeit, so darf der Maaßstab nicht seyn das Übergewicht des Gewollten über das Unmittelbare, sondern der nur, ob das Gattungsbewußtseyn die Momente dominirt oder nicht; ob aber dieß durch den Gedanken geschieht oder unmittelbar, ist zufällig und hängt von Anderen ab. 6–10 Vgl. Kant (1788), S. 58–67; Ak 5,34–39

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Dieß ist nun nicht so gemeint, als ob man die Menschen so in zwey Classen theilen könnte, sondern jeder einzelne Mensch geht immer aus der Totalität des Vorigen hervor, und nie ist irgend ein Moment des psychischen Lebens gleich Null. Die Sache stellt sich also so: Denkt man sich die Richtung der Selbstthätigkeit in einem Moment durch einen Gedanken, so heißt dieß nur: der Moment ist zu begreifen aus einem Vorigen, wo der Gedanke das bestimmende Moment war. Und umgekehrt | bey der Unmittelbarkeit: der bestimmte Momemt faßt im vorigen nur das auf, was denselben Character der Unmittelbarkeit hat, welches im Vorigen auch muß dominirt haben. Wir haben nun aufgestellt, daß in allen diese Richtung der Selbstthätigkeit das Zusammenseyn des Individuums mit der Gattung seyn muß als Thätigkeit, beydes muß Eins und dasselbe werden, und nur dann ist es ein Ausdruk des Menschlichen. Wo wir im Gebiethe des psychischen Lebens solche Theilungen machen, sind sie nie als reine Gegensätze zu nehmen, sondern immer ist das Gegentheil auch darin enthalten. Nach unsrer Ordnung hätten wir mit der Selbstthätigkeit anzufangen mit vorherrschend receptivem Character. Dieß wird Kunst, und wenn wir die Richtung auf dieses Heraustreten des Innren nach außen als einen bestimmten, gesonderten Impuls betrachten, so werden wir es den Kunsttrieb nennen, nach der allgemeinen Zurückführung aber den Manifestationstrieb; beydes ist dasselbe. Denken wir uns das psychische Leben in der Form der Momente, wie wir auch gar nicht anders können, wie es auch im Physischen durch Pulsschlag und Respiration angedeutet ist, im Pulsschlag unterscheiden wir Arsis und Thesis, in der Respiration Ein- und Ausathmen und beyde zusammen bilden einen Moment. So auch im Psychischen. Denken wir uns nun einen bestimmten Moment, aufgefaßt als geworden, aus dem sich ein neuer entwickeln soll, so sind dieß nun Momente, wo sich die Manifestation, Reaction nach außen hin daraus entwickelt und nichts andres. Ist das Individuum in einem Momente geworden ein Selbstbewußtseyn in dem der Moment überwiegend geworden ist, da gibt es natürliche Reactionen, die nur Manifestationen dieses Zustands sind. Diese sind ursprünglich leibliche Bewegungen, bestimmt durch das psychische Leben; Bewegungen des Gesichts und Körpers, oder Bewegungen der Stimme, Töne. Diese fangen beym ersten Momente an, schon der erste Lebensaugenblick als Erschütterung hat als Reaction den Schrey. Dieß ist der Manifestationstrieb. Was muß nun geschehen, damit dieß Kunsttrieb werde? Wir haben Thätigkeiten, die

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wir [als] Kunst annehmen, und die sich daran unmittelbar schließen, Mimik und Gesang. Was ist der Unterschied zwischen beyden? Das erste ist ursprünglich etwas ganz Einfaches, im Fortgang aber etwas Zusammengesetztes durch Maaß und Regel, denn eine Aufeinanderfolge von Tönen ohne Ordnung und Rhythmus ist keine Kunst; ebenso im Mimischen. Ist dieß nun die Sache des Manifestationstriebes allein, oder kommt noch etwas hinzu? es kommt nichts andres hinzu, als daß der Mensch als Individuum zugleich Gattung seyn will; denn weder für sich noch für andre wäre die Manifestation etwas, wenn sie nicht ein Bestimmtes wäre; dieß also ist das Ineinander von beyden. Daher dieß bey den Thieren fehlt. – Dieß sind nun die ersten Anfänge, aber schon hier sind Einzelleben und Gattungsleben in einander in der Bestimmung der Momente. Allein die Sache muß sich auch umkehren lassen: alles was Kunst ist, muß auch als Manifesation erscheinen. Es ist immer nur der ganze Moment, der sich manifestirt, und eine bloße Manifestation von Lust oder Unlust läßt schließen, daß der ganze Moment in der Empfindung aufgegangen ist. | Anders ist es, wo der Manifestationstrieb überwiegt. – Nehmen wir die Denkthätigkeit in ihrem ganzen Umfange, und wollen hervor heben, was den ersten Momenten am nächsten liegt, das bildliche Auffassen als Vorstellen, wo die einzelnen Bilder zugleich allgemeine werden. Denken wir uns diese allgemeinen Bilder schon ins allgemeine Bewußtseyn eingegangen, und nun einzelne dazu werdend; wie verhalten sich diese zu jenen, die bereits zu Begriffen geworden sind? Kein einziges einzelnes Ding ist uns eine reine Darstellung des Begriffs; denn neben der plastischen Kraft seiner Gattung ist immer noch viel andres thätig, und diese andren Kräfte negiren im einzelnen Bilde das allgemeine Bild. Führen wir dieß auf das subjective Bewußtseyn dieser Thätigkeit zurück und fragen: wird die Richtung, daß diese beyden Bilder in einander aufgehen wollen, nicht im Bewußtseyn zerfallen in fördernde und hemmende Momente? so ist dieß allerdings so, und es entsteht Wohlgefallen und Mißfallen daraus. Denken wir uns das Bewußtseyn, durch diese Allgemeinen und besonderen Bilder das Seyn repräsentiren sollend, so ist dieß ein Mangel und zugleich ein Überfluß, und wir haben einen Stoff für den Manifestationstrieb. Die Manifestation kann hier nur sein in einer Productivität im bildlichen Auffassen, die Wohlgefallen und Mißfallen mittheilt. Hier haben wir allerdings die Kunstthätigkeit, sie ist das Hervorbringen von Einzelwesen unter der Form des Bildes, die das Verhältniß aussprechen zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen. Also diese Manifestation ist auch Kunst, aber eine andre Kunst ist diese thätige Manifestation, als die bloße darstellende Kunst, es ist bildende Kunst. – Die Poesie ist Darstellung vom menschlichen Leben und Seyn, entweder von

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menschlichen Einzelwesen oder Zusammenstellung von Einzelnen aber durch die Sprache, das Bild als vorstellbar hingestellt. Dieß geht uns nach der Art, wie das psychische Leben im Einzelnen uns afficirt. Auch dieß ist Manifestation, und alle Kunst ist somit Manifestation. Die Vollkommenheit der Mimik haben wir erst in der Poesie, in den Personen, die ihr Werk sind; eben so bey der Music; sie ist nur vollkommen im Gesang, was auch wieder in die Poesie hineinführt. – Eben dieß, daß der Manifestationstrieb zugleich Kunsttrieb ist, beruht auf dem Ineinanderseyn von Einzelwesen und Gattung, was allein die Momente bedingt und die Manifestationen allgemein macht und verständlich. Für das rein Einzelne wäre die Vergangenheit Null. Denken wir uns, daß irgend wo in einem Mensch oder einer menschlichen Gesellschaft der Manifestationstrieb nicht Kunsttrieb wäre, so müßten wir auch das Menschliche läugnen. Allein dieß finden wir nirgends. Auch unter den ungebildetsten Völkern finden wir Music und Mimik, aber ob ein Individuum oder eine Gesellschaft den ganzen Kunstkreis durchmacht, ist schon wieder ein Besondres, was über unser Elementarisches hinaus geht. Aber bey den bloß physischen Reactionen dürfen wir nicht stehen bleiben, und dürfen so das Einzelleben nicht allein setzen ohne Gattungsleben, was eben uns ein physisches Leben gäbe. |

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Also, diese Manifestation geht aus auf das Ursprüngliche der momentanen Affection; und zwar nicht nur in den ersten unbewußten Lebensäußerungen, sondern selbst in der Sprache und sogar in der Poesie, auch da gibt es noch ein ganzes Gebieth des momentanen Zustandäußerns, die lyrische Poesie. Eben dasselbe findet sich bey den musicalischen Compositionen. Denken wir uns die Einzelnen auch vom Gattungsbewußtseyn erfüllt, so haben wir den religiösen Gemeingesang, die Volkspoesie. 2) Ebenfalls Äußerung eines Zustandes, in dem der Einzelne sich aber befindet in Hinsicht der Functionen des objectiven Bewußtseyns, die bildende Kunst und die ähnliche Poesie. – Aus dieser Darstellung folgte, daß die Begeisterung ausgehe vom Unvollkommnen und Unschönen; wir haben geagt, daß die einzelnen Bilder nie dem Normalbilde ganz gleich kommen. Allein es ist nicht die Unvollkommenheit allein, sondern überhaupt die Differenz nach beyden Seiten hin, denn alles, was uns unvollkommen erscheint, ist es nur relativ; es ist also nur das allgemeine Verhältniß des Inadäquat6 ihr] sein

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seyns des einzelnen Gegenstandes zum innren Bilde, also nicht das Unschöne an sich, sondern die Erscheinung des einzeln Erscheinenden im Verhältniß zum reinen innren Bilde. Daher vermannigfaltigt sich diese Production in den Einzelnen, je nachdem diese Auffassung nicht das Verhältniß zum Urbilde sich festsetzt. Schwerlich können wir uns einen Künstler anders denken, als daß er innerlich immer in einem solchen Bilde begriffen ist, und dieß ist nicht ein Zustand der Reaction. In der gegebnen Darstellung liegt schon, daß hier nicht mehr von einem momentanen Zustande die Rede ist, sondern von einem constanten Verhältniß des Einzelnen zu den Erscheinungen nach seinen innren Bildern. Es ist also mehr allgemeine Reaction ohne bestimmte Momente. Doch auch in den einzelnen Momenten ist nicht das Einzelwesen an sich, sondern mit dem Gattungsbewußtseyn des Agens. Darin beruht die Sympathie, die der Künstler findet für seine Werke, die sich immer mehr verliert in den weiteren Kreisen, die außer dem Kreise seiner Wirksamkeit und Natur liegen. Jeder Künstler ist eigentlich nur recht verständlich in seinem Volke, nicht nur in einem höheren Bildungsgrade erweitert sich die Wirksamkeit des Künstlers auch über die Gebildeten andrer Völker mehr als über die Ungebildeten seines eignen Volkes. – Wie verhält sich nun das, was unmittelbar von der freyen Beweglichkeit des Subjects ausgeht und das, was mit Vorbedacht geschieht? So wie wir ein Kunstwerk sehen, das nur aufgefaßt werden kann als Construction, als absichtliche Gedankenreihe, auf die sich erst der Anfang des Kunstwerks gründete, so urtheilen wir, das sey keine reine Genesis eines Kunstwerks, weil wir die Unmittelbarkeit vermissen, und es nur aus den Gedanken ableiten. Aus der Theorie können nicht die ersten Anfänge der Kunst hervorgehen, sondern sie begleitet nur die Reflexion dabey. Die Erfindung ist kein Vorgedachtes. Denken wir uns einen bildenden Künstler und bekommen die Vorstellung, seine Erfindung sey früher Gedanke als Bild gewesen, so sprechen wir ihm das Kunstwerk ab, und nennen es ein gemachtes Kunstwerk, nicht ein erfundenes. Dem Künstler muß innerlich das Bild werden bey seinen beständigen Productionen, bey seiner innren Beweglichkeit; aber bey der Ausführung tritt der Gedanke ein. – Aber welches halten wir für das vollkommenste Kunstwerk, das, dessen erster Anfang das Werk der unmittelbaren innren Beweglichkeit ist, die Ausführung aber nach bestimmten Regeln? oder das, das ebenso | im Einzelnen innerlich ausbildet, so daß der Gedanke erst dazu kam, als es fertig war, und er es betrachten könnte? Letztres ist die reine Entwicklung des Anfangs, und dieser muß einen großen Grad von Klarheit und Festigkeit gehabt haben. Die erstre Genesis aber ist eine 18 Künstlers] Künsters

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unterbrochene, im machen entwickelt sich der erste Anfang rein, dann aber läßt dieser im Stich, dann wird auf die Regeln Rücksicht genommen. Diejenige Productionsweise, die sich selbst gleich bleibt, ist die höchste. Wollen wir dieß auf die Poesie anwenden, auf Epos und Tragödie, so haben wir doch eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, und diese müssen als Bilder und nicht als Begriff im Künstler seyn; und so wie bey der Production die Theorie mitwirkt, so sind dieß Unterbrechungen. Das erste ist, was wir sagen: das ganze Werk ist aus Einem Guß, so weit auch in der Zeit Anfang und Ende auseinander liegen. – Hier sehen wir, wie das Vorbedachte nicht will die erste Stelle einnehmen, sondern je mehr da Alles rein in der Form der unmittelbar innren Production fortschreitet, desto vollkommner ist es. Selbstthätigkeit in der Form des Denkens. Es gibt schon eine Selbstthätigkeit in der Bildung des Selbstbewußtseyns also beym subjectiven Bewußtseyn aber diese verbirgt sich, und wir bleiben beym objectiven Bewußtseyn. Es ist die Richtung des psychischen Subjects, das Seyn in sich aufzunehmen; denn alles, was das objective Bewußtseyn erfüllt, ist aufgenommnes Seyn. Wo wir etwas darin haben, das nicht Seyn ist, so bezeichnen wir es als Irrthum. Dieß ist also der Forschungstrieb, der nichts andres will, als das reine Verwandeln des Seyns ins Bewußtseyn; dieß ist die Wahrheit. Dieser Act der Selbstthätigkeit öffnet die Sinne, der erste Anfang davon, daß das psychische Subject seine Natur offenbart, daß es das Seyn in sich aufnimmt. Jeder Sinneindruck ist ein Festgehaltnes, das sich nicht mehr verliert; darum eben ist es eine Art der Selbstthätigkeit. Wer die Momente wieder aus seinem Bewußtseyn verliert, hat das Bewußtseyn der Passivität, nicht der Selbstthätigkeit. – Also diese Thätigkeit fängt an mit dem Öffnen der Sinne, und hört nicht auf, bis das gesammte Seyn, die Welt ins Bewußtseyn aufgenommen ist. Dieß ist Eine Richtung der Selbstthätigkeit die sich im Einzelnen sehr verschieden begränzt; und jedes Einzelwesen ist darum nur ein kleiner Theil des Gattungslebens, und diesem gehört von Anfang an der Wahrheitstrieb an; der Einzelne als solcher geht nur aufs Besitzergreifen aus, und auf die Wahrheit. Das Wissen ist immer nur mit der Mittheilung zugleich. Wollten wir das psychische Leben als menschliches von dem thierischen schon im Anfang scheiden, so sagten wir, im Thiere ist gar nicht angelegt der relative Gegensatz von Selbstbewußtseyn und objectivem Bewußtseyn. Das Thier geht nur auf Besitz aus und alles andre achtet es nicht, es hat kein objectives Bewußtseyn und kein Gattungsbewußtseyn vom individuellen gesondert. Auch hier haben wir eine Duplicität; was im Einzelnen Gattungsbewußtseyn ist, ist es unter der Form des individu15 verbirgt] Verbirgt

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ellen Bewußtseyns. Der Einzelne als solcher hat den Trieb nach Erfüllung des Bewußtseyns, und hat also den Trieb auf das Wissen; dieses ist das sich Objectivirende, zu einer Darstellung Kommende. Dieß ist bestimmt von einander zu sondern; wird aber gewöhnlich verwechselt. |

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Schon insofern wir das Sichöffnen als selbstthätigen Act ansehen, liegt die ganze Richtung darin, das Seyn in Bewußtseyn zu verwandeln; das anfängt mit dem Fixiren der Gegenstände und endigt mit der Aufnahme der Welt ins Bewußtseyn. Mit dem Denken oder Auffassen ist ein Bewußtseyn, eine Gewißheit immer verbunden, und so ist mit allem Seyn, das in uns eingeht, ein Bewußtseyn verbunden von dem Verhältniß des Seyns zum Bewußtseyn. Beydes muß klar erkannt und ausgemittelt werden. Das Auffassen und Denken über das Verhältniß des Bewußtseyns zum Seyn fängt schon an zu einer Zeit, wo von einer Entwicklung der Welt noch keine Rede ist. Nun kommen wir wieder auf die Duplicität zurück, wie oben Verhältniß von unmittelbarer Manifesation und Kunst, vom persönlichen Bewußtseyn und Gattungsbewußtseyn. – Sagen wir nur: die Productionen im Denken seyen ursprünglich nur Manifestationen, so kommen wir auf die Äußerung durch die Sprache zurück; denn Gedanke und Wort sind Eins, nur ist dieses ein Äußres und jenes das Innre. Die Selbstthätigkeit als solche ist Gedanke, die Äußerung ist Wort, beydes ist dasselbe. So lange die Bilder erst sich aus dem Chaotischen sondern, ist dieser Unterschied noch nicht so klar wie später bey der Sprache. Dieß ist schon einer der ersten Gründe der Volksthümlichen Differenzen, daß bey einigen es ein Minimum ist von Differenzen zwischen dem objectiven Bewußtseyn und dem subjectiven mit seinen begleitenden Reflexionen, in andren ein Maximum. Auch hier kommen wir also schon auf eine Analogie des vorigen Kunsttriebes. Wenn wir die Vollständigkeit dieser jetzigen Richtung schon in der Vollständigung der Spracherziehung haben, so fragt sich: Woher 2 den] der

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12–15 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 143–144: „Ein gewisses Seyn muß ein gewisses Bewußtseyn werden. Auch wird nicht eher Klarheit in Denken und dessen Voraussetzungen kommen als bis dieß sich ganz entwickelt. Das eine hat schon angefangen, die Philosophie, als das andere noch in [der] ersten Kindheit. Auf 3 zu sehn: | 1, ist hier auch solche Duplicität wie im ersten 2, Verhältniß der Thätigkeit des einzelnen zu der aus Gattungsbewußtseyn 3, Unmittelbarkeit und vorbedachtes.“

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ist die Sprache und wie pflanzt sie sich fort? Erstres können wir nicht beantworten, und unsre Betrachtung muß immer stehen bleiben bey 2 aufeinander folgenden Geschlechtern und jedes Individuum findet sie Sprache schon, aber doch findet es sie nur, insofern die vorige Generation sie repräsentirt. Denken wir uns das Denken auseinander gehend in einen Complex von Menschen so denken wir uns auch ein Zerfallen der Sprache. Dieß hat sehr viele Beyspiele, es gibt dann eine Sprache der Gebildeten und eine des Volkes, materiell dieselbe, im Wesen aber nicht; verschwindet jenes, so verschwindet auch dieses wieder. – Aber ebenso wie in der Selbstthätigkeit des Denkens in einzelnen Systemen Verschiedenheiten eintreten, so zerfällt auch die Sprache, und jede philosophische Partey z. B. bildet sich eine eigenthümliche Sprache. Also bleibt die Sprache nur dieselbe in dem Maaße und Grade, als die ältre Generation sie als Einheit gehabt und fortgesetzt hat. Bleiben wir bey der Entwicklung des objectiven Bewußtseyns durch die Sprache, so ist diese in der Totalität dasselbe für diese Function der Selbstthätigkeit wie der Kunsttrieb für die Manifestation oben. Jedes Ganze im Denken wird auch ein organisches Ganze in der Sprache, auf welchem Gebiethe es sey. Wie wir sagen könnten: der ManifestationsTrieb sey doch Kunsttrieb, so können wir sagen: wie die Selbstthätigkeit im Denken im Einzelnen der Forschungstrieb ist, so ist er zugleich der auf die Sprache gerichtete Trieb, und sie ist das Niedergelegtseyn alles Denkens in einem organischen Denken; denn die Sprache ist im Lebensaustausch zwar in einem beständigen Fließen, aber eben darum unbestimmt, und ihre wahre Existenz ist in der Totalität der Literatur. | Wie steht es um die beyden Momente, die wir in allem menschlichen Leben zusammen finden und nur in ihrem Zusammenseyn als menschliche anerkennen, daß jeder Moment theils im Einzelleben theils im Gattungsleben ist? Wir müssen sagen, daß bey den ersten Acten, wo sich das Einzelwesen der Sprache bemächtigt im Vernehmen, so wie es sich über die Gewißheit des Aufnehmens äußert, schon das Bewußtseyn der Gattung ist, die Identität des psychischen Lebens in diesen und in den andren. Eben diese Identität ist wesentlich in allen Momenten des Selbstdenkens, denn alles Reden ist die Voraussetzung des Vernehmens der Andren, und alles Vernehmen auch die Voraussetzung, daß ich dasselbe Bewußtseyn entwickle an ihrer Rede, wie sie bey der Bildung der Rede. Es beschreibt sich also so die Identität der Wirksamkeit des Einzelwesens und desselben als Gattungsglied nur in dem Umkreis der Sprache. Daraus construirt sich eine große Differenz zwischen gemeinsamen menschlichen Zuständen. Es gibt 30 daß] daß schon

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Zeiten, wo die Anerkennung des Identischen sich nur auf die Sprache beschränkt, z. B. wo jeder Fremde als Feind angesehen wird. Dieß ist eine untergeordnete Stufe. Auf höhern Stufen hat die Differenz der Sprache aus dem Trieb zur Folge, die Differenz aufzuheben; hier also schreitet das Bewußtseyn hinaus über die Identität der Sprache eben im Bewußtseyn der allgemeinen Identität des Gattungsbewußtseyns. Alles Übersetzen setzt das voraus, daß aller Verschiedenheit der Sprache ungeachtet doch alles Denken auf Eins zurück zu führen sey. Und wenn diese Versuche gemacht werden auch mit der Überzeugung, daß nie eine Sprache ganz in der andren aufgeht, so ist dieß ein Maximum des Gattungstriebes, und immer weiter sucht man durch noch andre Sprachen die Unvollständigkeit dieser Auflösung der Sprache aufzuheben. Zu gleicher Zeit aber ist im Bewußtseyn der Eigenthümlichkeit jeder Sprache das Selbstbewußtseyn der Eigenthümlichkeit des Einzellebens, denn jedes Volk bildet ein solches Einzelleben. Selbst innerhalb jeder Sprache, je mehr von dem Ganzen des Seyns in das Bewußtseyn aufgenommen ist, um desto mehr ist neben der beständigen Selbstthätigkeit im Äußren des Denkens doch das Bewußtseyn der Eigenthümlichkeit des Einzelnen im Denken. So haben wir also das Maximum vom Gattungsleben und das Maximum vom Einzelleben wieder beysammen. Wollen wir uns im Einzelleben das Aufgenommenhaben der Welt voraussetzen, so ist bey diesem auch der Trieb der Aufnahme aller Sprachen, und so ist beydes wieder beysammen. Was gehört dazu, uns einen Complex in der Sprache analog einem Kunstwerk zu denken? Wir müssen das allgemein Menschliche darin finden, es muß ein Complex von Gedanken seyn, der verdient in alle Sprachen übertragen zu werden; und ferner jedem Einzelnen in derselben Sprache muß in diesem Complex ein Unerschöpfliches liegen, so daß er finde, je mehr er sich darein versetze, desto klarer sehe er, daß er es nie ganz in sich aufnehmen werde. Dieß ist ein Kunstwerk in der Sprache. Nur dadurch kann eine Sprache fortleben, nachdem sein Volk schon aufgehört hat. |

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Gehen wir auf die ersten Anfänge der Denkthätigkeit zurück, so schließt sie sich an an die Sinneseindrücke, die wir Bilder nennen; freylich auch hier beym Öffnen der Sinne ist nicht nur ein Reiz sondern auch eine Selbstthätigkeit. Hier ist freylich kein Vorbedachtes, sondern es sind die ersten Äußerungen des Lebens, was ich wahrnehme, wird von dieser allgemeinen Richtung der Selbstthätigkeit

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durch die äußren Umstände bestimmt. Aber ist das Denken dazu gekommen, so kann das Wahrnehmen ein zwiefaches werden, Beobachtung oder Versuch. Der Versuch bringt erst Bedingungen hervor, um etwas wahrzunehmen, die Beobachtung ist nur ein Wahrnehmen dessen, wie sich ein Gegebenes verhält. In jenem ist also eine höhere Selbstthätigkeit als in letzterem. Wo ist hier das Vorbedachte? hierin ist zwischen beyden kein Unterschied, Versuch und Beobachtung sind ein Vorbedachtes. Denn finde ich einen Verlauf ohne Vorbedacht, so ist es eine Entdeckung, keine Beobachtung. Aber woher kommt der Gedanke zum Versuch? Dieß ist kein Vorbedachtes; die Beziehungen, unter denen ich den Gegenstand betrachten will, kommen aus der unmittelbaren Lebendigkeit, aus einem Einfall. Betrachten wir aber das Denken, ob der Gegenstand das Wahrgenommene sey oder etwas andres, aber ohne Bilder, rein in den Gedanken in den Sprachen, wie verhält sich dieß auf jenen Gegensatz? Jeder muß zugeben, sobald wir eine Reihe von Gedanken betrachten, so ist der Anfang jedesmahl ein unmittelbares Hervorgehen aus dem Innern des Subjects z. B. das Werden eines philosophischen Systems; ein solches entsteht in seinen ersten Anfängen nicht aus Nichts, sondern hängt zusammen mit der Art, wie sich das psychische Subject in Relationen mit andren Systemen gesetzt hat. Aber hätten wir einmahl den ersten Keim eines Systems herausgebracht, so ist es gewiß nie ein Vorbedachtes, sondern geht aus dem unmittelbaren Leben hervor. Dasselbe gilt von allem ähnlichen. Jeder geschlossene Complex von Gedanken ist nothwendig ein Kunstwerk, und darum auf den Manifestationstrieb zurück gehend. Dagegen gibt es vieles, das ein Vorbedachtes ist. Letztres ist aber immer ein Untergeordnetes. – Freylich wenn wir die Producte des unmittelbaren Lebens weiter zurück verfolgen, so kommen wir auf kleine Anfänge, die nicht nur nicht vorbedacht, sondern gegen den Willen da sind. Bey Versuchen z. B. oder Betrachtungen entstehen oft fremde, störende Gedanken, gegenüber dem Vorbedachten, allein auch dieses hat ein Nichtvorbedachtes zum Anfang. In allen vorbedachten Gedankenreihen kommen wir doch zurück auf ein Nichtvorbedachtes. Wie werden solche verschiedenen Momente sich gegen einander verhalten? Die unmittelbare Entstehung geht zurück bis auf Gedanken, die als Einzelnes unvorbedacht entstehen. Das Eine ist ein Minimum das andre wird ein Maximum aus einem eben solchen Minimum. Der Werth entsteht, je nachdem sie sich verhalten zum eigenthümlichen Seyn des Subjects; die, die ihm entsprechen, werden dann mit dem Willen weiter fortgesetzt, und 16 zugeben,] zugeben, daß die Anfänge,

36–37 entstehen] entsteht

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werden ein Vorbedachtes, die andren verschwinden in ihren Anfängen. | Müssen wir es uns gefallen lassen, daß das Denken in seiner Bestimmtheit unmittelbar in uns wird als Entwicklung unsres Seyns, und ist das Eine so, daß es nach unsrer Eigenthümlichkeit sich geltend machen muß, und das andre so, daß es zurück gewiesen wird, so bildet beydes einen Gegensatz. Können die Gedanken, die auf der einen Seite stehen und auf der andren, Eine Entstehung haben? Wenn die letztren auch ein Ausdruck des eigenthümlichen Subjects wären, so könnte man sie wohl aufschieben, aber nicht wegweisen. Dieß geschieht ja oft, daß wir uns Gedanken aufsparen. Aber die, die wir zurückweisen müssen, können nicht aus unsrem Wesen entsprungen seyn. Wo sind sie dann her? Nicht aus unsrem Wollen; nicht aus unsrem eigenthümlichen Seyn. Also außer unsrem eigenthümlichen Seyn her; sie sind Aufgenommnes von außen her, welches, einmahl aufgenommen, nicht mehr vergehen kann, sondern sich geltend macht. Weil der Gedanke doch nirgends her kommen kann als aus dem psychischen Subject so empfängt es auch nur die Gesammtheit des Denkens, auch solches, was dem eigenthümlichen Seyn widerspricht. Und dieses Aufnehmen aus dem allgemeinen Leben des Gedankens ist uns ein Geheimniß; wir müssen es bejahen, können es aber nicht erklären. – Man kann von der Unwahrheit solcher Vorstellungen überzeugt seyn, und doch entstehen sie öfter wieder, bis sie endlich nach und nach verschwinden. Z. B. die Wirkungen der Ammenmährchen, die im wirklichen Seyn gar keine Realität haben; niemand weiß wie sie entstanden sind, und ihre ganze Wahrheit besteht darin, daß sie wieder entstehen, und daß man sie freylich auch nicht widerlegen kann; so alles Gespensterartige, Geisterhafte. Sie sind nie einem vor die Sinne gekommen, und doch sind sie da, aber nur in der Masse, ein Hinundhergeworfen-werden, aber in ihrem Entstehen sind sie nie zu verfolgen; es ist etwas Geheimnißvolles, Production einer Zeit, wo das Denken selbst und der Zusammenhang auch der Bilder noch etwas ganz Unsicheres und Unstätes war. So haben sie ein Entstehen, aus dem Bestreben, den Weltbegriff zu entwickeln, das aber, solange noch nicht genug gegeben war, der Willkür anheim gegeben war, und man kann nur Analogien des Entstehens derselben anführen, aber mit dem Seyn stimmen sie immer weniger überein. Und doch dauern sie im Stillen und Verborgnen fort auch in denen, die im Denken begriffen sind und den Weltbegriff zu entwickeln suchen, als Nachwirkungen früherer Zeit, da das Denken sich noch nicht entwickelt hatte. Da ist nun ein ganz bestimmter Gegensatz; es sind die Schatten, die nur allmählig 8 haben?] haben.

22 Vorstellungen] Vorstellungen kann

24 Z. B.] z. B.

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verschwinden können, wenn das Licht mehr überhand nimmt; dann muß die Gewalt solcher Vorstellungen aufhören, und sollten eigentlich nicht mehr sich wiederhohlen können. Aber es ist wie mit der Erbsünde; weil die Menschen immer wieder neu werden unter den alten Verhältnissen, und das Dunkle immer vor dem Hellen und Klaren da ist, so entstehen sie immer wieder in den Einzelnen. Freylich können wir sagen, sie werden doch nicht mehr mit der Wahrheit des Seyns verwechselt, sondern sind nur da als Phantome der Einbildungskraft. – | Sie entstehen also danach aus der Richtung, die Gesammtheit des Seyns in sich zum Bewußtseyn zu bringen, und so sind sie ein Voraneilen, Productionen des innren Bildungsvermögens, die nur in einem gewissen Mißverhältnisse des schon Vorhandnen zu der allen identischen Richtung entstehen können. So sind sie für gewisse Zustände ein unerläßlicher Ersatz; sie sind doch Productionen derselben Thätigkeit die Welt zu erfassen, und ins Bewußtseyn aufzunehmen, aber sie fassen den Stoff am entgegen gesetzten Ende an. Es muß aber doch in ihnen das eigenthümliche Seyn zu erkennen seyn, nicht als Einzelnes, sondern als Nationales; und so hat jedes Volk ein Gebieth des gefabelten Seyns und Zusammenhangs. Erst wenn das Denken allgemein überhand nimmt, wird dieses allmählig zurück gestellt und endlich ganz zurück gewiesen; wenn die Erkenntniß der geistigen und körperlichen Natur sich vervollkommnet.

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[56. Stunde] 3. Besitzergreifende Thätigkeit. Wir kommen hier auf die Hypothese zurück, daß der Leib als Organisation ein Product sey des psychischen Subjects, und so ist also dann diese Vereinigung der Seele mit dem Leib die erste Besitzergreifung. Weiterhin dann erstreckt sich diese Verbindung auf die ganze äußre Natur außer dem psychischen Subject und es sucht die ganze Außenwelt in sich aufzunehmen. Die Kinder schon greifen nach Allem, und ziehen es an sich heran; anfangs führen sie alles zum Munde; und hier ist noch keine Differenz der Aneignung, so daß das Angeeignete doch ein Äußres bleibt und die Intussusception. Aber 32 die] der 32 Hier im Sinne von innerer Aufname, „wenn ein Körper den andern so in sich aufnimmt, daß beide nicht mehr außer, sondern in einander sind und gemeinsam einerlei Raum erfüllen (Intussusception)“ (Campe, Joachim, Heinrich: Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 1–5, Braunschweig 1807–1811, hier Bd. 1, 1807, S. 244)

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Selbsterhaltungstrieb allein ist es nicht. Weiterhin gehört alles dazu, was zur Herrschaft des Menschen über die Natur gehört, das außer ihm gesetzte Seyn folgt seinen psychischen Impulsen. Die Trennung des Seyns soll aufgehoben werden, was nähmlich Eins ist mit dem psychischen Subject ist nicht mehr außer ihm sondern gehört zu ihm. Das Haben ist immer schon ein Theilnehmen eines Dings an meinem Seyn. Der Leib ist das Erste, was gehabt wird, und das andre ist dann nur eine Erweiterung und Fortsetzung der Organisation. Hier haben wir also wieder eine Duplicität; wir gehen davon aus, daß es eine Richtung des psychischen Subjects nach außen gibt; von der Vollständigkeit seines Resultates aus aber ist es der Naturbeherrschungstrieb. Also wieder wie steht es mit dem Verhältniß dessen was aus der freyen Agilität unmittelbar wird und dessen, was ein Vorbedachtes ist? und wie verhält sich hier die Thätigkeit des Einzellebens zu der des Gattungslebens? Wir finden hier fast überall das Vorbedachte als das Dominirende, bey den andren Richtungen haben wir das Gegentheil gefunden; und es scheint, daß die allgemeine Neigung, in allen Kreisen auf das Vorbedachte zu gehen, aus diesem Gebiethe herstamme. – Betrachten wir den Menschen als in die Welt tretend mit den unvollkommneren Lebensstufen, so ist in Beziehung auf dieses Verhältniß der Mensch benachtheiligt, aber dieß ist nur wahr bey der Selbsterhaltung. Allerdings sind alle andren lebendigen Wesen nur da, wo sie ihre Erhaltung finden, und der Gegensatz zwischen Seyn und Haben ist für sie schon im Voraus aufgehoben, weil sie von andrem keine Vorstellung haben als von dem, was zu ihrem Selbsterhaltungstrieb gehört. Dieses Beschlossenseyn | des Daseyns ist der Instinct in Vergleichung mit dem Menschen, der einen solchen bestimmten Kreis nicht hat. – Beziehen wir dieß auf den Selbsterhaltungstrieb, den wir aber nicht als Trieb anerkennen, so entsteht daraus die sonderbare Ansicht, daß die Noth die Erfindung aller Dinge sey; denn die Erfindung ist das, was der Mensch erst auszumitteln hat, was er nicht schon vorfindet. Er erfindet sich seine Nahrungsmittel eben so gut wie die künstlichsten Organisationen. Liegt der Impuls in der Noth, so ist dieß ganz thierisch; zwar hat das Thier im natürlichen Zustande keine Noth, außer in gewissen Naturconflicten; sonst findet jedes Thier seine Bedürfnisse, und sein ganzes Daseyn ist ein Kreislauf zwischen dieser Function und den verwandten. Aber sobald wir den Selbsterhaltungstrieb nicht haben, sind wir auch nicht veranlaßt, auf die Noth zurückzugehen, sondern wir betrachten es als nothwendigen, ursprünglichen Trieb des psychischen Lebens. Gehen wir auf die ersten Äußerungen zurück, 19 zu gehen] geht

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das Greifen des Kindes nach den Dingen, so hängt dieß mit seinen Bedürfnissen gar nicht zusammen und wenn es alles zum Munde führt, so ist es nicht ein Zeichen des Hungers, sondern es ist nur ein Hinhalten der Dinge an die erregtesten Organe. Weiter hin gibt es keine Ausübung dieses Triebes, die nicht eine Reihe von vorbedachten Thätigkeiten sey. Also nur der allgemeine Trieb ist unmittelbar, sobald sie aber bestimmt wird, wird sie ein Vorbedachtes. Schon beym bloßen Greifen nach den Gegenständen ist mit dem Bewußtseyn verbunden, daß mit meinen Bewegungen eine Veränderung mit den Dingen vorgehe, und so ist schon dieses Greifen ein Vorbedachtes. Sehen wir auf die QBedingungenR des Leibes, so ist hier überall schon eine Reihe von Thätigkeiten, die nur zusammen etwas sind, und dieß ist etwas Vorbedachtes. – So wie wir hier dieß als Maximum aufstellen, während bey den andren als Minimum, so führt uns dieß auf die vorige Thätigkeit zurück. Das Vorbedachte setzt immer ein Wissen voraus und ebenso alles Wirken auf die Natur setzt ein Wissen um sie voraus. Damit ist alle Ableitung aus der Noth abgewiesen. Der Mensch will fortbestehen, sagt man; dieß kann er nur durch seine Thätigkeit, dieß ist seine Noth; ihr abhelfen kann er nur durch sein Wissen, und die Noth also führt ihn auf das Wissen. Allein wir haben das Wissen nicht aus der Noth abgeleitet, und so kann sie auch hier nicht mehr vorkommen. Freylich ist Wissen und Handeln ein Verschiednes, aber beydes schreitet nur mit einander fort und ist durch einander bedingt; wir können vom Seyn nur Wissen, wenn wir schon Besitz von ihr genommen haben, und sie nur besitzen, insofern wir von ihr wissen. Beydes fängt an in der chaotischen Verworrenheit, bald aber scheidet es sich bestimmt. Eine beschleunigte Herrschaft über die Natur ist Product dieser Thätigkeit, die aber eben vom Wissen abhängig ist, wie auch umgekehrt. – Wollten wir dieß alles aus der Noth ableiten, so wird zugleich ein andrer Satz damit aufgestellt, daß die Trägheit ein natürlicher Zustand des Menschen sey. | Trägheit ist ein Mangel an Lebenwollen, also auch an Selbsterhaltungstrieb. Nehmen wie nun Trägheit und Noth zusammen so wird der Mensch diese Thätigkeit nie weiter treiben, als um seiner Noth abzuhelfen. Aber wo war die Noth für alle Entdekungen und ihren Übergang ins practische Leben? es ist unerklärlich, wenn der Mensch eine natürliche Trägheit hat. Freylich fehlt es nie an solchen, die in der Noth sind, aber die Entdekungen gehen grade nicht von diesen aus. Also diese ganze Thätigkeit auf den Selbsterhaltungstrieb zu beziehen ist eine falsche Ansicht. Das Unmittelbare bey dieser Thätigkeit ist in jedem Anfang; aber er wird nur ein bestimmter als ein Vorbedachter, abhängig vom Wissen. Frey5 Triebes] Triebies

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lich kann das Complicirteste in der Naturbeherrschung verwandelt werden in Mechanisches, so daß jeder Theil ein geschlossenes Einzelnes ist, aber dieß setzt wieder voraus eine Theilung unter die menschlichen Kräfte, die sich dazu müssen vereinigt haben. Sonst aber hängt jede Bestimmtheit einer solchen Action vom Wissen ab, und die complicirten Thätigkeiten erfordern ein complicirtes Wissen; dieß geht bis zu einem unerreichten Maximum.

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Wenn wir von einzelnen Individuen ausgehen, so steht ihnen aber nicht nur die ganze Natur gegenüber, sondern die ganze Menschheit; und es frägt sich, ob es hier auch ein Besitzergreifen gab, ein Einswerden; dieß hängt ab von der Selbstthätigkeit des Einzelnen als solchen und als Gattungswesen. Das Anerkennen des Menschlichen kommt erst zu Stande wenn die Selbstthätigkeit des Einzelnen als solchen schon zum Theil entwickelt ist. Wir kommen auch hier auf die erste Verworrenheit der Gegensätze zurück. Die erste Anerkennung des Menschlichen geht aus von der Anerkennung des Persönlichen, des Selbstthätigen. Das Gattungsbewußtseyn als Leben wird also dem Einzelnen nur durch das Bewußtseyn von der Vereinigung mit anderm menschlichen Seyn. Wir haben gesagt, die Besitzergreifung der Natur in der Tendenz auf Naturbeherrschung beruhe auf einem Vorbedachten, auf einem Wissen, könne auch im Raum getheilt seyn unter Vielen, ebenso diese Gemeinschaftliche kann eine ungleiche seyn, so daß das zum Grunde liegende Wissen in Einem sey; und die Ausführung des Vorbedachten unter andern vertheilt als eine mechanische Thätigkeit. Fragen wir: wie verhält sich der Einzelne, indem das Vorbedachte, das Urbild ist, zu den andren, so sind sie allerdings sein Besitz, sie sind gleichsam nur eine Vervielfachung seiner eignen Organe. In andren Puncten und Beziehungen kann aber in ihnen das Urbild liegen, und jener kann dann der in Besitzgenommene seyn, also gegenseitig. Also es kann Besitzergreifung geben eines Einzelnen von Andern; 30 kann] kann es 19–25 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 151: „die Naturbeherrschung, sagten wir, setzt ein Wissen voraus, sie kann gleichzeitig getheilt seyn dem Raume nach, kann auch ungleich seyn, so daß das zu Grunde liegende Wissen und das vorbedachte also auch in einem sey und die Realisirung unter andern vertheilt und so daß das Wissen nicht ein ursprüngliches und die Thätigkeit eine mechanische. Dieß die Theilung der Arbeiten.“

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so die Sclaverey der Alten war eine absolute Besitzergreifung. Ein solches Verhältniß aber ohne Gegenseitigkeit hat nichts gemein mit dem weiter entwickelten Gattungsbewußtseyn. Aber der Fall also ist möglich und findet sich theilweise immer vor; und es gibt somit auch eine Besitzergreifung vom menschlichen Seyn. Wir finden auch diese Richtung, die eine Aufhebung ist [in] der Theilung des Seyns, eine Vereinigung mehrerer Seyn, in jedem Verhältniß zwischen 2 Individuen, das auf gegenseitiges Mitwissen oder Mitgefühl ausgeht. Dieß ist oft mehr ein gegenseitiges Verhältniß, oft mehr bloß von Einer Seite ausgehend. | Das Seyn der Mutter und des Kindes als Embryo ist nur Eins; der Moment der Geburt ist das Heraustreten dieses Seyns zu einem eigenen. Die erste Relation ist die, daß die Einheit wieder zurück kehrt, nur unter einer andren Form, das Kind ergreift Besitz von der Mutter durch die Nahrung von ihr. Aber auch umgekehrt ergreift die Mutter Besitz vom Kinde, indem sie sich in seinen Zustande hinein denkt und fühlt. Freylich ist dieß der Übergang zur Selbstständigkeit des Kindes. Freylich ist die Besitzergreifung durch das Kind eine bloß organische, die durch die Mutter eine psychische, und das Selbstbewußtseyn des Kindes ist noch in ihr: das ist eine geistige Besitzergreifung, aber nur um die Selbstständigkeit des Kindes hervorzurufen. – Denken wir uns nun das Verhältniß der Gedankenmittheilung und ein Übergewicht des psychischen Lebens im Mittheilenden, und umgekehrt, und betrachten dieß als ein Vorbedachtes, was will dann der Mittheilende? Er will seinen Gedanken in dem andren Leben erschaffen, er will ein Leben in dem andren gewinnen; er ergreift also Besitz von dem Andren. Allein dieß ist ein bloßer Übergangszustand; um so mehr seine Gedanken im Andren lebendig werden, um so mehr werden sie auch sein Eigenthum. – Diese ganze Thätigkeit setzt andre Menschen voraus. – Ebenso ist es bey der Kunst, die eine Manifestation des Einzelnen ist, der von andren will anerkannt seyn, d. h. er will einen Ort in ihrem Bewußtseyn haben; dieß ist auch eine partielle Besitzergreifung. – Hier aber ist die Sache ganz gegenseitig; der Eine nimmt die Manifesation des Seyns des Andren auf in sein Bewußtseyn, so daß das Seyn des Andren sein Eigenthum wird. Dieß ist eine Gegenseitigkeit: diese und das Übergewicht finden wir hier überall. Dieß sind 2 verschiedene Formen dieser Thätigkeit. 26 bloßer] bloßes Ms.: im Andern

28 sie] sie es sein Eigenthum] so Nachschrift Iffland, S. 152,

1 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 151: „Darauf beruht die Definition des Aristoteles vom S k l a v e n , er sey nur ein belebtes Werkzeug eines andern.“ Bei Aristoteles wird der Sklave als ein beseeltes Werkzeug bezeichnet. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1161b; Opera 2,65; ed. Bywater 172

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Letztres ist nur ein Übergangszustand, der sich nach und nach aufheben soll. Unter der Form der Gegenseitigkeit aber liegt das Behaltenwollen, und das Verhältniß zwischen einem sich Manifestirenden und einem Aufnehmenden hat nur seine Kraft in der Dauer. Fragen wir nun: Wenn unsre Selbstthätigkeit als Besitzergreifung auch soll jene Duplicität in sich haben, daß sie soll die Selbstthätigkeit des Einzelnen seyn als solchem, und ebenso die des Einzelnen als Gattungsglied, was soll denn hier die Thätigkeit des Gattungslebens im Einzelnen seyn? Gehen wir darauf zurück, daß der Mensch als Einzelleben Eins sey, daß wir ihn aber doch theilen als ein physisches und als psychisches Subject so kommen wir darauf, daß das letztre eigentlich das erstre bildet. Damit setzten wir voraus, das psychische Subject sey schon da; aber eben so es werde erst, denn es ist ja die Seele dieses Leibs. Somit haben wir eine andre Formel nöthig: insofern das psychische Subject erst werden soll, so ist dieß abgesehen vom Einzelwesen eine Thätigkeit des Menschengeistes, der vom Materiellen Besitz ergreift, und dadurch Seele wird. Dieß sind nun 2 verschiedene Ausdrücke desselben Factums, der eine, indem das psychische Subject als Einzelwesen betrachtet wird, und indem es als Gattungsleben betrachtet wird. – Wir haben nun schon gesagt, die Besitzergreifende Thätigkeit auf die Natur wird Naturbeherrschung als Thätigkeit des Einzelnen; für die andre Seite sc. das Menschliche haben wir noch keinen Ausdruck gesetzt, wir finden aber keinen andren als Liebe; die Besitzergreifung | des Menschlichen ist Liebe. Man könnte freylich sagen: wenn einer sich eines andren so bemächtigt, daß dieser sein ganzen Leben hindurch nur mechanisches Werkzeug, Knecht sey, so finde ja keine menschliche Gemeinschaft mit ihm Statt und hier sey Liebe unmöglich von beyden Seiten. Allein dieß Verhältniß muß dann auch betrachtet werden gegen den Willen des Einen Theils. Dieß ist ein Verhältniß das die Liebe ausschließt, aber es kann nur fortbestehen, insofern das Gattungsbewußtseyn noch nicht entwickelt [ist,] ja es ist ein Grenzpunct der besitzergreifenden Individuen gegenüber dem Gattungsleben der Einzelnen; wo letztres ist, ist jenes erstre unmöglich. Sind solche Verhältnisse bloße Durchgangspuncte, so enthalten sie diesen Gegensatz nicht, denn sie gehen auf Gegenseitigkeit aus, nach der Identität des Einzellebens und Gattungslebens. Es ist also dieß kein Einwurf gegen unsre Behauptung; die Thätigkeit des Gattungslebens in Einzelnen verwahrt vor diesem Abwege, auf den der Einzelne als Individuum kommen könnte. Also das Gattungsbewußtseyn bringt hervor das richtige Verhältniß dieser besitzergreifenden Thätigkeit, insofern sie sich auf das Menschliche bezieht im Einzelnen. – 4 einem] eines duum

15 Einzelwesen] Einzelwesen abgesehen

32 Individuen] Indivi-

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[58. Stunde] Also auch die receptive Thätigkeit geht hier von der Anerkennung des Menschlichen aus, und es ist auch hier eine Selbstthätigkeit und ein Eindruck. Erstres muß natürlich schon die Sinne öffnen, dann aber scheint der Zustand der Passivität überwiegend[,] ist aber wechselseitig. Wir betrachten das Bisherige also [als] Besitzergreifung mit dem Gattungsbewußtseyn und einem äußren Coefficienten. – Wir finden das Allmählige in der Fortentwicklung der Besitzergreifung des Menschlichen durch folgendes aufgeschlossen: Wenn es ein Zusammenseyn einzelner Massen von Menschen gibt, die noch so isolirt sind, daß sie das Fremde zurück stoßen, so ist das Gattungsbewußtseyn noch nicht entwickelt, und die menschliche Besitzergreifung ist gehemmt und beschränkt. So bald sich die Berührungen mit Fremden häufen, so entsteht daraus ein ganz andres Verhältniß; zuerst kann es eine Steigerung des Abstoßens seyn und zum Kriege führen; nun gibt es Fälle, wo ein solcher sich endigt in dem Aufhören des Einen Theils, Vernichtungskrieg, oder völlige Unterjochung desselben. Dadurch ist nur die Masse vergrößert, aber das Gattungsbewußtseyn ist nicht erweitert. Der Krieg kann sich aber auch endigen in einem Friedensschluß, Transaction; dieß ist schon eine Erweiterung des Gattungsbewußtseyns, und die Massen gleichen sich gegenseitig aus. Nur aus einer Reihe von solchen Überwindungen kann sich das Gattungsbewußtseyn ganz entwickeln. – Freylich wird hierin auch die Selbstthätigkeit bestimmt durch die äußren Eindrücke. Wir haben schon gesagt, wie der Trieb der Besitzergreifung ein rein gegenseitiges seyn kann, oder aber mit der Form des entschiedenen Überwiegens des einen Theils. Ob sich mehr das Eine oder das Andre entwickelt im einzelnen Individuum oder in ganzen Massen, hängt ab von den Eindrücken. Sehen wir mehr auf die Massen, so unterscheiden sie sich eben dadurch, daß es einige gibt, in denen sich die Gleichheit länger fortsetzt, und andre, die sich mehr entwickeln unter der Form der Ungleichheit, daß es Einzelne gibt, die mit einem Übergewicht von psychischem Leben auf die andren wirken. Hier ist für jedes Individuum in der Masse das Verhältniß der Eindrücke bestimmt, und dieß bleibt gleich, bis in der innren Entwicklung eine Veränderung vor sich 21 solchen] solcher 5–6 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 153: „Wir können dieß als eine Richtung der Selbstthätigkeit ansehn, welche als Moment durch die Eindrücke bestimmt wird. Jeder Moment trägt Übergewicht des einen in sich, das innere agens aber indifferent, also kann die Bestimmtheit nur in dem Zusammenseyn mit der Gesammtheit des Seyns entstehn.“

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geht. In beyden Fällen ist es nicht gleich, unmittelbar verglichen ist das psychische Leben derer, die sich unter der Form der Ungleichheit entwickeln freywillig, größer als dessen, der sich unter der Form der Gleichheit entwickelt. Aber dieß scheint nur | so; auch unter der Form der Gleichheit hätte ein solcher mit innigem psychischen Leben sich eben so gut entwickelt, auch da hätte er sich unterordnen können freywillig; und die Form der Gleichheit ist überhaupt die bessre. Gehen wir noch einmahl auf das Wohlgefallen und Mißfallen, Lebensförderung und -Hemmung zurück, und sehen wie sich dabey Einzelleben und Gattungsleben stellen; so schien uns: die Besitzergreifung in Beziehung auf das Natürliche sey das Persönliche, das Besitzergreifen des Menschlichen sey das Gattungsleben. Allein dieß ist nur Schein; in weitrer Entwicklung der naturbesitzergreifenden Thätigkeit kommen wir auch auf eine Nothwendigkeit der Verbindung menschlicher Kräfte, und dieß setzt das Gattungsleben schon voraus. Aber abstrahiren wir auch davon, so kommen wir auch sonst auf Thätigkeiten, die nicht mehr auf das Einzelwesen gehen, sondern in der Zeit sein Daseyn überschreiten. Denken wir an die gewöhnlichsten Selbstthätigkeiten, so finden wir dieß schon; die Existenz des Menschen ist gebunden an das animalische und vegetabilische Leben. Erlegt der Mensch Thiere, um seiner Nahrung willen, so ist es ein Act des momentanen Bedürfnisses; er denkt aber dabey doch an die Zukunft seines Lebens. Zieht er sich Thiere heran in der Viehzucht, so verläßt er sich nicht auf das Fortgehen des animalischen Lebens nach seinem Naturgesetz, sondern er ordnet es und zwar über sein Leben hinaus. – So auch im Vegetabilischen; wenn einer Früchte sucht, so ist dieß etwas Momentanes; aber im Pflanzen der Bäume und im Ackerbau geht er auch über sein persönliches Leben hinaus; er sagt sich dabey: du handelst hier als Mensch, nimmst die Natur in Besitz für die Menschheit in der Hoffnung, daß dieß auch später geschehen werde. Also schon hier tritt das Gattungsbewußtseyn ein; und das Gattungsleben ist jedenfalls dabey das Wirksame, wenn er sich dessen auch nicht bewußt ist, und glaubt, er thue es nicht als Mensch sondern als Hausvater, Bürger, etc. Gehen wir in der Richtung auf das Menschliche zurück auf das, was wir beym Selbstbewußtseyn gesagt haben, so machten wir einen Gegensatz zwischen dem Verhältniß eines Einzelnen zu den Andren überhaupt, und zwischen einem Einzelnen und einem bestimmten Andren; erstres ist Gemeinsinn, das zweyte persönliche Wahl. Letztres ist nicht eine Wirkung des Gattungsbewußtseyns denn dafür ist jedes Individuum gleich; es ist auch nicht das Gattungsleben auf ein Volk beschränkt, denn so wird jeder Stammesgenosse mir gleich, sondern es ist rein ein Verhältniß zwischen 2 Persönlichkeiten. Wie verhalte

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sich nun die Besitzergreifung zu diesen Eindrücken des Wohlgefallens? Die Affectionen des Selbstbewußtseyns finden ihre Reactionen in den Bewegungen der Selbstthätigkeit; aber diese Selbstthätigkeiten sind es auch, die ihre Richtung erhalten durch die Eindrücke. Also ist Wechselseitigkeit da von Receptivität und Spontaneität. Dieß bestimmt sich nicht immer nach der Quantität des Andren; es gibt Affectionen des Wohlgefallens an einzelnen Persönlichkeiten, | und die Reactionen der Selbstthätigkeit können doch sehr gering seyn. Die Selbstthätigkeit hat also ihre besondre Bestimmtheit. Z. B. ein Mann, der im öffentlichen Leben begriffen ist, seine Selbstthätigkeit ist die Fortsetzung seines Besitzstandes; seine Wirksamkeit nun hat ihre Pausen, wo dieß stille steht. Hier nun kann ihm eine Persönlichkeit aufstoßen, die ihm in diesem pausirenden Zustande sehr wohl gefällt; hält er sich aber in dieser, so wird daraus keine Reaction der Selbstthätigkeit entstehen; also wenn gleich immer eine Reaction ist, so ist es hier das Momentane Leben für diese Zeitpuncte. Umgekehrt aus der Richtung der Selbstthätigkeit geht nicht immer hervor eine Bestimmtheit des Selbstbewußtseyns in einer dieser beyden Beziehungen. Beydes also können wir immer gesondert erhalten. Wenn wir das Wohlgefallen an einzelnen Persönlichkeiten nicht aus dem Gattungsleben ableiten können, so ist dieß nicht zugleich auch immer eine persönliche Richtung der Selbstthätigkeit; und so entwickelt sich eine Menge von persönlichen Verschiedenheiten, die in den constructiven Theil gehören.

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[59. Stunde] Man wendet ein, daß beyde, die Besitzergreifung der Natur und des menschlichen Seyns nur Unterabtheilungen von Einem seyen. Dieser Einwurf ist unbedeutend, wenn es nur eine Abstufung der Abstraction seyn soll; aber sieht man darauf, daß es sich um den Impuls des innren psychischen Lebens handelt, so stellt sich die Sache sehr wichtig. Auch ist im Leben beydes oft im Widerspruch; die Richtung auf die Besitzergreifung des Menschlichen durch Liebe wird oft hintertrieben durch die Naturbesitzergreifung, was bey der Coordination nicht möglich wäre. – Vergleichen wir die Thätigkeit des Individuums als solchen zur Thätigkeit als Gattungsleben, so erscheint eben dieser Widerspruch sowohl zwischen mehrern Individuen als auch in Einem und demselben Individuum. Denken wir uns die Selbstthätigkeit als Einzelleben in einem Individuum fast ausschließend, so ist eben die des Gattungslebens ein Minimum in ihm; aber so bald dieß wechselt in den ver22 entwickelt] entwickeln

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schiednen Momenten, so ist es kein Widerspruch im Seyn selbst, sondern nur die Bedingung alles Einzellebens, das Auf- und Absteigen der verschiedenen Volitionen in verschiedenen Momenten. Wir können auch nicht sagen, daß die Richtung auf das Menschliche und auf die Natur sich widersprechen; denn gehen wir auf unsre transcendente Formel zurück, so finden wir die Einheit von selbst. Wir haben gesagt: die Seele bildet sich den Leib 1). von einem gewissen Puncte aus, doch auch rückwärts läßt sich dieß in Gedanken verfolgen; sagen wir aber, daß dadurch das Einzelwesen erst werde, so wird auch die Seele erst, und es ist eine Action des menschlichen Lebens, Seele seyn zu wollen, aber auch die Besitzergreifung des Geistes von Seite der Materie. So haben wir beydes, die Thätigkeit des Gattungslebens als Production und eben so die Richtung auf das äußre Seyn; und dieß geht dann in Einer Reihe so fort. – Wir haben auch gesagt, in der Richtung auf die Besitzergreifung der Natur sey die Richtung auf die Aufhebung des getheilten Seyns; es geht darauf aus, alles äußre in dem Organismus des geistigen Lebens zu verflechten und so zur Einheit mit ihm zu bringen als einem menschlichen. Ebenso aber ist die Richtung auf die Besitzergreifung des Menschlichen dasselbe Ziel, die Einheit des getheilten Seyn. In dem Zwischenraum aber, da die Vereinigung schon angefangen und ehe sie vollendet ist, ist ein beständiges Auf- und Absteigen zwischen diesen beyden Richtungen. | Sehen wir ein Individuum in dem das Gattungsleben ein Minimum ist, so ist sein ursprüngliches Seyn so construirt, daß kein starkes Gattungsleben sich daraus entwickeln wird, und nur das Zusammenleben kann etwas nachhelfen. – Finden wir dagegen diesen beständigen Wechsel, so sind beyde Richtungen da, aber nicht als vollendete Einheit. – Wo wir aber ein Leben finden, in welchem das Einzelleben sich immer subordinirt, da herrscht also das Gattungsleben. – Betrachten wir den ganzen Umfang von dieser Richtung, so müssen wir sagen: was wir uns denken können als Maximum des Einzellebens im Besitzergreifen der Natur und des Menschlichen da ist dieses Maximum zugleich das Minimum des Andren; wo überall das Gemeinsame abgestoßen wird, und nur auf das Einzelne ausgeht, da ist dieses Maximum. Wo aber in einem Einzelwesen das vom Gattungsle26–27 beständigen] beständigten 16–20 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 156–157: „Nur in Gemeinschaft aller kann man sich das äußere Seyn als in Besitz genommen denken, dann kein Gegensatz mehr | zwischen dem geistigen Leben und dem äußern Seyn. Die Getheiltheit des Seyns dann nur als eine dem Geist untergeordnete vorhanden und darin die höhere Einheit hergestellt, dieß nicht möglich ohne Gattungsleben und so hört der Gegensatz beider Richtungen auf, sie erscheinen im Ursprung und in Vollendung als dieselben.“

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ben Ausgehende immer so dominirt, daß jede gleichzeitige Beziehung des Einzellebens als solchen als Null erscheint, da ist eine völlige Unterordnung des Einzellebens. Dieß sind allerdings 2 Gegensätze, aber nicht Widersprüche. – Im letzten Fall ist ein gänzliches Verschwinden des Intresses am persönlichen Kreis vor dem Intresse des gemeinsamen Lebens; wenn aber in einem Einzelwesen obschon es ein Theil einer Masse ist, doch das Intresse an dieser Masse verschwindet gegen das Intresse an allem Seyn und Leben, so ist dieß erst das Maximum; dieß ist Kosmopolitismus gegenüber dem Patriotismus. Bleiben wir stehen bey der Masseneintheilung, so ist eben der Patriotismus diese Hingabe an die Masse. Zur Thätigkeit des Geistes gehört aber das Seele- oder Einzelwesen seyn wollen eben so gut wie das Gegentheil; will die Masse das kräftige Seyn der Einzelwesen, so kann das Intresse des Einzelnen an sich selbst nie Null seyn, wenn auch untergeordnet. Umgekehrt kann ein Zusammenhang menschlicher Thätigkeit in Beziehung auf die Naturergreifung nicht seyn ohne Hingabe und Unterordnung an eine Masse, und so ist es ein schlechter Kosmopolitismus der keinen Patriotismus will. Ein Verschwinden beyder ist also nie möglich. Die Wirksamkeit des Einzellebens ist im Gattungsleben befestigt und ebenso umgekehrt; verschwinden kann keins von beyden je ganz, nur zurücktreten. Die beyden Factoren dazu sind die Ursprünglichkeit des einzelnen Seyns und die Gesammtheit der äußren Affectionen. – Welches sind die einzelnen Beziehungen in dieser Gesammtrichtung, in denen die Wirksamkeit des Einzellebens als Maximum erscheint, so daß das Gattungsleben für die Wahrnehmung Null ist? und ebenso umgekehrt? In beyden Fällen haben wir etwas Unvollkommnes gesetzt, was in der Natur nur als Krankheitszustand vorkommt; in der fortgehenden Entwicklung liegt keins von beyden. Fragen wir: Welches sind die Beziehungen, in denen uns die Einheit in diesen beyden, in der Wirksamkeit des Einzellebens und Gattungslebens am vollständigsten erschienen, so ist die Antwort leicht? Wir müssen die Zusammenfassung von allem Einzelnen haben; die engste Vereinigung | in Beziehung auf das Menschliche ist die Geschlechtsliebe in der Ehe, die persönliche Besitzergreifung ist mit der Richtung auf die Gattung. Dieß ist eine Hauptwurzel für alle andren Lebensentwicklungen. – Welches ist das Weiteste, eine Richtung der Liebe auf die Gesammtheit des Geschlechts, doch in einer vollständigen Organisation mit vollständigem Bewußtseyn des Gattungslebens im Selbstbewußtseyn und mit der Beziehung auf die Aufhebung des getheilten Seyns? Im Religiösen ist diese Vereinigung niedergelegt im Ausdruck des Reichs Gottes; dieß ist das innigste Zusammenleben Aller in der allgemeinen 31 leicht] liegt

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Liebe; jenes erstre das innigste Zusammenseyn 2er. Diese beyden Richtungen nun müssen in jedem Einzelnen beysammen seyn, und alles Einzelne in der Erscheinung muß in diesen 2 Beziehungen betrachtet werden nach seinen Elementen.

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Es liegt uns noch eine Betrachtung vor uns über den Selbsterhaltungstrieb, die eigentlich außer unsrem Kreise liegt; wir sind von selbst nicht darauf gekommen, sondern der Selbsterhaltungstrieb ist eine moderne Erfindung, die wir berücksichtigen müssen. Indem wir sagten, das Psychische sey immer nur die Eine Seite, so abstrahirten wir dabey vom Leiblichen. Dann theilten wir das psychische Leben in seinen einzelnen Functionen, wollten aber die Einheit desselben gar nicht aufheben, sondern in der Mannigfaltigkeit wollten wir die Einheit erkennen. Wir theilten den Menschen in Selbstthätigkeit und Empfänglichkeit, bezogen beydes aufeinander, und sagten, es gebe keinen Moment des Lebens ohne beyde, nur mit überwiegendem Einen. – Was ist nun Selbsterhaltungstrieb? Es ist das Seynwollen in der Beziehung der noch vor uns liegenden Zeittheile, das fortwährende Zeitlichseynwollen. Dieß beweist sich von selbst, wenn Selbstthätigkeit darin liegt, und es ist nur das Ich in seiner Selbstthätigkeit. Nun aber hat dieser Ausdruck noch eine Stütze in der physiologischen Seite, aber es fragt sich, ob nur dann, wenn wir in ihr noch einen psychischen Moment finden. Wenn man sagt, daß wenn in Liebe eine Entziehung des Lebensstoffes gewesen ist, eine Assimilation mit neuem Stoff sich hervor dränge, so ist dieß eine Erscheinung, die im animalischen und vegetabilischen Leben ganz dieselbe ist. Selbsterhaltungstrieb ist dieß nicht sondern nur Leben, Einheit der Form im Wechsel des Stoffs. Also weder von der psychischen noch physiologischen Seite her kann man einen Selbsterhaltungstrieb annehmen. – Nun freylich gibt es Momente des Lebens, die man aus diesem Triebe erklären will. Es ist uns bisher schon vorgekommen die fixirte Vorstellung, daß das Entstehen des Lebens, insofern man es auf die psychische Selbstthätigkeit zurückführe, Seelewerden wollen des Geistes sey. Wollten wir dieß ebenso anwenden auf das Gattungsleben als Selbsterhaltungstrieb der Gattung, so wäre dieser Ausdruck auch hier nichts andres als die Einheit des Gattungslebens wie oben des individuellen Lebens. Gerade so ist es mit der Gattung und dem Einzelnen, es ist nur der Begriff des Lebens ohne daß man einen eignen Trieb annehmen darf. – Nun zu 9 so] und

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welchen Erscheinungen braucht man denn diesen Selbsterhaltungstrieb? Zuerst stößt uns der Ernährungsproceß auf. Er hat sein Wesen im Physiologischen | ist aber doch beym Menschen eine freye Handlung und wird ein psychischer Moment. Wie wird sie nun ein Selbsterhaltungstrieb? Ist etwas gemeint, das für das Vegetabilische und Animalische auch ebenso ist, dann ist es richtig, dann gilt es aber auch im Menschen nur vom rein leiblichen Theile der Function. Wie wird aber diese Thätigkeit eine psychische? Dadurch daß die Befriedigung vom Bedürfniß getheilt wird, daß der Act aus dem animalischen und vegetabilischen Theile heraus gesetzt wird. Denken wir uns ein Hauswesen, wo überall Speise und Trank ist, und jeder nimmt, wenn er Lust hat, dann ist es ein noch sehr unentwickelter Zustand, und nichts Psychisches ist dabey. So wie dieß aber ein Geselliges geworden ist, ist es schon ein Psychisches und das Bedürfniß ist überwunden, das Gattungsleben steht über dem Einzelleben. Wenn man den Selbsterhaltungstrieb als psychische Function setzt, so ist es nur das Fortdauernwollen des Individuums und dieß muß immer in Conflict kommen mit dem Gattungsleben, und in dem Maaße als man den Selbsterhaltungstrieb überall sucht, muß man das Gattungsleben abweisen. Dieß widerspricht aber unsrer Annahme von der Identität des Einzellebens mit dem Gattungsleben. In einem solchen Conflict haben wir 2 verschiedene Erklärungsweisen. Wenn einer in Beziehung auf das Gesammtleben, dem er angehört, so handelt, daß das Gattungsleben ganz zurücktritt, so ist dieß ein Mangel; nach dem Selbsterhaltungstriebe aber wäre es ein Vorzug, oder aber der Selbsterhaltungstrieb müßte ja abgewiesen werden, und wäre dann ein unnatürlicher Trieb. Also nach dieser Ansicht will man alles als erkünstelt ansehen, was einem ursprünglich natürlichen Triebe widerstrebt, und somit hier das Gattungsleben. – Wir haben Furcht, wenn unsrer Persönlichkeit Gefahr droht; dieß nennt man auch Selbsterhaltungstrieb. Ist dieß aber Trieb, was nur ein Negatives ist? Er bezeichnet doch immer eine positive Richtung des Lebens; dieß alles aber ist nur eine Reaction. Um solcher Erscheinungen willen also hat man keinen Trieb vorauszusetzen. Denkt dann aber auch in solchen Augenblicken der Furcht der Mensch an sein Abstractes Seyn, oder nicht vielmehr an sein bestimmtes Soseyn? Gewiß das letzte, und wir haben das Zusammenseyn von einer Menge psychischer Thätigkeiten; diese wollen fortdauern, es ist die Richtung auf die Werke, die der Mensch vor sich hat, nicht ein bloßer Selbsterhaltungstrieb. Wir sehen dieß an nicht als Stärke des Selbsterhaltungstriebs, sondern als Schwäche des Gesammtlebens in ihm, wenn er seine Werke aufopfert, um sich selbst zu erhalten. – Nun gehört noch hieher der Selbstmord mit allen Approximationen zu demselben. Dieß ist uns eine schwer zu erklärende Erscheinung; da

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das psychische Leben überall seine Nahrung findet, so ist dieser freye Entschluß schwer zu erklären. Bey der Annahme des Selbsterhaltungstriebes sagt man, dieser sey ihm eben abhanden gekommen. Wenn dieß aber seyn könnte, so hätte die wesentliche Existenz schon aufgehört vor dem Entschluß, und die Sache ist nicht erklärt. Man kann freylich sagen: ein solcher | natürlicher Trieb im Menschen kann nicht ab Handen kommen ohne Verwirrung der psychischen Natur, die wir Wahnsinn nennen. Daher erklären die Annehmer des Selbsterhaltungstriebs allen Selbstmord aus dem Wahnsinn. Man hat dazu verschiedene Arten des Wahnsinns erfunden: Monomanie, daß das ganze psychische Leben im Menschen könne gesund seyn; er habe aber einen einzelnen Punct, bey dessen Berührung der Wahnsinn ausbreche. – Diese Erscheinung des Selbstmordes also können wir aus unseren bisherigen Untersuchungen nicht erklären. Vielleicht dann im constructiven Theile. Aber wie verhält sich diese Erscheinung zum Selbsterhaltungstriebe? Nimmt man diesen an, so ist es nur noch etwas Neues, was die Sache verwickelter macht, man begreift nur noch weniger, wie ihm gerade entgegen gehandelt werden kann. Wird dieser Trieb aber so gesetzt, so ist er gegen alles Gattungsleben gerichtet, wo ein Conflict erscheint, und alles Intresse an einem Gesammtleben wodurch das Individuum könnte in seiner Existenz gefährdet werden, ginge [dieß] gegen den Selbsterhaltungstrieb. Wir haben ihn also nicht nöthig, und nehmen wir ihn an, so verwirrt er alles.

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Es fragt sich nun aber, ob ein andrer Nahme mit derselben Allgemeinheit an die Stelle des Selbsterhaltungstriebes zu setzen sey? Das psychische Leben ist anfangs nur ein Minimum gegenüber allen den einzelnen Functionen, und wollten wir hier einen allgemeinen Trieb annehmen, so wäre es eher ein Entwicklungstrieb. Denn nur aus diesem ließe sich das Zunehmen erklären. Die Richtung eines Dings, in seiner bloßen Lage bleiben zu wollen, ist die vis inertiae, und dieß wäre also auch der Selbsterhaltungstrieb. Doch wie dieser so hat auch jener erste Ausdruck etwas gegen sich; denn er faßt nur bis zur völligen Ausbildung des Menschen; dann erfolgt aber eine Contraction der allgemeinen und einzelnen Kraft im Menschen, und diese könnte nicht genannt werden Entwicklungstrieb. Wollte man aber von da an den Ausdruck Selbsterhaltungstrieb annehmen, da die Contraction nicht frey von Bewußtseyn ausgehe, so wäre dieß zwar das Richtige, und es wäre nur das Verhältniß des Einzelnen zum allgemeinen, zu den

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allgemeinen Gesetzen des Seyns. Nun aber arbeitet die Selbstthätigkeit dieser Contraction entegegen, und dieß wäre allerdings ein Selbsterhaltungstrieb. Also beyde Ausdrücke passen, aber für verschiedene Zeiten, und keiner bezeichnet das Ganze. Dieß zeigt uns auch wieder, wie unsre ganze Entwicklung eine fragmentarische ist, indem wir auf Dinge kommen, die sich nicht aus dem Ganzen ergeben, sondern aus dem Quantum nur und seinen Theilen. Wenn wir nun sagen, das allmählige Abnehmen und Verschwinden der einzelnen Kräfte hat nicht in seiner Entwicklung seinen Grund, so kommen wir hier zurück auf Naturwissenschaftliche Principien. Dieß ist eine Grenze für unsre Wissenschaft, die wir immer gegenwärtig haben müssen. Nun haben wir den elementarischen Theil vollendet, [sind] alle einzelnen psychischen Functionen durchgegangen; aber wenn sich nun doch zeigt, daß so vieles, das man als besondere Function des psychischen Lebens betrachten muß, nicht vorgekommen ist, muß man dann nicht schließen, der Schematismus sey unrichtig gewesen? | Allerdings sind viele gewöhnliche Ausdrücke gar nicht vorgekommen. Der gewöhnlichste Schematismus für das Einzelne hängt aber an einem Ausdruck, gegen den wir uns von Anfang an erklärten, Vermögen, Erkenntnißvermögen und Begehrungsvermögen, und beyde in ein niederes und ein höheres. Allein dieser Ausdruck trägt etwas Negatives in sich; er steckt nur einen Umfang von Möglichkeit ab. Aber ist das Unsrige etwas andres? im gewissen Sinne ist es dasselbe, wenn wir sagen: dieß sind zusammen genommen die einzelnen Functionen des psychischen Lebens. Aber faßt man den Ausdruck Vermögen als allgemeinen Begriff, so liegt dahinter, daß, damit was möglich ist, wirklich werde, noch etwas andres dazu kommen müsse; und dieß ist das Unzureichende. Wir haben gesagt: ein jeder wirkliche Moment besteht aus 2 Coefficienten: Denken wir uns das psychische Subject in seiner Einheit, so ist es gegen alle Functionen indifferent, es muß also erst ein Bestimmendes hinzukommen, aber es [ist] nicht einmahl ein Erregendes, denn dieß ist ein Innres, das psychische agens. Sagt man dafür, die Seele sey im ersten Anfang eine tabula rasa, so liegt darin die Summe aller Vermögen, aber durch die Seele selbst komme nichts darauf, sondern nur von außen. So wie man die Seele faßt als Complex von Vermögen, so liegt immer die Vorstellung einer Passivität dahinter, wir aber nehmen sie an als Agilität; und wenn auch alle äußren Anstöße fehlten, so wäre es doch ein gleichmäßiger Trieb[,] nach allen Richtungen gleichmäßig. Nun aber das niedre und höhere Vermögen, was wir auch nicht aufgenommen haben? In der Erkenntniß sind wir darauf gar nicht gekommen; aber was haben wir an die Stelle gesetzt? Wir haben 2 Endpuncte gesetzt sc. den ersten Anfang, der chaotische Sinnesein-

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druck und das Geöffnetseyn aller Sinne; im entwickelten Begriff der Welt setzen wir das Ende, aber vom Einen zum Andren war nur eine fortwährende Entwicklung aber kein Gegensatz von Niederem und Höherem. Doch haben wir einen Entwicklungsknoten angenommen, wo eine höhere Stufe anfing, das Besitzergreifen der Sprache, die Entwicklung der Denkfunction, während früher alles nur Bild war. Wollten wir nun das Bildliche das Niedre und die Sprache das Höhere nennen, so wäre nichts dagegen zu sagen; allein dort wird viel, was durch die Sprache vermittelt ist, das Niedre genannt, Bild und Wort zugleich als das Niedre. – Unsre Abtheilung kann niemand verkennen, weil die Sprache sich immer als Gegebnes fortpflanzt von einer Generation zur andren, und wir haben keine Erkenntniß von ihrem Anfang, wohl aber finden wir einen Anfang des psychischen Lebens ohne Sprache. Allein wollten wir versuchen, die Sprache ganz wegzudenken, würde dann nicht die vollkommene Entwicklung des Weltbegriffs da seyn, nur unter einer andren Form? Ja wohl. So wie wir zugegeben haben, daß die Bilder zuerst das Einzelne repräsentiren, dann auch das Allgemeine und nehmen wir an, daß jeder Moment des psychischen Lebens ein Bleibender ist, so ist auch dieser Unterschied zwischen | dem Einzelnen und Allgemeinen ein Bleibendes, und nehmen wir auch die bildliche Vorstellung von allen Thätigkeiten der Dinge auf mit dem Gegensatz des Allgemeinen und Einzelnen, so ist so ein Weltbild möglich ohne die Sprache, und wir können also nicht sagen, daß das Bildliche das Niedere sey und die Sprache das Höhere, sondern wie wir in der Arithmetik von den Zahlen übergehen zur allgemeinen Beziehung der Größe, so ist die Sprache nur eine andre Form, die aber an sich nicht höher und nicht niedrer ist als die andre. – Noch kommen wir auf viele andre Ausdrücke, sie uns nicht vorgekommen sind z. B. der Unterschied von Verstand und Vernunft; allein diesen Unterschied kennt eben gar niemand; denn es sind ganz willkührliche Trennungen, die in der Stabiliät nichts sind, und jede Schule hat ihren eignen Gebrauch damit, die eine will, daß die Vernunft zum Verstande komme, die andre umgekehrt. Sollen wir darüber einmahl ins Reine kommen, so müssen wir alle diese adelig gewordenen Ausdrücke wieder in den gemeinen Stand zurück werfen, weil sie keine Bestimmtheit haben, und ihren Adel nicht behaupten können. So mit Begriff, Vorstellung, Gedanke, die aus verschiedenen Schulen ein ganz verschiedenes Ragout geben, so daß man gar nicht mehr merkt, was man schmeckt. Wissenschaftlicher und gemeiner Gebrauch vermischen sich immer, und der erstre ist ganz willkürlich. – Eben so ist von Phantasie nicht geredet worden; und doch erklärt man alle künstlerische Production daraus. Allein der Eine erhebt die Phantasie, der andre verdammt sie, und hier ist wieder dieselbe Un-

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gleichheit. – Das Entstehende finden wir leicht in unsrem Schematismus. Unter Productivität haben wir dieses Alles beysammen, und die Sonderungen lassen sich weiter besser festhalten; aber man hat nur zu viel sondern und spalten wollen. Aber es gibt doch ein bestimmtes Verhältniß der Psychologie zur Ethik und in dieser haben wir einen Unterschied von löblichen und tadelswerthen menschlichen Handlungen; aber ist uns dieß vorgekommen in der Psychologie? Nein, auch von Leidenschaften war nicht die Rede. Dieß scheint allerdings ein größrer Mangel zu seyn, als jenes erstre; allein dieß gehört nicht in den elementarischen Theil hinein, zu den wesentlichen Functionen des menschlichen Lebens. Sind nun jene Handlungen und Triebe zu verwerfen, so müssen wir sie uns wegdenken können als unwesentlich, also gehören sie nicht in den elementarischen Theil. Auch Sinnlichkeit ist ein solcher schwankender Ausdruck, und im gewöhnlichen Leben heißt er theils Empfänglichkeit theils Selbstthätigkeit vom Körperlichen aus; auch hat er in andrer Gebrauchsweise einen ethischen Gedanken in sich, und so ist er also sehr vieldeutig. Die Vernunft ist eine theoretische oder eine practische, eine speculative, der dann noch eine nicht speculative entsprechen muß. Da soll dann Vernunft bey aller Höhe doch wieder nur das Vermögen zu schließen seyn, und alles Vernünftige der Schluß; und doch ist das Schließen eine Operation, mit der man keinen Hund aus dem Ofen locken kann, man erfährt gar nichts Neues dadurch, | was man nicht schon früher gewußt hätte; es ist das Erste und Erbärmlichste, was man sich denken kann. So käme am Ende der Verstand bloß den Thieren zu. Ebenso schlimm ist es mit der Phantasie, die auch so hoch und so tief zu gleich ist; man tadelt das Phantastische und ebenso einen Menschen, der keine Phantasie hat. Durch dieses Lob und diesen Tadel desselben Dings ist ein quantitativer Gegensatz, den man aber nicht genau auseinander hält, was schon eine Verwirrung ist. Auch die Leidenschaften sind uns nicht vorgekommen, wir wollten nur die dem psychischen Subject eigenthümlichen Functionen auseinander setzen, dabey aber sagten wir immer, daß jede eine variable Größe sey, die einen ganz verschiedenen Werth haben könne. Fragen wir dann, wie gestalten sich daraus die verschiedenen Individualitäten und Zustände, so ist dieß eben die verschiedene Mischung und Quantität der einzelnen Functionen, und dieß kommt uns nun im constructiven Theil.

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Er umfaßt die Zusammensetzung des menschlichen psychischen Lebens aus diesen überall gleichen Functionen, also er soll die menschlichen Differenzen im einzelnen Leben begreifen lehren. Nun aber gibt es keinen Übergang vom Begriff des menschlichen Einzelwesens zu der Vorstellung der unendlichen Menge verschiedener Individuen, der eine wissenschaftliche Erkenntniß hervor bringen könnte. Aber geht man zurück auf das Verhältniß von Wissen und Seyn, so zeigt sich, daß was in der Wissenschaft nicht seyn kann, auch im Seyn ist. Daher müssen wir die Individuen nicht einzeln neben einander stellen, sondern in Gruppen ordnen, in denen jedes Individuum wieder eine untergeordnete Einheit ist. Also wir haben es zunächst zu thun mit den Differenzen der Völker, die man dann wieder in größre Gruppen, Racen zusammen stellen kann; sind uns die Volkseinheiten gegeben, so ist es nicht sehr schwer, mehrere zu sammeln zur Einheit einer Race; aber wollen wir von der Einheit des Individuums zur Race fortschreiten, so wird dieß immer etwas Streitiges seyn. Ebenso wenn wir eine Volkseinheit haben, so können wir es in Stämme zerlegen und die Sprache in Mundarten; wollten wir aber die Aufgabe stellen, wie eine solche Einheit erschöpft werde von einer bestimmten Zahl bestimmter Individuen, so wäre auch dieß ein unendliches Geschäft. Also auf beyden Enden finden wir diese Schwierigkeit, und nur in der Mitte haben wir bestimmte Größen. Sagten wir: jedes Individuum ist ein Eigenthümliches, so müßten wir weiter sagen: jedes Individuum ist seinem Volke näher verwandt als andren. Würde es auf der andren Seite gelingen, die einzelnen Individuen überhaupt [zu] classificiren, so bekäme man doch dazu nicht für jedes Volk ein eignes Princip der Classification, und da scheint | es dann, daß in verschiedenen Völkern die Verwandtschaft oft größer wird als in demselben Volke. Dieß ist wieder ein Widerspruch. – Nun gibt es auch durchgehende Eigenthümlichkeiten, z. B. das, was den Fortschritt des Einzelnen durch alle Stufen des Lebens bestimmt, die Differenz der Lebensalter, die wesentlich überall dieselben sind. Ist sie nur die Differenz des Hinaufsteigens aus dem chaotischen Zustande zum Culminationspunct und wieder zurück, oder hat jedes Lebensalter auch wieder bey jedem ein andres Verhältniß? Diese ganze Form hängt zusammen mit einem eben so allgemeinen, nähmlich dem täglichen Wechsel von Wachen und Schlaf d. h. zwischen einem be8 Seyn] Seyn zurück

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wußten und relativ unbewußten Zustande. Dieser Wechsel ist verschieden in verschiedenen Lebensaltern, aber er zieht sich doch durch alle durch und ist die Grundlage von allem Wechselnden im Daseyn. – Noch ist die Duplicität der Geschlechter, ohne die es auf Erden keine Gattung gäbe, das sind die Aufgaben, die wir zu lösen haben. – Wollte man beym Ersten construiren noch ein Princip innerhalb seiner selbst, so kämen wir zu nichts; wir könnten doch dabey nicht auf ein psychisches Resultat rechnen, denn der Mensch ist für die ganze Erde bestimmt und kann überall leben mit allen Eigenthümlichkeiten. Ein Negerpaar wird überall Neger zur Welt bringen, dennoch hat die Negerrace eine eigenthümliche tellurische Heimath, in der sie begründet ist. Dieß liegt also im Gebieth der Naturgeschichte. Wir gehen aufs Psychologische aus, und müssen also die Differenzen nehmen, wie sie vorliegen, können sie nicht deduciren. – Denken wir an die Duplicität der Geschlechter, so ist es eine alte Frage, ob eine psychische Differenz dabey im Spiel sey oder nicht[;] sollte die Differenz construirt werden, so müßte erst entschieden seyn, ob eine solche da ist oder nicht. Auch diese allgemeine Entscheidung würde uns aber aus der Isolirtheit des einzelnen Lebens hinaus führen; wir müßten also nur fragen: haben wir einen hinreichenden Grund, eine Verschiedenheit anzunehmen, und worauf gründet sie sich? Alles dieses beruht auf Erfahrung und auf willkührlichen Annahmen. – Wie steht es um die allgemeine Aufgabe, die individuellen Differenzen zu finden? Durch ein reines Herabsteigen von oben finden wir sie nicht; denn wir müßten die Verschiedenheiten der Menschenracen und das, worin sich die Eigenthümlichkeit eines Volkes vollendet, kennen; allein beydes kennen wir nicht. Wollten wir aber dazu alle einzelnen Individuen betrachten, so wäre dieß ein unendliches Geschäft in doppelter Beziehung. Die Lösung geschieht annähernd nur durch unsern ersten Theil, indem wir fragen, was da für Eigenthümlichkeiten angelegt sind, die man schematisiren kann; denn auch das Veränderliche muß doch fixirt werden können, und im Allgemeinen bestimmt. Die Mannigfaltigkeit des Individuellen muß freylich immer vorbehalten bleiben. Diese Differenzen sind auch allgemein, und das Individuelle wird nicht dadurch bestimmt. Nun aber ist dieß doch in unsrer Aufgabe, weil das geistige Leben doch immer in seiner Eigenthümlichkeit erscheint; und für das Allgemeine müssen wir immer eine Ergänzung sehen. Diese allgemeinen Differenzen in unserm Schematismus wollen wir bezeichnen mit dem Ausdruck Temperamente, aber dieß ist noch nicht die individuelle Eigenthümlichkeit: Character ist schon individueller, es heißt eigentlich Gepräge, aber im Gebrauch macht man auch einen Gegensatz zwischen Menschen, die Character und die keinen haben, also auch dieß ist unbestimmt. |

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Bis hier haben wir die einzelnen Elemente des psychischen Lebens gefunden als Eins in dem zeitlichen Wechsel. Dieser Wechsel nun liegt nicht in den einzelnen Elementen und Functionen, sondern das Subjective ist der eine, die äußern Umgebungen sind der andre Coefficient. Das einzelne Leben ist ein Continuum, das so verläuft von Anfang bis Ende. Dieß soll nun die letzte Betrachtung seyn. Vorher suchen wir noch die Mannigfaltigkeit der Subjecte zu begreifen nach der dargestellten Einheit. Ein unmittelbarer Übergang von der bisherigen Einheit zu dieser Vielfachheit kann kein wissenschaftliches Product geben, sondern wir müssen theilen und zusammenfassen. Je mehr wir ins Einzelne gehen, desto mehr stehen wir auf der Erfahrung. Nun aber gibt es eine ursprüngliche Differenz durch die ganze Menschheit hindurch, die Differenz der Geschlechter. Nun fragt sich, ob mit den leiblichen Differenzen auch eine psychische gesetzt sey oder nicht. Noch keiner hat zwar behauptet, daß ein männliches Subject Vermögen habe, die dem weiblichen Geschlecht ganz fehlten, sondern beyde Geschlechter stehen auf unsrer Einheit. Das Gegentheil ist, daß gar keine psychische Differenz da sey zwischen beyden Geschlechtern; die verschiedenen Erscheinungen seyen nur Folge verschiedener Entwicklung, nicht verschiedener Anlagen. Die entgegen gesetzte Behauptung: daß allerdings in beyden Geschlechtern dieselben Functionen seyen, aber verschiedenes Verhältniß der einzelnen zu einander in beyden Geschlechtern. Es ist überhaupt eine vielfach vertheidigte Meinung, daß Anfangs alle psychischen Subjecte sich gleich seyen, und die Differenzen erst später entstehen; dieß geht zwar nicht nothwendig auf die Geschlechter. Aber doch ist es dasselbe Princip, sc. alle Differenzen der Individuen nur in der Entwickelung zu suchen. Es liegt bey dieser Behauptung Eine allgemeine Thatsache zum Grunde sc. daß im öffentlichen Leben überall das männliche Geschlecht das hervortretende, und das weibliche das zurücktretende ist. Denkt man die Möglichkeit einer ursprünglichen Gleichheit, so erscheint es ungewohnt, daß beyde Geschlechter von Anfang an so verschieden behandelt werden. Sagt man: in jedem Subject des andern Geschlechts ist keine größere Differenz als unter den männlichen Subjecten auch; nun aber werden jene gleich von Anfang an ganz anders behandelt, so ist diese verschiedene Behandlung eine Ungerechtigkeit. Davon ging Plato aus, wohl auch Socrates, nur hatte er einen andern Gesichtspunct, sc. es kam ihm darauf an, daß die Begriffe des Guten mußten dieselbe Anwendbarkeit haben auf beyde Geschlechter. Wenn nun eine quantiative oder quali36–39 Vgl. Platon: Menon 72a–73d; Opera 4,331–335; Werke 2,510–517

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tative Differenz zwischen den Geschlechtern wäre, so wäre eine solche gleiche Anwendbarkeit nicht möglich. Nicht leicht zwar wird jemand behaupten, daß es für das weibliche Geschlecht eine andre Moralität gebe als für das männliche; aber wenn sie irgend wie da ist, muß sie überall da seyn. Schon haben wir gesagt, daß kein einzelnes Element dem weiblichen Subject fehlte; eben so wenig können die Verbindungen fehlen, aus denen die Tugenden hervorgehen. Dadurch muthen wir den verschiedenen Geschlechtern verschiedene Tugenden zu; und es fragt sich, ob dieß nur Folge | der verschiedenen Behandlungsweise ist oder ursprünglich? Wir behandeln von Anfang an beyde Geschlechter verschieden, und muthen ihnen auch Verschiedenes zu; es fragt sich: ist Eins der Grund des andern oder nicht? Wollten wir für die Behandlungsweise einen andren Grund suchen, so müßten wir sagen: da das männliche Geschlecht überall dominirt im Leben, so müßten wir beym männlichen Geschlechte Selbstsucht voraussetzen. Gehen wir von der gegebnen Thatsache aus, so fragt sich: Ist die Thatsache daß das öffentliche Leben durch das männliche Geschlecht geleitet wird, eine Thatsache des menschlichen Geschlechts oder des männlichen Gemüthes? Wir müssen nun davon ausgehen wie Socrates und Plato, die Weiber seyen eben so fähig zum regieren wie die Männer, und müssen dann darauf ausgehen, was man in der neuren Zeit die bürgerliche Verbesserung der Weiber genannt hat. Die psychische Differenz ist jedenfalls eine unentschiedne; und man kann sagen, daß trotz der ungerechten Behandlung doch einzelne Weiber sich hervor thun, die alle männlichen Vollkommenheiten haben. Also a priori kann man dieß nicht abweisen. – Das Entschiedene aber ist die leibliche Differenz und von diesem Puncte ausgehend sollte man behaupten können, daß daraus wesentlich eine psychische Differenz folge. Aber können wir dieß? könnten wir es, so wäre die Frage entschieden: müßte man aber sagen: aus der leiblichen Differenz läßt sich keine psychische Differenz ableiten, so wäre die Frage nicht entschieden, es könnte jedoch eine ursprüngliche psychische Differenz da seyn. – Schon haben wir als Fiction die Formel aufgestellt, daß die Seele den Leib bilde; daraus nun würde folgen, daß die Seele schon von Anfang nicht dieselbe war; und es würde dann schon im Moment, wo der Geist Seele würde, diese Seele bestimmt eine männliche oder eine weibliche. Aber jene Formel hat diese allgemeine Gültigkeit nicht und ist nur eine Hypothese. Wollten wir aber die Sache selbst untersuchen, so kommen wir über unser Gebieth hinaus, da wir ja den männlichen 21–22 Vgl. Platon: Politeia, insbesondere 449a–471e, Opera 7,2–49; Werke 4,366– 439; Hippel, Theodor Gottlieb von: Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Berlin 1792 [SB 917]

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und weiblichen Organismus durchschaut haben müßten, ehe wir schließen könnten, ob damit nothwendig verbunden sey Verschiedenheit der psychischen Anlagen. Das aber ist ganz klar und ausgemittelt, daß die leibliche Differenz nicht nur die geschlechtlichen Functionen betrifft, sondern daß sie sich weiter erstreckt, und die beyden Skelette sind ganz verschieden, und auch die äußere Gestalt, abgesehen von den Geschlechtsfunctionen, ist eine verschiedene. Aber wie steht es mit dem Organismus, der mit dem psychischen Leben sehr nahe verwandt ist, mit dem Gehirn und Nervsystem? hat man hier eine geschlechtliche Differenz gefunden, die ganz durchgeht? Man hat freylich von vielen Affectionen gesprochen, die nur dem weiblichen Geschlechte zukommen, aber durchgehend ist die Differenz nicht. Nun also haben wir ein Maximum von Differenzen in den Organen der Geschlechtsfunctionen und ein Minimum im Gehirn und Nervsystem. Also haben wir für eine psychische Differenz nur einen sehr zweifelhaften Grund. Plato geht von den Geschlechtsfunctionen | aus, und sagt: das weibliche Geschlecht ist zwar periodisch unfähig zu öffentlichen Geschäften, aber doch ist die Hündin außer dieser Zeit eine so gute Jagdhündin wie der Hund. Er reducirt also die Differenz in der Zeit auf ein Minimum; da ja allerdings auch bey Männern Unterbrechungen eintreten. Also darin liegt kein bestimmter Grund. – Gehen wir von der gewöhnlichen Praxis aus und fragen: wie sich das weibliche und männliche Geschlecht verhalten in Absicht auf die oft behauptete Ungerechtigkeit gegen das weibliche Geschlecht? –

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Entgegengesetzt wird nun auch behauptet eine ursprüngliche Differenz beyder, eine quantitative Differenz des geistigen Lebensgehalts. Ist dieß gegründet, so muß es sich auch erweisen im Erfolg. Stellen wir uns die Frage: Liegt denn in der Art zu seyn beyder Geschlechter eine Ungerechtigkeit zum Grunde, wenn nicht eine solche geistige Ungleichheit die richtige Voraussetzung wäre? Was hat denn bey uns das weibliche Geschlecht für eine Stellung, und was ist vom Gesammtleben ihm überlassen? Das öffentliche Leben wird ganz vom männlichen Geschlecht geleitet; aber wenn ursprünglich Gleichheit da war, so wird der Erziehung sehr viel zugeschrieben. Das weibliche Geschlecht hat aber gerade die erste Erziehung beyder Geschlechter zu 8 der] das

18 die] folgt ))männliche**

24 Geschlecht?] Geschlecht.

16–19 Platon: Politeia 451d–e, 459a–b, 466d–e, Opera 7,7–8, 22–23, 38–39; Werke 4,372–375, 396–399, 420–423

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besorgen, also sehr viel. Vergleichen wir unsern Zustand mit dem vorchristlichen so ist ein bedeutender Unterschied selbst im classischen Alterthum. Da wurde die Jugend viel früher den Müttern entzogen und unter männliche Aufsicht gestellt. Gerade über den Einfluß der Erziehung haben wir uns auf den sceptischen Standpunct gestellt. Es fragt sich: wie viel ist auf den Einfluß der ersten weiblichen Erziehung zu rechnen, da alle Ungleichheit soll daraus erklärt werden bey Annahme der ursprünglichen Ungleichheit? Bey der ersten Erziehung schon entwickelt sich die Ungleichheit, es ist im 7ten Jahre ungefähr ein Entwicklungsknoten, in welchem die beyden Geschlechter sich abstoßen. Erst von da an aber wird die Erziehung beyder getheilt und verschieden behandelt. Wie findet sich das psychische Leben in diesem Stadium? schon gibt es da bedeutende Differenzen der Geistesanlagen unter den Kindern. Dieß ist zwar oft unsicher, und bleibt sich später nicht gleich. Doch wenn ursprüngliche Gleichheit ist, so kommt alle jetzige Differenz auf Rechnung des weiblichen Geschlechts. Das ist ein starkes Gegengewicht gegen die öffentliche Geschäftsführung des männlichen Geschlechts. Die Frauen haben den Haupteinfluß im Innern des Hauses und unter den jüngsten seiner Bewohner; was nun hernach die Männer im spätren öffentlichen Leben sind und thun, ist hervor gerufen durch diese erste weibliche Erziehung. Somit wäre die Rolle der Frauen gewiß nicht geringer als die der Männer; denn die Kraft des öffentlichen Lebens ist gewiß nicht einmahl gleich der Kraft des gesammten häuslichen Lebens. Jenes bestimmt sich hauptsächlich aus diesem. Betrachten wir noch dazu, daß die Rückwirkung aus dem öffentlichen Leben auf das häusliche weit geringer ist als die des häuslichen auf das öffentliche fortwährend, so steht das häusliche ja höher; denn aus ihm geht die richtige Temperatur des Gesammtlebens aus, während die leidenschaftlichen Regungen immer aus dem öffentlichen Leben ausgehen. Somit ist der Einfluß des weiblichen Geschlechts auf das öffentliche Leben sehr groß, in allem, was auf den Naturbeherrschungstrieb geht, d. h. auf den Staat. In Beziehung auf das Ganze steht das weibliche Geschlecht dem männlichen gewiß nicht nach. Vorausgesetzt dieß sey richtig, so haben wir keine Ursache, eine Differenz | anzunehmen, nach der das weibliche Geschlecht weniger geistigen Gehalt habe. Dagegen ist die Contraposition darin, daß das weibliche Geschlecht im häuslichen Leben, das männliche im öffentlichen Leben dominirt, und eine Differenz ist es also immer. Dahin führt uns die Wirklichkeit des Gegebenen. Wir suchen nun eine Formel für diese Differenz nach der bisherigen Entwicklung. In wel3 entzogen] so Nachschrift Iffland, S. 170, Ms.: erzogen heit.

8 Ungleichheit?] Ungleich-

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chem Verhältniß steht diese Contraposition beyder Geschlechter zu unsern Elementen? Die Gesammtheit der häuslichen Kreise verhält sich zur Gesammtheit des öffentlichen Lebens wie das Einzelne zum Allgemeinen. Ist die verschiedene Stellung der beyden Geschlechter also ursprünglich gegründet, und nicht bloß in der Erziehung, so hätten wir sie so zu bezeichnen. Indem wir im ersten Theile die psychischen Functionen in ihrer Entwicklung betrachteten, von einem Chaotischen ausgingen und als ersten Proceß ansahen, daß sich dieß in Einzelnes und Bestimmtes sondert, als erste Operation, so gilt dieß gleichmäßig vom objectiven und vom Selbstbewußtseyn und von Seiten der Spontaneität wie der Receptivität, da wir voraussetzten, daß in den ersten Functionen das Ich indifferent sey und einen äußren Coefficienten erfordere. Auch dieß ist ein Einzelnes, und das Hervorrufen des Einzelnen ist also auch hier das erste. Dieses Einzelne ist das Unvollkommnere, und erst später bey den allgemeinen Begriffen und Entschlüssen kommt das Vollkommnere. Doch dieß ist nur wahr von der einen Seite. Wir sahen auch, daß diese Bestimmung des Einzelnen aus dem Chaotischen richtig nur von Statten gehen kann, unter der Voraussetzung, daß in den ursprünglichen Anlagen des Geistes dieselben Formen seyen, die wir dann im Äußren des gesonderten Seyns finden. Also ist in der Production des Einzelnen auch die Gesammtkraft des Geistigen thätig. Im Gegentheil schreiten wir zum allgemeinen Begriff vor, auf eine übereilte, unzeitige Weise, daß die einzelnen Formen des Geistes ihm nicht entsprechen, so ist dieß gerade ein Unvollkommnes. Also gerade die ersten geistigen Thätigkeiten gehen aus der Gesammtheit des geistigen Lebens hervor; und die spätere Entwicklung beruht auf Störungen und ist unrichtig, wenn sie nicht mit jenen ersten zusammen fällt. Ferner ohne Sonderung der Begriffe in Worten rein durch Bilder den Weltbegriff zu erschöpfen, können wir nicht niedriger stellen als die Entwicklung des Weltbegriffs durch Begriff und Wort. Jenes ist unmittelbar, dieses bloß mittelbar, und nur richtig, wenn es jenem entspricht; wäre also beydes möglich, so wäre beydes gleich hoch zu stellen. Die Einheit wäre aber nicht in diesem unendlichen Aggregat von Bildern? Sie ist darin, aber unter anderer Form; diese Einheit ist immer eine andre als die Überzeugung, absolute Gewißheit, hier wäre sie unter der Form des Selbstbewußtseyns, im Begriff unter der Form des Calculus. Beydes gehört zusammen und das Eine ist nur die Probe zum andren. Die Anwendung ist diese: Das weibliche Geschlecht nimmt seine Stellung in der Welt darin ein, weil sein psychisches Leben überwiegend auf der Seite des Einzelnen steht, 12 einen] eines als als

19 den] der

23 übereilte] übereilter

28 fällt] stellt

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das männliche mehr auf der Seite des Allgemeinen. Es fragt sich, ob dieß sich bestätigt in der Wirklichkeit beyder Geschlechter. Aus der weiblichen Bildung ist alle strenge Wissenschaft ausgeschlossen und nur dem männlichen gegeben; | Dieß ist die späte Überlieferung. Das weibliche Geschlecht wäre bey uns nicht bestimmt durch Sitte gebunden, nicht weiter zu gehen in der Wissenschaft, aber die Neigung leitet sie von einem gewissen Puncte an abwärts in der Wissenschaft, ins Einzelne hinein, in die Bilder. Dieß findet sich auf allen Seiten, und ist der Schlüssel zur constanten Differenz beyder Geschlechter.

9 Vgl. Nachschrift Iffland, S. 172: „Schleiermacher starb am 12ten Februar Mittags 11 ½ Uhr von niemand ersetzt, von jedermann tief betrauert.“ Ludwig Jonas führte die Vorlesung zur Seelenlehre nach Schleiermachers Tod auf Grundlage vermutlich seiner eigenen Aufzeichnungen des Kollegs aus dem Sommersemester 1830 weiter. Der Schreiber der vorliegenden Nachschrift nahm nicht bis zum Ende an der Veranstaltung teil.

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Abkürzungen BBAW Bd. Bl.

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Band Blatt

cf.

confer

d. i.

das ist

etc. / &c.

et cetera

GStAPK

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

i. e.

id est

KGA korr.

Kritische Gesamtausgabe korrigiert

L.

lectio

Ms.

Manuskript

NB. NL

nota bene Nachlass

p. p. / pag. p. h. / p. hebd. pp.

perge pagina per hebdomades perge perge

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recto

SB sc. seqq. SW

Schleiermacher Bibliothek (KGA I/15) scilicet sequentes Sämmtliche Werke

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v v. J.

verso vergangenen Jahres

z. E.

zum Exempel

Editorische Zeichen | [] ] )* QR Kursivschrift Sperrdruck

Seitenwechsel Ergänzung der Herausgeberin Lemmazeichen Streichung unsichere Lesart Rede der Herausgebenden Hervorhebung im Original

Literatur Das Literaturverzeichnis führt die Schriften auf, die in Schleiermachers Text sowie in den Apparaten und der Einleitung der Bandherausgebenden genannt sind. Die jeweiligen Titelblätter werden nicht diplomatisch getreu reproduziert. Folgende Grundsätze sind besonders zu beachten: 1. Die Verfassernamen werden in der heute gebräuchlichen Schreibweise angegeben. In gleicher Weise wird bei den Ortsnamen verfahren. 2. Ausführliche Titel werden in einer sinnvollen Kurzfassung wiedergegeben, die nicht als solche gekennzeichnet wird. 3. Werden zu einem Verfasser mehrere Titel genannt, so bestimmt sich deren Abfolge nach Gesamtausgaben, Teilausgaben und Einzeltiteln. Gesamtausgaben und Teilausgaben werden chronologisch, Einzeltitel alphabetisch angeordnet; bei letzteren ist das erste Wort unter Übergehung des Artikels maßgebend. 4. Bei anonym erschienenen Werken wird der Verfasser in eckige Klammern gesetzt. Lässt sich kein Verfasser nachweisen, so erfolgt die Einordnung nach dem ersten Titelwort unter Übergehung des Artikels. 5. Bei denjenigen Werken, die im Rauchschen Auktionskatalog der Bibliothek Schleiermachers und in den Hauptbüchern des Verlages G. Reimer aufgeführt sind, wird nach den bibliographischen Angaben in eckigen Klammern die Ausgabe „SB“ (Schleiermachers Bibliothek. Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, besorgt von Günter Meckenstock, Schleiermacher-Archiv 10, Berlin/New York 1993; KGA I/15, S. 651–912) mit der Listennummer hinzugefügt. 6. Anhangsweise werden die im Band angeführten Archivalien zusammengestellt, geordnet nach Archiven und deren interner Systematik.

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Allgemeine Deutsche Biografie (ADB), Bd. 1–56, Leipzig 1875–1912 Allgemeine Schulzeitung. Ein Archiv für die Wissenschaft des gesammten Schul-, Erziehungs- und Unterrichtswesens und die Ge-

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Literatur

1057

Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik oder Kritische Bibliothek für das Schul- und Unterrichtswesen, edd. Seebode, G. / Jahn, J. Chr. / Klotz, R., 5. Jg., Bd. 14, Heft 1, Leipzig 1835 Neumann, Johannes: Schleiermacher: Existenz, Ganzheit, Gefühl als Grundlagen seiner Anthropologie, Berlin 1936 Nissen, Gerhardt: Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2005 Pappos von Alexandria: Pappi Alexandrini Mathematicae collectiones [lat.], ed. F. Commandino, Bologna 1660 —: Pappi Alexandrini collectionis quae supersunt, ed. F. Hultsch, Bd. 1–3, Berlin 1875–1878 [Nachdruck Amsterdam 1965] Platon: Omnia opera [gr.], ed. J. Oporinus, Bd. 1–2, Basel 1534 [SB 1489] —: Opera [gr./lat.], ed. Societatis Bipontinae, Bd. 1–12, Zweibrücken 1781–1787 [SB 1490] —: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd. 1–8, ed. G. Eigler, 2. Aufl., Darmstadt 1990 Platner, Ernst: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Bd. 1–2, Leipzig 1793–1800 [SB 1488], (Nachdruck) Brüssel 1968 —: Philosophische Aphorismen, Leipzig 1784 Platz, Carl: Schleiermachers Psychologie, in: Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutschland 9, Berlin 1862, S. 479– 485, 543–551, 567–577 Regensburger Wochenblatt, 24. Jg., Regensburg 1843 Reich, Andreas: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, Berlin 1992 (SchleiermacherArchiv 12) Reil, Johann Christian: Einige Parallelen zwischen Seele und Leib, somatischem und pneumatischem Kopf, Gehirn und Denkvermögen, Behufs der Diagnosis der Asthenie des letztern, in: Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege, Bd. 1, Halle 1808 Reinbeck, Johann Gustav: Philosophische Gedanken über die vernünfftige Seele und derselben Unsterblichkeit, Berlin 1740 [SB 1570] Rieger, Reinhold: Interpretation und Wissen. Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Schleiermacher und ihre geschichtlichen Hintergründe, Berlin 1988 Ritzmann, Iris: Sorgenkinder. Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert, Köln/Weimar 2008

1058

Verzeichnisse

Rousseau, Jean-Jacques: Collection complète des œuvres, Bd. 1–30 in 15, Zweibrücken 1782–1784 [SB 1625] —: Œvres complètes, Bd. 1–5, 2. Aufl., Paris 1986–1995 Schambach, Sigrid: Johann Hinrich Wichern, 4. Aufl., Hamburg 2008 Scheidler, Karl Hermann: Ueber das Studium der Psychologie, Jena 1827 [SB 1679] —: Propädeutik und Grundriß der Psychologie, 2. Aufl., Darmstadt 1833 [SB 1679] Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Ideen zu einer Philosophie der Natur, Leipzig 1797 [SB 1686] —: Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus. Nebst einer Abhandlung über das Verhältniß des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Principien der Schwere und des Lichts, Hamburg 1798 [SB 1691] —: Vorlesung über die Methode des academischen Studium, Tübingen 1803 [SB 1692] Schlenke, Dorothee: „Geist und Gemeinschaft“. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Friedrich Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin 1999 Schmid, Johann Michael: Vollständiges wissenschaftliches Gedankenverzeichniß zur Behandlung der allgemeinen Schriftsprache, Dillingen 1807 [SB 1728] —: Von den bisherigen Versuchen, eine allgemeine Schriftsprache einzuführen, Dillingen 1807 [1729] Schmidtke, Sabine: Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heilung, Tübingen 2015 Schneider, Helmut: Geist und Geschichte. Studien zur Philosophie Hegels, Frankfurt/M. 1998 Schubert, Gotthilf Heinrich von: Altes und Neues aus dem Gebiete der innren Seelenkunde, Bd. 1–2, Leipzig 1817–1825 [SB 2561] Schleiermacher: Werkausgaben Schleiermacher, Friedrich: Sämmtliche Werke, Berlin 1834 ff, zitiert als SW SW

III/3

SW

III/4.1

Reden und Abhandlungen, der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse, ed. L. Jonas, Berlin 1835 Geschichte der Philosophie. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse, ed. H. Ritter, Berlin 1839

Literatur

SW

III/5

SW

III/6

SW

III/7

SW

III/9

1059

Entwurf eines Systems der Sittenlehre. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse, ed. A. Schweizer, Berlin 1835 Psychologie. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, ed. L. George, Berlin 1862 Vorlesungen über die Aesthetik. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und aus nachgeschriebenen Heften, edd. C. Lommatzsch / G. A. Reimer / G. E. Reimer, Berlin 1842 Erziehungslehre. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen, ed. C. Platz, Berlin 1849

—: Kritische Gesamtausgabe, Berlin/New York 1980 ff, zitiert als KGA KGA I/1 KGA I/2 KGA I/3 KGA I/7.1+2 KGA I/7.3

KGA I/8 KGA I/11 KGA I/12 KGA I/14 KGA I/15

Jugendschriften 1787–1796, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984 Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984 Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1988 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), ed. H. Peiter, Berlin/New York 1980 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22). Marginalien und Anhang, ed. U. Barth, unter Mitw v. H. Gerdes / H. Peiter, Berlin/New York 1984 Exegetische Schriften, ed. H. Patsch / D. Schmid, Berlin/New York 2001 Akademievorträge, ed. M. Rößler, unter Mitw. v. L. Emersleben, Berlin/New York 2002 Über die Religion (2.–)4. Auflage. Monologen (2.–) 4. Auflage, ed. G. Meckenstock, Berlin/New York 1995 Kleine Schriften 1786–1833, edd. M. Wolfes / M. Pietsch, Berlin/New York 2003 Register zur I. Abteilung. Abbenda und Corrigenda zur I. Abteilung; Anhang: Günter Meckenstock, Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des

1060

KGA II/4 KGA II/6 KGA II/8 KGA II/10 KGA II/12

KGA II/16 KGA III/1 KGA III/2 KGA III/12 KGA III/13 KGA IV/3 KGA V/1 KGA V/3

Verzeichnisse

Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer. Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage, Berlin/New York 2005 Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik, ed. W. Virmond, unter Mitw. v. H. Patsch, Berlin/Boston 2012 Vorlesungen über die Kirchengeschichte, ed. S. Gerber, Berlin/New York 2006 Vorlesungen über die Lehre vom Staat, ed. W. Jaeschke, Berlin/New York 2011 Vorlesungen über die Dialektik, Teilband 1 u. 2, ed. A. Arndt, Berlin/New York 2011 Vorlesungen über die Pädagogik und amtliche Voten zum öffentlichen Unterricht, edd. J. Beljan / Ch. Ehrhardt / D. Meier / W. Virmond / M. Winkler, Berlin/ Boston 2017 Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik, ed. S. Gerber, Berlin/New York 2011 Predigten. Erste bis Vierte Sammlung (1801–1820) mit den Varianten der Neuauflagen (1806–1826), ed. G. Meckenstock, Berlin/Boston 2013 Predigten. Fünfte bis Siebente Sammlung (1826– 1833), ed. G. Meckenstock, Berlin/Boston 2015 Predigten 1830–1831, ed. D. Schmidt, Berlin/Boston 2013 Predigten 1832, ed. D. Schmid, Berlin/Boston 2014 Platons Werke, Erster Teil, erster Band. Einleitung, Phaidros, Lysis, Protagoras, Laches, edd. L. Käppel / J. Loehr, Berlin/Boston 2016 Briefwechsel 1774–1796, edd. A. Arndt / W. Virmond, Berlin/New York 1985 Briefwechsel 1799–1800, edd. A. Arndt / W. Virmond, Berlin/New York 1992

—: Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 1–4, edd. O. Braun / J. Bauer, Leipzig 1910–1913, 1911, 2. Aufl., 1927–1928 (Neudruck Aalen 1967, 1981), zitiert als Braun/Bauer —: Schriften. Bibliothek der Philosophie, Bibliothek deutscher Klassiker 134, ed. A. Arndt, Frankfurt/M. 1996, S. 845–945 Schleiermacher: Briefe Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 1–2, 2. Aufl., Berlin 1860; Bd. 3–4, edd. L. Jonas / W. Dilthey, Berlin 1861–1863, zitiert als Briefe

Literatur

1061

Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundschaftsbriefe 1804–1834. In neuer Form und mit einer Einleitung und Anmerkungen, ed. H. Meisner, Stuttgart/Gotha 1923, zitiert als Briefe ed. Meisner Schleiermacher: Einzeltitel Schleiermacher, Friedrich: Rezension von „Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Königsberg 1798“, in: Athenaeum 2/2, Berlin 1799, S. 300-306 Schock, Werner: Individuation und Sinntotalität in Schleiermachers Monologen, in: Analytische Psychologie, Bd. 21 (1), 1974, S. 52– 65 Scholtz, Gunter: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984 Scholz, Heinrich: Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre. Ein Beitrag zum Verständnis der Schleiermacherschen Theologie, Berlin 1909 Schultz, Werner: Das Verhältnis von Ich und Wirklichkeit in der religiösen Anthropologie Schleiermachers, Göttingen 1935 Schulze, Gottlob Ernst: Psychische Anthropologie, Göttingen 1816 [SB 1787] Sextus Empiricus: Opera [gr./lat.], Leipzig 1718 [SB 1828] —: Opera, Bd. 1–4, edd. J. Mau / H. Mutschmann, Leipzig 1958– 1962 Sibbern, Frederik Christian: Menneskets aandelige natur og vaesen. Et udkast til en Psychologie, Bd. 1–2, Kopenhagen 1819–1828 [SB 1837] Sickel, Karl Friedrich: Jahresbericht über die von der Familie von Wißleben gestiftete Klosterschule Roßleben, umfassend den Zeitraum von Ostern 1846 bis dahin 1847. Voran geht eine Abhandlung des Dr. K. F. Sickel: Über die homerischen Gleichnisse, Halle 1847 —: Questionum Homericarum. Part I, in: Prgramm der von der Familie von Wißleben gestifteten Klosterschule Roßleben, Halle 1854 Siegmund-Schultze, Friedrich: Schleiermachers Psychologie in ihrer Bedeutung für die Glaubenslehre, Tübingen 1913 Sigwart, Christoph von: Schleiermachers psychologische Voraussetzungen, insbesondere die Begriffe des Gefühls und der Individualität, in: Jahrbuch für Deutsche Theologie 2, 1857, Neudruck Darmstadt 1857 Steffens, Henrik: Anthropologie, Bd. 1–2, Breslau 1822 [SB 1886]

1062

Verzeichnisse

—: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806 [SB 1890] —: Schriften. Alt und Neu, Bd. 1–2, Breslau 1821 [SB 1891] —: Ueber die Geburt der Psyche ihre Verfinsterung und ihre Heilung, in: Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege, Bd. 2, edd. J. Chr. Reil / J. Chr. Hoffbauer, Wien 1816, S. 249–324 —: Was ich erlebte. Aus den Erinnerungen niedergeschrieben, Bd. 1– 10, Breslau 1840–1844 Stewart, Dugald: Anfangsgründe der Philosophie über die menschliche Seele, Bd. 2, Berlin 1794 [SB 1904] Tice, Terrence: Schleiermacher’s Psychology. An Early Modern Approach, a Challenge to Current Tendencies, in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, edd. G. Meckenstock / J. Ringleben, Berlin 1991, S. 509–521 Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte, Bd. 1–5, Göttingen 1802–1818 [SB 2016] Urban, Bernd: „Neuschöpfung“ und „Kryptomnesie“. Zur hermeneutischen Tradition der psychoanalytischen Gesprächstechnik und -praxis, in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 4, ed. J. Cremerius, Würzburg 1985 Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten, ed. W. Virmond, Berlin 2011, zitiert als Virmond Watson, Robert: The Great Psychologists, 4. Aufl., Philadelphia 1978 Weiß, Christian: Untersuchungen über das Wesen und Wirken der menschlichen Seele. Als Grundlage zu einer wissenschaftlichen Naturlehre derselben, Leipzig 1811 [SB 2126] Winkler, Johann Heinrich: Philosophische Untersuchungen von dem Seyn und Wesen der Seelen der Thiere, Leipzig 1745 [SB 2151] Wolfart, Karl Christian: Der Magnetismus gegen die Stieglitz-Hufelandische Schrift über den thierischen Magnetismus in seinem wahren Werth, Berlin 1816 [SB 2160] Wolff, Christian: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. Praemittitur Discursus praeliminaris de philosophia in genere, Frankfurt/Leipzig 1728

Literatur

1063

—: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, 3. Aufl., Halle 1725 [SB 2162]

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Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin Anonymus: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1830, Schleiermacher Nachlass Nr. 591/1, zitiert als Berliner Nachschrift 1830 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Tageskalender 1821, Schleiermacher Nachlass Nr. 442 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Tageskalender 1830, Schleiermacher Nachlass Nr. 450 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Tageskalender 1831, Schleiermacher Nachlass Nr. 451 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Tageskalender 1832, Schleiermacher Nachlass Nr. 452 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Tageskalender 1833, Schleiermacher Nachlass Nr. 453 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Tageskalender 1834, Schleiermacher Nachlass Nr. 454 Das Raue Haus, Hamburg Wichern, Johann Hinrich: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1830, Nachlass Wichern X Dc 2, zitiert als Nachschrift Wichern Johannes Lasco-Bibliothek der Großen Kirche, Emden Sax van Terborg, Willem: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1821, Nachlass Willems Sax van Terborg HS 2° 26, zitiert als Nachschrift Terborg Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Anonymus: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1821, Cod. Ms. F. Frensdorf 1:1, zitiert als Göttinger Nachschrift

1064

Verzeichnisse

Privatbesitz, Hamburg Anonymus: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1818, zitiert als Hamburger Nachschrift Special Collections Research Center, University of Chicago Library Bekker, Immanuel: Papers, [Box 1, Folder 13] Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin Anonymus: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1818, Handschriftenabteilung, Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 3, Mappe 19, zitiert als Berliner Nachschrift 1818 Anonymus: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1833/34, Handschriftenabteilung, Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 3, Mappe 20, zitiert als Berliner Nachschrift 1833/34 Iffland, Carl Theodor: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1833/34, MS germ oct 720, zitiert als Nachschrift Iffland Schleiermacher, Friedrich: Manuskript zur Psychologie 1818, Handschriftenabteilung, Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 5 Schleiermacher, Friedrich: Manuskript zur Psychologie 1821, Handschriftenabteilung, Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 6 Schleiermacher, Friedrich: Manuskript zur Psychologie 1830, Handschriftenabteilung, Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 7 Schleiermacher, Friedrich: Manuskript zur Psychologie 1833/34, Handschriftenabteilung, Depositum 42a, Schleiermacher-Archiv, Kasten 1, Mappe 7 Stern, Sigismund: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1833/ 34, NL 304, Stern, Mappe 7, zitiert als Nachschrift Stern Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle Eyssenhardt, Friedrich August: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers Yc 8o 32, zitiert als Nachschrift Eyssenhardt Sickel, Karl Friedrich: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers Yi 17i, zitiert als Nachschrift Sickel Zentralbibliothek Zürich Anonymus: Nachschrift zur Psychologie Schleiermachers 1821, Ms W 170, zitiert als Züricher Nachschrift

Register

Personen Das Register verzeichnet alle historischen Personen, die im vorliegenden Band genannt sind. Die Namen werden in der heute gebräuchlichen Schreibweise angegeben. Nicht aufgeführt werden die Namen biblischer, literarischer und mythischer Personen, die Namen von Herausgebern und Übersetzern, die nur in bibliographischen Angaben vorkommen, sowie die Namen der an der vorliegenden Ausgabe Beteiligten. Recte gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Personen, die im Schleiermacherschen Text bzw. die sowohl im Text als auch im Apparat der Bandherausgebenden genannt sind. Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Personen, die in der Einleitung oder im Apparat der Bandherausgebenden genannt sind. Archimedes 571 Aristoteles XXIX. XXX. XLIX. LIV. 9. 18. 132. 136. 138. 215. 216. 252. 310. 483. 494. 636. 880. 887. 888. 889. 890. 904. 908. 1024 Baumgarten, Alexander Gottlieb XX Bekker, August Immanuel XXVIII Benda, Clara von LXXVI Beneke, Friedrich Eduard XXVI. XLI Benjamin, Walter LXII Berkeley, George LIV. 175 Blanc, Ludwig Gottfried XXVII. XXVIII Boeckh, August LXXXIV Böhme, Amanda LXXXVIII Bonaparte, Napoleon 428 Brinckmann, Carl Gustav von XXIV. XXVIII. XXXII Burja, Abel XXVI Cäsar (Caesar), Gaius Iulius 426 Calker, Johann Friedrich August XXVI Carus, Friedrich August XXX. XXXVII. XLI. 17. 97. 98. 122. 212. 222. 384. 385. 386. 429. 431. 567. 579. 580. 581 Castel, Louis-Bertrand 251

Cato, Marcus Porcius Uticensis 426 Charlotte Joachime von Spanien, Prinzessin von Spanien und Königin von Portugal und Brasilien 807 Descartes, René LIV. 222. 890 Diesterweg, Friedrich Adolph XL. XLI Dilthey, Wilhelm LXII Diogenes Laertius 203.478. 877 Dohna-Schlobitten, Carl Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu XX Eberhard, Johann August XIX. XXV Elisabeth I., Königin von England 807 Erbkam, Wilhelm Heinrich LVIII. LX. LXXXIII Eschenmayer (Eschenmaier), Carl August XXIX. XXX. XXXVII. 10. 11. 13. 14. 205. 257. 267. 469. 606 Eyssenhardt, Friedrich August LXXVI. LXXVII. LXXVIII. LXXXI. 475. 476. 477 Fichte, Immanuel Hermann XXVI Fichte, Johann Gottlieb XXVI. XXIX. XXXI. XLIX. 628 Frensdorff, Ferdinand LXXIX. LXXX

Personen Freud, Sigmund LXII Fürstenberg, Ida XCIII Gaß, Joachim Christian XXVI. XXVII George, Friederike LIX George, Johann Friedrich Leopold XXXVII. XL. XLI. LVIII. LIX. LX. LXI. LXVII. LXVIII. LXXI. LXXII. LXXIX. LXXXIII. LXXXV. LXXXVIII. XCI George, Johann Gottlieb LIX Görres, Joseph XXXVII Goethe, Johann Wolfgang von XXX. 17 Gruber, Johann Gottfried LXXXIV Haller, Albrecht von 384 Hegel, Friedrich Wilhelm XXVI. LIX. LXXXII. XCII Heinroth, Johann Christian August XXX. XLIX. 5 Herbart, Johann Friedrich XXIX. XLI. XLIX. LIV. 120. 121. 142. 157. 189. 370. 566 Hering, Carl Wilhelm XLVI. 70 Herz, Henriette XX. XXI Herz, Marcus XXIV Hoffbauer, Johann Christoph XXIV Homer 455. 590 Iffland, Carl Theodor XXX. LIV. XCI. XCII. 900 Iffland, August Wilhelm 17 Jakob, Ludwig Heinrich XX Jonas, Ludwig XLI. LIV. LVII. LVIII. LX. LXXXIX. XC. XCIII. XCIV. 1044 Jung, Carl Gustav LXII Kant, Immanuel XIX. XX. XXI. XXX. XLI. XLIX. LIV. 10. 27. 99. 122. 157. 213. 374. 377. 378. 390. 391. 392. 582. 1009 Katharina II, Kaiserin von Russland 807 Keyserlingk, Hermann Wilhelm Ernst XXVI Kretschmar, C. G., Verleger XLVI. 70 Leibniz, Gottfried Wilhelm XIX. XXXI. XLIX. 51. 133. 267. 623 Lessing, Gotthold Ephraim 425

1067

Loder, Ferdinand Justus Christian XXII Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich XX Mendelssohn, Moses XXIII Montesquieu, Charles Louis de XXXI. 26 Moritz, Karl Philipp XXIII Neander, August LIX Niemeyer, August Hermann & Frau Agnes Wilhelmine von Köpken XXII Platner (Plattner), Ernst XXXI. 53. 179. 514. Platon (Plato) XXIX. XXX. XLIX. LIV. 10. 44. 150. 167. 180. 197. 218. 249. 260. 314. 373. 445. 483. 485. 684. 706. 778. 802. 849. 851. 866. 878. 879. 882. 888. 893. 904. 1039. 1040. 1041 Rauch, Christian Daniel XL Reichardt, Johann Friedrich XXII Reil, Johann Christian XXII. XXIV. XXVI. XXX. XXXVII. 21 Reimer, Georg Andreas LXXVII. 1050 Ritter, August Heinrich XXVI. LXXXIV Ritter, Johann Wilhelm XXXVII Ritter, Karl LXXXIV Roß, Bischof LXXVI Rousseau, Jean Jaques 660 Sack, Friedrich Samuel Gottfried LXXXIII Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph XX. XXIX. XXXVII. XCII. 205 Sextus Empiricus 39. 249. 501 Schleiermacher, Gottlieb XVIII. XIX Schleiermacher, Johann Carl XL Schlegel, August Wilhelm XX. XXI Schlegel, Friedrich XX. XXI Schoen, Ernst LXII Scholem, Gershom Gerhard LXII Schubring, Carl Julius LX Schubring, Gustav LX. LXXXIII Seidler, August LXXXIV Shakespeare (Schakespeares), William 455

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Register

Sickel, Karl Friedrich LXXXIII LXXXIV. LXXXV. LXXXVII. LXXXVIII. 617. 618 Sickel, Kinder LXXXIV Sokrates (Socrates) LIV. 101. 802 1039. 1040 Sophokles (Sophocles) 455 Steffens, Heinrich (Henrik) XXII. XXX. XXXVII. XLI. XLIX. 5. 6. 40. 122. 381. 501. 580. 581 Stern, Rosa XCIII Stern, Sigismund LIV. XCII. XCIII. XCIV Stern, William XCIII Stiedenroth, Ernst XXVI

Terborg, Willem (Wilhelm) Sax van XLII. LXXXII. LXXXIII Tieck, Ludwig XX Treviranus, Gottfried Reinhold XXX. 47 Twesten, August Detlev Christian XXVIII Veit, Dorothea XXI Weiß, Christian XXX. 12. 13 Wichern, Johann Hinrich LXXXVII. LXXXVIII Wilken, Friedrich LXXXIV Wißleben, Familie von LXXXIV Wolfart, Karl Christian 128. 610 Wolff (Wolf), Christian XIX. XX. XXX. XLIX. 208. 877