Kritische Gesamtausgabe: Band 10/Teilband 1+2 Vorlesungen über die Dialektik 9783110892611, 9783110172096

Critical edition of Schleiermacher's Vorlesungen über die Dialektik in two volumes: The first volume (10/1) present

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Kritische Gesamtausgabe: Band 10/Teilband 1+2 Vorlesungen über die Dialektik
 9783110892611, 9783110172096

Table of contents :
Einleitung des Bandherausgebers
I. Historische Einführung
1. Zur Vorgeschichte der Dialektik bis 1811
2. Die Entwicklung der Dialektik seit 1811
3. Zeitgenössische Zeugnisse zur und Auseinandersetzungen mit der Dialektik
4. Ausgaben der Dialektik
II. Editorischer Bericht
Erster Teil. Manuskripte Schleiermachers
1. Notizen zur Dialektik (1811)
2. Aufzeichnungen zum Kolleg 1811
3. Ausarbeitung zur Dialektik (1814/15 mit späteren Zusätzen)
4. Notizen zum Kolleg 1814/15
5. Notizen zum Kolleg 1818/19
6. Aufzeichnungen zum Kolleg 1818/19
7. Ausarbeitung zum Kolleg 1822
8. Aufzeichnungen zum Kolleg 1828
9. Aufzeichnungen zum Kolleg 1831
10. Vorarbeiten zur Einleitung in die Dialektik
11. Einleitung (Reinschrift)
Zweiter Teil. Vorlesungsnachschriften
1. Kolleg 1811. Nachschrift Twesten
2. Kolleg 1818/19. Nachschrift Anonymus
3. Kolleg 1822. Nachschrift Kropatscheck
4. Anhang
Vorlesungen über die Dialektik
Erster Teil. Manuskripte Schleiermachers
Notizen zur Dialektik (1811)
Aufzeichnungen zum Kolleg 1811
Ausarbeitung zur Dialektik (1814/15 mit späteren Zusätzen)
Notizen zum Kolleg 1814/15
Notizen zum Kolleg 1818/19
Aufzeichnungen zum Kolleg 1818/19
Ausarbeitung zum Kolleg 1822
Aufzeichnungen zum Kolleg 1828
Aufzeichnungen zum Kolleg 1831
Vorarbeiten zur Einleitung in die Dialektik
Einleitung (Reinschrift)
Vorlesungen über die Dialektik
Zweiter Teil. Vorlesungsnachschriften
Kolleg 1811. Nachschrift Twesten
Kolleg 1818/19. Nachschrift Anonymus
Kolleg 1822. Nachschrift Kropatscheck
Anhang
Kolleg 1811. Manuskript Twesten
Kolleg 1828. Nachschrift Schubring
Kolleg 1831. Nachschrift Erbkam
Verzeichnisse
Abkürzungen und editorische Zeichen
Literatur
Personen

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe II. Abt. Band 10,1

W G DE

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge

Zweite Abteilung Vorlesungen Band 10 Teilband 1

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Vorlesungen über die Dialektik Teilband 1

Herausgegeben von Andreas Arndt

"Walter de Gruyter · Berlin · New York

2002

Bearbeitet in der Schleiermacherforschungsstelle Berlin

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über H a l t b a r k e i t erfüllt.

ISBN 3-11-017209-7 Bibliografische

Information

Der Deutschen

Bibliothek

D i e Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < h t t p : / / d n b . d d b . d e > abrufbar.

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Inhaltsverzeichnis Einleitung des Bandherausgebers

VII

I. Historische Einführung 1. Zur Vorgeschichte der Dialektik bis 1811 2. Die Entwicklung der Dialektik seit 1811 a) Die Vorlesung 1811 b) Die Vorlesung 1814/15 c) Die Vorlesung 1818/19 d) Die Vorlesung 1822 e) Die Vorlesung 1828 f) Die Vorlesung 1831 g) Die „Einleitung" von 1832/33 3. Zeitgenössische Zeugnisse zur und Auseinandersetzungen mit der Dialektik 4. Ausgaben der Dialektik II. Editorischer Bericht Erster Teil. Manuskripte Schleiermachers 1. Notizen zur Dialektik (1811) 2. Aufzeichnungen zum Kolleg 1811 3. Ausarbeitung zur Dialektik (1814/15 mit Zusätzen) 4. Notizen zum Kolleg 1814/15 5. Notizen zum Kolleg 1818/19 6. Aufzeichnungen zum Kolleg 1818/19 7. Ausarbeitung zum Kolleg 1822 8. Aufzeichnungen zum Kolleg 1828 9. Aufzeichnungen zum Kolleg 1831 10. Vorarbeiten zur Einleitung in die Dialektik a) „Die Einleitung geht ..." b) „Einleitung" c) „Einleitung" (Entwurf) d) „Wissen 1, 1 ein Gedachtes ..." e) „1. Erklärung ..." 11. Einleitung (Reinschrift)

späteren

VII VIII XXIV XXV/ XXIX XXXII XXXV XXXIX XL XLII XLV L1I LVII LVII LIX LXII LXIII LXIX LXX LXX LXXI LXXI LXXII LXXIII LXXIII LXXIV LXXIV LXXV LXXVI LXXVII

VI

Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil. Vorlesungsnachschriften LXXVII 1 .Kolleg 1811. Nachschrift Twesten LXXV1II 2. Kolleg 1818/19. Nachschrift Anonymus LXX1X 3. Kolleg 1822. Nachschrift Kropatscheck LXXXII 4. Anhang LXXXV a) Kolleg 1811. Manuskript Twesten LXXXV b) Kolleg 1828. Nachschrift Schuhring und c) Kolleg 1831. Nachschrift Erbkam LXXXVII Vorlesungen über die

Dialektik

Erster Teil. Manuskripte Schleiermachers Notizen zur Dialektik (1811) Aufzeichnungen zum Kolleg 1811 Ausarbeitung zur Dialektik (1814/15 mit späteren Zusätzen).... Notizen zum Kolleg 1814/15 Notizen zum Kolleg 1818/19 Aufzeichnungen zum Kolleg 1818/19 Ausarbeitung zum Kolleg 1822 Aufzeichnungen zum Kolleg 1828 Aufzeichnungen zum Kolleg 1831 Vorarbeiten zur Einleitung in die Dialektik Einleitung (Reinschrift)

1 3 31 73 199 203 207 217 277 317 355 391

Einleitung

des

Bandherausgebers

Die vorliegenden Bände umfassen sämtliche überlieferten Manuskripte Schleiermachers, die im Zusammenhang mit seinen seit 1811 an der Berliner Universität gehaltenen Vorlesungen über die Dialektik entstanden sind, ferner Nachschriften zu den Kollegien 1811, 1818/19 und 1822. Als Anhang sind beigegeben ein Manuskript August Twestens zur Vorlesung 1811, dessen Charakter nicht endgültig geklärt werden konnte, sowie bereits gedruckte Auszüge aus Nachschriften der Vorlesungen 1828 und 1831, zu denen uns heute keine Kolleghefte mehr zur Verfügung stehen. Schleiermachers eigenhändige Manuskripte zur Dialektik sind hier im ersten Teilband erstmals lückenlos vereinigt. Dabei handelt es sich einerseits um unmittelbar vor oder nach der Vorlesung niedergeschriebene Notizen, in denen die Gedankenführung der jeweiligen Stunde vorbereitet bzw. deren Ertrag festgehalten wurde, andererseits handelt es sich um thematisch mit den Vorlesungen zusammenhängende Materialien wie Sichtung und Gliederung des Stoffes (so in den Notizen zur Dialektik 1811) sowie um Manuskripte, die im Blick auf eine geplante Druckfassung der Dialektik geschrieben wurden. Den Kern des zweiten Teilbandes bilden die Vorlesungsnachschriften, wobei vollständige Nachschriften zu den Vorlesungen 1811 und 1818/19 hier erstmals ediert werden.

I. Historische

Einführung

Die Vorlesungen über Dialektik, in denen Schleier mach er die Grundlegung seiner philosophischen Systematik entwickelt, fallen in die Zeit seines Wirkens an der Berliner Universität. Nachdem er bereits in Halle als außerordentlicher Professor der Theologie und der Philosophie gewirkt1 und auch in der Vorbereitungsphase der Berliner Universität

1

Aus den offiziellen Berufungsurkunden ist die Denomination seiner Professur für Philosophie nicht zu ersehen, wohl aber kann sie aus anderen zeitgenössischen Dokumenten und Schleiermachers eigenen Erklärungen glaubhaft gemacht werden. Vgl. die Nachweise in der Historischen Einführung zu KG A 1/5, S. X, Anm. 16. - Die Ankündigung der in Halle gehaltenen philosophischen Vorlesungen zur Ethik erfolgte aber im offiziellen (lateinischen) Lektionskatalog im Rahmen der Theologischen Fakultät. Vgl. Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 295.300-302.

Vili

Einleitung des Bandherausgebers

von 1807 bis 1810 im Rahmen seiner Privatvorlesungen philosophische Themen behandelt hatte, erhielt Schleiermacher durch die 1810 erfolgte Berufung zum Mitglied der Philosophischen Klasse der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin einen institutionellen Rahmen für seine philosophischen Vorlesungen, denn die Mitgliedschaft in der Akademie war mit dem Recht verbunden, in dem entsprechenden Fach auch an der Berliner Universität zu lehren.1 Mit den Vorlesungen über die Dialektik im Sommersemester 1811 begann Schleiermacher seine Tätigkeit als philosophischer Lehrer an der Berliner Universität, nachdem er im Eröffnungssemester 1810/11 noch nicht in der Philosophischen Fakultät aufgetreten war. In der Folge las er noch fünfmal über diese Disziplin: 1814/15, 1818/19, 1822, 1828 und 1831; 1832/33 befaßte er sich, gestützt auf die im Zusammenhang mit der Vorlesungstätigkeit entstandenen Aufzeichnungen, mit einer Ausarbeitung der Dialektik für den Druck, die aber über die ersten fünf Paragraphen der Einleitung nicht hinauskam.

1. Zur Vorgeschichte

der Dialektik

bis 1811

„Ich bin", so schrieb Schleiermacher am 29.12.1810 an seinen Freund Gaß, „schon angesprochen worden um die Ethik. Allein ich habe einmal verschworen, so lange Fichte der einzige Professor der Philosophie ist, kein philosophisches Collegium zu lesen; und sollte sich das bis Ostern ändern, so hätte ich Lust, erst als Einleitung zu meinen philosophischen Vorlesungen die Dialektik zu versuchen, die mir lange im Kopfe spukt. Doch ist das noch im weiten Felde."3 Tatsächlich hatten Schleiermachers philosophische Vorlesungen bis dahin vor allem den besonderen Disziplinen der Ethik4, der Geschichte der Philosophie5,

2 3 4

5

Vgl. ArndtIVirmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 298 Schleiermacher: Briefwechsel mit Gaß, S. 87 Uber philosophische Ethik hatte Schleiermacher in seinem ersten Hallenser Semester 1804/05 (entgegen der Ankündigung als „christliche Sittenlehre") sowie 1805/06 und in Berlin 1807/08 gelesen; vgl. Arndt/Virmond. Schleiermachers Briefwechsel, S. 300 bis 303. Eine solche Vorlesung zur „Geschichte der Philosophie unter den Griechen" hatte Schleiermacher erstmals für das Wintersemester 1806/07 in Halle angekündigt; sie kam aufgrund der Schließung der Universität durch die französische Besatzungsmacht nicht zustande. Im Sommer 1810 hielt er dann in Berlin eine Privatvorlesung über „die Geschichte der Philosophie unter den Christen"; vgl. Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 302.305.

Historische

Einführung

IX

der Theorie des Staates6 und der Hermeneutik7 gegolten, aber nicht einer allgemeinen Philosophie im Sinne der Dialektik. Hierzu sah er sich erst durch den Umstand veranlaßt, daß seine Philosophie unter den gegebenen Verhältnissen an der neugegründeten Berliner Universität in Konkurrenz zu Fichte vorgetragen werden mußte. Schleiermachers Verhältnis zu Fichte war sowohl durch Nähe als auch durch Distanz geprägt; man könne, so schrieb er bereits am 28. März 1801 an F. H. C. Schwarz, „innerhalb des Idealismus [...] nicht stärker entgegengesetzt sein als er [Fichte] und ich. Wir beide sind uns dessen auch bewußt".8 Trotz dieses Gegensatzes konnten in der Außenwirkung vielfach die Gemeinsamkeiten überwiegen, so daß Schleiermacher sogar beklagen mußte, „daß auch vertrautere Schüler von Fichte das Meinige für das Seinige halten konnten" ? Um ein Gegengewicht zu der befürchteten Einseitigkeit der Fichteschen Philosophie zu schaffen, hatte Schleier mach er im Frühjahr 1810 die Berufung seines Freundes und vormaligen Hallenser Kollegen Henrich Steffens auf einen philosophischen Lehrstuhl betrieben, zu dem er bereits in Halle eine enge, auch philosophisch-wissenschaftliche Beziew hung angeknüpft hatte. Schleiermacher begründete seinen Vorstoß zugunsten Steffens' mit der Absicht, „Vorlesungen über die ethischen Wissenschaften" zu halten, „für welche ich, da ich selbst allgemeine Philosophie nie vortragen werde, keine Haltung finde und sie daher lieber unterlasse",n Schleiermachers Hervortreten mit der Dialektik als einer solchen „allgemeinen Philosophie" verdankt sich also dem Umstand, daß er auch nach dem Scheitern der Berufungsaussichten für seinen Freund Steffens auf eine philosophische Lehrtätigkeit nicht verzichten wollte. Und weiter wird aus der unmittelbaren Vorgeschichte der Vorlesung 1811 deutlich, daß die Dialektik im Kontext der Epoche vor allem als kritische Auseinandersetzung mit der Fichteschen Wissen-

10

Uber „die Theorie des Staates" hielt Schleiermacher erstmals 1808/09 in Berlin eine Privatvorlesung, vgl. Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 303 f. Hermeneutik hatte Schleiermacher zuerst in Halle 1805 und dann 1809/10 privat in Berlin gelesen; vgl. Arndt/Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 300.304. KGA V/5, S. 75 (Brief 1033) Ebd., S. 76 Vgl. Karl August Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten des eignen Lebens, Bd.2, Berlin 1871, S. 334, wo es über Steffens' Vorlesungen heißt, sie zeigten „ihren höchsten Werth erst dann, wenn man sie mit den Schleiermacher'schen gleichsam in ein Ganzes verflocht [...] und beide Männer in den Hauptsachen einverstanden und zusammenstimmend, sahen sich gern in diese Gemeinschaft gestellt, welche für die näheren und vertrauteren ihrer Jünger in aller Kraft wirklich bestand, so daß die Theologen auch Steffens hörten, und die Naturbeflissenen sich Schleiermacher'n anschlossen."

11

An Nicolovius.

6

7

8 9

Briefe 4, S. 175

χ

Einleitung

des

Bandherausgebers

scbaftslebre verstanden werden muß, die für sich in Anspruch nahm, die Philosophie in Wissenschaft überführt zu haben. Gleichwohl läßt sieb die Dialektik nicht allein aus der besonderen Situation in der Gründungsphase der Berliner Universität und auch nicht nur aus dem Bedürfnis erklären, einen Anknüpfungspunkt für die ethischen Vorlesungen zu haben. Vielmehr „spukte" die Dialektik Schleier mach er ja nach seiner eigenen Aussage „schon lange im Kopfe", und in der ersten Stunde des Kollegs 1811 wollte er auch ausdrücklich erklären, weshalb er „nicht die Principien als Einleitung vortrage zur Ethik".12 Was Schleier mach er schon lange im Kopfe spukte und wogegen es sich richtete, läßt sich bereits den „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" von 1803 entnehmen: es geht ihm um eine „Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften"13; diese dürfe jedoch „selbst nicht wiederum, wie jene einzelnen Wissenschaften, auf einem obersten Grundsaz beruhen".14 Hierbei handelt es sich um eine deutliche Anspielung auf Fichtes „Wissenschaftslehre", welche einen „absolutersten, schlechthin unbedingten 1S Grundsaz" an die Spitze stellt. Dagegen möchte Schleiermacher die von ihm geforderte Wissenschaft „als ein Ganzes" denken, „in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht [...], und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann. Eine solche höchste und allgemeinste Erkenntniß würde mit Recht Wissenschaftslehre genannt, ein Name, welcher dem der Philosophie unstreitig weit vorzuziehen ist, und dessen Erfindung vielleicht für ein größeres Verdienst zu halten ist, als das unter diesem Namen zuerst aufgestellt System."16 Uber die Konturen einer solchen obersten Wissenschaft, welche eine wissenschaftliche Begründung der Ethik allererst leisten könnte, geben die „Grundlinien" freilich keine genauere Auskunft, da sie sich auf die Kritik der bisherigen ethischen Systeme beschränken und selbst keine positive Darstellung der Ethik als Wissenschaft geben wollen. Grundlegende Positionen und Verfahrensweisen der Kritik selbst in den „Grundlinien" jedoch lassen sich mit der späteren Dialektik in Verbindung bringen; dies betrifft die Ausgangssituation eines anhalten-

12 13 14 15

16

Vgl. unten S. 11, 2 f. Schleiermacher: Grundlinien, S. 20 Ebd. Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, gabe, Bd. 1,2, S. 255) Schleiermacher: Grundlinien, S. 20 f

S. 3 (Werke.

Akademie-Aus-

Historische

Einführung

XI

den Streits über die Prinzipien ebenso wie den Rückgang auf ein streitfreies Gebiet, um die Bedingungen des Streits zu bestimmen, sowie die Durchdringung von wissenschaftlicher Erkenntnis und Kunst in einem solchen Verfahren. „Vielleicht", so heißt es bereits in der Vorrede, „möchte bei dem gegenwärtigen Zustande der Wissenschaften, und dem immer noch obwaltenden Streit über die ersten Principien, eine solche Art der Kritik, wie diese, auch für andere Zweige der Erkenntniß sich nüzlich erweisen, um von einem Punkt aus, der außerhalb des streitigen Gebietes liegt, dasselbe zu vermessen. Wenigstens kann nicht genug erinnert werden, was im Streit über das Einzelne sich so leicht vergißt, daß zur wissenschaftlichen Form, in welcher die Erkenntniß und die Kunst sich durchdringen, alles muß hingeführt werden, was den Namen der Philosophie verdient".17 Was den Streit über die Prinzipien angeht, so kommt Schleiermacher in den „Grundlinien" zu dem Schluß, „daß der siegreiche dynamische Idealismus, wie er sich bis jetzt gezeigt hat", - gemeint sind Fichte und Schelling - „wohl schwerlich die Ahnenprobe seiner Abstammung von einer Idee der höchsten Erkenntniß bestehen möchte, welche doch erforderlich ist, wenn ihm soll der Preis gereicht werden. Denn von beiden Darstellungen desselben, welche ebenfalls in einem wichtigen und bedenklichen Streit begriffen sind, hat die eine zwar eine Ethik aufgebaut, dagegen aber die Möglichkeit einer Naturwissenschaft bald troziger bald verzagter abgeläugnet, und die andere dagegen die Naturwissenschaft zwar hingestellt, für die Ethik aber keinen Platz finden können auf dem Gesammtgebiete der Wissenschaften,"18 Die geforderte oberste Wissenschaft müßte demnach vor allem eine Grundlegung sowohl der Physik als auch der Ethik leisten können. Ob Schleiermacher damit aber auch schon, wie später, an eine Dreigliederung der Philosophie in Fundamentalphilosophie (bzw. Dialektik), Physik und Ethik gedacht hatte, ist zweifelhaft, denn der Hinweis auf die entsprechende Einteilung der „Alten" - also der griechischen Philosophen und namentlich Piatons -, auf die er sich später für seine eigene Gliederung beruft19, enthält zugleich die Kritik, daß „alle Dreie von einander unabhängig, jede auf ihrem eignen Grunde beruhen, ohne daß

17 18

19

Ebd., S. V Ebd., S. 487; vgl. auch die Notiz 149 in dem Heft „Gedanken V" (KGA 1/3, S. 320): „Aus dem Idealismus sind Zwei verschiedne Theorien ausgegangen. Die Fichtesche welcher durch die ganze Anlage und Gesinnung keine Physik möglich ist, und die Schellingsche welcher auf eben die Art keine Ethik möglich ist. Zu beweisen ist demnach daß auch die Physik des lezten und die Ethik des ersten schlecht und leer sein muß, ohnerachtet der Bewunderswürdigkeit der Zurüstungen." Vgl. KGA 11/10,2, S. 7, 6-10

XII

Einleitung des

Bandherausgebers

eine gemeinschaftliche Ableitung für sie gefunden wäre"20: „Diejenigen zuerst unter den Alten, welche in einem geschlossenen Zusammenhange die sogenannte Philosophie vortrugen, pflegten sie einzutheilen, in die logische, physische und ethische, ohne den gemeinschaftlichen Keim, aus welchem diese drei Stämme erwachsen sind, aufzuzeigen, noch auch höhere Grundsäze aufzustellen."11 Die Idee einer obersten Wissenschaft, wie sie in den „Grundlinien" erstmals hervortritt, wäre demnach in ihrem Ursprung wohl kaum primär an der Platonischen Dialektik orientiert, sondern an dem Programm der Fichteschen „Wissenschaftslehre".22 Offen bleibt, ob dieses Programm so realisiert werden sollte, daß die oberste Wissenschaft als selbständige Disziplin hervortritt, oder ob sie nur im Zusammenhang mit den Realwissenschaften Physik und Ethik und innerhalb ihrer zur Darstellung gebracht werden könnte. In dieser Hinsicht ist auch eine Bemerkung in Schleiermachers allgemeiner Einleitung zum ersten Band seiner Platon-Ubersetzung (1804) von Interesse: „Denn wiewol die Eintheilung der Philosophie in verschiedene Disciplinen ihm so wenig fremde war, daß man ihn vielmehr gewissermaßen als den ersten Urheber derselben ansehen kann; so ist doch fast keine seiner Schriften auf eine derselben besonders beschränkt, sondern weil er ihre wesentliche Einheit und ihr gemeinschaftliches Gesez für das größere hielt und dem vorzüglich nachstrebte, so sind die verschiedenen Aufgaben überall mannigfaltig unter einander verschlungen."23 Eine solche Durchdringung könnte auch Schleiermacher vorgeschwebt haben, der - besonders im Blick auf Fichte - die Trennung von Philosophie und Leben kritisiert24 und — in Ubereinstimmung mit Friedrich Schlegel — eine Vereinigung des Idealismus und Realismus angestrebt hatte: „Die Vereinigung des Idealismus und des Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist, und ich habe darauf nach Vermögen hingedeutet in den Reden sowohl

20 21 22

23 24

Scbleiermacher: Grundlinien, S. 23 Ebd., S. 22 Hierfür spricht auch, daß Schleiermacher 1803 - wie oben zitiert - trotz aller Kritik an dem Namen der Wissenschaftslehre festhält und im Gegenzug, im Blick auf die antike griechische Philosophie, auch von der „sogenannten" Philosophie redet; vgl. Fichte: „Uber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie" (Werke, Akademie-Ausgabe 1,2, S. 93 ff). Piaton : Werke, Bd.l.l.S. 9 Vgl. Schleiermachers Brief an C.G. v. Brinckmann vom 4.1.1800 anläßlich der Ubersendung der „Monologen"; diese seien ein „Versuch den philosophischen Standpunkt, wie es die Idealisten nennen, ins Leben überzutragen", wobei er betont, er wolle sich „die wirkliche Welt [...] doch auch warlich nicht nehmen lassen" (KGA V/3, S. 316, Brief 758).

Historische

Einführung

XIII

als in den Monologen; aber freilich liegt der Grund davon sehr tief, und es wird nicht leicht sein, beiden Parteien den Sinn dafür zu öffnen. Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden".25 Entsprechend fordert Schleiermacher in seinem „Brouillon zur Ethik", das im Zusammenhang mit seiner zweiten, in Halle gehaltenen Ethik-Vorlesung 1805/06 entstanden war, daß „die Idee des objectiven Wissens selbst als eines irdischen individuell aufgefaßt wird, als Identität eines Allgemeinen und eines Besonderen."26 Und er fügt hinzu: „Hievon weichen gänzlich ab die gewöhnlichen Formeln der Transcendental-Philosophie, die ein allgemeines objectives Wissens abstrahirt von aller Individualität sezen will, aber auf diese Art nur eine gehaltlose und unbestimmte Form erhalten kann".17 In diesem Sinne bestimmt Schleiermacher in seiner Vorlesung 1805/06 die Ethik als „die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. Jede muß etwas anders aus der andern als positiv aufnehmen [...]. Sonach theilt sich alles reale Wissen in diese beiden Seiten."28 Daß Schleiermacher außerhalb der Entwicklung des realen Wissens selbst noch für eine selbständige Darstellung der „reinen" oder obersten Wissenschaft als das Dritte zu Physik und Ethik Raum lassen wollte, läßt sich hieraus zwar nicht mit Sicherheit ausschließen, jedoch gibt es im „Brouillon" auch keinen Hinweis auf eine solche Disziplin. Auf die „Frage, was man an die Spize der Sittenlehre stellen soll", schließt Schleiermacher vielmehr eine „Behandlung in Grundsäzen und Säzen" ausdrücklich aus und verweist auf eine „ursprüngliche Anschauung", welche man „nicht in einem Saz zusammenfassen" könne, weshalb man „also unmittelbar in der Anschauung haften bleiben" müsse 29 Diese „sittliche Anschauung sezt nun den Menschen, soweit ihn die theoretische Philosophie als Natur giebt, mit seinem geistigen Vermögen als Leib und sezt diesem als Seele entgegen die Freiheit des Vermögens der Ideen"30, d.h. sie bezieht sich auf den Schnitt- bzw. Indifferenzpunkt von Physik und Ethik. Es ist anzunehmen, daß sich auch die erste Hallenser Ethik-Vorlesung (1804/05) in dieser Hinsicht von den im „Brouillon" vertretenen Positionen nicht grundlegend unterschieden hatte. Ein Entwurf, der aufgrund der ersten Vorlesung entstand und unter Schleiermachers Freun-

25 26 27 28 29 30

An Friedrich Heinrich Christian Schwarz (28. 3. 1801), KGA V/5, S. 73 (Brief Schleiermacher: Werke, Bd. 2, S. 175 Ebd. Ebd., S. 79 f. Ebd., S. 82 Ebd.

1033)

XIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

den zirkulierte und von ihnen kopiert wurde, hat sich leider nur zum Teil erhalten.31 Nach einem Brief Gaß' an Schleiermacher vom 13.7. 1805 enthielt dieser Entwurf auch eine ausführliche Darstellung „transzendentaler Postulate", in denen vor allem die Eigenständigkeit der Schleiermacherschen Position gegenüber Schelling deutlich hervortrat: „Die transcendentalen Postulate werden Sie schwerlich abkürzen können, ich dächte eher erweitern, auf allen Fall aber populärer machen müssen, für den mündlichen Vortrag nämlich. Bartholdy bemerkte besonders mit Wohlgefallen Ihre Abweichung von Schelling, dessen erste Vorlesung über das akademische Studium wir dabei zur Hand nahmen, und wünscht daß Sie sich demselben hierin nie mehr nähern möchten."31 Wir wissen zwar nicht, ob Schleiermacher selbst in diesem Zusammenhang ausdrücklich von „Postulaten" gesprochen hat, jedoch dürften die Freunde diesen Begriff kaum zufällig auf Schleiermachers Ausführungen bezogen haben. Kant versteht unter einem Postulat der reinen praktischen Vernunft „einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz (···], so fern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt"33; Postulate sind nach dieser Auffassung also praktisch begründete theoretische Sätze, die angenommen werden sollen, ohne bewiesen werden zu können. Eine solche Funktion erfüllt auch die „ursprüngliche Anschauung" an der Schnittstelle von Physik (theoretische Philosophie) und Ethik (praktische Philosophie), und auch die zitierten Aussagen der „Grundlinien", daß die oberste Wissenschaft als ein Ganzes nicht begründet oder bewiesen werden könne, läßt sich mit der Postulatenlehre in Verbindung bringen. In seiner dritten Ethik-Vorlesung, die er 1807/08 in Berlin hielt34, kommt Schleiermacher ausdrücklich auf das Verhältnis der Ethik zur obersten Wissenschaft zu sprechen: „Ein anderes ist das Verhältnis der Ethik zur ersten Philosophie, der Erkenntnis, von der alle andern abhängen, in einer solchen Form, daß alle wissenschaftliche Formen in ihr als ihrem letzten Grunde beruhen, die reine Philosophie. Vielfache Schicksale derselben, je nachdem sie der Natur oder dem Handeln

31

32 13

34

Es bandelt sich um die Tugendlehre von 1804/05; vgl. Schleiermacher: Werke, Bd. 2, S. 35-74. Schleiermacher: Briefwechsel mit Gaß, S. 25 f. KpV 220; Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 5, S. 122; in der zweiten Auflage seiner „Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre" hatte Schelling 1809 hieran anknüpfend in dem Anhang „Ueber Postulate in der Philosophie" die These aufgestellt, das die theoretische und praktische Philosophie verknüpfende Prinzip könne nur ein praktisch begründetes Postulat sein; vgl. Schelling: Schriften S. 329 f f . Vgl. Virmond:

Schleiermachers

Vorlesungen, S. 131

Historische

Einführung

XV

näher war. Wenn sie jetzt als Naturphilosophie herrscht, so ist dies das Gegengewicht des Realen gegen den vorigen leeren Idealismus, und dieses Gleichgewicht geht durch die ganze Geschichte. Die reine Philosophie muß aber zwischen Physik und Ethik im vollkommensten Gleichgewicht stehn, ihr Beruf ist die Identität zwischen Sein und Erkennen zu zeigen, diesen muß sie nun in physischen Formen oder ethischen üben, jetzt vorzüglich in physischen, vielleicht bald mehr in ethischen. Wir aber setzen ganz füglich die Grundsätze der reinen Philosophie voraus, in denen auch ja alle einig sind, jeder Streit gilt nur die Tüchtigkeit oder Verständlichkeit der Formen."35 Schleiermachers Vorstellung scheint hier zu sein, daß die „erste" oder „reine" Philosophie sich im Vollzug des realen Wissens in Physik und Ethik dann ergibt, wenn diese philosophischen Realdisziplinen „im vollkommensten Gleichgewicht stehen", was sie nur dann können, wenn die Einheit des Idealen und Realen bzw. des Seins und Erkennens auch in ihren Bedingungen richtig erfaßt wurde; unter dieser Voraussetzung kann er die „Naturphilosophie" seiner Zeit mit der reinen Philosophie identifizieren. Die Rede von der „Naturphilosophie" ist freilich nicht trennscharf ; bereits 1800 hatte Schleiermacher sich in seiner Rezension von Fichtes Schrift „Über die Bestimmung des Menschen" als „Naturphilosophen" bezeichnet, wobei er damit einen Gegensatz zum Fichteschen „Idealismus" markierte.36 Unter diesen Terminus lassen sich demnach für Schleiermacher wohl alle, wenn auch im einzelnen divergente, Positionen subsumieren, welche — wie die von Friedrich Schlegel, Schelling, Steffens und Schleier mach er selbst - auf eine Vereinigung des Idealen und Realen zielen, die sich in einem Gleichgewicht von Naturphilosophie und Ethik realisieren müßte. Auch in den „Gelegentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn" (1808) plädiert Schleiermacher für eine enge Verbindung von Spekulation und Empirie und gegen eine Verselbständigung

35

36

Arndt: Schleiermachers Philosophie im Kontext idealistischer Systemprogramme; S. 109; das Zitat stammt aus einer Nachschrift Varnhagen von Enses. Schleiermacher stellt dort die Frage, weshalb Fichte von der äußeren Natur ausgehe, um das Prinzip der Freiheit darzulegen: „Geschieht dies, um, weil von dieser Ansicht aus keine befriedigende Beantwortung derselben möglich ist, den Idealismus herbeizuführen? Es scheint nicht: denn jene Frage wird ja auch nicht aus dem Idealismus beantwortet, sondern weil dieser für sich eben so unzulänglich ist - aus der innern Stimme des Gewissens unmittelbar. [...] Sollte aber nicht Fichte seiner theoretischen Philosophie Unrecht thun unter uns Unphilosophen, oder Naturphilosophen, wenn er sie für uns nur auf diesen Gesichtspunkt stellt ? Sollte man nicht vom Moralismus aus, sobald man nur über ihn denken will, auch nothwendig auf den Idealismus kommen müßen?" (KGA 1/3, S. 242 f.; Schleiermachers Rezension war anonym im Athenaeum 3, 2, 1800, S. 281-295 erschienen)

XVI

Einleitung

des

Bandherausgebers

der reinen, spekulativen bzw. Transzendentalphilosophie : „Der wissenschaftliche Geist als das höchste Prinzip, die unmittelbare Einheit aller Erkenntniß kann nicht etwa für sich allein hingestellt und aufgezeigt werden in bloßer Transcendentalphilosophie, gespensterartig, wie leider Manche versucht und Spuk und unheimliches Wesen damit getrieben haben. Leerer läßt sich wohl nichts denken, als eine Philosophie, die sich so rein auszieht, und wartet, daß das reale Wissen, als ein niederes, ganz anders woher soll gegeben oder genommen werden [...]. Sondern nur in ihrem lebendigen Einfluß auf alles Wissen läßt sich die Philosophie, nur mit seinem Leibe, dem realen Wissen zugleich läßt dieser Geist sich darstellen und auffassen,"37 Die „ganze natürliche Organisation der Wissenschaft" gliedert Schleiermacher auch hier in „die reine transcendentale Philosophie und die ganze naturwissenschaftliche und geschichtliche Seite"iS, jedoch solle es „nicht die leere Form der Speculation" sein, „womit allein die Jünglinge gesättigt werden, sondern daß sich aus der unmittelbaren Anschauung der Vernunft und ihrer Thätigkeit die Einsicht entwikkele, in die Νothwendigkeit und den Umfang alles realen Wissens, damit von Anfang an der vermeinte Gegensaz zwischen Vernunft und Erfahrung, zwischen Speculation und Empirie vernichtet, und so das wahre Wissen nicht nur möglich gemacht, sondern seinem Wesen nach wenigstens eingehüllt gleich mit hervorgebracht werde. [...] Die Aussicht also muß eröfnet werden schon durch die Philosophie in die beiden großen Gebiete der Natur und der Geschichte, und das Allgemeinste in beiden muß nicht minder Allen gemein sein."39 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Schleiermacher spätestens seit den „Grundlinien" von 1803 unter wechselnden Titeln „Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften", „oberste Wissenschaft", „reine Philosophie", „reine transcendentale Philosophie", „allgemeine Philosophie" etc. - so etwas wie eine philosophische Prinzipienlehre ins Auge faßt, diese jedoch in enger Verbindung mit den philosophischen Realdisziplinen Physik und Ethik zur Darstellung bringen will, wobei mehrere seiner Äußerungen den Schluß zulassen, daß eine selbständige Darstellung dieser Prinzipienlehre in einer eigenen Disziplin von ihm ursprünglich nicht erwogen wurde. Daß Schleiermacher dennoch 1811 mit einer solchen selbständigen Disziplin - der Dialektik - hervortritt, läßt sich weniger als Konsequenz seiner Überlegungen zur „reinen Philosophie" plausibel

'7 KG A 1/6, S. 37 f. Ebd., S. 54 39 Ebd., S. 6 f. 38

Historische

Einführung

XVII

machen, als vielmehr aus den Zwängen der Situation, in die er nach der Eröffnung der Berliner Universität hinsichtlich seiner philosophischen Lehrtätigkeit geraten war. Hier konnte er einer direkten Konkurrenz mit Fichte nicht ausweichen, dessen „Wissenschaftslehre" für ihn nicht nur eine verselbständigte, „leere" Transzendentalphilosophie repräsentierte, sondern darüber hinaus nach seiner Auffassung auch keine im Gleichgewicht mit dem Geschichtlichen bzw. der Ethik stehende Physik zuließ und insofern die Aufgaben der Vereinigung des Idealen und Realen sowie des Spekulativen und Empirischen nicht erfüllen konnte. Dem konnte Schleier mach er nicht allein seine bisherige Behandlung der Ethik entgegenstellen, denn diese ist für ihn, wie es im „Brouillon zur Ethik" heißt, nur „die ganze eine Seite der Philosophie. Alles erscheint in ihr als Produciren, wie in der Naturwissenschaft als Product. Jede muß etwas anders aus der andern aufnehmen. Denn auch Wissen und Handeln sind als Vermögen Natur und müssen als solche nachgewiesen werden."40 Nur zusammen mit einer ihr entsprechenden (philosophischen) Naturwissenschaft konnte Schleiermachers Ethik sich als eine prinzipielle Alternative zu Fichtes Wissenschaftslehre darstellen und den Schein vermeiden, sie sei nur eine realphilosophische Variante zu Fichtes Sittenlehre. Das notwendige Anknüpfen an eine solche Naturphilosophie war in Halle durch die Gemeinschaft mit Henrich Steffens gesichert; in Berlin jedoch bestanden hierfür keine Aussichten, nachdem die Bemühungen um eine Berufung Steffens' gescheitert waren. Da Schleiermacher offenbar nie ernsthaft erwogen hatte, selbst mit naturphilosophischen Vorlesungen hervorzutreten^, blieben ihm in dieser Situation nur zwei Möglichkeiten. Entweder er überließ - wie im ersten Semester seiner Lehrtätigkeit an der Berliner Universität weiterhin Fichte das philosophische Feld, um mittelfristig auf eine Veränderung der Situation zu hoffen und hinzuwirken, oder aber er ließ sich - entgegen seinen ursprünglichen Absichten — auf eine direkte Konkurrenz mit Fichte auf dem Gebiet der philosophischen Prinzipienlehre ein. Dabei mußte Schleiermacher jedoch, aufgrund seiner bisherigen Uberzeugungen, eine für sich gestellte, gegenüber dem realen Wissen verselbständigte Transzendentalphilosophie vermeiden und konnte der

40 41

Schleiermacher: Werke, Bd. 2, S. 79 f. Zwar galt Schleiermacher etwa auch Twesten während seines Studiums in Berlin noch als wahrer „Naturphilosoph" (vgl. Heinrici: Twesten, S. 142 f.), er selbst aber hatte schon 1807 in seiner Rezension von Fichtes „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" erklärt, er könne, „da seine Bestrebungen auf einem anderen Felde als dem der eigentlichen Naturforschung liegen, kein Naturphilosoph heißen" (KGA 1/5, S. 150).

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Einleitung

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Fichteschen nicht einfach eine alternative Wissenschaftslehre entgegenstellen. Vielmehr mußten die Prinzipien im Zusammenhang mit dem Vollzug des realen Wissens, in dem allein sie sich nach Schleiermachers Auffassung bewähren konnten, aufgesucht und bestimmt werden. Die Prinzipienlehre etabliert sich daher nicht als ein reales Wissen von Prinzipien, sondern als Kunstlehre bzw. als Organon des realen Wissens. Für ein solches Unternehmen fand Schleiermacher einen Anknüpfungspunkt in einer auf Piaton zurückgehenden Theorie der Dialektik. Wie die Behandlung der philosophischen Prinzipienlehre in einer eigenen Disziplin sich nicht als unmittelbare Konsequenz aus Schleiermachers Überlegungen vor 1810 ergibt, so auch nicht der Name dieser Disziplin; im Zusammenhang mit der Prinzipienlehre spricht Schleiermacher vor 1810 nicht von „Dialektik", sondern vielmehr von „Wissenschaftslehre", „Transzendentalphilosophie" etc. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht auch Schleiermachers Verhältnis zu Schellings „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" (1803), in denen die Dialektik erstmals in der nach kantischen Philosophie nicht nur im Sinne rhetorisch-argumentativer Virtuosität bzw. im Sinne Kants als notwendiger Schein in Ansehung des Unbedingten, sondern als „Kunstseite" der Philosophie verstanden wird, welche — wie die transzendentale Dialektik in Kants „Kritik der reinen Vernunft" - das Verhältnis der (endlichen) Reflexion zum Unbedingten als Gegenstand der Spekulation zum Inhalt habe: „Das, was von der Philosophie, nicht zwar eigentlich gelernt, aber doch durch Unterricht geübt werden kann, ist die Kunstseite dieser Wissenschaft, oder was man allgemein Dialektik nennen kann. Ohne dialektische Kunst ist keine wissenschaftliche Philosophie! Schon ihre Absicht, Alles als Eins darzustellen und in Formen, die ursprünglich dem Reflex angehören, dennoch das Urwissen auszudrücken, ist Beweis davon. Es ist dieses Verhältniß der Speculation zur Reflexion, worauf alle Dialektik beruht."42 Die „Antinomie des Absoluten und der bloß endlichen Formen" beweise jedoch, „daß auch die Dialektik eine Seite hat, von welcher sie nicht gelernt werden kann, und daß sie nicht minder, wie das, was man, der ursprünglichen Bedeutung des Worts gemäß, die Poesie in der Philosophie nennen könnte, auf dem productiven Vermögen beruht".43 In seiner Rezension der „Vorlesungen" hebt Schleiermacher einleitend hervor, „was besonders in der sechsten Vorlesung von der Philosophie selbst gesagt wird, zumal die Hinweisung auf die Technik und die Poesie in ihr. Man könnte behaupten, dieses beides anzuerkennen sey der

42 43

Schelling: Vorlesungen, S. 122f, Sämmtliche Werke 1,5, S. 267 Ebd., S. 123, Sämmtliche Werke 1, 5, S. 267

Historische

Einführung

XIX

Prüfstein des wahren Philosophirens. Denn daß derjenige immer unreif bleiben wird, der für sein philosophisches Bestreben die Technik verschmäht, ist für sich klar. Eben so gewiß aber ist auch, daß wer das poetische Element in der Speculation nicht anerkennt, sich mit aller Dialektik immer im Leeren herumtreibt".44 Betrachtete Schelling das Poetische als eine nicht lehrbare Seite der Dialektik selbst, so stellt Schleiermacher hier die Dialektik als Technik dem poetischen Element der Philosophie entgegen. Dialektik erscheint eher als technische Virtuosität, keineswegs aber als philosophische Prinzipienlehre. Bereits in den „Grundlinien" hatte Schleiermacher Spinoza und Piaton als Vertreter des von ihm präferierten „objektiven", d.h. vom Unendlichen ausgehenden Philosophierens45 dadurch kontrastiert, daß er Spinoza Mangel an poetischem Sinn vorhielt, den Piaton gehabt habe46: „Ob aber die höchste Wissenschaft selbst so logisch, als Spinoza sie aufbaut, oder 50 wie Piaton sie nur nach einer poetischen Voraussetzung des höchsten Wesen hinzeichnet, einen festen Grund habe, dieses zu beurtheilen, ist nicht des gegenwärtigen Orts."47 Das poetische Element der Philosophie ist wohl auch mit dem „Mystizismus" zu identifizieren, den Schleiermacher andernorts dem dialektischen Element gegenübergestellt hat. Den Mystizismus hatte Schleiermacher bereits 1801 der „bornierten Virtuosität" Fichtes entgegengesetzt48, und in einem Brief an seinen Verleger Georg Andreas Reimer vom Juni 1803 heißt es dann, bezogen auf eine angekündigte neue Darstellung der „Wissenschaftslehre": „Nach Fichte's Wissenschaftslehre habe ich vergeblich im Meßkatalogus gespürt. Ich schließe daraus beinahe daß er mit seinem System aufs Unklare gerathen ist, und bin sehr begierig zu sehn was davon der Ausgang wird. Es ist doch nichts lieber Freund mit einer Philosophie die so bloß auf dialektischem Grunde ruht ohne allen Mysticismus wie es mit dem Idealismus in Fichte der Fall ist. "49 Aus Schleiermachers Gebrauch des Terminus „Dialektik" ist der Schluß zu ziehen, daß er darunter, in Ubereinstimmung mit der Tradi-

Schleiermacher: Rezension von Schelling: Vorlesungen, Sp. 137 Vgl. Schleiermacher: Grundlinien, S. 45 « Vgl. ebd., S. 44 47 Ebd., S. 45 48 Vgl. an Ehrenfried von Willich, 25.6.1801, KG A V/5, S. 159 (Brief 1073), wo es heißt, er erwarte „Gutes" vom Schellingschen ldentitätssystem und dessen Gegensatz zu Fichte: „Ich denke, es wird nun einmal über die Grenze der Philosophie gesprochen werden müssen, und wenn die Natur außerhalb derselben gesezt wird, so wird auch Raum gewonnen werden auf der andern Seite jenseits der Philosophie für die Mystik. Fichte muß sich freilich während dieser Operation mit seiner bornirten Virtuosität im Idealismus sehr übel befinden; aber was schadet das." 44 45

49

Briefe 3, S. 350

XX

Einleitung

des

Bandberausgebers

tion der neueren Philosophie, vor allem die logisch-rhetorische Seite des Philosophierens versteht, die er als bloße (wenn auch notwendige) Technik betrachtet, keineswegs aber als für sich fähig, den Grund und Zusammenhang des Wissens zu erfassen. So ist Fichte für Schleiermacher in aufrichtiger Bewunderung einerseits „der größte Dialektiker [...] den ich kenne"50, andererseits aber nur ein „großer einseitiger Virtuose, aber wenig Mensch. [...] Mir ist es nemlich immer verdächtig, wenn Jemand von einem einzelnen Punkt aus auf sein System gekommen ist. So Fichte offenbar nur aus dialektischem Bedürfniß um ein Wissen zu Stande zu bringen, daher er nun auch nichts hat als Wissen um nichts als das Wissen, seitdem ich dies recht inne ward, wußte ich, wie es mit ihm stand.Im Einklang mit dieser Auffassung fordert Schleiermacher im „Brouillon zur Ethik" (1805/06) ein Gleichgewicht „zwischen der Gesinnung und dem wissenschaftlichen Triebe. Jenes Uebergewicht giebt Religion, die aber beim wissenschaftlichen Beginnen in falsche Mystik ausartet. Dieses Uebergewicht giebt dialektische Virtuosität, die aber beim Ausfüllen des wissenschaftlichen Fachwerkes das Rechte nicht finden kann."52 In Verbindung mit der „Gesinnung" jedoch, die offenbar das „mystische" bzw. „poetische" Element des Philosophierens repräsentiert, hat die Dialektik für Schleiermacher keine andere Tendenz als das wahre Philosophieren, wie es ihm vorschwebt. Zur Charakteristik einer solchen, durch die Gesinnung gleichsam gebundenen Dialektik greift er im „Brouillon" auf das Platonische Vorbild zurück: „Denken, Reden, Satz, Gedanke fast überall dasselbe. Im Griechischen in der schönsten Zeit διαλέγεσθαι: Gespräch führen und Philosophieren, Dialektik Organ der Philosophie. Fortgeseztes Vergleichen einzelner Acte des Erkennens durch die Rede, bis ein identisches Wissen herauskommt",53 An anderer Stelle setzt Schleiermacher im Zusammenhang mit der aktiven, auf Erkenntnisvermittlung zielenden, ungleichen Liebe die Dialektik mit der Liebe (und das heißt hier wohl: mit der Liebe zum Wissen, d.h. mit der Philosophie) gleich: „Dies erstreckt sich von der ersten Uebung der Organe im Anschauen bis zur dialektischen Darstellung des Wissens im Gebiet der Schule. Die Dialektik kann keine andere Tendenz haben und darum wird diese mit Recht als Liebe angesehen."54 Im Gleichgewicht mit der „Gesinnung", 50 läßt sich diesen Äußerungen entnehmen, ist die Dialektik mehr als Virtuosität; ihre in An C.G.v. Brinckmann, 23.12.1799 bis 4.1.1800, KGA V/3, S. 314 (Brief 758, 44) An C.G.v. Brinckmann, 14.12.1803, Briefe 4, S. 94 f. 52 Schleiermacher: Werke, Bd. 2, S. 81 « Ebd., S. 164 54 Ebd., S. 217 50 51

Historische

Einführung

XXI

Anlehnung an den Piatonismus erfolgte Aufwertung jedoch verhindert nicht, daß sie für sich gestellt weiterhin bloß als Technik des Philosophierens angesehen wird, nicht aber als philosophische Prinzipienlehre. Auch in der allgemeinen „Einleitung" zu seiner Platon-Ubersetzung bezeichnet Schleier mach er die Dialektik als Technik; in den nach seiner Auffassung frühen Dialogen Phaidros, Protagoras und Parmenides „entwikeln sich die ersten Ahndungen von dem, was allem folgenden zum Grunde liegt, von der Dialektik als der Technik der Philosophie, von den Ideen als ihrem eigentlichen Gegenstande, also von der Möglichkeit und den Bedingungen des Wissens"; sie geben den „ersten gleichsam elementari s eben Theil der platonischen Werke. Die andern füllen den Zwischenraum zwischen diesem und dem constructiven, indem sie von der Anwendbarkeit jener Principien, von dem Unterschied zwischen der philosophischen Erkenntniß und der gemeinen in vereinter Anwendung auf beide aufgegebene reale Wissenschaften, die Ethik nemlich und die Physik, fortschreitend reden."55 Aus dieser Interpretation der thematischen Schwerpunkte der Platonischen Dialoge läßt sich weder eine klare Gliederung der Philosophie in drei Disziplinen eindeutig entnehmen noch eine Identifizierung der Dialektik mit den Prinzipien. Immerhin aber sieht Schleiermacher hier einen engen Zusammenhang, wenn er in der Einleitung zum Dialog „Parmenides" schreibt, der eleatische Philosoph sei „der erste gewesen der den Versuch gemacht von der Dialektik aus in das Gebiet der höheren Philosophie einzubrechen. Offenbar genug verräth sich das Streben des Piaton, auch historisch den Parmenides in Verbindung mit dem Sokrates zu bringen, und die Dialektik welche er an diesem lobt von der des ersteren als des allgemeinen Vaters dieser Kunst abzuleiten."56 Und in der Einleitung zum „Kratylos" heißt es dann, in diesem Dialog werde die Dialektik vorgestellt „als die Kunst, deren Gegenstand das Wahre schlechthin ist in der Identität des Erkennens und Darstellens".57 Ob sich diese Äußerung jedoch verallgemeinern und auf Schleiermachers eigenes Verständnis von Philosophie beziehen läßt, dafür gibt es keinen eindeutigen Beleg. Vielmehr scheint auch in den „Gelegentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn" (1808) das „Dialektische" ganz im Sinne der früheren Auffassungen Schleiermachers der Ergänzung durch das „Poetische" (mit Schelling im ursprünglichen Wortsinne als das Poietische, d.h. Produktive) zu bedürfen, wenn zwei Elemente des Kathedervortrags unterschieden werden: „Das eine

» Platon: Werke, Bd. 1,1, Berlin 1804, S. 49 56 Piaton: Werke, Bd. 1,2, Berlin 1805, S. 100 57 Piaton: Werke, Bd.2,2, Berlin 1807, S. 18

XXII

Einleitung

des

Bandherausgebers

möchte ich das populäre nennen; die Darlegung des muthmaßlichen Zustandes, in welchem sich die Zuhörer befinden, die Kunst sie auf das Dürftige in demselben hinzuweisen und auf den lezten Grund alles Nichtigen im Nichtwissen. Dies ist die wahre dialektische Kunst, und je strenger dialektisch, desto populärer. Das andere möchte ich das productive nennen. Der Lehrer muß alles was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen was er weiß, sondern sein eignes Erkennen, die That selbst, reproduciren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Thätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntniß unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden."58 Daß Schleiermacher seit dem zitierten Brief an Gaß vom 29.12. 1810 seine Prinzipienlehre als „Dialektik" bezeichnet, läßt sich also nicht unmittelbar aus dieser Vorgeschichte herleiten. Deutlich wird, daß sich — wohl auch unter dem Einfluß seiner Platon-Studien - die Tendenz zu einem positiveren Verständnis von „Dialektik" abzeichnet, die zunehmend nicht mehr mit einer leeren logisch-rhetorischen Virtuosität in Verbindung gebracht wird, jedoch läßt sich daran noch keine Tendenz ablesen, den Terminus „Dialektik" nicht nur für die technische Seite der Philosophie, sondern auch für eine fundamentale Prinzipienlehre in Anspruch zu nehmen. Hingegen läßt sich sehr wohl motivieren, daß Schleiermacher auf die Bezeichnung „Dialektik" zurückkam, als er sich durch die besonderen Umstände an der Berliner Universität 1810 veranlaßt sah, eine solche, bis dahin nicht als eigene Disziplin ins Auge gefaßte Prinzipienlehre gesondert vorzutragen. Sofern diese vor allem Kunstlehre und Organon des realen Wissens sein sollte, also in dieser Hinsicht durchaus eine „technische" Disziplin, lag es nahe, sie mit der antiken Auffassung der Dialektik als Technik des Philosophierens in Verbindung zu bringen. Zugleich thematisiert die Dialektik, wie sie Schleiermacher seit 1811 vorträgt, in der Reflexion auf die Gehalte der philosophischen Techniken und besonders der logischen Formen des Begriffs und des Urteils jedoch auch die letzten Gründe und den Zusammenhang alles Wissens und in Bezug darauf die Grenzen des Erkennens. Sie umfaßt damit auch dasjenige, was Schleiermacher in seinen früheren Äußerungen der dialektischen Technik als „Gesinnung", „mystisches" bzw. „poetisches" Element an die Seite stellte. Daß dieses Element und mithin die transzendentale Begründung des Wissens Bestandteil der Dialektik selbst wird, bedarf jedoch einer zusätzlichen Erklärung, denn ein solches erweitertes Verständnis von

«

KG A 1/6, S. 48 f.

Historische

Einführung

XXIII

„Dialektik" hat Schleiermacher erst aufgrund seiner eigenen DialektikVorlesung ausdrücklich schon in der antiken Philosophie ausgemacht.59 Was immer ihn zu dieser neuen Lesart bewogen haben mag, sie bedeutet auf jeden Fall die Einbeziehung derjenigen Problematik, die Kant zum Thema der transzendentalen Dialektik in der „Kritik der reinen Vernunft" gemacht hatte: des Verhältnisses des Endlichen oder Bedingten zum Unbedingten. Die Dialektik repräsentiere dabei jedoch nach antiker Auffassung „eigentlich nur die negative Seite polemisch gegen die niedere Reflexion, die vom Auseinandersein der Dinge ausgeht. Die positive Seite behält immer die mythologische Form."60 Als Kritik der niederen Reflexion steht die Dialektik der Kritik des Verstandesdenkens gleich, wobei jedoch — im Unterschied zu Kant — weniger die Unangemessenheit der Verstandesmittel zur Erkenntnis des Unbedingten, als vielmehr das Beharren der „niederen Reflexion" im Endlichen, der Verzicht auf die Leitung des Verstandes durch einen positiven Bezug auf das Unbedingte, kritisiert zu werden scheint. Mit dieser Verbindung des Problems der transzendentalen Dialektik Kants mit einer Platonischen Konzeption steht Schleiermacher Schellings Verständnis von „Dialektik" in den „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" nahe, auch wenn es keinen Beleg dafür gibt, daß er bewußt hieran anknüpfen wollte. Auszuschließen ist wohl, daß Schleiermacher von Hegels Auffassung des Dialektischen als negativer Bewegung, wie sie zuerst in der „Phänomenologie des Geistes" (1807) formuliert wird, beeinflußt sein könnte, denn eine Rezeption dieses

59

Vgl. Schleiermachers Aufzeichnungen von 1812 zu seinen Vorlesungen über die „Geschichte der Philosophie", SW3,4,1, S. 18: „Das Grundfactum ist die Eintheilung in Logik, Physik und Ethik, welche ein Auffassen des ganzen Umfanges des Gebietes der Erkenntniß und einen entwikkelten Sinn für die wissenschaftliche Behandlung verräth. Nämlich Physik und Ethik stellen die reale Seite vor. Das höhere Leben ist nichts anders, als das Sein der Dinge im Menschen und das Sein des Menschen in den Dingen. Das Wissen um dieses Leben ist die Erkenntniß. Das Wissen um jenes Element Physik, das Wissen um dieses Ethik. Die Dialektik repräsentirt das allgemeine Element". - Speziell zur Platonischen Dialektik vgl. ebd. S. 98 f.: „Die Dialektik knüpft sich unmittelbar an die Sophistik an. Denn dieser Corruption konnte nur dadurch begegnet werden, daß der vorige dialektische Instinct zum Bewußtsein erhöht wurde. In der Antilogik ist offenbar Eine Verknüpfung falsch. Um die Falschheit zu entdekken, muß man im Besiz der wahren combinatorischen Kunst sein. Diese nannte Piaton Dialektik, weil Denken und Reden die alten [sie] nicht trennen konnten und noch jeder Disput lebendiges Gespräch war. Er theilt sie in zwei Theile, Zu wissen, was verknüpft werden kann und nicht, und Zu wissen, wie getheilt oder zusammengefaßt werden kann." - Vgl. auch ebd., S. 103: „Auf diese Weise nun ist nicht nur seine Dialektik als formale Seite der Spiegel der realen sowol physischen als ethischen, sondern auch das heuristische Princip der absoluten Einheit oder der Idee der Gottheit, die er in physischen und ethischen Darstellungen immer nur voraussezt, hier aber erwekkt."

60

Ebd., S. 18

XXIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

Werkes läßt sich bisher nicht belegen.61 Hingegen ist es möglich, daß Schleiermacher sich der Konzeption seines früheren Weggefährten Friedrich Schlegel erinnerte62, der bereits 1796 die Problembestände der transzendentalen Dialektik Kants mit einer an die Antike und besonders Piaton anknüpfenden Auffassung von „Dialektik" bearbeiten wollte: „Sehr bedeutend ist der Griechische Nähme Dialektik. Die ächte Kunst, (nicht der Schein wie bey Kant), sondern die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaftlich die Wahrheit zu suchen, zu widerlegen und zu erreichen (so bey Plato Gorgias - cfr. Aristoteles); ist ein Theil der Philosophie oder Logik und notwendiges Organ der Philosophen,"63

2. Die Entwicklung

der Dialektik seit 1811

Die Entwicklung der Dialektik seit 1811 erfolgt vor allem im Zusammenhang mit den Vorlesungen, wobei die Arbeit bereits seit 1814/15 auch auf eine Darstellung für den Druck gerichtet ist; diese wird schließlich 1832 unabhängig von einem Kolleg in Angriff genommen, kommt aber über die ersten Paragraphen einer „Einleitung" nicht hinaus. Im Verlauf dieser Entwicklung kommt es zu darstellungstechnischen, aber auch konzeptionellen Verschiebungen, die es verbieten, von der Schleiermacherschen Dialektik ohne Berücksichtigung der vielschichtigen Entwicklungsgeschichte zu sprechen, die hier nur im Blick auf das eher äußerliche Historisch-Faktische zu skizzieren ist.

61

Die „Phänomenologie" hatte Schleiermacher erst 1816 erworben (vgl. Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek, S. 315), und es gibt bisher auch keine Zeugnisse, die eine frühere Rezeption dieses Buches wahrscheinlich machen könnten. Hegels Schrift über die „Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems" (1801), die Schleiermacher kannte, verwendet dagegen die Termini „Dialektik" oder „dialektisch" nicht, während die „Wissenschaft der Logik" erst seit 1812 erschien und von Schleiermacher erst 1816 bezogen wurde (vgl. Meckenstock: Bibliothek, S. 198).

62

Schleiermachers Lektüre der frühen Notizhefte Friedrich Schlegels, die er auf verwertbare Aphorismen hin durchlas, ist durch seinen Brief an A. W.Schlegel vom 15.1.1798 bezeugt (vgl. KGA V/2, Brief 437, 21-26). F. Schlegel: Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 18, S. 509 (Beilage 1, Nr. 50); inwiefern Schlegels Konzeption auch Schellings Auffassung in den „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" beeinflußt haben können, ist ungewiß. Vgl. F. Schlegels Brief an seinen Bruder August Wilhelm vom 26.3.1804, wo es über Schellings Schrift heißt: „Seine Methodenlehre finde ich unverschämt genug, daß er nämlich nicht wenigstens zwei Drittel des Honorars an uns gesandt hat [...] Er ist nun einmal an das Stehlen gewohnt, und bildet sich vielleicht am E,nde selbst ein daß dieses seine Gedanken seien" (F. Schlegel: Neue Philosophische Schriften, S. 83).

65

Historische

XXV

Einführung

Schleier mach er las - beginnend mit dem Sommersemester 1811 — insgesamt sechsmal über Dialektik, ausnahmslos im Rahmen der philosophischen Fakultät. In den Lektionskatalogen der Berliner Universität sind die Kollegien jeweils als „Dialektik" bzw. „Grundsätze" oder „Grundzüge" der Dialektik angekündigt; lediglich in der Ankündigung der ersten Vorlesung findet sich der den Inhalt erläuternde Zusatz, es handle sich um „den Umfang der Principien der Kunst zu philosophiren". Die folgende Ubersicht enthält neben den Ankündigungen des lateinischen und des deutschen Vorlesungsverzeichnisses auch die Angaben zur zeitlichen Erstreckung der Vorlesungen und zur Hörerzahl.64 Sommersemester 1811: Dialecticen s. artis philophandi principiorum summam tradet dieb. Lun., Mart., Merc. h. V—VI. Die Dialectik, das heißt den Umfang der Principien der Kunst zu philosophiren, lehrt Herr Schleiermacher, Mitglied der Akademie der Wissenschaften. (63 Hörer; 22.4.1811-20.8.1811) Wintersemester 1814/15: Dialecticen docebit quinquies per hebd. h. V-Vl. vespert. Dialektik Herr Schleiermacher Mitglied der Königl. Akademie der Wissenschaften, fünfmal wöchentlich von 5—6 Uhr Abends. (49 Hörer; 24.10.1814-18.3.1815) Wintersemester 1818/19: Dialecticen docebit quater in hebd. h. V— VI. Die Dialektik Hr. Prof. Schleiermacher, Mitgl. Akad. d. W. 4mal wöchentlich von 5—6 Uhr. (96 Hörer; 22.10.1818-27.3.1819) Sommersemester 1822: Dialecticen docebit quinquies p. hebd. hör. VI-VlI. matutina. Die Grundzüge der Dialektik, Herr Prof. Schleiermacher fünfmal des Morgens um 6 Uhr. (118 Hörer; 15.4.1822-16.8.1822) Sommersemester 1828: Privatim. Dialecticen docebit h. VI—VII. matut. quinquies p. hebd. Die Grundsätze der Dialektik, Hr. Dr. Schleiermacher, Mitgl. d. Akad. d. Wissensch, in fünf Stunden wöchentl. v. 6-7 Uhr Morgens. (129 Hörer; 28.4.1828-22.8.1828)

64

Vgl. Arndt/Virmond:

Schleiermacbers

Briefwechsel,

S.

306-328

XXVI

Einleitung des

Bandherausgebers

Sommersemester 1831: Privatim principia dialectices tradet quinquies p. hebd. h. VII-VIU. Die Grundsätze der Dialektik, Hr. Dr. Schleiermacher, Mitgl. d. K. Akad. d. Wiss., fünfmal wöchentl. v. 7-8 Uhr. (148 Hörer; 25.4.1831-3.9.1831)

a) Die Vorlesung

1811

Schleiermacher las im Sommersemester 1811 dreimal wöchentlich (Mo, Di, Mi von 5—6 Ohr nachmittags) über Dialektik; 11 Vorlesungsstunden von der 16. (10.6.) bis zur 46. (19.8.) hat er auf den Notizzetteln zu seiner Vorlesung datiert, und zwar jeweils die Vorlesung am Wochenanfang. In Schleiermachers Notizkalender für 1811 findet sich keine Eintragung zu dieser Vorlesung. Nach dem Berliner UniversitätsKalender 1812 las Schleiermacher die Dialektik vom 22. April (Montag) bis 20. August (Dienstag).65 Das Datum des Vorlesungsschlusses wirft Probleme auf. Da Schleiermacher die 46. Stunde auf den 19.8. datiert hat, seine Zettel aber bis zur 49. Stunde reichen, trifft entweder das Datum des 20.8. als Beschluß der Vorlesung nicht zu, oder Schleiermacher hat die letzten Vorlesungsstunden ausgedehnt. Irrig dürfte Jonas' Annahme sein, Schleiermacher habe noch eine 50. Stunde gelesen; die von ihm aus einem Kollegheft angeführte Ergänzung zur 49. Stunde findet sich in der Nachschrift Twesten als Schluß eben dieser Vorlesungsstunde,66 Möglich ist auch, daß Schleier mach er die letzte Vorlesung mehrstündig hielt. Der Beginn der Vorlesung am 22. April wird auch durch das Tagebuch Twestens belegt. Nachdem Schleiermacher sich einmal entschlossen hatte, Fichte nicht allein das Feld der Philosophie zu überlassen, las er im Sommer 1811 dann auch in bewußter Konkurrenz zu Fichte. August Twesten vermerkte am 25.3.1811 in seinen Aufzeichnungen: „Schleiermacher hat seine Dialektik in dieselbe Stunde verlegt, wo Fichte die Wissenschaftslehre liest. Er scheint es mit Fleiß getan zu haben; wenigstens will er sich auf eine Versetzung der Stunde gar nicht einlassen."67 Tatsächlich kann es sich nicht um die Wissenschaftslehre gehandelt haben, die Fichte im Sommersemester 1811 im Anschluß an die „Thatsachen

65

67

Berliner Universitäts-Kalender auf das Schaltjahr 1812, S. 13: „Im Sommerhalbjahre 1811. sind wirklich gelesen worden: [...] Von den ordentlichen Professoren: Hrn. Dr. Schleiermacher. {...] priv. Dialektik 22. April-20. Aug." Vgl. SW 3,4,2, S. 361; KGA 11/10,2, S. 96, 12-97, 33 Heinrici: Twesten; S. 158; das Zitat stammt aus einer Tagebuchnotiz Twestens vom 25.3.1811.

Historische

Einführung

XXVII

des Bewußtseins" von 4-5 Uhr vortragen wollte, während Schleiermacher die Dialektik auf die Zeit von 5—6 Uhr gelegt hattet Der Vortrag der Wissenschaftslehre unterblieb; dagegen kollidierte Schleiermachers Vorlesung zeitlich mit Fichtes „Rechtslehre", die, nach Fichtes Mitteilung, u.a. wegen einer „Kollision" ausfallen mußte.69 Zur Vorbereitung der Vorlesung hatte Schleiermacher sich ein Notizheft angelegt, in dem er - wie er es auch bei anderen Kollegien zu tun pflegte, wenn er sie das erstemal lesen wollte - zur Selbstverständigung das Themenfeld sondierte und Gedanken festhielt; diese Aufzeichnungen dienten dann im laufenden Semester offenbar auch der Vorbereitung einzelner Stunden, wie ausdrückliche Verweise auf die erste und siebente Stunde belegen.70 Dieses Heft hat Schleiermacher später in zwei gefaltete Blätter eingelegt, die teils als Umschlag dienten, teils Aufzeichnungen zu den Vorlesungen 1814/15 und 1818 enthalten.71 Ferner hat Schleiermacher auf 36 Zetteln die Inhalte der 12. bis 49. Vorlesungsstunde notiert; ob dies in Vorbereitung der jeweiligen Stunden oder im nachhinein geschah, läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen,72 Auffällig ist, daß für die erste bis elfte Stunde — abgesehen von den Aufzeichnungen zur ersten und siebenten Stunde in dem Notizheft - eigenhändige Notizen Schleiermachers nicht überliefert sind. Thematisch umfaßt diese Lücke die allgemeinen Einleitungsabschnitte sowie den Beginn des transzendentalen Teils. Es ist zwar möglich, aber doch wenig wahrscheinlich, daß Schleiermacher sich bei seiner ersten Vorlesung über die Dialektik für die dort vollzogenen, grundlegenden begrifflichen Klärungen allein auf die freie Entwicklung des Gedankens verlassen hat, ohne einen Anhalt wenigstens in einer Gliederung des zu behandelnden Stoffs zu haben. Es ist anzunehmen, daß entsprechende Notizen verlorengegangen sind; nicht auszuschließen ist, daß das im Anhang mitgeteilte Manuskript Twestens zum Be-

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70 71 72

Vgl. das „Verzeichniß der von der hiesigen Universität im nächsten Sommerhalbenjahre vom 25. März an zu haltenden Vorlesungen", Berlin 1811 Vgl. Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bd. 1, S. 358. Obwohl eine solche Uberschneidung bei verschiedenen Disziplinen innerhalb eines Fachs auch damals üblich war, mag Fichte dies im Falle Schleiermachers als Provokation empfunden haben. Sollte Fichtes Vorlesung tatsächlich ausgefallen sein, weil sich aufgrund der „Kollision" nicht genügend Zuhörer fanden, so würde dies bedeuten, daß Schleiermacher nicht nur die zum Hören auch philosophischer Kollegien verpflichteten Theologen, sondern einen Großteil der Philosophiestudenten überhaupt anziehen konnte. Denkbar ist aber auch, daß Fichte sein Kolleg von sich aus absagte, weil er einer direkten Konfrontation mit Schleiermacher aus dem Wege gehen wollte. Vgl. unten S. 70, Nr. 41 und S. 19 f., Nr. 101 Vgl. hierzu unten S. L1X ff den editorischen Bericht. Vgl. hierzu unten S. LXH den editorischen Bericht.

XXVIII

Einleitung des

Bandherausgebers

ginn der Vorlesung 1811, das auffälligerweise thematisch gerade die erste bis elfte Stunde abdeckt73, auf ein solches Manuskript Schleiermachers zurückgeht.74 Schleiermachers Manuskripte werden ergänzt durch eine Nachschrift von August Detlev Christian Twesten (1789-1876), der seit 1814 Professor der Theologie und Philosophie in Kiel war und 1835 als Schleiermachers Nachfolger nach Berlin berufen wurde.75 Eine weitere Nachschrift, die Jonas noch zur Verfügung stand und aus der er in seiner Edition einige kurze Auszüge und knappe Zusammenfassungen 76 77 bot , ohne den Namen des Schreibers zu nennen , ist nicht mehr zugänglich. Ober den Erfolg seiner ersten Vorlesung zur Dialektik berichtete Schleiermacher am 11.5.1811 seinem Freund Gaß: „Und nun gar die Dialektik; diese kostet eine schmähliche Zeit. Der Entschluß hatte lange in mir gewurmt, ich bin aber doch froh, daß er zum Durchbruch gekommen ist. Als ich anfing, waren mir erst die Hauptmassen klar, nun verarbeitet es sich allmählich mehr ins einzelne, und ich hoffe, das ganze soll gut werden. Ich lese vor sechzig Zuhörern etwa und mag wol, die Mediciner ausgenommen, diesmal das stärkste Auditorium haben."78 Rückblickend schrieb Schleiermacher im Juli 1812 seinem Studienfreund Carl Gustav von Brinckmann: „Dann habe ich auch eine Art von speculativer Philosophie vorgetragen unter dem Titel Dialektik, und ich hoffe daß schon auch das erste Mal der Grund wenigstens zu einer ziemlich klaren Darstellung gelegt ist."79 Mit der „klaren Darstellung" mag Schleiermacher bereits zu diesem Zeitpunkt nicht nur auf weitere Vorlesungen zur Dialektik, sondern auch auf eine Darstellung des Grundrisses seiner philosophischen Systematik im Druck angespielt haben, denn schon in der kompendienartigen Ausarbeitung seiner philosophischen Ethik 1812/13 versuchte er eine „Deduction der Ethik aus der Dialektik"90, die innerhalb der

73 74 75 76

77

78 79 80

Vgl. KGA U/10,2, S. 711-718 Vgl. hierzu unten S. LXXXVf den editorischen Bericht. Vgl. hierzu unten S. LXXVlIlf den editorischen Bericht. Vgl. SW 3,4,2, S. 17.40.45.50.56f.101.315-317.325.327-330.333 f.339.348.352.354. 357f.361 ]onas nennt für die ihm zur Verfügung stehenden Nachschriften die Namen Erbkam, George, Klamroth, Pischon, Schubring, Wigand und Zander, wobei er nur Erbkam (1831 ) und Schubring (1828) einem bestimmten Kolleg zuordnet; noch zugänglich sind nur die Nachschriften Klamroth (1822) und Zander (1818/19); vgl. SW 3,4,2, S. Xf. Schleiermacher: Briefwechsel mit Gaß, S. 94 Briefe 4, S. 186 f. Schleiermacher: Werke, Bd. 2, S. 247 f.

Historische

Einführung

XXIX

Ethik an die Stelle der oben erwähnten „transzendentalen Postulate"81 82 bzw. der „ursprünglichen Anschauung" tritt. Die 12 Lehnsätze aus der Dialektik umfassen in thesenartiger Form den Kern des transzendentalen Teils der Dialektik, soweit er für die Begründung des realen Wissens auf diesem Gebiet herangezogen werden mußte. Sie sind auf der Grundlage der Vorlesung von 1811 entstanden und als die erste für den Druck bestimmte Fassung der unter dem Titel einer Dialektik vorgetragenen philosophischen Prinzipienlehre Schleiermachers zu werten. b) Die Vorlesung

1814/15

Im Wintersemester 1814/15 las Schleiermacher statt dreimal, wie 1811, fünfmal wöchentlich, Montag bis Freitag nachmittags von 5 bis 6 Uhr, über Dialektik. Diese Vorlesung fand mit 49 Studenten deutlich weniger Hörer als die von 1811, was jedoch darauf zurückzuführen sein dürfte, daß viele Studenten, die an dem Freiheitskrieg teilgenommen hatten, noch nicht an die Universität zurückgekehrt waren. Im Zusammenhang mit dieser Vorlesung entstand eine kompendienartige Darstellung in der Form von Paragraphen, die zum Teil mit Erläuterungen versehen wurden.83 Hierbei dachte Schleier mach er schon ausdrücklich an den künftigen Druck eines Lehrbuchs. Unter dem 29.10.1814 schrieb er an Gaß: „Zur Dialektik schreibe ich mir nun (d.h. hintennach) vorläufige Paragraphen auf, welches doch die erste Vorbereitung zu einem künftigen Compendium /sí."84 Und in einem Brief an Blanc vom 27. Dezember desselben Jahres heißt es: „Ich arbeite an der Ethik, was aber freilich sehr langsam vor sich geht, weil ich zu gleicher Zeit bei Gelegenheit des Lesens die erste lateinische Vorarbeit mache zu meiner Edition des Paulus, und außerdem meine Dialektik in eine solche Ordnung schriftlich bringe, daß wenn ich noch einmal darüber gelesen habe, ich sie dann auch für den Druck bearbeiten kann."85 Auf eine Anfrage August Twestens vom 26.6.1815, ob er bei Gelegenheit der „dialektischen Vorlesungen" auch die „dialektische Einleitung" zur Ethik erweitert habeS6, antwortet Schleier mach er am 5. des folgenden Monats: „Meine dialektischen Vorlesungen haben auf die Einleitung

81 82 85 84 85 86

Vgl. oben S. XIV Vgl. oben S. XUl Vgl. hierzu unten S. LXllIff den editorischen Bericht. Schleiermacher: Briefwechsel mit Gaß, S. 121 Briefe 4, S. 203 Heinrici: Twesten, S. 261

XXX

Einleitung

des

Bandherausgebers

zur Ethik noch keinen Einfluß gehabt; ich besinne mich nicht, daß diese seit Sie sie kennen eine Erweiterung erfuhren; aber ich habe von der Dialektik selbst das wesentliche zu Papier gebracht und das ist mir sehr lieb. Soll es einmal ans Licht, so ist es doch besser für sich als bei Gelegenheit der Ethik, was der Ethik selbst nur Schaden thäte, wie man an der Geschichte des Spinoza so deutlich sieht."97 Wenn Schleiermacher an Gaß schreibt, er habe sich die Paragraphen „hintennach" aufgeschrieben, d.h. in ihnen das in der Vorlesung Gesagte in systematisch konzentrierter Form dargestellt, so ist dennoch nicht auszuschließen, daß er an dieser Darstellung auch zur Vorbereitung einzelner Stunden gearbeitet hat. Den Beginn der Vorlesungen am 24. Oktober 1814 und deren Ende am 18. März 1815 hat Schleiermacher auf dem Umschlag des Heftes vermerkt.88 Am Rand hat er ferner den Beginn der jeweiligen Vorlesungsstunden von der zweiten bis zur 71. mit römischen Ziffern bezeichnet ; am Beginn der 37. Stunde findet sich zudem das Datum des 2. Januar 181589, womit die Zugehörigkeit der Stundeneinteilung zur Vorlesung 1814/15 gesichert ist. Da Schleiermachers Notizkalender für 1814/15 nicht erhalten sind und auch andere Zeugnisse hierzu fehlen, lassen sich die einzelnen Stunden, mit Ausnahme der 1. und 37., nicht mit Sicherheit datieren, da nicht bekannt ist, ob und ggf. welche Stunden durch Krankheit, andere Geschäfte und dgl. ausgefallen waren, bzw. ob Schleiermacher, wie er es bisweilen zu tun pflegte, auch außerhalb der im Vorlesungsverzeichnis bezeichneten Tage las. Letzteres scheint er im Wintersemester 1814/15 wenigstens zum Schluß der Vorlesung getan zu haben, denn der 18. März 1815 als Tag der letzten Vorlesung fiel auf einen Samstag. Ungewiß ist auch, ob die Vorlesung tatsächlich mit der 71. Stunde endete, oder ob Schleiermacher zum Schluß den Beginn einer neuen Stunde nicht mehr notiert hatte. Im weiteren Zusammenhang mit der Vorlesung 1814/15 stehen auch zehn Notate, die sich auf den als Umschlag für das Notizheft zur Dialektik 1811 dienenden Bogen finden90 ; da sie sich größtenteils auf die kompendienartige Darstellung zurückbeziehen, muß jedoch offen bleiben, in welchem zeitlichen Abstand sie zu der Vorlesung selbst stehen. Bereits Ludwig Jonas hatte beklagt, dass ihm für die Vorlesung 1814/15 keine Nachschrift zur Verfügung stand, „die zur Erläuterung

87 88 89 90

Ebd., S. 264 Vgl. unten S. 75 Vgl. unten S. 147 Vgl. unten S. 201 f. und den editorischen

Bericht S. LXIXf.

Historische

Einführung

XXXI

des Textes wesentliche Dienste würde geleistet haben".91 Weshalb Heinrich Ritter, der diese Vorlesung selbst mitgeschrieben hatte, Jonas sein Heft nicht zur Verfügung stellte, bleibt rätselhaft.91 Es ist auch seither nicht gelungen, eine Nachschrift zu dieser Vorlesung aufzuspüren. Einen Entwurf der Dialektik - mit großer Wahrscheinlichkeit die kompendienartige Darstellung von 1814/15 oder Teile davon — schickte Schleiermacher seinem Freund Gaß nach Breslau. Ein Begleitschreiben Schleiermachers ist nicht überliefert, sondern nur der Brief Gaß', mit dem dieser das Heft am 31.3.1816 zurückschickte: „Dankbar überschicke ich Dir durch Herrn H. das Heft der Dialektik zurück, mein theurer Freund. Ich habe bei aller sonstigen Noth noch Zeit gefunden, es aufmerksam zu lesen und mir sogar eine kurze Uebersicht des Inhalts zu machen, und danke Dir herzlich auch für diese Belehrung. Im zweiten Theil ist mir Einiges dunkel geblieben, worüber Du meine Ungelehrigkeit nicht schelten mußt. Worauf es ankommt, glaube ich doch eingesehen zu haben und mag Dir nun auch das Heft nicht länger vorenthalten."93 Auf der Grundlage der erreichten prinzipiellen Selbstverständigung konnte Schleiermacher in seinem berühmten Brief vom 30.3. 1818 an Friedrich Heinrich Jacobi auch seine Differenzen zu diesem Philosophen klarstellen, dem er sich besonders nahe wußte. Ausdrücklich auf der Grundlage seiner Auffassung von „Dialektik" erklärt Schleiermacher hier die von Jacobi geführte Auseinandersetzung über eine personale Vorstellung Gottes für obsolet: „Wir können einmal aus dem Gegensaz zwischen dem idealen und dem realen oder wie Sie ihn sonst bezeichnen wollen, denn das gilt mir gleich, nicht heraus. Können Sie Gott als Person irgend besser anschauen als Sie ihn als natura naturans anschauen können?"9* Deshalb behaupte er „auf dem Gebiet der Philosophie [...], daß der eine Ausdrukk eben so gut ist und eben so unvollkommen als der andere, daß wir einen realen Begriff des höchsten Wesens gar nicht aufstellen können daß aber alle eigentliche Philosophie nur in der Einsicht bestehe, daß diese unaussprechliche Wahrheit des höchsten Wesens allem unsern Denken und Empfinden 91 92

93 94

SW 3,4,2, S. X Vgl. Heinrich Ritters Rezension der Ausgabe von Jonas in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 126.127. Stück, 6. August 1840, S. 1250. Rätselhaft ist das Verhalten Ritters besonders deshalb, weil die von ihm herausgegebenen Vorlesungen Schleiermachers über die Geschichte der Philosophie ja zusammen mit der Dialektik einen (in zwei Teilbände gegliederten) Band der „Sämmtlichen Werke" bilden. Ein Nachlaß Heinrich Ritters, in dem sich die Nachschrift befinden könnte, ist nicht bekannt. Schleiermacher: Briefwechsel mit Gaß, S. 125 Schleiermacher an Jacobi, S. 397

XXXII

Einleitung

des

Bandherausgebers

zum Grunde liege, und die Entwiklung dieser Einsicht ist eben das was meiner Ueberzeugung nach Piaton sich unter der Dialektik dachte. Weiter aber glaube ich können wir auch nicht kommen."95

c) Die Vorlesung 1818/19 Im Wintersemester 1818/19 las Schleiermacher seine dritte Vorlesung über die Dialektik nur noch viermal wöchentlich von 5—6 Uhr (nachmittags) vor 96 Hörern, wobei nicht bekannt ist, auf welche Wochentage die Stunden fielen. Die Vorlesung begann nach der amtlichen Meldung der Universität an das Ministerium über die wirklich zustandegekommenen Lehrveranstaltungen am Donnerstag, dem 22.10. 1818, und endete am Samstag, dem 27.3.1819; auch hier also hatte Schleiermacher zum Schluß des Kollegs offenbar außerhalb der Reihe eine Stunde oder mehrere Stunden zusätzlich gelesen, um mit dem Stoff durch zukommen. Ein abweichendes Datum für den Beginn der Vorlesung hat Schleiermacher auf dem Umschlag der kompendienartigen Darstellung von 1814/15 notiert; demnach fiel die erste Stunde bereits auf Montag, den 19. Oktober 1818.96 Da Schleiermachers Notizkalender von 1818 und 1819 nicht überliefert ist und auch sonst keine Dokumente bekannt sind, die Auf schluß über die Daten der einzelnen Vorlesungsstunden geben könnten, läßt sich über den tatsächlichen Beginn der Vorlesung keine Gewißheit gewinnen, jedoch ist anzunehmen, daß sie, wie üblich, am Beginn einer Woche ihren Anfang nahm. In seiner Vorlesung ist Schleiermacher offenbar weitgehend auf das Heft von 1814/15 zurückgegangen97 ; zwei ausdrücklich auf die Vorlesung 1818/19 bezogene Notate finden sich jedoch in dem 1811 angelegten Notizheft.98 Darüber hinaus sind 15 Zettel mit Notizen zum Anfang der Vorlesung überliefert";mit den Ziffern 2 bis 14 sind dort offenbar Anfang bzw. Ende der jeweiligen Vorlesungsstunden markiert. 100 Der weitere Verlauf der Vorlesung läßt sich nicht rekonstruie-

« 96

97

98 99 100

Ebd. Vgl. unten S. 75; das Ende der Vorlesungen hat Schleiermacher dort nicht festgehalten. Zu der Frage, wieweit Randbemerkungen in diesem Heft zur Vorlesung 1818/19 gehören, vgl. unten S. LX1I1-LX1X den editorischen Bericht. Vgl. unten S. 205 und den editorischen Bericht S. LXX. Vgl. unten S. 209-216 und den editorischen Bericht S. LXX f. Dies wird durch einen Vergleich mit der Stundeneinteilung der Vorlesung 1814/15 plausibel; der offenbar zur 13. Vorlesung gehörige Zettel bezieht sich u.a. auf die Paragraphen 106 f der kompendienartigen Darstellung (vgl. unten S. 215); diese waren 1814/15 Thema der 11. und 12. Stunde (vgl. unten S. 93 f).

Historische

Einführung

XXXIII

ren, da die überlieferten Nachschriften die Stunden nicht bezeichnen und auch sonst - durch Absätze, auffälligen Wechsel der Tinte oder der Handschrift und dergleichen - keine sichere Abgrenzung einzelner Kollegien erlauben. Obwohl Schleiermachers Aufzeichnungen dokumentieren, daß er gegenüber der Vorlesung von 1814/15 Umgruppierungen des Materials und andere, inhaltliche Eingriffe vornahm, hat das Kolleg 1818/19 in der Forschung schon immer dadurch besonderes Interesse beansprucht, daß zu ihm Nachschriften überliefert sind, die zeitlich und sachlich der kompendienartigen Darstellung von 1814/15 am nächsten stehen und deshalb in besonderer Weise zur Erläuterung der Paragraphen geeignet zu sein schienen. So hat bereits Ludwig Jonas seine erläuternden Anmerkungen überwiegend aus den ihm zugänglichen Nachschriften zum Kolleg 1818/19 bestritten. Zur Zeit sind drei Nachschriften bekannt. Eine stammt aus der Feder von Gottfried Bernhardy,wx der in Berlin auch Hörer Hegels und später Mitarbeiter der von Hegel begründeten „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik" war.102 Eine Nachschrift, die auch Jonas schon vorlagt, stammt von Eduard Theodor August Zander104; hinzu kommt eine weitere, erst jüngst bekannt gewordene anonyme Nachschrift.105

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Bernhardy wurde am 20. März 1800 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Landsberg an der Warthe geboren. Er studierte seit 1817 Philologie an der Berliner Universität, wurde 1822 promoviert und habilitierte sich ein Jahr später; 1825 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt und 1829 als Ordentlicher Professor der klassischen Philologie und Direktor des philologischen Seminars an die Universität Halle berufen. Er war Mitglied mehrerer Akademien, darunter auch der Berliner; Bernhardy starb am 13. Mai 1875 in Halle. Vgl. R. Volkmannn: Gottfried Bernhardy; zur Nachschrift vgl. unten S. LXXXI den editorischen Bericht. Eine Vorlesungsnachschrift zu Hegels Vorlesung über die Naturphilosophie 1819/20 ist, nebst einer Nachschrift zu Boeckhs Römischer Literaturgeschichte 1818/19, mit der Dialektik-Nachschrift im Nachlaß Bernhardy zusammengebunden. Die Nachschrift zu Hegel ist ediert; vgl. G.W.F. Hegel: Naturphilosophie. Die Nachschrift hatte Ludwig Jonas nach einer Notiz auf dem Titel „v. Herrn Prediger Zander in Biesdorf erhalten d. 4. April". Zander (1799-1877) hatte in Berlin das Gymnasium zum Grauen Kloster besucht und wurde 1827 Prediger in Berlin-Biesdorf (Kirchenkreis Berlin-Land I), wo er bis zu seiner Emeritierung am 1.4. 1864 blieb. Diese Nachschrift befindet sich im Besitz von Frau Pröpstin Uta Grohs, Hamburg. Nach Auskunft der Besitzerin lassen sich die Vorbesitzer der Nachschriften bis zu einem (nicht näher identifizierbaren) Major von Wolfram zurückverfolgen, der sie in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts einem Kameraden aus Militärzeiten, Wilhelm Witte (ca. 1860-1939/40), der später als Herrenausstatter und Marinebekleider in Kiel ansässig war, vermacht habe. Sollten die aus dem Gedächntnis überlieferten Lebensdaten des Letzteren annähernd zutreffen, so muß bezweifelt werden, daß v. Wolfram der Erstbesitzer der Handschriften gewesen war, denn als Hörer der Vor-

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Einleitung

des

Bandherausgebers

Rudolf Odebrecht konnte noch eine weitere Nachschrift von Friedrich Bluhme106 in der Universitätsbibliothek Bonn nachweisen, die nach Auskunft der Bibliothek im 2. Weltkrieg verlorengegangen ist. Odebrecht hatte, wie er in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Dialektik schreibt, „auch die Kolleghefte von 1818 zu einem Ganzen verarbeitet" - d.h. die Nachschriften Zander und Bluhme - „um den Kern eines späteren Ergänzungsbandes zu bilden."107 Diese Kompilation Odebrechts konnte nicht mehr aufgespürt werden. Aufgrund eines Vergleichs der Nachschrift Zander mit den von Jonas mitgeteilten Auszügen aus Nachschriften der Vorlesung 1818/19 ergibt sich der Schluß, daß Jonas neben Zander wenigstens noch eine weitere, heute nicht mehr zugängliche Nachschrift zur Verfügung gestanden haben muß. Schleiermacher konnte seine früher geäußerte Absicht, die Dialektik nach einem dritten Durchgang für den Druck zu bearbeiten, trotz der bereits vorliegenden Notizen und Entwürfe nicht verwirklichen. Während der Vorlesung 1818/19 sah er sich jedenfalls von diesem Vorhaben weit entfernt. An Gaß schrieb er: „Die Unechtheit des Epheserbriefes wird mir beim Lesen immer gewisser, und die Echtheit meiner Dialektik auch. Aber die hat noch lange Zeit. Der Mensch hat nun seine fünfzig Jahr auf dem Rükken und muß sich auf nichts unnüzes mehr einlassen, sondern nur das nöthigste thun."m Ahnlich zurück-

lesungen müßte er um 1800 geboren sein und hätte bei seiner Begegnung mit Witte schon auf das achtzigste Lebensjahr zugehen müssen. Ein einseitig beschriebenes Blatt „Bemerkungen, auf Sprachlehre sich beziehend, welche in Schi. Vorlesungen über Dialectik gelegentlich vorkommen" könnte auf einen angehenden Philologen als Nachschreiber bzw. Erstbesitzer der Handschrift hindeuten. 106 Friedrich Blume (1797-1874), aus Hamburg gebürtig, Dr. jur. und theol., Geheimer Justizrat, seit 1843 Professor für Kirchenrecht an der Universität Bonn. Vgl. Schleiermacher: Ästhetik, hg. v. R. Odebrecht, S. XXXI f: „Es ist ein 311 + 270 Seiten umfassender Halblederband, der im ersten Teil die Dialektik von 1818/19, im zweiten Teil die Ästhetik von 1819 enthält. [...] Es befinden sich zur Kennzeichnung der einzelnen Bogen Randbemerke, welche die Buchstaben F. Bl. enthalten. Auf S. 25 (Dial.) ist der ausgeschriebene Name E Bluhme zu finden. [...] Eine Vergleichung der Dialektik mit den entsprechenden Stellen bei Jonas zeigt teilweise wortgetreue Ubereinstimmung. [...] Zusätze oder nachträgliche Ausarbeitungen sind nirgends festzustellen. Die Schrift ist sorgfältig, leserlich und mit vielen leicht und einwandfrei deutbaren Siglen durchsetzt. Beide Teile tragen am Rande später hinzugesetzte Kapitelüberschriften [...]. An einigen Stellen sind kleine Lücken entstanden. Hier bemühte sich der Schreiber um sinngemäße (in Tinte und Schrift deutlich abgehobene) Ergänzungen. In zweifelhaften Fällen steht am Rande ein Kreuz. Die Dialektik besitzt ein kurzes Inhaltsverzeichnis (S. 2) von der Hand des Nachschreibers. Es ist nach 1839 angefertigt und gibt eine genaue Kollationierung mit der Ausgabe von Jonas. " 107

Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. XXIX An Gaß, 28.12.1818, ebd., S. 160

Historische

Einführung

XXXV

haltend äußerte sich Schleiermacher in einem Brief an Brinckmann Ende 1818: „das Hervorbringen liegt in den Vorlesungen. Noch in den letzten Jahren habe ich eine Politik eine Dialektik eine Psychologie nach meiner eignen Weise vorgetragen, von denen ich hoffe wenn sie auf dem Papier ständen sollten sie sich Deines Beifalls erfreuen; und im nächsten Jahre denke ich an die Ästhetik zu gehen."109

d) Die Vorlesung

1822

Im Zuge der abschließenden Arbeit an seiner Glaubenslehre, an der er seit 1818 schrieb und die 1821/22 in zwei Bänden erschien110, las Schleiermacher im Sommer 1822 vor 118 Hörern fünfmal wöchentlich von 6—7 Uhr morgens über Dialektik. Die Vorlesungen begannen am Montag, dem 15.4.1822, und endeten am Freitag, dem 16.8.1822. Ungeachtet der Tatsache, daß er sich für diese Vorlesung ein neues Heft anlegte, notierte Schleier mach er nicht nur dort den Beginn der Vorlesungen11 ^ sondern auch auf dem Umschlag der kompendienartigen Darstellung von 1814/15: „1822 angefangen d 15. April in 5 Stunden wöchentlich" .112 Uber den äußeren Verlauf der Vorlesung geben die Eintragungen in Schleiermachers Notizkalender für 1822 nähere Auskunft.113 Am Montag, dem 15.4. wird der „Anfang der Dialektik" notiert; weitere Eintragungen finden sich unter dem 22.4. („6t. Dialektik"), 26.4. („10 Dialektik") und 29.4. (11 Dialektik). Die Eintragungen werden im folgenden Monat am Freitag, dem 3.5. fortgesetzt („14 Dialektik"); weitere Stunden sind vermerkt unter dem 6.5. („15 Dialektik"), 10.5. („19 Dialektik"), 13.5. („20 Dialektik"), 17.5. („23. Dialektik"), 20.5. („24 Dialektik"), 24.5. („28 Dialektik"), 30.5. („29 Dialektik"), 31.5. („30 Dialektik"). Für Juni finden sich folgende Eintragungen zum Verlauf der Vorlesung: 3.6. („31 Dialektik"), 7.6. („35 Dialektik"), 10.6. („36 Dialektik"), 12.6. („Reise nach Potsdam. Collégien und Katechisation ausgefallen"), 13.6. („38 Dialektik), 14.6. („39 Dialektik), 17.6. („40 Dialektik"), 21.6. („44 Dialektik"), 24.6. („45 Dialektik"), 28.6. („Dialektik 49"). Im Juli sind folgende Stunden vermerkt: 1.7. („Dialektik 50"), 2.7. („Dialektik 51"), 5.7. („Dialektik 54"), 8.7. („Dialektik 55. ersten Theil geschlossen"), 12.7. („Dialektik 59"), 15.7.

109 110 111 112 113

Briefe 4, S. 241. Der Brief ist auf den 31. 12. 1818 KG A 1/7, 1.2 Vgl. unten S. 219 Vgl. unten S. 75 SN 443

datiert.

Einleitung des

XXXVI

Bandherausgebers

(„Dialektik 60."), 19.7. („Dialektik 64."), 22.7. („Dialektik 65"), 27. 7. („Dialektik 69"), 29.7. („Dialektik 70"). Im August schließlich finden sich Eintragungen an folgenden Tagen: 3.8. („Dialektik 75."), 5.8. ( „Dialektik 76"), 9.8. („Dialektik 80"), 10.8. (Samstag; ein gestrichener Vermerk „Dialektik"), 12.8. („Dialektik 81."), 16.8. („Dialektik geschlossen mit der 85t. Stunde"). Zwei dieser Eintragungen (27.7. und 3.8.) fallen auf einen Samstag; offenbar hatte Schleiermacher gegen Ende des Semesters diese Stunden eingeschoben, um den Stoff bewältigen zu können; ein weiterer Zusatztermin war wohl für den 10.8. vorgesehen, wurde aber nicht in Anspruch genommen. Auch die Nachschrift Kropatscheck verzeichnet zu jeder Stunde die Daten, wobei sich jedoch einige Abweichungen zu Schleier mach ers Aufzeichnungen ergeben. Im Unterschied zu Schleiermacher datiert Kropatscheck die 10. Stunde auf den 29. April, nachdem er für die 9. Stunde den 25. April, einen Donnerstag, als Datum angegeben hatte. Ab der 10. Stunde befindet sich Kropatscheck mit seiner Zählung daher eine Stunde hinter derjenigen Schleier mach ers zurück, jedoch springt er dann von der 19. Stunde (13. Mai) auf die 21. Stunde (14. Mai), wodurch die Übereinstimmung (vorerst) wieder hergestellt wird. Eine weitere Abweichung zeigt sich dann Ende Juli. Während Schleiermacher für den 27. die 69. Stunde notiert, ist es bei Kropatscheck die 70. Vorlesung, die an diesem Samstag eingeschoben wird. Entsprechend schließt die Vorlesung am 16. August dann nicht, wie bei Schleiermacher, mit der 85., sondern mit der 86. Stunde. Da die anderen Nachschriften die Vorlesungsstunden nicht datieren, läßt sich durch deren Hinzuziehung eine Klärung nicht herbeiführen. Im Blick auf die erste, mit der 10. Stunde einsetzende Abweichung zeigt sich durch einen inhaltlichen Vergleich des Schleiermacherschen Vorlesungsmanuskripts mit der Nachschrift, daß die von Schleiermacher für die 9. und 10. Stunde notierten Themen laut Nachschrift zusammen in der 9. Stunde behandelt wurden, die Themen der 11. Stunde in der 10. usw. Hier legt der folgende Sprung in der Zählung der Nachschrift, der sich durch einen Irrtum Schleier mach ers nicht erklären ließe, nahe, daß Kropatscheck entweder die Vorlesung am Freitag, dem 26. April versäumt und im nachhinein deren Inhalt unter dem Datum des 25.4. auf der Grundlage eines ausgeliehenen Heftes notiert hat, oder daß er vergessen hatte, den Beginn der 10. Stunde zu vermerken, deshalb irrig die 11. als 10. Stunde bezeichnete und in eine falsche Zählung geriet, die ihm erst nach der 19. Stunde (vielleicht durch den Blick in die Nachschrift eines Kommilitonen) aufgefallen und stillschweigend korrigiert worden war.;114

114

Rudolf

Odebrecht

notiert den Sprung in der Zählung,

begnügt sich aber mit dem

Historische Einführung

XXXVII

Die zweite Abweichung in der Stundenzählung dürfte dagegen auf einem Irrtum Schleier mach ers beruhen; da die 70. Stunde auf einen Sonnabend fiel und einen Zusatztermin darstellte, hat er wohl — da er gewöhnlich nur die erste und letzte Stunde einer Woche einzutragen pflegte — seiner Berechnung die reguläre Zahl von fünf Wochenstunden zugrundegelegt. Trotz seiner Arbeit an der Dogmatik setzte Schleiermacher in Verbindung mit dieser Vorlesung zu einer veränderten Darstellung der Einleitung und des transzendentalen Teils an, die er in einem neuen Heft niederschrieb, wobei er sich jedoch weiterhin auf die Paragraphen des Heftes von 1814/15 zurückbezieht. Dieses Heft hat jedoch nicht die Gestalt eines Kompendiums; die Form der Niederschrift entspricht eher der des Hallenser „Brouillons zur Ethik" und dürfte wie dieses in erster Linie auch der Selbstverständigung gedient haben. Im zweiten, technischen Teil der Dialektik hielt Schleier mach er sich weiterhin eng an das Heft von 1814/15ns, das er ab der 60. Stunde seinem Vortrag offenbar direkt zugrundelegte, denn das 1822 angelegte, neue Heft endet mit der 5 9 . Vorlesung. Zu der Vorlesung sind z.Zt. sechs Nachschriften bekannt116 ; sie n? stammen von Eduard Bonnell , Karl Rudolf Hagenbachn%, Heinrich Klamroth119, Johann Kropatscheck120, Heinrich Saunier121 und Eduard Szarbinowski,ni

115

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Hinweis darauf, daß daraus nicht auf eine Lücke in den Nachschriften zu schließen sei (Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 498). Zur Frage, wieweit Randbemerkungen in diesem Heft zur Vorlesung 1822 gehören, vgl. unten S. LXV—LXV1U den editorischen Bericht. Klamroth stand bereits Jonas zur Verfügung, während Kropatscheck, Saunier und Szarbinowski zusätzlich von Odebrecht benutzt wurden. Die Nachschriften Bonnell und Hagenbach wurden im Zuge der Vorbereitung der KGA festgestellt. Karl Wilhelm Eduard Bonnell (1802-1877), Altphilologe, Professor und Direktor des Friedrich-Werderschen Gymnasiums in Berlin. Karl Rudolf Hagenbach (1801-1874), aus Basel gebürtig, studierte 1819-1823 Theologie in Basel, Bonn und Berlin; 1823 Privatdozent in Basel, 1824 außerordentlicher und 1829 ordentlicher Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte ebendort. „Carl Heinrich Ludwig Kl. aus Parlin b. Stargard i. Pommern. Vater Prediger. An der Univ. Berlin inscr. v. 8.4.1820-17.8.1822". (Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. XXX) „Johann Gustav Wilhelm Kr. aus Nowawes b. Potsdam. Vater Prediger. An der Univ. Berlin inscr. v. 5.4.1820-7.9.1825". (Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. XXX) „Johann Carl Heinrich S. aus Berlin. Vater Prediger. An der Univ. Berlin inscr. v. 17.8. 1821-8.10.1822. Als candidatus alumnus verstorben. Schl[eiermacher] hielt die Grabrede" (Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. XXXI; zur Grabrede vgl. SW 2,4, S. 869-874) „Franz Ludwig Eduard S. aus Bromberg (Posen). Vater Stadtverordneter. Bei der

XXXVIII

Einleitung des Bandherausgebers

Bei der Aufnahme seiner Glaubenslehre sah sich Schleiermacher in den folgenden Jahren zahlreichen Mißverständnissen ausgesetzt, die auch seine philosophischen Grundpositionen betrafen, indem sie davon ausgingen, er habe die Dogmatik philosophisch begründet.123 Hierbei spielte weniger die tatsächliche Kenntnis seiner philosophischen Auffassungen eine Rolle, deren Grundlegung und Systematik zudem vor allem in den Vorlesungen entwickelt und in den Publikationen weitgehend nur angedeutet worden waren, als vielmehr der Verdacht des Spinozismus, der Schleiermacher seit den „Reden" „Uber die Religion" (1799) anhing. Von theologischer Seite wurde der Vorwurf des Spinozismus u. a. von Ferdinand Delbrück in einer 1826 erschienenen Streitschrift erhoben.124 In einem Brief an den Koblenzer Pfarrer Karl August Groos vom 4.8.1826 erwog Schleiermacher, zur Offenlegung seiner philosophischen Systematik zuerst nicht die vollständige Ethik im Zusammenhang, sondern die Grundzüge der Dialektik zu veröffentlichen: „Von dem Delbrückschen Buche habe ich schon gehört aber zu Gesicht ist es mir nicht gekommen. Im voraus bin ich nicht gewiß etwas darauf zu sagen, wie ich denn überhaupt nur in öffentlichen Angelegenheiten gern als Kämpfer auftrete. [...] Was meine Ethik betrifft, so ruht diese ja sehr. Ein großer Theil davon (jedoch noch nicht die ganze Lehre vom höchsten Gut) liegt seit mehreren Jahren ausgearbeitet da. [...] Was die anderen beiden Theile anbelangt, so sind die Grundzüge davon in zwei Abhandlungen über den Tugendbegriff und über den Pflichtbegriff enthalten, welche in den Denkschriften der Akademie stehn und welche ich Ihnen mitsende. Zu diesen kommen noch im nächsten Bande hinzu: über den Begriff des Erlaubten und über den Unterschied zwischen Naturgesez und Sittengesetz. Kann ich nun noch ein paar ähnliche aus dem ersten Theile liefern so kann dann wol ohne Schaden die Zusammenstellung des Ganzen noch ausgesezt bleiben. Dann möchte ich fast die Grundzüge der Dialektik noch früher geben; durch diese würde sich dann manches Geschrei von selbst geben, und solche Antworten sind immer die besten."12i In diesem Zusammenhang steht auch ein weiterer Brief an Groos vom 22.9.1826, den Schleier mach er teilweise als „briefliche Zugabe" zu einer 1827 von Sack, Nitzsch und Lücke veröffentlichten Replik an Delbrück drucken ließ. Hierin wehrt er sich gegen den Vorwurf des Spinozismus und Pantheismus, wobei er im übrigen zur Offenlegung

123 124 125

jurist. Fakultät d. Univ. Berlin inscr. v. 18.8.1821 bis 10.4.1823." (Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. XXXI) Vgl. die historische Einführung von Hermann Peiter in KG A 1/7,1, S. XXXV ff. Ferdinand Delbrück: Christenthum, Bd. 2 Briefe 4, S. 356 f.

Historische

Einführung

XXXIX

seiner Positionen auf einen möglichen kurzen Abriß seiner Dialektik verweist: „Wenn aber Delbrück mich S.124 so bestimmt als Spinoza's Jünger anführt, [...] so hätte ihm obgelegen zu zeigen, daß einige wenigstens von den Säzen irgendwo in meinen Schriften vorkommen, ohne welche nach seiner eignen Darstellung Spinoza's System nicht bestehen kann [...]. Ehe nun jemand gezeigt hat, daß diese Säze und was ihnen anhängt die meinigen sind, kann es mich gar nicht kümmern, wenn mich wer es auch sei einen Spinozisten nennt. Unsere Freunde aber, welche wünschen, daß ich mich vertheidigen soll, werden vielleicht sagen, wenn auch nicht für einen Spinozisten, so könne man mich doch auch ohne diese Säze für einen Pantheisten halten, und dieser Schein solle doch endlich gelöst werden. Das wäre freilich schön. Aber aus Achtung für den trefflichen Delbrück möchte ich es nicht auf Veranlassung seiner thun, da er sich ein so unbestimmtes Gewäsch nirgend in Bezug auf mich hat zu Schulden kommen lassen. Uebrigens dünkt mich, es sei hiermit wie mit jenem. [...] Gesagt hat man nun freilich dergleichen oft genug, aber nachgewiesen hat es niemand [...]. In der dermaligen Lage der Sache wüßte ich auch nichts zu sagen, was nicht also eben schon Twesten [...] hierüber gesagt hat; positiveres wird sich nur im Zusammenhange vortragen lassen, wenn es mir gelingt wenigstens einen kurzen Abriß meiner Dialektik noch mitzutheilen."126 Wie verbreitet der Spinozismus-Verdacht gegenüber Schleiermacher war, belegt auch ein Artikel in dem 1828 erschienenen dritten Band des Encyclopädisch-philosophischen Lexikons von Wilhelm Traugott Krug, wo es über Schleiermacher heißt: „Sein eignes philosophisches System hat er [...] bisher in einer Art von Halbdunkel gehalten, aus welchem hin und wieder eine pantheistische Ansicht der Dinge hervorzuleuchten scheint."117

e) Die Vorlesung 1828 Wohl nicht zuletzt aufgrund der erklärten Absicht, den genannten Verdächtigungen durch eine Publikation wenigstens eines kurzen Abrisses seiner Dialektik entgegenzutreten, nahm Schleier mach er nach sechsjähriger Unterbrechung im Sommer 1828 die Arbeit an der Dialektik mit einer erneuten Vorlesung — der fünften — wieder auf und las in fünf Stunden wöchentlich morgens von 6-7 Uhr vom 28.4. bis 22.8. 126

Briefe 4, S. 358 f.; vgl. Erklärung des Herrn Dr. Schleiermacher über die ihn betreffenden Stellen der Streitschrift, in: K. H. Sack, C. ]. Nitzsch und F. Lücke: Ueber das Ansehen der heiligen Schrift, S. 214 f. 127 w j Krug: Encyclopädisch-philosophisches Lexikon, Bd. 3, S. 551

XL

Einleitung des

Bandherausgebers

vor 129 Hörern. In seinem Notizkalender für 1828m hat er darauf verzichtet, die thematisch verschiedenen Kollegien einzeln zu einzutragen; dementsprechend heißt es unter dem 28.4. (Montag): „Erste Stunde in sämtlichen Vorlesungen". Im Mai finden sich Eintragungen unter folgenden Daten: 2.5. („4t. Stunde"), 9.5. („9te Stunde."), 12.5. („10t. Stunde"), 16.5. („Ausgesezt wegen des Extal[erischen] Begräbnisses."), 19.5. („13t. Stunde"), 23.5. („17t. Stunde"). Im Juni notiert Schleiermacher die 18. (2.6.), 22. (6.6.), 23. (9.6.), 27. (13.6.), 28. (16.6.), 32. (20.6.), 33. (23.6.), 37. (27.6.) und 38. Stunde (30.6.), im Juli die 42. (4.7.), 43. (7.7.), 47. (11.7.), 48. (147.), 52. (18.7.), 53. (21.7.), 57. (25.7.) und 58. Stunde (28.7.). Im August schließlich finden sich Eintragungen unter dem 1.8. („62t. Stunde"), 4.8. („63t. Stunde"), 8.8. („67t. Stunde"), 11.8. („68. Stunde. Unwohl"), 15.8. („72 Stunde"), 18.8. („73 Stunde.") sowie unter dem 22.8. („77 Sämtliche Collégien geschlossen"). Die Stunden 1 bis 59 notierte Schleiermacher am Rand des 1822 angelegten Heftes; Aufzeichnungen zu den Stunden 68—74 und 76 finden sich als Marginalien in der kompendienartigen Darstellung von 1814/15 ; darüber hinaus ist dort wenigstens noch eine weitere Randbemerkung mit Sicherheit der Vorlesung 1828 zuzuordnen.129 Ob Aufzeichnungen zur 77. Stunde fehlen bzw. nicht überliefert sind, oder ob die Eintragungen in Schleiermachers Notizbuch ungenau sind, läßt sich nicht entscheiden. Eine Nachschrift zu dem Kolleg 1828 ist nicht mehr zugänglich; Jonas stand eine von Schubring zur Verfügung, aus der er einige Zitate mitgeteilt hat.130 f) Die Vorlesung 1831 Im Sommersemester 1831 las Schleiermacher über Dialektik vom 25.4. bis 3.9. fünfmal wöchentlich von 7-8 Uhr morgens vor 148 Hörern; in seinem Notizkalender131 finden sich dazu folgende Eintragungen: 25.4.

SN 447 129 y gl unten S. LXV1I den editorischen Bericht 130 Vgl. KGA 11/10,2, S. 721-724; Julius Schubring (1806-1889) war Hauslehrer bei Schleiermacher und später Pfarrer in Dessau. Er war eng mit Felix Mendelssohn-Bartholdy befreundet und für ihn bzw. auch mit ihm zusammen als Librettist tätig. Schubring ist als Adressat eines Briefes von Schleiermacher vom 25.5.1829 bekannt (vgl. Arndt/Virmond: Verzeichnis, S. 234); von ihm ist auch eine Nachschrift zur Vorlesung über die Lehre vom Staat 1829 überliefert (vgl. KGA II/8, S. LV1I1). 131 SN 451 128

Historische

Einführung

XLI

(„Alle 3 Collégien angefangen."), 29.4. („4t Stunde."), 2.5. („Ausgesezt wegen Grunows Begräbniß"), 3.5. („5t. Stunde"), 6.5. („8t Stunde"), 9.5. („9te Stunde"), 13.5. („12t. Stunde"), 16.5. („13t. Stunde"), 20.5. („17t. Stunde"), 23.5. bis 27.5. ausgefallen wegen einer Reise, 30.5. („18t. Stunde"), 3.6. („22t. Stunde"), 6.6. („23t. Stunde"), 10.6. („27t. Stunde"), 13.6. („28t. Stunde"), 17.6. („31 Stunde"), 20.6. („32 Stunde"), 24.6. („36t. Stunde"), 27.6. („37. Stunde), 30.6. („40t. Stunde"), 1.7. („41t. Stunde"), 7.7. („Collégien ausgesezt"), 15.7. („Ich muß aussezen wegen des B[ehrendtschen] Begräbnisses (49.)"U1), 18.7. („50t. Stunde), 22.7. („54t. Stunde den ersten Theil der Dialektik beendigt."), 25.7. („55t. Stunde. Dialektik technischen Theil angefangen."), 29.7. („59te Stunde"), 1.8. („60t. Stunde"), 5.8. („63 Stunde"), 8.8. („64 Stunde), 11.8. („Ausgesezt Kollegien und Katechisation wegen der Akademischen Lesung."), 12.8. („67t. Stunde"), 15.8. („68t. Stunde"), 20.8. („73t. Stunde"), 22.8. („74t. Stunde"), 27.8. („79t. Stunde"), 29.8. („80t. Stunde"), 3.9. („85t. Stunde. Alle 3 Vorlesungen geschlossen. Unwohl."). Im Zusammenhang mit der Vorlesung setzte Schleiermacher wiederum zu einer neuen Darstellung an; auf 31 Zetteln finden sich Aufzeichnungen zur 7. bis 61. Stunde; weitere Aufzeichnungen zur 62. bis 82. Stunde enthält das Heft zur Vorlesung 1822; sie stehen dort im Anschluß an die 59. Stunde der Vorlesung 1822 nach der Bemerkung „Soweit war ich 1831 gekommen in 61 Stunden". Dies läßt darauf schließen, daß Schleiermacher trotz des Neuansatzes - der sich im technischen Teil auch durch eine neue, abschnittsweise durchgeführte Paragraphenzählung neben der Zählung der Vorlesungsstunden ausdrückt — weiterhin das Heft von 1822 zu Rate zog. Ebenso finden sich Hinweise auf die Paragraphen des Heftes von 1814/15.133 Eine Nachschrift zum Kolleg 1831 ist nicht mehr zugänglich; Jonas hatte für seine Ausgabe noch eine Nachschrift von Erbkam134 zur Verfügung, aus der er längere Auszüge mitgeteilt hat.135

132 133

134

13s

Offenbar ist die 49. Stunde am 15.7., einem Freitag, ausgefallen. Zur Frage, wieweit Marginalien in diesem Heft der Vorlesung 1831 zuzuordnen sind, vgl. unten S. LXV—LXVII1 den editorischen Bericht. Wilhelm Heinrich Erbkam (1810-1884), ein Neffe Karl Heinrich Sacks, studierte in Bonn bei Sack, Nitzsch und Bleek, in Berlin bei Schleiermacher, Neander und Marheineke sowie in Wittenberg bei Rothe; 1838 Privatdozent für Kirchengeschichte in Berlin, seit 1847 außerordentlicher, seit 1855 ordentlicher Professor der Kirchengeschichte in Königsberg. Vgl. KG A 11/10,2, S. 727-795

XLII

Einleitung

g) Die „Einleitung"

von

des

Bandherausgebers

1832/33

Auf der Grundlage des erneuten Durchgangs im Kolleg 1831 begann Schleiermacber wohl gegen Ende 1832 mit einer Ausarbeitung der Dialektik für den Druck. Es muß offen bleiben, ob hierfür der inzwischen erreichte Grad der Selbstverständigung oder aber der Wunsch ausschlaggebend war, vor einem möglichen, altersbedingten Verlust der wissenschaftlichen Arbeitsfähigkeit noch mit der Darstellung seiner philosophischen Prinzipienlehre ins Reine zu kommen. Offenbar trat Schleier mach er dem Gedanken an eine Ausarbeitung der Dialektik erst nach dem Abschluß der zweiten, im Vergleich zur ersten völlig umgearbeiteten Auflage der Glaubenslehre näher. Ein erster Hinweis auf das Projekt findet sich in einem Brief Schleiermachers an Ludwig Jonas vom 18.12.1831, wo es über seine weiteren Arbeiten heißt, er wolle „anfangen an der christlichen Sittenlehre zu arbeiten, und daneben auch die Dialektik etwas ins Treibhaus zu bringen, daß sie reif werde. Dieß sind meine Projecte die nur auf Gottes Segen warten und auf gute Witterung."136 Das Unternehmen kam jedoch auch 1832 wohl noch nicht richtig in Gang; in einem Brief an Jonas vom 18.11.1832 heißt es: „Lieber Freund hier erhältst Du [...] das dritte Duzend Predigten. Ich wollte - aller guten Dinge drei - damit schließen, um Zeit für die Dialektik zu gewinnen, ich habe mich aber doch durch Knobloch wieder breit schlagen lassen, wie es denn am Ende schwer ist sich einem solchen Wunsche rundheraus zu weigern. In der Dialektik aber bin ich seit wir uns gesehen haben um gar nichts vorgerückt; auf jeden Fall soll aber doch vor Jahres Schluß die Einleitung wenigstens fertig werden."137 Doch auch dieses Vorhaben erwies sich als nicht realisierbar. Die Eintragungen in Schleiermachers Notizkalender geben Auskunft über den mühsamen, oft stockenden Prozeß des Schreibens an der Dialektik und machen deutlich, daß er offenbar nur in den akademischen Ferien Zeit hierfür fand. Ein erster Eintrag findet sich gegen Ende Dezember 1832 ohne Bezug auf eine genaue Datumsangabe : „An der Dialektik ist in den Ferien sehr wenig geschehen".138 Gegen Ende Februar 1833 nimmt Schleiermacher dann die Arbeit wieder auf; unter dem 23. Februar (Sonnabend) heißt es: „Predigten und Dialektik vorbereitet. "139 Weitere Einträge finden sich dann bis Ende Mai unter folgenden Daten: 2.3. („Dialektik und Predigten."), 9.3. („Predigten Dia-

136

,37 138 139

Ludwig Jonas und Schleiermacber, S. 75; Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Ludwig Jonas, Mappe 7, Bl.31" Ebd., S. 2; Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Ludwig Jonas, Mappe 7, Bl.40T SN 452 SN 453

Historische Einführung

XLIII

lektik (aber nichts neues)"), 23.3. („Predigten und Dialektik."), 1.4.: („Dialektik ins reine angefangen"), 4.4. („Dialektik den ersten § beendigt"), 13.4. („Dialektik Predigt."), 16.4. („Dialektik und Predigten"), 22.4. („Dialektik."), 24.4. („Dialektik"), 11.5. („Dialektik"), 25.5. („Dialektik."). Eine weitere und letzte Eintragung nach dem Mai findet sich erst unter dem 3. Oktober; zu diesem Zeitpunkt hielt sich Schleiermacher auf der Rückkehr von seiner Skandinavienreise in Putzar auf: „Etwas Dialektik, viel Spaziergang." Bis dahin waren aufgrund zahlreicher Vorarbeiten, die direkt auf die Ausarbeitung zielten, fünf Paragraphen der „Einleitung" ausgeführt worden, wobei Schleiermacher sich an die Gestaltungsprinzipien der Glaubenslehre hielt, indem er thesenartige Leitsätze jeweils mit ausführlichen Erläuterungen versah. Man kann dies als Hinweis darauf verstehen, daß er seiner „Dialektik" nicht weniger Bedeutung beimaß als seiner Dogmatik und sie als philosophisches Hauptwerk auch der äußeren Gestalt und dem Umfang nach dem theologischen als gleichwertig und gleichgewichtig an die Seite stellen wollte. Offenbar kam Schleiermacher aber bereits im Herbst 1833 zu dem Schluß, daß dieser Plan für ihn nicht mehr durchführbar sei. Nach einer unpubliziert gebliebenen Vorrede Ludwig Jonas' zu Schleiermachers akademischen Reden und Abhandlungen sagte Schleier mach er am 4.2.1834 zu Jonas, nachdem er seine Vorlesungen wegen Krankheit hatte aussetzen müssen: „Wie billig habe ich meine Muße auch dazu benutzt, über mich selbst mit mir zu Rathe zu gehn, und da bin ich denn mit mir einig geworden, einen ganz neuen Lebensweg einzuschlagen. Ich wollte nämlich, wie Du weißt, meine Dialektik und christliche Moral in derselben Form arbeiten, in der die Dogmatik gegeben ist. Das habe ich aber aufgegeben. Ich werde eilen, sie etwa in die Form zu bringen, die die Encyklopädie hat. So können die Sachen allenfalls noch fertig werden, anders schwerlich. "140 Auch dieses Vorhaben konnte nicht mehr ausgeführt werden. Am 12. Februar 1834 starb Schleiermacher, nachdem er noch kurz vor seinem Tode Jonas zum Verwalter seines wissenschaftlichen Nachlasses bestimmt hatte. Dabei soll er u.a. gesagt haben: „Ich übergebe Dir meine Papiere, laß Dir angelegen seyn, daraus vor Allen, so gut es sich wird machen lassen, die Dialektik, die christliche Sittenlehre und meine Ansichten über die Apostelgeschichte zusammenzustellen und in Druck zu geben. "m Schleier mach ers Selbsteinschätzung, er habe mit der ersten schon den Grund zu einer ziemlich klaren Darstellung seiner 140 141

Zur Erinnerung an Ludwig Jonas, S. 53 f. Ebd. - Vgl. auch Jonas' Vorrede zu SW 3, 3, S. III.

Vorlesung Dialektik

XLIV

Einleitung des

Bandherausgebers

gelegt, findet darin eine Bestätigung, daß die Gliederung der Vorlesung seit 1811 im großen und ganzen feststeht und nicht mehr verändert wird. Auf einen einleitenden Teil, der den Begriff und die Aufgabe der Dialektik vorläufig bestimmt und den Anknüpfungspunkt für den Fortgang der Untersuchung sichert, folgt ein „transzendentaler Teil", dem sich ein „technischer" oder „formaler Teil" anschließt. Auch die Binnengliederung der beiden Hauptteile ist relativ konstant. Der transzendentale Teil fragt zunächst nach den Kriterien des Wissens, um dann in Bezug auf diese Kriterien die Grenzen des Wissens unter den logisch-ontologischen Formen des Begriffs und des Urteils zu bestimmen. Hieran schließt sich die Frage nach dem das Wissen (und Handeln) begründenden, aber selbst nicht dem Wissen zugänglichen transzendentalen Grund und der subjektiven Weise seines „Habens" im Gefühl bzw. unmittelbaren Selbstbewußtsein sowie nach den Ideen Gottes und der Welt an. Der transzendentale Teil behandelt damit die traditionellen Themen der Metaphysik: Ontologie (Entsprechungen des Begriffs und Urteils im Sein), rationale Psychologie (Subjektivität), Kosmologie (Idee der Welt) und rationale Theologie (Idee Gottes). Der technische Teil schließlich gliedert sich in zwei Hauptteile — Konstruktion und Kombination -, von denen der erste die Theorien der Begriffsund Urteilsbildung, der zweite das heuristische und das architektonische Verfahren umfaßt. Diese weitgehend feststehende Gliederung wird jedoch in den einzelnen Entwürfen zum Teil ganz unterschiedlich ausgeführt. Was die Einleitung betrifft, so stehen zunächst die Fragen nach den Prinzipien und dem Zusammenhang alles Wissens im Zentrum, während 1822 das Problem der Gesprächsfübrung den Anknüpfungspunkt bildet. In den Vorlesungen 1828 und 1831 dagegen tritt die Frage nach dem Anfangen des Philosophierens im Gegensatz von Gewißheit und Ungewißheit in den Vordergrund. Für die Ausarbeitung der „Einleitung" zum Druck kam Schleier mach er dann wieder auf den Ansatz von 1822 zurück. Wieweit diese Veränderungen nicht nur darstellungstechnischer, sondern auch konzeptioneller Natur sind, ist an dieser Stelle nicht zu erörtern. Hinsichtlich des transzendentalen Teils bleibt die Definition des Wissens in allen Fassungen unverändert, während die Passagen über die Vergewisserung des transzendentalen Grundes einschneidenden, auch konzeptionellen Veränderungen unterworfen werden. Hier nimmt die Vorlesung 1811 eine Sonderstellung insofern ein, als in ihr der transzendentale Grund als das Absolute gefaßt wird, das wir „nur als gemeinsames formales Element aller Acte des Erkennens"u2

142

Unten S. 43, 21 f.

Historische

Einführung

XLV

haben. Ab 1814/15 wird der transzendentale Grund dann in die relative Identität des Denkens und Wollens als Gefühl gesetzt.14* In der Vorlesung 1822 wird dann — wohl in Anlehnung an die Glaubenslehre144 145 das Gefühl als unmittelbares Selbstbewußtsein bestimmt ; hieran knüpfen auch die 1828 und 1831 gehaltenen Kollegien an.146 Ungeachtet dieser und anderer Veränderungen hat sich Schleiermacher bis 1828 in seinen Aufzeichnungen zum transzendentalen Teil der Dialektik immer wieder auf die kompendienartige Darstellung von 1814/ 15 zurückbezogen; erst in den Notizen zum Kolleg 1831 fehlen diese Verweise. Der technische Teil der Dialektik dagegen, der schon in dem Heft 1814/15 nicht vollständig durchgearbeitet war, sofern die im Manuskript vorgesehenen Erläuterungen zu zahlreichen Paragraphen fehlen, hat offenbar kaum inhaltliche Änderungen erfahren. Auch hier kam Schleiermacher bis 1828 immer wieder auf das Heft von 1814/15 zurück und skizzierte erst 1831 seine Darstellung ohne ausdrückliche Rückverweise darauf. Wie immer diese Veränderungen auch zu bewerten sein mögen: sie machen deutlich, daß Schleiermacher mit seiner Dialektik auch nach mehrmaligen Anläufen keineswegs „fertig" war, sondern bis zu seinem Tode an der geeigneten Darstellungsform und an dem Kernstück des transzendentalen Teils arbeitete, ohne zu einem Abschluß zu kommen.

3 Zeitgenössische Dialektik

Zeugnisse

zur und Auseinandersetzungen

mit der

Zeugnisse von Zeitgenossen über Schleiermachers Dialektik-Vorlesungen und deren Aufnahme sind, jedenfalls nach dem bisherigen Kenntnisstand, nur spärlich überliefert. Dies dürfte nicht nur darin gegründet sein, daß Schleiermacher selbst sie nicht mehr für den Druck ausarbeiten konnte, sondern auch darin, daß sich nur wenige solcher Äußerungen zufällig erhalten haben und für die Forschung zugänglich sind. Rückschlüsse auf die Wirkung der Vorlesungen lassen sich hieraus nicht ziehen. Nimmt man die Hörerzahlen zum Maßstab - auch im Vergleich mit der anspruchsvollen Konkurrenz etwa Hegels147 - so

143 144 145 146 147

Vgl. ebd., S. 142, §215 Vgl. KG A 1/7,1, S. 26, §8 Vgl. unten S. 266 f. Vgl. unten S. 305 und 334 Vgl. G. W. F. Hegel: Berliner Schriften 1818-1831, S. 745 ff. Im Sommer 1822 las Hegel Logik und Metaphysik vor 74, Schleiermacher Dialektik vor 118 Hörern; in den entsprechenden Vorlesungen des Sommers 1828 hatte Hegel 128, Schleiermacher 129 Zuhörer.

XLVI

Einleitung des

Bandherausgebers

kann die unmittelbare Wirkung der Dialektik-Vorlesungen Schleiermachers nicht gering gewesen sein. In den philosophischen Diskussionen seiner Zeit jedoch konnte Schleiermacher allein durch den Vortrag der Dialektik kaum wahrgenommen werden. Eine der Hauptquellen für die erste Vorlesung 1811 ist August Twesten, von dem auch die einzige bisher bekannte Nachschrift zu dieser Vorlesung stammt. Twesten, der zuvor Fichte gehört hatte, aber dann von Schleiermacher angezogen wurde148, hat in seinen Tagebüchern und Briefen sowie in der Einleitung zu seiner Ausgabe der Schleiermacherschen Ethik (1841) zahlreiche Beobachtungen und Gedanken zu der ersten Darstellung der Dialektik festgehalten. Unter dem 22.4.1811 notiert er in seinem Tagebuch: „Heute begann denn die so lang ersehnte Schleiermachersche Dialektik. Es war eine herrliche Vorlesung. Er zeigte, wie aus der Philosophie, wenn man sie von der realen Wissenschaft trenne, oder wie dies in andern Zeiten geschehen sei, ihr wohl gar entgegensetze, nur etwas ungesundes und krüpplichtes hervorgehen könne. Es sei zwar keine Wissenschaft möglich, wenn man nicht die Principien des Wissens kenne, aber sich immer mit diesen abzugeben, nur sie ergrübein, nur sie darstellen wollen, tödte den Geist. Es war mir wie aus der Seele gesprochen. Ich überzeuge mich jetzt täglich mehr, daß ohne die vielseitigste Kenntniß des einzelnen auch eine richtige Ansicht des ganzen unmöglich sei; daß, so wie bloßes Wissen ohne Geist etwas elendes ist, so auch der größte Geist gewissermaßen Materialien bedürfe, um sich aus denselben ein Haus zu bauen. Nur wenigen ist es gegeben, aus sich selbst die Welt herauszuholen, und obgleich nur divinatorisch verfahrend doch das Rechte zu treffen. Je näher ich wahrhaft großen Männern, einem Kant, einem Schleiermacher, einem Erhard, einem Niebuhr komme, ich setze hinzu einem Goethe und Schiller, um so mehr erstaune ich nicht nur über die Kraft ihres Geistes, sondern auch über den Umfang ihrer Gelehrsamkeit. Ueberrascht hat mich die Uebereinstimmung Schleiermachers mit

148

In seinem Tagebuch heißt es unter dem 26.9.1811 : „Ein eigner Vortheil für mich war es in Berlin, daß ich die drei hauptsächlichsten neueren philosophischen Ansichten, die kritische, die idealistische und die naturphilosophische in Erhard, Fichte und Schleiermacher gewissermaßen personifiziert vor mir hatte. Menschen von solcher Kraft, daß ihr System und ihr Personalität eines wird, so wie diese, hat man selten vor sich. [...] Von Fichte stieß mich nun beides zurück, seine Personalität — nicht als wenn ich diese nicht achten müßte, aber weil sie meinem Wesen so ganz fremd war - und zugleich das, was er als ihren Mittelpunkt selbst angab, seine Philosophie. Zu Schleiermacher hingegen zog mich beides hin." (Heinrici: Twesten, S. 206) Mit Johann Benjamin Erhard (1766—1827), einem Arzt und Philosophen, der aus der Theorie Kants jakobinische Konsequenzen zog, war Twesten in seiner Berliner Studienzeit befreundet.

Historische Einführung

XLVII

Reinhold in einer der wesentlichsten Lehren des letzteren, nämlich darin, daß die höchsten Principien des Wissens und der wissenschaftlichen Construction eines sind, daß die Logik sowohl, wie sie bisher getrieben ist, getrennt von der Metaphysik, als diese gesondert von jener beide leer sind und zu nichts helfen. Ich bin begierig, wie diese Gleichheit sich weiter entwickeln wird, um so mehr, da ich gewiß bin, daß Schleiermacher Reinholds neueste Bestrebungen nicht kannte,"149 In der Rückerinnerung schrieb Twesten unter dem Datum des 25.9.1811: „Schleiermachers Dogmatik sowohl als seine Dialektik sind für mich von dem größten Nutzen gewesen. [...] Seine Dialektik war eine eigentliche Anweisung zu einer Construction der Wissenschaft, und ist, da sie zugleich Schleiermachers philosophische Grundsätze enthielt, natürlich für mich von dem allergrößten Interesse gewesen. Die Dogmatik habe ich schon in Berlin größtentheils ausgearbeitet; zur Ausarbeitung der Dialektik werde ich hier nächstens schreiten. "150 In der Vorrede zu seiner Ausgabe der Schleiermacherschen Ethik (1841) trägt Twesten noch eine weitere Erinnerung bei. Um „Gesetz und Methode" der rein wissenschaftlichen Konstruktion, „wie er dieselben in Anwendung brachte, nachzuweisen, und dadurch sowohl die Grundlegung seiner Ethik im Ganzen zu größerer Evidenz und Klarheit zu erheben, als auch dem Theile derselben, der die Gesetze der erkennenden Thätigkeit aus dem ethischen Gesichtspunkt erörtert, eine festere Basis und speciellere Ausführung zu geben, las er seit 1811 auch über die Dialektik."151 In einer Anmerkung hierzu heißt es: „Als Ausdruck des Bewußtseyns, welches Schleiermacher selbst von seinem speculativen Standpunkt hatte, mag hier erwähnt werden, daß er bey Eröffnung dieser Vorlesungen die Einleitung zu Steffens Grundzügen der philosophischer [sie!] Naturwissenschaft als diejenige Darstellung

149

150 151

Heinrici: Twesten, S. 177. - Carl Leonhard Reinbold war seit 1794 Professor für Philosophie in Kiel, wo er sich, nach mehrfachen Positionswechseln, um 1800 dem „rationalen Realismus" Christoph Gottfried Bardiiis anschloß. Zu der von Twesten angesprochenen Grundposition vgl. C.L. Reinhold: Vorläufige Zurückführung der Philosophie auf eigentliche Vernunftlehre, in: Bey träge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie, hg. v. C.L. Reinhold, Hamburg 1801, S. 91 : „Ist also die Analysis der Anwendung des Denkens als Denkens die wahre Philosophie: so muß durch dieselbe das Urwahre mit dem Wahren und das Wahre durch das Urwahre entdeckt, und aufgestellt werden." - Vgl. auch Bardiii und Reinhold: Briefwechsel über das Wesen der Philosophie und das Unwesen der Spekulation, München 1804. Heinrici: Twesten, S. 205 Schleiermacher: Grundriß der philosophischen Ethik, S. XCVIf.

XL Vili

Einleitung des

Bandherausgebers

des höchsten Wissens bezeichnet, mit der er am meisten einverstanden sey. "1S2 Zu einem ganz anderen Urteil als Twesten kam - nach einem Bericht Diltheys — Christlieb Julius Braniß (1792—1873): „ich hörte Schleiermacher und zugleich Fichte. Diese erste Vorlesung Schleiermachers über Dialektik von 1811 machte noch den Eindruck großer Unsicherheit, zumal wenn man sie mit der Fichtes verglich."153 In seiner Rezension der von Ludwig Jonas 1839 herausgegebenen Dialektik kommt Heinrich Ritter einleitend auch auf die von ihm gehörte Vorlesung im Wintersemester 1814/15 zu sprechen: „Ref. kann sich nicht enthalten, dieser Anzeige einiges Persönliche voraus zu schikken. Dieselben Vorlesungen, deren von Schleier mach er ausgearbeitetes Heft den Haupttheil des hier Abgedruckten ausmacht, gehalten im Jahre 1814, hat er mit dem fleißigsten Eifer gehört. Sie, die einzigen Vorlesungen, welche er bey Schi, hören konnte, haben einen fruchtbaren Keim in seine Seele geworfen, welche damahls schon seit einiger Zeit von philosophischen Untersuchungen erfüllt war. Als er nachher Logik, wesentlich dieselbe Wissenschaft, welche hier Dialectik heißt, zu lesen anfing, wie viel würde er darum gegeben haben, wenn er dabey ein ähnliches Buch, wie das vorliegende, hätte benutzen können! Er war sich in bedeutenden Puncten seiner Uebereinstimmung, in nicht weniger bedeutenden seines Streites mit Schl's Lehre bewußt; er hätte sein Verhältniß zu dieser seinen Zuhörern gern auseinander gesetzt. Seinen nichts weniger als wörtlichen Aufzeichnungen aus den Vorlesungen konnte er aber nicht vertrauen. Jetzt ist nun das damahls so sehr ersehnte Werk erschienen, wenn auch in einer mangelhaften Gestalt. Die Sehnsucht des Ref. aber hat natürlich seit jener Zeit nachgelassen. Er hat sich seinen eigenen Weg weiter vorwärts brechen müssen. Was vor 25 Jahren ihm eine bedeutende Hülfe hätte seyn können, kann jetzt ihm dergleichen nicht gewähren. Doch muß es ihm immerhin sehr erwünscht seyn, daß man jetzt wird beurtheilen können, in wie weit man Ursache hat ihn einen Schüler Schleier mach er's zu nennen, wie dies zuweilen geschehen ist,"154 Zu den Vorlesungen sind, abgesehen von den Vorlesungsnachschriften, weitere Zeugnisse z. Zt. nicht bekannt. Dagegen gibt es in der Folge einige Hinweise dafür, daß die Dialektik als Gegenposition zur Hegeischen Philosophie wahrgenommen wurde, was schließlich 152

153

154

A. Twesten: Vorrede zu: Friedrich Schleiermachers Grundriß der philosophischen Ethik. Berlin 1841, S. XCVI1. Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 2,1, S. 148; Dilthey zitiert eine mündliche Mitteilung Braniß' an ihn. Göttingische Gelehrte Anzeigen, 126.127. Stück, 6. August 1840, S. 1249 f.

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Einführung

XLIX

auch Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts" zu einer versteckten Polemik gegen Schleiermachers Dialektik-Auffassung veranlaßt haben mag. Daß diese Wahrnehmungen auf einer Kenntnisnahme der Vorlesungen beruhten ist allerdings weniger wahrscheinlich ; eher ist davon auszugehen, daß — mitveranlaßt durch sonstige Auseinandersetzungen zwischen Schleiermacher und Hegeli5S und vor allem Hegels Polemik gegen die Glaubenslehre156 - ein Gegensatz schon deshalb vermutet wurde, weil auch Hegel für sich eine Dialektik in Anspruch nahm. Wollte sich Schleiermacher mit der Dialektik ursprünglich des absoluten Geltungsanspruchs der Fichteschen „Wissenschaftslehre" erwehren, so ergab sich mit Hegels Berufung nach Berlin zum Winter 1818/19 eine neue Situation: sie trat jetzt in unmittelbare Konkurrenz zur Hegeischen Philosophie, mit der sich Schleiermacher bis dahin kaum auseinandergesetzt hatte. Wahrscheinlich war es Twesten, der zuerst in Schleiermachers Dialektik eine heilsame Gegenposition zu Hegels „Wissenschaft der Logik" erblickte und seinen früheren Lehrer auch deshalb immer wieder drängte, endlich mit einer Druckfassung hervorzutreten.157 In einem Brief vom 26.6.1815 schreibt er, mit Bezug auf die von Schleiermacher geplante Druckfassung der philosophischen Ethik: „Haben die dialektischen Vorlesungen Sie vielleicht veranlaßt, die dialektische Einleitung etwas zu erweitern ? Obgleich auch bei einer solchen Erweiterung es immer noch wahr bleibt, daß die Ethik sich anlehnen muß an eine in der Zeit vorausgesetzte spekulative Ansicht, so würde, glaube ich, doch die letzte es Ihnen Dank wissen, wenn Sie dazu beitragen wollten, durch eine kurze Darstellung ihrer Hauptmomente in einer bestimmteren und vollendeteren Form, als bisher geschehen ist, sie in sich selbst klarer und denen, die sich in ihr fester setzen möchten, etwas verständlicher zu machen. Hegels objektive Logik, die sich das zur Aufgabe gemacht zu haben scheint, enthält nach einer trefflichen Einleitung doch wunderbare Dinge. Alles versteht man nicht, und was man versteht, kommt einem oft mehr als eine gewisse Taschenspielerei vor denn wie eine tüchtige und wahrhaft ersprießliche Spekulation. Haben Sie das Buch einmal angesehen? ich

155 y g ι hierzu Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Bd. 2,1 156 157

zu

Vgl. hierzu die Historische Einführung in KG A 1/7,1, S. LVl-LVIII Vgl. ζ. Β. an Schleiermacher, 23.11.1814: „Lassen Sie sich also bewegen, nicht nur die Vollendung der Ethik {...} zu beschleunigen, sondern dann auch kurze Darstellungen der theologischen und philosophischen Disciplinen, über welche Sie lesen, und die Geschichte der Philosophie folgen zu lassen; wenn auch nur in Form von Compendien". (Heinrici: Twesten, S. 258)

L

Einleitung des

Bandherausgebers

möchte wohl wissen, was Sie darüber urtbeilen, um entweder veranlaßt zu werden, die starke Unlust zu überwinden, die mich abhält recht daran zu gehen, oder es mit ruhigerem Gewissen ganz liegen lassen zu können."158 Schleiermacher antwortete, was Hegel betraf, knapp: „Den Hegel habe ich nicht angesehen, aber aus Recensionen habe ich ohngefähr so eine Vorstellung davon wie die Ihrige."159 In einem Brief an Schleiermacher vom 20.7.1819 kam Twesten noch einmal auf Hegels „Wissenschaft der Logik" zurück, wobei er den Unterschied zu Schleiermachers Dialektik unterstrich : „Sie fordern mich noch einmal zu der logischen Preisfrage auf; es gehören aber wirklich zur Beantwortung mehr Bücher, als ich hier haben kann, und als ich auch eigentlich lesen mag, besonders, da man ja auch die neueren Werke von Bardiii und Hegel nicht würde umgehen können, die mir beide in ihrer Anlage verunglückt scheinen; denn was namentlich Hegel betrifft, so müssen ihm die logischen Formen entweder mehr, oder sie können ihm auch das nicht bedeuten, was sie ihm bedeuten. Was für ein ganz anderer Geist ist doch in Ihrer Dialektik als in dieser Logik! oder sollte ich doch das Rechte darin nur nicht gesehen haben? Finden Sie wirklich etwas darinf"160 In dem Brief vom 26. Juni 1815 hatte Twesten, der zum Wintersemester 1814/15 zum außerordentlichen Professor der Theologie und Philosophie in Kiel berufen worden war, auch seinen Plan erwähnt, seine „Vorlesungen über die Analytik ordentlich auszuarbeiten. [...] Was die gewöhnliche Logik eigentlich leistet, würde von meiner Analytik vollständiger geleistet; die Auswüchse und Anmaßungen derselben aber würden vermieden. Für die eigentliche Speculation wäre dadurch nichts gewonnen, weil sie ihrem Wesen nach negativ sein würde, sie müßte die Dialektik als etwas über sich stehendes anerkennen".161 1825 veröffentlichte Twesten dann seine „Logik", die sich ausdrücklich auf die Analytik beschränkt, aber in einem „Grundlinien der Synthetik" überschriebenen „Anhang"162 auch auf das spekulative Gebiet ausgreift; hierzu heißt es rechtfertigend in der „Vorrede": „Vielleicht wäre dies, wenn auch immer, wie ich glaube, nützlich, doch weniger nöthig gewesen, wenn Lehrbücher oder Vorträge über die eigentliche Wissenschaftslehre üblicher wären, die nicht bloß die transcendentalphilosophische sondern auch die logische Richtung nähmen, d.h. die sich nicht bloß begnügten, eine philosophische Ansicht von der Natur

158

160 161 162

Heinrici: Twesten, S. 261 An Twesten, 5.7.1815, ebd., S. 264 Ebd., S. 346 f.; vgl. C.G. Bardiii: Grundriß der ersten Logik, Stuttgart 1800 Heinrici: Twesten, S. 262 A.D. Ch. Twesten: Die Logik, insbesondere die Analytik, Schleswig 1825, S. 261 ff.

Historische

Einführung

LI

des Wissens und Erkennens und allenfalls eine philosophische Methodologie zu entwickeln, sondern die, alle Richtungen der wissenschaftlichen Thätigkeit umfassend, die methodischen Grundsätze derselben, durch Speculation begründet und durch die Reflexion auf ihre gewöhnliche, falsche oder richtige, rohe oder kunstreiche Anwendung bereichert, so weit verfolgten, daß sich die Methodik eines jeden besondern Zweigs der Wissenschaft daran anschließen könnte."m In einer Anmerkung zu dieser Passage schreibt Twesten: „Eine solche höhere Logik würde Schleiermachers Dialektik seyn, in Ansehung deren mir der gewiß von vielen getheilte Wunsch gestattet sey, daß sie uns nicht zu lange vorenthalten werden möge!"164 Auch wenn es nicht zu der von Twesten mehrfach angemahnten Veröffentlichung der Dialektik kam, die es erlaubt hätte, ihr Verhältnis zur Hegeischen „Logik" zum Thema einer öffentlichen Auseinandersetzung zu machen, so kam es doch immer wieder zu Gerüchten darüber, daß Schleier mach er und Hegel über ihre verschiedenen DialektikKonzeptionen miteinander in Streit geraten seien. So wurde der Zusammenstoß beider über die Entlassung de Wettes im Zuge der 1819 einsetzenden Demagogenverfolgungen165 in den darüber kursierenden Gerüchten auch mit sachlichen Differenzen in Bezug auf die Dialektik in Verbindung gebracht. Am 28.11.1819 berichtet Gaß an Schleiermacher aus Heidelberg: „An de Wette denken wir auch hier, und ich glaube, daß ihm in den nächsten Wochen ein freundlicher Beweis davon zukommen soll. Hast Du Dich denn seinetwegen oder über die Dialektik mit Hegel überworfen? Es ist darüber wieder ein wunderliches Gerede hierher gekommen, woraus ich noch nicht klug werden kann."16é Tatsächlich hat sich Hegel dann in den bereits 1820 erschienenen „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (der Druck trägt die Jahreszahl 1821) in der Anmerkung zum Paragraphen 31 eine Polemik eingeflochten, welche durchaus auf Schleiermacher gemünzt sein könnte: „Das bewegende Princip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemeinen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend, heiße ich die Dialektik, - Dialektik also nicht in dem Sinne, daß sie einen dem Gefühl, dem unmittelbaren Bewußtseyn überhaupt gegebenen Gegenstand, Satz u.s.f. auflößt, verwirrt, herüber und hinüber führt und es nur mit Herleiten seines Gegentheils zu thun hat, — eine negative Weise, wie sie häufig auch bey Plato erscheint. Sie kann so das Gegen163 164 165 166

Ebd., S. XXXVIII f. Ebd., S. XXXIX Vgl. Hegel: Briefe, Bd. 2, S. 221 und S. 448-450 Schleiermacher: Briefwechsel mit Gaß, S. 180

Einleitung

LU

des

Bandherausgebers

theil einer Vorstellung, oder entschieden wie der alte Skepticismus den Widerspruch derselben, oder auch matterweise eine Annäherung zur Wahrheit, eine moderne Halbheit, als ihr letztes Resultat ansehen,"167 Die Verbindung des Piatonismus mit den Stichworten „Gefühl" und „unmittelbares Bewußtsein", zudem der Hinweis auf die „moderne Halbheit" einer „Annäherung zur Wahrheit" (womit das Selbstverständnis der Schleiermacherschen Dialektik als Theorie des werdenden Wissens angesprochen sein könnte), machen die Anspielung auf Schleiermacher wahrscheinlich.168 Schleiermacher seinerseits wurde bereits am 30.12.1820 von de Wette auf die soeben erschienene Rechtsphilosophie aufmerksam gemacht, wobei jedoch nicht auf den zitierten Paragraphen verwiesen wurde: „Von Hegel liest und hört man schreckliche Dinge. Lies doch die Vorrede zu seiner Staatslehre, worin er gegen mich und Fries spricht",169 Ob und ggf. wann Schleiermacher Hegels Buch zur Kenntnis genommen hat, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. In einem Brief an den Theologen Friedrich Lücke von Anfang 1821 heißt es: „Hegel'n denke ich gar nicht in die Parade zu fahren; ich habe keine Zeit dazu. Auch ist es mehr eine Herabsezung der Religion überhaupt, die ihm eine niedere Stufe bezeichnet als des Christenthums [...]. In philosophische Polemik kann ich mich gar nicht einlassen, weil ich sie als einen Unsinn ansehe."170 Diese Stelle könnte mit Hegels Polemik in der Rechtsphilosophie in Verbindung gebracht werden; der vorangehende Brief Lückes, auf den Schleier mach er antwortet, ist jedoch nicht überliefert, so daß hierüber keine letzte Klarheit zu gewinnen ist.

4. Ausgaben der

Dialektik

Kurz vor seinem Tod hatte Schleiermacher Ludwig Jonas seinen wissenschaftlichen Nachlaß anvertraut und ihm ausdrücklich die Herausgabe der Dialektik aufgetragen17λ ; Jonas erfüllte das Vermächtnis mit 167 168

169 170 171

Hegel: Grundlinien, S. 36 f. Auch in seinen Auszügen und Bemerkungen zum 2. Band der Glaubenslehre (1822) attestiert Hegel Schleiermacher ein falsches Verständnis von Dialektik: „Mit den trokkensten, hohlsten, unfruchtbarsten Verstandesdistinktionen läßt sich der Verfasser ein - und ergeht sich in einer ebenso leeren Verstandesdialektik in denselben." (Hegel: Berliner Schriften, S. 688) Briefe 4, S. 266 f. Briefe 4, S. 272 Am 11. Februar 1834 habe, so heißt es in Jonas' Aufzeichnungen, Schleiermacher zu ihm gesagt: „Ich übergebe Dir meine Papiere. Laß Dir angelegen sein daraus vor allem, so gut es sich wird machen lassen, die Dialektik, die christliche Sittenlehre und

Historische

Einführung

LIII

seiner Ausgabe, die 1839 im Rahmen der „Sämmtlichen Werke" als 2. Teilband des 4. Bandes der 3. Abteilung (zur Philosophie) bzw. als „Zweiten Bandes zweite Abtheilung" des literarischen Nachlasses zur Philosophie erschien,172 Der erste Teilband bzw. die „erste Abtheilung" ist die von Heinrich Ritter herausgegebene „Geschichte der Philosophie". Über das Motiv der Verkoppelung beider Bände gibt Jonas in seiner knapp gehaltenen Vorrede einen Hinweis, wenn er schreibt, er habe nichts zur Findung des Urteils zurückgehalten, „was darüber gefällt werden muß, mit welchem Rechte Schleiermacher [...] für einen Spinozisten gehalten wird", und dazu anmerkt: „Die Acten werden spruchreif sein, wenn auch des Verfassers Geschichte der Philosophie vorliegen wird, deren Druck sofort beginnt".173 Tatsächlich wurde der Druck der offenbar schon 1835 abgeschlossenen Ausgabe Ritters174 erst begonnen, als Jonas die Dialektik fertiggestellt hatte; sie erschien ebenfalls 1839 bei Reimer in Berlin und enthielt - im Anschluß an die Darstellung Spinozas in den Vorlesungen - noch eine Edition von Schleiermachers Jugendmanuskript „Kurze Darstellung des spinozistischen Systems".175 Jonas hat eine größtmögliche Vollständigkeit in der Dokumentation der Schleiermacherschen Manuskripte ausdrücklich deshalb angestrebt, um „auch nicht den leisesten Schein aufkommen zu lassen, als hätte ich, geflissentlich oder aus Unkunde, irgend etwas von dem zurückgehalten oder auch nur verdunkelt", was in Bezug auf den Spinozismus-Vorwurf von Interesse sei.176 Tatsächlich hat Jonas — von einzelnen Zetteln zur Vorlesung 1831 abgesehen177 - lediglich das Notizheft zur Dialektik (SN 103), das er gar nicht erwähnt, und den größten Teil der Vorarbeiten zur Reinschrift der „Einleitung" nicht ediert. Neben dem ideenpolitischen Ziel, den Spekulationen über einen Spinozismus der Schleiermacherschen Philosophie ein Ende zu setzen, verfolgte Jonas zugleich die Absicht, die Dialektik durch Auszüge aus

meine Ansichten über die Apostelgeschichte des Lukas zusammenzustellen und in Druck zu geben". (Zur Erinnerung an Ludwig Jonas, S. 56) 172 Der Band weist zwei Titel auf; auf dem linken Titelblatt heißt es: „Friedrich Schleiermacher's Sämmtliche Werke. Dritte Abtheilung. Zur Philosophie. Vierten Bandes zweiter Theil." Auf dem rechten Titelblatt steht dagegen: „Friedrich Schleiermacher's literarischer Nachlaß. Zur Philosophie. Zweiten Bandes zweite Abtheilung." 173 SW 3,4,2, S. IX 174 Ritters Vorwort zu Schleiermachers „Geschichte der Philosophie" (SW 3,4,1, S. 12) ist datiert „Kiel den 28. Sept. 1835". i7* Ebd., S. 283-311; vgl. KGA Hl, S. 561-582 176 SW 3,4,2, S. IX 177 Vgl. unten S. 324, 18-27 und S. 354, 17-27

LIV

Einleitung des

Bandherausgebers

Kollegheften auch „für Weisheit suchende Jünglinge"178 zugänglich zu machen. Jonas bietet, von Kleinigkeiten und der Behandlung der Randbemerkungen179 abgesehen, einen zuverlässigen Text; auf die von ihm vorgenommenen, weitgehenden Eingriffe in die Interpunktion hat er ausdrücklich hingewiesen und die Leser aufgefordert, sie ggf in Frage zu stellen.180 Die von Jonas in seine Ausgabe nicht aufgenommenen Manuskripte hat Bruno Weiß 1878 im Anhang zu seinen in Fortsetzungen in der „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik" abgedruckten „Untersuchungen über Friedrich Schleiermacher's Dialektik" ediert und schon im Titel dieser Edition deutlich gemacht, daß es ihm lediglich um eine Ergänzung der als maßgeblich zugrundegelegten Ausgabe im Rahmen der „Sämmtlichen Werke" ging: „Beilage G und H der Dialektik von Friedrich Schleiermacher. Zur Ergänzung der Jonas'sehen Ausgabe aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse herausgegeben von Bruno Weiß".m Zwar ist diese Edition in den Lesungen und den Datierungen nicht immer ganz zuverlässig, aber es kann dennoch festgestellt werden, daß Schleier mach ers eigenhändige Manuskripte zur Dialektik seit 1878 vollständig gedruckt vorlagen. Den Antrieb zu Neuausgaben bildete auch nicht eine philologische Kritik der Editionen von Jonas und Weiß, sondern die Forderung nach einer weniger schwer zu benutzenden, „lesbaren" Ausgabe. Einen Versuch in dieser Richtung unternahm der Dilthey-Schüler Isidor Halpern, der 1901 mit einer Arbeit über den „Entwicklungsgang der Schleiermacherschen Dialektik"182 hervorgetreten war, in der er die Fassung von 1831 als den reifsten Entwurf herausgestellt hatte, während Jonas den seiner Meinung nach „schwächsten" Entwurf von 1814 ins Zentrum gestellt habe. In seiner — von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften unterstützten - Ausgabe stellt Halpern daher die Aufzeichnungen zum Kolleg 1831 in den Mittelpunkt und ergänzt diese, da sie nicht vollständig sind, „kompilatorisch" aus anderen Entwürfen. Sein Verfahren, das einen bei Schleiermacher selbst so nie vorhandenen Text herstellte, beschreibt er so: „Nicht dem kritischhistorischen Zweck wollte ich dienen, sondern dem sachlichen: ohne

SW 3,4,2, S. IX Vgl. dazu unten S. LXIV den editorischen Bericht. 180 SW 3,4,2, S. XI 181 Weiß: Untersuchungen, Beilage, S. 1 182 I. Halpern: Der Entwicklungsgang der Schleiermacherschen Dialektik. - Halpern hatte für diese Arbeit von Dilthey die Schleiermacherschen Manuskripte zur Dialektik erhalten, diese jedoch weder für die Interpretation noch für die Edition in irgendeiner Weise fruchtbar gemacht. 178 179

Historische

Einführung

LV

jegliche heterogene Tendenzen wollte ich eine vollständige, geschlossene Gestalt der Dialektik in ihrer reifsten Ausbildung herstellen. Halperns Ausgabe ist ein Kompromiß zwischen einer Edition und einer systematisch glättenden Interpretation, wie sie ihm „von kompetentester Seite" (d. h. wohl: von Seiten Diltheys) empfohlen worden war, nämlich „eine freie Reproduktion der Dialektik vorzunehmen und als Text zu geben, welchem Stellen aus den Entwürfen als Belege anzuhängen wären. "184 Halperns Ausgabe hat, im Rahmen der 1910—1913 erschienenen vierbändigen Werkausgabe Schleiermachers, die Otto Braun und Johannes Bauer herausgaben, einen erheblich gekürzten Wiederabdruck erfahren, den wohl Otto Braun besorgte; im „Vorbericht" zum 1910 erschienenen dritten Band wird darauf verwiesen, daß Halpern die grundlegende Auswahl getroffen und auch sonst mit Rat geholfen habe. Zur Rechtfertigung der kompilatorischen Textgestaltung wird auf das Vorwort Halperns zu dessen Ausgabe hingewiesen.185 Diese Ausgabe hat 1911, 1927, 1967 und 1981 weitere Auflagen bzw. Nachdrucke erfahren.186 Eine weitere Neuausgabe der Dialektik hat 1942 Rudolf Odebrecht - im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorgelegt. Auch Odebrecht geht es nicht um eine historisch-kritische Ausgabe, sondern er sieht sich als „Vermittler und Neugestalter eines philosophisch bedeutsamen Sprachgeschehens"187, denn für Schleiermacher sei „das Gespräch das eigentliche Geschehen der Sprache", weshalb er 1822 zu der Auffassung gekommen sei, daß „die Dialektik nur in wagemutigem Zupacken des Dialog-Problems gedeihen könne.."188 Dieses „Oszillationszentrum" der Dialektik werde erst mit dem Entwurf von 1822 „souverän"189, der daher zusammen mit der späten Fassung der „Einleitung" in den Mittelpunkt zu stellen sei. Die Aufgabe der „Vermittlung eines Sprachgeschehens" bedeute aber auch, daß dessen „Verlebendigung" durch eine Rekonstruktion des Vorlesungsgeschehens zu erfolgen habe. Odebrechts Ausgabe will daher „als dokumentarischer Bericht der dialektischen Leistung Schleiermachers gelten, wie sie zur Zeit seines fruchtbarsten Schaffens als lebendiges Geschehen hervorgetreten ist. "190 Hierfür hat Odebrecht die zur VerfüSchleiermacher: Dialektik, hg. v. I. Halpern, S. XXXIU Ebd. 185 Werke, Bd.3, S. IX f.; die Auswahl aus der Dialektik findet sich dort S. 1-117. 186 Vgl. Meding: Bibliographie, S. 144, 1910/13 187 Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. XXII >88 Ebd., S. XXI 189 Ebd. 190 Ebd., S. XXVI 183 m

LVI

Einleitung des

Bandherausgebers

gung stehenden Nachschriften der Vorlesung 1822 zu einem Ganzen verschmolzen und daraus den Haupttext der Dialektik konstituiert, dem die späte Fassung der „Einleitung" vorangestellt und Schleiermachers eigenhändige Vorlesungsnotizen von 1822 als Fußnoten beigegeben wurden. Wenn auch das kompilatorische Verfahren hinsichtlich der Nachschriften zweifelhaft istm, so bietet Odebrecht doch einen zuverlässigen Text der späten „Einleitung" mit ihren Vorstufen sowie der Zettel Schleiermachers zur Vorlesung 1822 und korrigiert dabei die Editionen von Jonas und Weiß in einzelnen Punkten. Im Blick auf Odebrechts Privilegierung des Entwurfs von 1822, die auf bestimmten interpretatorischen Annahmen beruht, ist darauf hinzuweisen, daß Odebrecht noch einen Ergänzungsband plante, in dessen Mittelpunkt die Vorlesung von 1818/19 stehen sollte.192 Odebrechts Ausgabe ist mehrfach als Reprint neu aufgelegt wordenm und hat auch dadurch die Rezeption der Schleiermacherschen Dialektik nachhaltig beeinflussen können. Ein Abdruck nur der Schleiermacherschen Notizen zur Vorlesung 1822 auf Basis der Odebrechtschen Ausgabe erfolgte 1996 im Rahmen einer Auswahlausgabe von Schleiermachers philosophischen Schriften.194 Dagegen hat Jonas' Ausgabe nur einmal einen Teilwiederabdruck erfahren, der die Ausarbeitung von 1814/15 mit den Zusätzen aus den Vorlesungsnachschriften umfaßt.195 Eine zweibändige Studienausgabe der Dialektik, die auf die Handschriften zurückgeht, erschien 1986 und 1988.196 Der erste Band rekonstruiert die Vorlesung 1811, wobei die fehlenden Stunden 1-12 durch die Nachschrift Twesten ergänzt werden, der Anhang bietet eine

191

192 193 194 195 196

Die Kompilation der Nachschriften geschieht auf eine Weise, welche das tatsächliche Verhältnis der einzelnen Versatzstücke zueinander und damit ihren Quellenwert nicht mehr erkennen läßt. Auch der Apparat ist in dieser Hinsicht unvollständig und ungenau. Einige scheinbar besonders prägnante Formulierungen stammen offenkundig aus nachträglichen Zusammenfassungen und Ausarbeitungen und nicht aus Mitschriften, die das dort Resümierte ausführlicher entwickeln, werden aber mit letzteren verschmolzen. Schleiermachers Rede und die Deutungen der Hörer fließen somit bisweilen ununterscheidbar ineinander. Noch schwerer wiegt, daß Odebrecht in seinem Bestreben, den „Geist der Rede" Schleiermachers hinter den Nachschriften aufzuspüren (vgl. ebd., S. 487), sich zu zahlreichen, von ihm nicht nachgewiesenen Eingriffen in den überlieferten Textbestand berechtigt gesehen hat. Ebd., S. XXIX Darmstadt 1976 und 1988; zuletzt als Bd. 2 im Rahmen der Ausgabe: Schleiermacher: Dialektik, hg. v. M. Frank Schleiermacher: Schriften, hg. v. A. Arndt, S. 495-560 Schleiermacher: Dialektik, hg. v. M. Frank, Bd. 1 Schleiermacher: Dialektik (1811), hg. v. A. Arndt, Hamburg 1986; Dialektik (1814/ 15). Einleitung zur Dialektik (1833), hg. v. A. Arndt, Hamburg 1988

Editorischer

Bericht

LVII

Neuedition des zuerst von Weiß veröffentlichten Notizheftes zur Dialektik, das hier auch erstmals vollständig datiert wird. Der zweite Band umfaßt die Ausarbeitung zur Vorlesung 1814/15 (ohne die Randbemerkungen) sowie die Reinschrift der „Einleitung" zur Dialektik von 1833. Auf der Basis des ersten Bandes der Studienausgabe - aber ohne das Notizheft - erschien 1996 die erste Obersetzung der Dialektik ins Englische.197 Eine Übersetzung der Dialektik ins Französische wurde 1997 vorgelegt; sie umfaßt im Hauptteil einen parallelen, synoptischen Abdruck der Ausarbeitung von 1814/15 und der Aufzeichnungen zum Kolleg 1822; beigefügt sind Übersetzungen der Reinschrift der „Einleitung" (1833) und des 1811 angelegten Notizheftes zur Dialektik.m

II. Editorischer

Bericht

Erster Teil Manuskripte Schleiermachers In Schleier mach ers Manuskripten überschneiden sich zum Teil die verschiedenen Vorlesungen bzw. Entwicklungsstufen, so daß die Edition nicht einfach die verschiedenen Manuskripte nacheinander zum Abdruck bringen kann, sondern zu Eingriffen und Umstellungen gezwungen ist, durch welche die verschiedenen Schichten voneinander abgehoben werden. Zur besseren Übersicht folgt daher zunächst eine Aufstellung der überlieferten Manuskripte, die sämtlich im Schleiermach er-Nachlaß (Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) aufbewahrt werden. Im Anschluß daran werden Schleiermachers Aufzeichnungen in der Folge beschrieben und erörtert, wie sie im Textteil ediert werden. 1) Ein Heft, 15 Bl. 4° (SN 103). Auf dem Umschlag von Schleiermacher betitelt: „Zur Dialektik / 1814." Es enthält auf 23 beschriebenen Seiten insgesamt 171 (von Schleiermacher nicht numerierte) Notizen zur Dialektik. Viele sind dünn durchgestrichen, wie es Schleiermacher als Erledigungsvermerk zu tun pflegte. Die ersten zehn Nummern beziehen sich durch die Überschrift und den Verweis auf den 197

198

Schleiermacher: Dialectic or, The Art of Doing Philosophy, Translated, with Introduction and Notes by Terrence N. Tice Schleiermacher: Dialectique. Présentation, traduction de l'allemand et notes par Christian Berner et Denis Thouard

LVIII

Einleitung

des

Bandherausgebers

Paragraphen des unter 3) beschriebenen Heftes auf die Vorlesung 1814/ 15. Mindestens die folgenden beiden Nummern gehören aufgrund einer Zwischenüberschrift zur Vorlesung 1818/19. Die Zugehörigkeit der folgenden Aphorismen ist nicht auf entsprechende Weise gesichert; inhaltliche Gründe, die durch archivalische Beobachtungen gestützt werden, machen eine Datierung auf 1811 wahrscheinlich,199 2)36 Zettel verschiedenen Formats mit Notizen zur 12.-49. Vorlesungsstunde 1811 (SN 101) 200 3) Ein Heft, bestehend aus 140 S. 4° (SN 102). Auf dem Umschlag von Schleiermacher betitelt: „Dialektik 1814". Das Heft ist in 229 Leitsätze der Einleitung und des ersten (transzendentalen), sowie in 116 Leitsätze des zweiten (technischen) Teils gegliedert, wobei im zweiten Teil irrtümlich zwei verschiedene Leitsätze mit der Nr. 102 bezeichnet wurden. Auf diese Leitsätze bezieht sich Schleiermacher in Querverweisen und den Notizen aus anderen Jahren der DialektikVorlesungen als Paragraphen. Am Rande des Heftes finden sich zahlreiche Bemerkungen, deren Datierung größtenteils unsicher bleibt. Einige entstanden wahrscheinlich im Zusammenhang mit den Vorlesungen 1818/19, 1822, 1828 und 1831; von Schleiermacher selbst datiert ist eine Notiz zur Vorlesung 1828; darüber hinaus finden sich Aufzeichnungen zu den Vorlesungen 68—74 und 76 des Kollegs 1828.2m 4) 14 Zettel verschiedenen Formats zur Vorlesung von 1818/19 (SN 104).202 5) Ein Heft, 36 Bl. 4° (SN 105). Es enthält eine Niederschrift der (römisch numerierten) 1. bis 59. Vorlesungsstunde 1822, die fortlaufend auf die Paragraphen des unter 3) beschriebenen Heftes der Vorlesung 1814/15 Bezug nimmt.203 Randbemerkungen zu den Aufzeichnungen der Vorlesung 1822, ebenfalls numeriert von der 1. bis zur 59. Stunde, gehören zu der Vorlesung 1828.204 - Nach dem Eintrag „Soweit war ich 1831 gekommen in 61 Stunden", der auf die 59. Stunde 1822 bzw. 1828 folgt, schließen sich die Paragraphen 62 bis 82 der Vorlesung 1831 an.105 6) 31 Zettel verschiedenen Formats mit Aufzeichnungen zur 7. bis 61. Stunde der Vorlesung 1831 (SN 108).·206

199 Weiß: Untersuchungen, Anhang, S. 118, Beilage G mo SW 3, 4, 2, S. 315-361, Beilage A m Ebd., S. 1-312 202 Ebd., S. 362-369, Beilage Β m Ebd., S. 370-441, Beilage C 204 Ebd., S. 41-479, Beilage D 205 Ebd., S. 542-567, Schluß der Beilage E 206 Ebd., S. 82-542, Anfang der Beilage E

Editorischer

Bericht

LIX

7) Ein Zettel zur Dialektik 1831 unter den Aufzeichnungen zur Christlichen Sittenlehre (SN 75, Bl.10). 8) 6 Bl. 4° mit Vorarbeiten zu der Einleitung zur Dialektik (SN 207 107). 9) 10 Bl. 4° mit einem zusammenhängenden Entwurf der „Einleitung" (SN 106/1).208 10) 8 Bl. 4° Reinschrift der „Einleitung" (SN 106/2J.209

1. Notizen zur Dialektik

(1811)

Das Heft (SN 103) umfaßt 7 halbe Bogen, d.h. 14 Bl. 4°; es trägt auf dem Umschlag den Titel „Zur Dialektik 1814." Das Heft ist, beginnend mit dem Umschlag, archivalisch von 1—26 paginiert; vier der leeren Seiten sind nicht paginiert; die Seiten 23 und 24 wurden durch ein Versehen nicht gezählt. Es enthält, durch Striche voneinander abgesetzt, 171 (im Manuskript nicht gezählte) Eintragungen. Uber den letzten beiden Eintragungen auf Bl. 4V (Nr. 11 und 12) findet sich die Zwischenüberschrift „Zur Dialektik 1818." Das Heft weist zahlreiche Bearbeitungsvermerke von Schleiermachers Hand auf, nämlich dünne Durchstreichungen einzelner Notate, wie es Schleier mach er als Erledigungsvermerk zu tun pflegte, sowie Anstreichungen bzw. Klammern am Rand. Solche Vermerke werden in der vorliegenden Ausgabe jeweils im textkritischen Apparat nachgewiesen. Das Heft wurde erstmals von Bruno Weiß als „Beilage G" der Dialektik veröffentlicht.210 Weiß las auf dem Umschlag versehentlich „1811" statt „1814" und zählte 172 Aphorismen, da er irrtümlich Nr. 41 als zwei getrennte Eintragungen ansah. Weiß nahm an, daß die Nummern 1—10 zur Vorlesung 1814/15 gehörten und die Nummern 96 bis zum Schluß zur Vorlesung 1811; das mittlere Stück (11—96) beginne, wie die Zwischenüberschrift deutlich mache, mit Notizen zur Vorlesung 1818/19, jedoch lasse sich nicht bestimmen, wie weit diese

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210

Weiß: Untersuchungen, Anhang, S. 18-43 als Beilagen Ha, Hb, Hc, He, Hf; vgl. Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 470-484 sowie SW 3,4,2, S. 609 f. Nach Weiß und Odebrecht sind Ha, Hb und Hc als Vorarbeiten zu dem ersten zusammenhängenden Entwurf der Einleitung, He und Hf dagegen als Vorarbeiten für die Reinschrift anzusehen. Teilweise gedruckt bei Weiß: Untersuchungen, Anhang, S. 22-40 als Beilage Hd; vgl. SW 3,4,2, S. 604-609 sowie Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 37-44 und 471-480 SW 3,4,2, S. 568-604, Beilage F; vgl. Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 5-37 Weiß: Untersuchungen, Anhang

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Einleitung

des

Bandherausgebers

reichen und in dem Mittelteil noch spätere oder auch frühere Eintragungen zu finden seien.211 Eine genauere Datierung hat Georg Wehrung versucht, die freilich in jeder Hinsicht unzulänglich ist, da er sich nicht nur einen Vergleich mit dem Manuskript ersparte, sondern auch die Ausführungen von Weiß dahingehend mißverstand, daß die Aufzeichnungen zur Vorlesung 1818/19 bis Nr. 40 reichen und die Nummern 96 f f . die Vorlesung 1811 schon voraussetzen.2U Aufgrund inhaltlicher Erwägungen kommt Wehrung zu dem Schluß, die Nummern 41—82 bereiteten die Vorlesung 1811 vor, während die Nummern 83—86 und 96 bis zum Schluß die Notizen zur Vorlesung 1811 bereits voraussetzten; 1-10 gehörten zur Vorlesung 1814/15 und 11-40 zur Vorlesung 1818/19. Die Nummern 87—95 sollen „vermutlich" zwischen 1818 und 1828 entstanden sein. Odebrecht weist die Ansicht Wehrungs zurück, indem er darauf hinweist, daß mit Nr. 41 kein neuer Bogen beginne und ein Sprung von 1818/19 nach 1811 an dieser Stelle daher jeder Plausibilität entbehre; im übrigen läßt er die Datierung offen.in Tatsächlich läßt sich eine genauere Datierung nur durch die Verbindung inhaltlicher Kriterien mit archivalischen Beobachtungen erreichen. Vorausgeschickt sei eine Beschreibung des Heftes, das sich heute im Schleiermacher-Nachlaß befindet. Jeder der sieben halben Bogen ist in der Mitte gefalzt und umfaßt somit 2 Bl. Bogen 1—4 liegen ineinander; Bogen 5 ist nach Bogen 4 in das so gebildete Heft eingelegt, so daß die Nr. 78 auf Bogen 3 an die Nr. 77 auf Bogen 5 anschließt; Bogen 6 und 7 folgen, sie sind nicht ineinandergelegt. Auffällig ist, daß Bogen 6 im Unterschied zu allen anderen ursprünglich anders gefalzt war und umgefalzt wurde. Dazu paßt, daß Weiß die Bogen nach seiner Zählung der Aphorismen in einer anderen Reihenfolge vorgefunden hatte; demnach wären Bogen 6 und 7 zu vertauschen und Bogen 6 wiederum umzufalzen, so daß die nur halb beschriebene Seite mit den Aphorismen 168-171 am Schluß steht. Bogen 1 und 2 stimmen in Wasserzeichen und Beschaffenheit des Papiers überein und bildeten nach den Schnittkanten ursprünglich ein Ganzes. Bogen 1 dient lediglich als Umschlag; vom Bogen 2 ist nur das erste Blatt beschrieben (Nr. 1—12). Die übrigen Bogen unterscheiden sich davon durch anderes Papier mit anderen Wasserzeichen; auch wechselt die Handschrift zwischen Bogen 2 und Bogen 3 auffällig. Die Bogen 3-5 sind durch die Beschaffenheit des Papiers, die Wasserzeichen und die Schnittkanten als ursprünglich zusammengehörig 2» Ebd., 1. Teil, S. 27-31 212 Wehrung: Dialektik, S. 8-11 213 Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht,

S. XXVIII

Editorischer

Bericht

LXI

erkennbar, ebenso Bogen 6 und 7, wobei letztere sich durch helleres Papier wieder von allen anderen unterscheiden. Die auf dem 1. und 2. Bogen befindlichen Aufzeichnungen (Nr. 1 — 12) sind durch Schleiermachers Überschriften und den Bezug auf die Paragraphen des Heftes von 1814 eindeutig auf 1814 bzw. 1818 zu datieren. Davon abzuheben sind die Bogen 3 und 4, die durch die überlaufende Nr. 27 auch inhaltlich als zusammengehörig erkennbar sind. Die Auseinandersetzung mit Steffens in Nr. 27 deutet dabei ebenso auf die Vorlesung 181Í214 wie das Konzept der ersten Stunde (41), das auf die Ankündigung der Vorlesung 1811 Bezug nimmt, indem auf die nur in dieser Ankündigung vorkommende „doppelte Benennung" eingegangen wird. Hinzu kommt die Beobachtung, daß die meisten der Notizen 13-53 den Charakter einer ersten Annäherung an die Probleme der Dialektik erkennen lassen; die Theorie des Syllogismus in Nr. 38 z.B. findet in keiner der Vorlesungen eine Entsprechung. All dies spricht dafür, die Nummern 13-53 der Vorlesung 1811 zuzuordnen. Nicht anders sind die auf Bogen 3 (nach dem eingelegten Bogen 5) befindlichen Nummern 78—95 zu datieren; Nr. 87 bringt eine Definition des Philosophierens, die sich so in keiner anderen Dialektik-Vorlesung findet, aber in der 2. Stunde der Vorlesung 1811 fast wörtlich wiederkehrt; Nr. 89 nimmt wiederum auf die nur 1811 vorkommenden „zwei Benennungen" der Dialektik in der Vorlesungsankündigung Bezug.215 Daß die folgenden Nr. 90-95 einer späteren Vorlesung zugehören, ist schon aufgrund des Schriftbildes auszuschließen.2U Die folgenden Nummern 96-171 fügen sich inhaltlich dem Duktus der Vorlesung 1811 ein, worauf bereits Weiß und Wehrung ihre Datierung gestützt haben. Faßt man die archivalischen und inhaltlichen Beobachtungen zusammen, so ergibt sich der Schluß, daß die Nummern 13—171 zur Vorlesung 1811 gehören und die beiden Bogen mit den Notizen zu den

214

215

216

Vgl. oben S. XLVIIf den Hinweis von Twesten in seiner Ausgabe der Ethik Schleiermachers. Schleiermachers Notizen „Erste Vorlesung" müssen nicht notwendig auf die 1. Stunde bezogen werden; sie können auch als Hinweis auf die Planung des Beginns der Vorlesung verstanden werden. Weiß: Untersuchungen, S. 31 meint, Nr. 94 der Vorlesung 1828 zuordnen zu müssen; er geht dabei von der möglichen, aber nicht zwingenden Interpretation aus, die Notiz besage, Raum = real, Zeit = ideal, was der Beilage D entspreche (vgl. unten S. 295, 23-27). Die Notiz kann aber auch so verstanden werden, dass mit dem Gegensatz im Sein, der mit der Spaltung in das Ideale und Reale gegeben ist, zugleich auch Raum und Zeit gesetzt seien; dieser Gedanke findet sich in der Vorlesung 1811 : „Sobald uns ein getbeiltes Seyn gegeben ist, ist damit zu gleicher Zeit Raum und Zeit gesetzt" (KGA III 10,2, S. 50, 25 f).

LXII

Einleitung

des

Bandherausgebers

Vorlesungen 1814 und 1818 lediglich als Umschlag zur Aufbewahrung der früheren Notizen dienten. Dieser Schluß wird durch zahlreiche inhaltliche Entsprechungen zwischen den Notizen und der Vorlesung 1811 gestützt, die in der vorliegenden Ausgabe im Sachapparat nachgewiesen werden. Aufgrund dieser Datierung wird das unter SN 103 archivierte Heft hier nicht zusammenhängend ediert, sondern den jeweiligen Vorlesungen (1811, 1814/15 und 1818/19) zugeordnet.

2. Aufzeichnungen

zum Kolleg 1811

36 Zettel verschiedenen Formats (SN 101) mit Aufzeichnungen Schleiermachers zur 12.-49. Stunde des Kollegs 1811. Schleier mach er hat die einzelnen Vorlesungen jeweils mit der Stundenzahl bezeichnet und einige auch datiert. Die Aufzeichnungen, bei denen offen bleiben muß, ob sie vor oder nach der Vorlesung niedergeschrieben wurden, sind größtenteils auf die Rückseiten von zerschnittenen Hörerlisten217, Briefen, Billets und Testaten218 geschrieben. Solche Zettel pflegte Schleiermacher sowohl zur Disposition seiner Vorlesungen als auch seiner Predigten zu verwenden. Die Zuordnung der vorliegenden Zettel zur Vorlesung 1811 läßt sich eindeutig vornehmen. Einige der Brieffragmente tragen Datierungen von 1811; der Zettel vom 5.8. ist auf die Rückseite eines Testats vom 5. 8. geschrieben119, und schließlich hat Schleier mach er die 43. Stunde selbst auf den 12.8.11. datiert. Inhalt und Stundenfolge stimmen mit der Nachschrift Twesten überein. Jede Vorlesungsstunde ist in der Regel auf nur einer Seite eines gesonderten Zettels aufgezeichnet; lediglich der 36. Zettel enthält auf der Vorderund Rückseite Notizen zur 47. bis 49. Stunde. Die Zettel sind mit einer sehr kleinen, schwer zu entziffernden Schrift mit zahlreichen Kontraktionen und Kürzeln beschrieben. Die Zettel sind von 1 bis 36 archivarisch foliiert.

217

Die Blätter 1 und 2 stehen auf der Rückseite einer zerschnittenen Hörerliste zu den Vorlesungen des Wintersemesters 1810/11 (Theologische Enzyklopädie, Hermeneutik und Schriften des Lukas); auf Bl. 2" ist u.a. Twesten als zahlender Hörer (3 Rth. Courant) der Theologischen Enzyklopädie verzeichnet.

218

Diese Testate stammen von Marheineke und de Wette. SN 102, Bl. 29": „Herr Johann Christian Wilhelm Zeh[like] hat meinen Vorlesungen über den ersten Theil der Kirchengeschichte mit Fleiss, Ordnung und Aufmerksamkeit beigewohnt. Berlin, den 5. Aug. 1811 D. Marheineke."

219

Editorischer

LXIII

Bericht

3. Ausarbeitung zur Dialektik (1814/15 mit späteren

Zusätzen)

Die kompendienartige Darstellung (SN 102) umfaßt 140 Seiten 4°, die — beginnend mit dem Titelblatt — von 1 bis 139 archivalisch paginiert sind; die letzte Seite ist nicht paginiert. Es bandelt sich um ein Konvolut, das aus mehreren Lagen besteht; 7 Lagen von jeweils 4 ineinander gelegten Doppelblättern (=16 Seiten) umfassen die S. 1 bis 112; es folgen zwei Einzelblätter (S. 113/14 und 115/16) sowie eine Lage von 2 ineinander gelegten Doppelblättern (S.117—124). Dem schließen sich wiederum zwei Einzelblätter (S. 125/26 und 127/28) an, die nach der Beschaffenheit des Papiers und der Schnittkanten möglicherweise ursprünglich mit den vorangehenden Einzelblättern eine Einheit bildeten; die letzte Lage besteht aus drei ineinander gelegten Doppelblättern (S. 129-140). Die Blätter, bei denen durch Abknicken ein fast die Hälfte der Seite umfassender Außenrand markiert worden ist, sind, sind beidseitig beschrieben; S.2 und S. 140 sind leer. Schleiermacher hat seine Aufzeichnungen in 229 Paragraphen der Einleitung und des ersten, transzendentalen Teils, sowie in 116 Paragraphen des zweiten, technischen Teils gegliedert, wobei er im ersten Teil die Paragraphen 31 und 51, im zweiten den Paragraphen 102 irrtümlich doppelt gezählt hat; sie werden in der vorliegenden Ausgabe jeweils durch den Zusatz „a" und „b" unterschieden. Am Rand hat Schleiermacher in römischen Ziffern den Beginn der jeweiligen Vöriesungsstunden von 2-71 bezeichnet ; daß es sich hierbei um die Einteilung der Vorlesung 1814/15 handelt, wird dadurch gesichert, daß sich bei der 37. Stunde zusätzlich der Vermerk findet: „d 2ten Jan. 1815." Die Niederschrift ist überwiegend in der Form eines Kompendiums gehalten, d. h. in Leitsätze — die erwähnten Paragraphen — und ihnen zugehörige Erläuterungen gegliedert. Diese Erläuterungen, für die vorher auch kein Platz vorgesehen ist, setzen mit der 10. Stunde (§86) ein; sie entfallen beginnend mit dem § 82 des technischen Teils, jedoch hat Schleiermacher von hier an bis zum Schluß des Heftes Lücken zwischen den einzelnen Paragraphen gelassen, um ggf. Erläuterungen nachtragen zu können. Ob er schon früher so verfahren ist und die Erläuterungen zum Teil erst später hinzugefügt wurden (vielleicht sogar bei Gelegenheit späterer Vorlesungen), läßt sich nicht mit Gewißheit bestimmen. Das Heft weist eine Reihe von Randbemerkungen Schleiermachers auf; diese sind zum Teil mit Tinte über Bleistiftnotizen geschrieben220,

220

Vgl. unten S. IIS (§176,4.5), S. 160 (§9,4)

S. 116 (§177), S. 119 (§183), S. 128 (§191), S. 156 (§5),

LXIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

was den Scbluß nabelegt, Scbleiermacher habe sich in diesen Fällen zunächst nur Stichworte notiert und diese dann im nachhinein ausgearbeitet. Die Datierung der Randbemerkungen, für deren Edition Ludwig Jonas wohl deshalb in seiner Ausgabe der Dialektik kein einheitliches Konzept zu finden wußte, bereitet große Probleme. Jonas druckte sie teils als Bestandteil des Textes, teils als Anmerkungen und teils gar nicht, wobei er sich zu diesem Verfahren nirgends äußert. In einigen Fällen legt er eine Datierung durch erläuternde Auszüge aus Vorlesungsnachschriften bzw. Verweise auf Parallelstellen in späteren Manuskripten Schleiermachers nahe, ohne sie ausdrücklich zu machen, in anderen Fällen gibt er Datierungen, läßt aber die Datierung zahlreicher Marginalien auch völlig offen. Bruno Weiß hat dieses Verfahren zu Recht kritisiert und sich zunächst anhand des Manuskripts um eine Vervollständigung der Randbemerkungen bemüht, die jedoch selbst 22X unvollständig blieb. Sodann hat er versucht, durch Beobachtungen zum Schriftbild und inhaltliche Kriterien zu Datierungen zu gelangen, wobei er zutreffend darauf hinwies, daß eine Reihe von Randbemerkungen im Manuskript fortlaufend numeriert sind und offenbar Notizen zu Vorlesungsstunden darstellen222; diese Notizen — die Weiß nicht datieren zu können glaubte223 - gehören offenbar zu der Vorlesung 1828 und werden hier im unmittelbaren Zusammenhang mit Schleiermachers anderen Aufzeichnungen zu diesem Kolleg ediert.22* Was die anderen Randbemerkungen betrifft, so hält es Weiß für „schon von vorne herein sehr wahrscheinlich, daß viele Randbemerkungen aus dem Jahre 1818 sind"225, da der veränderte Duktus der Vorlesung gegenüber dem Heft 1814/15 auch in Notizen Schleiermachers einen Niederschlag gefunden haben müsse. Dafür, daß dies auch tatsächlich geschehen sei, führt Weiß an, daß Schleiermacher zu den Paragraphen 199 und 218 Paragraphenzählungen notiert habe, „welche offenbar den Gang der Vorlesung in irgend einem Jahre andeuten. Vergleichen wir dazu, was uns Jonas mittheilt, daß der Gang seit 1818 und in diesem Jahre zuerst in dieser Weise innegehalten worden sey, so erhellt, daß die Zahlen am Rande sich auf die Vorlesungen von 1818 beziehn."226 Einmal abgesehen davon, daß bei beiden Marginalien die Handschrift nicht eindeutig als die Schleiermachers zu bestimmen ist,

Vgl. Weiß: Untersuchungen, S. 18 f. („Mittbeilungen aus der Emendatio"). Zur Vollständigkeit der Emendation vgl. unten die tabellarische Übersicht. 222 SW 3,4,2, S. 250-252.261.265.275.288; vgl. Weiß: Untersuchungen, S. 24 f. 223 Ygi Weiß: Untersuchungen, S. 25

221

224 225 226

Vgl. dazu unten S. LXXII den editorischen Weiß: Untersuchungen, S. 22 Ebd., S. 23; vgl. unten, S. 135 und 147

Bericht.

Editorischer

LXV

Bericht

sondern ebenso Jonas als Urheber in Frage kommt221, könnte Schleiermacher eine Umgruppierung von Paragraphen auch noch bei Gelegenheit einer späteren Vorlesung notiert haben. Gestützt auf die generelle Unterstellung, daß ein Großteil der Marginalien dem Kolleg 1818/19 zuzurechnen sind, sondert Weiß noch besonders diejenigen aus, die „schon der Schrift und Tinte nach nicht aus derselben Zeit wie der Text, oder wenigstens nicht mit diesem aus einem Zuge geschrieben"228 sind, um zu „vermuthen', daß sie „aus dem Jahre 1818 [...] seyen".229 Darüber hinaus identifiziert Weiß einige Randbemerkungen „in benachbarten Paragraphen"; diese „zeichnen sich vor den andern durch Schrift und Tinte so aus, daß sie wohl sicher der Zeit nach zusammengehören"; da eine von ihnen (die zu §1 des technischen Teils) „in das Jahr 1818" zu setzen sei, „so gehören die andern auch in dieses Jahr."230 Hinsichtlich der übrigen Marginalien läßt Weiß die Datierung offen, da es keine Anhaltspunkte gebe. Zu den Paragraphen des technischen Teils, die nach Jonas wahrscheinlich zur Vorlesung 1828 gehören231, bemerkt Weiß, daß Jonas dies „nur aus dem Uebereinstimmen dieser Bemerkungen mit dem Collegienhefte schließen kann, denn äußerlich findet sich kein Anhalt hierfür."131 Die folgende Tabelle gibt eine Ubersicht über die von Jonas und Weiß vorgenommenen Datierungen im Verhältnis zu den gesamten Marginalien, wobei Weiß' Mitteilungen aus der Emendation und seine oben referierten Datierungsversuche ohne Einzelnachweis aufgenommen wurden. 1) S.79 (§ 32) 2) S. 85 (S 62) 3) S. 90 (§ 86) 4) S. 90 (S 87) 5) S. 92 (S 100)

227

228 229

230 231 232

Fehlt bei Jonas Fehlt bei Jonas; Ergänzung „nicht aus späterer Zeit" Fehlt bei Jonas; Ergänzung Fehlt bei Jonas; Ergänzung Fehlt bei Jonas

Weiß: Weiß Weiß

Dies ist vor allem bei der erstgenannten wahrscheinlich, weshalb sie hier auch nicht als Autorfußnote ediert, sondern nur im textkritischen Apparat erwähnt wird. Weiß: Untersuchungen, S. 23 Ebd. - Es handelt sich um die Marginalien zu den §§144.172.173.174.176,4.177. 183.187.188.191.198.216 des transzendentalen und zu den §§ 1.12.40 des technischen Teils. Weiß erwähnt noch eine hierzu gehörige Randbemerkung zu §101 des transzendentalen Teils, die jedoch mit Einfügungszeichen in den Text selbst integriert ist (Vgl. unten S. 93, 4 f.). Ebd., S. 23 f. — Es handelt sich um die Marginalien zu den §§1.2.3.4 (1. Marginalie) Es handelt sich um die §§46.48.49.50 Weiß: Untersuchungen, S. 24

LXVI

Einleitung

6) S. 103 (§ 144) 7) S. 105 (§ 153) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19) 20) 21)

S. 107 (S 157) S. 107 (§ 160) S. 112 (§ 172) S. 113 (§173) S. 113 (§ 174 b., Leitsatz) S. 115 (§ 176,4) S. 115 (S 176, 5) S. 116 (§177) S. 119 (S 183) S. 124 (§ 187) S. 126 f j 188) S. 128 (5 191) S. 130 (§ 194) S. 130 fi 194,1)

des

Bandherausgebers

Jonas133 und Weiß: 1818 Weiß: 1814/15 („Der Schrift nach mit dem Texte aus einem Zuge geschrieben"13*) 135 Jonas: 1818 Jonas136 Jonas137

und Weiß: und Weiß:

1818 1818

Jonas238 Jonas139

und Weiß: und Weiß:

1818 1818

Jonas240 und Weiß: 1818 Jonas: wahrscheinlich 181824ï; Weiß: 1818 141 Jonas: 1822 bzw. 1828 ; Weiß: 1818 Jonas143 und Weiß: 1818 Jonas244 und Weiß: 1818 Fehlt bei Jonas Jonas: 1818245

SW 3,4,2, S. 84, wo die Zugehörigkeit zum Kolleg 1818/19 durch die Übereinstimmung mit der Nachschrift und die Nichtübereinstimmung mit den späteren Entwürfen plausibel gemacht wird. 234 Weiß: Untersuchungen, S. 23 235 SW 3,4,2, S. 90; Jonas legt diese Datierung durch seine Erläuterung der Marginalie anhand einer Nachschrift nahe. 236 Ebd., S. 98f.; Jonas erläutert die Marginalie durch Auszüge aus Nachschriften zum Kolleg 1818/19. 237 Ebd., S. 99; Jonas ordnet diese Marginalie dem folgenden Paragraphen zu und legt die Datierung durch ihre Erläuterung anhand einer Nachschrift von 1818/19 nahe. 238 Ebd., S. 100; die Datierung wird durch Anmerkungen aus Nachschriften zum Kolleg 1818/19 nahegelegt. 239 Ebd., S. 105; auch hier wird die Datierung durch Erläuterung anhand einer entsprechenden Nachschrift nahegelegt. 240 Ebd., S. 107; Datierung durch Nachschrift nahegelegt 241 Ebd., S. 113; vgl. S. 114: „Die Randbemerkung oben, wahrscheinlich vom Jahr 1818, enthält nichts anderes, als das unter 3. gesagte. Sie soll wol andeuten, daß es dem Verf. angemessen schien, die Erläuterung zum §. mit ihr zu beginnen, wie sie denn auch dem eben deshalb im 5- entspricht." Vgl. unten, S. 119, 19.27-29 und S. 121, 9-13. 242 SW 3,4,2, S. 118: „Diese Randbemerkung liegt der veränderten Fassung zum Grunde, welche die §§. 187.188 in Beil. C, XL11. und D, 43 erfahren haben"; vgl. unten S. 255 f.302. Zur Stützung seiner Auffassung führt Jonas noch die hiermit nicht übereinstimmende Nachschrift zum Kolleg 1818/19 an. 243 Ebd., S. 121 f ; Datierung durch Nachschrift nahegelegt 244 Ebd., S. 124: „Die Vöries. 1818 erläutern den §. dieser Randbemerkung gemäß." 245 Ebd., S. 130; bei Jonas dem Paragraphen 196 zugeordnet und Datierung durch Nach233

Editorischer

22) 23) 24) 25)

26) 27) 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34) 35) 36) 37) 38)

Bericht

LXVII

S. 134 (§ 198) Jonas246 und Weiß: 1818 S. 143 (S 216,1) Jonas247 und Weiß: 1818 S. 147 (S 218) Fehlt bei Jonas; Ergänzung Weiß: 1818 S. 154 (Beginn Jonas: 1818248 ; Weiß: 1814/15 („Der Schrift „Technischer Theil") nach mit dem Texte aus einem Zuge geschrieben"249) S. 155 (§ 1) Weiß: 1818 S. 155 (§ 2; Fehlt bei Jonas; Ergänzung Weiß: 1818 3 Randbemerkungen) S. 155 (S 3,1) Weiß: teilweise 1818250 S. 156 (§ 3,2) Weiß: zumindest teilweise später als 1818/19251 S. 156 (§ 4; Weiß: erste Randbemerkung 1818 2 Randbemerkungen) S. 156 (S 5) S. 158 (S 8) Jonas: 1822252 S. 160 ( j 9 , 4 ) Fehlt bei Jonas; Ergänzung Weiß S. 162 (§ 12) Jonas253 und Weiß: 1818 S. 162 (S 13) Fehlt bei Jonas S. 169 (§ 27) Von Schleiermacher auf 1828 datiert S. 169 29) Jonas: 1822254 S. 170 (S 31)

schrift nahegelegt. Tatsächlich verweist jedoch auch die Nachschrift 1822 in diesem Zusammenhang auf Heraklit (vgl. KGA 11/10,2, S. 541, 3). 246 SW 3,4,2, S. 132; Datierung durch Nachschrift nahegelegt 247 Ebd., S. 154; Datierung durch Nachschrift nahegelegt 248 Ebd., S. 173: „Die Vöries. 1818 schikken unserm §. weit ausgeführt voran, was diese Randbemerkung enthält". 249 Weiß: Untersuchungen, S. 23 250 Weiß: Untersuchungen, S. 24, geht davon aus, daß die Marginalie ursprünglich lautete: Bei 1 Welt außer uns, Gott in uns. Demnach wäre die Marginalie selbst vor 1818/19 entstanden und im Verlauf der Vorlesung ergänzt worden. 251 Aus der Datierung der Randbemerkung zu §4 auf 1818 folgt für Weiß, daß die Randbemerkung zu § 3,2, die nach der zu §4 fortgesetzt wird, wenigstens teilweise (soweit sie nach §4 steht) später entstanden ist (Weiß: Untersuchungen, S. 24). Dieser Schluß beruht jedoch auf der keinesfalls zwingenden Voraussetzung, daß Schleiermacher die Randbemerkungen jeweils nur in der Folge der Paragraphen niedergeschrieben habe. Schleiermacher könnte aber das Heft zur Vorbereitung weiterer Vorlesungen auch mehrmals durchlaufen und bei jedem Durchgang Bemerkungen eingetragen bzw. vor und nach der Vorlesung Eintragungen gemacht haben. 2" SW 3,4,2, S. 183: „Vergi. C, LVU. zwischen ad. 7 u. 9." (unten S. 274, 9-12). 2si Ebd., S. 191; Jonas verweist auf die Nachschrift zum Kolleg 1818/19. 254 Ebd., S. 204: „Die Vöries. 1822 rükken §.256. an §.254. und schikken dem unsrigen, den sie der Randbemerkung gemäß fassen, $.255 unmittelbar voran." Gemeint sind die 5Í 27.25.26 des technischen Teils.

LXVIII

Einleitung

39) 40) 41) 42) 43)

S. S. s. s. s.

170 (S 31) 171 (§ 32) 171 f. (§ 33) 175 (§ 36) 176 (S 40)

44) 45) 46) 47)

s. s. s. s.

176 (§41) 177 42) 179 (S 46) 180 (§ 48)

48) 49) 50) 51)

s. 180 (§ 49) s. 181 (§ 50) s. 194 (S 98) S.196 (S 108)

des

Bandherausgebers

Fehlt bei Jonas Fehlt bei Jonas; Ergänzung Weiß Fehlt bei Jonas; Ergänzung Weiß Jonas datiert den ersten Satz auf 1831, den zweiten Satz auf 1818255; Weiß: 1818 Jonas: 1831 (?)256 Jonas: wahrscheinlich 1828257 Bei Jonas unvollständig: wahrscheinlich 1828258 Jonas: wahrscheinlich 1828259 Jonas: wahrscheinlich 1828260

Eine genauere Datierung der Marginalien über die Vermutungen Jonas' und Weiß' hinaus konnte für die vorliegende Ausgabe nicht geleistet werden. Sie erweist sich schon deshalb als schwierig, weil die Vorlesung 1814/15 aufgrund des Fehlens einer Nachschrift nicht detailliert rekonstruiert werden kann. So fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, zu entscheiden, ob eine Veränderung erst nach 1814/15 eingetreten ist oder nicht. Aus der Bemerkung Schleiermachers in dem Brief an Gaß vom 29.10.1914, er schreibe sich im nachhinein Paragraphen zur Dialektik auf261, läßt sich nur wahrscheinlich machen, daß er bis zu diesem Zeitpunkt so verfahren habe; nicht auszuschließen ist jedoch, daß er später auch zur Vorbereitung Paragraphen niederschrieb und diese nach der Vorlesung überarbeitete. Aber auch dort, wo Grund für die Annahme besteht, eine Randbemerkung sei später entstanden, läßt sich der Zeitpunkt schon deshalb schwer bestimmen, weil für die Vorlesungen 1828 und 1831 keine Nachschriften vorliegen, die es erlauben würden, deren Gang im einzelnen nachzuvollziehen. Hinzu kommt, daß es die enig-

Ebd, S. 222; zum ersten Satz heißt es: „So ist der Verf. 1831 zu Werke gegangen. S. Beil. E, LXX" (vgl. unten S. 345 f.). Zum zweiten Satz schreibt Jonas: „So in den Vöries. 1818." 156 Ebd., S. 223: „Vergi. E. LXVll" (unten S. 344) 257 Ebd., S. 230: „wahrscheinlich v. ]. 1828" 258 Ebd., S. 231: „wahrscheinlich v. ]. 1828" 259 Ebd., S. 232: „wahrscheinlich von 1828" 260 Ebd., S. 234: „wahrscheinlich von 1828" M Vgl. oben S. XXIX 255

Editorischer

Bericht

LXIX

matische Kürze vieler Marginalien schwer macht, sie auf bestimmte Formulierungen — sei es in Schleiermachers Manuskripten, sei es in Nachschriften — zu beziehen. Auch Tinte und Handschrift bieten keine halbwegs verläßlichen Kriterien für eine Datierung. Das für die Randbemerkungen Gesagte betrifft ebenso auch die Zusätze, die durch Einfügungszeichen eindeutig auf den Text der Leitsätze oder Erläuterungen (und bisweilen auch der Marginalien) bezogen sind; auch hier fehlen Anhaltspunkte für eine sichere Datierung, da nicht in jedem Fall davon ausgegangen werden kann, daß es sich um Sofortkorrekturen bei der Niederschrift des Textes handelt. In der vorliegenden Ausgabe wird so verfahren, daß eindeutig auf den Text bezogene Zusätze — wie auch sonst üblich — mit einer entsprechenden Notiz im textkritischen Apparat in den Text integriert und die Marginalien als Autorfußnoten an denjenigen Stellen eingefügt werden, auf die sie inhaltlich und!oder durch die Stellung im Manuskript Bezug nehmen. Auf Gestrichenes am Rand, bloße Ziffern, Fragezeichen, Markierungen wie „N B" und dergleichen wird im textkritischen Apparat hingewiesen. Das Heft weist ferner eine Reihe von Bearbeitungsvermerken (größtenteils Transkriptionen, aber auch Querverweise und Hinweise auf eine veränderte Reihenfolge der Paragraphen in späteren Vorlesungen) von der Hand Ludwig Jonas' auf, die hier nicht berücksichtigt werden. Einige Zweifelsfälle jedoch, wo Jonas' und Schleiermachers Handschrift schwer zu unterscheiden sind und auch eindeutige inhaltliche Kriterien fehlen, mußten - mit einem entsprechenden Hinweis im textkritischen Apparat - berücksichtigt werden. 4. Notizen zum Kolleg 1814/15 Die Notizen befinden sich in dem oben262 näher beschriebenen Notizheft zur Dialektik (SN 103), das überwiegend Aufzeichnungen zum Kolleg 1811 enthält. Sie stehen auf den S.l—4 zweier ineinandergelegter Doppelblätter, die offenbar als Umschlag um die früheren Aufzeichnungen von 1811 gelegt wurden; auf der ersten Seite hat Schleiermacher als Titel des Konvoluts „Zur Dialektik 1814." notiert, S.2 ist unbeschrieben. Die zehn Notizen beziehen sich auf die kompendienartige Darstellung von 1814/15 zurück und setzen diese daher voraus. Nach der zehnten Notiz folgen auf S. 4 eine neue Zwischenüberschrift „Zur Dialektik 1818" und zwei weitere Notizen. Die ersten zehn

161

Vgl. oben S. LIXff

LXX

Einleitung

des

Bandherausgebers

Notizen sind daher zwischen 1814/15 und 1818 entstanden; ob sie unmittelbar im Anschluß an die Niederschrift der Ausarbeitung zum Kolleg 1814/15 oder bei einer späteren Gelegenheit geschrieben wurden, muß offen bleiben.

5. Notizen

zum Kolleg 1818/19

Die zwei Notizen, deren Ort vorstehend schon beschrieben wurde, sind durch die Zwischenüberschrift eindeutig auf das Kolleg 1818/19 bezogen. Da die erste Notiz mit dem Verweis auf Kallikles in Piatons „Gorgias" in Schleiermachers Aufzeichnungen zur zweiten Stunde dieser Vorlesung aufgenommen wird, ist anzunehmen, daß diese Notizen zur Vorbereitung der Vorlesung dienten und in engem zeitlichen Zusammenhang mit ihr niedergeschrieben wurden.

6. Aufzeichnungen

zum Kolleg 1818/19

Es handelt sich um 14 Zettel verschiedenen Formats, die archivalisch von 2—15 foliiert und - bis auf den zweiten und dreizehnten - einseitig beschrieben sind. Der erste Zettel dieser Aufzeichnungen fehlt; er war bereits bet der von Bruno Weiß vor 1878 vorgenommenen Sichtung der Manuskripte nicht mehr vorhanden263 und wird hier nach dem von Jonas veröffentlichten Text wiedergegeben264 Die archivalische Zählung stimmt bei zwei Blättern nicht mit der Stundenfolge überein, weshalb die Zettel 8 und 9 gegeneinander zu vertauschen waren. Schleiermacher hat die Aufzeichnungen — überwiegend am unteren Rand der Zettel - mit teils römischen, teils arabischen Ziffern von 1 bis 14 numeriert, wobei es sich offenbar um die Zählung der Vorlesungsstunden handelt. Das letzte Blatt, das inhaltlich zum technischen Teil der Dialektik gehört, weist eine solche Zählung nicht auf.265 Die Zugehörigkeit der Aufzeichnungen zum Kolleg 1818/19 wird durch den inhaltlichen Vergleich mit der Nachschrift gesichert; vor allem die Anspielung auf das Pope-Zitat266 gleich zu Beginn des Kollegs267 bestätigt die Übereinstimmung. Weshalb die Aufzeichnungen

Weiß: Untersuchungen, S. 19 SW 3,4,2, S. 362 165 In SW 3,4,2 werden die Aufzeichnungen Manuskript mit „X." gezählt (S. 369). 2« Vgl. unten S. 209,7 167 Vgl. KG A 11110,2, S. 104, 21-23 263 264

auf diesem Blatt irrig und ohne Anhalt im

Editorischer Bericht

LXXI

mit der 14. Stunde abbrechen und sich zum späteren Teil der Vorlesung nur noch ein Zettel findet, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, daß weitere Zettel verlorengegangen sind, jedoch ist es ebensogut denkbar, daß Schleier mach er sich im weiteren Verlauf des Kollegs wieder enger an dem Heft von 1814/15 orientiert und ggf. Abweichungen und Ergänzungen dort als Randbemerkungen notiert hat.

7. Ausarbeitung zum Kolleg 1822 Die Ausarbeitung bildet den Haupttext eines Konvoluts (SN 105) von 36 Bl. 4°, die archivalisch von 1-69 paginiert sind; die letzten drei Seiten sind nicht paginiert. Die Blätter sind beidseitig beschrieben, wobei ein Rand von ca. 1/3 der Seiten gelassen wurde; die letzten drei Seiten sind leer. Das Konvolut besteht aus mehreren Lagen; den Beginn macht ein Einzelblatt (S. 1.2), gefolgt von einem Doppelblatt (S.3—6) und wiederum einem Einzelblatt (S.7.8). Es folgen acht Lagen, bestehend aus jeweils zwei ineinander gelegten Doppelblättern (S.9—72); auf der ersten Seite der ersten sieben Lagen hat Schleiermacher am oberen rechten Rand eine Blattzählung eingetragen: S.69 („Dialektik fol 5."), S. 17 („Dialektik fol 9"), S. 25 („Dialektik fol 13.a), S. 33 („Dialektik fol 17"), S. 1 („Dial, fol 21. "), S. 9 („Dialekt, fol 25."), S.57 („Dialekt. fol 29"); die achte Lage ist nicht foliiert. Die Aufzeichnungen zur Vorlesung 1822 beginnen auf S. 1 und reichen bis zum Anfang von S. 60, wo sie mit der 59. Stunde enden. Daran schließen sich auf derselben Seite — nach der Bemerkung „So weit war ich 1831 gekommen in 61 Stunden" — Aufzeichnungen zum Schluß der Vorlesung 1831 an. Es ist unwahrscheinlich, daß Schleiermacher für die weiteren Stunden der Vorlesung 1822 ein neues Heft angelegt hatte; vielmehr dürfte er auf die Ausarbeitung zur Vorlesung 1814/15 zurückgegangen sein.

8. Aufzeichnungen zum Kolleg 1828 Die Aufzeichnungen zum Kolleg 1828 finden sich teils am Rand des 1822 neu angelegten Heftes (SN 105; 1. bis 59. Stunde), teils am Rand der Ausarbeitung von 1814/15 (SN 102; Stunden 68—74 und 76) in einer gedrängten, schwer lesbaren Schrift. Wenigstens eine weitere Randbemerkung in dem letztgenannten Heft, die Schleiermacher selbst auf 1828 datiert hat, ohne sie einer bestimmten Vorlesungsstunde zu-

LXXII

Einleitung

des

Bandherausgebers

zuordnen268, gehört ebenfalls zu diesem Kolleg. In der vorliegenden Ausgabe werden die Aufzeichnungen in der Abfolge der Vorlesungen ediert. Während Ludwig Jonas die Zugehörigkeit der Aufzeichnungen zu den Stunden 68—74 und 76 zu der Vorlesung 1828 nicht erkannt und durch Weglassen der Stundenzählung auch für den Benutzer seiner Ausgabe unkenntlich gemacht hatte269, hat Weiß deren Zusammengehörigkeit zwar bemerkt und auf die Numerierung der Vorlesungsstunden hingewiesen, sah sich jedoch zu einer Datierung nicht in der Lage.270 Hingegen ist Odebrecht zu einer überzeugenden Datierung gelangt: „Auf Grund der vorhandenen Hefte ließ sich einwandfrei feststellen, daß diese Stundenzahlen weder mit dem Verlauf der Vorl. von 1818 noch von 1822 übereinstimmen. 1831 kommt nach der Niederschrift E [1831] gleichfalls nicht in Frage. Es handelt sich also unzweifelhaft um eine Fortsetzung der Vorlesungsnotizen von 1828 (D), die am Rande von C. mit der Vorl. 59 abbrechen. Schi, bediente sich dann offenbar zunächst wieder des Grundheftes und trug dort von der 68. Stunde ab seine veränderten Gedanken ein."271

9. Aufzeichnungen

zum Kolleg 1831

Schleiermachers eigenhändige Aufzeichnungen zum Kolleg 1831 (SN 108) befinden sich teils auf 31 Zetteln verschiedenen Formats, die archivalisch von 1—31 foliiert sind, teils auf S. 60-69 des 1822 angelegten Heftes (SN 105) im Anschluß an die dort mit der 59. Stunde abgebrochenen Aufzeichnungen des Kollegs 1822. Hinzu kommt ein einzelner Zettel mit Stichworten zur 80. bis 82. Stunde der DialektikVorlesung 1831 und zur 82. Stunde der im gleichen Semester gehaltenen Vorlesung zur Christlichen Sittenlehre auf der Rückseite eines Briefes vom 22. August 1831 (SN 75, Bl. 10) 272 Ein vergleichbarer Zettel mit Notizen zur 28. Stunde sowie zu den Kollegien über den Römerbrief und die Christliche Sittenlehre, den Jonas nicht kannte, ist heute als Bl. 12 dem Konvolut SN 108 eingereiht,273 Bruno Weiß hatte ihn als

268 y g ι unten S. 169, 29-31; diese Randbemerkung nicht in die Aufzeichnungen zur Vorlesung 1828 269 270 271 272

273

wird in der vorliegenden integriert.

Vgl. SW 3,4,2, S. 250-252.261 f.265 f.275 f.288 Weiß: Untersuchungen, S. 24 f. Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. XXIX Dieser Zettel war von Bruno Weiß gefunden und ediert worden: Anhang, S. 43; vgl. unten S. 354, 19-27. Vgl. unten S. 324, 18-27

Ausgabe

Untersuchungen,

Editoriseber

Bericht

LXXIII

„Zettel y" ediert.274 Die meisten der Zettel sind einseitig beschrieben; beidseitig beschrieben sind die Bl. 1.11—13.17—19. Mehrere Aufzeichnungen befinden sich auf der Rückseite von zerschnittenen Briefen; so finden sich auf Bl. 20v und 21» (26. April), 22» (13. Juli 1831) und 29v (12.7.1831) auch Datierungen. Schleiermachers Aufzeichnungen zu den ersten Stunden der Vorlesung sind lückenhaft; es fehlen die Stunden 1—6.9.10 und 13. Da die Notizen zur 7.8.11. und 12. Stunde auf einem Blatt stehen, ist nicht auszuschließen, daß Schleiermacher wenigstens zu den Stunden 9 und 10 für dieses Kolleg gar keine neuen Aufzeichnungen geschrieben hatte; denkbar ist aber auch, daß zu den fehlenden Stunden andere Zettel existiert hatten. Ein späterer Hinweis von Schleiermacher darauf, daß Zettel 13 - d.h. die Notiz zur 13. Stunde des Kollegs 1831 „fehlt"275, kann in diesem Sinne verstanden werden. Er könnte aber auch besagen, daß in Bezug auf diese Stunde gar keine Aufzeichnungen angefertigt wurden. 10. Vorarbeiten zur Einleitung in die

Dialektik

Hierbei handelt es sich um mehrere Bogen, die inhaltlich und zunächst auch chronologisch dadurch eine Einheit bilden, daß sie als Vorarbeiten zu der Reinschrift der Einleitung anzusehen sind. Die einzelnen, durch die Textträger archivalisch unterschiedenen Texteinheiten bilden jedoch nicht durchgehend eine chronologische Folge, sondern weisen zum Teil jeweils unterschiedlich zu datierende Textschichten bzw. Bearbeitungsstufen auf so daß es mehrfach zu Überschneidungen kommt. Da die Aufzeichnungen sich nicht in eine auch in jedem Detail plausibilisierbare chronologische Ordnung bringen ließen, werden sie in der vorliegenden Ausgabe nach Texteinheiten in deren relativer Chronologie ediert, wobei für die Einordnung die zu einer Texteinheit gehörige früheste Aufzeichnung maßgebend ist. Auf unterschiedlich zu datierende Textschichten und Überschneidungen in der Chronologie wird in den Manuskriptbeschreibungen hingewiesen. a) „Die Einleitung geht

..."

Die Aufzeichnungen befinden sich auf der ersten Seite eines unpaginierten Doppelblattes 4° (SN 107/2); auf S.2 und 3 ein auf den 18.2. 274 275

Weiß: Untersuchungen, Vgl. unten S. 357, 2 f.

Anhang, S. 43

LXXIV

Einleitung des

Bandherausgebers

1832 datiertes Protokoll Schleiermacbers zur Aufnahme des Finanzrates Reuss in die „Gesetzlose Gesellschaft", deren „Zwingherr" Schleiermacher von 1831 bis zu seinem Tod war; die vierte Seite ist unbeschrieben. Der Anfang des Textes bezieht sich auf die Aufzeichnungen zu den Vorlesungen 1828 und 1831 und dürfte daher die früheste Vorarbeit zu der Einleitung darstellen, die deren Umfang und Inhalt im Rückgang auf die zuletzt gehaltenen Vorlesungen bestimmt.176 Der Schluß des Textes setzt dagegen bereits den ersten Entwurf der Einleitung voraus (unten unter c) und ist daher später nachgetragen.177 Die Aufzeichnungen waren zuerst von Weiß als Beilage Ha der Dialektik ediert worden278; hierzu hat Odebrecht Präzisierungen und Korrekturen nachgetragen.279 b)

„Einleitung"

Dieser Entwurf der ersten drei Paragraphen der Einleitung (SN 106/3) findet sich auf einem Doppelblatt 4°, das auf der ersten und dem oberen Viertel der zweiten Seite beschrieben ist; es ist archivalisch von 1—2 foliiert. Die Marginalien sind wohl später hinzugefügt und nicht mit dem Entwurf selbst in einem Zuge geschrieben; für eine nähere Datierung gibt es jedoch keine Anhaltspunkte,280 Der Entwurf wurde zuerst von Weiß als Beilage Hb der Dialektik ediert.281 c) „Einleitung"

(Entwurf)

Bei diesem Text handelt es sich um den ersten zusammenhängenden Entwurf der Einleitung (SN 106/1) auf 10 Bl. 4°, bestehend aus einem Konvolut von fünf hintereinander gelegten Doppelblättern, die archivalisch von 1—10 foliiert sind. Auf Bl. 9r findet sich eine Variante zu §2, die vermutlich zuerst geschrieben worden war; Schleiermacher hat dann das Blatt später zur 276 277

278 279 280 281

So auch schon Weiß: Untersuchungen, S. 26 Darauf hatte Odebrecht hingewiesen; vgl. Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 480 f. Weiß: Untersuchungen, Anhang, S. 18 f.; vgl. SW 3,4,2, S. 610 Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 480 f. So bereits Odebrecht ; vgl. Schleier mach er: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 481 Weiß: Untersuchungen, Anhang, S. 19-21

Editorischer

Beriebt

LXXV

Fortsetzung von §4 benutzt. Auch sonst sind in dem Manuskript mehrere Textschichten zu unterscheiden; hierzu bemerkte schon Weiß: „Der §.5 [...] ist später hinzugefügt, als die ersten §§. dieser Vorarbeit geschrieben sind", denn der Inhalt stimmt mit 55 der Reinschrift überein, dessen Inhalt in der ersten Fassung „noch durch §.2 vertreten" war: „Deshalb gehört der §.5 [...] streng genommen nicht zu dem Uebrigen; und mit ihm das letzte Stück des §.4 unter dem Striche, welches sich schon äußerlich als noch später als §.5 hineingeschrieben dadurch kennzeichnet, daß es nicht völlig Platz fand in dem freigebliebenen Räume und am Rande fortgesetzt werden mußte."2%2 Hierbei handelt es sich um den Schluß des $4.283 Auch die zahlreichen Randbemerkungen284 sowie begrifflichen und stilistischen Korrekturen zeugen von einem fortgesetzten Durcharbeiten dieses Entwurfs, den Schleiermacher wohl auch noch während der Abfassung der Reinschrift zu Rate gezogen und für die Niederschrift seiner Gedanken benutzt hat. Der Entwurf wurde zuerst von Bruno Weiß als Beilage Hd der Dialektik ediert285; Odebrecht hat den Entwurf teilweise als Varianten zu der Reinschrift im Apparat seiner Ausgabe mitgeteilt und dabei auch einige Lesungen von Weiß korrigiert.286 Auf Bl.lO" findet sich ein Gliederungsentwurf für die Reinschrift der Einleitung, den Weiß als Beilage Hf gesondert abgedruckt hatte.287 Die Gliederung stimmt mit der Reinschrift überein und dürfte unmittelbar vor oder während der Niederschrift der letzteren entstanden sein. Der Gliederungsentwurf wird hier im Zusammenhang mit dem Entwurf der Einleitung ediert. d) „Wissen

1, 1 ein Gedachtes

..."

Diese Aufzeichnung (SN 107/2) befindet sich auf einem unpaginierten Blatt 4° auf der Rückseite eines auf den 8.10.1832 datierten Briefes an Schleiermacher.

282 283 284

285 286 287

Weiß: Untersuchungen, S. 26 f. Vgl. unten S. 379 f ; vgl. den Textapparat zu S. 383, 8-16 So findet sich bei §1,2 des Entwurfs eine Randbemerkung zu §5,1 der Reinschrift; unten S. 361, 24-35 Weiß: Untersuchungen, Anhang, S. 22-40; vgl. aber schon SW 3,4,2, S. 604-609 den Abdruck des §2 des Entwurfs. Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 471-480 Weiß: Untersuchungen, Anhang, S. 42f.; vgl. Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 3. Auch Odebrecht, der das Manuskript in der Hand hatte, behauptet irrig, es handle sich um einen Zettel.

LXXVI

Einleitung

des

Bandherausgebers

Die Notizen nehmen anfangs Bezug auf den ersten Entwurf der Einleitung; die folgende Disposition der §§3 und 4 aber weicht sowohl von der Gliederung des Entwurfs als auch von der der späteren Reinschrift ab. Weiß hat diese Aufzeichnungen als Beilage Hc der Dialektik ediert288 und bezeichnet sie als Vorarbeit zu dem vorstehend beschriebenen Entwurf (bei Weiß: Hd)2S9, wozu er aber keine Begründung gibt; Odebrecht hat sich, ebenfalls ohne Begründung, dieser Datierung angeschlossen290 Tatsächlich setzt der Beginn dieser Aufzeichnungen den Entwurf zumindest des ersten Paragraphen bereits voraus, denn in einer Disposition zu dem Entwurf hätte Schleiermacher wohl kaum bloß die Erläuterungen 1 und 5 zu dem ersten Paragraphen skizziert. Das Blatt ist daher chronologisch nach dem vorstehenden Entwurf einzuordnen. e) „1. Erklärung

..."

Die Aufzeichnungen finden sich auf der ersten Seite eines Doppelblattes 4° (SN 107/1 ); Bl lr ist archivalisch mit 5 paginiert, Bl. 2rmit 7; Bl. 1v und 2V sind unbeschrieben, auf Bl. 2r stehen Berechnungen, Notizen und Schreibübungen, die keinen Zusammenhang mit der Dialektik haben. Weiß ordnet den von ihm als Beilage He zur Dialektik veröffentlichten Text291 chronologisch vor dem Entwurf der §§4 (Schluß) und 5 in dem Gesamtentwurf der Einleitung und vor dem von ihm als Hf bezeichneten Gliederungsentwurf am Schluß dieses Gesamtentwurfs 292 (siehe oben unter c) ein. Der Text enthält zwei unterschiedliche Entwürfe für den §5 und im Anschluß an die zweite Disposition dieses Paragraphen einen Entwurf für den § 6 der Einleitung, der in der Reinschrift nicht ausgeführt wurde; die Entwürfe dieser beiden Paragraphen hält Weiß für die spätesten Stücke der Vorarbeiten.195 288 wetß: Untersuchungen, Anhang, S. 21 f ; den dritten Absatz (unten S. 385, 18-386, 3) hatte Jonas bereits SW 3,4,2, S. 609 f zitiert. 289 290 291

192 293

Weiß: Untersuchungen, S. 26 Vgl. Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 70.482 f. Weiß: Untersuchungen, Anhang, S. 40—42; die Disposition des in der Reinschrift nicht ausgeführten §6 hatte bereits Jonas in SW 3,4,2, S. 609 veröffentlicht. Eine Neuedition, die offenkundig auf das Manuskript zurückgeht und gegenüber Weiß einige Lesungen korrigiert, findet sich in Schleiermacher: Dialektik, hg. v.. R. Odebrecht, S. 483 f. Weiß: Untersuchungen, S. 27 Vgl. ebd.: „He trägt fortlaufend Nummern von 1—5, dann aber Nr. 5 und 6 noch ein-

Editorischer

11. Einleitung

Bericht

LXXVII

(Reinschrift)

Die Reinschrift der Einleitung umfaßt 8 Bl. 4° in zwei Lagen von jeweils zwei ineinander gelegten Doppelblättern, die von 1—8 foliiert sind; durch Abknicken ist ein Rand von ca. 1/3 der Seiten markiert. Bl. lr bis 8r sind in einer z.T. kleinen, aber sauber ausgeformten Schrift beschrieben; Bl. 8" ist leer. Die Einleitung hatte bereits Ludwig Jonas als „Beilage E" in der von ihm verantworteten Ausgabe ediert294; eine Neuedition unter Einbeziehung der Vorarbeiten hat Rudolf Odebrecht vorgelegt.295

Zweiter Teil Vorlesungsnachschriften Schleiermachers Manuskripte zur Dialektik werden durch mehrere Vorlesungsnachschriften ergänzt. Die sieben Nachschriften, die Jonas zur Verfügung standen und von denen er einige - größtenteils als Noten zum Haupttext — zur Ergänzung und Erläuterung der Schleiermacherschen Manuskripte auszugsweise hat abdrucken lassen, dokumentierten alle Vorlesungen bis auf die von 1814/15, zu der ihm kein Heft zur Verfügung stand 296 Von diesen sieben Heften haben sich nur zwei im Schleiermacher-Nachlaß erhalten, und zwar die von Zander (1818/19) und Klamroth (1822), die auch Odebrecht vorlagen; die anderen wurden wohl, wie üblich, den Besitzern nach Abschluß der Edition zurückgegeben. Nur bei zwei Heften, den Nachschriften Schubring (1828) und Erbkam (1831), gibt Jonas den Jahrgang an; die übrigen von ihm erwähnten sind seither nicht mehr zugänglich (sie stammen von George, Pischon und Wigand). Uber die von Jonas benutzten Nachschriften hinaus hatte Rudolf Odebrecht für seine Edition vier weitere ermittelt 297 Zwei davon, die von Kropatscheck und Saunier (beide 1822), befinden sich heute ebenfalls im Schleiermacher-

mal. Diese letzten zwei §§. 5 und 6 gehören ihrem Inhalte nach einer späteren Zeit an. Die ersten Nummern 1-5 dagegen sind geschrieben ehe Nr. 5 noch den Inhalt hatte, den es später in F hat, hiernach also auch vor Nr. 5 der Beilage Hd. Die Reihenfolge würde also ganz genau folgende seyn: Ha, Hb, Hc, Hd (mit Ausnahme des letzten Stückes von 4 und 5), He (mit Ausnahme von Sa und 6), das letzte Stück von 4 und 5 aus Hd, Hf, und Sa und 6 aus He." 294 SW 3,4,2, S. 568-604 295 Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 3-44 29« Vgl. SW 3,4,2, S.Xf. 297 Vgl. Schleiermacher : Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. XXIX-XXXI1

LXXVIII

Einleitung des

Bandherausgebers

Nachlaß, die Nachschrift Szarbinowski (1822) wird in der Universitätsbibliothek Göttingen verwahrt; verlorengegangen ist dagegen die ehemals in der Bonner Universitätsbibliothek befindliche Nachschrift der Vorlesung 1818/19 von Bluhme. Im Zuge der Vorbereitung der vorliegenden Ausgabe konnten noch fünf weitere Nachschriften ermittelt werden: August Twesten (1811), Gottfried Bernhardy (1818/19), Anonymus (1818/19), Eduard Bonnell (1822) und Karl Rudolf Hagenbach (1822). Insgesamt sind zur Zeit 10 Nachschriften zugänglich, davon eine für das Kolleg 1811, drei für das Kolleg 1818/19 und sechs für das Kolleg 1822. Da alle von Schleiermacher über die Dialektik gehaltenen Kollegien bedeutende Entwicklungsstufen seiner Konzeption von Dialektik darstellen, wäre an sich eine Dokumentation aller Vorlesungen im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe angebracht gewesen. Obwohl in dieser Hinsicht die Uberlieferungslage unbefriedigend ist, mußte auf der anderen Seite im Blick auf die Mehrfachüberlieferungen der Kollegien 1818/19 und 1822 eine Auswahl getroffen werden. Hier wird die jeweils beste Nachschrift vollständig ediert und ggf. werden andere Nachschriften dort, wo sie Ergänzungen und inhaltlich bedeutsame Varianten bieten, im Sachapparat auszugsweise mitgeteilt.

1. Kolleg 1811. Nachschrift

Twesten

Die Nachschrift (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Nachlaß Twesten, Erg. 2, Mappe 2) umfaßt 68 Seiten 4° in der Handschrift August Detlev Christian Twestens. Twesten (1789-1876), aus Glückstadt in Holstein gebürtig, studierte in Kiel und Berlin Theologie und Philosophie, wurde 1814 a. o. Professor der Theologie und Philosophie in Kiel, 1819 Ordinarius ebendort und 1835 Nachfolger auf Schleiermachers theologischem Lehrstuhl in Berlin. Die Dialektik-Vorlesung hörte Twesten während seiner Berliner Studienzeit 1810-1811. Die Nachschrift befindet sich in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Nachlaß Twesten, Erg. 2, Mappe 2 (Ms. : „Schleiermachers Dialektik." Sommer 1811,68 S., 34 Bl.). Ein Umschlag trägt von Twestens Hand die Aufschrift „Schleiermachers Dialektik (1811 Sommer)"; Inhalt und Stundenfolge stimmen, soweit vorhanden, mit Schleiermachers Aufzeichnungen überein. Die 3. bis 7. Stunde hat Twesten durchgezählt, wobei er die Ziffer 4 versehentlich bei der 4. und 5. Stunde eingetragen und entsprechend falsch weitergezählt hat, so daß seine Zählung mit der 6. Stunde abschließt. Die Nachschrift besteht aus vier von Twesten gekennzeichneten, gehefteten Lagen; die erste umfaßt 8 Bl. und ist auf Bl. lr mit „H. 1."

Editorischer

Bericht

LXXIX

gekennzeichnet; die zweite Lage umfaßt 10 Bl. und trägt am oberen rechten Rand von Bl. 9r den Vermerk „Dialektik 2." ; die dritte und vierte umfassen je 8 Bl. und haben am oberen rechten Rand von Bl. 19r bzw. 27r die Notizen „Dialektik 3." bzw. „Dialektik 4.". Twesten hat die einzelnen Blätter nicht gezählt. Die Schrift ist insgesamt gut lesbar; das Schriftbild weist relativ wenige Abkürzungen, Kontraktionen und Kürzel auf; Streichungen und Korrekturen sind selten. Dennoch dürfte es sich im ganzen nicht um eine nachträgliche Ausarbeitung handeln; das Schriftbild wechselt in der Regel von Stunde zu Stunde (wobei Twesten die Stunden meist durch Striche voneinander abgesetzt hat) und die häufig zu beobachtende Nachlässigkeit in der Ausformung einzelner Buchstaben deutet ebenfalls darauf hin, daß die Niederschrift wohl während der Vorlesung erfolgte. Zur 37. Stunde findet sich die Randnotiz „Nach Ribbeck" ; vermutlich benutzte Twesten hier das Kollegheft eines Kommilitonen. Da Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Nachschriften nicht bestehen, läßt sich die Qualität der Nachschrift nur schwer beurteilen. Offenkundig hat Twesten überwiegend nicht versucht, Schleiermachers Vortrag wörtlich wiederzugeben, sondern sich darauf konzentriert, die Hauptgedanken festzuhalten. Aufgrund seiner philosophischen Vorbildung und wohl auch des persönlichen Umgangs mit Schleiermacher bewegt er sich dabei, nach der inneren Stimmigkeit seiner Nachschrift und dem Vergleich mit Schleiermachers Aufzeichnungen zu urteilen, auf einem hohen Verständnisniveau, ist aber eher an den Resultaten als an der Gedankenentwicklung orientiert.

2. Kolleg 1818/19.

Nachschrift

Anonymus

Zum Kolleg 1818/19 sind drei Nachschriften überliefert: Zander (SN 577), Bernhardy (Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle, Yg 37c 4°) und Anonymus (Privatbesitz). Bei der Nachschrift Anonymus handelt es sich um ein umfangreiches, in zwei Teilbände gebundenes Manuskript von insgesamt 796 durchpaginierten Seiten mit dem Titel: „Dialectik ! nach den Vorträgen des HE. Dr. Scheiermacher [sie!] / Wintercursus 1818/9". Der zweite Teilband, der den gleichen Titel mit derselben Verschreibung des Namens trägt, umfaßt (beginnend auf S. 461 ) den technischen Teil der Dialektik. Die gut lesbare Handschrift ist großzügig und flüssig geschrieben und weist kaum Abkürzungen auf. Ab S. 621 tritt ein auffälliger Wechsel in der Handschrift ein. Die Nachschrift wurde offenbar im Nachhinein intensiv durchgearbeitet und der Text dabei mit

LXXX

Einleitung

des

Bandherausgebers

zahlreichen Unterstreichungen sowie gliedernden und zusammenfassenden Randbemerkungen versehen, die durchgehend von einer Hand stammen, die auf den ersten Blick mit der Schreiberhand des Grundtextes bis S. 620 identisch zu sein scheint, jedoch im einzelnen einige Abweichungen aufweist, die jedoch nicht zwingend auf zwei Schreiber schließen lassen.298 In derselben Handschrift finden sich durchgehend auch zahlreiche, mit Einfügungszeichen dem Haupttext zugeordnete Ergänzungen und Korrekturen sowie ein einseitig beschriebenes Blatt „Bemerkungen, auf Sprachlehre sich beziehend, welche in Sehl. Vorlesungen über Dialectik gelegentlich vorkommen."2" Sollte diese Durcharbeitung, für deren Datierung es jedoch keine Anhaltspunkte gibt, zeitnah zur Vorlesung bzw. Niederschrift des Textes erfolgt sein, könnte dies auf einen (angehenden) Philologen als Erstbesitzer der Handschrift hindeuten. Offenkundig handelt es sich nicht um eine unmittelbare Mitschrift des Vortrags in der Vorlesung, was schon durch die sorgfältige Handschrift und das Fehlen fast aller Kürzel auszuschließen ist. Auffällig ist, daß der Text einige Auslassungen aufweist zumeist einzelne Worte - die ausdrücklich markiert sind und in denen ζ. T. Wörter nachgetragen und dabei mitunter auch am Rande mit einem Fragezeichen versehen wurden. Dies macht wahrscheinlich, daß der Text auf eine andere, schwer zu entziffernde Nachschrift oder sogar mehrere Nachschriften zurückgeht, die als Vorlage diente bzw. dienten (letzteres wird durch die Textergänzungen nahegelegt) ; in diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, daß griechisch geschriebene Ausdrücke nicht vorkommen und dort, wo sie aufgrund eines Vergleichs mit den Nachschriften Zander und Bernhardy vorkommen müßten, Auslassungen im Text markiert sind. Ein Teil der Auslassungen konnte durch Vergleich mit Zander und Bernhardy zweifelsfrei ergänzt werden. Wenn dies nicht immer möglich war, so liegt das vor allem daran, daß die anonyme Nachschrift durchgehend ausführlicher ist als die Mitschrift von Zander. Auch im Vergleich mit den von Jonas mitgeteilten Auszügen aus den Heften zum Kolleg 1818/19, die ihm vorlagen, bestätigt sich, daß der Anonymus den Gang des Vortrags durchweg vollständig und detailliert wiedergibt. Dies könnte, angesichts der sonst zu beobachtenden Streubreite der Detaillierung inner-

298

199

So ist das „W" in den Randbemerkungen durchgehend mit einem Schnörkel geschrieben, der in der Grundschrift weniger häufig auftaucht, auch das „K" differiert in Grundtext und Randbemerkungen bisweilen. Es bleiben aber Zweifel, ob diese Differenzen tatsächlich auf zwei Schreiber zurückgehen oder unterschiedlichen Situationen des Schreibens geschuldet sind. Hier finden sich Auszüge aus dem technischen Teil, S. 498 f und 506-509 des Manuskripts.

Editorischer

Bericht

LXXXI

halb einzelner Nachschriften, als Indiz dafür gewertet werden, daß dem Text mehrere Nachschriften zugrundelagen. Zum Teil finden sich wörtliche oder doch fast wörtliche Übereinstimmungen mit den von Jonas mitgeteilten Texten, was ebenfalls für die Zuverlässigkeit des Anonymus und seinen hohen Quellenwert spricht. Da sich im Vergleich auch zeigt, daß Jonas zumeist nicht Zander zitiert, sondern auf eine bessere, uns nicht mehr zugängliche Nachschrift zurückgreifen konnte, bietet der Anonymus wohl auch hinreichenden Ersatz für das Verlorene. Aufgrund der besonderen Qualität der Nachschrift Anonymus wird diese in der vorliegenden Ausgabe zur Dokumentation des Kollegs 1818/19 ediert. Nicht berücksichtigt wurden dabei die zahlreichen, sich oft über ganze Absätze hinziehenden Unterstreichungen sowie die Randbemerkungen, die offenkundig nachträglich zur Gliederung des Textes und zur Zusammenfassung der Inhalte hinzugefügt wurden. Die Nachschrift Bernhardy trägt den Titel: „Dialektik ! nach Schleiermacher. / 1818-19." Sie umfaßt 167 beschriebene Seiten 4°; sie hat nur knapp die Hälfte des Umfangs von Zander, da der Schreiber offenbar weniger auf die Wiedergabe des Vertrags als vielmehr auf die Fixierung der Hauptgedanken orientiert war. Die einzelnen Stunden sind nicht bezeichnet und auch aufgrund der Handschrift nicht zu bestimmen. Die Handschrift weist nur relativ wenige Kürzel auf und ist sauber ausgeformt, so daß es sich auch um eine nachträgliche Ausarbeitung handeln könnte. Inhaltlich zeichnet sich die Nachschrift durch ein hohes Verständnisniveau aus, ist jedoch eher resultativ und läßt nicht im einzelnen den Gang der Vorlesung erkennen. Sie wurde daher auch nur vergleichend zu Rate gezogen, wobei sie jedoch für die vorliegende Edition selbst nichts beitragen konnte. Die Nachschrift Zander umfaßt 378 beschriebene Seiten 4°; sie trägt den Titel „Dialektik, vorgetragen von Fr. Schleiermacher im Winter 1818/19". Auf dem Titelblatt findet sich von Jonas die Bemerkung „v. Herrn Prediger Zander in Biesdorf erhalten d. 4. April 35. J[onas]". Der Name des Schreibers auf dem Titel wurde durch Radierung weitgehend unkenntlich gemacht; die erkennbaren Reste des Namenszuges lassen eher einen anderen Namen als „Zander" vermuten. Es sind keine Stundeneinteilungen vorhanden und auch nicht zu erschließen. Die Nachschrift ist sehr ausführlich und offenkundig darum bemüht, den Vortrag möglichst wortgetreu wiederzugeben. Es handelt sich, wie aus den zahlreichen Kontraktionen und Kürzeln sowie der flüchtigen Handschrift geschlossen werden kann, wohl um eine während der Vorlesung selbst angefertigte Mitschrift. Am Rand finden sich zahlreiche Bleistiftvermerke mit Hinweisen auf die Gliederung sowie die Paragraphen der Ausarbeitung von 1814/15; diese Notizen

LXXXII

Einleitung

des

Bandherausgebers

stammen wohl von Jonas oder von Odebrecht. Inhaltlich ist der Wert der Nachschrift dadurch beeinträchtigt, daß zuweilen die Gedankenführung abrupt abbricht, wenn dem Schreiber über dem Versuch der wörtlichen Wiedergabe der Faden verloren geht. Manche Passagen ergeben so, wie sie sich in der Nachschrift finden, ohne tief in den Text eingreifende Konjekturen gar keinen Sinn. Hinzu kommt, daß die Nachschrift sich aufgrund der flüchtigen Schreibweise auf der Grenze der Lesbarkeit bewegt und eine Entzifferung vielfach nur durch divinatorische Textkritik möglich wird, die zu keiner wirklichen Sicherheit in der Feststellung des Textes führen kann. Die Nachschrift Zander wurde daher nur zum Vergleich herangezogen; in einigen Fällen konnten Textlücken in der anonymen Nachschrift durch Zander ergänzt werden. 3. Kolleg 1822. Nachschrift

Kropatscheck

Zum Kolleg 1822 liegen zur Zeit sechs Nachschriften vor: Bonneil (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, HS 41), Hagenbach (Universitätsbibliothek Basel, Q I 44), Klamroth (SN 579), Kropatscheck (SN 578), Saunier (SN 580), Szarbinowski (Universitätsbibliothek Göttingen, HS 1941, 9). Im Rahmen der vorliegenden Ausgabe wurde die Nachschrift Kropatscheck als Leittext zur Dokumentation des Kollegs 1822 vollständig abgedruckt und ggf. durch Auszüge aus den anderen Nachschriften im Sachapparat ergänzt. Die Nachschrift Bonne II umfaßt - ohne den Titel — 265 beschriebene, paginierte Seiten 4°; der Titel lautet: „Dialektik / von / Schleiermacher / Sommer halb jähr 1822." Der Name des Schreibers (von dem noch zwei weitere Nachschriften zu Vorlesungen Schleiermachers überliefert sind) findet sich in der Nachschrift selbst nicht. Auf der Rückseite des Einbandes befindet sich ein Stempel des Seminars für Kirchengeschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München; darunter handschriftlich die Signatur 68/455 und ein Stempel „Aus der Bibliothek Prof. D. Wilhelm jannasch".300 Die flüchtige Handschrift sowie die zahlreichen Kontraktionen und Kürzel lassen eine Niederschrift unmittelbar während der Vorlesung vermuten. Etwa die erste Hälfte der Nachschrift wurde - offenbar nachträglich — durchgearbeitet und mit zahlreichen Unterstreichungen und Randbe-

300 Wilhelm Jannasch (1888-1966) war führendes Mitglied der Bekennenden Kirche in Berlin und später Gründungsdekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Professor für praktische Theologie und Kirchengeschichte in Mainz.

Editoriseber

Bericht

LXXXIII

merkungen versehen; letztere lassen dieselbe Hand wie der Grundtext erkennen. Da es dem Schreiber wohl eher um die Resultate als um die Wiedergabe des Vortrags selbst ging, ist seine Nachschrift im Vergleich mit den anderen überlieferten Kollegheften (mit Ausnahme der Nachschrift Saunier) wenig ausführlich. Sie konnte im Vergleich dennoch mit Gewinn zur Ergänzung herangezogen werden. Die Nachschrift Hagenbach umfaßt - ohne den Titel - 206 Seiten 4°, von denen nur die S.2-19 paginiert sind. Der Titel lautet: „Vorlesungen / über / Dialektik / von / Herrn Prof. Dr. Schleiermacher. / im Sommerhalbjahr 1822. / Zu Berlin. / Hagenbach." Stundenmarkierungen sind nicht vorhanden. Die Nachschrift weist zahlreiche Kontraktionen und Kürzel auf; die Handschrift ist flüchtig und schwer lesbar. Es finden sich kaum Randbemerkungen und Ergänzungen. All dies macht den Eindruck einer unmittelbar während der Vorlesung angefertigten Mitschrift. Eine Passage (S. 72-79) ist als Auszug (aus anderen Nachschriften) gekennzeichnet; am Ende dieser Passage steht die Bemerkung „fehlt einiges Unbedeutendere." Tatsächlich fehlen ca. 3 Vorlesungen. Wohl auch aufgrund dieser Lücke ist Hagenbach nicht ganz so umfangreich wie Klamroth, Kropatscheck und Szarbinowski, jedoch noch immer wesentlich ausführlicher als Bonnell und Saunier. Die Nachschrift bewegt sich auf einem hohen Verständnisniveau und bietet einige, auch inhaltlich gehaltvolle Varianten gegenüber den anderen Nachschriften; sie wurde daher durchgängig verglichen und an zahlreichen Stellen zur Ergänzung herangezogen. Klamroth umfaßt — ohne den Titel — 316 paginierte S. 4°; der Titel lautet: „Dialektik / gelesen / vom / Professor Schleiermacher. / Berlin / im Sommerhalbjahr 1822. H. Klamroth." Die Handschrift weist zahlreiche Kontraktionen und Kürzel auf und ihr Duktus wechselt von Stunde zu Stunde, so daß eine Mitschrift während der Vorlesung angenommen werden kann. Einige wenige Randbemerkungen und Ergänzungen, besonders am Anfang, deuten auf eine spätere Durchsicht durch den Schreiber selbst hin. Die Nachschrift bietet eine sehr ausführliche Wiedergabe des Schleiermacherschen Vortrags und wurde bereits von Jonas und Odebrecht im Rahmen ihrer Editionen herangezogen.301 In die vorliegende Ausgabe wurden zahlreiche Ergänzungen zur Nachschrift Kropatscheck aus Klamroth aufgenommen. Die Nachschrift Kropatscheck umfaßt - mit Vorsatz- und Titelblatt - 100 Bl. 4°, paginiert von 1-197. Der Titel lautet: „Die Dia-

301

Vgl. hierzu die Nachweise (auch zu Jonas) in: Schleier mach er: Dialektik, Odebrecht, S. 488-544 (Anhang II).

hg. v. R.

LXXXIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

lektik, / vorgetragen / vom HE. Professor Schleiermacher / im Sommersemester 1822. J. Kropatscheck." Auf dem Vorsatzblatt findet sich der Eintrag „Band 5 g. [= Groschen] / J. Kropatscheck. / Berlin den 23 December / 1822." Offenbar hat sich der Schreiber im Wintersemester seine Nachschrift binden lassen und hier den Preis notiert. Ferner findet sich auf dem Vorsatzblatt ein Hinweis auf die Ausgabe von Jonas und die 1839 erschienene Rezension dieser Ausgabe von Christian Hermann Weiße.302 Die Nachschrift ist sorgfältig geschrieben, aber mit sehr vielen Kontraktionen und Kürzeln durchsetzt, was eher auf eine Mitschrift in der Vorlesung hindeutet. Die einzelnen Stunden sind jeweils mit Datum am Rande bezeichnet. Es finden sich nur wenige Ergänzungen und keine Hinweise auf eine spätere Durchsicht und Bearbeitung. Inhaltlich handelt es sich um eine sehr detaillierte und offenbar um die wörtliche Wiedergabe des Vortrags bemühte Nachschrift. Sie ist nicht weniger ausführlich als Szarbinowski und Klamroth, scheint aber im Vergleich mit den anderen Nachschriften über weite Strecken am präzisesten zu sein. Bereits Odebrecht hatte seine Edition der Nachschriften von 1822 daher — wie auch in der vorliegenden Ausgabe verfahren wird — weitgehend auf Kropatscheck als Leittext basiert.303 Die Nachschrift Saunier umfaßt - einschließlich des Titelblattes - 94 Bl. 4°; der Titel lautet: „Dialektik / nach Schleiermacher, zum Theil in Auszügen / im Sommer 1822". Darunter findet sich der spätere Zusatz: „durchgesehen und vervollständigt Frühjahr 1824." Die Nachschrift ist zusammengebunden mit einer ebenfalls von Saunier stammenden Nachschrift zur Hermeneutik im Sommersemester 1822. Unten auf der Titelseite finden sich, nebeneinander, die Namen Saunier und Schirmer; letzterer ist offenbar der spätere Besitzer des Heftes, der es 1824 auch durchgesehen haben dürfte. Schirmer hat seinen Namen auch an den oberen rechten Rand von Bl. 2' neben den Textbeginn geschrieben; seine Durchsicht hat vor allem in der Gliederung des Textes durch Randbemerkungen ihren Niederschlag gefunden; daneben finden sich auf Bl. 3SV, 37rf. und 41r—42r einige Ergänzungen. In der Wiedergabe der Vorlesung ist die Nachschrift uneinheitlich : Passagen, die in gedrängter Form die Resultate wiedergeben und wohl - wie im Titel vermerkt — Auszüge (aus anderen Nachschriften) darstellen, stehen solche gegenüber, die sehr ausführlich den Gang des Vortrags wiedergeben. Saunier konnte daher auch vielfach zur Ergänzung von Kropatscheck herangezogen werden. 302 303

Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik 1839, Bd. 2, Nr. 81-83, S. 641-664 Vgl. dazu die Nachweise im Anhang II zu: Schleiermacher: Dialektik, hg. v. R. Odebrecht, S. 488 f f .

Editorischer Bericht

LXXXV

Die Nachschrift Szarbinowski umfaßt — einschließlich des Titels — 335 (ab S.3 durchgehend paginierte) S. 4°; der Titel lautet: „Grundzüge der Dialektik / nach / Prof. Schleiermacher. / Berlin d. 15 April 1822 E. Szarbinowski." Auf dem Vorsatzblatt finden sich Notizen des Göttinger Theologen Emanuel Hirsch (1888-1972) über den Erwerb der Nachschrift von einem Leipziger Antiquariat am 14. Juni 1941 und seinen Vergleich der Nachschrift mit den von Jonas mitgeteilten Auszügen aus Nachschriften zum Kolleg 1822.304 Die Nachschrift zeigt ein sorgfältiges Schriftbild und weist relativ wenig Kürzel auf; sie ist sehr ausführlich und um eine wörtliche Wiedergabe des Vortrags bemüht, leidet jedoch offenkundig an Verständnisschwierigkeiten und gelegentlichen Lücken. Dennoch konnte sie im Vergleich mit den anderen Handschriften zur Ergänzung von Kropatscheck mehrfach herangezogen werden.

4. Anhang a) Kolleg 1811. Manuskript

Twesten

Neben der Vorlesungsnachschrift zum Kolleg 1811 gibt es in der Handschrift Twesten zwei Doppelbogen in folio mit sieben beschriebenen Seiten, überschrieben „Die Dialektik" (Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Twesten, Kasten 43). Dieses Manuskript wurde bereits von H. Zimmermann-Stock in seiner Kieler theologischen Dissertation von 1973 der Dialektik-Vorlesung 1811 zugeordnet und veröffentlicht*05; eine Neuedition erfolgte 1986 im Rahmen der Studienausgabe zur Dialektik 1811.306 Ein inhaltlicher Vergleich mit der Nachschrift macht deutlich, daß dieses Manuskript die l.—ll. Stunde umfaßt.

304

„Halpern, Schleiermachers Dialektik 1909 neu herausgebend, konnte laut Einleitung seiner Ausgabe S. XXXIII über den Verbleib der Kollegnachschriften, die Jonas in seiner Ausgabe von 1833 mitbenutzte, nichts in Erfahrung bringen. - Die Nachschrift von Szarbinowski ist ausführlicher als die von Jonas in seiner Ausgabe der Dialektik 1839 gelegentlich benutzte (vgl. folgende Seite die Vergleichsstellen) und gibt ein weit genaueres Bild von Schleiermachers Vorlesung, vor allem gilt das von den späten Partien der Nachschrift. Am Anfang hat Sz. große Schwierigkeiten des Mitkommens gehabt, und manches ist da lückenhaft." Die folgende Seite bezieht die Nachschrift Szarbinowski auf die Auszüge in Jonas' Edition; sowohl die Notizen als auch die Liste sind von Hirsch auf Juni 1941 datiert.

305

Heinz Zimmermann-Stock: Schleiermachers Christologie nach seiner Vorlesung aus dem Jahre 1811. Dargestellt anhand einer neuaufgefundenen ,Nachschrift' und ,Ausarbeitung' zu dieser Vorlesung von D. A. Twesten. Theol. Diss. Kiel 1973, S. 267—276. - Die Lesungen Zimmermann-Stocks sind z. T. sehr unzuverlässig. Schleiermacher: Dialektik (1811), hg. v. A. Arndt, S. 84ff. in den Anmerkungen zur

306

LXXXVI

Einleitung des Bandherausgebers

Der Charakter dieses Manuskripts ist nicht eindeutig zu bestimmen. Es könnte sich um den Beginn einer dann abgebrochenen Ausarbeitung handeln, die Twesten im Herbst 1811 in Angriff nehmen wollte.307 Daß die Ausarbeitung genau dort abbricht, wo die überlieferten Notizzettel Schleiermachers einsetzen, wäre dann ein bloßer Zufall. Dagegen spricht der Duktus der Aufzeichnungen vor allem am Beginn, der sich im Vergleich mit der Nachschrift kaum als „Ausarbeitung" der Vorlesung verstehen läßt; die 9 thesenartigen Abschnitte etwa sind weder deckungsgleich mit Vorlesungsstunden noch decken sie alle am Beginn der Vorlesung behandelten Themen ab. Sie können also auch schwerlich als kompendienartige Verdichtung des Einleitungsteils gelten. Auffällig ist auch, daß im Anschluß an diese „Paragraphen" erneut eine Zwischenüberschrift („Dialektik.") folgt, die inhaltlich den Beginn des transzendentalen Teils markiert. Die Aufzeichnungen hierzu sind sehr ausführlich und machen eher den Eindruck einer Ausarbeitung. Einige Korrekturen jedoch machen den Eindruck typischer Abschreibefehler, z.B. wenn ein wenig später tatsächlich gebrauchtes Wort schon vorher an einer Stelle niedergeschrieben und dann gestrichen wurde, an der es gar keinen Sinn machte. Diese Beobachtungen könnten auch den Schluß nahelegen, daß Twesten Gelegenheit hatte, ein Manuskript Schleiermachers zu den ersten Stunden der Vorlesung abzuschreiben. Daß Schleiermacher seinem Schüler Manuskripte überlassen hat, ist durch Twestens Abschrift der „Allgemeinen Hermeneutik" (1809/10) gesichert308, im vorliegenden Fall jedoch gibt es keinen eindeutigen Beleg dafür, daß Twesten tatsächlich ein Manuskript zur Dialektik vorlag. Da sich der Charakter des Manuskripts nicht eindeutig klären läßt, wird es hier im Anhang vollständig und nach den Regeln der Edition von eigenhändigen Manuskripten Schleiermachers mit allen Varianten wiedergegeben, damit die Leser sich ein eigenes Bild machen können.

1-11. Stunde; das Manuskript wird dort als Ausarbeitung Twestens zur Vorlesung 1811 vorgestellt. 307 yg[ Heinrici: Twesten, S. 205: „zur Ausarbeitung der Dialektik werde ich hier nächstens schreiten". 308 Schleiermacher: Allgemeine Hermeneutik; vgl. W. Virmond: Neue Textgrundlagen zu Schleiermachers früher Hermeneutik; beides in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, S. 575-590.1271-1310

Editorischer

b) Kolleg 1828. Nachschrift c) Kolleg 1831. Nachschrift

Bericht

LXXXVII

Schuhring und Erbkam

In seiner Edition der Dialektik hat Ludwig Jonas in den Anmerkungen auch Auszüge aus Vorlesungsnachschriften zu den Kollegien 1828 und 1831 veröffentlicht, die heute nicht mehr zugänglich sind und die auch nicht durch andere Nachschriften ersetzt werden können. Diese Auszüge sind hier im Anhang wieder abgedruckt, wobei sie in der Abfolge der Vorlesungsstunden geordnet sind und der Ort des Erstdrucks jeweils im textkritischen Apparat angegeben wird.

Die vorliegende Edition der Dialektik ist das Ergebnis einer langwierigen, sich über gut zwei Jahrzehnte erstreckenden Arbeit, die neben der Edition des Schleiermacherschen Briefwechsels und anderen Verpflichtungen zu leisten war. Kurt-Victor Selge als Leiter der Berliner Schleiermacherforschungsstelle hat das Vorhaben von Anfang an wohlwollend begleitet und dem Herausgeber, wo immer es ging, auch Luft verschafft, um es zu einem guten Ende zu bringen. Hierfür sei ihm an dieser Stelle aufrichtig gedankt. Die Transkriptionen der Nachschriften sowie der Schleiermacherschen Manuskripte hat Isabelle Lüke mit größter Zuverlässigkeit geschrieben und ebenso die Korrekturarbeiten für die Textgrundlage des vorliegenden Bandes ausgeführt; für diese unverzichtbare Hilfe möchte ich ihr herzlich danken. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat das Unternehmen in besonderer Weise dadurch gefördert, daß sie mit Geldern, die aufgrund der Wahrnehmung von Gastprofessuren durch den Herausgeber eingespart worden waren, die Transkription von Vorlesungsnachschriften zur Dialektik ermöglicht hat. Im Rahmen von Werkverträgen und einer befristeten Anstellung hat Heinrich Clairmont die Nachschriften Kropatscheck, Saunier und Szarbinowski transkribiert; seine sorgfältige Arbeit war für den Herausgeber eine große Hilfe bei der Erstellung der Textgrundlage. Walter Jaeschke hat seine Transkription der Nachschrift Bernhardy zur Verfügung gestellt und den Herausgeber auch bei der Kommentierung und Literaturbeschaffung unterstützt, wofür ihm hier ebenfalls herzlich gedankt sei. Für Rat und Unterstützung danke ich auch Simon Gerber, Martin Rößler, Wolfgang Virmond, Matthias Wolfes und Thomas Wyrwich. Ein besonderer Dank gilt Frau Pröpstin Uta Grohs (Hamburg) für die großzügige Überlassung der in ihrem Besitz

LXXXVHI

Einleitung des

Bandherausgebers

befindlichen anonymen Nachschrift zum Kolleg 1818/19 sowie allen Archiven und Bibliotheken, welche die Erlaubnis zur Publikation der Quellen dieses Bandes erteilt haben. Berlin, im März 2002 Andreas Arndt

Erster Teil Manuskripte Schleier mach ers

Notizen zur Dialektik (1811)

[13.] Jedes Urtheil welches nicht ein leeres ist ist entweder Beziehung 5 auf ein höheres oder niederes, oder Verknüpfung mit einem nebenstehenden. [14.] Das Wissen wird zugleich immer als Wissenschaft gedacht d.h. 5 mit dem Charakter der Allgemeingültigkeit. [25.] Die persönliche Subjectivität als solche kann unmöglich Princip des Wissens sein. [26.] Der Parallelismus des Seins und Denkens führt schon auf ein absolut höchstes Sein 10 [27.] Dieses kann nicht so gegeben sein daß ihm ein wirkliches Denken desselben gegen über stände. Denn dieses ist entweder ein leeres oder es ist Subsumtion od er Combination 1

1

Gilt a u c h : D a s a b s o l u t h ö c h s t e D e n k e n k a n n n i c h t s o g e d a c h t w e r d e n d i h m ein w i r k l i c h e s Sein d e s s e l b e n g e g e n ü b e r s t ä n d e d e n n d i e s e s k ö n n t e n u r

15

d u r c h ein U n e n d l i c h e s d e r S u b s u m t i o n

und

Combination

darauf

bezogen

werden.

1 [13.]] Die Notizen 1-12 beziehen sich auf die Vorlesungen 1814/15 bzw. 1818/19 (vgl. unten S. 201 f und 205). 1 - 3 Jedes ... nebenstehenden.] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 4 f Das ... Allgemeingültigkeit.] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 6f Die ... sein.] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 8 f Der . . . Sein] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 1 0 - 1 2 Dieses ... Combination] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 11 dieses] korr. aus das 13—16 Gilt ... werden.] Marginalie am rechten Rand

6

Erster

Teil. Manuskripte

Schleiermachers

[ 2 8 . ] D e r s e l b e f ü h r t a u f ein a b s o l u t e s D e n k e n .

[19.]

D i e b l o ß e M a t e r i e ist d i e E n d l i c h k e i t d e s S e i n s a l s N e g a t i o n d e s

D e n k e n s g e d a c h t , a l s o n u r A b s t r a c t i o n oder

[20.]

W e n n m a n s a g t d a ß d a s E n d l i c h e und

Mythos.

E i n z e l n e n i c h t ist f ü r die

V e r n u n f t : s o liegt d a r i n n i c h t d a s S e z e n e i n e s p o s i t i v e n S c h e i n s als e i n e s

5

r e e l l e n ; s o n d e r n n u r d aß es n i c h t e i n e E i n h e i t o d er T o t a l i t ä t f ü r die V e r n u n f t ist.

[21.]

D a s a b s o l u t h ö c h s t e Sein u n d D e n k e n in s e i n e r I d e n t i t ä t ist n i c h t

ein b l o ß e s P o s t u l a t s o n d e r n es ist in j e d e m e i n z e l n e n A c t d e s W i s s e n s d a s allein r e a l e u n d g e w i s s e .

6

10

[ 2 2 . ] D i e B e s o n d e r h e i t e i n e s e i n z e l n e n S e i e n d e n g e h t n i c h t a u f in d e r A l l g e m e i n h e i t e i n e s e i n z e l n e n D e n k e n s , s o n d e r n n u r in d e r einer mannigfaltig Einen Subsumtion und einer mannigfaltig

Identität totalen

Combination

1 Derselbe ... Denken.] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 2 f Die ... Mythos.] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 8 - 1 0 Das ... gewisse.] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) und Klammer am linken Rand 11-14 Die ... Combination] durchgestrichen (Erledigungsvermerk)

1 lies: Derselbe Parallelismus 2f Vgl. unten S. 44, 33-45, 2 die Aufzeichnungen zur 24. Vorlesung 4 - 7 Schleiermacher spielt wohl an auf Henrich Steffens: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806, S. 5f: „Das Erkennen, welches ein Einzelnes, Endliches als reell setzt, entspringt nur in der Form der Zeit, aber die Zeit selbst ist für das Ewige nicht; daher ist nicht allein das Endliche als ein solches, ein Nicht-Reelles für die Vernunft, sondern auch jene Gesetze, die für den Verstand absolute Realität haben [...], wie ζ. B. das Gesetz der Kausalität, welches auf die wechselseitige Abhängigkeit und Unvollkommenheit des Endlichen allein deutet, und also in der absoluten Seligkeit der ewigen Vernunft verschwindet." - Daß darin das Setzen eines Scheins als reell liegen könnte, bezieht sich offenbar auf Kants Diktum, daß alle Erkentnis von Dingen bloß aus reiner Vernunft nichts als Schein sei (vgl. Kant: Prolegomena, S. 215; Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 374). 8 - 1 0 Schleiermacher spielt wohl an auf Henrich Steffens: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806, S. 3: „Die absolute Einheit wird [...] nicht postulirt, in dem Sinne, wie man zum Behuf einer Wissenschaft einen Grundsatz sonst wohl fordert; sie ist vielmehr das ewig da-

Notizen

zur Dialektik

(1811)

7

[23.] Die gemeinsame Form des Seins und Denkens in ihrem relativen Gegensaz ist wol Raum und Zeit, Raum des Seins an sich und Zeit des Seins in Bezug auf das Denken, Zeit des Denkens an sich und Raum des Denkens in Bezug auf das Sein

5 [24.] Das Wissen kommt nur vor in und an dem Vorstellen und in Bezug auf das vorstellbare Sein. Doppelte Deduction desselben durch das Absteigen vom Absoluten zum Sein und durch das Aufsteigen vom Vorstellen zum Absoluten.

[25.] Zwischen der Gewißheit der momentanen Wahrnehmung und der 10 Untrüglichkeit des ewigen Erkennens liegt das Gebiet des Irrthums.

[26.] Das Wesen selbst ist die Form des Seins; die Form selbst ist das Wesen des Denkens.

1—4 Die ... Sein] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) gestrichen (Erledigungsvermerk); am linken Rand ? gestrichen ( Erledigungsvermerk)

5 - 8 Das ... Absoluten.] durch9 f Zwischen ... Irrthums.] durch-

seiende, nicht-gesuchte, nicht-gefundene, sondern absolut geschenkte Organ aller lebendigen Untersuchung, alles wahrhaften Erkennens, welches das Ganze des Erkennens und einen jeden Punkt desselben gleich klar bezeichnet." - Vgl. auch unten S. 35, 21 f die Aufzeichnungen zur 15. Vorlesung. 1—4 Vgl. unten S. 49 f Schleiermachers Aufzeichnungen zur 29. Vorlesung 11 f Schleiermacher spielt wohl an auf Henrich Steffens: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806, S. 2: „Das Erkennen selbst wird als ein Subjektives gesetzt, und da es eine Identität des Subjektiven und Objektiven ist, zugleich als ein Nicht-Subjektives. Wird das Erkennen als ein bloß Subjektives gesetzt, im realen Gegensatz gegen ein Objektives, so verschwindet seine Realität, die nur in der Identität beider ist; wird es als das Identische der Objektivität und Subjektivität gesetzt, so verschwindet die besondere Form, in welcher es doch nur ein Erkennen ist. Dieser Widerspruch wird durch das Wesen der Vernunft selbst gehoben, indem es zu ihrem Wesen gehört, sich selbst zu erkennen. Die Vernunft also, unter der Form des Erkennens, ist die ganze Vernunft, auch ihrem Wesen nach, und da in der Form des Erkennens der Vernunft nichts ist, was nicht zugleich das Wesen der Vernunft wäre, und in ihrem Wesen (ihrer ewigen Selbsterkenntniß wegen) nichts seyn kann, was nicht zugleich ihre Form wäre, so ist mit der Idealität der Form des Selbsterkennens zugleich die Realität des Wesens der Vernunft ewig, nothwendig und unzertrennbar gesetzt." Vgl. auch ebd., S. 7: „Wenn das Denken, wie in der endlichen Reflexion, als von dem Seyn getrennt, angesehen wird, so erscheint jenes als ein bloß negatives Vermögen, /.../ dieses als das absolut-positive /.../. Das Denken ist dann eine unendliche leere Form, das

8

Erster

Teil. Manuskripte

Schleier mach

ers

[27.] Indem die Philosophie die Wissenschaft des sich selbst gleich bleibenden von Entstehen und Vergehen nicht afficirt ist, so hat sie es zu 7 thun mit der Zurükführung aller Verknüpfungen aus Gegensäzen zur Indifferenz. - Wissenschaft der Ideen nach Steffens Erklärung will wol dasselbe sagen. 5

[28.] Was Piaton von dem άγαθόν sagt Rep VI ρ 508 das gilt vom Absoluten. Die Wissenschaft und die Wahrheit sind nicht das Absolute aber sie stammen davon her.

nur formell sind, und sich in die absolute Form auflösen, in und mit welcher sie an der unbetrübten Einheit des Wesens Theil nehmen; so wird [...] die Allgemeinheit des Denkens - wenn sie mit dem Besondern des Seyns unmittelbar verknüpft ist - jene als die unendliche Einheit des Wesens selbst, dieses als die formelle Mannigfaltigkeit des Endlichen heraustreten. - Durch die Aufnahme des Besondern ins Allgemeine wird [...] die Form dem Wesen gleichgesetzt. Durch die Aufnahme des Allgemeinen ins Besondere wird ferner [...] das Wesen in die bestimmte Form aufgenommen." 4f Vgl. Henrich Steffens: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft, Berlin 1806, S. 15: „Die Philosophie ist die Wissenschaft der Ideen." Zuvor (S. 14 f) heißt es: „Da die relative Entgegensetzung der Form und des Wesens nur eine ideelle Bestimmung ist, so ist sie selbst in die Form gesezt, und in das Wesen nur in so fern, als dieses sich in die Form ausdrückt. Aber da die absolute Form dem absoluten Wesen schlechthin gleich ist, so verschwindet auch in jener die ideelle Bestimmung, auf eine solche Weise, daß das in den zwei relativen Indifferenzpunkten Getrennte in dem Centraipunkte des schlechthin Ewigen sich wiederum auflöst. Das, wodurch eine relative Differenz des Wesens und der Form in Rücksicht auf das Ganze gesetzt wird, nennen wir die bestimmte Potenz, und sie drückt sich durch den Grad des Ueberwiegens der Subjektivität oder der Objektivität aus. Aber, wie ein so bestimmt, in einem relativen Differenzverhältniß der überwiegenden Subjektivität oder Objektivität Gesetztes, in Rücksicht des Ganzen ein Relativ-Differentes ist, so ist es für sich doch das ganze Subjekt-Objekt; in seiner Form mit dem untheilbaren Wesen als Eins, also ewig gesetzt. Das, wodurch die Potenz als dem ewigen Wesen gleich gesetzt wird, nennen wir Idee. 6 - 8 Vgl. De República, Lib. VI, 508 a—e; Opera 7, S. 118 f ; in der Ubersetzung Friedrich Schleiermachers (Piatons Werke, Teil 3, Bd. 1, Berlin 1828, S. 354 f) lautet die hier angesprochene Passage: „Das Gesicht ist nicht die Sonne, weder es selbst noch auch das worin es sich befindet, und was wir Auge nennen. - Freilich nicht. - Aber das sonnenähnlichste denke ich ist es doch unter allen Werkzeugen der Wahrnehmung. - Bei weitem. - Und auch das Vermögen, welches es hat, besizt es doch als einen von jenem Gott ihm mitgetheilten Ausfluß. - Allerdings. So auch die Sonne ist nicht das Gesicht, aber als die Ursache davon wird sie von eben demselben gesehen. - So ist es, sprach er. - Und eben diese nun, sprach ich, sage nur daß ich verstehe unter jenem Sprößling des Guten, welchen das Gute nach der Aehnlichkeit mit sich gezeugt hat, so daß wie jenes selbst in dem Gebiet des Denkbaren zu dem Denken und dem Gedachten sich verhält, so diese in dem des Sichtbaren zu dem Gesicht und dem Gesehenenen. - Wie ? sagte er, zeige mir das noch genauer. - Die Augen, sprach ich, weißt du wol, wenn sie einer nicht auf solche Dinge richtet, auf deren Oberfläche das Tageslicht fällt, sondern auf die nächtlicher Schimmer: so sind sie blöde und scheinen

Notizen zur Dialektik

(1811)

9

[29.] Wegen des ersten Cirkels ist also die Philosophie ein unbeweisbares, eine reine Analyse. Es ist nur das Aufsuchen des absoluten Wissens in allem relativen, der allgemeinen F o r m des Wissens abgesehen von dem besonderen ethischen oder physischen Inhalt 5 Eben darum haben aber die Principien auch nur Gültigkeit in Bezug auf das leztere nemlich das reale Wissen; sie sind selbst kein solches, weil sie sonst in die Reihe des bedingten eintreten würden

[30.] Was sich überwiegend qualificirt Subject zu sein im Urtheil gehört überwiegend in die Sphäre der S u b s u m t i o n . Was Prädicat zu 10 sein in die der C o m b i n a t i o n . Beide verhalten sich wie das individuelle Leben zum universellen.

[31.] Die Wahrheit entsteht nur aus dem Z u s a m m e n t r e f f e n des bestirnten realen Talents z. E. für die N a t u r mit dem speculative« Geist. D i e dialektischen Vorschriften können nicht die Wissenschaften hervorbrin15 gen sondern nur leiten. | [32.] Die Regeln der Subsumtion und C o m b i n a t i o n müssen gefaßt wer- 8 den ohne allen Bezug auf den ethischen oder physischen Inhalt.

[33.] Jeder fixirte Punkt in der aufsteigenden Reihe m u ß ein besonderer Saturationspunkt sein in der Identität des D e n k e n s und Seins.

12-15 Die ... leiten.] Klammer am linken Rand

17 ohne] folgt

beinahe blind, als ob keine reine Sehkraft in ihnen wäre? - Ganz recht, sagte er. - Wenn aber, denke ich, auf das was die Sonne bescheint: dann sehen sie deutlich, und es zeigt sich daß in eben diesen Augen die Sehkraft wohnt. - Freilich. — Eben so nun betrachte dasselbe auch an der Seele. Wenn sie sich auf das heftet, woran Wahrheit und das Seiende glänzt: so bemerkt und erkennt sie es, und es zeigt sich, daß sie Vernunft hat. Wenn aber auf das mit Finsterniß gemischte, das entstehende und vergehende : so meint sie nur und ihr Gesicht verdunkelt sich so, daß sie ihre Vorstellungen bald so bald so herumwirft, und wiederum aussieht, als ob sie keine Vernunft hätte. - Das thut sie freilich. Dieses also, was dem erkennbaren Wahrheit mittheilt und dem erkennenden das Vermögen hergiebt, sage sei die Idee des Guten; aber wie sie der Erkenntniß und der Wahrheit als welche erkannt wird, Ursache zwar ist: so wirst du doch, so schön auch diese beide sind, Erkenntniß und Wahrheit, doch nur, wenn du dir jenes als ein anderes und noch schöneres als beide denkst, richtig denken." 1 Vgl. unten S. 10, Nr. 40

10

Erster Teil. Manuskripte

Schleiermachers

[34.] Die ersten Versuche werden überall nur die Tendenz zur Wissenschaft haben, die äußere Form derselben ohne innere Wahrheit.

[35.] Ob es feste Punkte giebt für die Grenze des Gattirens auf dem physischen und ethischen Gebiet gleichmäßig

[36.] Die platonische Ansicht von der Mathematik als Uebungsmittel, aber doch der realen Wissenschaft und der Dialektik untergeordnet, wäre wol auch mit durchzuführen.

[37.] Die Theorie der Begriffe wird doch auch müssen vorgebracht werden in wie fern sie Propädeutik der Anschauung sind.

[3S.] Auch üb er den Syllogismus in wiefern sich alles wahre Wissen auf ihn muß reduciren lassen.

[39.] Ist etwa so wie im Werden alles außereinander ist und àas Ineinander nur geborgt: so auch im Sein alles Ineinander und das Außereinander nur geborgt? | 9 [40.] Neben dem ursprünglichen Zirkel döß man über das Wissen wissen muß vor dem Wissen steht auch der, daß man über die Dinge wissen muß vor den Dingen (das vor dem Wissen?) Die ursprüngliche Gewißheit der Dinge ist aber die ursprüngliche Gewißheit des Leibes.

l f Die . . . Wahrheit.] durchgestrichen durchgestrichen (Erledigungsvermerk)

(Erledigungsvermerk)

lOf Auch ...

lassen.]

5 - 7 Vgl. De República, Lib. VII (Opera 7, S. 141-172; Piatons Werke. Teil 3, Bd. 1, Berlin 1828, S. 372-395), wo der Gedanke entwickelt wird, der Mathematik komme als das elementare Gemeinsame aller Künste, Erkenntnisse und Wissenschaften (521 c—522 d) eine propädeutische Funktion auch im Blick auf die philosophische Erkenntnis zu, indem sie vom Werdenden auf das Seiende führe (524 d—526 c). Arithmetik und Geometrie erhalten aufgrund dieser Funktion als Vorübungen der Dialektik einen besonderen Platz in der Erziehung der zur Philosophie Auserwählten (536 d ff.). 15 f Vgl. oben S. 9, Nr. 29

Notizen

zur Dialektik

(1811)

11

[41.] E r s t e V o r l e s u n g Erklärung meiner Absicht aus der zweiten Benennung. Weshalb ich mich darein mische. Weshalb ich nicht die Principien als Einleitung vortrage zur Ethik. Meine Meinung über die ausschließliche Beschäftigung mit der formalen Philosophie. 1 Darum wünschte ich sie mehr als Kunst behandeln zu können, als als Wissenschaft. Was sie denen sein könne die nicht zum productiven Speculiren organisirt sind.

[42.] Der Skepticismus gegen die Ideen fängt gewöhnl/c/7 damit an daß man sie von den einzelnen Vorstellungen ableitet.

[43.] Wenn wir des Absoluten inne geworden sind als Princip des Wissens so haben wir es auch als Princip des Seins. [44.] Wissen und Denken stehen gegenüber dem Sein und Werden

[45.] Wenn das Wissen um das Wissen nichts anderes sein kann als Construction der Anschauung des Wissens, welche also ihre unmittelbare Gewißheit mit sich | führt: so wird auch wol jede andere einzelne Anschauung ihre unmittelbare Gewißheit mit sich führen

1

Abgemacht in der ersten Stunde

1—4 Erklärung . . . Philosophie.] Text so weit dünn durchgestrichen und Klammer am rechten Rand 8 f Der . . . ableitet.] Klammer am linken Rand 1 3 - 1 6 Wenn . . . führen] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 1 5 f einzelne . . . führen] Klammer am linken Rand 17 Abgemacht ... Stunde] Marginalie am rechten Rand

1 f Zur zweiten Benennung vgl. die Vorlesungsankündigung 1811, wo es heißt: „Dialecticen s[ive] artis philosophandi principorum summam" bzw. „Die Dialectik, das heißt den Umfang der Principien der Kunst zu philosophieren" (A. Arndt u. W. Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, S. 306). Die Ankündigungen der folgenden Kollegien enthalten eine solche zweite Benennung nicht. - Zur ersten Vorlesung vgl. auch Nr. 89 (unten S. 18) sowie Nr. 87 (unten S. 17).

12

Erster

Teil. Manuskripte

Schleiermachers

[46.] Ein Schluß ist entweder nur Analyse der einzelnen Elemente einer Anschauung, oder Supplement einzelner Elemente wenn sie fehlen. [47.] Vernichtung des Gegensazes zwischen Erkentniß a priori und a posteriori. Nur wo beides zusammen ist, da ist Wissen. [48.] Das Hauptgesez der Combination ist daß jedem Subject von allen möglichen entgegengesezten Prädicaten eines zukommen muß. Dies muß aber erst belebt und auf einen höheren Gesichtspunkt gestellt werden. [49.] Die Sphäre der Combination ist das zerfallene Anorganische, die Sphäre der Subsumtion ist das geeinigte organische. [50.] Die Combination enthält eigentlich immer nur die Relation des individuellen Lebens zum Allgemeinen. [51.] Besonders und vorn muß ausgeführt werden daß das Leben das eigentliche Object des Wissens ist. [52.] Dies ist wol die wahre Bedeutung des Sazes daß keine Action ohne Reaction ist. [53.] Zwei Punkte des Denkens sind vermittelt durch einen Punkt des Seins. Dies ist das Sezen im Denkenden, die Mittheilung. Zwei Punkte des Seins sind vermittelt durch einen Punkt des Denkens, dies ist das Sezen in der Natur, die Darstellung, die Nachahmung. |

l f Ein ... fehlen.] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 3 f Vernichtung ... Wissen.] durchgestrichen (Erledigungsvermerk) 9 Combination] über (Subsumtion) 9 zerfallene Anorganische] Zerfallene anorganische 15 Dies] am linken Rand verbindende Klammer zum Schluß von Nr. 51. 20 die] korr. aus [das]

Notizen zur Dialektik (1811)

13

[54.] Alles Wissen sezt Parallelism des Denkens und Seins voraus. Also auch im Sein so wie im Denken ein Hinaufsteigen

[55.] Die entgegengesezten Systeme d 22 f einfachen] einfachen. 3 0 f Der Irthum ... begangen.] daneben zwei senkrechte Striche am rechten Rand

4 Vgl. oben S. 191 f S. 193

2 0 f Vgl. oben S. 191

23 Vgl. oben S. 193

2 7 f Vgl.

oben

314

266

Erster Teil. Manuskripte

Schleiermachers

Das ganze Disputationsverfahren mit zusamenfassen in Syllogismen hat keine andere Absicht als nachzuweisen daß immer richtig ist subsumirt worden.

74. Das besondre Urtheil (§ 85) sagt aus die Ungewißhe/t in Beziehung 128; 275 des Prädicats auf das höhere Schema, und hält also den Ueberzeugungszusttfnd in Bezug auf die BegriffsBildung in seinem rechten Maaß. Jedes besondre Urtheil sezt die Möglichkeit eines coordinirten entgegengesezten. Je mehr diese verschwindet desto mehr geht es in allgemeineres über Es kann aber früher ohne Nachtheil allgemein werden, wenn der PrädicatBegr//^ unbestimmt ist (§ 82.) Ζ. B. wenn man blühen nur versteht von dem der Fructification vorangehenden so kann man sagen Alle Pflanzen blühen Indem nun aber die einfachen Urtheile den Begriff zur Erklärung steigern sind sie nur ein einseitiges Verfahren. Schon im ersten Moment wenn in Bezug auf eine organische Erfüllung eines herausgenomen wurde konnte nicht das übrige Null gesezt werden sondern Bestimmung und Gemeinschafthchke/t müssen immer gleichen Schritt gehen. Weil nun d/ese Urtheile auf die Gemeinschafth'chke/t des Seins gar keine Beziehung nehmen sind sie unvollständige In ihnen selbst sind aber wieder zu unterscheiden nach Maaßgabe der intransitiven und transitiven Zeitwörter solche in denen der andre 276 Factor ganz ignorirt wird, z. B. der Baum blüht und solche in denen er nur latitirt d. h. eigentlich chaotisch gesezt wird z. B. der Schriftsteller lehrt, wo jemand vorausgesezt wird oder die Sonne wärmt (§ 87. 86.) Beim intransitiven muß also immer ein Antheil der Gemeinschaftiichkeit (als der eigentlichen U r s a c h e ) anheimgestellt bleiben, und daher der Zwstand nie als im bestirnten Sein allein gegründet gedacht werden | 129 Fortsetzung von 74. Das transitive geht weiter denn es sezt schon eine Sphäre der Gemeinschaftlichkeit. |

4—31 74. Das . . . Gemeinschaftlichkeit.] Marginalie am linken Rand von SN 102, S. 128, beginnend nach § 82 und überlaufend auf den rechten oberen Rand von S. 129 11-13 Z . B. wenn . . . blühen] mit Einfügungszeichen nach dem vorletzten Absatz der Marginalie

4 Vgl. oben S. 193

11 Vgl. oben S. 193

25 Vgl. oben S. 193

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Aufzeichnungen

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zum

Kolleg

315

1828

76. Combination ist in jedem Moment aber je mehr das folgende schon 134; 288 implicite im vorigen gesezt war, je weniger der neue Act Anfang ist um so weniger komt sie in Betracht als technisches Verfahren Und so wie der ursprüngliche erste Act nicht als Combination angesehen werde« kann so auch jeder ihm ähnliche d. h. zwar anfangende aber mit überwiegender Hingebung an den Zustand der organischen Erfüllung und an seine Differenzen. Wie wir nun denken als gegeben voraussezen und zugleich döß dös Chaos daraus erst mit der Erschöpfung des Umfanges verschwindet: so giebt es zwei Formen für gewollte neue Acte, die architektonische und die heuristische. Da aber keine von beiden hinter einander fortgesezt werden kann bis ans Ende so giebt es auch Uebergänge von der einen zu der anderen. Dann verhalten sich also die Regeln für beide Verfahrungsarten an sich wie Construction, die Regeln für den Uebergang aber wie Combination. Für diesen Uebergang aber sind keine Regeln zu stellen, theils weil Unterbrechungen schon vorher erfolgen durch bedingtes Denken und darstellendes theils weil der Uebergang sich in d#s bewußtlose zurükzieht I

1 - 2 0 76. Combination S. 134

...

zurükzieht] Marginalie

am

linken

Rand

von SN

102,

Aufzeichnungen

zum. Kolleg 1831

Dialektik 7. Aufgabe eines mit dem andren zu finden. Verhältniß bei- 482 der zu Kunst und Wissenschaft. Dialektik 8. Plato und Aristoteles. Unsere Aufgabe. Wir werden sie nur approximativ auflösen können. DÖS Verhältmß zur Totalität immer im 5 Auge behalten Dialektik 11. Unsre Unternehmung ist nicht nur für die wenigen welche mit Vernachlässigung sowol des einzelne« Wissens als der anderen 483 Interessen sich der allgemeinen formalen Construction befleißigen. Je mehr solche gleichzeitig desto willkiihrlicher die Darstellung; je mehr 10 Einer sich alle aneignet desto mehr tritt das speculai/Ve Talent zuriik Interesse an einzelnen Zweigen ist wenn nur auf Liebhaberei begründet eigentlich Praxis wenn aber als Berufsart in Bezug auf allgemeine Organisation, dann aus dem Wissensinteresse 12 Theilung findet nicht statt sonst isolirter Empirismus oder Forma15 lismus. Vereinigung ist Widerspruch. Wie dieser zu heben nach marginalie 12. Vereinigungsformel: In jedem gegebenen Denken ist eben so 484 gut der Anfang als die Regel | Dialektik 14. Jedes ist verknüpft weil entweder begriff oder Saz. Erste- lv rer auch Verknüpfung weil theils combinationsfähig mit mehreren 20 theils in Auf un 19 neue Versuch immer] mit Einfügungszeichen am linken Rand 2 3 alles früheren] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt (derselben) 2 4 ihrer eigenthümlichen] ihre eigenthümliche 2 6 f bearbeitenden] korr. aus bearbeiteten 2 7 f als ... kann,] mit Einfügungszeichen am linken Rand 28 unter diese] mit Einfügungszeichen über der Zeile

418

Erster Teil. Manuskripte

Schleiermachers

hervorgehend, doch ihrer Entstehungsart nach, da sie eigentlich, u m es herauszusagen Einfälle sind, sich ganz dem Gebiet des freien oder künstlerischen Denkens anschließen: so werden wir keinen großen Anstand nehmen dürfen zu erklären, d a ß die weiteren Entwiklungen solcher Anfänge so betrachtet einen hohen 5 W e r t h haben können als Kunstwerke, demohnerachtet aber eher geeignet sind Uebergänge zu bezeichnen aus dem künstlerischen D e n k e n in das reine oder wenn m a n will aus der Poesie in die Philosophie, als d a ß sie für Darstellungen des Wissens selbst gelten dürften. Wobei sie allerdings in vollkommnen gutem Recht sein 10 können gegen Versuche anderer A r t , die sich ihnen gegenüberstellen, und die nur als Uebergänge aus dem geschäftlichen Denken in das reine anzusehen sind.

596

3 Was wir nun aber an die Stelle jener Isolirung des reinen D e n kens sezen wollen und wie dies zu verstehen sei, d a ß es früher in den beiden anderen Richtungen des Denkens mit enthalten ist als es allein aufzutreten vermag, das bleibt nun noch näher zu erklären. W i r gehen nämlich davon aus, d a ß die drei Richtungen des D e n k e n s gleich ursprünglich sind, weil alle dreie dem Leben des M e n s c h e n wesentlich, daß sie sich aber erst allmählig bestimmt von einander scheiden, so jedoch, d a ß sobald wir je zwei derselben von einander unterscheiden können wir auch die dritte an ihnen und mit ihnen finden. In den ersten menschlichen Zuständen sind die Keime, d a ß ich so sage, zu diesen drei Richtungen so chaotisch in einander, d a ß uns eben deshalb diese Z u s t ä n d e in ihrer Verworrenheit noch an die Bewußtlosigkeit zu grenzen scheinen. Sobald aber die Empfindungs und Begehrungszustände einen begleitenden Ausdrukk gewinnen, der uns, gleichviel jezt o b mit Recht oder Unrecht, nicht mehr, als eine rein mechanische Rükwirkung erscheint: so sezen wir voraus d a ß diese Z u s t ä n d e vorgestellt werden, und dies schreiben wir dem geschäftlichen D e n k e n zu, insofern dieses die Verhältnisse zwischen dem Einzelwesen und seinen Umgebungen insgesammt ausdrükkt, sowol wie sie sind als wie sie angestrebt werden. Gleichlaufend hiermit wo wir ein Träumen voraussezen unabhängig von mechanischer Wirkung eines innern

9 daß sie] mit Einfügungszeichen am linken Rand 9 selbst] folgt ( z u ) 10 dürften] mit Einfügungszeichen am linken Rand 1 5 - 1 7 in . . . vermag,] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt ( a l s allein in dem anderen i s t , ) 2 9 Unrecht] unrecht 31 f insofern dieses] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt ( w e l c h e s ) 3 2 f seinen Umgebungen] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt ( d e m es umgebenden) 33 ausdrükkt,] korr. aus ausdrükkt. 3 3 f sowol . . . werden.] mit Einfügungszeichen am linken Rand

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Einleitung

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(Reinschrift)

419

Empfindungszustandes da würden wir die ersten Spuren der freien oder künstlerischen Richtung als ein inneres Bilden erkennen, wenn nur nicht der Traum als ein sich jedesmal von dem stetigen Verlauf des Denkens ausschließender Zustand auch von unserer Betrachtung ausgeschlossen bleiben müßte. Sobald nun aber nachdem Schlaf und Wachen vollkommen auseinandergetreten sind, auch im Wachen analoge Bilder und | Vorstellungen entstehen, 7r und von jenen anderen, die auf festgehaltenen Sinneseindrükken beruhen, unterschieden werden, als nicht die Wirklichkeit des Seins zu ihrem M a a ß habend: so sind diese in Wahrheit schon als das freie Bilden und Vorstellen gesezt, woraus sich weiterhin die Anfänge zu künstlerischen Hervorbringungen entwikkeln eben so wie in den anderen schon die Elemente des geschäftlichen Denkens gesezt sind. Diese Unterscheidung aber beruht lediglich dar- 597 auf daß in den zulezt erwähnten immer zugleich schon Gegenstände fixirt werden; womit eben das freie Vorstellen nichts zu thun hat, vielmehr sich als eine Negation des Gegenstandsezens verhält, und nie ein anderes als die vorstellende Thätigkeit selbst ankündigt. In dem Sezen der Gegenstände und des von außen Bestimmtseins aber ist schon eine Richtung auf das Wissen und auf das Bestimmen des Seins. Denn das eben beschriebene Interesse des Subjects hat es nur mit den Zuständen desselben zu thun wie sie durch die momentanen Veränderungen des außer ihm [seienden] bestimmt werden. Daher wir zwar hernach, wenn wir dieses Interesse handhaben wol das Dasein der Gegenstände voraussezen können, aber diese Thatsache des Bewußtseins daß wir

3 nicht der Traum] umgestellt aus der Traum nicht 3 f als . . . auch] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt ( a l s keiner besonnenen Einwirkung unterliegend) 7 auch] mit Einfügungszeichen am linken Rand 8 anderen,] mit Einfügungszeichen über der Zeile 10 sind diese in Wahrheit schon als] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt (erkennen wir in diesen eben s o ) 11 gesezt,] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 12 zu] mit Einfügungszeichen über der Zeile Hervorbringungen] korr. aus Ρ eben so] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 13 anderen] über ( e r s t e n ) schon] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 15 den . . . zugleich] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt (diesen E l e m e n t e n ) 16 womit eben] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt ( d e n n ) 1 6 f nichts zu thun hat, vielmehr] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt (fällt [hievon] a b ) 17 sich] am Zeilenanfang nachgetragen 1 8 f verhält . . . Gegenstände] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 2 0 Bestimmtseins] B e s t i m m t s e i n s ( O ) aber] davor ( H i e r i n ) 21 auf] mit Einfügungszeichen über der Zeile 2 4 werden. . . . wenn wir] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt (sind; d a h e r ) 25 handhaben] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt ( n a c h her) 2 6 können] korr. aus kann 26—420, 1 daß wir Gegenstände sezen] mit Einfügungszeichen am rechten Rand

420

598

Erster Teil. Manuskripte

Schleiermachers

G e g e n s t ä n d e sezen kann nicht in ihm ihren Ursprung haben. Eben so, wenn sich in dem freien Vorstellen das Bestimmtsein von außen verneint, wird nicht zugleich mit verneint, d a ß es mit denselben allgemeinen Gestalten behaftet und darunter befaßt sei unter welchen auch D i n g e gesezt werden; denn freie Bildungen, welche sich fern von diesem Gebiet halten, wie die verschiedenen Z u s a m m e n sezungen von M e n s c h und Thier. Die geflügelten Menschengestalten und dergleichen, so wie auf der andern Seite was wir mit dem N a m e n der Arabeske zu bezeichnen gewohnt sind, reihen wir noch näher an die träumerischen Spiele an. D e r wahre G e h a l t dieser Sonderung aber ist offenbar der, d a ß in jenen Thätigkeiten das freie Bilden dem reinen Denken verwandt gesezt ist, in diesen aber nicht. Ist nun das reine Denken seinem Keime nach schon in dem Sezen von Gegenständen oder D i n g e n : so können wir es auch schon auf das Suchen derselben zurükführen, ich meine auf das willkührliche Umherschweifen des Auges, welches einestheils dem geschäftlichen Denken angehörig den Lichtreizen folgt, zugleich aber auch dem reinen angehörig das Seiende begehrt. Und eben so, ist das reine Denken schon in dem Unterscheiden fantastischer Bildungen des freien Vorstellens von den den bereits a u f g e n o m m e nen Formen des Seins angemessenen freien B i l d e r n : so ist es auch schon in dem auf dieselbe Weise zustandekommenden Festhalten der W a h r n e h m u n g , welches auf der einen Seite dem freien Bilden angehörig diesem Elemente darbietet, auf der andern Seite aber von dem reinen Denken ausgehend sich zu den allgemeinen auf mannigfaltige Weise verschiebbaren Bildern steigert, welche wir auch S c h e m a t a nennen, Und nach denen sich dann die einzelnen W a h r n e h m u n g e n gruppiren. In diesem Sinne behaupten wir, ohne durch das was hier nur beispielsweise angeführt worden ist, etwas für die Folge erschleichen zu wollen, d a ß die R i c h t u n g des reinen Denkens sich schon in jenen frühen ungesonderten Zuständen o f f e n b a r t , zu einer Zeit wo sie in vereinzelter Selbständigkeit noch nicht heraustreten k a n n , weil sie dem eigentlichen d. h. dem sich aussprechenden Denken noch vorangehen. D e n n die Selbständigkeit des reinen Denkens ist an den Besiz der Sprache gebunden;

4 f unter welchen] umgestellt aus welchen unter 6 fern von diesem Gebiet halten] nachgetragen am Zeilenende folgt "(aus die.seti sich entfernten) 8—10 und . . . an.] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt (werden in ein ganz anderes Gebiet gestellt.) 19 das reine Denken] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt ( e s ) 2 0 von den] von dem 25 von] mit Einfügungszeichen über der Zeile 2 6 steigert] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 28—30 ohne . . . wollen,] mit Einfügungszeichen am rechten Rand

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Einleitung

(Reinschrift)

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und wenn sie sich hier zuerst vielleicht auf ausgezeichnete Weise in dem Gebrauch solcher allgemeinen Benennungen zeigt, welche nicht nach den Beziehungen der Dinge zu dem Menschen sondern nach deren inneren Verhältnissen unter sich eingerichtet sind: so sind dieses doch nur Fortentwiklungen jener früheren M o m e n t e . Will man also diesen Punkt übergehend erst weiterhin irgend einen Act als den Anfang des reinen Denkens sezen: so wird sich immer nachweisen laßen, daß dieser selbst schon auf früherem ruht, worin das reine Denken auch schon gewesen ist. Wir können mithin dieses nur auffassen als eine ursprüngliche sich fortschreitend in allem Denken realisirende Richtung. Und wie dasselbe in seinem ganzen Verlauf immer zugleich für die beiden anderen ist, als welche sich immer nur an den Resultaten des reinen Denkens fortentwikkeln so ist es auch von Anfang an eben so in ihnen gewesen, wie es auch ursprünglich für sich war. Wie denn auch auf der andern Seite, nur daß diese Beziehungen hier nicht aufzunehmen und weiter durchzuführen sind, schon aus dem gesagten geahndet werden muß, daß in jedem Act des reinen Denkens auch die beiden anderen Richtungen immer auf irgend eine Weise mitgesezt sind. Und wenn jezt nichts leichter ist als in dem entwikkelten Zustand des Bewußtseins an jeder Thätigkeit zu unterscheiden, was der einen und was der anderen Richtung des Denkens angehört: so tritt doch diese Bestimmtheit aus der Verworrenheit der frühesten Bewußtseinszustände nur so allmählig hervor, daß es nicht möglich ist zwei aneinander liegende M o m e n t e nachzuweisen, in deren erstem das reine Denken noch nicht gewesen, in dem andern aber schon sei, mithin können wir immer nur von der Annahme ausgehen, daß das Wissenwollen schon in den ersten Lebensthätigkeiten des Menschen immer mitgesezt ist, wenngleich

1 auf ausgezeichnete Weise] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 4 deren] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt ( i h r e n ) 6 diesen] korr. aus diesem davor (von) übergehend erst] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt (erst irgendwo) 8 schon] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 9 das reine Denken] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt ( e s ) 10 dieses] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt ( d a s reine Denken) 1 3 f als . . . fortentwikkeln] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 15 war.] korr. aus war, Wie] korr. aus unleserlichem Wortansatz 16 auf der andern Seite] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 1 7 f schon ... daß] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 18 auch] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 2 0 f dem ... an] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 24 nur] am Zeilenende nachgetragen 17 f können ... ausgehen] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt (immer behauptet werden k a n n )

Erster Teil. Manuskripte

422

Schleiermachers

nur als ein kleinstes, und d a ß es sich stetig fortentwikkelt, ohne sich, ohnerachtet aller Veränderungen die es durchgeht jemals so loszureißen d a ß irgend ein neuer A n f a n g alles frühere gleichsam ungeschehen machte und zerstörte. | 7" 5. Eine Anleitung von jedem Punkt aus, auf welchem wir uns im reinen Denken finden, den Streit aufzulösen mithin das Wissenwollen seinem Ziel zuzuführen, k a n n nur mit dem Versuch beginnen, wie aus dem G e h a l t jeder reinen Denkthätigkeit ein außer dem Streit liegendes Denkens entwikkelt und gesondert werden k a n n . 1. Vor der näheren Erörterung dieses Sazes muß erst ein Bedenken aus dem Wege geräumt werden, wozu vielleicht das früher gesagte die Veranlassung geben k a n n . M a n könnte nämlich sagen, die D i a l e k t i k , wie wir sie § 1 bestimmt haben, sei allerdings etwas sehr nüzliches, und auf dem Gebiet des reinen Denkens in jedem einzelnen Falle, wenn ein Streit wirklich entsteht, wohl zu gebrau600 chen ja unentbehrlich; auch könne sie wol a u f die hier gestellte Voraussezung zurükk gehen, und sie irgend wie zum Grunde legen, nur streitfreies Denken selbst zu entwikkeln, das dürfe nicht ihre Sache sein, indem diese Aufgabe innerhalb des Gebietes des reinen Denkens selbst liege, die Dialektik aber, je nachdem man es nehmen wolle, dem geschäftlichen oder dem künstlerischen Denken angehöre, welche beide wir selbst von dem reinen gesondert hätten. D e n n auf der einen Seite sei es ein Geschäft den Streit zu schlichten, mithin müßten auch alle dabei anzuwendenden Regeln die N a t u r des geschäftlichen Denkens an sich tragen. Auf der anderen Seite k ö n n e man sagen liege diesem Geschäft das Wohlgefallen an der zunehmenden Uebereinstimmung zum G r u n d e ; sofern also die dialektischen Regeln allerdings auch aus dem Wesen dieses b e s t i m m t e n Geschäftes zu nehmen wären, würden sie dem künstlerischen Denken anheim fallen. D e n n die Schlichtung des Streites sei auch ein solcher m o m e n t a n e r Act, in welchem das Subject auf diese besondere Weise durch das Bewußtsein der wiederhergestellten Uebereinstimmung zeitlich erfüllt ist, und die dialektischen Regeln könnten gar wol, wie andere technische Säze, auf

1 sich] folgt ( s o ) 7 mit dem Versuch beginnen, wie] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt (von der Voraussezung ausgehn, daß) 17 zurükk] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt (aus) 29 dieses bestimmten] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt (des)

13 Vgl. oben S. 393

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Einleitung

(Reinschrift)

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guten Beobachtungen darüber beruhen auf welchem Wege dieses Bewußtsein zu erreichen sei. Da aber nach § 3 das reine Denken in der Beziehung auf das Sein zunächst sein Wesen hat: so könne streitfreies Denken in diesem Sinn zu entwikkeln niemals das Geschäft der Dialektik sein, die es nur mit den Verhältnissen der im Act des Denkens begriffenen denkenden Subjecte zu einander zu thun hat. - Beides nun, sowol daß die Schlichtung des Streites als ein Geschäft betrachtet werden kann, als auch daß die dialektisch bewirkte Uebereinstimmung ein Wohlgefallen erregt, welches dem an Kunstwerken ähnlich ist, hat eine untergeordnete Wahrheit. Aber es liegt darin nur die besondere Anwendung dessen auf die Dialektik, was wir schon für alles reine Denken beiläufig zugegeben haben, daß nämlich in demselben die beiden andern Richtungen immer zugleich mitgesezt sind. Denn denken wir uns eine Zusammenstellung von streitfreien reinen Denkthätigkeiten zu einem Ganzen: so wird auch diese ein solches Wohlgefallen erregen, ohne daß daraus gefolgert werden dürfte daß diese Denkthätigkeiten ihrem Gehalt nach betrachtet keine Beziehung auf das Sein hätten. Eben so könnte man jede Ausfüllung eines vorher nur im allgemeinen gesezten Ortes im Wissen wie ζ. B. die ordnungsmäßige Zusammenstellung der verschiedenen Formen des irdischen Lebens um so den Begriff des Lebens auszufüllen als ein Geschäft ansehen. Mithin ließe sich auf dieselbe Weise jedes Verfahren im reinen Denken bei den anderen beiden Formen unterstellen, woraus schon hervorgeht, daß die Einwendung zuviel beweiset, denn niemand der nicht dem Skepticismus huldigt wird sich dadurch abhalten lassen, das reine Denken als eine dritte von jenen beiden verschiedene Richtung im Denken anzuerkennen. Wollen wir aber der Einwendung auch gradezu entgegentreten, um so der Dialektik ihren Ort im Gebiet des reinen Denkens und damit zugleich auch das Recht zu jenem Versuch [zu\ sichern: so dürfen wir nur die Beschaffenheit des Geschäfts und der Verhältnisse der denkenden Einzelwesen, von denen hier die Rede sein kann, näher betrachten. Denn was das erste anlangt: so haben wir schon nachgewiesen, daß der Streit über das Denken nur geführt wird, sofern es

2 f in der] korr. aus die 3 zunächst sein Wesen hat] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt (voraussezt) 5 f im ... Subjecte] umgestellt aus denkenden Subjecte im Act des Denkens begriffen 6 begriffenen] korr. aus begriffen 26 der ... huldigt] mit Einfügungszeichen am linken Rand 2 Vgl. oben S. 408

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Erster Teil. Manuskripte

Schleiermachers

auf das Sein bezogen werden soll. M u ß also etwas in den dialektischen Regeln von dem Wesen des Geschäftes ausgehn: so muß eben dieses die Beziehung des Denkens auf das Sein betreffen. D i e Abneigung dieses zuzugestehen und die Trennung dessen, was m a n im engeren Sinn Logik nannte, von d e m , was M e t a p h y s i k hieß, ist wesentlich eines und dasselbe. Die Logik in diesen Schranken folgerecht gehalten kann nur solche Regeln zum Verfahren im Denken hervorbringen, welche zu irgend welchem Inhalt desselben gar kein Verhältniß haben. Solche können dann nur die F o r m betreffen, und daher auch höchstens nur Mißverständnisse aufdekken, die auch von selbst leicht zum Vorschein komm e n ; sie sind aber so weit entfernt zur Auflösung des eigentlichen Streites beizutragen, daß sie nicht einmal die Entstehung neuen Streitstoffes zu verhindern vermögen. D e n n wenn der eine A mit b und der andere dasselbe A mit einem b ausschließenden c zusamm e n d e n k t , woraus nothwendig früher oder später Streit entstehen m u ß : so wird der Widerspruch nicht unmittelbar durch die Anwendung der logischen Regeln entdekkt, sondern erst wenn eine Veranlassung entsteht b und c auf einander zurükkzuführen. D a her versagen diese Regeln bei jedem ursprünglichen Z u s a m m e n denken ihren Dienst, und es | bleibt kein anderes Fortschreiten im Denken übrig als von solchen Anfängen die nicht nach diesen Regeln zu prüfen sind; das heißt wir müssen uns mit den willkührlichen Anfängen in allen Gebieten des Wissens begnügen. Denn wollte man die Forderung dahin erweitern, d a ß nur solche Aussagen Ab, Ac mit einander in Verbindung gebracht werden dürften in welchen das ausgesagte b und c unmittelbar aufeinander zurükkgeführt werden k ö n n e : so hörten alle vermehrenden Fortschritte im Denken auf, und alles wäre nur E n t w i k l u n g eines willkührlich angefangenen und nicht zu prüfenden Denkens in und aus sich selbst oder mehrerer solcher unter sich nicht verbundener D e n k a c t e , mithin bliebe jedes denkende Einzelwesen vollständig in seiner eigenen oder eines anderen, dem es sich angefügt hätte, Einzelheit befangen. Und auf diese Weise freilich könnte es dahin

6 diesen] korr. aus diesem 7 Schranken] mit Einfügungszeichen am linken Rand statt (Sinne) 21 bleibt] über ( g i e b t ) 2 2 übrig] mit Einfügungszeichen über der Zeile 2 9 f willkührlich angefangenen] korr. aus willkührlichen angefangen 3 0 Denkens] über der Zeile 3 1 f oder . . . Denkacte] mit Einfügungszeichen am rechten Rand 3 1 unter sich nicht verbundener] mit Einfügungszeichen über der Zeile 3 2 jedes] korr. aus jeder denkende Einzelwesen] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt ( E i n z e l n e ) 33 anderen,] Komma nachgetragen dem es sich angefügt hätte,] mit Einfügungszeichen am rechten Rand

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(Reinschrift)

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k o m m e n , d a ß bei der V e r s c h i e d e n h e i t m e h r e r e r s o l c h e r u r s p r ü n g l i c h e r G r u n d g e d a n k e n die W a h l z w i s c h e n d e n s e l b e n e i n e G e s c h m a k k s s a c h e w ü r d e , u n d d a s W o h l g e f a l l e n a n der U e b e r e i n stimmung ganz dem an einem Kunstwerk ähnlich würde, wie auch die E r f a h r u n g es l e h r t bei der M e h r h e i t p h i l o s o p h i s c h e r S c h u l e n u n d von v e r s c h i e d e n e n G r u n d a n n a h m e n a u s g e h e n d e r S y s t e m e in andern Wissenschaften. D a h e r allerdings die beiden T h e i l e der E i n w e n d u n g u n t e r sich z u s a m m e n h ä n g e n , a b e r n u r a n d e m w a s d a r a n f a l s c h ist. D e n n es v e r h ä l t sich e b e n s o , w e n n w i r d e n á n d e ren T h e i l f ü r sich b e t r a c h t e n . F r a g e n w i r n ä m l i c h , v o n w a s f ü r 603 V e r h ä l t n i s s e n d e r d e n k e n d e n E i n z e l w e s e n die R e d e sei bei d e r G e s p r ä c h f ü h r u n g i m G e b i e t des r e i n e n D e n k e n s : s o sind es k e i n e s w e ges s o l c h e , w e l c h e die E i n z e l h e i t d e r s e l b e n a u s d r ü k k e n v i e l m e h r soll die E i n w i r k u n g von dieser i m G e b i e t des r e i n e n D e n k e n s s o weit a u f g e h o b e n w e r d e n , d a ß sie sich n u r in d e m j e n i g e n z e i g t , w a s der k ü n s t l e r i s c h e n o d e r g e s c h ä f t l i c h e n S e i t e a n g e h ö r t . D e n n b e i d e h a b e n u n d b e h a l t e n ihren A n t h e i l a n den Z u s a m m e n s t e l l u n g e n des G e d a c h t e n , w e l c h e theils f ü r b e s t i m m t e Z w e k k e k ö n n e n e i n g e r i c h t e t w e r d e n , theils a u c h g a n z die N a t u r von K u n s t w e r k e n a n sich t r a g e n ; die D i a l e k t i k h i n g e g e n h a t es m i t der B e r i c h t i g u n g des e i n z e l n e n streitig w e r d e n d e n D e n k e n s zu t h u n ; u n d s o f e r n sie a n d i e s e m ihr W e r k v o l l b r i n g t , w i r d die V e r s c h i e d e n h e i t d e r D e n k e n den a u f g e h o b e n , i n d e m d a s n a c h A u f l ö s u n g des S t r e i t e s in d e r S p r a c h e f e s t g e w o r d e n e D e n k e n nur die S e l b i g k e i t des d e n k e n d e n S e i n s in d i e s e m S p r a c h k r e i s e , u n d von d a weiter, a u s d r ü k k t . M i t hin h a b e n w i r es h i e r a u c h g a r n i c h t m i t e i n e m E r f ü l l t s e i n des d e n k e n d e n E i n z e l w e s e n s als s o l c h e n in e i n e m b e s t i m m t e n M o m e n t zu t h u n , i n d e m d a s g e w i s s e n o t h w e n d i g a u c h ein u n z e i t l i c h e s w i r d , weil es in a l l e n M o m e n t e n nur als d a s s e l b e gesezt sein k a n n . V i e l m e h r ist das W o h l g e f a l l e n an j e d e r U e b e r e i n s t i m m u n g i m G e b i e t des reinen D e n k e n s n u r die F r e u d e a n d e r E r s c h e i n u n g d e r S e l b i g keit des d e n k e n d e n Seins, w o b e i dieses o b die U e b e r e i n s t i m m u n g in A n d e r n s c h o n ist o d e r n i c h t g a r n i c h t in B e t r a c h t k o m m t . W o g e g e n bei j e d e r U e b e r e i n s t i m m u n g in G e s c h m a k k s s a c h e n a l l e mal das Bewußtsein, daß Andere anders empfinden eine das G e p r ä g e der S u b j e c t i v i t ä t an sich t r a g e n d e v e r b i n d e n d e K r a f t ä u ß e r t . U e b e r s i e h t m a n diesen U n t e r s c h i e d : d a n n freilich k a n n m a n d a h i n k o m m e n a u c h die D i a l e k t i k n u r f ü r e i n e n b e s t i m m t e n G e s c h m a k k

9 daran] über (in ihnen) 14 f soweit] mit Einfügungszeichen beide] mit Einfügungszeichen am rechten Rand statt (diese) [g] 27 als solchen] mit Einfügungszeichen am rechten Rand

am rechten Rand 18 können] korr.

16 aus

426

604

Erster Teil. Manuskripte

Schleiermachers

einrichten zu wollen, dessen besonderes Princip sie dann an ihrer Spize trägt als einen Saz, den i m m e r nur Einige a n n e h m e n , während Andere ihm einen andern entgegenstellen. Von beiden Seiten der aufgestellten Einwendung aus k o m m e n wir also dahin, d a ß unsere Aufgabe allen Einfluß der Besonderheit ausschließt, sowol wenn wir sie als Geschäft betrachten als auch wenn wir auf das der Lösung desselben anhaftende Wohlgefallen sehen. M i t h i n bleibt die Dialektik von Anfang bis zu E n d e in dem Gebiet des reinen D e n k e n s , und kann aus diesem M o m e n t gegen den Versuch w o m i t sie anfangen muß, nichts eingewendet werden. 2. Aus dem gesagten folgt aber auch schon weiter, d a ß eben so wenig als sich das Wissen aus schlechthin neuen Anfängen entwikkeln k a n n , wie wir bereits gesehen, eben so wenig würden wir unser Ziel erreichen, wenn wir aus dem vorhandenen aber streitigen reinen D e n k e n einzelne beliebige Säze als streitfreie herausheben und an die Spize stellen wollten, indem uns dieses nothwendig in das Gebiet der Besonderheit zurükfiihren müßte. D e n n wollten wir hiezu eine M e t h o d e suchen, und o h n e diese wäre das Verfahren nur ein Einfall, d. h. das allerbesonderste: so werden wir zuerst doch feststellen, d a ß keiner einen Saz hiezu wählen wird der ihm selbst schon streitig geworden wäre oder auch den er im Z u s a m m e n h a n g mit streitigem Denken wüßte. Aber da auch ein anderer Anknüpfungspunkt sich nicht denken läßt so folgt schon selbst, d a ß jede hieraus hervorgehende Wahl mit der besondren Denkgeschichte des wählenden zusamenhängen muß [ ]

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe II. Abt. Band 10,2

W DE G

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Hermann Fischer und Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge

Zweite Abteilung Vorlesungen Band 10 Teilband 2

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Vorlesungen über die Dialektik Teilband 2

Herausgegeben von Andreas Arndt

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

Bearbeitet in der Schleiermacherforschungsstelle Berlin

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3 - 1 1 - 0 1 7 2 0 9 - 7 Bibliografische

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Der Deutschen

Bibliothek

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Inhaltsverzeichnis

Vorlesungen über die

Dialektik

Zweiter Teil. Vorlesungsnachschriften Kolleg 1811. Nachschrift Twesten Kolleg 1818/19. Nachschrift Anonymus Kolleg 1822. Nachschrift Kropatscheck

1 3 99 395

Anhang Kolleg 1811. Manuskript Twesten Kolleg 1828. Nachschrift Schuhring Kolleg 1831. Nachschrift Erbkam

707 709 719 725

Verzeichnisse Abkürzungen und editorische Literatur Personen

797 799 801 811

Zeichen

Zweiter Teil Vorlesungsnachschriften

Kolleg 1811 Nachschrift Twesten

Schleiermachers D i a l e k t i k (1811 Sommer)

Schleiermachers

Dialektik.

lr

Ueber dem Systeme coordinirter Wissenschaften muß es gewisse ihnen gemeinsame Principien, eine Architectonik für dieselben geben. So sehr man in allen diesen aber Einheit erwarten sollte, so wenig ist sie doch wirklich vorhanden; und ihre Verschiedenheit verbreitet ihren Einfluß über alle andren Wissenschaften. Ueber diese ersten Principien ohne Rücksicht auf das Reale zu philosophiren, scheint etwas Unerfreuliches und für die Wissenschaft Gefährliches, besonders wenn es wohl gar eine Art von Gegensatz zwischen der Speculation und dem realen Wissen zur Folge hat. Während einige der Meinung sind, daß von der Speculation alle wissenschaftliche Bildung anheben müsse, wollen andre sie ans Ende derselben stellen, wo sie weniger im Stande sey, von dem Wirken ins Leben hinein abzuhalten. Nur durch die Bekanntschaft mit den ersten Principien wird Empirie und Schlendrian auf der einen, Willkührlichkeit auf der andren Seite vermieden. Viele Willkührlichkeit scheint nun zwar auch aus der Speculation in neuren Zeiten hervorgegangen; dies war aber nicht ihre Schuld, sondern Schuld ihrer Isolirung, des eigentliehen Fehlers, wovor zu warnen ist. Der wissenschaftliche Geist überhaupt und das Talent für die ersten Principien sind nicht verschieden, das spekulative Talent steht also für sich in gar keiner Opposition mit dem Talent fürs Reale, nur seine Isolirung wirkt zerstörend, und beide sind immer nur mit einander zu üben.

1.

Stunde

2. Der N a m e Dialektik ist gewählt, theils, weil ein andrer leicht die 2. Meinung hätte erregen können, als gehöre diese Darstellung in den Kreis einer gewissen Schule, die sich diesen andren gewählt hätte, theils, um das Eigenthümliche derselben mit zu bezeichnen. Unter Dia30 lektik verstehn wir nämlich die Principien der Kunst zu philosophiren.

Stunde

5

lo

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2 D i a l e k t i k . ] am Rand:

2 6 - 2 8 Anspielung

Heft

auf F ich tes

1.

21 Geist] Geist und

Wissenschaftslehre

2 6 2.] am rechten

Rand

6

v

Zweiter Teil.

Vorlesungsnachschriften

Sowohl den unmittelbaren Untersuchungen über die Principien des Wissens als den fragmentarischen über einzelne Gegenstände legt man den Namen des Philosophirens bey. In beiden Fällen sucht man eine Erkenntniß zu Stande zu bringen, die sich auf die Principien des Wissens bezieht. Denn auch die einzelnen Gegenstände, über welche ein Nachdenken Philosophiren genannt wird, müssen von der Art seyn, daß eine wissenschaftliche Ansicht dadurch bestimmt wird. Alles Philosophiren ist also ein gesetzmäßiges Construiren einer Erkenntniß, die allemal von der Art ist, daß eine Wissenschaft, überhaupt oder eine einzelne, dadurch bestimmt wird. Das Philosophiren ist das Zustandebringen einer Erkenntniß, verbunden mit dem klaren Bewußtseyn ihrer Zustandebringung; es fällt daher in die Kategorie der Kunst. Ihr Product ist daher auch ein Kunstwerk; denn ein Kunstwerk ist ein Einzelnes, in dem sich das Allgemeine unmittelbar darstellt, und in dem ein Unendliches enthalten ist. In jedem Einzelnen, was auf dem Wege des Philosophirens entsteht, liegt zugleich das höchste Allgemeine, das Princip, nach dem es zu Stande kam; in jedem Einzelnen aber, was auf andrem | Wege entsteht, ist immer ein subjectives Element. Bey jeder andren Kunst tritt zwischen das Darzustellende und die Darstellung ein Medium, das die Reinheit derselben trübt. So ist es nicht hier. Deswegen, und weil es die Idee aller andren Künste unter sich subsumirt, ist das Philosophiren, die Production des Erkennens, die höchste Kunst. Sind aber die Principien dieser Kunst des Erkennens und die Principien des Wissens dieselben? Zwischen Wissenschaft und Kunst ist zwar ein Gegensatz, der aber immer mehr sich zu verringern scheint, je höher man aufsteigt. Man könnte sagen, etwas andres wären die Principien, auf denen, etwas andres, nach denen man die Wissenschaft konstruire. Dieser Gegensatz fällt aber bey den höchsten Principien weg; es kann z. B. niemand die Idee von Gott haben, ohne zu wissen, wie dies Höchste dem Einzelnen eingebildet werden kann, wie die Relation desselben zur Welt sey. Mit den höchsten Principien des Wissens ist zugleich die Art gesetzt, wie man es im Einzelnen anschaut und das Einzelne draus producirt. Freylich wird man die eigentlichen Principien der Construction von den bloß technischen Regeln unterscheiden können; aber dis zugegeben, findet kein Gegensatz weiter statt, wenn nicht die Kenntniß eine rein negative seyn soll.

2 0 das Darzustellende] dem Darzustellenden

2 1 derselben] desselben

2 2 es] sie

Kolleg

1811

7

Das Höchste und Allgemeinste des Wissens also und die Principien des Philosophirens selbst sind dasselbe. Transcendentalphilosophie und Formalphilosophie also sind, wenn sie etwas Reales enthalten sollen, dasselbe. Constitutive und regulative Principe lassen sich also 5 nicht mit Kant unterscheiden.

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3. Diesem Begriffe ganz angemessen ist der Name der Dialektik, wel- 3. eher bey den Alten gerade diese Bedeutung hatte. Denn der Gegensatz zwischen der realen Wissenschaft und der Philosophie war bey den Alten nicht vorhanden. Die Philosophie befaßte bey ihnen die Ethik, Physik und Dialektik, welche letztere die Principien beider enthielt. Beym Plato enthält die Dialektik sowohl die Regeln der Construction der Wissenschaft, als die Lehren von dem όντως ov und dem αγαθόν, insofern sie noch in Keines der Gebiete der beiden übrigen Disciplinen übergegangen sind. Der Name bezieht sich auf die Kunst, mit einem andren zugleich eine philosophische Construction zu vollziehn. In der sokratischen Schule trat der Dialog an die Stelle der willkührlichen Diatriben der Sophisten, und für sie waren daher die Principien für diesen und der Construction überhaupt dieselben. Zugleich wurde dadurch die Allgemeingültigkeit dieser Principien dargestellt. Die Dialektik war zugleich Kritik, und enthielt die Kriterien, nach denen man, was Wissenschaft war oder nicht, erkennen konnte. Diese Seite der Dialektik ist nur ein natürlicher Ausfluß der beiden Theile, die nothwendig in der | Dialektik gesetzt sind. 2r Was in neuren Zeiten Metaphysik und Logik hieß, war nichts, als diese beiden Theile der Dialektik isolirt, und deswegen ihres eigentlichen Lebens beraubt; deswegen gab es keine Brücke mehr von der Metaphysik zur Physik und Ethik; dadurch entstand der Fehler, den man durch den Namen des Transcendenten bezeichnet; sie war in dieser Trennung etwas durchaus nicht Festzuhaltendes. Eben so leer und zu Nichts führend war auf der andren Seite die Logik, und so folgte aus dieser Trennung der Tod der Philosophie. Die Dialektik ist also die Identität des höchsten und allgemeinsten Wissens selbst und der Principien der wissenschaftlichen Construction. In der Darstellung aber kann nun das Eine oder Andere relativ hervortreten, und muß es in jeder wirklichen Darstellung vermöge der be-

6 3.] am

Rand

4f Vgl. den Sachapparat

zu KG A 11/10, 1, S. 80, 21 f

Stunde

8

Zweiter Teil.

Vorlesungsnachschriften

sondren Natur des Darstellenden. So wird hier die Dialektik besonders aus dem Gesichtspuncte der philosophischen Kunstlehre erscheinen. 4. Die Dialektik in diesem Sinne kann mit Recht das Organon aller Wissenschaft heißen. Sie ist gewissermaßen im Verhältniß zur ganzen Wissenschaft, was das gegebene Centrum und größte Peripherie zu einer Kugel ist. Mittelst ihrer kann man jedem einzelnen Satze seinen Ort anweisen, finden, welcher organische Theil des Ganzen er ist; sie ist also insofern gewissermaßen das Supplement der Kenntniß des Ganzen. Sie ist daher nicht auf ein einzelnes Talent, sondern nur auf dem allgemeinen wissenschaftlichen Sinn basirt, und macht es möglieh, das, was das Talent hervorgebracht hat, sich anzueignen. Und nur vermittelst dieses Organons ist ein eigentliches Wissen möglich, zu welchem durch das bloße Talent nur eine Annäherung möglich ist. Auch ist die Dialektik es, welche die Mittheilung, den Umtausch der Ideen bedingt. Die Leichtigkeit alles Verstehns hängt von ihr ab. Denn durch sie muß man jede Vorstellung konstruiren können, und zwar so, daß man das Wahre in ihr und den Irrthum zu unterscheiden im Stande ist. Es wird sich kein Wissen aufzeigen lassen, das nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Organon stünde, wenn es auch in ein wissenschaftliches Ganze noch nicht aufgenommen ist. Daher das Interesse der Dialektik, weil jeder strebt, das Besondere, was er mittelst seines besondern Talents gefunden hat, an das Allgemeine anzuknüpfen; es verhält sich demnach als das Allgemeine zum Individuellen; weil man mittelst ihrer aber nur reproduciren kann, so ist sie an sich und von dem Besondren getrennt auch nur leer. Es giebt keine solche Entgegensetzung des höchsten und des gemeinen Wissens, als oft angenommen wird. Ehe wir an unser Geschäft gehn, haben wir noch einen Blick zu werfen auf den Skepticismus, der alles Wissen leugnet. Durch dieses leugnen behauptet der Skeptiker, | 2v daß die Idee des Wissens eine leere Rubrik sey, unter die nichts subsumirt werden könne. Principien der Gedankenverbindung muß der Skeptiker wenigstens anerkennen, und gegen die Dialektik ficht er daher nicht. Da er nun ferner doch ein Wissen zu haben behauptet, nämlich, daß man nichts wisse, so muß sich doch schon hieraus ein Mannigfaltiges ergeben. Eine milder lautende Form des Skepticismus ist daher: man könne nicht wissen, ob man etwas wisse oder nicht. Er zeigt dem gemäß, wie jedem einzelnen Behaupten ein anderes einzelnes entgegensteht, was es

4. Stunde

2 erscheinen.] erseinen zelne

3 4.] am Rand

2 0 auch] auch noch

3 8 einzelnes] ein-

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aufhebt. Aber eben dadurch erkennt er schon ein Aehnliches an, und also ein höchstes Gesetz der Einheit. Wenn also in seinem Behaupten ein Wahres liegt, so muß dies im Gebiet des Realen liegen, aber nicht in dem, womit wir es zu thun haben. Die Wahrheit aber ist, daß kein Ein5 zelnes der Idee ganz entspricht. Auch läßt der Skepticismus die Idee des Wissens stehn, und selbst stehn als ein Lebendiges, nach dem man strebt; denn wenn er diese Idee nicht anerkennte, müßte er nur sagen, sie sey etwas, was er schlechthin nicht einsehn könne. Auch von dieser Seite sind wir also 10 mit dem Skepticismus außer aller Berührung.

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5. Um das Verhältniß des Menschen zur Welt zu sichern, statuirt man- 5 . Stunde eher ein Analogon des Wissens, man mag es nun Glauben oder Meinen nennen, worauf die Thätigkeit des Menschen sich gründen kann. Ein solche sekundaires Wissen müßte ein andres seyn, als was aus den höchsten Principien sich ergäbe. Das Bewußtseyn also, worin es vorkömmt, muß ein ganz andres seyn, und so wird also ein zwiefache Aeußerung der menschlichen Natur gesetzt. Sieht man auf den Inhalt der Kenntnisse, so ist diese doppelte Sphäre nicht aufzuweisen; sieht man auf die Potenz des Bewußtseyns, so würde ein Unterschied stattfinden zwischen denen, die im Besitz der Speculation sind, und die es nicht sind. Einen solchen Unterschied erkennen auch die an, die sich mit uns dem Skepticismus widersetzen. Dieselbe Spaltung muß man aber auch im Bewußtseyn dessen erkennen, der im Besitz des absoluten Wissens ist. Die Einheit des Lebens ist also dadurch aufgehoben; das reine Wissen geht neben dem gemeinen her, und aus dem einen kann das andre nicht konstruirt werden. Alles Wissen hängt ab von einem ursprünglichen Wissen, womit zugleich die Gesetze aller Construction des Wissens gegeben sind. Davon gehn wir aus. Es scheint also, als müsse man, ehe man dis höchste Wissen besäße, nichts andres wissen können. Dis widerspricht aber der Erfahrung nicht nur des Einzelnen sondern auch ganzer Völker. Wie kann denn nun das Wissen, was vor dem Wissen des Höchsten vorherging, mit dem, was aus demselben hervorging, gleich seyn? Hier muß man entweder eine zwiefache Natur des Wissens anerkennen - aber durch die Erlangung des absoluten Wissens scheint gar keine Differenz in dem realen Wissen einzutreten; ja, man kann selbst nicht sagen, daß die wissenschaftliche Gestalt desselben aus der Erlangung des höchsten Wissens | hervorginge, sie entsteht vielmehr durch größren Reichthum 3r

6 Skepticismus] Spepticismus lichen

11 5 . ] 4 . am Rand

3 7 wissenschaftliche] wissenschaft-

10

Zweiter Teil.

Vorlesungsnachschriften

der Materialien — oder es muß zwey Arten geben, wie man das höchste Wissen besitzen kann. Und dies ist der Fall. Denn wollen wir durch Aufsuchen der höchsten Principien uns erst in den Besitz von etwas setzen? wir setzen es vielmehr schon als seyend voraus, und wollen nur zum Bewußtseyn desselben gelangen; es ist in allem unsrem Wissen, aber vorher auf unbewußte Art und nur unter der Form der Thätigkeit; es ist zwar das eigentliche Agens, aber wird nicht mit ins Bewußtseyn aufgenommen. So können wir also die Art, wie ein Wissen in uns ist, so wie es zuerst ward, und als die Aufgabe mit sich führend, es mittelst der höchsten Principien in die Form der Wissenschaft aufzunehmen, nicht specifisch verschieden nennen, und so ist auch, da auch in dem Speculativen manche Elemente die untergeordnete, und in dem andren manche die vollkommnere Form an sich tragen, zwischen beiden nur ein relativer Gegensatz. Auch muß ja, da in der Zeit ein Werden aus dem Nichts undenkbar ist, immer schon, wenn auch nur ein Minimum da seyn, woran sich das höhere Verfahren des Speculirenden anschließen kann. Auf keine Weise ist aber der Unterschied ein solcher, daß einer mittelst seiner Natur zu dem spekulativen Wissen prädestinirt, der andre davon ausgeschlossen sey; in allen ist es als eine Kraft, die zum Bewußtseyn erhoben werden kann; es ist in allen, so wie in dem in regelmäßigen Formen angeschoßnen und dem derben Kristall, ein und derselbe Stoff. Alles also, was ein Wissen ist, wenn auch nur der Form nach, ruht auf dem jetzt gesuchten absoluten Wissen und den sich daraus ergebenden Principien der Construction, und ist durch ihre Kraft hervorgebracht. . Stunde

6 Noch eine Schwierigkeit ist uns zu beseitigen. Es könnte jemand sagen, wie wir denn zu den höchsten Principien kommen wollten, da wir doch nicht anders als ohne dieselben zu ihnen kommen könnten? Alles, was bey den Alten die Eristik ausmachte, dreht sich hier herum, daß man doch, um zum Wissen zu kommen, vorher ein Wissen vom Wissen haben müsse. Setzt man eine specifische Verschiedenheit der Principien des Wissens und der Construction, so ist hier schwer herauszukommen. Man könnte etwa den Ausweg ergreifen, die Nichtigkeit des Einen vorauszusetzen, annehmend, daß, wenn es falsch wäre, sich wohl bald der Widerspruch zeigen würde; allein die Construction ist nie vollendet, und so kann bey der weitren Durchführung früher oder später der Widerspruch an den Tag kommen. Nimmt man Transcendentales und Formales für Eins, so antworten wird, daß wir, da der Grund des ursprünglichen Wissens und jedes andern derselbe ist, für

9 und ... führend,] Kj und wie es die Aufgabe mit sich führt,

2 6 6] 5 am

Rand

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das höchste Wissen nichts andres halten können, als was an jedem gegebenen Wissen die Form des Wissens ist; und daß wir in diesem zugleich das transcendental und formal höchste finden. Wir haben also nur die Idee des Wissens überhaupt zu analysiren. Nun könnte man etwa sagen, ohne das höchste Wissen zu haben, wüßten wir ja nicht, ob ein Einzelnes ein Wissen sey. Aber alles, was mir als Wissen erscheint, ist uns in der Hinsicht homogen; um im einzelnen Wissen das Absolute zu finden, müssen wir ja gerade vom Inhalt abstrahiren; was also möglicher Weise irrig seyn | kann, das geht in unsere Untersuchung nicht 3v ein. Die Annahme freylich, daß in allem einzelnen Wissen das absolute enthalten sey, ist nicht von gleicher Dignität, als das gesuchte Wissen selbst, obgleich nothwendig, um eine Handhabe zur Auffindung des Absoluten zu erhalten. Insofern sehn wir hier die relative Wahrheit der Behauptung ein, daß der Glaube über dem Wissen stehe. Aber der Glaube ruht auch auf dem Wissen, insofern dies das Agens in allen unsren Ueberzeugungen ist. Das höchste Wissen ist als Kraft das Princip, woraus jedes [reale] Wissen, auch das unvollkommene, hervorgeht; als Bewußtes das Princip, woraus die Wissenschaft des Realen hervorgeht. Wir gehn nun von einem für ein Wissen Anerkannten aus, und suchen in diesem das Princip. Wie schon gesagt, sehn wir überwiegend auf das Formale, jedoch ohne das Transcendentale zu vernachlässigen; und um so weniger in diese Gefahr zu gerathen, werden wir uns zuerst des Transcendentalen zu bemächtigen suchen, und dann uns zugleich bewußt zu werden suchen, daß dieses zugleich Princip des Formalen sey; daß das Absolute zugleich Form alles Wissens sey.

7 Wodurch erkennen wir etwas als ein reales Wissen? Es giebt nämlich manches in uns, was zwar dem Wissen analog ist, aber doch nicht als 30 Wissen angesehn wird. Wir stellen demnach das Wissen als besondres unter das Denken als Allgemeines. Wodurch wird ein Denken Wissen ? Wenn ein Denken als Wissen gesetzt wird, so setzen wir die Allgemein-

28 7] 6 am Rand

Wodurch] wodurch

31 das] dem

Wissen?] wissen?

14f Anspielung wohl auf F. H. Jacobi; vgl. dessen Schrift „Ueber die Lehre des Spinoza", wo es heißt: „Wenn nun jedes Fürwahrhalten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, Glaube ist, so muß die Ueberzeugung aus Ver nun ftgründen selbst aus dem Glauben kommen, und ihre Kraft allein von ihm empfangen" (z1789, S. 216; Werke. Gesamtausgabe, Bd. 1, 1, S. 116).

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Zweiter Teil.

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gültigkeit desselben für alles, dessen Action das Denken ist. Was ohne diese Allgemeingültigkeit ist, setzen wir nicht als Wissen. Wir haben manches in uns, wovon wir uns bewußt sind nie anders denken zu können, aber ohne die Pretension, daß andre auch so denken sollen; z. B. Maximen. Dies ist denn auch nicht Wissen (solche Maximen, die sein Individuelles Daseyn ausmachen) [.] Wenn wir jemand etwas mittheilen, so wollen wir, daß der andre dasselbe Wissen zu seinem mache, was vorher in uns war, wenn wir mit unsrer Mittheilung zufrieden sind. Eben so ist es mit der Kunst ab er dis ist von jenem verschieden; eine Mittheilung des Wissens hat keine andre Tendenz, als daß der andre es in sich produciren soll; ein Kunstwerk macht andre Ansprüche; wir wollen da nicht, daß der Schauer rein dasselbe thue, was wir gethan haben. Also die Ueberzeugung muß sich nicht auf die subjective Natur eines jeden beziehn, sondern auf dem reinmenschlichen [beruhen] ; und die Mittheilung hat den Zweck, daß der andre rein dasselbe produciré. Deswegen ist das Wissen allgemeingültig ohne Mittheilung auch; in der Kunst aber ist die Mittheilung nothwendig. Ohne diese Allgemeingültigkeit giebt es kein Wissen. Wir sehn also auf etwas, was in uns gegeben ist; wir sind aber nicht in den Gränzen der Persönlichkeit; in uns sehn wir das Wissen eines jeden. Es ist also falsch, die inneren Erscheinungen des Bewußtseyns so zu nehmen, wie sie nicht allgemeingültig sind. I 4r

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Dagegen richtet sich der empirische Skepticismus, mit der Einwendung, jeder habe nur sein Eignes, und keiner könne wissen, ob in dem andren etwas dem Analoges sey. Setzt jemand kein Gemeinsames, so 25 setzt er auch kein Wissen, und dann entsteht ihm die Frage nicht. Aber, könnte jemand sagen, jedes reale Wissen enthält doch zugleich auch ein durch Dein persönliches Daseyn vermitteltes. Aber 1) von dem Inhalt des gegebenen Wissens wollen wir abstrahiren; wenn nur ein Allgemeingültiges ist, so mag in den Organen das Ungewisse oder Ein- 30 zelne liegen; aber Wissen ist es nur durch den andern Factor den wir suchen wollen. Die Identität beider Factoren ist es, was ein Wissen zum Vollendeten macht, weswegen aber auch kein endliches Wissen ein vollendetes seyn wird. Aber dis hindert nicht, daß wir nicht von der andren Seite aus die Untersuchung beginnen können. 35

Jedes Denken, und also auch das Wissen steht in Relation sowohl auf das Denkende als auf ein Gedachtes, Subject und Object. Das Gedachte ist etwas außerhalb des Denkens aber im Denken gegeben. Wie

5 Wissen] wissen.

8 uns] ihm

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in dem Denken, inwiefern es ein Wissen ist, das Subject gesetzt wird, haben wir gesehn. Wie wird ein Denken, insofern es Wissen ist, in Beziehung aufs Object gedacht? Was ist das außerhalb des Denkens gesetzte Object? Wenn wir denken, denken nicht nur wir, sondern etwas. Was ist denn nun dis etwas? Das Seyn. In jedem Denken, Wissen, ist das Gedachte, Gewußte ein Seyn. Wir können uns nichts denken als unter der Form des Seyns, wenn auch nur in uns selbst und für uns selbst. Selbst in dem willkührlichen Denken, im Phantasiren, nimmt das Gedachte die Form des Seyns an. Nicht anders beym Irrthum. Denn wir verflechten auch ihn mit dem Seyn des Gedachten, insofern es ein wahres ist. Durch welche Relation zum Seyn wird ein Denken ein Wissen? In dem Nichtwissen ist das Seyn bloße Form unsres Denkens; auch im Irrthum beziehen wir das Denken auf ein davon unabhängiges Seyn, aber das Denken verhält sich nicht zu seinem Seyn, wie das Denken sich zum Seyn verhalten soll. Ζ. B. wenn ein falsches Prädikat im Denken dem Seyn beygelegt wird, ist es nicht so im Seyn. Wissen ist die Congruenz des Denkens mit dem Seyn als dem Gedachten. Dazu nun, das Wissen ist kein persönliches Bewußtseyn sondern die Totalität aller Persönlichkeit und damit die Vernunft selber. Das Wissen ist also das reine Aufgehn der Vernunft in dem Seyn. Indem wir Vernunft und Seyn einander gegenüber stellen, erscheint die Congruenz beider als nothwendig. Von dem Seyn als solchen kann nichts ausgehn, als was auch in der Vernunft als solcher seine subjective Begründung hat. Irrthum und Willkühr sind nie vom Seyn ausgegangen. Versucht man von dieser Identität abzugehn, so wird die Idee des Seyns und der Vernunft verlohren gehn. Denn in beiden ist eine Nothwendigkeit, die sich in der Beziehung beider auf einander ausspricht. Wäre es denkbar, daß in der Vernunft etwas andres ist, als im Seyn, so geht die Idee der Nothwendigkeit des Seyns verlohren und seine Gesetzmäßigkeit. Auch die Realität der Vernunft geht hier verlohren. Es ist eine Wechselwirkung, in der beide bestehn.

Es scheint aber vieles als Wissen aufzutreten, worin kein Gedachtes ist, was sich auf ein vom Wissen unabhängiges bezieht; im ethi35 sehen und im mathematischen Gebiet. Ζ. B. der kategorische Imperativ, das Sittengesetz ist doch ein Wissen, denn es ist ein allgemeines, und mit Ueberzeugung verbunden. Aber ihm scheint kein Seyn unab3 gedacht?] gedacht. 5 sondern etwas.] Kj sondern wir denken etwas. Vernunft 35 kategorische).] kathegorische

3 5 - 3 7 Vgl. ζ. B. KpV 54-56;

Werke, Akademie-Ausgabe,

Bd. 5, S. 30 f

21 Vernunft]

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hängig von ihm zu entsprechen, sondern soll erst werden. Wenn diesem Denken kein Seyn entspräche, wäre es Phantasie, aber inwiefern eine Anschauung darin liegt, entspricht ihr ein wahres Seyn. | Ist es etwas reales, so muß etwas seyn. Wir setzen die Vernunft als ein Seyn, und der kategorische Imperativ sagt die Formel aus, wie die 5 Vernunft handelt, und nur in sofern ist es ein Wissen. Eben so mit Naturgesetzen; setzt man die Natur nicht, so sind sie eben nur Phantasie. - Dem im mathematischen Wissen gedachten scheint auch kein Seyn zu entsprechen, sondern das Seyn wird erst durchs Denken producirt. Die Arithmetik und Geometrie sind auch noch kein wahres Wis- 10 sen. Die Geometrie enthält das Krumme und Grade in ihren möglichen Synthesen. Wie kommen wir zu dieser Construction? es ist die Bewegung. Die Mathematik hat ihren wissenschaftlichen Charakter, durch ihre Beziehung auf die Mathematik . Was über das Seyn hinausgeht, ist bloßer Durchgangspunct, um wieder aufs Seyn zu kommen. In ihrem 15 eigentlichen Gebiet kommt ihr allerdings ein Seyn zu. Indem wir aber die Dinge setzen, scheint es, als nehmen wir das Resultat unsrer Untersuchung im Voraus weg. Der Einwurf ist hier bloß scheinbar. Wenn man fragt, ob die Dinge sind, kann man nur meinen, ob Ding und Wissen congruiren, oder nur das Wissen sey? man 20 kommt hier nicht aus dem Seyn heraus, und wenn die Dinge auch anders sind, als wir sie denken, so ist kein Wissen da, darum bleibt das Wissen doch die reine Congruenz. Das Subject hat nothwendig ein Correlai [imi Object. Wie wir finden können, ob in einem gegebenen Wissen eine Congruenz ist, wissen wir noch nicht. Mit dem Wissen 25 fällt das Seyn auch weg. —

9.

Stunde

Das Wissen ist ein mit seiner Allgemeingültigkeit gesetztes Denken. Was ist Denken? Jedes Denken entsteht aus zwei Elementen, einem formalen und einem materiellen. Letzteres: jedes Denken beruht auf einer organischen Function; Ersteres: diese Function wird in eine solche 30 Form aufgenommen, durch die ein Wissen entsteht, oder das Gegentheil eines Wissens. Durch das erste wird das Wissen das Wissen Eines, ein bestimmtes Wissen. Man könnte einwerfen, es gäbe ein reinformales Denken ohne organische Function; das ist ein Denken von nichts, und kann gar nicht vorkommen als in Beziehung auf ein vorhergegan- 35 genes. Z . B. in A = A ist keine organische Function nachzuweisen, außer inwiefern dis nichts ist als Zusammenfassen mehrerer Gedanken, die

4 Ist] ist 5 Seyn,] seyn, 8 Dem] Das Physik 2 0 congruiren,] sich congruiren,

14 Mathematik] Kj (vgl. unten S. 715, 33 f) 27 Das Wissen] am Rand

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15

eine organische Function haben, in eine einige; dis ist dann das mehrern realen Denken gemeinsame formale Element. Ein solches ist auch an sich leer, und bedeutet nur etwas, inwiefern man das andre darin gesetzt denkt. Jeder solche Satz setzt vorherige Denkacte voraus. Aber alle Sätze, denen die leibliche Gegenwart der Dinge fehlt, von denen etwas ausgesagt wird, sind noch nicht solche, denen die organischen Functionen fehlen. Nun giebt es aber auch sogenannte Verstandesdinge. Schon die allgemeinen Begriffe, ζ. B. der Ofen, sind solche. Hier scheint es nun, als wenn die organische Function fehlte; dies ist aber bloß Schein, denn es ist das, was von dem Dinge in die Sinne fällt, keineswegs etwas nicht zum Wesen des Dings gehöriges. (Ofen soll ja erhöhte | Temperatur hervorbringen.) Und so überall; wenn ein Satz nicht leer ist, setzen wir organische Function mit; ζ. B. wenn man etwas von einem Thiere aussagt. Denn Thier ist entweder bloß leer, ein Zeichen, wie A; oder man setzt damit alle möglichen Formen, worin sich die Thierheit unsren Sinnen offenbart, und nur so ist es etwas lebendiges. Ein formales Denken kann nie ein Wissen seyn, sondern ist nur vorläufiger Apparat, ein Wissen zu werden; es kann nur ein Wissen werden, indem das Leere ausgefüllt wird 1) und 2) auch hierin ist immer die organische Function wenn auch als ein Minimum vorhanden. Die Acte, worin ein Wissen seyn kann, nennt man Anschauung, wie im Gegensatz vom Denken, der aber nur darauf beruht, als bestünde das Denken gerade in dem Gegentheil. In unsrem Begriff des Wissens liegt die Voraussetzung, daß die Vernunft, die höchste Potenz des Bewußtseyns, in allen dieselbe sey. Setzt man nun sich entgegen als different die formelle und die organische Operation, so kann man sagen, es giebt eine Mannigfaltigkeit sowohl von Combinationen als von organischen Functionen. Entweder wohnt nun jeder organischen Function ihre besondre Combination bey, oder es sind mehrere Gedanken von ihr aus möglich; hier entweder hat jede Combination ihre besondre Function, oder jedes formelle Element hat nicht ein besonderes materielles. Es ist aber vielmehr so, daß jedes formelle Element das ganze Gebiet der organischen Functionen umfassen kann und umgekehrt. Sonst könnte man auch keinen solchen Unterschied machen. In jedem Denken ist die Form das Princip der Einheit, das Sinnliche das Princip der Mannigfaltigkeit, jedes beliebige Element der Materie kann also Glied einer verschiednen Combination werden, und jedes formelle Element kann viele organische Functionen umfassen. Z. B. die Wahrnehmung der meisten Farben, das organische Element in dem Satz, der Ofen ist weiß, hätte zu mancherley Wissen Anlaß geben können; ferner das Fixiren einer Wahrnehmung an einem Gegenstand kann an tausend verschiedenen Elementen des materiellen Denkens sich wiederholen. Ein jedes kann also mit einer Mannigfaltig-

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keit des andren zusammenseyn. Also in jedem Wissen muß nicht bloß das formale Element, es muß auch von Seiten des organischen Elements an gesehn mit dem andren übereinstimmen und die [Ergänzung! desselben seyn. Ohne das ist die Annahme eines Wissens leer und nichtig. Das Wissen eines jeden muß mit dem Wissen jedes andren bestehn können; was die Einheit der Vernunft auf der einen Seite ist, ist der Inbegriff aller organischen Functionen auf der andren Seite. Das absolute Wissen kann nur real werden in der Vereinigung mit dem organischen Element, und wie die Vernunft nur in ihrer Identität in allen Subjects« eines Wissens seyn kann, so kann von Seiten des organischen Elements nur dann das Wissen ein Wissen seyn, sofern jeder zum System der organischen Function gehört, ein Glied derselben ist. Die Identität aller möglichen Anschauung erschöpft erst das Wissen. | 5v Das ganze Gebiet der organischen Elemente des Wissens muß eine Ein. Stunde heit bilden, wenn ein gewisses formales das Centrum ist, und jenes die Peripherie, und umgekehrt; in jedem realen Wissen ist also nur ein Stück, und das ganze Wissen ist nur in der Ganzheit. Auch in ethischen Begriffen, wie Gerechtigkeit, ist ein organisches Element, denn er geht von Wahrnehmungen des innern Sinnes aus, von Wahrnehmungen der Lust und Unlust, und daran sich anknüpfender Handlung. Der erste Charakter des Wissens war die Uebereinstimmung des Denkens mit einem Seyn. Nun ist alles Denken entweder Begriff oder Urtheil. Der Schluß ist nur eine Combination der andren beiden, und keine primitive Form. Das Bilden eines Begriffs ist ein eigner Denkact; es wird dadurch ein Seyn, eine Einheit des Seyns fixirt, und dis ist an und für sich ein Denkact. Das Urtheil ist dagegen eine Combination, indem von einem Subject etwas ausgesagt wird. Beide Formen setzen sich aber gegenseitig voraus. Denn ein Begriff enthält mehrere Urtheile, in welche man ihn auch zerfällt, wenn man ζ. B. einem andren einen Begriff klar machen will. Wenn wir eine Geschichte des Begriffs entwerfen, so können wir nachweisen, wie er und aus welchen einzelnen Urtheilen er nach und nach entstanden ist. Wie kann denn aber, wenn beide sich voraussetzen, ein Wissen entstehn? Hier erscheint alles Wissen in einander verflochten, wo ist der primitive Anfangspunct? Es muß eine Identität [beider] geben, welche die Quelle alles realen Wissens, also das absolute seyn muß, und diese kann weder Begriff noch Urtheil sondern die reine Identität beider seyn. - Ein Begriff ist ein Schweben zwischen dem Allgemeinen und Besondren, denn theils ist unter ihm

1 muß] müssen

3 8 Identität] Indentität

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als einer Einheit das empirische und einzelne subsumirt, ein Mannigfaltiges Besonderes umfaßt. Auf der andren Seite ist er unter ein höheres subsumirbar; der niedre Begriff süß ζ. B. kann unter dem höheren der Thätigkeit des Organs subsumirt werden. Es giebt für jeden Begriff niedre, die unter ihn, und höhere, unter die er zu subsumiren ist. Wo ist denn aber das Ende davon? Auf ein niedrigstes des Begriffs ist aber gar nicht zu kommen. Ζ. B. der untergeordnete des süßen läßt sich immer wieder als Begriff aufstellen, wenn wir nur das innre der zu einem Begriff gehörigen Operation kennen. Wir knüpfen daher an das Ende jedes Begriffs die Möglichkeit mehrerer Urtheile, welche denselben noch weiter bestimmen würden. - Der Höchste Begriff ist der des Dings, des Seyns überhaupt, in dem nun nichts mehr unterschieden ist, was eine Subsumtion unter ein höheres möglich machte. Aber eigentlich ist nun dis kein Begriff mehr, weil von den beiden Beziehungen jedes Begriffs nur eine da ist. Aber dennoch haben wir in dem höchsten Begriffe noch einen Gegensatz von Begriff und Gegenstand. Um so [weniger], als dieser ein Wissen seyn soll, denken wir ihn ohne diesen Gegensatz; dis ist aber die Form eines Urtheils; an der höchsten Spitze der Begriffsbildung steht also ein Urtheil, aber auch dis setzt wieder einen Begriff voraus, das Höchste ist also die Identität des Seyns und des Denkens, des Begriffs und des Dings, indem ich hierein das Urtheil auflöse; aber hier ist auch kein Gegensatz mehr zwischen Denken und gedachten, es ist die Identität von beiden. Dies ist auf der andren Seite das höchste transcendente Wissen, denn es steht über dem Ethischen und physischen und das höchste Formale, da es zugleich Begriff und Urtheil ist. Dis bestimmt wieder alles einzelne Wissen, das ohne diese Identität unvollständig ist. |

Jeder Begriff war eine Synthesis eines Höhren und eines Niedrigeren, 6r ein Schweben zwischen beiden; jenes muß eine Einheit seyn, dieses eine 11. Stunde 30 absolute Mannigfaltigkeit, weil bey ihm der Proceß des Zusammenfassens anfängt. Die höchste Subsumtion konnte nicht unter dem Begriffe des Begriffs stehn, weil das höchste nicht als Resultat des Urtheilens müßte angesehn werden können, weil dann noch ein Mannigfaltiges darin wäre. Das Ende des Begriffs nach unten konnte durch eine Men35 ge Urtheile nicht erschöpft, das höchste, seiner Einheit wegen, nicht unter die Form des Begriffes gebracht werden, in sofern es Product eines Urtheilens ist. Wir sehn es hier nur von der formalen Seite und also nicht vollständig; wir müssen dasselbe auch von einer andren Seite betrachten. Es ist aber in jedem Wissen das, was es zum Wissen macht.

27 Identität] Indentität

2 9 jenes] jedes

dieses] diese

3 0 ihm] ihr

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Zweiter Teil.

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Das höchste war die Identität des Begriffs und des Urtheils. Jeder Begriff erscheint an und für sich als willkührlich; bey dem Urtheil kann man aber nicht beruhn; die Identität beider, der man sich bey m höchsten bewußt wird, macht es zum Wissen. Das Urtheil ist eine Synthesis des Seyns oder nichtseyns, oder ein schweben zwischen beiden, das dadurch bestimmt wird, daß beides ein bestimmtes ist. Urtheilen besteht aus Subject und Prädicat; beides sind Begriffe, denn insofern ich ein einzelnes zum Subject mache, ist es kein Urtheil, denn man ist nicht sicher, daß der andre das Einzelne als ein Unendliches eben so konstruire, das Subject bleibt dann [rein eines]. Das Urtheil ist die Combination beider. Inwiefern beide im Urtheile kombinirt werden, sind sie vor dem Urtheile different, entgegengesetzt, das Subject wird allemal als seyendes gesetzt, wenn man etwas von ihm prädicirt; das Prädicat ebenfalls. Das Urtheil beruht nun darauf, daß das Subject an sich nicht ist, was ihm als Prädicat beygelegt wird; das Subject ist also alles nicht, was von ihm prädicirt werden kann; also ist jedes Urtheil eine Identität des Seyns und des Nichtseyns, denn das Seyn ist das Subject und das Nichtseyn das Prädikat. Jedes bestimmte Urtheil beruht also auf 2 äußersten Puncten. Das Subject wird gesetzt als das an und für sich seyende, aber das nicht seyend (in sofern es im Urtheil gesetzt wird,) was ihm beygelegt werden kann. Das Subject hat also kein Maaß als die Wenigkeit des Prädicirens. Das höchste Seyn ist also das, wenn ein Subject gesetzt wird, von dem nichts prädicirt werden könnte; dies ist aber der Uebergang des Urtheils in den Begriff; ein höchstes Seyn, von welchem nichts andres als sein Seyn prädicirt werden kann, also ein identisches Urtheil. Ein identisches Urtheil ist aber auch nichts reales, als das höchste Subject so ausgedrükt, denn von diesem kann nichts als sein Seyn prädicirt werden. Das Prädikat wird gesetzt als etwas an einem andren seyendes; es hat also nur soviel Existenz, als es an einem andren ist, um so mehr, an je mehreren [es] ist; die höchste Existenz, wenn es von allen prädicirt werden kann. Kann das Prädicat von allen prädicirt werden, so setzt man auch nur Subjecte, die selbst wieder Prädikate sind, selbst wieder an allen seyn können. Dis sind die beiden Enden des Urtheils, und es ist ein bestimmtes, insofern es von jedem Ende gemessen werden kann. Diese sind also

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1) das absolute Seyn, wovon nichts prädicirt werden kann als sein seyn. 2) Das absolute Prädiciren, nach dem jedes Subject nur relativ Subject ist, auch Prädikat seyn kann. Der Begriff möchte auf der einen Seite auf ein Höchstes, in dem der Gegensatz zwischen dem Seyn und Denken des Seyenden aufhört; 40

17 Identität] Indentität

2 6 Ein] ein

29 f Existenz] Existens

31 Existenz] Existens

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nichts andres kann auch das höchste Subject seyn. Die Begriffbildung endete in einem unbestimmten, weil es nur durch unendliches Urtheilen zum Begriff werden konnte. Das [identischel Ende des Urtheils, daß jedes gleich sehr Subject und Prädikat ist, also kein Seyn für sich hat, 5 Identität des Seyns und Nichtseyns, also kann kein Subject als bestehendes fixirt werden (was man im Gegensatz des Seyns Werden nennt) Bis jetzt haben wir das Denken noch als Denken betrachtet, rein abgesehn vom Wissen; es gilt nur alles von der Form des Begriffs und 10 Urtheils. Was wir jetzt gefunden haben, ist also das Princip des Denkens im Allgemeinen. Jede Begriffsbildung geht von der absoluten Einheit und der absoluten Mannigfaltigkeit aus. Bey jeder Operation | des 6v Denkens ist dis auch unbewußt das leitende Princip. Wenn wir das Denken unter der Form des Wissens betrachten, muß dis noch 15 bestimmter sich ergeben.

Das nicht unterscheiden ob ein Denken Wissen oder [nicht] sey, ist eine 12. niedrigre Stufe, in der das Princip allerdings auch vorkommen muß, wie wohl unbewußt. Man hat in neuren Zeiten versucht, das strenge Wissen mit der freyen Phantasie in Uebereinstimmung zu bringen; das 20 ist möglich, indem das Denken aber ein allgemeineres ist, worunter auch das Wissen und dieses subsumirbar seyn muß. Das Gefundene war die Begründung des Urtheilens durch die 2 äußersten Puñete, das höchste Seyn des Subjects, und das höchste Seyn des Prädikats, was nur wieder ein Subject ist, von dem alles gilt, was 25 davon prädicirt wird. Dies soll jetzt aufs Wissen angewandt werden. In diesem wird eine Gleichsetzung von Denken und Seyn als schlechthin möglich gesetzt. Wo sie stattfindet, da ist das Wissen. Nun haben wir schon einmal den Einwurf gemacht, daß wir die Gleichheit der Dinge dadurch zu antieipiren scheinen, da nun nach dem Vorigen ein einzel30 nes im Wissen gesetzt wird, so scheint, da sonst kein reales Wissen, und demnach auch kein absolutes Wissen stattfinden kann, [daß] doch allerdings eine solche Uebereinstimmung vorausgesetzt wird, dagegen tritt auf 1) ein skeptischer Einwurf; man könne nicht begreifen, wie ein Seyn so seyn könne wie ein Denken; z. B. wie eine organische Function

13 ist] ist «ist))

24f von ... wird.]

durch Punkte

hervorgehoben

18 f Schleiermacher denkt hierbei wohl an die Aufwertung der Einbildungskraft und in den an Kant anschließenden philosophischen Diskussionen.

bei Kant

Stunde

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unsres Sinnes, die meisten Farben, in dem Gegenstande seyn sollen; man kann also gar kein Denken in der Form des Urtheils, in den Gegenstand hineinlegen. Dies gelte nicht nur auf dem physischen sondern auch auf dem ethischen Gebiet; ζ. B. wenn man sage, ein Mensch sey sanftmüthig; dagegen 1) In dem Denken ist schon das Setzen eines höchsten Begriffs und [von] diesem haben wir schon die Identität des Denkens und Gedachten gefunden; also das Denken selbst setze schon die Identität des Denkens und Seyns; der Skeptiker hebe also nicht nur das Wissen sondern auch das Denken auf. Indeß kann man einwenden : in dem höchsten Begriff, in Beziehung auf das höchste Seyn, solle dis zugegeben werden; aber von da aus gehe die Theilung an, und das reale läge eben im Gebiet dieser Entgegensetzung; nur, inwiefern das wirkliche Wissen aus jenem reconstruirt worden wäre auf beiden Seiten, könne es ein Wissen seyn. Nur in der [gänzlichen] Vollendung des Wissens als Wissenschaft werde diese Skepsis aufgehoben, von der es problematisch ist, ob sie je wirklich werden wird; also ist auch die Antwort nur problematisch. 2) Die Skepsis, die das Wissen aber nicht das Denken aufheben will, hat keine andre Tendenz, mit dem Denken, als das practische Verkehr mit den Dingen beyzubehalten. Nun muß er aber das praktische Verkehr mit den Dingen aufheben, wenn er die Gleichsetzung des Denkens mit dem Seyn aufhebt. Die Identität des Gegenstands mit dem Begriff läßt sich zwiefach denken; entweder das Seyn das erste und das Denken das zweyte, oder umgekehrt, der Gegenstand kann als das vom Gedanken abhängige gesetzt werden, 7r indem der Gedanke Ursache vom Seyn des Gedachten wird, | wie in jeder Praxis (jenes im Wissen) [,] die Sprache nennt jenes Prinzip das der Vorstellung, dis das Prinzip der Darstellung, daß das Seyn im Inhalte des Gedankens aufgeht. Nur beides kann den höchsten Begriff erschöpfen. Hier entspricht wie die Praxis auf der höchsten Potenz die Kunst dem Wissen, jedes niedre Handeln dem niedren Wissen. Wenn man nun nicht leugnet, daß das Hervorgebrachte dem Gedanken entspreche, so muß man es auch begreifen können, daß es umgekehrt seyn könne. [Denn] wir können nichts urtheilen, was wir nicht auch produciren können, und nun im andren wieder denselben Gedanken macht. Diese beiden Antworten sichern eines jeden Wissen.

. Stunde

Das Denken soll beruhn auf der Identität des Begriffs und des Seyns. Nun aber sind die einzelnen Dinge ja aus der Kategorie der Begriffe herausgesetzt, also gebe es kein Seyn als das Wissen. Das reale Wissen

10 Seyn,] seyn,

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müßte also eine leere Rubrik bleiben, wenn man über das ursprüngliche Höchste hinaus will. Wenigstens giebt es im Begriffe kein Wissen, sondern ein Wissen kann nur in dem Urtheilen seyn, wodurch man das Einzelne unter den Begriff zu subsumiren sucht. 1 Jenes ist idealistisch, dies empirisch. Daraus würde sich ergeben, daß man [nochl bey der Vorbereitung zur Wissenschaft stehn bleiben muß, zur Wissenschaft aber nie kommen kann. Vermöge der einen Ansicht bleibt nur die Form der Wissenschaft, ohne daß je das Gebiet des einzelnen könnte erschöpft werden, weil dis als Nichtseyn gesetzt wird. Die andre Ansicht läßt die Form der Wissenschaft leer, und hält sich ans empirische. Durch beide zusammengenommen ist also das ganze Wissen aufgelöst. Man kann nun auch wieder sagen, indem man beides von der positiven Seite darstellt, das eine gebe die Form, das andre die Materie. Nun haben wir gesehn, in jedem Wissen sey ein organisches und ein formales Element. Beide sind allenthalben; die idealistische und empirische Ansicht ruht aber nur auf einem dieser Elemente und abstrahirt von dem andren. Der Empiriker, nichts anerkennend, als die Subjecte, die nie in die Begriffsform gehn, hat nur das materielle Element, und was er vom formalen Element hat, erschleicht er, widerspricht also sich selbst; denn indem er ein Urtheil fällt auch über ein einzelnes, setzt er das, was ihm zusammen gegeben ist, entgegen; die Combination ist doch das Subsumiren eines Einzelnen unter den Begriff; der vorgenommene Proceß ist doch auf den Begriff zu reduciren; die organische Seite ist also in der eignen Praxis nicht das einzige Element des Denkens. Der Idealist, welcher sagt, das Wissen könne nie zu den einzelnen Dingen herabsteigen, weil sie dem Begriff nicht adäquat wären, und also [gäbe es] auch kein Seyn, leugnet in thesi das organische Element des Wissens, denn was uns von den einzelnen Dingen zukömmt, kömmt uns durch den Sinn zu. Nun setzt er zwar auch die Identität des Wissens und Seyns als die Basis alles Seyns, und will, das Wissen als Seyn setzend, von da aus alles Wissen konstruiren als ein System, will also die Einheit in eine Vielheit verwandeln, muß also vom höchsten Begriff aus untergeordnete Begriffe bilden und diese durch Urtheile verknüpfen. Diese untergeordneten Begriffe stehn aber zu den höhren in keinem andren Verhältnisse, als die einzelnen Dinge zum Begriff. Da die

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Einige s a g e n : z w i s c h e n d e m B e g r i f f und den D i n g e n f i n d e t keine Identität statt, a l s o giebt es kein S e y n ; a n d r e : a l s o giebt es kein Wissen.

4 unter] in chen

35 Dinge] Dingen

36f Einige ... Wissen.] am Rand ohne Einfügungszei-

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niedren Begriffe aus den höhren abgeleitet werden, so m u ß der höhre 7v als das | die niedren umfassende angesehn werden, denn sonst kann aus der Einheit keine Vielheit werden. Unter dem höhren Begriff sind nun aber die niedren nicht zugleich gedacht als in i h m ; soll also von ihm abgeleitet werden, so muß das untere gedacht werden als unter ihm subsumirbar, also nicht ohne organische Function. In dem allgemeinen Begriff des T h i e r s , wenn auch 2 Elemente darin gesetzt sind, aber als Einheit, liegt gar kein Grund, das Eine zu theilen, das Ruhende in Bewegung zu setzen, eins dem andren unterordnend, wenn man nicht durch die Anschauung veranlaßt wird. Der Idealist n i m m t also etwas auf, was ihm nur in der Form des Besondren, durch die O r g a n e , gekommen ist. M a n k a n n also, ohne die Potenz des Besondren mit hinzuzunehmen, nicht aus der Einheit des transcendenten Wissens herausk o m m e n . — Wir haben schon gesehn, d a ß das höchste Subject und die Sphäre der niedrigsten gleich sind, wir setzen also beide Ansichten als nothwendig verbunden, und erkennen in jedem Denken eine reine Identität von beiden.

. Stunde D a s bloße Streben von der C o n s t r u c t i o n auszugehn ist immer ein Schweben zwischen Wissen und Dichten, das, von dem Organischen auszugehn, [eine] S a m m l u n g von Notizen geblieben, Wissenschaft haben beide nicht hervorgebracht. Auch ist jede Ansicht für sich betrachtet skeptischer Natur, denn die Empirie vernichtet alles, was sie nur als N o t i z , als Urtheil, aufstellt, denn die Prädicate bleiben doch i m m e r Begriffe. D e r Idealismus, der das einzelne Seyn für Schein erklärt, weil alle Begriffe auf dem Einzelnen beruhn, und aus dem Z u s a m m e n h a n g e damit nicht losgerissen werden können. Wenn nicht der absolute Begriff, die Identität des Gegenstands und Begriffs, zum G r u n d e liegt, k a n n nichts als Wissen betrachtet werden; es ist das Transcendente die Basis alles Realen, denn allenthalben sonst wird ein Gegensatz gesetzt. Die Identität m u ß ferner die Form jedes Urtheils a u s m a c h e n ; denn in jedem Denken ist ein organisches, das Subject, und ein Begriffselement, das Prädicat, deren Identität erst die Einheit und das Wissen macht. D a s rein a posteriori verfahrende Eingreifen des bloß organischen giebt ohne das C o m b i n a t o r i s c h e kein Wissen. D a s Empirische ist aber die Tendenz, das Organische, das Idealistische, das C o m b i n a t o r i s c h e zu isoliren; beides [verhindert] das Wissen.

3 6 [verhindert!] oder [erfordertl

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Jedem Denken, soll es Wissen seyn, muß ein Seyn entsprechen. Der Begriff ist das Fixiren einer Einheit über einer Mannigfaltigkeit zwischen einem Niedrigem und Höhern. Das Seyn selbst muß diesem Wesen und der Form des Begriffs entsprechen; sonst könnte man von keinem realen Wissen sprechen. Wie es untergeordnete, niedre und höhre Begriffe giebt, so giebt es auch eine Unterordnung im Seyn. Das Einzelne ist also auch die niedrigste Stufe des Seyns, und es giebt eine Höherstufung bis zum höchsten Seyn, das mit dem Begriffe davon identisch wird. Nicht bloß dem einzelnen, auch den | Gattungen, ent- 8r spricht ein solches Seyn, die reale Quelle der untergeordneten einzelnen Dinge, wie die Begriffe des einzelnen unter den höhern. Wir weichen also von denen ab, die sagen, dem Begriff entspreche kein Seyn, es wäre eine abstraction, wahr, inwiefern es kein einzelnes Seyn anders giebt. Es entspricht ihm aber ein höheres Seyn, wodurch das einzelne Ding wird; ein nicht nur eben so wahres sondern auch ungleich wahreres Seyn. Denn im Subject ist ja ein um so [gewisseres] Seyn gesetzt, je mehr von ihm prädicirt werden kann; das einzelne Ding hat die Möglichkeit eines unendlichen Prädicirens. In sofern die Begriffe also nicht Fictionen sind, sondern entsprechend einem Seyn; und dis ist es, was man die Realität der Ideen genannt hat. Ohne das ist kein Wissen konstruibel. Setze ich den Begriff als Abstraction, so ist gar keine Sicherheit da, denn wo ist die Regel der Abstraction? Haben die allgemeinen Begriffe keine Correspondenz mit dem Seyn, so haben sie gar keine. Entspricht der Idee unmittelbar ein Seyn, so ist ein Criterium gegeben, wie man die wahre von der falschen unterscheiden kann. Wir setzen also ein [höheres] Seyn, welches den Begriffen, wie sie da sind, entspricht. Der Begriff einer Gattung hat [unendliches] Seyn, dem das Seyn des Einzelnen involvirt ist. Das höchste ist das höchste Seyn, welches das absolute ist, inwiefern es die Identität mit dem Begriffe macht; dieses aber, das ursprüngliche Seyn, ist die Gottheit, der jedes andre untergeordnet ist; die einzelnen Dinge aber das letzte; die Ideen aber, die Kräfte, stehn in der Mitte; das Höchste von der realen Seite angesehn ist Quelle alles Seyns, von der idealen Seite, Quelle alles Wissens. Kein Wissen und Seyn ist real, was nicht in diesem Höchsten seine Quelle hat. Alles Entwickelte ist ein untrennbares Ganze. Es könnte keiner anneh- 15. men, daß den [vielen] Begriffen etwas entspräche, wenn er nicht die

5 realen Wissen] Realenwissen 11 wie . . . h ö h e r n . ] Kj wie die Begriffe des einzelnen unter den höheren Begriff subsumirt sind. 1 4 Ding] D i n g e 1 6 D e n n ] (Denn 26 [höheres]] oder [sicheres] 2 6 welches] folgt « i n » 2 7 Seyn,] seyn,

Stunde

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Identität des höchsten Seyns und Begriffs annehmen wollte; denn die im Wissen gesetzte Uebereinstimmung zwischen Denken und Seyn nöthigt uns zu beidem. Was anders meinte, muß dazu von einem andern Punct kommen. Auch giebt es keine Anschauung weder des höhern oder des niedrigem ohne dieses. Bey allem andren wird das höchste etwas willkührliches, unhaltbares oder leeres. Den allgemeinen [ B e g r i f f e n ] entspricht ein wahres Seyn, wovon sie, inwiefern sie nicht willkührlich sind, [ein für] das Wissen adäquater Ausdruck seyn müssen. Dis ist die eine Seite der Lehre von den Ideen. Idee und Begriff sind nicht 2 verschiedene Dinge. Idee ist aus der alten Philosophie. Bey Platon kommen 3 Termini vor, γένος, είδος, ιδεα, welche bey ihm immer verwechselt werden, είδος und ιδεα, Gestalt, sind auch ethymologisch dasselbe (Form) γένος ist Erzeugung. Die Identität dessen, was sich mittelst einer innewohnenden Kraft reproducirt; alle 3 bedeuten also dasselbe von verschiedenen Seiten, denn das, worin die erzeugten Dinge identisch sind, ist gerade die Gestalt, Form; und sie leistet gerade Gewähr, daß die einzelnen Dinge gleichen Ur8v sprung haben. In der Gleich|setzung jener Worte liegt gerade die Idee, daß die Gleichheit der Form herrühre von einer erzeugenden Kraft. Der Terminus Begriff ist ganz unser Eigenthum. Er weist hin auf die Mannigfaltigkeit, woraus die Einheit zusammen gefaßt wird. Es liegt in dem Wort eine andre Ansicht aber doch derselbigen Sache. Weil es ein höheres Seyn giebt, unter dem das Einzelne steht, fassen wir beides im Wissen zusammen. Begriff also, ins Wissen gesetzt, ist mit Idee dasselbe, nur daß in Idee sich unmittelbar das Seyn ausspricht; in Begriff unmittelbar mehr das Denken des Seyns. In Idee liegt, daß die Begriffe Darstellung eines wahren Seyns sind. In dem Terminus ιδεα ist daher die Möglichkeit des Falschen eigentlich ausgeschlossen; im Begriff nicht, denn man kann sagen, es sey etwas ein falscher, w i l l k ü r licher Begriff, weil er das Denken des höhren Seyns als in und mit der Wahrnehmung der Dinge gegeben ausdrückt. Die Idee der Gottheit ist weder Postulat, noch ist die Art, sie darzustellen, Demonstration. Postulat ist etwas, was zum Behuf von etwas andren gegeben seyn muß. Wir brauchen die Idee der Gottheit nicht, um ein Wissen zu stände zu bringen; sie ist die Bedingung der Idee des Wissens. So gewiß dis der Typus deines Denkens ist, so gewiß ist die Idee der Gottheit da. Du könntest Dir die Aufgabe des Wissens gar

3f Was ... kommen.] Kj Wer etwas anderes meint ... kommen. 32 Vgl. den Sachapparat

zu KGA Π/10, 1, S. 35, 21 f

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nicht setzen, wenn Du nicht die Identität des höchsten Seyns und Wissens in Dir hättest. Auch ist sie kein Demonstriren des Daseyns Gottes. Denn Daseyn will schon nicht passen, weil es, von Seyn unterschieden, ein irgendwo und irgendwie, ein einzelnes aussagt; man trennt hier 5 schon das Seyn und Denken und sucht ein beides Vermittelndes, aber gerade dann hat man die Idee der Gottheit nicht gefaßt. Alles Beweisen setzt schon eine gegebene Erkenntniß voraus; aber es kann keine Erkenntniß gegeben werden, aus welcher sich das Daseyn Gottes darthun ließe; das Daseyn Gottes ist grade die Quelle aller Erkenntniß. 10 Schon, wenn jemand die Idee des Wissens in sich hat, den Typus desselben, wenn er gleich kein reales Wissen zugestände, muß er Gott in sich haben. Jede Demonstration wird entweder unhaltbar seyn, oder nicht die reine Idee geben. Es ist dis das reinste, allen einwohnende Wissen, und der Typus, wonach sich jedes Wissen formen muß. Wir sehn alle 15 Dinge in Gott; inwiefern wir denken unter der Form des Begriffs, ist jeder niedre unter dem höhren möglich, und wird in ihm gesehn, also alle in der Gottheit.

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Dem Denken muß, wenn es ein Denken seyn soll, ein Seyn entsprechen. 16. Der Begriff endete sich nach unten in die einzelne Vorstellung; nach oben in die Identität des Seyns und Begriffs; allen mußte ein Seyn entsprechen, nämlich das Seyn des höchsten Wesens, der einzelnen Dinge und der Naturkräfte. Wie verhält sich das Seyn der Gattungen zum Seyn der unter ihnen begriffenen einzelnen Dinge? es ist nicht so ein andres, wie ein einzelnes Ding ein andres ist als das andre, denn dann müßte die Gattung dem Einzelnen koordinirt seyn; man kann also nicht auf gleiche Weise nach dem Wo und | Wann fragen, wie bey den einzelnen. Das Seyn der 9r Gattung ist also auch nicht außer den Dingen, denn dadurch würde man es ins Verhältniß der Verschiedenheit durch Ort und Zeit setzen. Jenes Seyn ist also in und mit den Dingen zugleich, und in Rücksicht des Wann und Wo mit ihnen dasselbe, aber nicht einerley in Hinsicht der Dignität. Also auch der Begriff der Gattung ist nicht außer dem Begriff der einzelnen Dinge sondern in und mit ihnen zugleich. Ein Begriff also, außer den einzelnen Dingen gedacht, ist ein leeres und fircgirtes Denken, kein Wissen, denn er entspricht nicht dem Seyn. Wir müssen also das Allgemeine nicht in der Sonderung vom Einzelnen denken, sondern so, daß die ganze Manm'gfaltigkeit des Einzelnen mit darin gesetzt ist. Das Absolut Einzelne nun verhält sich zum niedrig-

27 Wann] am Rand Dialektik 2.

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sten Begriffe als ein Unzähliges; die niedren Begriffe zu ihrem höhren als eine bestimmte Vielheit. Wenn wir also im höhren Begriffe die untren Begriffe anschauen, müssen wir das Princip derselben einsehn, daß und warum diese und grade keine andren Begriffe unter ihm construirt werden können. Erstere müssen wir denken als lebendige Kraft, welche dasselbe Schema immerfort producirt und reproducirt, und zwar absolut einförmig und unendlich (denn was im Einzelnen verschieden ist, setzt man in andre Umstände nicht in die Kraft.) Auf der andren Seite müssen wir bey jedem Begriff wieder hinausgehn; wir müssen die Art und Gattung nicht nur in seiner Identität mit dem Niedrigren sondern auch mit dem Höhren sehn; wie ihm mehrere andre zu einem bestimmten System koordinirt sind. Denn das Seyn ein er Art ist nicht außer der höhren Gattung, unter der sie steht. Dis gilt von allem, was unter der [rein] vollendeten Sphäre des Begriffs steht. Inwiefern also das Denken der einzelnen Dinge ein Wissen seyn soll - ein reiner vollendeter Begriff aber kann ihm nicht entsprechen, sondern er wird vorgestellt durch eine unendliche Menge einzelner Urtheile, denn aus der Idee des Species sind sie nicht zu verstehn - so muß auch am einzelnen Dinge der Begriff der Art mitgedacht seyn, und dadurch allein ist es möglich, die Vorstellungen der einzelnen Dinge unter die Form des Begriffs zu bringen, da sie sonst nur unter die Form der Urtheile fallen würden. Das Subject, worauf das einzelne Prädikat bezogen wird, wäre sonst [nur] = X, oder bloß die allgemeine Form des Begriffs selbst (an diesem Gegenstande bemerke ich die braune Farbe) [.] Es ist also ganz unmöglich durch die Vorstellung der einzelnen Dinge zur Vorstellung der Art zu kommen, denn die einzelnen Dinge lassen sich ja nicht fixiren außer unter der Form des Begriffs, also nicht anders, als wenn man schon hat, was man erst durch Abstraction suchen zu wollen vorgiebt. Wie sollte man auch sonst ein Princip des Zusammenhanges der zu einer Art gehörenden Dinge finden? Wir bekommen also den Begriff nicht durch einzelne Dinge, sondern können die einzelnen Dinge nur vorstellen mittelst der Begriffe, die wir schon von ihnen haben müssen.

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17. Stunde Was von der physischen Seite gilt, gilt auch von der ethischen. Z. B. 35 Staat und Familie kann man nur denken als eine organische producirende Kraft, indem man auch das Princip der Verschiedenheit mit auffaßt. Dieser Typus des Wissens umfaßt also das ganze Gebiet der Ethik und Physik. Es ist kein Begriff als Wissen möglich, als in dem das ganze | Gebiet des Untergeordneten gegeben ist, und das Gebiet des 40 Koordinirten. Auch hier geht die Erschöpfung des Untren im Allgemei-

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nen auf theils durch die Einsicht in das Princip einer bestimmten Menge untrer Formen, theils durch die Betrachtung der Gattung als einer beständig producirenden Kraft, wobey das Einzelne betrachtet wird zugleich als Product von vielem Andren. Das Einzelne verhält sich zu seinem Begriff wie die unbestimmte Vielheit zur Einheit. Aber doch läßt sich in dieser Vielheit ein mehr oder | weniger unterscheiden, und 9v auch diese quantitative Verschiedenheit gehört zur Vollständigkeit der Erkenntniß. Wenn nun von oben herab das Wissen ganz durchgeführt ist, ist das Wissen erschöpft; aber dis ist nicht gleich gegeben, sondern ist ein Werdendes. Mancher wird im Besiz des allgemeinen Begriffs des Staats oder des Säugethiers zu sein behaupten, ohne die unter denselben stehenden Begriffe ableiten zu können oder das Princip derselben einzusehn. Jedoch läßt sich nicht leugnen, daß auch dem höhren Begriffe dann noch etwas an seiner Klarheit fehlt. Nun fragt sich aber, wie besitzt man denn das Untre, solange man es noch nicht aus dem höhren versteht? denn haben müssen wir das Untergeordnete, weil kein Wissen ohne organische Function ist, die in den einzelnen Dingen ist. Wir können also solange die untren Begriffe nur so haben, wie die Vorstellungen der einzelnen Dinge. Hier ist die Spaltung des Wissens in apriorisches und empirisches. Im letztren setzen wir nicht nur, sondern negiren zugleich; sagend: es ist uns dis noch bloß als Erfahrung gegeben, und das obre ist das gesonderte apriorische, das noch des empirischen bedarf, und eben auch an sich nichts vollständiges ist. In der Vollendung des Wissens ist keine Spaltung des a priori und des empirisehen; wohl aber hat es einen zwiefachen Charakter. Es muß darin die völlige Identität des Formalen und des Materialen seyn; inwiefern wir ins einzelne verfolgen können die Resultate der Construction aus dem Höhern ist es philosophisches, inwiefern das organische, ein historisches, aber beide können nicht getrennt werden. Was folgt nun daraus für das Denken des höchsten Seyns, wo Begriff und Gegenstand identisch sind? Die Vorstellung des höchsten Seyns ist dem Wesen des Begriffs nicht mehr adäquat, gerade wegen der Aufhebung des Gegensatzes. Wir können von dem absoluten Seyn keinen Begriff haben als von einem Gegenstande, denn dann ist der Begriff in uns, und wir sind doch nicht das absolute Seyn selbst. Das allgemeine Ding wird immer nur mit den untergeordneten [Dingen] zugleich gedacht; das Denken Gottes kann keins für sich seyn, wo wir die Gottheit besonders und für sich als einzeln und besonderes außer dem andern dächten; es ist an allem andren und mit allem andren als die gemeinsame Basis gegeben. Ob also das absolute Seyn außer der Welt zu setzen sey oder nicht außer, ist eine leere Frage. Wir können keine andre Anschauung von Gott haben, denn als alles andre Seyn bedingenden, aber dessen Anschauen durch alles andre bedingt ist.

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Fragt man dagegen ob die Gottheit etwas andres ist als das einzelne Ding, so ist [das] keine Frage; es ist eben so etwas andres, wie die Gattung als das einzelne Ding; denn dis ist das [sieb] wandelnde, jene das ewige. Alles andre ist ohne Gott nicht zu denken, es ist das innerste Princip alles andren Seyns und Wissens; die Gottheit selbst ist etwas Unbegreifliches; wir können keinen Begriff von ihr haben, dem ein Gegenstand gegenüber stände; aber die Quelle alles andren Begriffs; alles Ethische und Physische ist in ihm begründet. Dies ist auch parallel mit der religiösen Ansicht des höchsten Wesens. In der religiösen Empfindung liegt nie ein reines Gefühl der Gottheit an sich, sondern zugleich mit dem Selbstbewußtseyn. Etwas andres will es nicht sagen, daß Gott unbegreiflich sey, weil Begriff und Gegenstand nicht außereinander seyn können. Kraft der Vernunft ist in uns die Identität eines Begriffs und des Gegenstandes, und damit auch der Begriff Gottes vollständiger gesetzt. Weil diese Identität aber doch nicht absolut ist, weil wir uns selbst nicht ganz und gar begreiflich sind, kann auch der Begriff der Gottheit in uns kein vollständiger sondern nur relativ vollkommener seyn. Alle Versuche, die man gemacht hat, das Absolute als einen Gegenstand vorzustellen, gewisse Prädikate zu unterscheiden, die Idee zu analysiren, so oft ist man in Widerspruch gerathen; man mußte es wieder rectificiren, i. e. aufhören, es als etwas Einzelnes zu setzen. Dies bestätigt sich auch in der Geschichte. Denn die Idee der Gottheit ist nie ohne eine Idee der Welt sowie diese nicht ohne jene, nur, je unvollendeter die eine, auch die andere. Da aber das Denken sich auch nur allmählich vervollkommnet, und in einem großen Gebiete noch die Phantasie herrscht, wird auch die Idee eines ersten Seyns mit mythischen und sinnlichen Hüllen umkleidet. |

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10r Das Wesen des Urtheils der Form nach ist, daß Subject und Prädikat 18. Stunde einander gegen übergestellt werden; aber der Materie nach, daß beide verschieden seyn. A ist A ist etwas ganz leeres; dieser Baum ist dieser 30 Baum ist nichts, als die Identität des Subjects in verschiedenen Momenten, also den Begriff selbst gesetzt. Ein Urtheil ist es nur in dem Sinne: ich setze diesen Baum. Diese identischen Urtheile sind gar keine Urtheile. Wenn das Subject ein einzelnes Ding oder untergeordneter Begriff, das Prädikat aber ein höhres ist, so ist dies wieder der Materie 35 nach kein Urtheil, sondern nur das Setzen des Begriffs. Denn es giebt keine wahrhafte Vorstellung des einzelnen Dings, ohne daß die Gattung mitgesetzt wird. Jedesmal, wenn man ein solches Urtheil aus-

2 f wie . . . Ding;] Kj wie die Gattung im Verhältnis zum einzelnen Ding; jenes 38 wenn] daß

3 jene]

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spricht, sagt man nur aus, daß man vom bloßen Denken zum Wissen übergegangen ist; inwiefern hierin eine Aussage ist, ist es eine Aussage von dem Bewußtseyn selbst, die Geschichte desselben, nicht von dem Gegenstande. Auch ein solches Urtheil ist nur das Setzen des Begriffes selbst. Nicht anders ist es, wenn das Prädikat ein Merkmal des höhern Begriffs ist, unter den das Subject gehört; es ist nur ein Theil aus dem, was im Subject schon liegt, herausgenommen und besonders aufgestellt. Dis sind die analytischen Urtheile, wo das Prädikat schon im Subject enthalten ist; sie sind der Materie nach kein Urtheil sondern nur der Form nach. Es liegt nichts darin, was nicht schon im Begriffe •ag. Wir haben es nur mit den Urtheilen zu thun, in denen das Prädikat ein andres ist, als das Subject. Das Prädikat ist von dem Subject verschieden, wird ihm aber beygelegt, ist mit ihm in einer einigen, untheilbaren Vorstellung verbunden. Dies gilt nicht nur von den assertorischen, sondern auch von den andren Formen der Urtheile. Es liegt immer darin, daß das Prädikat als etwas verschiednes und doch als nothwendig mit dem Subject verbunden gesetzt wird. Es ist also eine Identität des Seyns und Nichtseyns. - In jedem Urtheil ist das Subject das Beharrliche oder wesentliche, das Prädikat das zufällige und vorübergehende. Dis sagt ganz dasselbe. In jedem Urtheil ist also ein zwiefaches Seyn, des Subjects und Prädikats; dis wird im Urtheil eins, doch untergeordnet der Einheit des Subjectes. Dis ist die Gemeinschaft des Seyns, es wird im Urtheil eine Gemeinsamkeit des Seyns gesetzt. Die Ursprüngliche Form des Urtheils ist, daß das Subject nomen, das Prädikat verbum ist; (ζ. B. die Flamme ist gelb = die Flamme producirt die gelbe Lichterscheinung). Das verbum drückt aber entweder einen [reinenl Zustand aus, oder einen Zustand als Action und Passion, ein Handeln oder Leiden des Subjects. Der Zustand ist immer ein Vorübergehendes, das einem andren Platz machen muß. Als Handelnd setzt es immer ein andres voraus, worauf gehandelt wird, also ein Streben, mit einem andren ein gemeinsames Seyn zu bilden; das Leiden das gemeinschaftliche Seyn des Subjects, und der Causalität seiner Passion. Der Zustand eines Dings und seine Gemeinschaft mit andren ist aber dasselbe, es muß von anderwärts her in dasselbe etwas hineinkommen können, was durch sein Wesen nicht hineinkömmt. In dem Urtheil wird also das in sich selbst gegründete Seyn der Dinge vorausgesetzt, aber zugleich das Seyn in eine Gemeinschaft gesetzt. Wenn also unter der Form des Urtheils ein Wissen möglich seyn soll, muß auch das Seyn nicht nur in sich selbst gegründet sondern auch ein gemeinschaftliches seyn. Das eigentliche Gebiet des Urtheils ist das der einzelnen Dinge; die allgemeinen nehmen am Urtheil nur Antheil, inwiefern sie an der

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Form der einzelnen Dinge theilnehmen. Denn der höhre Begriff enthält 10v nur das | aus dem Seyn abgeleitete, und setzt den ganzen Cyclus seiner Gattung mit, ohne aus dem Begriff heraus zu gehn; wir schauen den obren Begriff als die productive Kraft der untren an, und sind also noch immer in ihm. In dem allgemeinen Begriff als solchen ist aber nie etwas Zufälliges gesetzt, denn die Möglichkeit einer manigfaltigen Außrung gehört wieder mit zum Begriff. In den einzelnen Dingen ist wesentlich gesetzt eine Identität des Wesentlichen und Zufälligen; im Höhren aber nur das Wesentliche. 19. Stunde

Alles höhere kann nur in sofern an der Form des Urtheils Theil haben, als es an der Form des einzelnen Seyns theilnimmt. Das Urtheil ist also die eigentliche Form der Erkenntniß, die man die empirische zu nennen pflegt. Ehe ferner die Construction der Begriffe von oben herunter noch nicht vollendet ist, so müssen auch die Arten und Gattungen noch als das Einzelne betrachtet werden. Jede einzelne Thiergattung erscheint uns als ein zufälliges und besonderes, so lange wir sie noch nicht unter dem Begriff, unter dem sie stehn, verstanden haben. Daraus folgt auch, daß solche noch unter der Form des Urtheils stehn, weil der Einheitspunct fehlt. Daraus würde erhellen, daß die Urtheilsform nur Supplement der Begriffsform seyn müßte, daß man wenigstens immer weiter herunter gehn kann, wiewohl die einzelnen Dinge immer zum Urtheil gehören. Der Begriff aber strebt immer das Element des Formellen anzuziehn, und ist nur hierin vollendet; die organische Function aber die Form des Urtheils und ist nur hierin vollendet. Nun soll aber auch im Allgemeinen die organische Function seyn. So muß es auch seyn, denn jeder Begriff ist nur vollendet, indem auch das Niedere als darunter enthalten mit darin begriffen wird. Das untre aber kann nur in der Form des Urtheils stehn, weil es nie ein beharrliches Seyn [darbietet], sondern immer in einem Zustande, wechselnd; jedoch wird ein Wissen hievon nur möglich, indem es doch unter dem Beharrlichen, den Begriff subsumirt wird (wie das Gegentheil am Kinde sichtbar ist). Das vollkommene Wissen setzt die Identität des organischen und des formellen; aber doch läßt sich unterscheiden wo das Ueberragende ist, von dem, wo nicht; und dadurch entsteht die Scheidung in historisches und philosophisches Wissen. In diesem wird daher der Begriff das dominirende seyn, für jenes das Urtheil die wesentliche Form, weil es das Seyn in seinem Leben, die Activität, die wechselnden Offenbarungen zu erkennen giebt. Es soll also nie die Form der Urtheile aufgelöst werden in die Begriffsform, sondern beide sollen stehn bleiben; eins als

2 aus] davor « d a s ) )

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Schema des historischen, das andre als des philosophischen. Nicht nur das Höhere und Niedre gehört zur lebendigen Anschauung des Begriffs, sondern auch in seiner Gemeinschaft mit allem übrigen, und dis gehört mehr ins Urtheil; zur lebendigen Anschauung gehört beides in Vereinigung. Wenn wir einen Begriff auffassen, so liegt darin dis Gemeinschaftliche mit andern nur der Möglichkeit nach; ζ. B. das Princip des Liebens und Hassens gehört mit in den Begriff des Menschen, aber, was der einzelne liebt oder haßt nicht. Das was das Urtheil ausdrückt, hat also ein zwiefaches Princip; es ist | theils in dem Wesen des Dinges, ll r theils in dem gegründet, was es umgiebt. Die Gemeinschaft ist aber theils eine mit andren, die gemeinschaftlich unter demselben Begriff stehn; da kann man sagen, dis Factum hat seinen Grund in dem Handelnden und Leidenden, und es hat seinen Grund in dem Begriff des Menschen selbst. Theils mit andren; ζ. B. die Einwirkung der Wittrung auf den menschlichen Körper ist aus dem Begriff des Menschen nicht mehr zu verstehn. Da muß man soweit gehn bis zu dem Allgemeinen, worin beide wieder untergeordnet sind, woraus beides wieder verstanden werden kann. Aber dis wird nicht alles eingesehn aus dem Begriff des Mensch; ζ. B. daß a, b liebt; sondern da der bestimmte Fall immer im Gebiet der einzelnen Productionen liegt, kann nur die Form des Urtheils hierauf angewendet werden. Auf das höchste Seyn aber kann die Form nicht angewandt werden, weil es kein Vorübergehendes darin giebt; nur so, inwiefern alles einzelne in ihm seinen letzten höchsten Grund hat, worin das Handeln und Leiden zu begreifen ist. Nur insofern kann man sagen, Gott thue alles.

Wenn das Wissen zum Theil in die Form des Urtheils fällt, müssen wir auch ein Seyn setzen, das dem Urtheil entspricht. Es giebt also außer dem festen und beharrlichen Seyn ein Gemeinschaftliches, ein Ineinanderseyn der Dinge, wodurch sie gemeinschaftliche Actionen produci30 ren. Erstlich die einzelnen besondren Dinge. Ein jeder Zustand des einzelnen Dinges ist ein reales, ein Seyn. Das Ding als Subject, die Action als Prädikat gesetzt, liegt hierin schon, daß die Action dem Subject untergeordnet, in ihm zum Theil enthalten ist (nämlich seiner Möglichkeit nach)[.] Dis Seyn des einzelnen Dinges ist uns als ein solches 35 gegeben, welches einen beständigen Wechsel dieser Actionen enthält. Es ist aber gesetzt ein Zusammenseyn theils gleichartiger, theils ungleichartiger Dinge, um die zu vereinigen man höher steigen muß, als zur Art. Hier ist eine weitere Gemeinschaft des Seyns; das Ende dieser

14 Theils] theils

2 0 im] ins

28 f Ineinanderseyn] darüber

Zusammenseyn

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Gemeinschaft ist nirgends; es ist eine durchgängige Wechselwirkung, ohne alle Trennung und Ausnahme. Von den einzelnen Dingen muß ja am meisten prädicirt werden können, und ihr Seyn ist nur aufzufassen durch eine unendliche Manigfaltigkeit von Urtheilen, also durch ihr Zusammenseyn mit allen übrigen Dingen. Wir müssen in den Zustän- 5 den und Verändrungen der einzelnen Dinge die Spuren alles andren was ist finden. Das pflegt man in der Logik so auszudrücken, daß jedes Ding nach allen Seiten hin völlig bestimmt sey. Jedes Prädikat muß nun eigentlich auf 2 besondere Seyn reducirt werden, aber auf Ein höheres, wo gar kein Gegensatz mehr ist. Ζ. B. der Gehorchende und Befeh- 10 lende ist ein Gegensatz, der aber in der Idee des Staates aufhört; welche auf andre Weise in dem einen als in dem andren gesetzt ist; als die selbstthätige Kraft in dem einen, als die empfängliche in dem andern; die Idee des Staats, als producirende Kraft dieser Handlung, spaltet sich in beide Seiten. So seh ich in der allgemeinen Naturkraft die Wir- 15 kung des organischen und unorganischen Wesens in ihrer Einheit; sie producirt auch dieses; aber die einzelne Action hat in ihren einzelnen Formen den nächsten Grund. Der höchste Gegensatz ist zwischen dem Begriff und dem Gegenstand, so wird man jede Action ansehn müssen als Action des Absoluten, diese Handlung als producirend als zerfal- 20 lend in diesen Gegensatz. Das absolute Zusammenseyn aller einzelnen Dinge unter sich und das Seyn des Absoluten in allen ist also rein Eines und dasselbige; denn was auf der einen Seite die Wechselwirkung der Dinge unter sich ist, ist von der andren Seite ihr Einsseyn in der höchsten und absolutesten Einheit. Das Wissen in der Form des Urtheils | ist 25 also auf der einen Seite das aufheben des besondren und einzelnen Daseyns durch die absolute Gemeinschaft, indem es als Einzelnes nur in diesem Zusammenseyn besteht, da sein Fürsichseyn in dem höhren Begriff gegründet ist. Auf der andren Seite das Zerfallen des höhren in Gegensätze, denn jede einzelne Action geht aus zwei relativ entgegen- 30 gesetzten Factoren hervor; welche Gegensätze nicht besondre Seyn bilden, sondern nur besondere Formen der Action. Wir sehn also das höchste Seyn sich in eine Menge [niedrer] Formen gestalten, Gattungen und Arten; welche im System der Begriffe, auf der andern Seite unter ein er Manigfaltigkeit von Actionen, die im System der Urtheile darge- 35 stellt werden, welche alle Gegensätze voraussetzen. Der Begriff bezeichnet uns die feststehende Form, das beharrliche Seyn, das Urtheil das fließende wechselnde Seyn unter der Form des Handelns. Es ist keine Wissenschaft möglich als in der lebendigen Combination beider. Die Begriffe geben fürs Erkennen das Gerüst; sie liefern das Beharrliche 40 aber ohne das Leben. Die Form des Urtheils giebt eine Action, aber ohne etwas, worauf sie bezogen werden kann, ohne den Begriff. Das Wissen ist nur in beiden. Die Begriffe werden durch das Zusammenfas-

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sen eines Höhren aus dem Niedren konstruirt; die Urtheile durch das Zerfällen des, was als Eins gesetzt ist, in eine Duplicität von Factoren; und Combination des Entgegengesetzten. Dieses bildet das Formale des Wissens. Man steigt auf der Einen Seite nur vom Obren zum 5 Untren herunter, auf der andren in einen Gegensatz von Factoren, so daß dadurch zuletzt das gesammte umfaßt wird, und das untre der Subsumtion.

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Alle transitiven Actionen setzen allerdings eine Gemeinschaft voraus; 21. Stunde aber bey den intransitiven scheint es anders zu seyn; z. B. der Baum blüht, scheint bloß etwas in ihm zu seyn. Aber das transitive ist ja auch der Möglichkeit nach im Begriff enthalten. Daß der Baum blüht, liegt in seinem Begriff; daß er aber jetzt blüht, die Zeitbestimmung enthält das, dessen Grund in einem andren enthalten ist. Das wird sich auf alles anwenden lassen; jede Activität hat also einen doppelten Factor. Jeder im Allgemeinen hat seinen bestimmten Einfluß auf das Daseyn jedes einzelnen Dinges. Indem wir darauf [sehn], wie wir das Seyn des einzelnen Menschen verstehn in seinem Begriff, so sehn wir in ihm alles höhres mit; alles aber in einander; im Urtheile aber, sehn wir auf Action des Besondersten bis des Allgemeinen und höchsten, aber nicht in einander sondern aus einander und Zeit und Raumverhältnisse einschließend. Auch das einzelne Ding in seinen Actionen ist nicht zu verstehn, als wenn wir alle von der niedrigsten bis zur höchsten auffassen. Das vollständige Erkennen der Dinge ist auf beiden Seiten nichts andres als das Erkennen in dem Absoluten. Von der Seite des Begriffs ist der letzte Gegensatz der von Begriff und Gegenstand, und Ruhe fanden wir nur in der Identität beider. In dem Urtheil zwischen dem Seyn als dem Ruhenden, und der Activität als dem Fließenden. Wenn das höchste nun der Grund alles niedren Urtheilens seyn soll, so finden wir nur Ruhe in der Identität des Seyns und des Handelns; wir haben also für das Höchste zweyerley Ausdruck; die Identität des Begriffs und Gegenstandes, und des Seyns und des Handelns. Warum muß aber beides dasselbe seyn? weil | der l2r Gegensatz zwischen Begriff und Urtheil nur ein relativer ist; beide in einander übergehn und auf einander beruhn. Wenn wir also zum höchsten heraufgestiegen sind, kann nichts von dem Gegensatz übrig bleiben. Das [ursprüngliche] muß beide Identitäten enthalten. Der Gegensatz zwischen Begriff und Gegenstand stellt sich auch dar als Inneres und Aeußeres. Der Gegensatz zwischen Seyn und Han-

9 intransitiven] transitiven

3 6 Identitäten] Indentitäten

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dein ist der Gegensatz des Wesentlichen und zufälligen. Das höchste Seyn also ist das, in welchem der Gegensatz des Innern und Aeußern, des Wesentlichen und Zufälligen rein aufgehoben ist. Jedes einzelne Ding steht in ein er Beziehung zu dem allgemeinen Seyn, worunter es begriffen ist; auch zu den Actionen, die das Fließende an ihm ausmachen. Wie verhalten sich diese Beziehungen? Das Höhere ist in dem Niederen ganz enthalten, nicht so daß es sich in ihm erschöpfte, aber so daß es in dem untren sich ganz manifestirt. Die Action ist aber nicht ganz in dem Dinge, sondern nur zum Theil, so ist es mit dem Seyn und dem Begriff. Dis entspricht dem, daß in dem Einzelnen alles höhre gegeben ist als in demselben; die Action aber als außer demselben. Ein einzelnes Ding von der Seite des Daseyns angesehn, geht nicht in dem Begriff seiner Gattung auf, sondern es muß noch ein andres gesucht werden, wodurch es ein Besonderes ist; nämlich das Zusammenseyn aller Thätigkeiten. Das einzelne Ding in seinem ruhenden Daseyn betrachtet ist das Zusammenseyn aller in dieser besondren Form gesetzt. In einer Pflanze findet man alle Actionen, die in diesem vereinigt seyn können, beysammen. Es ist die Totalität aller Actionen unter der Form dieses bestehenden Daseyns. Das Ding betrachtet in dem Zustande einer besondren Thätigkeit, so ist nicht das besondre oder das allgemeine allein thätig, sondern das ganze Ding; aber in dieser Action steht es unter der Potenz dieser Action, ζ. Β. der Animalisation; das andre ist untergeordnet, und steht zurück; in andren steht alles vor der Vegetation zurück, u. s. w. Beide Formen stehn also einander gegen über. Das einzelne Ding ist ein Zusammenseyn aller möglichen Actionen unter der Form dieses Begriffs; oder auch eine Form des Daseyns, unter die Potenz aller dieser Actionen gesetzt, welche sein Daseyn ausfüllen. Wenn man also fragt, was das höhere wäre, das Subject oder Prädikat, so scheinen auf der einen Seite einige Prädikate, als Actionen eines sehr hohen, höher zu stehn [als] die einzelnen Dinge; auf der andren kann es nur verstanden werden, wenn man beide Factoren kennt, und das höhere, das sich in beide zerspaltet. Das Prädikat ist also nur verständlich, insofern es auf ein höhres bezogen wird. Frägt man höher, was ist höher, das Seyn an sich, oder das Thun an sich. In dem Absoluten verschwindet der Gegensatz, und es erscheint die Identität des Subjects und Prädikats.

. Stunde Man könnte sagen, der Begriff sey ja auch nicht in einem einzelnen enthalten, sondern das einzelne sey nur Theil desselben. Als Lebendige

25 einander gegen über.] gegen einander über.

2 9 scheinen] scheint

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Kraft allerdings nicht. Wir reden aber bloß [davon], wie die Vorstellung der Art sich zur Vorstellung des einzelnen Dinges verhält. In dem Urtheile sind die Begriffe des Subjects und Prädikats ganz von einander getrennt, und werden nur erst hier verbunden. 1 — Wenn man nach ein er Ursache fragt, fragt man nicht nach einem Seyn, außer inwiefern man es auch als Fließendes ansieht, sondern nur nach dem Fließenden an etwas Beharrlichem. Will man nun als Ursache eine Einheit, ein bestimmtes Seyn haben, so ist dis etwas nicht mögliches. Das Gegründetseyn einer Action aber in dem Subjecte selbst setzt man voraus, und indem man nach der Ursache fragt, frägt man nach dem andren Factor. Es sind aber eigentlich | auf die Frage nach der Ursache 2 Antworten möglich die ein Wissen geben. Eigentlich ist die Ursache einer Veränderung immer nur die Thätigkeit des zweyten Factors, zum Beispiel einer Medicin in dem Organismus, und dann hat man erst eigentliches Wissen, nicht wenn man das bloße Seyn der Medicin angiebt; denn darin liegt auch vieles andre. Die zweyte Antwort ist, wenn man die Totalität alles andren angiebt; denn die Thätigkeit des zweyten Factors ist ja andre bestimmend, durch sein Zusammenseyn mit allem andren. Aber ein Urding, was als ein Urseyn den Grund der Thätigkeit enthält, so daß es aus ihm zu verstehn sey, kömmt da nicht heraus. N u r das Absolute kann man die Ursache κατ εξοχήν nennen, indem es das höchste ist, woraus man jedes Factum verstehn kann. Z u m Verständniß alles Lebens werden wir immer auf das Ganze und das Ursprüngliche zurückgeführt. In der alten Philosophie wird der Terminus des Erzeugern gebraucht, welches gleich auf 2 Factoren zurückführt, woraus das Erzeugte hervorgehn muß. Das Geschlechtsverhältniß ist gleichsam das Schema der Hervorbringung aller Action. Die Frage nach der Ursache kann man dann als die Frage nach dem Seyn betrachten, worin diese Action den letzten Grund hat. Wir sind hier von der Seite des Wissens ausgegangen, daß ihm ein Seyn gegenüberstehn m u ß ; und haben zwei Arten des Seyns den beiden Formen des Denkens gegenübergesetzt; das beharrliche und das fließende Seyn; das eine drwkt die feststehenden Formen der Dinge, das andre das Zusammenseyn derselben aus. Vorher war gesehn, daß Begriff ohne Urtheil nicht möglich ist und umgekehrt, und daß jedes lebendige Erkennen eine Identität beider seyn muß. So muß es auch seyn auf der Seite des Seyns. Das Beharrliche und das Veränderliche

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In der That aber hat das Subject nur einen Theil an der Action.

38 In ... Action.] am rechten Rand ohne

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muß nicht ohne einander gedacht werden können. Auch dis ist aber nur ein relativer Gegensatz. Das Beharrliche drükt das Fürsichseyn aus, das Fließende hebt es auf und setzt ein Zusammenseyn, ohne welches jenes nicht stattfindet. Im Leben hier ist eine allgemeine Einheit des Seyns gesetzt, wovon die Veränderungen Erscheinungen sind; auf der andern [Seite] wird diese partiell aufgehoben, indem nun die Dinge in bestimmten Formen für sich sind. Jede Ansicht für sich wäre einseitig. Es verschwindet einem entweder alles wahre Seyn, oder wird ein verwirrtes Chaos. Es giebt nirgends ein bloß Fließendes, eben so wenig ein bloß Beharrliches. Es ist kein absoluter Gegensatz da. Weil das Endliche aber in diesem relativen Gegensatz steht, ist es da und nur zu begreifen im Höchsten, in welchem die Identität des Seyns und Thuns, des Beharrlichen und Lebens ist. M a n nimmt gewöhnlich eine dritte Form des Denkens, den Schluß an. Wir haben geleugnet, daß dis eine selbständige Form des Wissens wäre. Dis wird dadurch bestätigt, wenn es auch keine entsprechende Form des Seyns giebt. Der Syllogismus ist die Beziehung des Ableitens Eines Wissens von einem andren und Fortschreitens von einem zum andern. Das Ableiten selbst ist etwas Untergeordnetes, und das Höchste muß auch ohne Ableitung schon darin seyn. Das Resultat eines Syllogismus ist immer ein Urtheil, ein Factum. In der Mitte steht nur ein analytisches Urtheil also nur ein Begriff. Der Syllogismus ist also der Uebergang von der Kenntniß eines Factums zu einem andren durch den Begriff; es [liegt] also nur [darin], daß das Fortschreitende der Actionen nur fixirt werden kann an dem Feststehenden der Begriffe. Also nur das Zusammenseyn beyder Formen des Seyns kann ihm entsprechen. Hat man den Gegensatz als ein relatives gesetzt, so ist dis kein neues und eigenthümliches. Daher kann durch einen Syllogismus nie etwas erfunden werden. Es ist nur Auseinandersetzung der Art, wie ein Urtheil ist gebildet worden, | die Art und Weise, wie ein Prädikat zu einem Subject gesetzt ist, wird dadurch gerechtfertigt. Es kann höchstens ein begangener Irrthum darin entdekt werden, und so ist er ein kritisches Hülfsmittel aber nie Mittel der Construction. Denn das beruht darauf, daß jemand in einem rechten System der Begriffsbildung ist, und einem richtigen System einer Beobachtung des Fließenden; dann wird er nicht leicht weder ein falsches Subject noch Prädikat annehmen. Beides beruht aber nicht auf dem Syllogismus. Dieser ist nur ein Mittel sich zu [orientirenl.

6 indem] folgt ((man))

37 annehmen.] folgt ((wird))

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Wir stellten Philosophie und reale Wissenschaften gegenüber. Die Philosophie enthielt das transcendente sowohl über dem Realen, als das Formale, das Wissen. Das reale Wissen, nahmen wir an, theile sich in 2 Gebiete, das physische und ethische. Das eine ist das Wissen um die Natur als solche, das andre um die Vernunft, inwiefern sie sich auch in der Natur als thätig findet. Auch erstres kann nicht anders endigen als mit dem Wissen von der Vernunft in der Natur. Die Natur, abstrahirt von der Vernunft, ist die Totalität des Gegenstands die Vernunft die Totalität des Begriffs, beide abstrahirt. Das Wissen von der Natur ist auch ein Wissen der Identität des Gegenstandes und Begriffs, weil ohne Vernunft die Natur unvollständig ist, auch so das Wissen der Vernunft, denn dazu gehört, daß die Vernunft die Natur ganz durchdringt. Beide stellen also eine zwiefache Identität des Gegenstandes dar. Denn in dem einen ist das Seyn das Vorbild, der Begriff das Abbild, in dem andern umgekehrt. Jedes hat eine Einseitigkeit, die durch das andre zwar ersetzt aber nicht ausgetilgt wird. Daher ist es eine nothwendige Tendenz, das Transcendente über dasselbe zu suchen. Dis Transcendente haben wir gefunden in der Idee des Urseyns, der Gottheit, worin die Ursprünglichkeit der Identität des Begriffs und des Gegenstandes, und alles Lebens, der Thätigkeit gesetzt ist. Wir suchen zum Wissen ferner die Form, wodurch das objective Denken ein wirkliches Wissen wird. Denn einiges erscheint als Wissen andres aber nicht, aber in der Anwendung irrt man oft. Gegen diese Täuschungen des Gefühls müssen wir durch feste Principien gesichert seyn. Das formale haben wir auch gefunden, indem wir auf die beiden Schemata des Denkens sahn, und fanden, daß alle Begründung eines jeden Begriffs in dem höchsten Begriff, und des Urtheils in der höchsten Gemeinschaft alles Seyns liege, was wieder dasselbe war. Wir haben also das Transcendente gefunden als zugleich das Princip des Formalen. Man könnte sagen, als Begründung des Urtheilens und Begreifens haben wir doch den Begriff des Urseyns gefunden. Aber Begriff und Seyn ist darin rein Eins und dasselbe. Die Correspondenz zwischen Begriff und Seyn kann in dem höchsten nichts seyn als absolute Identität. Also darf das ursprüngliche Seyn gar nicht nach Analogie des einzelnen gedacht werden, so daß dem Begriff das Seyn gegenüberstände. Es giebt kein andres Denken des höchsten Seyns als mit dem abgeleiteten, noch des Lebens, als mit dem in Eins fallenden Zerspaltenen. Hierin liegt 1) die Idee des höchsten Seyns ist uns eine ihrer Realität nach niemals vollendete Aufgabe. Zwar ist es das Wesen alles Begreifens, daß wir es in Gott begreifen; aber wir müssen auch die Identität des formalen und des Organischen schaffen, und das ist in dem einzelnen nicht. Nur in der Totalität alles einzelnen Erkennens hätten wir die

23.

Stunde

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Zweiter

Teil.

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13v reine Identität der organischen Function und des formalen Elements. In der höchsten Vollendung können wir nie dahin kommen; wir sind daher immer im Bilden des Wissens vom höchsten begriffen, aber ohne es vollenden zu können. Wie können wir zum Wissen der Totalität kommen? 1) Durch das bloße Aggregiren, hinzufügen einer Kenntniß zur andren; zu Ende kommen wir so nicht, und in der Anschauung des höchsten Seyns kommen wir dadurch nicht weiter. 2) indem wir unser Erkennen des Endlichen in einen Grundriß zusammenzufassen suchen, eine Vorstellung der Totalität zu erlangen suchen; es giebt kein wahres einzelnes Wissen, als was sogleich mit dem Streben nach dem Systematischen, nach der Totalität unternommen ist. Ein andres Wissen des Urwesens giebt es nicht; um zu ein er vollständigen Einsicht des höchsten Wesens zu gelangen, giebt es keinen andren Weg, als sich der realen Wissenschaft zu ergeben. Für den, der dis nicht kann, giebt es einen Ersatz im Gefühl, ohne welches jeder andre auch nicht seyn kann, sondern leicht abgeführt wird zum einzelnen. Im transcendenten Wissen läßt sich nichts andres übers höchste produciren, als durch Herabwürdigung durch Bilder ohne wahre Anschauung, oder durch Vermischung von Religion und Wissenschaft. Das Zweyte was in dem Aufgestellten liegt, ist dis: Jedes Werden ist doch eine Identität des Seyns und nichtseyns; also müßte doch der Begriff des höchsten Wesens in uns seyn, und also, da Begriff und Seyn identisch sind, auch das höchste Wesen selbst. Allerdings giebt es kein Seyn, in welchem nicht auch das absolute enthalten wäre. Es ist nichts ohne und außer Gott. Inwiefern wir den Begriff des höchsten Wesens zu produciren vermögen, sind wir die Vernunft, also das absolute selbst in einem von den Factoren, in die es zerfällt, wodurch sich das ursprüngliche Seyn in uns unmittelbar offenbart. Wäre jeder höhere Begriff Abstraction von dem niedrigren, so wäre das höchste Wesen das letzte, und abhängig von der organischen Function selbst. Wir wären also in der Bildung des Begriffs vom höchsten Wesen unmittelbar das [Thier]. Aber dadurch, daß das Bild des Höchsten in uns ist, sind wir ihm am nächsten verwandt, es ist das ursprünglichste in uns, worin die höchste Potenz unsres Wesens gesetzt ist; wir sind unmittelbar ein Abbild des höchsten Wesens selbst. Das untre aber hängt vom Organischen ab. Dis wird darauf führen, das Denken und Wissen als die uns eigenthümliche Action anzusehn.

. Stunde Es entsteht uns die Aufgabe, unser Gefundenes mit andren zu vergleichen. Wir behaupten, daß nicht nur jeder, der etwas zu wissen vorgiebt,

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sondern wer nur überhaupt mit einer objectiven Richtung denkt, auf irgend eine Weise die Idee von dem höchsten Seyn haben muß. Dem widersprechen alle Systeme des Denkens, welche die Gottheit leugnen. Wir haben ferner gesagt, es sey nicht möglich anders als mit dem realen Wissen die Idee des höchsten zu haben, theils weil es Basis alles andren ist, theils weil es in ein er lebendigen Anschauung nur mit dem Ganzen möglich ist. — Wir sind ausgegangen von dem allen unsren Denkoperationen zum Grunde liegenden Voraussetzen einer Identität des Denkens und des Seyns. Dis haben wir abgeleitet aus der im Absoluten gesetzten Identität beider. Wie läßt sich das, | daß man eine Welt haben will, aber doch nicht Gott, damit zusammenreimen? 1) Die Identität des Denkens und Seyns müßte in der Welt seyn, nicht inwiefern ein Ursprüngliches zum Grunde liegt, sondern weil Begriff und Gegenstand zur Vollendung des Endlichen gehören. Aber in der Welt finden wir sie doch nicht anders als getrennt außer in den vernünftigen Wesen selbst; und das Zusammenseyn ist nur einzeln, fragmentarisch, und nicht vollständig zu begreifen. Man kann die Vernunft theils so ansehn, als sie in der Erfahrung vorkommt; da ist die Identität des Gegenstands und Begriffs [immer] nur etwas werdendes, und in der Erfahrung kommt diese Identität nicht vor. Oder man sieht die Vernunft als das ursprünglich mitgegebene, in seiner Totalität, in welcher die ganze Erkenntniß liegt, die aber in dem einzelnen nur fragmentarisch hervorkommt. Da ist die Vernunft dasselbe, was wir von dem Ursprünglichen von der Seite des Begriffs aufgefaßt haben. Entweder setzt man also gar keine Identität, oder eine solche, wie sie nicht in der Vernunft gegeben ist, sondern [wie man] es als zum Grunde liegend setzen muß. So kommt man auch von der Seite des Seyns auf etwas, was nicht mehr einzeln gegeben ist, sondern im Ursprünglichen gesetzt werden muß. Das gänzliche Ableugnen des Absoluten würde dann stattfinden, wenn man das Finden der Identität des Denkens und Seyns ganz aufgäbe. Das Denken wird dann ein rein zufälliges, und das Seyn das wahre. Dann ist es aber auch nicht möglich, ein Wissen zu konstruiren, und kann deswegen auch nicht gleich seyn in dem practischen Zweck, zu dem sie noch das Denken fortsetzt. Eine andre Ansicht geht davon aus, die Welt sey zwar nicht ohne Gott, Gott aber ohne die Welt denkbar, die Welt also ein in der Zeit angefangenes und deswegen zufälliges. Diese setzen, der Gegenstand

3 widersprechen] Widersprechen 35-37 Vgl. den Sachapparat

7 dem] der

zu KGA U/10, 1, S. 44, 14

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sey zu dem Begriff in Gott später hinzugekommen, und das Reale ist nicht begründet im Begriff, sondern ein Hinzugekommenes, sekundaires Seyn. Hier fehlt immer der Grund, wie denn zum Begriff der Gegenstand hinzugekommen ist. Bey allem aber, wo der Begriff zuerst gewesen ist, wird warum gefragt. Entweder wird, indem das Sekundaire hinzukommt, in Gott gar nichts gesetzt, und dann ist es in Gott nicht gegründet; oder es wird gesetzt, dann ist in Gott etwas Sekundaires und vor der Schöpfung unvollständiges. Die erste Ansicht stimmt darin mit uns überein, daß sie die Welt als ein Ewiges setzt, [nurl verbirgt sie sich das Transcendente, dem Erscheinen zum Grunde liegende. Sie weicht von uns ab, wiefern sie keine reine Identität des Begriffs und Gegenstandes festsetzt, sondern jenen diesen als ein Sekundäres unterordnet. Die zweyte setzt die Identität des Ursprünglichen voraus; aber bringt auch keine Identität des Gegenstands und Seyns zu Stande, indem sie den Gegenstand dem Begriff unterordnet, und nun auch nicht das reale Seyn begreifen kann. Beide sind, indem sie die Identität verlassen, unvollständig. Die erste nimmt die Form des Materialismus, die zweyte die des Spiritualismus an. Erstre setzt das Seyn allein in die Natur und die Intelligenz als Secondaire; die zweyte umgekehrt. Wenn man nun die Identität des Seyns und Begriffs, des Thuns und Seyns nicht zum Grunde legt, muß auch das Denken und Wissen anders erklärt werden. Uns ist das Wissen begreiflich, indem wir sagen, was sich uns darstellt als bestimmtes Seyn in den Dingen und bestimmter Begriff in uns, ist beides dasselbe in Beziehung auf das ursprüngliche Wesen. Ist aber eine solche Identität nicht da, ist so das Wissen nicht begreiflich zu machen, und man muß andere Erklärungen versuchen. Man muß entweder das Seyn dem Denken oder das Denken dem Seyn unterordnen, oder beides verbinden. Bey uns war die Gleichsetzung die Form alles Denkens; hier muß es die Unterordnung seyn, die Kausalität also. Es muß also statt des Verhältnisses des reinen Zusammenseyns, wo keins vom andren sondern beides von dem gemeinschaftlich zum Grunde liegenden abhängt, das Verhältniß der Kausalität herrschen. Die Materie ist das Seyn von dem Denken zugleich getrennt (nach uns ganz unmöglich, da in jedem die Identität des Denkens und Seyns seyn muß) dann erscheint das Denken als bloße Erscheinung der Materie und wird als solche erklärt; die Garantie für das Wissen ist hier etwas leeres, und nur ein dunkles Gefühl was eigentlich der Annahme widerspricht. Es ist nicht zu be-

12£ sondern . . . unterordnet.] K j sondern jenen diesem . . . unterordnet. Intelligens

19 Intelligenz]

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greifen, wie es dadurch eine solche enge Durchdringung des Denkens geben sollte, daß dadurch das Objective erschöpft würde. Zur Garantie wird daher immer die Ubereinstimmung alles gefordert. D a ß das Denken aber Abbild des Seyns sey, bleibt immer leer und ungewiß. | 5 Die Idee des Höchsten muß, wo gedacht wird, überall seyn. Nun wird 15r sie aber bisweilen geleugnet, wo gedacht wird, oder erscheint nicht. In 25. Stunde solchen latitirt sie entweder, oder es ist ein abgebrochener Denkprozeß. Beym Gedanken einer Schöpfung in der Zeit ist der Gedanke des Göttlichen der Form nach, aber nicht der Materie nach, weil jenes einseitig 10 unter Form der Intelligenz gedacht wird und das objective Seyn zurücktritt. [Wir wollen] diesem gegen überstellen ein ursprüngliches Chaos, aus welchem die Welt entstanden sey. Hier ist auch ein Ursprüngliches der Form nach, aber wieder als objectives Seyn, und das Vernünftige erscheint untergeordnet. Ebendeswegen kann auch die Entwicklung, 15 besonders der Vernunft, nicht angeschaut werden. Hier kommt das absolute vor unter der Form reiner Materie. Denn das Chaos ist nichts als das konfuse Substrat alles materiellen Seyns. Dis ist in der Welt eben so wenig gegeben; wir sehen ebensowenig irgend wo reine Materie als reine Intelligenz. Es ist also eine Unmöglichkeit, das Wissen in 20 der Identität des Gegenstands und Begriffs zu erklären. Eine andere Meinung setzt als ursprünglich ein höchstes Wesen als Intelligenz, auf der andren eine Materie, die beide erst in der Zeit Eins geworden. Hier ist die Idee des Absoluten der Materie aber nicht der Form nach, denn sie wurde als ursprüngliche Duplicität gesetzt, und da 25 ist unbeantwortlich, wie denn beide je haben ohne einander seyn können. Nur kann diese Ansicht das Wissen leichter erklären, weil sie doch später die Durchdringung der Materie durch die Intelligenz setzt. Der Fehler ist, daß das Prinzip als etwas Sekundaires auftritt. Dem gegenüber steht die Idee der reinen Identität, der Welt, von 30 Ewigkeit her. Hier ist die Basis des Wissens der Materie nach gesetzt. Aber die Form des Absoluten fehlt auch. Denn die Identität der Intell/genz und des Seyns in der Welt ohne Totalität ist immer nur eine relative. Der Dignität nach fehlt die Idee des Absoluten. Hier allenthalben sind Elemente der Idee des Absoluten, aber zer35 streut, und deswegen in jeder eine nothwendige Unvollständigkeit.

5 Die Idee] am rechten Rand 1. 21 f ein höchstes ... der andren] Kj auf der einen Seite ein höchstes ... auf der andren Seite 24 wurde] wurden 27 Der] Das 32 ohne] davor « i n ) ) 21-23 Vgl. den Sachapparat

zu KG A ¡1/10, 1, S. 45,16

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Wir erklärten uns die Uebereinstimmung des Denkens und Seyns aus der ursprünglichen Identität des Seyns und [Intelligirens], in dem wieder das, worin vorzüglich das Seyn, und worin das Wissen vorherrscht, zusammentreffen muß. Wie erklären andere das Zusammentreffen des Seyns und Wissens? Wenn man den Begriff des Chaos annimmt, so erscheint das Denken als Resultat der Materie und deren Erscheinung. So mag man es als Erscheinung erklären, wie aber das nothwendige Uebereinstimmen mit dem Gegenstande, da keine andre Erscheinung des Seyns ein solches Gegenbild darbietet? Indem man den Gedanken als Bild darstellt, redet man schon bildlich. Bald ist etwas andres, als Gegenstand; wie soll denn der Gegenstand etwas anderes werden als er selbst? Das Wahre ist darin, daß unser Wissen in dem Objectiven gegründet ist, es ist Resultat des Zusammenseyns der Vernunft und des von dem übrigen Materiellen erregten Leibes. Aber die Materie macht nur die organisehe Function, und auch das ist noch nicht reine Materie, sondern schon Identität des Begriffs damit. Die Form aber der organischen Function im Denken wird nie einer aufzeigen können. | 15v In der Gegenüberstehenden Ansicht erscheint die Objectivität als vom Begriff hervorgebracht, und jene als Wirkung, Products des Begriffs. Es ist [nur] eben so wenig zu erklären, wie die Materie jemals Objectives wird, daher entsteht die Richtung, das objective Seyn, das Materielle nicht als ein dem Begriff fremdes sondern als bloße Erscheinung desselben anzusehn. Wie jenes das Materialistische sey dis das Idealistische. Daher gehört das Leibnitzsche, daß Materie gewissermaßen nichts sey als [geronnenerl [G 1 ; daß alles Objective nur Schein, in sich nichts ist, nur für und durch den Begriff existirt. Auch hierin ist das Wahre, daß alles, was [nur] als objectives Seyn in einer gewissen Form erscheint, eine Identität des Begriffs und Gegenstandes schon darbietet. M a n sollte nur sagen, es ist nichts da, als Identität des Begriffs und Gegenstandes. Das System der Begriffe, der feststehenden Formen die das Wesen der Intelligenz ausmachen, läßt sich so erklären. Wie aber die organische Function zum Vorschein kommt, das läßt sich nicht befriedigend erklären. Es kommt alles auf Negatives hmaus, wo sich nicht anschauen läßt, wie etwas bestimmtes herauskommen sollte.

19 In der] am linken Rand 2.

2 5 - 2 7 Vgl. den Sachapparat

25 Daher] Kj Dahin

zu KG A 11/10, 1, S. 46,7

2 8 was] folgt

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«sich»

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In diesem Gefühle sind Ansichten gedacht, beides zu combiniren; so daß Begriff und Gegenstand wechselseitig im Verhältniß der Causalität stehn. Von der einen Seite, alles Denken hängt von der Materie ab; nun aber ist wieder das Wissen des Absoluten da, und so wird wieder gesetzt, die Materie selbst aber hängt wieder von einem unendlichen Denken ab. Dis ist eine Mischung, aus der sich wieder nichts erklären läßt, wenn man nicht die Identität wieder herstellt. Ferner: Dasjenige, was man das Seyn nennt, sey eigentlich kein Seyn, sondern Widerschein des Begriffs; man vernichtet das Daseyn als das dem Begriff gegenüberstehende. Dagegen ist wieder die einwohnende Idee des Absoluten, und da wird gesetzt, das Daseyn, was wir gegenüberstellen, ist nichts; aber es giebt ein ursprüngliches Seyn, von welchem unser Denken wieder abhängt. Dis ist aber eigentlich dialektisch gar nicht zu begreifen und als Darstellung des Wissens nicht einzusehn. Denn fragt man nach dem Verhältniß des ursprünglichen Seyns zum erscheinenden, so ist letztres nur in sofern Schein, als es von dem Begriff ganz getrennt gesetzt wird. Es fehlt also die Idee nirgends, obwohl in der Potenz des Bewußtseyns nicht immer daseyend. Bliebe man aber konsequent bey ein er Einseitigkeit stehn, so folgte [auch] der Skeptizism.

Das Transcendentale als solches ist die Basis nicht nur des Daseyns, 26. sondern auch des Denkens und Wissens. Wir haben bisher das Wissen betrachtet; nicht ein reales, sondern den Begriff desselben. Hieraus haben wir die Idee des Ursprünglichen 25 gefunden, so daß wir sie [als] jedem Denken und jedem Seyn mitgegeben betrachten müssen. Das Denken ist offenbar unter dem Begriff der Action zu nehmen, denn es ist in unserm Seyn das Veränderliche. Wie kommt es als Action zu Stande? Jede Action drückt nicht das Einzelne allein aus, sondern 30 das Zusammenseyn zweyer. Jeder Gedanke drückt nicht unser Wesen allein aus, sondern unser Zusammenseyn mit einem außer uns gegebenen Seyn. Dieses repräsentirt hier den Gegenstand, wie selbst den Begriff. In jedem Denken ist ein Formales und ein organisches gesetzt, jenes repräsentirt die innere [Seite], dis das äußere unseres Denkens. 35 Kann man nun sagen, jenes komme dem Subjecte das dem Objecte zu? Wir setzen gewöhnlich zwischen uns und jedem äußren Seyn eine absolute Trennung, welche von der Speculation aus | betrachtet doch keine 14v

20 [auchl] oder [noch] 37 betrachtet] am linken Rand 3 / (Die Zahlen bezeichnen die Folge der Seiten - 1.2.3.4. - Beym Schreiben ist [Verwechslung] [eingetreten])

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absolute seyn kann, da unser Für sich seyn selbst durch das Zusammenseyn mit andren bestehn kann. Können wir jenes beides ebenso getrennt betrachten? Es ist gesehen, daß beides durchaus nicht getrennt werden kann. Die organische Function wird nur durch die Verbindung mit dem Formalen ein Denken. Und wieder die allgemeinsten Begriffe weisen auf das organische zurück. Eben so kann die Trennung unsres Seyns mit dem außer uns keine absolute seyn. M a n kann nicht sagen, daß die organische Function durch das Außere gemacht würde, sondern, indem die Möglichkeit derselben in uns gesetzt ist, ist das Aeußere Ursache des jedesmal Gegenwärtigen. Ein gegebenes Denken, oder eine Vorstellung eines einzelnen Dings ist nicht der Begriff seiner Art selbst, aber der Begriff ist darin involvirt. Was im Begriff der Art nicht enthalten ist, und doch ins einzelne Ding gehört, ist vorzüglich das durch die organische Function repräsentirte. Gerade das kommt uns also am meisten von außen her, was aber der Begriff, das Schema selbst, überwiegend von innen her. Es ist nicht möglich, den Begriff zu betrachten als entstanden aus der unendlichen Menge von Urtheilen, die aus der organischen Function entstehn. Denn selbst in diesen waltet schon die Richtung vor, den Begriff zu produciren. Wie bringen wir also das formale Element in einem gegebenen Denken zum organischen, so daß das Seyn des Gegenstandes dargestellt wird. Wie der Begriff zum Gegenstande, so verhält sich die Function des Begriffs, das Formale, zur Function des Gegenstandes, dem organischen. Ein Zustand, oder eine Thätigkeit wird erst dann völlig verstanden, wenn man auf die höhere Einheit zurückgeht, in der beide getrennte Factoren Eins sind. Dies ist hier Begriff und Gegenstand, deren Identität im Absoluten ist. Aus der primitiven Identität des Absoluten allein können wir also die sekundaire im Wissen verstehen. In jedem Begriff ist die ganze Reihe des Auf- und absteigens gesetzt, keine ist zu fixiren ohne das vollständige System derselben; eben so wenig ein Seyn, ohne das System desselben. In der absoluten, vor alle Trennung gesetzten Identität muß die Wahrheit des Denkens sich erklären. Das Wissen als Action wird dadurch begreiflich, daß in der Vernunft die Totalität alles Seyns liegt unter der Form des Begriffs, und im gesammten Seyn außer dem Denkenden die Totalität aller Begriffe unter der Form des Seyns. Beides ist einander wesentlich entsprechend. Jede Action besteht darin, daß sie, was seinem Seyn nach getrennt ist, vorübergehend vereinigt; (das Zusammenseyn ausdrückt) diejenigen Seiten, die wir als Begriff, als Erkennen, und als Seyn setzen, sind überall nicht getrennt; in jedem wirklichen Denken werden sie vorüberge-

3 2 Identität] Indentität

3 8 f diejenigen Seiten,] diejenige Seite,

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hend wieder eins; in jedem Denken werden wir mit dem Gedachten schlechthin eins, welches Einsseyn aus dem Primitiven erklärlich ist. Die Trennung beider ist etwas falsches, denn diese ist nur relativ; die Einheit aber ist das wahre, also muß die Action des Denkens dieser Einheit entsprechen, nicht aber der lediglich eingebildeten Trennung. Wir müssen aber auch das Nichtwissen begreifen. Wenn wir das Seyn als die absolute Erschöpfung des Absoluten in dieser Form, das Denken in der Totalität als in dieser Form ansehen, so können wir nur das Wissen begreifen: Das Nichtwissen kann nur aus einer andren Form verstanden werden. Nun aber ist mir eine relative Trennung, die wir selbst in der Action des Denkens anschauen. Durch die Action des Denkens wird | der Gegensatz zwischen Denken und Seyn aufgehoben. 16r Ist der Begriff nun etwas für sich bestehendes, dem Objectiven gegenüberstehendes? eine solche Trennung ist nirgends, denn wir sind ja auch ein Seyn, indem wir uns selbst denken können. Es ist keine absolute Trennung zwischen dem Seyn und dem Begriff als solchen. Aber das Absolute zerfällt uns in ein solches Seyn, dessen Wesen der Begriff ausmacht, und ein solches, in welchem der Begriff zurücktritt und das Objective hervor. Weil beides nicht rein geschieden ist, sondern das Denken zugleich ein Seyn ist, so müßte das Denken ein reines Wissen seyn, wenn lediglich die Action des Begriffs herrschte. Nun aber ist es Function eines einzelnen Dinges, und wenn dis einzelne Ding [mittheilsaml ist, kann es nicht reine Darstellung des Absoluten im Begriff seyn.

25 Wir gehn jetzt weiter zu dem Theil, wo das Formale vorherrscht, um zu sehen, wie wir aus jedem Einzelnen uns vorkommenden durch Hülfe des Transcendenten ein Wissen zu Stande bringen sollen. Wir gehn also jetzt zu dem Realen, wo wir das Ethische und Physische unterschieden haben, ohne es jedoch zu konstruiren. In dem for30 malen Theile können wir gar nicht hiezu kommen. Es scheint also, als könnten wir das transcendente Gebiet nicht verlassen, ohne dis nachzuholen. Indeß kann dis vollständig noch nicht geschehn. Indem wir überall das Absolute als den höchsten Begriff und das höchste Seyn gesetzt haben, von dem alles andre untergeordnete nähre Bestimmung 35 ist, so muß uns jenes erscheinen als die Totalität dieser untergeordneten Bestimmungen. Was wir im Absoluten gefunden haben, war Identität des Seyns und Gegenstands, Thuns und Seyns; hiezu kamen wir schon von dem Einzelnen heraus. Was aber in dem Absoluten identisch gesetzt ist, kann im Einzelnen nur in relativem Gegensatz stehn, weil

8 in] folgt « i n »

12 der Gegensatz] am rechten Rand 4

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sonst das Endliche ganz vom Absoluten getrennt seyn müßte. Und dies ist Kanon, alles, was unter dem Gegensatz steht, ist immer nur in einem relativen Gegensatz, nicht in einem absoluten. Unter der Form des Urtheils hatten wir den Gegensatz zwischen Seyn und Thun, dem Beharrlichen und [Ruhelosen]. Nimmer aber kann man sagen, das eine wäre ein Seyn, das andre ein Thun. Das Thun wäre gar nicht fixiren; das Seyn wäre ohne die organische Function, also gar kein ordentliches Wissen. Nur inwiefern im Endlichen beides ist, kann es Object für uns werden. Das freylich wird geschehen, daß bald das eine bald das andre überwiegend ist, doch ohne getrennt werden zu können. So dürfen wir auch den Gegenstand und Begriff nicht trennen; der Gegenstand allein ist eben der mythische Begriff der Materie, der Begriff [der] der Intelligenz. Es würde der Materie an dem fehlen, was die formale Function des Begriffs hervorrufen könnte. Das Endliche ist also auf der einen Seite ein Seyn, in welchem der Begriff das eigentliche Wesen konstituirt; auf der andern, wo der Begriff zurücksteht, und überwiegend außerhalb desselben gedacht wird. Das, was relativ überwiegend unter Potenz des Begriffs steht, ist das Ideale, das andere das Reale. Beides unter der Form der Action gedacht entspricht dem Ethischen und Physischen. Ethisch ist, worin der Begriff das Erste und ursprüngliche ist; das Reale das von ihm erst ausgehende; das Physische umgekehrt. Unser Wissen vom Gegenstande fassen wir auf als ein Abbild des Objects; unser Wissen vom Ethischen, als darin der Begriff das Urbild ist, das Reale, Objective aber das zweyte, [/sí] die Darstellung. Dis hängt mit jenen Arten des Seyns zusammen. Das, wo der Begriff zurücktritt, wenn der Begriff hineinkommen soll, daß es Darstellung des Begriffs wird, muß dis vom Begriff ausgehn, und es selbst als empfänglich erscheinen. Das Seyn aber, dessen Wesen der Begriff ausmacht, wenn das Objective hineinkommen soll, so kann dies nur kommen | durch das Objective selbst; und was im Wissen ist, erscheint als Resultat des Objectiven. Es ist hier also ein zwiefaches reales relatives Seyn, welches dem zwiefachen realen Wissen entspricht. Soll das reale Seyn dem Denken als Action entsprechen, so stehn wir in der Sphäre des Begriffs; das Denken aber ist eine gemeinschaftliche Action; es muß also über beiden ein gemeinsames, die Identität beider geben. Das ist aber nicht das Ursprüngliche selbst, denn dis ist noch höher. Jene Identität ist aber der Begriff der Welt. Denn [wenn] man Welt setzt [setzt] man eine Identität dieses zwiefachen Seyns. Also wir in unsrem Denken und Wissen stehn zunächst [nur] unter dieser

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Identität des endlichen Seyns oder der Welt. Wenn wir uns diese Identität als eine Einheit setzen, so muß in der Totalität des Wissens auch die Totalität alles Seyns gesetzt seyn. Inwiefern wir aber diese Identität als ein Allgemeines betrachten, das in mehrere zerfällt, insofern würde unser Wissen nur das Seyn ausdrücken, was in der einzelnen Welt, der wir angehören, gegeben ist. Das Wissen ist nicht eher vollendet, bis die Processe sowohl des Herunter als des Aufsteigens vollendet sind und in einander aufgehn. Von Seiten der Construction aus kommen wir auf keine [Totalitätl ; aber unser Wissen von dieser Welt ist nicht vollendet, solange wir nicht auf dem Wege der Induction auch dahin kommen. Also trägt immer jeder Begriff den Charakter des Einzelnen und Besondren an die Welt, durch Zusammenfassen des Einzelnen erscheint [s/e]als ein Einzelnes. Die Welt scheint also eine absolute Einheit, und wieder als ein einzelnes, und daher andres Einzelne neben sich habend. Das, was Subject in der Construction ist, kann nichts seyn als die Totalität alles Endlichen; das der Induction aber nur so weit, als die organischen Functionen in unmittelbarer Verbindung mit der Totalität stehen. Nun aber scheinen wir eigentlich auf die Erde beschränkt; alles andre erscheint fragmentarisch, nur erkennbar durch seine Beziehung auf die Erde. Wie weit geht denn unser Wissen, und erschöpfen unsre Begriffe die Totalität des Seyns oder nicht? Der Proceß der Induction wird überwiegend durch die organische Function vermittelt. Was von dieser in unsre Erkenntniß kommt, kann sich nur auf eine gegebene Welt als eine einzelne erstrecken (mit der Tendenz zu einem System des Erkennens zu gelangen). Was auf dem Wege der Construction liegt, wo wir das Ideale [repräsentiren], muß für die Totalität alles endlichen Seyns gelten. Der endliche Inhalt aber hängt von der organischen Function ab, so ist da doch wieder die Beschränkung auf das uns gegebene System. Und da die Gegenstände nicht sind ohne die formale Function, so ist nichts, was für alles endliches Seyn gelte. Inwiefern unser Wissen reales ist, ist es unmittelbar auf unsere Welt beschränkt, und alles draußen ist nur in Beziehungen auf diese denkbar. Inwiefern aber in unsrem Wissen das Gesetz eines [Verfahrens] sich ausspricht, gilt es für die Totalität alles endlichen Seyns. Ohne das giebt es kein Wissen, und wir würden ohne diese Annahme in den Materialismus verfallen; in jedem endlichen Wissen ist aber ein Antheil der organischen Function, der uns auf das beschränkt, | womit wir unmittelbar zusammen sind. 17r Aber der Gegensatz zwischen Erde und Außererde ist wieder nur rela-

2 muß] folgt « a u c h » 6 f die Processe] der Proceß 13 scheint ... Einheit,] Kj erscheint also als eine absolute Einheit 14 sich] uns 17 f stehen.] steht. 25 gelangen).] gelangen. 30 gelte.] gälte.

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tiv, indem immer wieder ein Zusammenhang und in den organischen Functionen selbst die Beziehung der Totalität wieder hergestellt ist. Die Gegensätze des Denkens müssen wir als die Totalität umfassend ansehn. Die Vernunft ist aber wieder Eins mit einem Organischen, und daher wissen wir nicht zu unterscheiden, wie wieder dis Zusammen- 5 seyn mit dem Körper auch das höchste Lidentificirtj. Dis wird von dem ganzen realen Wissen gelten. Wir können nie mit Sicherheit zu einem die Totalität umfassenden kommen.

28. Stunde Die Welt ist die sekundaire Identität, welche aus dem Zusammentreffen aller Gegensätze in Eins entsteht. Dagegen ist das Absolute die alle Gegensätze in sich schließende Identität. Dis hat aber keine Ableitung des Endlichen aus dem unendlichen Seyn, denn diese findet nicht statt. Sie ist nicht auf der Seite des Seyns, da Gott und die Welt ja nicht abgesondert seyn können. Auch nicht auf der Seite des Denkens, das Absolute kann nur mit dem Endlichen zugleich, die Welt nicht ohne das Absolute gedacht werden. Nur das Verhältniß beider hat aufgezeigt werden sollen. Indem man die Welt ableiten will, bekommt man immer Formeln, die nichts andres sagen, und indem sie mehr sagen zu wollen scheinen, unendliche Misverständnisse veranlassen. So ζ. B. die Darstellung der einzelnen Dinge als Abfall von Gott. Z u demselben Inconsistenten Mysticismus führt es hin, wenn man den Tod als das eigentlich Seeige und Vollkommene preist (und das Leben für Krankheit hält). Es scheint, als wenn [man] sich hier von der M ü h e des lebendigen Anschauns zu dem todten Abstrahiren zurücksehnte. Analog ist beides. Denn wenn das Seyn der Dinge Abfall von G o t t ist, so ist das Aufhören derselben Rückkehr zu ihm. Da wird denn endlich Gott selbst ein Todtes.

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Der Begriff der Welt ist bloß die Form dieser Idee. Erfüllt kann sie uns erst werden durch die Identität des Allgemeinen und Besondren; wenn die organische Function erst so weit gesteigert ist, daß sie damit 30 vereinigt werden kann. Bey dem Proceß von oben herab ist diese Idee der Welt das erste, worauf wir gekommen sind; dis ist aber noch ein Problem vom Wissen, welches noch die wirklichwerdung erwartet. Ehe das Organische nicht vollendet ist, ist noch keine lebendige Anschauung der Welt vollendet; und eigentlich wird immer in jedem wirklichen 35 Wissen somit noch eine Differenz seyn. Hier ist aber die Aufgabe, zu finden, welche Stelle ein Einzelnes in der Totalität annimmt, und welche eine Action, als das Gemeinsame

19 f Vgl. den Sachapparat zu KG A II/10, 1, S. 48,

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mehrerer einzelner Dinge. Diese Aufgabe für die formale Idee der Welt, alles herbeyzuschaffen, daß es der realen entspreche, ist aber nie zu lösen, weil es die Vollendung alles einzelnen Wissens voraussetzt, diese aber eine Unendlichkeit von Urtheilen voraussetzt. Wäre aber auch das ethische und physische Wissen fertig, so könnte doch der Weg der Induction rein für sich zwar eine unendliche Mannigfaltigkeit geben, und auf eine bestimmte Vielheit zurückgebracht werden, daß diese aber eine Totalität, ein in sich geschlossenes Ganze bildet, kann nie auf dem Wege der Induction gefunden werden. Kein Weg für sich allein gegangen führt zum Ziele. Wir dürfen also in unsrem zweyten Theil nur das zum Gegenstande machen können, worin ein Zusammenseyn des formalen und organischen Elements des Wissens gesetzt ist. Wie das transcendentale Wissen unter der Form der Identität steht, so steht das reale unter der Form des Gegensatzes. Da aber kein Begriff fixirt werden kann, außer im Zusammenhang mit dem Absoluten, und keine Action, als in der Identität des Seyns und Thuns, so ist auch aller Gegensatz der Form der Identität untergeordnet. So gewiß nichts ist, was nicht unter der Form des Gegensatzes stünde, so gewiß ist jeder relativ, einer höhren Einheit untergeordnet, auf die seine Beziehung in jedem Gliede ausgedrückt ist. Dis ist der erste, jedoch nur negative | Canon, Irrthum und Wahrheit im realen Wissen zu unterscheiden. Wenn uns ζ. B. etwas ganz formloses entgegen käme, wo also alle Identität des Begriffs aufgehoben scheint, so ist dis ein Beweis, daß wir es als Theil eines größren Ganzen anzusehn haben, worin die Identität liegen wird. Das materielle Element des Denkens geht vom Einzelnen und Besondren aus. Wir müssen also auch unmittelbar ans Einzelne anknüpfen können. Es hat sich uns aber jetzt noch nichts ergeben, als die Idee der Welt. Wir müssen also noch etwas andres finden. Alles Einzelne steht unter der Form von Raum und Zeit. Ueber den Umfang dieser Formen muß man sich nicht täuschen. Alle organische Function steht unter der Form von Raum und Zeit. Nun fängt zwar alle diese vom Einzelnen an, aber man thut Unrecht, wenn man jene Formen nur auf das Einzelne erstreckt. Vermittels des organischen Elementes steht alles unter Raum und Zeit. Man kann ferner nicht sagen, daß beides nur Formen unsrer Function sind. Denn diese ist ja gemeinsames Product unser und des Gegenstandes. In unserm Bewußtseyn liegt aber gar keine Andeutung, es bloß als Product von unsrer Seite zu betrachten.

2 7 unmittelbar] folgt

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3 7 In] in

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29. Stunde Wenn Zeit und Raum von der organischen Function abhängt, so muß es auch vom Allgemeinen und Höchsten gelten. Wir haben schon gesehen, daß [man], um einen Begriff ganz aufzufassen, auch sein Quantitatives müsse aufgefaßt haben, ζ. B. die Seltenheit oder Häufigkeit einer Pflanze, ob es einem Erdstrich eigenthümlich ist. Hier liegt schon ein räumliches Verhältniß. Eben das gilt von der Zeit, ζ. B. wenn man auf das Perennirende oder die Lebensdauer sieht. Auch kann man nicht behaupten, daß Raum und Zeit sich auf das beziehn, was bloß Resultat unsrer Organe selbst sey. Es ist klar, daß Raum und Zeit, wie sie uns afficiren, auch die Dinge außer uns afficiren, und darin das Zusammenseyn unsrer und der Dinge ausgedrückt wird. Welches ist denn eigentlich das Gebiet, auf welches sich die Beziehungen von Zeit und Raum erstrecken? Wir haben gesehen, auch auf die allgemeinen Dinge. Aber sind sie hier in den Dingen selbst, oder erst in unsren Vorstellungen? Diese Beziehungen sind wesentliche Elemente im Erkennen, und wenn dieselben bloß fürs Erkennen gehörten, so würde wieder die Identität mit dem Seyn aufgehoben. Alles reale Denken wäre dann schlechthin ein Nichtwissen. Eine solche Absonderung ist nichts als Aufheben alles realen Wissens, und ein Einbrechen von außen in den Skepticismus. Wieweit erstreckt sich aber das Gebiet, wo diese Beziehungen wesentliche Elemente des Denkens sind? - Nur das Absolute ist von denselben gänzlich losgesagt, und es macht kein Element davon aus; vielmehr denken wir es uns falsch, wenn wir eine solche Beziehung hineinbringen. Dis allein ist das schlechthin Unzeitliche und Innerliche, Unräumliche. Sobald uns ein getheiltes Seyn gegeben ist, ist damit zu gleicher Zeit Raum und Zeit gesetzt. Der Raum ist die Geschiedenheit des Seyns; die Zeit Geschiedenheit der Actionen; Raum und Zeit verhalten sich wie Seyn und Thun. Wenn aber der Raum nichts ist, als die Geschiedenheit des Seyns, so ließe sich das Getrenntseyn im Räume denken, wie aber, daß jedes Ding wieder einen Raum einnimmt? Aber jedes Ding ist eine Einheit und eine Mannigfaltigkeit zugleich. Es ist also in dem Dinge selbst eine Geschiedenheit gesetzt, und diese ist eben der Raum selbst. Darum giebt es auch kein Verstehen des Dinges, wenn man nicht sieht, wie jeder Punct seines Raums zu den übrigen sein eigenthümliches Verhältniß hat; nicht nur im Gebiet des Organismus, sondern auch des Anorganischen. Denn überallhin begleitet uns die Form (Kristallisation) [;] das Ding wird also in seinem Wesen nur erschöpft, wenn wir seine unendlichen Verhältnisse mit kennen. | 18r Und wo auch die Form doch nicht als äußeres ist, ist es doch als Innerliches, z. B. in Ansehung der [Textur]. Auf der andern Seite sehn wir im Organischen eine Verschiedenheit von Functionen, deren jede ihre untergeordnete Einheit hat; also in seiner Einheit ist ein Geschie-

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denseyn gesetzt, und das ist sein Erfüllen des Raumes. Das Scheinbarkleinste hat noch eine organische Structur für sich. Die einzelnen Glieder und Functionen stehn in einem unendlichen Verhältniß. Wenn man aber nach Leib und Seele fragt, so hört hier das räumliche auf; denn die Seele ist nichts, als die absolute und innerste Einheit des Lebens selbst, sie ist das überall gegenwärtige. Sehn wir auf den innren und äußren Raum, d. h. den das Ding einnimmt, und der seine Trennung von andren aussagt, so erstreckt sich der äußere Raum soweit, als sich das Geschiedenseyn der Dinge von einander erstreckt. Zugleich bezieht sich dieser Raum auf eine Einheit, die sie beide umfaßt, ζ. B. auf der Erde die Erde selbst, so giebt es eine Beziehung auf unser Sonnensystem und dieses zu andern Sonnensystemen. So deutet der äußere Raum [auf] die Relativität der Geschiedenheit, wie der innere [auf\ die Relativität der Einheit hin. Und wie dort im Gegensatz der Seele der innere Raum verschwindet, so wird der äußere verschwinden, wenn man die Totalität der Welt denkt. Ob diese im Raum ist, ist eine abgeschmackte Frage. Dasselbe Verhältniß findet sich in der Zeit. Denken wir ein Seyn in Thätigkeit, so beziehen wir die Thätigkeit des ganzen Dinges. Eine Action ist aber ein Zusammenseyn zweyer Dinge, deren räumliche Geschiedenheit also dadurch aufgehoben wird. Für den Moment einer Action ist der Raum vernichtet. Aber sie setzt die Zeit; denn sie ist nur Action, indem sie eine Geschiedenheit im Nacheinander setzt. Als Actionen können sie ja nur gesetzt werden, indem sie vom Seyn verschieden seyn sollen. Wo eine Thätigkeit ist, ist auch Zeit; und zwar theils als erfüllte, theils als Zwischenzeit, weil auch jede Action sich unendlich theilen läßt. Beide verhalten sich wie der erfüllte Raum und Zwischenraum. Wenn jemand fragt, wie kommen wir zu Raum und Zeit, ist es eben so, als wenn er fragte, wie kommen wir zu den Dingen oder zu uns selbst. Eben so, wenn jemand fragt, ist Raum und Zeit ein Ding oder eine Vorstellung, so fragen wir zurück: wie trennst Du Dir den Raum von den Dingen? er ist die Art zu seyn der Dinge, wie die Art, die Dinge vorzustellen. Dieses ganze hat keinen Grund als die Vorstellung von dem Undinge des leeren Raums. Wir reden natürlich nicht davon, ob der Raum mit Materie erfüllt seyn müßte; auf jeden Fall ist er mit Actionen erfüllt, denn er ist ja gerade das, was die Einheit der Actionen ausdrückt. Wo Raum ist, ist Action. Die Vorstellung des leeren Raumes ist etwas leeres. Raum ist die Art zu seyn der Dinge, die Getrenntheit, Geschiedenheit ihres Seyns.

1 9 so beziehen . . . Dinges.] Kj so beziehen wir uns a u f die T h ä t i g k e i t des ganzen Dinges.

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Zweiter Teil.

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Dis ist das rein transcendentale von Raum und Zeit, das auf das Formale den Einfluß hat, daß wir nirgends ein Wissen setzen können, als wo wir das Erkannte auch in räumlichen und zeitlichen Beziehungen gesetzt haben.

Wie ist ein jedes Denken so zustande zu bringen, daß es wirkliches Wissen werde, und wie kann man sehn, ob ein gegebnes Denken dem Wissen nahe komme oder nicht? Die Regeln hiezu können nicht anders gefunden werden als aus der allen mitgegebenen Idee des Wissens. Wir haben daher mit der bisher gegebenen Anschauung nur immer weiter ins einzelne zu gehen. In wiefern leistet die gewöhnliche Logik dies oder nicht? Die Logik handelt gewöhnlich von Begriffen, Urtheilen, Schlüssen. Diese können höchstens Anleitung geben, einen einzelnen Gedanken zu untersuchen, aber nicht um von einem ein Wissen zu machen. Dazu bedarf es einer Regel des Fortschreitens. Diese wollen einige geben unter dem Titel der Heuristik (Baumgarten). Diese ist in eine Heuristik des reinen und des empirischen Wissens getheilt. Hier ist gleich das π ρ ώ τ ο ν ψευδός, es giebt kein Wissen, was nur eins von beiden wäre. Es müßte also noch einen dritten Theil geben, der die beiden vorigen überflüssig machte, aber auch nach jenem Grundfehler nicht da seyn kann. - Was aber den elementarischen Theil angeht, so sind erstlich 18v die Schlüsse schon abgeschnitten. Der Syllogismus ist nur eine Analyse eines Urtheils, der deutliche Begriff von einem Urtheil, aber nichts für sich. - Die heuristischen Anleitungen der Logik gehen besonders auf richtige Bildung der Sätze, nicht der Begriffe. Schon dies ist eine Einseitigkeit. So kommt man zurück auf indemonstrable Sätze, Axiome, die jeder sogleich anerkennen muß. Mit dem Annehmen solcher ist es auch etwas sehr Misliches, denn das Gefühl der unmittelbaren Gewißheit ist nichts untrügliches. Es bedarf eines Critériums, das in der Logik nicht zu finden ist. Die Axiome aber sollen gebildet werden aus Definidonen, und so kommen wir auf das punctum saliens des ganzen Gebäudes. N u n läßt die Logik 2 Arten Definitionen zu, Real und Nominaldefinitionen. Jene soll das Wesen des Dinges ausdrücken, diese nur einen Complex von Attributen bilden. Wie konnte man 2 so verschiedne Acte

30. Stunde

1 das] die

1 5 - 1 7 Vgl. den Sachapparat zu KG A ¡1/10, 1, S. 50 f, 25-3 2 6 f Vgl. den Sachapparat zu KG A lUlO, 1, S. 50 f, 25-3 3 0 - 3 4 Vgl. den Sachapparat zu KG A III 10, 1, S. 51, 5-8

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unter Einen Begriff bringen. Nur eine Real oder genetische Definition ist eine wahre (das Reale geht auf das fixirte Seyn, das genetische auf die Action.) Ein Complex von Eigenschaften ist etwas ganz willkührliches. Jeder einzelne Act des Denkens kann ein Wissen seyn nur im Zusammenhang mit allen übrigen. In die Totalität alles übrigen hineingesetzt wird erst etwas ein Wissen. Wir nehmen also keinen Gegenstand für sich, sondern [setzen! seinen Ort in der Allgemeinheit des Seyns, und den Ort seines Begriffs in der Allgemeinheit des Wissens. Dazu müssen wir aber die ganze Scala der Begriffe aufgefaßt und ihm seinen Ort darin angewiesen haben. Also nur aus seiner höheren Sphäre, und indem sie die Möglichkeit enthält einer untergeordneten Mannigfaltigkeit haben wir den Begriff. Jede rechte Definition ist also eine Realdefinition. Eine Nominaldefinition kann uns nur etwas sagen, als in wiefern in Absicht auf diesen Gegenstand der Proceß der Deduction und der Induction noch nicht zusammengetroffen sind, insofern wir gewiß wissen, daß wir noch keinen Begriff von dem Dinge aufstellen können. Nie werden wir also beiden gleichen Werth beylegen können. Auch erkennt die Logik die Unzulänglichkeit der Nominaldefm/£/on an, weil diese nie die Sicherheit gewähren kann, daß wir durch sie einen Gegenstand von allen andren unterscheiden. Aber das erhellt, daß die Logik gar nicht wie wir auf ein Wissen ausgeht, sonst könnte sie diese Gleichsetzung nicht haben; die Construction des Wissens in seiner Totalität ist der Gesichtspunct nicht. Welcher ist es dann? ein solcher, worin ihm der Unterschied des eigentlichen Wissens und des vorläufigen, provisorischen, fragmentarischen verschwindet. Diese Procedur ist uns also unzulänglich. Die Logik kann daher auch immer nur von dem Gegebenen ausgehn. Sie erhält also alles nur unter dem Titel der organischen Function, ohne es aus dem Absoluten zu begreifen. Wir gestehen die Nothwendigkeit des Gegebenseyns zu, erklären aber nur das für wissen, wo auch die reine Deduction eingedrungen ist. Daher die unstatthafte Eintheilung der Heuristik. - Wie kann ferner aus einer Definition ein Axiom hergeleitet werden, als dadurch, daß die beiden Termini Subject und Prädikat bilden, daß man also leere identische Sätze bekommt? Alles was aus einem solchen Verfahren hervorgehn kann, ist schon in der Definition enthalten. - Wie soll man denn hier zu dem vollständigen Begriff, zur Definition gelangen, welche nun grade die wesentlichen Merkmale des Gegenstandes enthalten soll? Aus mehreren Merkmalen, die gesammelt sind, ihn abzuleiten, indem man das Zufällige sondert, damit kann man nie zu Stande kommen. Die Merkmale sind entweder Actionen, oder etwas in seinem fixirten Seyn gegebenes. Unmittelbar kommt der Wahrnehmung nur die Action vor. Was zum Wesen des Gegenstandes gehört, findet man nicht durch Wahrnehmung. Wie will man dann ausmachen, was zum Wesentlichen und

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was zum Veränderlichen gehört? ohne eine [Anweisung! einer richtigen Begriffsbildung kann man nicht einmal den Anfang finden; viel weniger das Ende, da unendliche Urtheile möglich sind. Die Logik ist nur für das Gebiet des fragmentarischen Wissens gemacht, worin man sich über gewisse Dinge schon versteht. Daher hat die eigentliche Wissen- 5 schaft mit der Herrschaft der Logik immer abgenommen. Weil es an einem Organon der Begriffsbildung fehlte, daher immer neue Systeme. Den Anfang finden wir in Aristoteles, und schon in ihm einen großen Scharfsinn, und oft glückliche Combination, aber gänzliche Unfähigkeit, die Wissenschaft in der Totalität zu begreifen. Auch bey den Scho- 10 lastikern wurde alles nur einzeln getrieben. Die Idee der Wissenschaft hat kaum in einem oder dem andren Kopf sich geregt. In diesem Einzelnen, und willkührlichen Combiniren hat man immer bis in die neueste Zeit gelitten. Die Logik ist Kanon des Raisonirens geworden, und hat grade die Zerrissenheit des Wissens begünstigt. Die bisherige Logik 15 darf uns daher nicht irren. | 19r Alles Denken ist Constitution eines Begriffs oder Formung eines Ur31. Stunde theils. Hierauf werden wir das vorher vom Wissen überhaupt gefundene anzuwenden haben. Indem wir aber nicht von der Ansicht ausgehn, als bedürfe jedes Wissen eines Zusammenhangs und Zurückkehrens auf ein andres, wie die Logiker thun, haben wir nicht nöthig, über die Verknüpfung des Denkens besonders zu handeln, was jene mit Unrecht versäumten. Die Idee des Wissens hat ihre Gewißheit in sich selbst, und so auch jede Erkenntniß, inwiefern sie nichts ist, als diese Idee selbst in eine gewisse Beziehung gesetzt und auf einen gewissen Gegenstand bezogen. Wie vorher aufwärts haben wir jetzt nur den Gang abwärts zu nehmen. Jedes einzelne muß die ganze Fülle der Idee wiedergeben. So werden wir keine besondren Regeln der Verknüpfung zu geben haben, denn dadurch erlangt es keine Gewißheit. Man könnte nur schließen, wenn das Angeknüpfte falsch und das Verfahren richtig ist, auch das, woran geknüpft wird, falsch seyn müsse. Dis ist aber etwas wenig bedeutendes, und was uns dem Wissen nicht näher führt. Dies kann hier nur als Anhang betrachtet werden. Hier kommt es nur darauf an, daß wir das Wissen nicht bloß in der Idee, sondern auch als Action, in der Zeit vorkommende Thätigkeit betrachten. Wenn ein Denkact nicht ein Wissen ist, was ist er dann? Das Wissen ist ein werdendes, niemals ein ganz vollendetes. Kann nun dem Acte der als Wissen unvollendet ist, noch auch in Ansehung des Denkens etwas fehlen ? Er wäre gar kein Act, wenn er nicht als Denken

1 7 Alles]

am Rand

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einmal vorhanden wäre. W a s ist denn die Differenz des D e n k e n s und Wissens? Es ist in ihm eine Uebereinstimmung von G e d a n k e und Gegenstand gesetzt. Dis muß auf zwiefache A r t erscheinen. N i m m t m a n das Wissen als G e d a n k e n , und hinzu, d a ß es allgemein ist, k a n n m a n sagen, es ist ein solcher G e d a n k e , daß jeder andre ihn sich sogleich als Wissen aneignet. Sehn wir auf den, der den D e n k a c t vollbringt, so kann eine Identität des Denkens und G e d a c h t e n daseyn, o h n e d a ß sich das Denken desselben bewußt wird. Wir setzen also eine Trennung des objectiven und subjectiven C h a rakters, und es kann j e m a n d zu wissen glauben, o h n e d a ß doch die Einheit darin wäre. Drittens kann dem Wissen weder der objective noch subjective C h a r a k t e r fehlen. Fehlt dem Denken die objective Einheit, ohne d a ß auch der D e n k e n d e diesen C h a r a k t e r hineinsetzt, folgt daraus ein reines Nichtwissen. Inwiefern ein D e n k a c t vollzogen werden soll, ist im Denkenden selbst entweder der subjective C h a r a k t e r des Wissens, er hat in sich das Gefühl der Uebereinstimmung des Seyns und Denkens, oder er will gar nicht diese Uebereinstimmung, p h a n t a sirt wissentlich, wofür wir hier aber keine Regeln suchen. D e r objective C h a r a k t e r ist aber entweder wirklich darin, und das Gefühl ein richtiges, oder er ist nicht darin, und das Gefühl der Uebereinstimmung ein unrichtiges. Was für Wissen gehalten wird o h n e es zu seyn, ist I r r t h u m , und gerade davor wollen wir uns hüten. D a s Gefühl beruht entweder darauf, d a ß im D e n k a c t die Idee des Wissens selbst angeschaut wird, das eigentliche wahrhafte Erkennen, oder das Gefühl ist zwar Product der Identität, aber ohne d a ß das angeschaut wird, dann ist das Wissen als solches ein unbewußtes (nach Plato die richtige M e i n u n g , denn M e i n u n g bezeichnet ein G e b i e t , das aus Wissen und Irrthum g e m a c h t ist). Wahres Wissen kann nur zu Stande k o m m e n , indem m a n in der Construction des Denkens aufs Wissen ausgeht. Sonst aber k a n n | zwar Vieles vorkommen, was dem Inhalt nach Wissen ist, aber es fehlt die F o r m , daß man mit dem einzelnen das A b s o l u t e zugleich hat, und ein solcher D e n k a c t ist dann wirklich eine M e i n u n g , da er wahr und falsch seyn kann. D a wir uns in die C o n s t r u c t i o n des Wissens begriffen sezen, müssen wir darauf achten, d a ß wir in jeder C o n s t r u c t i o n eines D e n k actes uns durch Gegenwärtighaben der Idee des Wissens vor dem Irrthum hüten können. Wir müssen jene aber wenden auf die A r t und

7 kann] kann sich 15 Denkenden] Denken 2 8 ist).] ist. 3 4 müssen wir] müssen wir uns 34 f Denkactes] folgt müssen w i r » 35 Wissens] folgt « u n s »

2 6 Vgl. den Sachapparat

zu KGA 11/10, 1, S. 109, 19-21

(§ 168,

2)

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Zweiter Teil.

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Weise, wie es in der Wirklichkeit vorkömmt. Dazu gehört eine allgemeine Anschauung des Wissens, wie es als Act vorkömmt.

. Stunde

Wir haben erst im Allgemeinen, ohne Rücksicht auf die beiden Formen des Denkens, die Genesis des Irrthums und des Wissens klar zu machen. In dem Wissen muß eine Identität des Formalen und des Products der organischen Function seyn. Diese Identität muß in jedem Denken, also auch in jedem Wissen seyn. Durch das formale Element wird die Einheit der Vorstellung, durch das organische die Mannigfaltigkeit hervorgebracht; diese ist also das Besondre, jenes das Eine; dis das den Gegenstand, jene das die Idee unmittelbar repräsentirende. Die Uebereinstimmung verschiedner Systemen des Wissens muß in Ansehung beider verschieden seyn. Beym bloßen Denken wird die Einheit nur in der Handlung seyn, im Wissen wird die reine Einheit von Begriff und Seyn stattfinden. Gehören das organische und formale Element in einem Denken zusammen, so ist es ein Wissen, wo nicht ein Irrthum. Nun fragen wir, wie geschieht es, daß in Einer Vorstellung bald zusammenhängende Denkelemente verbunden werden und bald wieder nicht. Wie kommen beide Elemente in der Einheit der Vorstellung zusammen? Wäre in uns selbst ein nothwendiges Band zwischen beiderley Elementen im Einzelnen, so wäre der Irrthum ganz unmöglich. Da aber die Möglichkeit des Irrthums mit der Differenz der Vorstellungen über Einen Gegenstand nothwendig gesetzt ist, so giebt es auch kein solches nothwendiges Band. Diese Nothwendigkeit könnte nur stattfinden, wenn aus uns als einem gemeinschaftlichen Puñete beide Arten von Elementen ausgingen. Aber jedes gegebene Denken geht erst von einem dieser Elemente aus, das andre ist das hinzukommende. So werden wir überall die Operation der Begriffsbildung ansehn müssen, daß sie entweder von der organischen Function ausgeht, oder von dem lebendigen Bewußtseyn eines Systems oder Systemgliedes, wozu wir das entsprechende Objective suchen. Eben so bey der Action und dem Urtheil. Beide sind also als geschichtliches Wissen nicht identisch, und darin liegt die Möglichkeit des Irrthums, daß beide als gegeben nicht identisch sind, sondern immer eins das frühere, das andere das Spätere ist. Folglich, ehe zum früheren das spätere hinzukam, war noch gar kein Bewußtseyn, aber dieses kann doch nicht anders entstehn, da zwey Elemente desselben sind, als in diesem Gegensatz des früheren und späteren. Die einseitigen Ansichten, welche [uns] schlechthin als das Primitive setzen, erklären aber die Möglichkeit des Irrthums nicht; denn ent-

3 2 Möglichkeit] möglichkeit

3 4 - 3 7 Folglich . . . späteren.] am linken

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weder liegt darin eine gewisse Nothwendigkeit oder nicht; liegt sie darin, so ist kein Irrthum möglich, wenn aber nicht, keine Wahrheit. Da nun das Bewußtseyn ein Continuum ist, so müssen wir in jedem Moment eine doppelte Thätigkeit setzen, eine des Sinnes, die nach außen geht, und mit den Dingen zusammen das Organische gibt, und eine der Vernunft, rein nach innen, welche das ganze System, alle formalen Elemente des Denkens und Wissens enthält. Wir haben schon gesagt, daß die Begriffe etwas angeborenes sind, inwiefern sie auf Actionen beruhn, die in der Vernunft schon abgesondert von dem Einzelnen seyn müssen. Eben so ist es auch mit dem Urtheil, da dieses mit auf dem Begriff beruht. Indem der Begriff uns so einwohnt, stellen wir die Einheit des Begriffs und Gegenstandes dar und sind Abbild des Absoluten. Der Begriff wohnt uns ein | und ist so gewiß in uns, als wir objectives Seyn haben. Aber hervortreten kann er nur in der Verbindung mit dem Realen, und hier tritt er als das ideale auf. Wir werden des Begriffs nicht inne als in Verbindung mit dem, was sich zu ihm verhält, wie das Reale zum Idealen. Die Elemente der organischen Function aber können gar nicht zum Bewußtseyn kommen, ohne von dem Formalen in eine Einheit gebunden zu seyn, und das Formale nicht ohne das organische. Indem unsre Denkacte unvollendet sind, ist ein Streben beider darin, sich zusammen zu vereinigen. Gesondert können wir diese Formen nie als einen Act denken, sondern nur als Bestreben, dessen wir uns aber aufs bestimmteste bewußt werden können. Suchen wir einmal unser Bewußtseyn aufzuhalten, so finden wir jedesmal ein Bilden einer bestimmten Vorstellung, worin Ideales und Reales sich combinirt, aber keinesweges daß diese Vorstellung unsern Sinn erschöpfte, sondern diese war nach allen Seiten hingerichtet. Also das Gemüth von dieser Seite ist in einer beständigen Agilität; Momente verschwinden und kommen hinzu. Achten wir ebenso auf die Thätigkeit der Vernunft, die isolirt auch nur ein Streben ist, ein formales Element zum wirklichen Bewußtseyn zu bringen [d. h. mit] einer organischen Function zu verbinden. Denn wir besitzen nur einen Begriff wenn er einmal zu einer lebendigen Production von der organischen Function verbunden war, als Erinnerung sucht er nur die organischen Elemente wieder auf. Uns selbst denken wir in einem beständigen Bestreben diese und die noch in uns ruhenden formalen Elemente zum lebendigen Heraustreten zu berühren. Man wird sich die Sache sehr klar machen, wenn man sich nur die Art der Entstehung der Vorstellungen beym frühsten kindlichen Zustande des menschh'c/^n Geschlechts denkt.

5 gibt,] geben,

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So ist [mir] [nun] [aber] Irrthum und Wissen als ursprünglich gleich möglich gesetzt. Vereinigt sich unzusammengehörendes in eine Vorstellung, so setzt man eben dadurch den I r r t h u m . J a aus diesem m u ß das Wissen genetisch entstehn. Bey dem ersten Vereinigen ist unmöglich eine G a r a n t i e da für das Passende; ehe nicht das ganze 5 System der Begriffe zum Bewußtseyn g e k o m m e n ist. Von vorne herein kann also das Denken nur eine M i s c h u n g von Wissen und Irrthum seyn, und auf die Genesis des einzelnen gesehn entsteht das Wissen nur aus dem Irrthum. - Von dieser M ö g l i c h k e i t des Irrthums gehn wir aus, und konstruiren sie uns nach allen Seiten. 10 N u n scheint es aber eine ursprüngliche F o r m des Begriffs zu geben. Unsre Eintheilung beruht auf dem Gegensatz von Seyn und T h u n . Aber das G e b i e t beider ist gar nicht so getrennt, d a ß nicht auch mit dem, was ein fixirtes Seyn repräsentirt, die F o r m der Action verbunden werden k ö n n t e und umgekehrt. Dis ist allerdings eine häufige 15 F o r m des Irrthums, er wird sich aber von selbst legen, wenn wir erst den I r r t h u m an der Begriff- und Urtheilsbildung klar machen.

35. Stunde Wir wollen die M e t h o d e aufsuchen, nach der wir bey Bildung der Begriffe und Urtheile zu Werke gehn können. Es frägt sich, womit wir anfangen sollen. Wir haben es hier mit einem Geschichtlichen zu thun, wie jedes ins Bewußtseyn eintritt. D a nun, scheint es, müssen wir mit dem Urtheil anfangen. D e n n gewiß werden früher Actionen wahrgen o m m e n als Dinge. D a s erste, worauf sich die Thätigkeit des M e n schen richtet, ist das Licht und seine A c t i o n e n ; Farbe, Bewegung; durch beides wird eine Action w a h r g e n o m m e n . Einen [ 1 zu fixi20v ren, dazu gehört eine viel complicirtere | T h ä t i g k e i t . D e r M e n s c h muß irgend etwas früher wahrnehmen als die einzelnen D i n g e ; denn im Fall die letzteren, stellt der M e n s c h sich auch schon als einzelnes Individuum hin, was erst später geschehn k a n n . Allerdings muß alle Action auf ein Subject bezogen werátn, aber nicht auf ein bestimmtes das eine bestimmte M e n g e derselben zusammenfaßte, sondern auf ein allgemeines Subject, aus dem sich erst später die einzelnen aussondern. Dis zeigt sich auch in der Sprache, denn jeder wird gestehn, d a ß das unpersönliche Z e i t w o r t das erste ist, aber nachher nur übrigblieb, wo die Unbestimmtheit des Subjects nicht aufgehoben ward. Auch zeigt sich das

1 [miri Inunl [aber]] oder [nunl [miri lder| er die letzteren wahrnimmt,

3 5 - 5 9 , 2 Vgl. den Sachapparat

2 7 f im Fall die letzteren,] Kj. im Fall, daß

zu KG A U/10, 1, S. 53, 23 f

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im Hebräischen und den verwandten Sprachen, wo die dritte Person das Primitive ist. Wenn es auf eine reale Construction oder kritische Revision der vorhandenen ankäme, räth Sehleiermacher auch, von der Action auszugehn. Sehn wir aber auf die ausgebildete Form des Bewußtseyns, so ist klar, das Urtheil ist eine Synthesis von Begriffen, und kann nicht ohne diese verstanden werden (wiewohl eine eben so ursprüngliche Action). Der Begriff repräsentirt mehr das Seyn, das Urtheil das Thun; wir sind aber gewohnt, alles Thun auf ein Seyn zu reduciren. Darum ist es nothwendig, daß wir erst von der Begriffsbildung ausgehn. Also vom Begriff und dessen Construction. Der Begriff ist der Repräsentant des Seyns in unserm Denken, das Urtheil der Action. Wie aber kein voller Gegensatz beider stattfindet, sondern jeder unter der Potenz des andren steht, so steht auch das Urtheil unter der Potenz des Begriffs, und wir haben es daher nicht bloß mit den Substantiven, den Repräsentanten des Seyns, sondern auch mit den Verben, die zeitlich die Action ausdrücken, zu thun, denn auch diese sind Begriffe. Die Action steht unter der Form des Begriffs, weil in ihr dieselbe Unterordnung sich findet. Jede Action in ihrer Besonderheit ist ebensowohl ein Exemplar der Action in ihrer Allgemeinheit, als das Ding der Gattung, deswegen kann sie in die Form des Begriffs eingehn. Wir haben also 2 Klassen von Begriffen, solche, die ihrer Natur nach geeignet sind, das Subject zu bilden (Nomina) und solche, die Prädicate, und nur indirect Subject werden können (ein Infinitiv, der die Form des Substantivs annehmen kann, und Verbalia) [Differenz] beider Klassen. Indeß vorher: Ein Begriff, der als Act des Bewußtseyns vorkommt, kann nie vollendetes Wissen seyn, ausgenommen die Ideen des Absoluten (die aber als einzelnes und dem andren koordinirt nicht hervortreten kann, sondern jedem mitgegeben ist) und die Totalität des Endlichen, die aber nie vollendet gegeben werden kann. Was zwischen beiden liegt, ist immer ein Zusammenseyn von Wissen und Nichtwissen. In der Idee des Absoluten ist die Identität des Besondren und Allgemeinen. So auch in der Idee der Welt, da sie voraussetzt, daß man im Einzelnen zugleich die Totalität des Ganzen anschaue. Im wirklichen Wissen aber sind wir ursprünglich ans Einzelne gewiesen, wovon die organische Function ausgeht. Zum Allgemeinen müssen wir kommen von der Idee des Absoluten aus, denn vom Einzelnen findet kein Uebergang zum Allgemeinen statt. Hier haben wir also einen Gegensatz des Allgemeinen und Einzelnen statt einer Identität. Das Besondre ist das, was uns durch das äußre Seyn unmit-

3 räthj räht

2 1 Ding] Kj Ding ein E x e m p l a r

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telbar gegeben ist, aber im Denken nie rein aufgeht. Das Allgemeine ist das, was in der Einheit des Bewußtseyns ganz vollständig gegeben ist; es entspricht dem äußren Seyn, dis erscheint aber immer nur als einzelnes Seyn, das außer dem Allgemeinen noch etwas mehr enthält. Das Allgemeine geht also im Begriff vollkommen auf aber nicht im Seyn. In jedem Bewußtseyn geht also der ganze Proceß der Begriffsbildung darauf, das Allgemeine und Besondre | zusammenzubringen, es ist aber hier nur eine Annährung möglich, der Begriff ist also im Einzelnen [ein] [nie] vollendetes Wissen. Zwar geht die allgemeine erzeugende Kraft im Begriff auf, aber eigentlich ist das auch nicht strenge wahr, weil in dem allgemeinen Begriff auch die organische Function nicht fehlen darf, und er, inwiefern er hievon ausgegangen ist, er etwas enthält, was nicht im Begriff aufgeht. Ueberall finden sich die Spuren von dem Ausgehn auch von dem andren, und nur im Absoluten verschwindet der Gegensatz von Allgemeinem und Besondrem. Da also die Identität des Allgemeinen und Besondren in jedem Begriff nie ganz vollendet ist, sondern ein Mangel erst supplirt werden muß, durch das hinzutretende Gefühl der Ueberzeugung, so bleibt die Begriffsbildung nicht nur darin unvollendet, daß es immer noch neue Begriffe zu bilden giebt, sondern daß auch bey jedem einzelnen Begriff noch eine Unsicherheit, noch keine Garantie da ist seiner Richtigkeit. Nur das Absolute wissen wir absolut. J e weiter herunter, desto schwerer ist die Identität nachzuweisen. Wir müssen also nie etwas als absolut beendigt ansehn, und immer zuerst darauf sehn, was in einem aufgestellten Begriff das Wissen und das Nichtwissen sey. Dis ist die erste Maxime für die Klarheit des Bewußtseyns und die Reinheit des Erkennens von dieser Seite.

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34. Stunde 2 Klassen der Begriffe, Nomina und Verba. Jene bezeichnen mehr das feste stehende Seyn, letztere das Fließende. Zugleich haben wir 2 Processe der Begriffsbildung; Deduction von unten herauf, Construction, 30 das Theilen von oben herab. Wie Seyn und Thun nur relative Gegensätze bilden, so auch diese beiden Processe. In jedem Denken müssen beide vereinigt seyn, unabhängig von einander nur wie die Functionen eines Lebens, ohne deren jede das Leben nicht bestehen kann. Wir werden nirgends eins isolirt finden, wenn wir auf die Realität sehen; sie 35 sind immer in einem Einswerden begriffen, so wie sie im Wissen wirklich Eins sind. Bey der Wahrnehmung findet zugleich ein Zusammen-

9 [einl [niel] oder

[niel l e ' n l

2 9 letztere] letzteres

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fassen in eine Einheit des Begriffs statt; man sucht zugleich es unter einen Begriff zu bringen, wenn auch verschiedene auf verschiedene Weise (anders ζ. B. eine Pflanze der Pflanzenkenner, der Nichtkenner oder noch andere) [;] wenn wir uns auf dem Gebiet des Bewußtseyns befinden, findet sich immer eine Induction und hierin zugleich eine Identität mit der Construction, eine Beziehung auf das Allgemeine. Und wer construirt, von der höhren Einheit aus eine Theilung macht, dem stellt sich sogleich das besondre dar, das unter die verschiedenen Glieder der Eintheilung fällt, also eine Identität mit der Induction. Also 2 relative Gegensätze; einen objectiven des Begriffes selbst, einen subjectiven der sie bildenden Thätigkeit. Wir fangen mit dem objectiven an. Verhältniß des Qualitativen und Quantitativen in ihnen. Nimmt man eine productive Kraft, so verschwindet das Quantitative fast ganz; ein untergeordnetes kann nicht mehr oder weniger, sondern nur absolut darunter gehören. Ein Säugethier ist nicht mehr oder weniger Säugethier als ein andres (eins kann kleiner seyn als das andre; dis fällt aber nicht unter den Gesichtspunct des Seyns, sondern des Werdens). Sieht man auf die Actionen, so tritt das quantitative Verhältniß hervor. Einzelne Thätigkeiten können kaum anders als quantitativ, durch ein mehr oder weniger bezeichnet werden. Im Lieben ζ. Β. | ist zugleich ein Mehr oder weniger; eine 21v Action, die darunter gehört, kommt nicht anders zum Bewußtseyn als mit dem der Intension (Plato Parmenides und Charmides, wo davon die Rede ist, ob davon, wo ein Mehr oder Weniger ist, es Ideen geben könne. Die productive Kraft in der Identität mit dem Begriff ist die Idee); in der Action ist kein eigenthümliches Seyn, sondern nur ein Zusammenseyn. Dis bildet einen wesentlichen Unterschied. Alle solche Begriffe, die ein Mehr und Weniger einschließen, repräsentiren mehr eine Action als ein Seyn. Z. B. Verstand, Einbildungskraft, was nur Modificationen Einer Action sind, zu denen es kein Subject als das Denkende giebt. Der Gegensatz zwischen Seyn und Action ist auch kein absoluter. Denn das einzelne Seyn ist nichts als eine Production der einzelnen Kräfte. Dis giebt aber eine Leitung, wo es darauf ankommt, gleich klar zu werden, wie man es anzufangen hat. In der Idee eines Weltkörpers giebt es ein Mehr oder Minder; in der Idee eines Planeten liegt die des Weltkörpers weniger als die einer Sonne, weil jener in einer Dependenz ist. Und so giebt es kein reales Seyn, welches

7 construirt,] Construirt,

2 3 - 2 5 Vgl. den Sachapparat

zu KG A 11/10, 1, S. 54, 28 bis S. 55, 1

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Zweiter Teil.

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nicht beide Betrachtungsweisen zuläßt. Man muß immer einig seyn, welche Beziehung jedesmal vorherrschen muß. Ein andrer wesentlicher Unterschied ist: Je mehr man vom Besondren zum Allgemeinen heraufsteigt, um desto mehr nimmt die Zahl ab; umgekehrt zu. Das höchste ist das ούτως ov, eine Einheit; das unterste die einzelnen Dinge; womit zugleich die nothwendige und unbestimmbare Vielheit gegeben ist. Durch die Construction kann man nie die einzelnen Dinge als bestimmte Zahl begreifen. Der Klasse, die das Seyn repräsentirt, ist es nur wesentlich, daß die Bestimmtheit der Zahl ganz dicht bis an [das] Einzelne geht; wenn es auch weiter herunter, wo die Induction schon mehr zu wirken anfängt, vorläufig nur als Aufgabe betrachtet werden kann. In der Klasse der Actionen schließt sich die unbestimmte Vielheit gleich an das höchste an, man kann den Proceß der Construction nicht so weit fortsetzen. Gewisse allgemeine Functionen des Lebens wird man noch in einer bestimmten Zahl angeben können; ζ. B. im Menschen die Vernunft, Animalität, Vegetation, und elementarische; aber viel weiter wird man nicht kommen können; wie man ζ. B. das lieben gesetzt hat, in welchen Stuffen man im Seyn noch weit fortschreiten kann, findet man gleich eine unbestimmte Vielheit; weil nämlich diese 2 Factoren hat; anders ist die Liebe zum Menschen und zu einem Thiere, deren jedes nur ein mannigfaltiges ist. Der Proceß des Specificirens geht also dort viel weiter herunter als hier. Absolut ist der Gegensatz nicht. Je mehr aber der Proceß des Gattirens sich fortsetzen läßt, um so mehr werden wir einen Begriff in die erste Klasse zu setzen haben.

Die Action hat eine Verschiedenheit der Intension, der Begriff, der die Form der Dinge bezeichnet, eine Fixirtheit; ferner diese die Form der Subordination, jene der Coordination. Die Begriffe, welche Actionen ausdrücken, lassen ein mehr oder minder zu; nämlich nicht nur die allgemeinen Begriffe sondern auch die einzelnen; das einzelne Ding ist 21' zwar auch ein in der Zeit entstehendes und dann verschwindendes, wachsendes und vergehendes, dis fixirt aber nicht sein Wesen, welches wir ihm vielmehr in seinem ersten Anfange schon zuschreiben; von einer Action macht das Maaß mehr ihr Wesen selbst. Der Gegensatz ist zwar nur relativ, aber so doch bestimmt zu fixiren. Es giebt Puñete, wo sie in einander Übergehn. Wenn man das Seyn bis zum mindestallgemeinen verfolgt, bis wo das Einzelne anfängt, wo das Bestimmte in das Unbestimmtmannigfaltige übergeht, so giebt

35. Stunde

13 an,] ein,

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mehr oder minder die productive Kraft sich in dem Gebiete des Vielen zu erkennen. Die einzelnen Dinge sind aber nicht als besonderes und bestimmtes zu unterscheiden; bloß das mehr oder minder des productiven Vermögens macht hier den Unterschied, nicht ein bestimmtes Zerfallen in einen Gegensatz. Bey den Actionen fällt immer das Besondere in die Augen, nur zu fixiren als Mehreres und Minderes. Wenn wir aber heraufsteigen zum Subjecte, so betrachten wir eine Action als eine in einer Art nothwendige Action. Sonst müßte die Action rein zufällig erscheinen und würde nicht zum Wissen gehören können. Liebe z. B. ist etwas viel umfassendes; ein jedes Lieben hat [immer] besondre Interessen. Führe ich aber das Lieben aufs Subject zurück, so ist es eine nothwendige Function in seinem Leben, und wir haben das Thun auf ein nothwendiges und Bestimmbares zurückgeführt. Was die beiden Processe betrifft, so könnte es scheinen, als könne in der Angabe der Thierarten z. B. etwas unbestimmtes seyn, weil sie vielleicht nicht immer existiren, aber die Bestimmtheit ist, daß jedes der vielen ein festbestimmtes Seyn hat, das nicht unter andern sondern auf der höhern Einheit eine Beziehung hat, die Gattung ist den Arten eingebunden und diese jener. Hat man auch nicht alle Gattungen zusammen, so kann man sie sich doch nur als bestimmbare Vielheit denken. Die Arten aber stehn unter der Form der diskreten Dinge, das Einzelne unter der Form des Concreten. (Bezieht sich auf die behauptete Reihenfolge der Arten) Wie jedes einzelne Ding eine besondre Modification des Allgemeinen ist, wird man nicht suchen, und nicht sagen, eine Pflanze sey besondere Modification der Gattung, so daß diese einem Cyclus derselben angehöre, sondern man wird sie in ihrer Wechselwirkung mit dem Ganzen betrachten. Relativ ist auch dieser Gegensatz noch immer. Das Lebendige schließt immer mehr, der Mensch am meisten die untergeordnete Vielheit aus, indem man von jedem Menschen Individualität fordert. Das einzelne Seyn soll nicht angesehen werden als Product der Umstände, sondern zugleich ein anderes wie die Art; sein besondres Daseyn soll durchgängige nach Einem Charakter durchgeführte Modification des Menschen seyn; wodurch aber die andere Betrachtungsweise nicht ausgeschlossen wird; aber fast verlöscht doch die unbestimmte Vielheit, denn der Mensch wird [als] etwas nothwendiges, in einer n o t w e n d i gen Vielheit gesetzt. Betrachten wir die unvollkommensten Thiere und Pflanzen, so erscheinen selbst Gattungen und Arten als in einander übergehend,

23 f (Bezieht ... Arten)] am rechten Rand

25 Modification] Modificaiionen

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Zweiter Teil.

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und kein bestimmtes an sich tragend. Also auch dieser Gegensatz ist | 22v nur relativ, und man muß sich immer über die vorzuziehende Betrachtungsweise einig seyn. Bleibt man dabey stehn, daß die Bestimmtheit sich erstreckt bis auf die niedersten Arten, so erscheint ein plötzlicher Uebergang, den man zu vermeiden Neigung hat. Dis geschieht durch die zwischenliegende Varietät. Auch das Daseyn dieses Mittelbegriffs giebt die Relativität des Gegensatzes zu erkennen. Als Kanon für die Begriffsbildung haben wir gewonnen: es ist e'meAey ob ich etwas ansehe unter der Form eines zu vermehrenden und vermindernden, oder als Action; und ob als ein für sich bestehendes seyn, oder als feststehendes und fixirtes. Eben so, ob so, daß es zu andren Coordinirten im Verhältniß der bestimmten Vielheit steht, oder als unter eine bestimmte Classe des Seyns gehörig, und ob als ein als unbestimmte Vielheit sich verhaltendes, oder als ein solches, wo eine bestimmte Bildung von Gattung und Art nicht stattfindet oder als Action. Dieser Kanon muß die Grenze zeigen, wie weit man in dem Bilden besondrer Gattungen und Arten fortfahren darf, oder wo man damit aufhören muß; und ein erscheinendes als Seyn zu sehen oder als Action. Es giebt vieles, was man als Action ansehn sollte, nicht als Seyn (fehlerhafte Classification der anorganischen Producte)

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36. Stunde Induction und Construction soll jetzt betrachtet werden. In der Realität sind beide nicht isolirt. Nur kömmt das Verfahren der Induction wohl zuerst ins Bewußtseyn, und die Construction kommt, obgleich 25 gleichzeitig, doch nicht gleich zum Bewußtseyn, darum fangen wir mit der Induction an. Das Verfahren der Induction hebt bey m besondren an; das einzelne Ding liegt zum Grunde; Zusammenfassung des Gemeinsamen und Wegschaffung des Verschiedenen führt herauf zum Begriff. Die 30 Construction fängt vom Allgemeinen, dem Unendlichen an, und bildet das endliche des bestimmten Seyns, indem es das Verhältniß des Untren zum höhern feststellt. Wenn wir nun die Seite der Begriffsbildung betrachten, in welcher die Induction liegt, so zerfällt dieser Proceß in 2 Acte; die Dinge müs- 35 sen erst als einzelne gesetzt und vorgestellt seyn; und ein einzelnes Ding muß aus der Totalität ausgesondert werden; dann aber müssen

28 an;] ein;

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mehrere zusammengestellt werden als ähnlich, ehe noch der Begriff da ist. Was das erste betrifft, so ist unser Sinn in jedem Moment nach allen Seiten hin thätig, und begreift eine unendliche unbestimmbare Masse des Wahrgenommenen, weil das Wahrnehmbare, von allem andren abstrahirt, ein Continuum bildet, (ογκος) Dis ist die erste Stufe des ordnenden Bewußtseyns. Wie wird hieraus nun einzelnes ausgesondert und als besonderes Seyn fixirt? Denn den Charakter würden wir auch schon vorher darin finden, | daß wir das confus Wahrgenommene uns 23r gegenüberstellen als unabhängiges Seyn. Die beiden Formen Begriff und Urtheil umschließen sich wechselsweise. Unsre Frage können wir eben so nicht anders beantworten, als: wir können ein einzelnes nur aussondern, indem wir es als Object einer Action setzen, die in dem übrigen nicht gesetzt ist (insofern ist das Denken ein Urtheil, und da fängt der erste Proceß des Begriffsbildens an)[.] Wenn ζ. B. man sich die Gegenstände des Gesichts in einer Fläche denkt, so kann nur eine eigenthümliche Lichtmasse und Bewegung sich uns so aussondern, daß man eine Mannigfaltigkeit erkennt. Bewegung und Farbe sind Actionen (denn Farbe ist Wirkung des Zusammenseyns von Licht und Gegenstand)[.] Diese Actionen sind begrenzt auf ein gewisses Feld, und so wird es zuerst Object. Die Farbe ist das Ruhende. Ebenso in Ansehung des Gefühls. Gegenstände von gleicher Härte ohne Bewegung geben sich nicht als besondre zu erkennen, so wenig als ohne sie Gegenstände von gleicher Farbe. Eine solche Vorstellung eines einzelnen Dings ist eine solche nur auf eine sehr äußere Weise. Hiedurch allein also scheint keine Vorstellung eines Einzelnen von Bestand entstehn zu können. Also auch hier schon ist der Proceß der Construction thätig. Aber nur so wie es hier möglich ist. Hier wohnt uns das System aller Begriffe ein, da wir in der Identität des Idealen und Realen, so daß das Ideale nicht eher bewußt wird, als wie das Reale gefunden wird, so aber, daß das Einwohnen zugleich Thätigkeit ist, Streben, durch Berührung mit dem Realen zum Bewußtseyn zu kommen. (Das ist die eigentliche Lehre von den angeborenen Begriffen. Wenn das Erinnerung genannt wird, so heißt das nur, daß das ursprüngliche haben des Systems der Begriffe als ein Wissen gesetzt wird, aber noch nicht in der Zeit reales, was es erst wird, gewissermaßen als Reproduction des Ursprünglichen, nicht als empirischen, sondern als Ursprünglichen. Weiter festgehalten wird es nur etwas Mythisches.) Was ist denn das Band, wodurch sich ein höheres in uns seyendes sich anknüpft an das Wahrgenommene? Diese Verbindung muß ausgehn von dem Aeußer-

2 8 Aber] aber

H i e r ] hier

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Zweiter

Teil.

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lichsten darin, von der Form; wir suchen die Masse immer mehr in Form aufzulösen, und daran knüpft sich die Bildung der einzelnen Vorstellung durch Farbe und Bewegung. Das ist nun noch kein Begriff, sondern bloß die ins Bewußtseyn aufgenommene Form. Soll ein Begriff gebildet werden, so muß nur zusammengefaßt und eliminirt werden das Gleiche und Ungleiche. Da durch den Proceß der Induction auch Irrthum ins Bewußtseyn kommen [kann], wo fängt denn der Irrthum an? in dem vorläufigen Proceß oder dem zweyten? In der reinen Wahrnehmung ist kein Irrthum möglich, als wenn der Sinn krankhaft ist. Der Sinn selbst trügt nicht. Aber der Verstand trügt auch nicht. Wenn man aussondert, was in der Vernunft 23v liegt, kann kein Irrthum darin | seyn. Der Irrthum ist also zwischen beiden, also in dem Zusammenseyn des Sinnes und der Vernunft, in dem nicht richtigen Zusammentreffen beider Operationen. Im wirklichen Bewußtseyn giebt es aber nur Producte beider Factoren zusammen. Innerhalb des empirischen Bewußtseyns giebt es also keinen Punct, wo nicht Irrthum möglich wäre, also auch schon in dem Aussondern eines Einzelnen aus der Masse. Täuschung findet also statt, indem wir entweder nicht alles zusammenfassen, was die wahre Einheit bildet, oder mehr in sie aufnehmen, als was die Totalität des Gegenstandes macht. Hier ist der erste Keim des Irrthums, aber so verborgen, daß wir kaum Cautelen dagegen treffen können. Dis ist nicht nur im ersten Kindesalter, sondern auch später. Ihn kann man den rein unverschuldeten nennen, weil wir auf ihn noch nicht durch die höhren Operationen einen Einfluß haben. Es giebt also keinen Kanon für ihn, als daß man ihn fürchtet, und ihn erkennt, nicht, was sich in diesen Sphären im Bewußtseyn bildet, als unzweifelhaft voraussetzt. Sehn wir aber auf das zweyte, wo aus dem Zusammenfassen der Begriff sich bilden soll, so liegt es hier schon dem Intelligenten näher. Was zwingt uns, mehrere Dinge als gleichartig zusammenzustellen, solange es der Begriff noch nicht seyn kann, der erst gesucht wird?

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Der erste Moment also greift aus der absoluten Mannigfaltigkeit ein einzelnes heraus und setzt es als abgesondertes Daseyn. Dies Setzen ist wiederum gegründet auf dem Wahrnehmen einer besondern Action. Allein es gilt dis auch von den Begriffen welche eine Action selbst set- 35 zen. Indem wir das Entstehn des Bewußtseyns der einzelnen Dinge betrachten in der Periode der Kindheit oder auch sonst im Allgemeinen, finden wir es ist auf der einen Seite eine Bewegung, oder ein Unter-

12 darin] darin | ( ( d a r i n ) )

32 Der] am linken Rand: (Nach Ribbeck)

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scheidendes im ruhigen Seyn, was aber auch immer Action seyn muß. Das Setzen der Action aber zerfällt in 2 Factoren deren einer die Action, der andere ein Seyn im engern Sinn repräsentirt. Eben so auf der andern Seite. Wie uns das Seyn erst als verworrene Masse erscheint, so auch alles Thun als allgemeine verworrene Beweglichkeit. Aber das bestimmte Setzen einer einzelnen Action beruht wiederum auf dem Setzen eines früher wahrgenommenen einzelnen Seyns [wie] [nun] das Setzen eines Seyns auf einer früher wahrgenommenen Action. In jenem Chaos läßt sich eine einzelne Action nur ausscheiden indem wir sie als Continuum in der Zeit verfolgen. Dis können wir aber nur durch Anknüpfung an ein bestimmtes Subject. Hier sind dieselben 2 Factoren wie vorher, es ist eine gewisse Verbreitung und Begränzung der Bewegung die uns führt, aber auch ein Repräsentant des ruhigen Seyns. Und eben so die Verbreitung einer Thätigkeit bestimmt uns das Subject. Es wird aber noch ein eigenthümlicher Charakter erfordert, die Action zu bestimmen durch die das Subject bestimmt wird. Dieses Ausscheiden des Einzelnen aus der Masse ist in jedem persönlichen Bewußtseyn eine stets wiederkehrende [niel vollendete Function. In der allerweitesten Region des Gesichtskreises haben wir nur eine allgemeine Masse. Dasselbe gilt | bey jeder sinnlichen Ueberfüllung und auch bey geistiger 24r Anspannung, wo wir erst verstehen lernen wollen. Eben so wenn wir alles von der Seite des Thuns betrachten: wir unterscheiden die einzelnen Actionen immer in einem gewissen Kreise, außerhalb haben wir immer das Bild einer allgemeinen Beweglichkeit. Für jeden giebt es einen solchen Kreis die bloß verworrene Masse, die das Erkennen begränzt nach der Seite des Kleinen und Großen hin denn auch in dem Ausgesonderten ist manches noch unklar. Dis gilt im Ethischen wie im Physischen. Im Einzelnen selbst ist allemal das Allgemeine zugleich zumal von der Seite des Thuns aus betrachtet, allein wie sich das Besondere eben aufgelöst in der Allgemeinheit darstellt, ist eben die Gränze der Erkenntniß, und jeder hat hier ein Gebiet, wo er noch im ersten Moment der Induction begriffen ist.

Auch hier sehen wir, könne Irrthum seyn, weil jedes reale Wissen Zusammentreffen der Sinne und Vernunft ist. Zugleich daß des einzel35 nen Seyns Action besonders darin zu groß oder zu klein erscheinen könne, eben so bey einer einzelnen Action, wo eben für das Subject die Action zu groß oder zu klein gesetzt werden kann. Fragen wir nun, wie dem Irrthum hier vorzubeugen, so sehn wir leicht, er ist so sehr das erste, daß es eigentlich kein Hülfsmittel dagegen giebt. Die Berichti40 gung kann nur aus dem Verfolg des Processes sich ergeben oder dem

14 Subject.] Subject;

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Zweiter Teil.

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Uebergang zu einem Neuen. (Erscheinung eines Reuters als Centaur) So läßt sich denn auch kein Kanon aufstellen die Irrthümer zu verhindern sondern nur einer, damit man die eingesehenen berichtigen kann. Dies ist das nur provisorische Setzen der Gewißheit, wir müssen es zweifelhaft lassen ob wir etwas ausgeschieden als eine Einheit des Subjects oder der Action zu setzen haben. Das drückt man auch so aus: man müsse die Kraft haben lange genug im Zustande der Beobachtung zu bleiben. Der Vernichtungsproceß wird einem nachher zu schwer. Dagegen bleibt man bis zu einem bestimmten Merkmal zweifelhaft, so bleibt man auch in sich selbst frey und kann immer wieder aus dem Irrthum heraus. Auf jedem Gebiet des Wissens hat die Vernachlässigung dieser Regel unendlich viel Schaden gethan. Denselbigen Moment betrachten wir nun auch von Seiten seiner Wahrheit. Das Setzen eines Gegenstandes sey ein Element eines wirklichen Erkennens. Dann sind auch schon hier die Charaktere des Wissens beysammen. Die Identität des Seyns und Thuns [undl die nothwendige Beziehung von Seyn und Action ist darin. Eben so die Identität der organischen Function im Denken und der formalen. Jene giebt nur das einzelne als ein im Chaos begriffenes, heraus treibt es aber nur das angeborene System der Begriffe das wirklich zum Bewußtseyn kommen will. So beruht die Wahrheit des ganzen Acts darauf, daß beides in seinem Zusammentreffen dem wirklichen Seyn entspricht. Ja selbst ist hier schon die Identität der Induction und Construction. Jene ist Zusammenfassen des Allgemeinen aus dem Einzelnen, diese Elimination eines Gegensatzes aus dem Allgemeinen. Allein jenes Auffassen des Einzelnen ist nur Aeußrung dieses beständigen Gegensatzes des Allgemeinen und Besondren in uns. Und das ist eben der allgemeine Proceß der Construction. So ergiebt sich daß ein solcher Act ein Element des Erkennens enthält, aber auch daß die Garantie für seine Wahrheit nicht in ihm | liegt; sondern wir dazu weiter gehn müssen; d. h. jener Gegensatz zwischen Induction und Construction^] Allgemeinem und Besondren muß wieder aus einander treten. Dis geschieht in der Induction durch Zusammenfassen des Aehnlichen unter den allgemeinen Begriff; so tritt das Verhältniß des Besondren und Allgemeinen nach oben und unten vollständiger ausgebildet heraus. Dieselbe Operation vervollständigt den Gegensatz zwischen Induction und Construction. Dieser 2te Act schließt sich also genau an den ersten an. Nun aber ist dieser Act unmöglich sobald wir den ersten nur als eine Einzelheit setzen; es sind dazu eine Menge Acte der ersten Art vorauszusetzen. Aber allerdings haben wir auch das Vollbringen des ersten

1 6 Identität] Indentität

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Acts nicht als Einzelheit zu denken, sondern wir sondern zu gleicher Zeit Mehreres Einzelne aus[;] nothwendig insofern als Thätigkeit auch als Vielheit. Nur unter der Form des Mehr oder Minder läßt sich die Action finden. Der Einwand ist also nur scheinbar.

5 Zweyter Act der Induction, wo die einzelnen Dinge oder Actionen 38. Stunde unter einen Begriff zusammengefaßt werden. Hier haben wir auf den Charakter der Allgemeingültigkeit des Wissens Rücksicht zu nehmen. Den ersten Moment haben wir mehr aus dem Gesichtspunct der Subjectivität betrachtet, weil man unmittelbar auf den Proceß Rücksicht 10 nehmen mußte, der dabey in dem Einzelnen vorgeht. Auch das Auffassen einer Einzelheit kann nur geschehen vermittelst des einwohnenden Triebes der allgemeinen Begriffe. Dieser geht auch nothwendig darauf, das einzeln aufgefaßte mitzutheilen und darzustellen. Die Mittheilung eines aus der allgemeinen Masse ausgeschiedenen Einzelnen, dessen 15 Vorstellung noch nicht zur Identität der Induction und Construction, und einem Begriff gebracht ist, ist eine Beschreibung. Wenn das auch ein allgemeiner Begriff seyn sollte, so ist die Darstellung doch immer unter der Form eines Einzelnen. Nothwendig ab er ist diese Beschreibung, damit der Stoff der zweyten Operation gemein gemacht werde, 20 auf daß der dann gebildete Begriff ein in allen identischer werde. Schon bey dieser ersten Stufe muß die Mittheilung [erfo/genl. [Mani sieht ab er wie die eigentliche Definition davon etwas %anz verschiedenes ist, und also beide nicht unter einer Gattung stehn können. Wir sehen also, wie die Operation des Denkens von Anfang an zu25 gleich auf die Breite geht. Diese Mittheilung kann nicht anders geschehn als unter der Form eines Aggregats von Merkzeichen, weil der Begriff noch nicht gefunden ist. Zum Ausscheiden gehört theils eine Veranlassung, eine Action, theils eine auszuscheidende Masse, ein Gegenstand, welches denn auch die Bestandtheile einer Beschreibung 30 seyn müssen. Eben so erscheint die Action nur als einzelne als einen gewissen Bewegwngsraum einnehmend, und eine Eigenthümlichkeit habend, ein Resultat herstellend. Schon dadurch entsteht eine Mannigfaltigkeit von Merkmalen. Der Uebergtmg zum zweyten Proceß kann ferner nur geschehn, daß man es lediglich problematisch noch weiter 35 verfolgt, um zu sehn, ob es sich als dasselbe wieder offenbart. Dabey kann nun die reine Identität nicht mehr stattfinden; man kann also auch deswegen in eine Unendlichkeit von Merkmalen hineingerathen,

6 auf] auch

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bis dieser Proceß sich in den zweyten verwandelt. Dis haben wir jetzt näher zu betrachten. Betrachten wir das Resultat dieser Operation, so folgt, daß der in der Zeit fortschreitende Proceß der Begriffsbildung in der Form der Induction [es] dahin bringen muß, die ganze Reihe der angeborenen 25r Begriffe ins empirische Bejwußtseyn einzuführen, so daß das, was vorher nur als Thätigkeit uns einwohnte, zu einem wirklichen Seyn wird. Die Resultate dieser Begriffsbildung sind niedergelegt in der Sprache, denn jedes Wort entspricht einem Begriff; der ganze Schatz der Wörter einer Sprache muß also entsprechen dem ganzen System der Begriffe. Nun ist die Sprache nicht in allen gleich, und genau genommen entspricht kein Wort einer Sprache demselben einer andren; von gewissen Puncten aus, wo die Sprachen übereinzustimmen scheinen, gehen sie immer weiter in die Divergenz hinein. Je mehr wir ins Einzelne gehen, um desto größer wird die Irrationalität. Das ist im physischen, noch mehr im ethischen Gebiete. Wenn wir hier in Einer und derselben Sprache stehn bleiben, so wird man finden, daß die Begriffsbildung kein Continuum bildet, sondern gewissermaßen Schichten; es folgt ein System der Bezeichnung dem andern; ein und dasselbe Wort ändert in verschiedenen Epochen seine Bedeutung, derselbe Gegenstand seine Benennung. Nehmen wir dis zusammen, wie verträgt sich dis mit der Allgemeingültigkeit des Wissens? Sie wird dadurch nicht aufgehoben, sondern es offenbart sich darin nur die Relativität alles realen Wissens. Diese haben wir anerkannt, indem wir sagten, daß das angeborne System der Begriffe und Operation des Combinirens nicht dem Seyn absolut entspräche, sondern daß die Vernunft unmittelbar der Erde angehört, alles andre aber nur ausdrückt, insofern es auf die Erde in einer Beziehung steht. Wie sich die Vernunft der Erde hier zur allgemeinen Vernunft verhält in der reinen Totalität, so verhält sich die Vernunft einer einzelnen Nation oder Periode zur allgemeinen menschlichen Vernunft und ist eine Individualisation derselben. Im menschlichen Denken soll erkannt werden und dargestellt was auf der Erde ist, alles andre ab er nur in der Beziehung hierauf; im Denken Eines Volks ist ebenfalls eine eigenthümliche Sphäre des Seyns, welche gradezu, was außer derselben aber liegt, nur in Beziehung hierauf dargestellt [wird]. Daher also Verschiedenheit in den Sprachen. Es wird nichts geben, was in allen unter dem selben Typus erkannt wird, als das reinmenschliche, das Allgemeine Centrum, und dis wird nichts seyn als die Idee des Absoluten. Es ist sehr wesentlich dis anzuschauen, und die Differenz zu erkennen zwischen dieser

35 welche] was

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Relativität und dem Irrthum. Es ist beides Wahrheit, aber in Bezug auf eine Sphäre relativirte Wahrheit. Dabey muß man nun aber auch die Wahrheit nicht verkennen. Der Irrthum geht aus keinem positiven Grunde hervor, sondern aus der Entgegengesetztheit mehrerer Factoren 5 zum Denken, und daß diese nicht auf Einem Punct zusammentreffen. Diese relative Wahrheit und der Irrthum müssen aber unterschieden werden. Dis kann nicht im Einzelnen geschehn, sondern diese Unterscheidung muß auf einen bestimmten Proceß zurückgeführt werden. Wir müssen den Mittelpunct finden, der für jeden derselbe ist, was für 10 die menschliche Vernunft die Erde. Dann werden wir finden, was im System der Begriffe unmittelbar muß dargestellt seyn, und was dem weitren Kreise angehört, in welchem die Relativität hervortritt. Zunächst soll das angewendet werden auf das Nebeneinander; in der Zeit findet sich noch ein anderer Unterschied, weil sich hier auch 15 noch ein Unterschied des Vollkommenen finden muß; dis soll hier 25v noch abgesondert werden, und nur bloß auf das Individuelle Rücksicht genommen.

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Die Begriffsbildung geht freylich durch Induction und Construction 39. Stunde vor, indeß kömmt es hier mehr auf die erste an; denn sie ist mehr natürlich, letztere aber bewußt, auf Einheit gehend, und sucht die Differenz zu vernichten. Das Gebiet wo die nationale Verschiedenheit am meisten ist, ist zwar in dem ethischen; aber die Differenz ist hierauf nicht eingeschränkt, sondern auch auf Seiten der Naturkenntniß. Aber die Abstufung, absolute Vernunft, menschliche Vernunft, nationale Vernunft, ist hier nicht geendigt, sondern läßt sich noch weiter herunter verfolgen; es finden sich wieder eigenthümliche Differenzen in besondren Creisen, selbst in einzelnen Menschen, in dem Maaße, daß er aus der Masse heraustritt und Individuum wird, bildet er eigenthümliche Begriffe, durch die er wieder aufs allgemeine einfließt. Nur wenn wir so weit gehen, fassen wir die Sache in ihrem ganzen Umfang. - Zwar giebt es eine Ansicht, die alles auf eine Reihe von Formeln anlegen, einen Maaßstab anlegen will. Von unten herauf wird das einigermaßen gelingen, wenn man das Eigenthümliche zerstören will. Denn will man dis in die Combination setzen, so kommt man dabey auf nichts, sind die Begriffe dieselben, so [sind] es auch diese. Eine innere Differenz ist nicht mehr da, sondern nur der eine rechnet das Exempel so der andre so. Natürlich wird, je weiter man ins Einzelne geht, das Gemeinschaftliche das dominirende. Das System zweyer Glie-

6 müssen] m u ß

2 9 einfließt.J K ; Einfluß n i m m t .

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der Einer Nation wird sich nicht so unterscheiden wie das zweyer Nationen, aber die Factoren werden immer unterschieden seyn. Alles Denken und alles Wissen besteht aus der organischen und formalen Function. Wenn wir nun vom höchsten Gegensatz, dem realen und idealen ausgehn, müssen wir sagen, in der Vernunft ist ideal alles enthalten, was objectiv, real in dem Seyn. Jenes haben wir genannt das Angeborene der Begriffe und Ideen, welches aber bloß als Streben auftritt, und erst allmählig zum realen Denken wird. Wenn nun verschiedene Völker ganz verschiedene Begriffe construiren, sind dann ihre angeborenen Begriffe verschieden? in der Frage liegt immer die Aufgabe zu einer Abstraction; sehe ich nun ab von dem, was die Vernunft in einer Nation schon construirt hat, so ist die Vernunft absolut und identisch, es ist allen dasselbe angeboren; erst in der Verbindung mit der organischen Function wird der Proceß ein andrer. Abstrahire ich so, indem ich frage nach der Vernunft dieses Menschen, kann ich das nicht anders als in Verbindung mit dieser Organisation; sehe ich auf diese Verbindung, so ist allerdings jedem ein andres System angeboren, sein reales Bewußtseyn geht hervor aus einer prädeterminirten Identität seiner Vernunft mit einer relativen Sphäre; dieses relative eben ist ihm angeboren, welches er nachher durch alles zu produciren sucht, was er denkt und construirt. [Nehmen] wir den ersten Gesichtspunkt, so sagen wir, die Differenz ist nicht an die Vernunft gebunden, sondern an die organische Function, [woran] die Vernunft gebunden ist. Aus dem zweyten: Die Differenz hat ihren Grund in der Vernunft, insofern sie möglicher Weise im Endlichen gegeben werden kann, insofern sie nicht anders vorkömmt. Beide Ansichten sind zu verbinden. Die Vernunft wird nur eine endliche durch Verbindung mit einer gewissen Art der organischen Function, und diese ist nicht ohne die Vernunft, was also in ihr ist, liegt in der Vernunft als seinem Grunde. So kommen wir aus der todten Abstraction wieder in das lebendige Gebiet der Identität des Realen und Idealen. Wo ist denn nun das absolute Erkennen? Eine Ansicht wird sagen, in dem was allen gemein ist, wenn man von dem Differenten absieht. Die andre, das absolute ist in dem Zusammenfas26' sen dieser Differenzen, dadurch | erst man außer seinem eignen System auch alle andre soviel möglich in sich aufnimmt, und indem man den Grund ihrer abweichenden Eigenthümlichkeiten faßt, so das allgemeine zu erfassen sucht. Diese Antwort ist eben so wahr als die erste. Denn wenn man das Differente fortschaft, was ist es dann? Unwahrheit ist es nicht, darüber sind wir einig, es muß also alles gefaßt werden.

14 Abstrahire] abstrahire betrachtet:

2 3 f Aus dem zweyten:] Kj Aus dem zweyten Gesichtspunct

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Soll alles eliminirt werden, was sich als different entwickelt, so wird nichts übrig bleiben als die Idee des Absoluten; also nur hier wäre das vollständige befriedigende Erkennen. Die andre Ansicht weist mich an, erst mein System vollständig zu machen, zweytens mir die anderen anzueignen, und zwar zugleich das Princip ihrer Eigenthümlichkeit erkennend, also damit ihr Verhältniß zur absoluten. Dis ist der absolute Reichthum des lebendigen Wissens in allem Realen. Die eine Antwort weist also auf die Eine Idee des Absoluten, die andre auf den ganzen Reichthum des Realen. Keine hat für sich recht, aber beide einander involvirend. Es ist keine Idee des Absoluten, ohne involvirend die Totalität des Endlichen, diese nicht ohne jene, da ja nicht einmal Ein Begriff ohne dasselbe zu denken ist. Die Idee des Absoluten ist, was in jedem das einzige eigentliche Wissen ist, isolirt ab er die bloße leere Formel, nicht das Corpus des Erkennens. Die Totalität des Erkennens ist ebenfalls nichts entblößt von der Idee, sondern ist so nichts als ein Aggregat empirischer Vorstellungen. Wir bekommen also eine Einseitigkeit, wenn wir einer von beiden Ansichten beystimmen. Das Wahre liegt in ihrer Combination; und so ist [wieder] eine lebendige Anschauung ihrer Identität und des Verhältnisses des Absoluten zum Endlichen da. In allen differenten Systemen kann also nichts seyn als Wahrheit; jedes ist neben einander da und in sich wahr. Wenn wir also den Irrthum suchen wollen, muß es nicht in dieser Differenz geschehn sondern anderswo. Nur das wird einleuchten, daß eine Verwechslung stattfinden kann, zwischen dem, was Resultat der Eigenthümlichkeit und was im Proceß versehn ist. Jeder kann nur von seinem Proceß ausgehn; wenn ihm nie etwas entgegenstrebt, was sich nicht darin aufnehmen läßt, hat er eigentlich keinen Maaßstab, ob er es einer andren Eigenthümlichkeit oder einem Versehn beymessen soll. Hier giebt es nur zwey Voraussetzungen; 1) was so nahe an den Kreis meiner Begriffsbildung herankommt, daß Vergleichung möglich ist, kann ich nach meinem Princip beurtheilen; ich bin befugt, was nicht aus meinem System hervorgeht, für Irrthum zu halten, bis es mir der andre aus seinem deducirt. Die zweyte Voraussetzung, ich bin schuldig, wenn mir etwas fremdes vorkommt, es für ein wahres zu halten wovon ich nur das Princip nicht verstehe, ausgenommen wenn es in wissentlichem Widerspruch steht mit den allgemeinen Regeln die über alle Differenz hinweg liegen. - Die Ausmittlung von Wahrheit und Irrthum kann nur ein gemeinschaftliches seyn; die beiden Ansichten sind nur 2 Regeln dis zu thun, indem man selbst

4 die] das

5 absoluten.] Kj absoluten Idee.

31 daß] das

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die Mühe aufnimmt oder andern [zuschiebt!. Nun sollen wir ab er nicht nur das Fremde in uns aufnehmen, sondern auch sein Princip verstehn, wodurch es möglich wird, aus diesem selbst zu konstruiren. Unser Fortschreiten besteht nun in 2 Factoren; das reine Wissen, woraus ich für mich selbst und mein | System die Identität des Seyns und Denkens konstruiren will. Die andre ist die Kritik, wodurch ich mich in fremde Eigenthümlichkeit hinein setze, und von da aus beurtheile. Diese ist das Vermittelnde des Irrationalen in dem menschlichen Bewußtseyn, ohne welche Aneignung des Fremden und Construction der Totalität eines Wissens nicht möglich sey die allen gemein sey. Die Kritik muß daher immer nebenher gehn, und in ihr haben wir den Maßstab, wie das Geschäft, den Irrthum auszumitteln betrieben werden muß. Wenn mir etwas vorkommt, dessen Princip ich nicht verstehe, kann ich üb er dessen Wahrheit nicht urtheilen; ich muß mich von diesem hineinführen lassen; habe ich aber mittelst der Kritik sein Princip, so habe ich schon in mir die Gemeinschaft des Denkens, die sonst erst mit ihm geknüpft werden muß. So hat sich sowohl die Aufgabe als die Ansicht der Art, wie zu ihr [zu] gelangen ist, bedeutend zugenommen.

. Stunde Die Totalität des Wissens muß zusammengesetzt seyn aus dem selbstgebildeten jedes Einzelnen und dem Eigenthümlichen aller andern, das sich der Einzelne wieder aneignet mittelst der Kritik, der Erforschung seines Princips, um zu unterscheiden, ob es ein wesentliches Glied in der Sphäre des Wissens ist. Ohne diese Kritik reicht man nirgends aus. Denn nicht alle Einzelheiten sind dem, der einen Begriff bildet, selbst zur Anschauung gekommen, sondern derselbe [bringt] manche Elemente, die ein andrer aufgefaßt hat, mit hinein; was sich in dem andren nur auch als bloße Wahrnehmung gebildet hat, darin liegt schon seine Eigenthümlichkeit mit. Viele Begriffe, die sich in der Folge als unhaltbar zeigen, entstehn dadurch, daß man heterogene Elemente zusammennimmt. Ist schon in diesem Element die Kritik unentbehrlich wie mehr noch nachher. Uebrigens aber ist die Kritik eine Kunst für sich, und daher hier nur ihr Ort aufzuzeigen. Was als ein eigenthümliches Erkennen bestehn soll, muß mit allem Gleichartigen Ein Ganzes bilden. Wenn eine Nation eine eigenthümliche Anschauung von 2 Gegenständen hat, so stehn beide im Zusammenhange; es ist in beiden dasselbe, was den Grund von beiden enthält. Sonst wäre das Einzelne willkührlich und daher Irrthum. Die einzelnen Acte des Denkens verhalten sich zu der Eigenthümlichkeit nicht

5 mein] meine

2 5 [bringt]] oder

[legt]

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anders, als das einzelne Ding zu der Kraft die es erzeugt. Es ist also die Aufgabe, aus einer Anzahl gegebener Actionen die Kraft zu begreifen die sie erzeugte, und daraus zweifelhafte Actionen zu untersuchen, ob sie auch rein daraus hervorgegangen sind: dis Princip des Eigenthümlichen ist also ein Seyn, welches wir zu erkennen haben wie jedes andere. Auch dis kann also nur durch zusammentreffen der Induction und Construction geschehn. Durch dis zusammentreffen erst erhalten wir eine Sicherheit in dem kritischen Anschauen. Diese Aufgabe ist nie zu vollenden, sondern es ist nur Approximation möglich. Der erste Proceß, worauf das kritische Geschäft beruht, muß seyn, daß man homogene Elemente sammelt. Dazu läßt sich keine Formel angeben, es ist Sache des technischen Instincts. Denn der Anfang beruht auf etwas, was sich nur durch den Erfolg rechtfertigen läßt, durch das Zusammentreffen von allem zu Einem. Wir bedürfen auch der Kritik, des Zusammentreffens der Induction und Construction schon hier, wo wir bey der Bildung des eignen Erkennens noch mit der Induction befaßt sind. Also nur die Vollendung durch die That erhellt die Richtigkeit unseres Verfahrens. Da das differenzirte Wissen nicht gleich vom Irrthum zu unterscheiden ist, so sind bey allem, was uns vorkommt, 2 Fälle möglich, des Irrthums, und des | differenzirten Wissens. Ob letzteres sey, lehrt die Kritik. Es muß nun eine andere Kunst auch in Ansehung des erstren geben; und wenn beide zusammentreffen, so ist hier schon erhöhte Wahrscheinlichkeit. Was ist denn nun der Charakter des Irrthums? Wenn wir überhaupt ein Seyendes als Agens betrachten, so können wir mit Recht sagen, es ist das ganze Ding thätig, nicht ein einzelner Theil desselben. Das Denken und Wissen kömmt uns nur vor als Action des Menschen, in jeder Action ist das ganze Subject thätig, also auch in jeder Action des Erkennens der ganze Mensch, der nun nicht bloß ein Erkennendes sondern auch ein Reales ist. Nun muß in jeder Action aber doch eine Function die vorherrschende seyn, die andere die zurücktretende; und darin, daß dis auf die rechte Weise geschehe, liegt die Vollkommenheit der Action. Es sollen nun bey der Begriffsbildung mehrere Wahrnehmungen zusammengestellt und daraus der Begriff producirt werden. Das zum Bewußtseyn kommende muß aber dann ein schon im Bewußtseyn in der Sphäre des Angeborenen implicite enthalten seyn. Dis können wir nur so anschauen, daß wir ein Bestreben denken, vermittelst der organischen FunctionsElemente etwas aus sich zum Bewußtseyn zu bringen, also unter der Form eines Erkennensinstincts. Andre Functio-

21 differenzirten] Am Rand

Dialektik 4

2 2 Es] es

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nen kommen auf eine so untergeordnete Art mit ins Spiel, daß auf sie nicht Rücksicht zu nehmen ist. In der organischen Function aber ist ein doppeltes; sie hat einen objectiven Charakter, sie giebt die Elemente; aber auch einen subjectiven, sie bestimmt einen momentanen Zustand des Denkenden. Inwiefern jenes fällt sie mit unter die Kategorie des Denkens, dieses des Gefühls. Eine Mannigfaltigkeit des Objectiv und Subjectivhomogenen zusammenstellen sind zwey g¿mz verschiedene Dinge; bey dem Einen muß das Andere zurücktreten. Beym Gesicht ist das objective vorherrschend und das Subjective tritt seiner Natur nach zurück, wenige Fälle ausgenommen. In diesen aber ist gleich Gefahr, daß im Objectiven Verfahren das Subjective mit hervortritt. Beym Geruch tritt die objective Seite zurück, und zwar um so mehr, je mehr das Bewußtseyn vervollkommnet wird. Wenn nun hier das Objective heraustreten wollte, wenn wir z. B. aus gleichen Gerüchen auf Gleichheit der Gegenstände schließen wollten, würde dis zum Irrthum führen. Die eigenthümliche Quelle ist daher vorzüglich gerade das, daß wir uns, indem wir Gegenstände bestimmen wollen, wir die subjective Seite mitzuziehn, uns nicht lediglich an das Objective halten. Die Beyspiele finden sich häufig genug in beiden Gebieten des realen Wissens. In der Classification z. B. der Gegenstände waltet bey Ungebildetem die subjective Beziehung vor, z. B. der Nutzen; oder der Gemüthszustände das Helfende oder das Schadende derselben in der Gesellschaft. Und das ist eben ein gemeiner Fehler, daß Merkmale aufgefaßt werden, die nicht das Ding an sich, sondern seine Relation zum Wahrnehmenden bezeichnen. (Hier erhellt, daß der Irrthum nichts ist, als Sünde; denn die Persönlichkeit eben immer vortreten lassen im Handeln und Erkennen ist Sünde. So wie nun nur ein allmähliger Uebergang von der Sünde zur Tugend, so wird auch der Uebergang vom Irrthum zur Wahrheit nur allmählig seyn; nur wie [es] keine absolute Sünde giebt [so giebt] es keinen absoluten Irrthum.)

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27v Betrachtet man die Geschichte der Wissenschaften, so wird man immer 41. Stunde einen nur allmähligen Uebergang von der durch das Subjective getrübten Kenntniß zur rein objectiven bemerken, und dasselbe gleichzeitig in verschiedenen Sphären der Bildung. Absolut ist doch kein Irrthum, denn es ist hier doch immer ein auf die Erkenntniß gerichtetes Streben; 35 in der Eintheilung z. B. in Kraut und Unkraut ist doch immer etwas Reales, nämlich im Gebiet der Oeconomie. Die Relationen der Dinge

1 6 - 1 8 Die . . . halten] Kj Die . . . , d a ß wir, i n d e m . . . wollen die subjective Seite mitziehn, . . . halten.

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sind auch etwas Wahres, aber ein Irrthum dann, wenn sie mit dem objectiven vereinerleyt. Es läßt sich im Allgemeinen nachweisen, daß es keine andere Quelle des Irrthums geben kann, denn alles außer der formalen Function und der organischen tritt in der Begriffsbildung zurück; was in der formalen Verschiedenes liegt, ist nur jenes differenzirte Wissen, das kein Irrthum ist; und in der organischen Function sind nur jene beiden Beziehungen. - Indeß stehn wir hier noch auf der untersten Stufe der Induction, die zwar jede andre repräsentirt, aber doch in ihrem Wesen unter den andren noch betrachtet werden muß. Wenn aus mehreren niedrigen Begriffen eine Gattung gebildet wird, bleibt das Verfahren dasselbe; die niedrigen Begriffe stehn dann unter der Form der einzelnen Dinge. Es soll die Induction uns von dem Untren und Vielen zu dem höchsten und Einen hinführen. Was wir zu betrachten haben ist die Art des Aufsteigens von einem zum andren. Hierin sind 2 Fehler möglich; Ueberspringen natürlicher Stufen, und Einschieben einer fingirten Zwischenstufe. In der Sprache, als der Geschichte des Denkens, findet man beide Fehler oft niedergelegt, indem ζ. B. der Name mancher Zwischengattung neuer ist, wie das Wort Säugethier, welches doch neuer seyn muß als das allgemeinere Thier. Wie entsteht dieser Fehler? - ein jeder Begriff für sich ist etwas Unbefriedigendes, wobey man nicht stehn bleiben kann, wobey man getrieben wird, das Höhere zu suchen, was sich darin abspiegelt. Es ist also dis der Fehler der Uebereilung, das Springen von dem ganz besondren zur Höhe des Allgemeinern. Abzuhelfen ist diesem Fehler nicht anders, als dadurch, daß man sich das Verhältniß von Induction und Construction vorhält. Die Construction stellt durch Theilung das unter ihr stehende Niedrigre dar. Sind beide Processe zusammen, so wird der Fehler nicht mehr stattfinden können. Denn besitze ich einen Begriff zugleich durch Induction und Construction, so kann ich auch fortschreiten, denn die Leiter der über ihm stehenden Begriffe ist durch die Construction schon vollendet. Man kann sich hierin eine gewisse Regelmäßigkeit denken, und daraus erhellt, daß es nicht ganz zum Fehlerhaften gehört; aber immer giebt es ein desultorisches Verfahren. In der Naturgeschichte wird man in gewissen Zeiten ein Ueberspringen vieler Zwischengattungen und wieder ein andres Ausarbeiten ins Kleine hinein wahrnehmen, und darin liegt doch die Idee der Erkenntniß nicht. Es läßt sich auch auf die allgemeine Quelle des Irrthums zurückführen; das, was nun macht, daß man gewisse Theile ins einzelne hin ausarbeitet dwrch Stehenlassen des übrigen, ist wieder Hervortreten der Persön-

13 Was] was

19 der Name] die Namen

3 4 In] folgt

« d e r Geschichte»

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lichkeit, des Bedürfnisses, oder am Unschuldigsten wegen besondren Talents. Durch das Ueberspringen werden die höheren Begriffe zugleich ' leer. Denn ich | habe nur eine lebendige Anschauung eines Begriffs, wenn ich in ihm das Untergeordnete mithabe. Der Begriff Thier mit Ueberspringung des untren ist etwas dürftiges, aber wenn ich die nächsten untren Gattungen habe, so schaue ich zugleich sowohl die nothwendigen Functionen darin an, als die unbestimmten, woraus die Untergattungen hervorgehn. Am Klarsten ist dis bey der Idee der Gottheit. Wenn man ihn bloß durch Induction gefunden haben will, so bleibt bloß das Allgemeine des Höchsten, Allgemeinsten etc.[;] schon wenn man den Gegensatz des Idealen und Realen und deren Identität festhält, ist doch schon etwas Lebendiges und Anschauliches darin. Sonst bleibt man zugleich einseitig, indem man z. B. Gott zu einem bloß bewußten Wesen macht, oder bey bloß anthropomorphischem stehn bleibt, was zugleich nicht anders als leer (negativ) seyn kann. Das Fingiren von Mittelstufen, denen im Seyn nichts entspricht, geht davon aus, daß es immer Aehnlichkeiten im Mannigfaltigen geben wird, die zwischen der Einheit liegen, die eigentlich die lebendige Kraft, aus der das besondere hervorgegangen ist, bildet. Hat man wirklich etwas Aehnliches entdeckt, so hat man auch etwas reales; aber es gehört nicht in dis Schema der Begriffsbildung; es werden nur gewisse Actionen seyn, welche die Relation zu einem Dritten ausdrücken. M a n muß also immer sicher zu seyn suchen, daß man in der Identität des Processes bleibt. Diesen Fehler werden wir besonders finden in dem Gebiet des Anorganischen. Die innere Ursache im Vorstellenden wird immer wieder eine Beziehung auf das Persönliche seyn, die statt des wissenschaftlichen Strebens ein andres unterschiebt. Wir werden also in der Induction 2 Hauptregeln haben; 1) in dem Zusammenfassen der Einzelnheiten zum Begriff sich nur von dem Angebornen leiten zu lassen, und die subjective Richtung auszuschließen; aufmerksam zu seyn, ob man auch sein subjectives Empfinden an die Stelle des objectiven Wahrnehmens gesetzt habe. 2) immer die Identität der Induction und Construction aufrecht zu erhalten, worauf die ganze Sicherheit der Begriffsbildung beruht. Die Induction geht auf die Einheit des Mannigfaltigen; die Construction von dem Einen zum M a n nigfaltigen; sie sucht den Gegensatz, wie die Induction die Einheit; dis Suchen zusammenfallend giebt das vollkommene Wissen. Indem wir die höhre Einheit suchen, müssen wir zugleich die coordinirten Arten zu diviniren suchen, welches das retardirende Mittel für die Eile der

5 mithabe.] nicht mithabe.

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Induction ist. Dis ist die Art, wie durch die Induction zugleich die eigentlich wissenschaftliche Construction vorbereitet wird.

Es gab eine doppelte Verschiedenheit der Begriffsbildung, neben und 42. Stunde nach einander. Von der ersten war gesehn, daß nicht Irrthum ihr Grund sey, sondern eine nothwendige Differenzirung. Nun sehn wir aber, daß verschiedene Perioden des Daseyns eines Volks oder eines Menschen in der Begriffsbildung verschieden sind. Auch diese Differenz ist nicht gerade Irrthum und dessen Verbesserung. Vor der Begriffsbildung voraus ist nichts als ein mann/gfaltiges Chaos. In der Vollendung des Wissens ist die Trennung deutlich und bestimmt herausgetreten, und deswegen auch die Vereinigung. Jedes ist in seinem nothwendigen Seyn sowohl als Zusammenseyn erkannt. Die allmählge Evolution der Begriffe ist nichts andres, als der allmählge Uebergang von dem ersten zum letztren. Das erste Geschäft der Induction beginnt schon mit einer Vielheit. Ferner die Erkenntniß jedes einzelnen Seyns ist bedingt durch beides, sein Getrenntseyn von allem übrigen und seine Bedingtheit durch alles Uebrige. Nur in der völligen Durchdringung beider Elemente liegt | das vollkommne Verständniß. Jene chaoti- 28v sehen Zustände sind beide gleich mittelst der Unvollständigkeit, in der Vollendung gleich in ihrer Vollständigkeit. In allem mittleren aber ist nie eine vollkommene Gleichheit. Indem nun die Begriffsbildung in einer Mannigfaltigkeit von Puncten beginnt, ist das noch eine Mannigfaltigkeit von Einzelheiten ohne Beziehung auf einander. So giebt es eine Periode, wo die gegenseitige Abhängigkeit nicht erkannt wirâ. Ihr folgt eine zweyte ergänzende, indem nach und nach die Zwischenglieder ausgefüllt werden. Dis kann sich abwechselnd oft wiederholen. In der zweyten Periode werden die Begriffe ganz anders zu stehn kommen ohne daß doch die Producte der ersten grade falsch wären. Jedes Einzelne ist richtig, aber es bekommt nachher eine andere Stellung, indem die Abhängigkeit von dem übrigen hinzukommt, ζ. B. die Vorstellungen der Vegetation, als noch ein geringer Theil der Erde bekannt war; es konnten da nicht dieselben Gattungen und Klassen gebildet werden, als da man nachher ihre Totalität hatte, und nun nicht mehr nöthig hatte, so manches Disparate zusammenzustellen. Die Differenz liegt also darin, daß man in der ersten Periode noch der Gegensätze nicht so mächtig ist, wie man es in der Folge wird. Ein Beyspiel ganz anderer Art: wir unterscheiden gewöhnlich eine mythische Periode und eine logische; erst in der letztren werden die Gattungen und Klassen unterschieden, in der ersten ist alles vermischt. In ihr personificirt man alles, macht alles lebendig, indem der Mensch den Gegensatz von Leib und Seele auch aus sich herausträgt. Dis ist kein Irrthum, sondern der

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Instinct, daß nur das Lebendige Object des Wissens ist, und was man als besonderes Seyn auffassen kann, ein lebendiges ist. M a n ist aber noch nicht weit genug gekommen, um die verschiedenen Arten des Lebens zu unterscheiden. Dis ist nicht Irrthum, sondern nur unvollständige Kenntniß. Allerdings liegt aber das auch im Unterschied der Zeit, daß vorige Irrthümer allmählig berichtigt werden. Auch hier wird der Irrthum dieselbe Quelle haben; man wird die subjective und objective Function vertauscht haben. Wir haben gesehn, daß auch im Irrthum immer etwas Wahres ist, inwiefern das aufgefaßte immer eine gewisse Action ist. An sich ist also kein Irrthum da, sondern nur, inwiefern wir dem Wahrgenommenen eine verkehrte Stelle geben. Wir können daher auch so den Kanon stellen: man muß jedesmal genau wissen, o b man eine Einheit des Seyns oder des T h u n s aus dem friihren Manmgfaltigen gebildet hat, und muß nie vom einen zum anderen übergehn. Nun ist das schwierige dis, daß der Gegensatz selbst nur ein relativer ist, und man dieselbe Erscheinung als ein Seyn, auf der andren Seite als T h u n ansehn kann. Hier ist also nöthig, sich der früher zu dieser Unterscheidung gegebenen Regeln zu erinnern. - Wir hatten gesehn, wie der ganze Proceß der Induction eine ganze Stufenleiter bildet. Hier kommt es drauf an, keine Stufe die in der Natur gegründet ist, zu überspringen, und keine nicht in der Natur gegründete einzuschieben. Letztres beruhte ebenfalls auf das verkehrte Einschieben einer Action. Wie kann man aber sicher seyn, daß man keine Stufe übersprungen ist? und muß die Menge der Stufen überall gleich seyn? In der vegetativen Natur ζ. B. ist eine große Menge Stufen, Arten, Klassen; im Anorganischen ist, wenn man im einzelnen stehn bleibt, viel größere Verschiedenheit, aber dennoch besteht die Leiter aus | weniger Sprossen. Zeugt nun diese Differenz von einem Irrthum oder worin ist sie gegründet? Wir haben schon gesehn, daß von der Mann/'gfaltigkeit zur Einheit ein Uebergang durch die unbestimmte und bestimmte Vielheit stattfinde. Die unbestimmte Vielheit hat ihren eigentlichen Sitz im Gebiet der Action, die bestimmte des Seyns. Dis muß nun Aufschluß geben. Das, was weit mehr als Action betrachtet werden kann, wird weit mehr unter der Potenz der unbestimmten Vielheit stehn, und deswegen die [realen Ueberordnungenl in geringerer Anzahl sich finden. D a s Seyn aber wird sich mehr ins Classificiren und Specificiren fügen und die unbestimmte Vielheit untergeordnet seyn. Zugleich dis: wir müssen sehr unterscheiden den Proceß der Begriffsbildung, der mehr ein bestimmtes Wissen bildet von dem, den wir als etwas vorläufiges betrachten müssen, wo die Begriffe nicht die

2 Man] man

3 2 des Seyns.] Kj im Gebiet des Seyns.

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Idee repräsentiren, sondern nur noch willkürliches Zusammenfassen ist, wie fast noch überall in der Naturgeschichte; z. B. die künstlichen Klassen, Gattungen und Arten; wogegen die natürlichen Familien wirklich Formen der Vegetation repräsentiren. Der Unterschied beider Begriffssysteme ist: das letztre beruht auf lebendiger Anschauung der Vegetation, die aber doch noch nicht so ausgebildet ist, daß sie hinreicht uns gehörig zu leiten; die willkührliche Zusammenfassung ist vollständiger, so daß man darnach das Einzelne wiederfinden kann; ab er sie ist nicht nach einer lebendigen Anschauung des Ganzen, sondern nur nach Einer Function gemacht. Alle solche Begriffe sind nur vorläufige, nur zu einem technischen Behuf da. Die Vollendung des Erkennens kann nur im Zusammentreffen beider Bestrebungen bestehn, in der Zusammenschmelzung beider. Kein System von Begriffsbildung kann als ein Bestehendes, dem Seyn Entsprechendes angesehn werden, was nur auf Eine Function sich gründet, denn dis beruht immer auf einer Abstraction von der Einheit des Lebens. Dis schadet dem technischen Gebrauch nichts, man muß nur den Unterschied festhalten. Für die Cautel, keine Begriffe zu überspringen noch dies: wie wird wohl dis Ueberspringen entstehn? wie wird es sich in der Form gestalten? man wird nähere und genauere Aehnlichkeiten übersehn, und zuviel Abstraction hineinbringen. Wenn man sich die Regel macht, zuerst eine möglichst große Menge von Vereinigungs und Trennungspuncten zu finden, wird man nicht in diese Gefahr kommen. Dazu wird [man] dann in der Identität mit der Construction zugleich mit den Arten die Nebenarten bilden; es werden untergeordneie Arten und Gegensätze entstehn, und so in der Induction die Construction zugleich mit vorschweben.

Diese Regeln sind nun keine mechanischen; dadurch, daß man sie 30 weiß, kann man nicht sogleich richtig nach [ihnen] operiren, oder den Irrthum sogleich und unmittelbar daran entdecken. Die Regel ist nur für den da, dem es an dem rechten Fundament, der rechten Gesinnung und dem guten Willen nicht fehlt, welcher die Quelle des Irrthums ist. Darum ist auch das Philosophiren eine Kunst, denn Kunst ist, was 35 nicht auf Regeln ganz reducirt werden kann sondern immer einer innern Kraft überlassen bleibt. Wie in dem ersten der genannten Fehler die überwiegende Sinnlichkeit der Grund ist, haben wir gesehn. Das Ueberspringen hat seinen nächsten Grund in der Eilfertigkeit, durch

26 werden] werden sich

29 mechanischen;] mechanische;

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die man dann freylich schnell genug auf das höchste kommt, aber auch zu einem leeren. Auch dis ist Wirkung einer fehlerhaften Eigenliebe, weil jeder so schnell als möglich zu dem kommen will, worin ein Uebergewicht über andre liegt. Wem es ums Erkennen zu thun ist, der v 29 sieht bald, daß dis nicht weit führt. Die reine Liebe | zur Sache, welche 5 die Eigenliebe überwindet, ist hier das Fundament des Gelingens. Das Ueberspringen ist grade ein Geringschätzen des Gegenstandes, den man nur um eines andren [willen] betreibt. Das Gegentheil macht eben das wahre wissenschaftliche Talent aus. Zu dieser Liebe zum Gegebenen gehört freylich eine specifische Verwandtschaft, und darum ist 10 jedes Talent ein specielles. Hier ergiebt sich also die Anschauung einer endlichen Theilung des Wissens; jede wird sich an etwas Besonderes halten, und das andre nur mittelbar und allgemein, nicht so genau besehen. Die Vollendung des Wissens ist im Ganzen. Wer mit Erfolg auf einem wissenschaftlichen Gebiet fortschreitet, wird gewiß immer eine 15 solche bestimmte Liebe haben. Es ist etwas ganz falsches, und gemeiniglich von denen, welche die [hohe] Art der Erkenntniß lieben, in einem solchen gemeinen Streben nur etwas untergeordnetes, empirisches zu erkennen. Hiedurch grade giebt sich das wahre wissenschaftliche Talent und Tüchtigkeit zu erkennen, welche schon auch zum Hoch- 20 sten führen wird. Dieser Proceß endigt da, wo der Proceß der Ableitung von oben anfängt; bey dem höchsten Punct des Endlichen, dem unmittelbaren Abdruck des absoluten. Sollen wir dazu kommen, muß die Identität beider in jedem [Moment] schon angedeutet gewesen seyn. Wenn von einer einzelnen Stufe an diese Identität fehlt, wird man aus dem Gebiet des Lebens in das todte Gebiet der Abstraction gerathen, man wird einen leeren abstracten Begriff haben. Wenn aber die Verbindung beider da ist, wird man zum genannten Ziele kommen. Das richtige Verfahren ist, daß man jedes gefundene Allgemeine gleich wieder als ein besondres setzt, als wieder eine Seite eines Gegensatzes. Macht man sich diese Aufgabe nicht, so kömmt man aus dem lebendigen heraus, und daher der Irrthum derer, welche die Möglichkeit der Ableitung von [oben] leugnen. Setze ich z. B. eine Art gleich wieder als ein besondres, so habe ich sogleich den Weg zur Anschauung der höhren Gattung, welche neben dieser Art nun mehrere, welche andere Seiten des Gegensatzes ausdrücken, unter sich enthält. Darin, daß man von Anfang an versäumt, den Proceß der Induction in der Parallele mit dem der Construction zu erhalten, liegt der Grund der Annahme des falschen Gegensatzes zwischen empirisch und a priori.

17 denen,] Kj denen Angenommenes,

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P r o c e ß d e r C o n s t r u c t i o n . Dieser findet nicht für sich statt; in der Wirklichkeit ist C o n s t r u c t i o n und Induction i m m e r z u s a m m e n . Wir müssen aber beide abgesondert betrachten, weil die reine Identität in der Erscheinung nicht v o r k o m m t , sondern i m m e r das eine das Ueberwiegende und Bewußtere ist. Wir haben auf das zu sehen, was in jedem M o m e n t e des Processes dasselbe ist, dann auch auf seine Fortschreitung. Wir wollen ihn uns erst in seinem Anfangspuncte vor Augen halten. D e r Proceß fängt von o b e n an mit der Idee des A b s o l u t e n , deren wir uns als des allgemeinen Substrats alles Bewußtseyns bewußt sind, die jeder als lebendiges Princip in sich hat. Sie ist uns also gegeben als eine F o r m , nach der wir nur ein Erkennen zu Stande bringen sollen, wie die Induction im Anfangspuncte, das C h a o t i s c h e M a n n i g f a l t i g e , als M a t e r i e . H i e r schon erhellt das nothwendige Z u s a m m e n s e y n beider. D e n n was uns gleich Anfangs zum Ausscheiden des chaotischen führt, ist die Idee des A b s o l u t e n ; und was die einwohnende Idee des Absoluten aufregt, das Geschäft der Ableitung daran zu knüpfen, so ist dis nichts andres als das umgebende C h a o t i s c h e der W a h r n e h m u n g , daher auch jedes durch das andre bedingt ist. D e r M e n s c h mit allen seinen O r g a n e n wird ohne Vernunft so wenig Begriffe bilden | als das 30r Thier, hätte er keine O r g a n e , so sieht man gar nicht, wie er von o b e n zu einer Ableitung k o m m t . D i e F o r m des [ganzen] Processes ist keine andre als die der Bildung des Gegensatzes, welches von o b e n herunter bis zum absolut einzelnen geht, wo die F o r m des Gegensatzes wieder verschwindet. Diese ursprüngliche Anschauung der Identität alles [ungleichen] M a n n i g f a l t i g e n und Entgegengesetzten ist abgesehn von der M a t e r i e ein eben so chaotisches als das, w o m i t die Induction anhebt; nur ist dieses ein volles C h a o s , jenes ein leeres C h a o s ; jenes steht also eben so wenig im Gebiet des Bewußtseyns, als dieses. Erst allmählig daher b e k o m m t die Idee des Absoluten durch i m m e r weitere Bildung des Gegensatzes und Vereinigung [mit] der Induction seinen Gehalt (welches von einem andren Puñete die Leerheit des reinen Wissens ohne das reale zeigt).

[Immer] wieder scheint der Proceß in 2 M o m e n t e zu zerfallen, d a ß 35 man einen Gesichtspunkt der Bildung des Gegensatzes finde, ein prineipium divisionis, das in der ursprünglichen Einheit nicht liegt (so wie das erste der Induction das Ausscheiden des einzelnen war) und d a n n , daß man nun den Gegensatz so bilde, d a ß jede ein wirkliches Seyn repräsentire.

40 Auch in der Induction fanden sich 2 M o m e n t e , die in der Realität nicht 44. Stunde konnten getrennt seyn; es kann kein einzelner Gegenstand ausgeson-

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dert werden, ohne ein Begriff zu werden, weil er nur so Einheit wird. Eben so kann kein Theilungsgrund gefunden werden ohne einen Gegensatz, welcher ihn ausspricht. Auch hier also ist es Ein Act, den wir aus 2 Gesichtspuncten betrachten; in Beziehung auf die Einheit und auf das untergeordnete. Keine Einheit ist zu fixiren als im Schweben zwischen höhrem und niedren, so auch hier grade in diesem doppelten Gesichtspunct. Wie verhält sich aber die Einheit und Vielheit? Die ursprüngliche Einheit ist die Idee des Absoluten, das ursprüngliche und schlechthin nothwendige, zugleich aber das in gewissem Sinn nie gegebene, weil es in der Wahrnehmung nicht als Einzelnes uns entgegenkömmt; also das Nothwendige und Nichtgegebene. Die Vielheit ist das durch die Einheit bedingte, für sich gesehn also nicht nothwendige und zugleich das Gegebene. Aus dem Absoluten entwickeln sich zunächst die relativen Gegensätze, welche in ihrer Vereinigung die Welt constituiren, wie Seyn und Thun, Reales und Ideales. Ihre relative Vereinigung ist die Welt. In dem relativen liegt ein Uebergewicht des Einen über das andere, also ein Mehr und Weniger, also in diesem Gegensatz keine Nothwendigkeit; es ist ferner das Gegebene, weil alles bis unten herab heraus genommen werden kann. Dis wiederholt sich nun in der ganzen Reihe des Processes. Inwiefern als Einheit wird es als nothwendig, inwiefern eine Vielheit enthaltend als zufällig und gegeben betrachtet. So steht jeder Begriff unter dem Absoluten also auf 2 Dignitäten in Beziehung nach oben oder unten. Ζ. B. das individuelle Leben ist das Gegebene in Beziehung auf den Begriff des allgemeinen Lebens; die nothwendige Einheit in Beziehung auf den Gegensatz zwischen dem animalischen und vegetativen Leben. Jedes Glied ist also eine Identität von Nothwendigkeit und Bedingtheit, Einheit und Vielheit. Wie aber finden wir in einem als Einheit gesetzten seyn das Princip des Gegensatzes, abgesehn von dem, was wir durch Induction schon wissen? (nicht als ob eins für sich bestehen könnte, man muß aber die relative Entgegengesetztheit verfolgen, um zu sehn, was in jedem für sich gegründet ist) [.] Wie kommen wir also zur Bildung eines Gegensatzes. Das wird am klarsten werden an der Idee des Absoluten. Wir haben diese zwiefach, 1) in ihrer Identität mit dem realen Wissen, mit völligem Bewußtseyn der Gegensätze; 2) ohne diese Identität, als bloß regulatives Princip für unsern Proceß, als gleichsam Fachwerk. | (Es giebt nämlich einen Punct, wo das höchste Princip ein regulatives ist, welches es aber gar nicht seyn könnte, wenn es nicht zugleich reelles wäre.) Solange wir noch auf diesem Punct stehn, haben

12 ist] folgt « i s t ) )

13 f entwickeln] entwickelt

37 (Es] (es

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wir noch kein bestimmtes Bewußtseyn, da wir ja von aller Induction abstrahiren. Es scheint also, als hätten wir nichts, um von hier aus Gegensätze zu bilden. Aber selbst hier muß doch als ein minimum ein Reales enthalten seyn, was den Keim alles folgenden, des ganzen Processes enthält. Wir haben die Idee des Absoluten gar nicht außer uns, sondern in uns, als Form alles Denkens und Handelns, und daher verknüpft mit allen andren Formen unsres Denkens und Handelns. Als Endlich sind wir nun schon in die Form des Gegensatzes gestellt, und indem das Absolute in uns eintritt, muß es auch schon an dieser Form theilnehmen. Diese ursprüngliche Identität der Idee des Absoluten und der Form des Gegensatzes in uns ist eben das das Wesen unsres Daseyns constituirende, und wir können sehen, wie hierin das ganze System unsres Wissens gegründet ist. Wir sind gestellt zwischen der Animalität und dem Absoluten. Obgleich also wir wissen, daß im Absoluten eine Identität des Idealen und Realen ist, kann doch unser System des Wissens wegen dieses Gegensatzes nicht mit dem Wissen des Absoluten identisch seyn, eben so wenig wie das Wissen der Thiere. In dem unser Wissen ausmachenden Gegensatz muß nun auch der Grund liegen des Ableitens und Spaltens. Nun aber finden wir eben in uns die Gegensätze von Seyn und T h u n , (eine Identität des Seyns zieht sich in unserm Bewußtseyn durch die ganze Reihe des Thuns) und des Idealen und Realen, des Seyns und Begriffs (ohne den eben so wenig irgend ein M o m e n t des Daseyns bestehn k a n n ; denn es wird zum Bestehn ja immer Action und Seyn erfordert) [.] Dieses unser durch unser Seyn nothwendig gesetzte Selbstbewußtseyn ist der Keim alles realen Wissens. Das Resultat dieses Beysammenseyns ist die Bildung des Gegensatzes, als dessen Identität wir das Absolute setzen, in welcher es uns nicht mehr etwas bloß leeres ist. Dis ist der Anfangspunct, in dem, was uns als absolutes gegeben ist, einen Gegensatz zu finden; er liegt in der Identität des Objectiven (der Einheit an sich) und des Subjectiven. Diese beiden Gegensätze müssen sich daher auch im ganzen Verlauf des Processes wiederholen. Indem wir etwas als Einheit setzen, finden wir den Theilungsgrund immer in dem damit verbundenen Subjectiven; dieses besteht aber nur aus jenen beiden Gegensätzen die daher auch immer beybleiben müssen. Früher sagten wir, jedes Seyn könne doch wieder als eine Action des höhren angesehn werden; dies wird hier klar; wo eine Einheit des Seyns ist, setzen wir wieder eine Mannigfaltigkeit des Thuns, aber so, daß es weiter herunter wieder als Seyn auftritt. Eben so verhält es sich in Absicht des Realen und Idealen.

25 gesetzte Selbstbewußtseyn] gesetztes Selbstbewußtseyns

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Also wo eine Einheit des Seyns ist, ist auch eine Mannigfaltigkeit des Thuns; und wo eine Identität des Idealen und Realen ist, ist auch eine Mannigfaltigkeit gesetzt, in Ansehung des Verhältnisses, in dem sie, das eine oder andre zurücktretend stehn können.

. Stunde Das Angegebene ist zwar allgemeiner Charakter der Construction aber doch nicht gleich auf verschiedenen Stufen. Auf den höhren kommt man zur Vielheit durch eine einfache oder zusammengesetzte Dichotomie, je weiter nach unten, um so mehr verhält sich das Untre nicht wie Zweyheit sondern wie unbestimmte Vielheit. Ganz einfach kommt man auf die Idee des animalischen Lebens; unter diesem stehn aber die Classen als unbestimmte Vielheit. Eben so im ethischen Gebiet zur Idee des Staats dichotomisch, aber nicht zu dessen verschiedenen Formen. Dis ist eine merkwürdige Differenz. Es wäre zuviel gesagt, daß der Deductionsproceß nicht weiter reiche; man muß hier einwenden, daß, wo die unbestimmte Vielheit herrscht, alles auf ein Mehr und Minder herauskommt, wo sich das verschiedene in einander verläuft, die fixirenden Puñete sich nicht bestimmen lassen, also hier der Gesichtspunct der Action, das Resultat eines zusammenseyns, nicht eines reinen Seyns vorherrscht. Nun aber tritt ein neuer Ableitungsproceß ein, nur auf dem Gebiet des Thuns. Es ist ein Unterschied zwischen dem fixirten, der Art, und dem veränderlich erscheinenden, Spielart, in dem wir 31r keine Nothwendigkeit erkennen, i. e. nicht rein von oben | herabkommen. Kommen wir also auf die Idee des Thiers bloß durch Ableitung von oben, so ist bis dahin unsre Naturwissenschaft reine Wissenschaft. Finde ich nun in dieser keinen besondren Theilungsgrund, und kann ich auch das Manigfaltige nicht in so bestimmte Sphären [eintbeilen] so ist von da an unsre Naturwissenschaft keine reine Wissenschaft; wir können die Ableitung zeigen durch Induction nicht durch Deduction. Damit ist der Proceß noch nicht wirklich zu Ende, wir haben nun den Punct noch nicht gefunden, von wo auszugehn. Indem man aber die Relativität des Thuns und Seyns anerkennt, muß man sagen, an und für sich finde ich in der Animalisation keinen Theilungsgrund, es frägt sich aber, ob nicht im Zusammenseyn mit andren, wenn ich es als Action betrachte? wogegen denn nicht spricht, daß ich weiter herunter das Einzelne wieder als Seyn betrachte, grade weil der Gegensatz relativ ist. Daß man dies übersieht, das ist vielleicht die Ursache, daß der wissenschaftliche Proceß auf diesem Wege so oft stockt. Hüten muß man sich aber davor, daß man auf einem willkührlichen Puñete anfängt, ohne Zusammenhang mit dem oben, und von da an Gegensätze construirt, um Untres zu erklären. Dis ist Confusion, und setzt voraus, daß man einen auf dem Wege der Induction gewonnenen Begriff erklä-

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ren will; man arbeitet auf ein Resultat hin was man schon hat, und nicht in der Identität des Processes. Dies, daß man ein Resultat schon vor Augen hat, was man erklären will, und daß man willkührlich wo von einer Einheit anfängt, ist ein Fehler, woran jetzt besonders die Naturwissenschaft krankt, und von dem Empirikern mit Recht gerügt wird. In der Deduction muß sich jeder Schritt rechtfertigen nicht durch den folgenden sondern durch den vorigen, weil dieser die Einheit enthält. Diese Willkühr ist eigentlich die Krankheit der Zeit. Mit diesem Misgriff muß man aber nicht verwechseln, daß sich auf jeder Stufe die Identität mit der Induction finden muß. Indem man von oben ableitet, darf man die Induction gewissermaßen als vollendet ansehn, wenigstens in den allgemeinsten Zügen. Es liegt einem ob, nicht weiter zu gehn, bis man nachgewiesen hat einen durch Induction gewonnenen Begriff, der diesem entspricht. Den Proceß muß man ganz rein halten, aber jedes Resultat muß auch in der Induction nachgewiesen werden können. Auch dis ist indeß eine Regel, die wieder dem innern Gefühl anheim fallen muß. Es kommt auf die Ges/««ung an, daß man sich selbst nichts weiß macht, nicht in der Construction in die Induction hineinpfuscht. Man muß sich sagen können, rein zu Werke gegangen zu seyn, gebildet zu haben bloß [nach] der Form des Gegensatzes, so daß das Uebereinstimmen mit der Induction bloß die Frucht der Richtigkeit des Processes ist. Dazu gehört eine große Herrschaft über sich, gerade je mehr jemand die zum Bilden der Wissenschaft nöthige Lebendigkeit des Geistes hat. Dis scheint den rein speculirenden einen Vorzug zu geben; aber was sie construiren ist auch kein Wissen.

Wenn man einen Gegensatz construirt, der sich durch ein Seyn hienach wirklich ausgedrückt findet, so ist auch hier nöthig, daß man nicht aus dem Gebiet des Lebens heraus geht. Dis ist aber das Ineinan30 derseyn der Gegensätze. Daraus ergeben sich folgende Regeln 1) es giebt keinen Gegensatz, welcher wirklich Realität hat, der sich so konstruiren ließe, daß der eine Position der andre Negation enthält. Es giebt nichts, was eine reine Negation ausdrückt. Mit Gegensätzen wie das Lebendige und Leblose ist nichts aufzustellen. Der Proceß ist nichts 35 als eine Abstraction von dieser Seite. Alles Seyn ist nothwendiges Zusammenseyn zugleich; also kann das Lebendige nicht begriffen werden als im Zusammenseyn mit dem Leblosen, und es giebt Puñete, wie gesehn, in welchen wir ohne dieses nicht einmal weiter fortschreiten können. Alles dis geht [eben] einem [damit] aus. Dis ist ein Fehler, wor40 auf die gerathen, welche das Philosophiren in die bloße Abstraction

1 ein] einen

3 9 können.] kann.

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setzen aber nicht im Gebiet des Erkennens, wo jedem ein Seyn gegenüberstehn soll. Dem Negativen aber steht nichts gegenüber. 2) Nie, indem man einen Gegensatz bildet, darf man darauf ausgehn, ein Seyn zu bilden, das lediglich durch diesen Gegensatz bestimmt wäre. Gleich anfangs haben wir schon einen | doppelten Gegensatz; je weiter man 5 heruntersteigt, um so mehr muß sich die Zahl der Gegensätze vervielfältigen. M a n findet überall Irrthümer, die darauf beruhen, daß man im Gegensatz zwey Seyn bildete, welche lediglich hiedurch bestimmt seyn sollten. Ζ . B. S e y n und Geist und Materie, wo denn herauskäme, daß es ein Ideales und ein Reales für sich gebe; jedes muß beide Gegen- 10 sätze wieder in sich selbst enthalten. H a t man eine solche Entgegensetzung gemacht, so kommen nun solche wunderlichen Fragen, wie nun Geist und Materie in einander wirken und zusammenseyn können. Oder nimmt man die alten empedokleischen Elemente, (aus einem doppelten Gegensatze kalt und warm, feucht und trocken) deren Cha- 15 raktere gar nicht bestimmte Anschauungen geben, keine Charaktere des wirklichen Seyns, und nicht den Weg zum weitren weisen.

F o r m d e r U r t h e i l e . Denkt man sich die Begriffsbildung hinauf und hinabsteigend vollendet, so müßte alles, was fragmentarisch im Bewußtseyn vorgeht, in dis wissenschaftliche eingeführt werden können. 20 Jeder Begriff entspräche dann vollständig dem Seyn, und für die Form des Denkens als Urtheil bliebe, da in der Vollständigkeit der Begriffsbildung auch die Action begriffen ist, aber als Vermögen, als einem andern einwohnendes Seyn, nichts übrig, was nicht schon als Begriff in dem andren System enthalten wäre. Aber in seiner Bewegung, in sei- 25 nem unmittelbaren Leben wäre es nicht vorgestellt sondern nur als starres, fixirtes. Materiell Neues kann also in der Form des Urtheils nicht hinzukommen, aber eine andre Ansicht unter der Form des Lebens, und damit unser Wissen ein lebendiges wird, ist auch diese Form nothwendig. Nun ist [aberl der Proceß der Begriffsbildung 30 immer ein werdender, und in keinem Puñete ist auch die Identität von Induction und Construction gegeben. So wie sie also gegeben sind umfassen sie auch materiell nicht alles Wissen sondern bedürfen der

3 darauf] daraus

17 weisen.] weisen wird.

14 f Schleiermacher bezieht sich auf die von Empedokles begründete, noch heute bekannte Lehre von den vier Elementen Feuer, Luft, Wasser und Erde; vgl. Aristoteles: Metaphysik A 4, 985 a, 31 f sowie Simplikios: In Physicorum, 158, 13 (Fragmente der Vorsokratiker 31 A 37 und Β 17).

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Ergänzung durch die Form der Urtheile. Jedes Urtheil ist Vereinigung zweyer Begriffe zu einer Identität, und zwar einer solchen, welche einem Act des unmittelbaren Lebens entspricht. Wäre die Begriffsbildung vollendet, so würden alle Wahrnehmungen nichts seyn als Exemplificationen zu dem im System der Begriffsbildung niedergelegten, und es würden nur mechanische Regeln nöthig seyn, um Irrthum in der Verbindung von Subject und Prädicat zu vermeiden. Dis ist der Standpunct der gewöhnlichen Logik. Da es ab er nicht so ist, müssen wir das [Verfahren] dieser Combination für sich betrachten, abgesondert von dem andern. Das Unvollendetseyn der Induction ist die Ursache von jenen unzureichenden Begriffen, welche nur ein Aggregat von Einzelnem enthalten. Dergleichen ist im System der Begriffsbildung nicht. Aus einem Aggregat von Actionen läßt sich nicht das Innere eines Seyns begreifen, und durch Zusammenreihen einzelner Merkmale entsteht kein Begriff. Aber seine Bedeutung hat ein solches zum Behuf des Urtheils, weil wir hier eines bedürfen, woran wir anknüpfen können, wenn es auch als Begriff noch nicht vollendet ist[;] von dieser Seite ist die Annäherung beider Operationen zu bewirken. Parallel ist, daß eine Construction nicht als vollständig gültig seyn kann, wenn der gebildete Gegensatz nicht als auch durch die Induction gewonnen nachgewiesen werden kann. So wie die unvollständigen Begriffe ihre Beziehung haben auf das Urtheil, als Puñete, woran sich Wahrnehmungen von Actionen anknüpfen, so geben auch diese einen Bezug auf das Urtheilen, indem sie Formen der Verknüpfung von Begriffen sind um sich so ihre Sphären zu bestimmen. Jene geben Materie, diese Form. | So stehen beide Formen im Verhältniß der gegenseitigen Ergänzung. Jede nimmt das von der andern gebildete auf um es auf seinem eigenthümlichen Wege weiter zu fördern. Wir betrachten also das Denken unter [der] Form des Urtheils rein für sich, ohne zu bemerken, auf welchem Punct der andre Proceß gefunden wird, nur daß, da das Wissen ein werdendes ist, keine Identität stattfindet. Wie kommen wir überhaupt zum Urtheil? es ist das etwas ursprüngliches, und liegt auch der Begriffsbildung zum Grunde. Es beruht auf dem Zusammenseyn des Bewußtseyns mit der Totalität des Endlichen, wodurch die Bewegung von diesem eine innere Bewegung des Bewußtseyns hervorbringt. Betrachten wir diese [Wahrnehmung], welche das erste empirische Element der Begriffs und Urteilsbildung ist, so finden wir ein uns umgebendes mannigfaltiges Chaos, das uns nur ein geordnetes wird durch seine Beweglichkeit, seine Actionen.

2 einer solchen,] eine solche,

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Diese nehmen wir wahr, ehe noch ein Einzelnes ausgesondert ist also ehe wir Begriffe haben. Nun aber ist das Urtheil eine Identität von Subject und Prädikat, welche Begriffe sind. Wir können also nicht eher urtheilen bis wir Begriffe haben. Es kommt hier auf die zwiefache Art des Habens an. Wir haben nämlich wenn wir anfangen zu urtheilen Subject und Prädikat nur als Fachwerk, als Form, und regulatives Princip für unser Verfahren. Das Subject ist die Manigfaltigkeit des uns Gegebenen. Jede Bewegung wird ursprünglich nicht einem ausgesonderten Einzelnen, sondern der Totalität als dem ursprünglichen Subject beygelegt, und erst durch die Begriffsbildung sondern sich untergeordnete Einheiten. 1 Was ist aber das Prädicat? Wenn die Action eine Action des Einen aufs Andre wäre, so müßten schon Einzelheiten unterschieden seyn. Das Prädikat muß also außer dieser Totalität liegen. Das Prädikat des primitiven Urtheils kann also nur eine Wirkung seyn auf unsre organischen Functionen. Objectives und Subjectives ist also noch nicht auseinander getreten, oder vielmehr Subject und Prädikat selbst noch nicht, sondern diser Gegensatz bildet sich erst im Fortschreiten der Begriffsbildung weiter aus. Denn weil jenes nicht rein getrennt ist, kann auch dis, was in ihnen enthalten ist, nicht rein getrennt seyn. Bey einer Lichterscheinung z. B. kann nur die Totalität des Sichtbaren Subject seyn; in der Totalität des Gegebenen geht dis vor an diesem O r t . 2 Das Vorgegangene aber ist ein Inneres, beide sind noch vermengt. Erst bey fortschreitender Begriffsbildung treten Subject und Prädikat, Objectives und Subjectives aus einander.

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Wir haben also 2 Stufen des Urtheils, wo Subject und Prädikat 25 noch nicht auseinander getreten sind, und wo sie es sind. Jenes drückt sich aus in unpersönlichen Verben, wo das Subject unbestimmt ist. Dieses im vollständigen Satz, der aus Hauptwort und Zeitwort besteht. Solche unvollständige Urtheile kommen, da die Begriffsbildung nie vollendet ist, nicht bloß in einer gewissen Periode vor. M a n kann es 30 vielmehr als Kanon aufstellen, daß man untersuche, ob ein Urtheil auch ein unvollständiges sey, und ob man ein Subject auffinden kann. Eine zweyte Verschiedenheit ist: in dem Gegensatze zwischen Seyn und Thun drückt das Seyn eine Eigentümlichkeit eines Bestimmten von allem übrigen Ausgeschiedenen aus. In der Action ist ein Zusam- 35

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(Der Totalität, nicht als Totalität der Einzelnen sondern als Chaos) (Subject ist das was die organische Function berührt; höchstens ließe sich [der Orti näher bestimmen)

2 1 in] In

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menseyn des | Bestimmten mit allem übrigen, und nur ein bestimmter 32v Moment, worin es sich äußert. Es ist also eine doppelte Betrachtung jeder Thatsache möglich; entweder wird sie betrachtet als Zustand des Subjects, als eine Art desselben zu seyn, das Wechselnde im Beharrliehen, oder als Product zweyer Factoren, seines Subjects, und eines damit zusammen seyenden Andern. Nur in der Sphäre des vollständigen Urtheils ist diese Verschiedenheit möglich. Das erste drückt sich aus in dem Satz, der Hauptwort und Zeitwort enthält, diese in der Form des Satzes, wo das Zeitwort noch seinen Casus bey sich führt; dieser ist dann der andere Factor der Handlung, das[,] dessen Zusammenseyn durchs Prädicat ausgedrückt wird. Wir haben hier einen merkwürdigen Wechsel in der Bildung des Urtheils. Das erste ist ein unbefriedigendes, solange Subject und Prädicat noch nicht getrennt sind; das zweyte ist befriedigender, aber noch nicht völlig, deswegen aber umfassender; ins Subject werden alle Actionen gesetzt, die unter dem Prädikat enthalten seyn können, z. B. der Mensch denkt, i. e. er kann alles, was unter dem Denken begriffen seyn kann. Wird aber die Handlung bestimmt, so zieht sie sich zurück und wird eine einzelne. Jedes Seyn konnte auch als Action gedacht werden; z. B. die Welt als Action des Absoluten, das Absolute differenzirt sich in den Gegensatz des Realen und Idealen. Dann wird das Urtheil wieder ein solches, wo Subject und Prädikat nicht auseinander tretenf,] wieder dasselbe sind. In dem primitiven Urtheil ist die Totalität selbst auch das erste Agens. Insofern ist sie aber ein für sich unbestimmtes und leeres. Erst mit der Vollendung der Begriffsbildung wird uns die Totalität ein nicht mehr leeres, oder indem wir uns' alle Urtheile vollständig erschöpft denken, wodurch dann wieder das lebendige Bild der Welt gegeben wird. Zu einer solchen Totalität sollen wir kommen, wo wir dann wieder zur ursprünglichen Form zurückkehren können.

Indem wir ausgingen vom primitiven Urtheil, worin in der That Subject und Prädikat nicht unterschieden sind (z. B. es blitzt), die Indifferenz des Urtheils und Begriffs, haben wir gesehn die einfache Verbindung des Subjects und Prädicats, und eine dritte Form, wo das Factum als Resultat des Zusammenseyns angegeben wird. Von hier aus kann 35 man den Proceß des Urtheiles immer mehr erweitern oder sublimiren[;] ein Factum erschöpft sich nicht in den beiden Factoren die es konstituiren. Denn verstanden ist das Urtheil erst, wenn man die höhere Sphäre erkennt, worin die beiden Factoren Eins sind; z. B. Erde

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14 deswegen] davor « a b e r »

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und Sonne als Einheit im Sonnensystem. Indem wir so immer zur höhren Einheit geführt werden müssen wir zuletzt aufs Absolute kommen, und dis ist das unendliche Urtheilen, wo alles als innere Thatsache des Absoluten angesehn wird (zunächst das höchste, worin denn alles andre involvirt ist). Da ist denn Seyn und Thun eins, und so ist das Urtheil, was das Thun darstellt, dasselbe, was die Anschauung die das Seyn darstellt. So hört in beiden Endpuncten der Gegensatz auf, tritt in dem mittlem aber hervor. Unten ist die Indifferenz von Begriff und Urtheil weil der Gegensatz noch nicht herausgetreten, oben, wo er wieder aufgehoben ist. Das Fortschreiten läßt sich also nur im mittlem betrachten. Offenbar ist das erste Urtheil das niedrigste, das letzte das höchste; in dem Mittlern aber muß man die 2te Form als die niedrigere ansehn, die 3te als die höhere. In der ersten Form des Urtheils wird das Subject als besondre Sfäre in seiner Eigenthümlichkeit anerkannt. In der zweyten Form wird das für sich bestehn des Subjects wieder aufgehoben, und es mit einem andern zur Identität des Seyns verknüpft. Es 33r ist die Tendenz darin, das besondre Leben im Allgemeinen aufzuheben. Das Verfahren nach e r s t e r Art hat zum unmittelbaren Object das besondre Leben, die C o m b i n a t i o n das allgemeine. Indem beide sich so ergänzen, haben beide ihre Vollendung im Höchsten. Das Verhältniß des Urtheils zum Begriffbilden ist also, es geht auf von der geringren Sphäre zum bilden einer größren Sphäre; es ist die beständige erweiternde Operation. (Das Subject ist das engere, mit dem Prädikat zusammen das weitere)[.] Auch hier erhellt daß nur die synthetischen wirkliche Urtheile sind.1 Das analytische Urtheil ist nur ein Sichbewußtwerden eines noch nicht fertigen Begriffs. 48. Stunde

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Die erste Form des Urtheils müssen wir betrachten als hervorgehend aus der primitiven unvollkommnern des noch nicht geschiedenseyns von Prädicat und Sub\ect. Vom Prädikat geht das Urtheil aus. Die Bewegung ist das ursprünglich Wahrgenommene, wovon das Urtheil aus- 30 geht. Hier frägt sich, wonach ist das Subject zu bestimmen. [Denn] hierin gehen viele Irrthümer vor, die man die empirischen nennen könnte. Nicht nur ist im Menschen selbst ein allmähliger Uebergang vom Irrthum zur Wahrheit, sondern es bleibt auch noch [ferner], solange die Begriffe noch nicht vollendet sind, ein chaotisches Manigfalti- 35

1

(Denn nur synthetische Urtheile erweitern.)

13 In] in 27 Die erste Form] im Manuskript ist der Beginn der 48. nicht durch eine Leerzeile markiert

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ges noch, wo Irrthum und Wahrheit gleich möglich sind. Auf der einen Seite schlägt es nun in die Begriffsbildung hinein. Aber das Subject kann überhaupt schon gesetzt seyn, und das Prädikat auf eins bezogen werden, dem es nicht inhärirt, obgleich es Subject ist. (ζ. Β. Ζευς ΰει; der Mond hat einen Hof). Dieser Irrthum entsteht daraus, daß die organische Function und das formelle Element noch nicht als verschieden herausgetreten sind.1 Daraus folgt, daß der einzelne allein seines Urtheils in dieser Form nie sicher ist, und die Wahrheit nur gefunden werden kann durch die ergänzende Beobachtung anderer. Die reine vollständige Gewißheit ist dann eben deswegen etwas Unerreichbares. Diesem kann zu Hülfe gekommen werden, indem das formale Element sich weiter bildet. Das vollendete Wissen ist aber nur in der vereinigten Function aller. Jedes Urtheil dieser Form können wir ansehn 1) daß es die Handlung als inneres, und Function des Subjects ansieht. So nähert sie sich dem absoluten Urtheil, weil neben diesem kein anderes ist. Oder 2) daß es den zweyten Factor als χ setzt, so nähert es sich wieder der primitiven Form, wo das Subject unbestimmt gelassen wird. Auf die letzte Weise betrachtet liegt darin die Aufgabe, den zweyten Factor zu suchen; es hat nur so die Tendenz, aus der Einheit herauszugehn und eine größre Sphäre zu bilden. In der ersten Hinsicht gehört es mehr dem System der Begriffsbildung an; es hält sich in der Richtung auf das individuelle Leben; das Urtheil in der zweyten hat die Richtung auf das universelle Leben, in seinem eignen Kreise. In neuerer Zeit ist sehr gestritten worden über die Dignität beider Formen, indem einige das Herausgehn in eine größere Sphäre, das Aufsuchen einer Ursache, für etwas der wahren Anschauung widersprechendes halten. Nur das Herausgehn aber aus dem Geschlossenen Seyn kann ja der Uebergang seyn zur totalen absoluten Anschauung; sonst hat man immer das Einzelne allein, nicht den lebendigen Zusammenhang. Es ist hier also theils ein Zurückgehn in die Begriffsbildung, theils ein Weitertreiben zur Combination. Der Widerstreit verschwindet in der zweyten Form des Urtheils, wo der zweyte Factor mit angegeben ist.

In dieser Form liegt aber schon eine Ungleichheit beider Factoren. 35 Das Verhältniß des Prädikais zum Subject erscheint immer als Primiti-

1

(aus der ungleichmäßigen Bildung der formalen und organischen Function) [.] Die Wahrheit kann nur ausgemittelt werden auf dem correspondirenden Wege des Denkens durch ein Beobachten von allen Puncten

4 ΰει] ύιει

21 gehört] hört

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ves, zum Object als Sekundaires, also der Antheil beider an der Hand33v lung als ungleich. | Z. B. a liebt b. Hier wird lieben als dem a einwohnender Trieb gesetzt, zu dem b noch hinzukömmt. Dagegen b wird geliebt, da ist in b das primitive Agens, der Trieb geliebt zu werden. Diese Form des Begriffs ist eine nothwendige, entstehend durch die 5 nothwendige Relativität des Gegensatzes, so daß die eine oder andre Seite größer oder kleiner gesetzt werden kann. Man hat also theils die Factoren, theils den Antheil eines jeden richtig zu bestimmen. Hier haben wir den Uebergang zur Beurtheilung der Frage. Wo einfach das Prädikat zum Subject gesetzt wird, und die Action auf dis 10 allein bezogen, es aus der Totalität des übrigen isolirend, so ist mein Denken nicht vollständig. Setze ich das Subject als Passives, und suche den andern auf, der allein etwas bewirken soll, ohne die mitwirkende Kraft des Subjects, so gebe ich das Eigenthümliche verlohren. Allerdings soll ich den zweyten Factor suchen, aber das Ueberwiegende des 15 Subjects richtig erkennen, und richtig aufzufinden suchen, was vorzüglich den Grund der Action enthält, wozu das zweyte nur als cooperirendes, Veranlassung wirkt.

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Sieht man die zweyte Form an als aus der ersten entstanden, so kommt es darauf an, zum einen Factor den andern zu finden und den Antheil beider an der Production zu bestimmen. Die wichtigste Maxime ist nicht zu schnell in der Bestimmung des andern Factors fortzuschreiten. Aus der Uebereilung hierin ist alles Unheil entstanden, was auf der Annahme von Hypothesen beruht, denn das Object dieser ist gewöhnlich den zweyten Factor zu finden. Die verschiedene Temperatur z. B. ist ein an allen Gegenständen sich findendes; daran sieht man die Ursache, das ist grade der zweyte Factor. Hier hat man einen zweyten Factor, einen Wärmestoff erdacht, der nun als Subject erschienen ist. Und nie sollte man auf diese Weise ein Subject erdichten, denn zwar ist der zweyte Factor zu suchen, aber darin sind wir doch an das gewiesen, was wir erkennen. Eben so findet sich dis im Geschichtlichen. Jedes für sich bestehende offenbart sich freylich nur durch die Action, ob ich aber etwas setze, um Actionen in andren Dingen zu erklären, oder die Reihe der Actionen eines Dinges vergleiche, ist etwas andres. Ist so ein Centaur erst aufgenommen, so entsteht ein gewisser Glaube, und durch eine Art Verjährung erhält es eine Existenz in der Reihe der Dinge. Das Produciren solcher fingirten Factoren beruht durchaus auf unwissenschaftlichem Sinne. - Wenn der zweyte Factor auch richtig

12 Setze] setze

12 f und suche den andern auf,] und den andern aufsuche,

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gefunden ist, soll sein Antheil bestimmt werden, da beide nicht gleich seyn können. Betrachtet man eine Erscheinung für sich, wird man selten einen Grund finden so oder anders zu bestimmen. Soll etwas Wahres zu Stande kommen, so muß man wo ein Zusammenseyn ist, dies als eine eigenthümliche Sphäre setzen. Ζ. B. der Factor des Subjects ist nicht nur mit dem Object zusammen, sondern auch mit vielen andren; aber so auch das Object oder secundaire Subject; die Sphäre des Zusammenseyns eines jeden, so weit sie erkennbar ist, muß bezeichnet werden, und je genauer man diese ausfüllt, um so mehr muß sich eine Reihenfolge bilden, nach der es bald vor bald zurücktritt, und nach deren Analogie man auch im vorliegenden Fall entscheiden kann. Kein Factum kann rein aus sich erkannt werden, sondern nur im Zusammenseyn mit andern. Wie bey der Begriffsbildung gleichsam ein in die Länge gehn, so findet hier ein in die Breite gehn statt, wodurch der Act fixirt wird. - Aus dem Zusammenstellen beider Verfahrwngsarten folgt eine dritte, daß man alle Erscheinungen zusammenstellt, die als Resultate des Zusammenseyns derselben Factoren sind. Wollen | wir z. B. 34r wissen, welchen Antheil Erde und Sonne an gewissen Acten hätten, so müßte man erst sehn, welche Resultate die Erde giebt im Zusammenseyn nicht nur mit der Sonne sondern auch mit andern, und dann mit der Sonne selbst; da wird man einiges finden, wo die Kraft der Erde überwiegend ist, andres, worin die Sonne, und da durch wird es möglich seyn, in einzelnen Fällen den Antheil zu bestimmen. Es folgt, daß jedes nur durch seine Beziehung zur Totalität zum Wissen kann erhoben werden. Die Erfahrung, die sich auf einen bestimmten Raum beschränkt, wie am meisten die muß, die immer nur ins Einzelne geht, giebt also nie data genug, den richtigen Antheil zu finden, und sie bedarf daher immer der Hülfe des mit dem Allgemeinen beschäftigten.

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Wenn in den Bestimmungen geirrt wird, so hat auch hier der Irrthum in einem faulen Flecke der Gesinnung ihren Grund. Wenn man ein bestimmtes Subject in einem System von Urtheilen begreifen will und daraus seine Einheit verstehn, so wird man immer den zweyten Factor in allen Puncten seiner Peripherie suchen müssen. Nun kann 35 man davon ausgehn, das Ding selbst als Einheit lebendiger Kräfte anzusehn. Dann wird man 2 Klassen machen, wo das Subject der Hauptfactor ist, also die lebendige Kraft das ursprüngliche Agens dessen Richtung nur durch andres bestimmt wird, und wo der untergeordnete Factor, und das Agens ein andres. Beides ist nothwendig zusam40 men, denn darin ist die Identität des besondren und allgemeinen

18 hätten,] hätte,

2 2 andres,] andre,

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Lebens. Nun aber giebt es ein Herausgehn aus dieser Identität, indem man das Agens in eine Klasse vorzugsweise setzen will. Dis ist eine Art Verliebtheit in den Gegenstand. Eine andre Einseitigkeit ist, wenn man das Subject als ein Todtes setzt, worin alles von andrem gewirkt wird, nur Durchgangspunct alles andren. Das ist offenbar ein Verkennen des Lebens. Entweder will man kein Leben anerkennen, als was unsre Form nur trägt (woraus die ganze mechanische Naturwissenschaft und der Eudämonismus hervorgeht) oder daß man das Leben selbst verkennt, und auch was in uns geschieht, als Wirkung anderer Kräfte ansieht. Vor der Einseitigkeit wird man sich bewahren, wenn man sich provisorisch bis zur Entscheidung beide Ansichten aufstellt. Das alles gehört zu dem Theil der Urtheilsbildung welche die Bestimmung des Subjects betrifft. Uebrig ist noch die Aufstellung des Prädicats. Eigentlich gehört das in die Sphäre der Subsumtion; wenn der Begriff feststeht, so ist jedes Urtheil eine Subsumtion des einzelnen Factums unter den Begriff. Ab er grade hier ist ein Irrthum möglich, nämlich durch Verwechslung des Objectiven mit dem Subjectiven. Dieses ist in der primitiven Form noch nicht gehörig geschieden. Das reine Ausscheiden beider kann also auch nur mit dem Fortschreiten des Wissens überhaupt zu Stande kommen. In der organischen Function die einem Urtheil zum Grunde liegt, ist ursprünglich eine Veränderung des Organs ausgesagt, das Resultat des Zusammenseyns des Organs und des Gegenstandes. Es muß also erst festgesetzt werden, was in einem Ereigniß Factum des Gegenstandes ist; sonst setzt man Subjectives statt Objectives. Hat man noch nicht entscheiden können, so muß man das Präliminarurtheil mit in das über den Gegenstand aufnehmen. | In dem Gegenstande ist etwas vorgegangen, was mit dem von einem Organ ausgehenden zusammengenommen diese Wirkung hervorgebracht hat (ζ. B. der Gelbsüchtige). Da kommen wir wieder darauf zurück, daß nur eine beständige Kontrolle dessen, was die organische Function in einem Menschen bewirkt, ein vollständiges Wissen hervorbringen kann. So complicirt sich die Aufgabe ein Urtheil zu bilden in sich selbst; kein Urtheil kann, wie kein Begriff, ohne Zuhülfenehmen andrer gebildet werden. Man theilt die Urtheile in allgemeine, besondre und einzelne. Wenn ich einen besondren Gegenstand zum Subject eines Prädicats mache, und ein einzelnes Object setze, so ist das ein reines einzelnes Urtheil (a haßt b)[.] Ich kann ab er auch ein Aggregat mehrerer homogen gesetzter Dinge als Subject setzen. Einem solchen Urtheil correspondirt eigentlich immer ein andres, dem ein andres Prädikat zu-

36 Wenn] wenn

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kommt. Ich kann endlich auch ein Einzelnes als Subject setzen ohne Bestimmung des zweyten Factors, dann ist das Urtheil auch ein allgemeines, da nicht ein einzelnes Factum sondern eine ganze Sphäre ausgesagt wird. Eben so, wenn ich von einer Totalität etwas aussage ohne Bestimmung des zweyten Factors. Welche Bedeutung haben diese verschiednen Urtheile? Jedes besondre Urtheil geht offenbar auf eine Scheidung aus, es will zwischen der Einheit und der Einzelheit noch einen mittleren Begriff bilden, und liegt also im Proceß der Begriffsbildung. Auch das allgemeine Urtheil will den Begriff bestimmen. Ist der zweyte Factor nicht gesetzt, sehe ich das Prädikat lediglich an als Zustand des Dings, und nicht in seiner Zeitlichkeit, sondern als Vermögen oder lebendigen Trieb, welches nothwendig mit zum Wesen gehört. Habe ich den Begriff ab^r schon vollständig construirt, so ist es kein Urtheil. Das besondre einzelne Urtheil ab er faßt specifisch den Act der Combination in sich, hebt das für sich bestehn des einzelnen auf, und setzt es in die Identität mit dem allgemeinen. Daher [mögten ab er] die allgemeinen Urtheile zweyter Art als besondre anzusehn seyn; ζ. B. die Pflanze liebt das Licht. Ich gehe hier aus einer kleinen Sphäre heraus, und suche die Größere, das Zusammenseyn von Pflanze und Licht; es ist das Innere nicht der Pflanze sondern einer größren Sphäre, des vegetativen Lebens und des Lichts zusammen. Jedes besondre Urtheil geht auf Erweiterung aus, und ist also nur das eigentliche Urtheil, welches nicht mehr der Begriffsbildung dient, sondern diese ergänzt. - Im Proceß des Urtheilens ist es nöthig, sich immer seines Standpunctes bewußt zu bleiben; hat man das Verhältniß zum Begriff nicht ins Auge [gefaßt], so wird der Proceß leicht fehlerhaft; dis Bewußtseyn aber wird erhalten, wenn man sich der Form bewußt ist, in der man das Urtheil construirt. Das Einzelne läßt sich nun leicht weiter nach Analogie des Frühren durchführen. Es wird übrigens erhellen, daß das Transcendentale und formale Wissen eng zusammengehören, und ohne einander nichts sind.

Kolleg 1818/19 Nachschrift Anonymus

Dialectik nach den Vorträgen des H E . Dr. Schleiermacher

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Einleitung. 1 Das Wort Dialectik ist zweideutig. Im gewöhnlichen Leben herrscht die Ansicht, als sei dialektisch soviel als sophistisch. Philosophen gebrauchen es, als o b es nur die negative Seite der Philosophie sei. Schleiermacher versteht darunter einen wesentlichen, nothwendigen Theil der Philosophie von einem e i g e n t ü m l i c h e n Inhalte. Zuförderst sollte nun wohl eine Erklärung vorhergehen; diese ist aber sehr schwierig. H a t man einmal einen Gegenstand recht erklärt und begriffen so ist man eigentlich damit fertig. Eine gute Erklärung muß einen guten Begriff der Sache geben, und das ist das ganze Erkennen. Was auf den Begriff folgt, wird etwas Technisches oder Practisches. Der Begriff soll das Wesen des Gegenstandes darlegen. Außerdem kann man noch zweierlei thun. M a n kann das Verhältniß des Gegenstandes | zu andern ausmit- 2 teln und bestimmen, und dann aus dem Begriff den rechten Gebrauch des Gegenstandes festsetzen. Das erstere liegt gar nicht außerhalb des Begriffs. Kein Gegenstand ist isolirt; in der Begrenzung des Gegenstandes selbst liegt sein Verhältniß zu den andern. Dieses ganze Verfahren also wäre nur eine Amplification des Begriffs. Das zweite hängt mit dem ersten zusammen, und folgt daraus nur mit der Voraussetzung eines besondern Zweckes. Sobald von dem Erkennen die Rede ist, ist die Erklärung das letzte; soll man damit anfangen so dreht man sich im Kreise. Dessen ungeachtet muß man damit anfangen. Es ist das die cyclische Natur des Erkennens, d. h. daß es kein Erwerben eines Wissens zu dem andern gebe, so daß das eine abgeschnitten wäre von dem andern, sondern daß es nur eine allmählige Verklärung des Wissens gebe, daß nur deutlicher, | sicherer, bestimmter wird, was man auf 3 einer niedern Stufe des Bewußtseins schon hatte. So wird uns begreiflich daß man mit der Erklärung anfangen müsse. Bei allen andern Zweigen der Erkenntniß ist die Sache nur nicht so schwierig, als bei der Philosophie, weil uns bei allen andern der Gegenstand selbst, wenn auch mit einer unvollkommenen Erkenntniß gegeben ist. Ist von der

2 Schleiermacher] Scheiermacher

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Kenntniß der lebendigen Wesen auf der Erde die Rede, so läßt sich ein vorläufiger Begriff davon aufstellen; und er bleibt vorläufig, so lange bis die philosophische Erkenntniß h i n z u k o m m t . M a n weiß dann recht gut, d a ß man den vollkommenen Begriff n o c h nicht hat. H ä t t e man ihn, so würde die Geschichte der realen Zweige nicht so revolutionär sein. Es gebe dann nur ein allmähliges Fortschreiten von einem M i n d e r des E r k a n n t e n bis zu einem M e h r . D a s weiset darauf hin d a ß die Wissenschaften dieser A r t nicht vollständig für sich existiren indem sie ihre Vervollkommnung von der Philosophie erwarten. Die Philosophie nun k a n n ihren Gegenstand nicht aufzeigen, die ganze Sache wird erst in der Untersuchung. - Die nächste Frage wäre nun, was für ein Theil der Philosophie D i a l e c t i k ist. | Wir gehen von der Voraussetzung aus: es giebt etwas, das nennen wir Philosophie, und ein T h e i l davon soll die Dialectik sein denn so ist sie doch immer und von allen angesehen worden. Was m a g es nun aber für ein Theil sein? D a müssen wir erst voraussetzen, d a ß wir einen übereinstimmenden Begriff von dem haben, was Philosophie ist. Wir können mit dem selben Verfahren nun dreist noch einen Schritt weiter gehen und fragen: was für ein T h e i l des Wissens und Erkennens ist nun das Philosophiren? Also müssen wir erst den W o r t e n Inhalt geben und uns über denselben vereinigen. Dieser Inhalt k a n n nun eben nicht aufgezeigt werden. Wenn die realen Wissenschaften, d. h. diejenigen, welche einen aufzuzeigenden Gegenstand haben, doch von der Philosophie abhängen, so entsteht die Frage: was m u ß das für Einfluß auf die Geschichte des ganzen Prozesses gehabt haben, d a ß die Philosophie | nicht weiß, wo sie ihren A n f a n g nehmen soll? Es hat eine große M e n g e von Arten der Philosophie gegeben, die in heftigen Streit miteinander gelegen haben, und aller Streit auf dem G e b i e t der realen Wissenschaften ist nur ein falber Wiederschein von dem Streite a u f dem Gebiete der Philosophie. Vergleicht man aber alles, so ist Schleiermachers subjective Ansicht, als o b die Differenzen auf dem Gebiete der Philosophie weit geringer gewesen seien, als auf dem Gebiet der realen Wissenschaften. Wodurch es uns nur nicht so scheint, liegt darin, weil sich stets der Wechsel der philosophischen Systeme vor unsern Augen erneut. Es entsteht oft die Frage: o b nicht die Philosophie überhaupt etwas Leeres und Eitles sei, o b es nicht besser sei, m a n entschlüge sich derselben ganz und wendete alle Anstrengungen des Geistes auf die andern Gebiete des Wissens, wo doch aus der Umwälzung der philosophischen Systeme immer nur eine umgestaltete Erkenntniß hervorginge. | Sobald die Frage auf diesen Punkt

30 Schleiermachers] Scheiermachers

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gebracht ist, kann man für die Philosophie nur eine günstige Antwort hernehmen von ihrem Verhältniß zu den übrigen Wissenschaften. Alle Erkenntniß muß anfangen mit einem unvollkommenen Begriff ihres Gegenstandes. Diese mag sich nachher noch so sehr vervollkommenen, ja sie mag sogar das Wesen ihres Gegenstandes wirklich ergreifen, was wäre denn das höchste Resultat daraus? Ist man von solchem einzelnen Punkt ausgegangen, so kann man nicht dahin kommen, daß das Wesen des Gegenstandes und die Totalität aller seiner Relationen zu den übrigen Gegenständen Eins und dasselbe wäre. Man weiß nicht wie sich das Wesen des Gegenstandes zu den übrigen Gegenständen verhält. Das kann nur gefunden werden, wenn das Wesen des Gegenstandes von einem Mittelpunkt | aus ist gefunden worden. Alle einzelnen Wissenschaften bleiben unvollkommen, wenn nicht über ihnen eine Centralwissenschaft schwebt. Dies ist eben die Philosophie. Daher hat sich dieselbe auch immer neben den übrigen Wissenschaften erhalten ungeachtet selbst ganze Nationen die Meinung gehabt haben: es brauche keine Philosophie zu geben, wenn man nur die einzelnen realen Wissenschaften vervollkommnete. Weil sie also weder durch die Angriffe, die von ihr selbst ausgegangen sind gegen sie selbst, noch durch die Angriffe des empirischen und realen Wissens hat zerstört werden können, so muß sie doch wol einen guten Grund haben. Wie mag es denn nun stehen mit dem übrigen Wissen, das nicht Philosophie ist, wenn man es gänzlich von der Philosophie trennen will? Da nimmt es eine ganze trübselige Gestalt an. Alle Erkenntniß, sowohl die der Natur als die der Thatsachen der Menschheit, ist dann nur ein Aneinanderreihen des Einzelnen. Es giebt nun aber in jedem einen besonderen Trieb, sich eine gewisse Art des Philosophirens anzueignen, damit sich nicht alles ins unendlich Kleine zersplittere. Wie kommt der Mensch zu den einzelnen Erkenntnissen ? | Zwiefach, entweder durch die Entdeckung oder durch die Tradition; und die Entdeckung ist offenbar eine herrliche Sache. Wieviel entdeckt aber der einzelne Mensch im Verhältniß zu dem, was er weiß? Uberdieß zerfällt jede Entdeckung wieder in eine unendliche Menge kleiner Theile, so daß gar selten der Erfinder recht weiß, was er selbst erfunden hat. Das Entdecken zu dem Uberkommenhaben verhält sich also nur wie ein Minimum; und wir können daher das ganze Wissen, wenn es von der Philosophie getrennt ist, nie rein traditionelles nennen; nur durch seine Verbindung mit der Philosophie bekommt es einen höhern Gehalt. Wir thun aber, als wären wir schon über den Begriff der Philosophie übereingekommen; es ist aber nur vorläufig dem realen Wissen, was sich als ein Einzelnes aufstellen und aufzeigen läßt, die Philosophie gegenübergestellt. Alles was ohne Philosophie von einem Gegenstande | gewußt wird, ist auf eine äußerliche Weise entstanden; das ist das Verworrene, was bleiben muß da, wohin

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die Philosophie nicht kommt, daß das Wesen eines Gegenstandes und seine Relation zu andern nicht Eins und dasselbe ist. Es entsteht jetzt die Frage: wer soll philosophiren? Jeder der auf ein Wissen im höhern Sinne des Wortes Anspruch macht; sonst ist er nichts anderes mit seinem Wissen, als ein Durchgangspunkt traditionell 5 erworbener Massen, die sich durch ihn fortpflanzen sollen. Für wen? Für den der zugleich philosophirt. Wird aber die Frage so gestellt: sollen wir alle Philosophen sein ? so möchte ich doch erst fragen : was man darunter versteht. Es findet sich eine stete Feindschaft des empirischen Wissens gegen das Philosophiren. Dies ist eine Verblendung; das leben- 10 dige Wissen ist immer nur ein sich entwickelndes; das Todte ist das 10 Traditionelle, das was ganz ohne die Philosophie ist. | Es hat aber auch immer eine mehr limitirte Feindschaft des practischen Interesses gegen die Philosophie gegeben. Man sagt von diesem Standpunkt aus: es soll schon philosophirt werden, aber man soll sich doch damit in einem 15 gewissen Maaße halten. Im Namen der Staatsmänner hat dies schon Kallikles im Gorgias vorgetragen. In unsern Zeiten ist auch die Feindschaft gegen die Philosophie auf dem religiösen Gebiet eingewurzelt; auch hier sagt man: man soll nur in einem gewissen Maaße philosophiren, sonst würden die übrigen Elemente des menschlichen Daseins ver- 20 stimmt im einzelnen Menschen. Dagegen haben die Philosophen immer das Motto gestellt: man soll einen tüchtigen Zug aus dem Becher nehmen, oder sonst gar nicht kosten. Beides hat eine sehr relative Wahrheit, darum ist aber auch keins geradezu falsch. Wenn man nun unter einem Philosophen einen solchen versteht, der das Philoso- 25 11 phiren | zu seinem ausschließlichen Geschäfte macht, so müssen wir leugnen daß alle Philosophen sein sollen; und wenn unser Gegenstand doch nur ein Theil der Philosophie ist, so müssen wir uns darüber einigen, ob die Dialectik sich nur für diejenigen eigne, die die Philosophie zu ihrem Hauptgeschäfte machen, oder auch für die, die sie als 30 nothwendig ansehen für jeden wissenschaftlich gebildeten Menschen. Was jene Meinung betrifft, man müsse tief und gründlich oder gar nicht philosophiren, so müssen wir sagen: es giebt überall einen Gegensatz in der Beschäftigung mit einer Sache, indem man sich ausschließlich damit beschäftigt, oder sie mit andern Gegenständen ver- 35 mischt. Was für die Philosophie ausschließlich gesagt werden kann ist folgendes: Jede Wissenschaft kann von einem einzelnen Punkte anfangen, sie gehen aber dann nicht zusammen, sondern sind im Streit mit einander, sofern sie von der Philosophie getrennt sind. Die Philosophie

16 f Vgl. den Sachapparat zu KG A 11/10, 1, S. 205, 2f KG A 11/10, 1, S. 209, 7

2 1 - 2 3 Vgl. den Sachapparat zu

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soll diesen Mangel ergänzen, soll den durchgängigen Zusammenhang hervorbringen und die gemeinsame Begründung des Ganzen und jedes Einzelnen für sich. | Die Philosophie ist also die innerste Tiefe der 12 menschlichen Erkenntniß, weil sie die gemeinsame Begründung und den gemeinsamen Zusammenhang alles andern giebt. Wer also philosophirt sucht diesen Zusammenhang und diese Begründung. Also giebt es auch nur dies Eine in der Philosophie und nicht ein Zwiefaches. Dagegen könnte man sagen: es hat Zeiten gegeben, wo man diesen Zusammenhang und diese Begründung eines jeden von einem andern Punkt aus gesucht hat, ohne gerade ein System zu wollen. Dies hat man schon lange die populäre Philosophie genannt und es geschieden von der Philosophie der Schule. Diejenigen nun welche meinen, man solle nur in einem gewissen Maaße philosophiren, wollen wahrscheinlich nur dies Populäre, was nicht auf die Strenge eines Systems ausgeht. Alles Philosophiren von solchen einzelnen Punkten aus ist nichts als ein Beweis daß der Fortschritt des eigentlichen Philosophirens gehemmt ist. Könnte | je zu Stande kommen ein solch anerkanntes System des 13 Zusammenhanges alles Wissens durch eine gemeinschaftliche Begründung, dann könnte gar kein Philosophiren von einem einzelnen Punkte aus statt finden, weil jeder einzelne Punkt schon seine Begründung hätte, dann würde nur immer ein systematisches Philosophiren über jeden einzelnen Punkt in Beziehung auf das allgemeine System sein, oder es könnte von einem einzelnen Punkt aus kein anderes Bestreben geben, als ihn auszuscheiden aus dem Ganzen, und ihn dann weiter in das Einzelne zu verfolgen. Alles Philosophiren über einen einzelnen Punkt, das nicht ausgeht von einem schon gefundenen System, oder auf ein noch zu findendes ist nur ein Zeichen vom Verfall des eigentlichen Philosophirens. Das ist der Sinn in dem andere sagen, daß jeder in die innersten Tiefen der Philosophie hinabsteigen, oder gar nicht philosophiren müsse. Was sagen denn nun wol die, die da behaupten: das Philosophiren im engern Sinn könne nur die Sache weniger Menschen sein, doch sollen die andern sich auch nicht | bloß mit traditonellem 14 Wissen begnügen. Sie sagen: wer sich durchaus nur auf die Philosophie im engern Sinn des Wortes legt, der werde eben in der Virtuosität dieser einzelnen Geistesthätigkeit für die übrigen Gebiete des menschlichen Lebens ungeschickt. Beschäftige er sich nun auch nicht einmal in der Form des Erkennens mit andern Gegenständen, trenne er auch die realen Wissenschaften von der Philosophie, so würde er entweder ein ganz trockener Scholastiker, indem er sich nur mit der Form des Denkens nicht mit dem Inhalte, der doch nur in dem realen Wissen sei, beschäftige, oder er versetze diese Beschäftigung in eine willkührliche Thätigkeit der Phantasie, bilde sich eine eigene Welt für seine philosophischen Gedanken, und werde eben dadurch ein mystischer Grübler.

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Wer nun aber zu einem andern bestimmten Berufe da sei, um in dem 15 Leben | irgend wo einzugreifen, der müsse seine philosophischen Beschäftigungen noch weit mehr beschränken, der müsse an dem Philosophiren nur soweit Antheil nehmen als erfordert werde, damit sein Wissen lebendig bleibe, damit es eigenthümlich sei, und er sich über das 5 bloß traditionelle Wissen erhebe. Wenn wir nun beide Ansichten gegeneinander stellen, was ist das Resultat ihrer Vergleichung ? Denken wir uns einen solchen, der sein ganzes Leben dem Philosophiren widmet, wie soll es wol zugehen, daß er in diesem Beruf seine ganze Lebenszeit zubringt? Entweder ist er ein schwergebärender, der sein ganzes Leben 10 hindurch nur im Suchen der allgemeinen Form des Zusammenhanges begriffen ist. Einem solchen könnten wir nur von seinem Streben abrathen, und ihm sagen: er hätte nicht mit dem guten Willen seiner Natur diesen Beruf erwählt. Oder es ist ein Vielgebärender, der aber | 16 eins seiner Kinder nach dem andern aussetzt. Die neuere Zeit hat uns 15 auch solche Männer gezeigt. Von diesen würden wir dasselbe sagen, nur in einem andern Sinne, und der rechte Philosoph ist keiner von beiden. Ist nun aber beides nicht der Fall, und es philosophirt jemand immer, so muß es doch wohl nur ein Schein sein, und er muß wol noch etwas anderes thun. Solche Männer sind auf irgend eine Weise zu glei- 20 eher Zeit Künstler gewesen in fortdauernden Darstellungen der Art, wie sich in ihnen der Zusammenhang gebildet hatte. Das Darstellen ist nicht mehr das Suchen, sondern das Heraustreten des Gefundenen, es ist Praxis. Es ist eben so gut ein practisches Gebiet auf dem er sich befindet, wie alle die, um derentwillen, damit sie nicht versäumt werden, 25 die Menschen fordern: man solle nur in einem gewissen Maaße philo17 sophiren. Indem ein solcher das Gefundene | darstellt, ist er in einem ganz andern Geschäft begriffen, als im Philosophiren, in einer bestimmtem oder allgemeineren Bearbeitung der menschlichen Seele. Es ist also keine Gefahr vorhanden für den, der zur Philosophie wirklich 30 berufen ist, daß er in Scholastik oder Mystik gerathe, das Tiefeingedrungensein in das Denken, kann einem solchen nicht schaden, sondern nur fördern. Wir wollen noch von einer andern Seite die Sache auffassen. Wenn wir das sagen können, daß der Philosoph von Profession auch zugleich ein künstlerischer und practischer Mensch sein 35 muß, wenn er auch nur ein Philosoph sein will, wo bleibt dann der große Unterschied zwischen einem Philosophen von Profession, und einem solchen, der nur nebenbei philosophirt, wenn dieser wirklich philosophirt, und jener wirklich ein Gebiet des Lebens bearbeitet. Sie rücken einander sehr nahe. Wer sich über das Traditionelle erheben 40 will, philosophirt gar nicht, wenn er nicht diese Operation selbst macht, wenn er sich bloß ein System von Formeln aneignet; der ganze Unterschied zwischen beiden besteht nur darin: daß der eine die Ope-

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ration schlechthin zu vollenden sucht, und der andere zufrieden ist etwas gefunden zu haben, wovon er überzeugt ist, daß sich ein weiterer Zusammenhang seines Wissens ergebe. Also giebt es auch keinen Theil, der bloß für den da wäre, der die Philosophie als einen Beruf treiben will, und nicht auch für den, der sich bloß nebenbei damit beschäftigt. | Steht es nun so, daß eben wer sich über das bloß traditionelle Auffassen erheben will, sich dieser Operation des Philosophirens, d. h. des Suchens nach einem allgemeinen Zusammenhange nicht überheben kann, so wird auch kein wesentlicher Theil der Philosophie gedacht werden können, an den sich nicht ein solcher machen müßte. Betrachten wir das Philosophiren, wie es sich gestellt hat von Anfang an, abgesehen von dem, was schon zur Anwendung gehört, so finden wir von der Zeit an, wo es zu einer gewissen Vollständigkeit gekommen war, eine Mannigfaltigkeit von einzelnen Zweigen. Wir finden eine Eintheilung in theoretische und practische Philosophie, aber so, daß letztere wieder als eine allgemeinere von den angewandten einzelnen Disciplinen verschieden ist; ferner eine Eintheilung in Formal- und TranscendentalPhilosophie, Logik und Metaphysik etc. — Dahin gehört denn auch der Name | der für diese Vorträge gewählt ist. Wie steht es denn mit dem Inhalt dieser Disciplin? Wir wollen davon ausgehen, daß es etwas sein soll, das sich auch diejenigen aneignen müssen, die ihre philosophisch gewordenen Einsichten auf anderen Gebieten in Anwendung bringen wollen, und noch einmal zurückgehen auf das Verhältniß zwischen allem Wissen ohne Unterschied, und dem philosophischen. Die allgemeine Geschichte des Menschen läßt sich in dieser Rücksicht leicht darstellen. Das Erkennen fängt in ihm an als verworren. So ist es in der Kindheit. Je mehr sich das ganze Bewußtsein aufschließt, um desto mehr kann sich der Mensch das aneignen, was andere Menschen vor ihm hervorgebracht haben. Er kann das Verworrene sondern, sich in seinen Vorstellungen zurecht finden, und sie in ein bestimmtes Verhältniß zu seinen übrigen Thätigkeiten setzen. Aber immer gehen seine Erkenntnisse noch nicht zu | einem Ganzen zusammen; es bleibt ihm noch immer das Gefühl daß die verschiedenen Gebiete jedes für sich ihr Wesen treiben, und daß es bei der Berührung der Gebiete Streit und Feindseligkeit giebt. Dadurch wird allmählig rege, was in jedem einzelnen Menschen und in dem ganzen Geschlechte lange geschlummert hat, das Verlangen diesen Widerstreit aufzuheben, und einen allgemeinen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gebieten des Wissens zu suchen, um jedes für sich, und alle gleichmäßig zu begründen; das Verlangen nach der Philosophie. Diesen Gemüthszustand muß man in allen voraussetzen, in denen ein wissenschaftliches Streben ist. Indem Schleiermacher voraussetzt, daß bei weitem von den meisten von diesem allgemeinen Zusammenhange und dieser gemeinsamen Begrün-

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dung aus, wieder die Anwendung gemacht werden soll auf irgend 21 einem einzelnen Gebiete | des Wissens oder Handelns, so entsteht die Frage: wie hängt jedes einzelne Glied des Wissens mit der Aufsuchung des allgemeinen Zusammenhanges und der letzten Begründung zusammen? oder was ist denn eigentlich das nur durch die Philosophie zu 5 befriedigende Verlangen im Wissen und im Handeln? Dieses Bedürfniß erscheint zuerst als ein zwiefaches. 1) Jedes einzelne Wissen steht in einem Zusammenhange mit anderem und hat seine Wahrheit in der Wahrheit des bestimmten Zusammenhanges; d. h. es hängt ab von dem Besitz allgemeiner Regeln der Verknüpfung des menschlichen Den- 10 kens, denn diese werden für alle verschiedenen Gebiete des Wissens dieselben sein. Weil ein jedes einem andern anhängt, so kommt man von dem einen zum anderen. Alle falsche Vorstellungen entstehen auch so, daß man von einem Gedanken auf den andern kommt. Die falschen Vorstellungen unterscheiden sich aber von den richtigen eben durch 15 eine falsche Verknüpfung, durch ein Verkennen des Verhältnisses zu 22 anderem Wissen. Die Regeln der Verknüpfung | können nur der Philosophie angehören, und dadurch hängt zuerst jedes Gebiet des Denkens mit ihr zusammen. 2) Jedes Wissen hat doch einen Gegenstand, es ist nur wahr, in wiefern es zu diesem Theile des Seins dasselbe Verhältniß 20 hat, welches im Allgemeinen Statt findet zwischen Sein und Wissen. Und dieses Bewußtsein von einem allgemeinen Verhältniß zwischen dem Sein und dem Denken ist eben so etwas über alle einzelne Gebiete des Wissens hinaus Liegendes, was aber in allen dasselbe ist, und also auch nur in der Philosophie seine Befriedigung finden kann. Die Philo- 25 sophie soll uns also gewiß machen über das Verhältniß des Denkens zum Sein, und an die Hand geben die sichern und untrüglichen Regeln der Verknüpfung des Denkens. Wo wir in einem Theile des Wissens auf 23 diese beiden Punkte ausgehen, da wollen wir das | eigentliche Wissen produziren, da wollen wir das reale Erkennen mit Philosophie durch- 30 dringen. Allein näher betrachtet werden wir sehen, daß beide Punkte nur Eins und dasselbe sind, und daß das Wesen der Philosophie nicht in einer Duplicität, sondern in einem Einfachen beruht. Jedes Wissen hat seinen Gegenstand, worauf es sich bezieht, aber darin, daß es ein Wissen sein soll liegt die Zusammenstimmung der Vorstellung und des 35 Gegenstandes; nur in sofern die Überzeugung realiter in uns vorhanden ist, giebt es ein Wissen, die Uberzeugung nämlich vom Zusammengehen des Denkens und Gedachten. Es fragt sich aber: wie können wir diese annehmen, wie wird sie uns? es entsteht das Bedürfniß diesem Zusammenhange auf den Grund zu kommen, und dies kann nicht das- 40 selbe sein mit den Regeln der Verknüpfung. Dies ist die zweite Abhängigkeit jedes Wissens von dem philosophischen. Es ist schon vorläufig gesagt: die Gesetze der Verknüpfung, und die Beziehung auf das Sein,

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sei keine Duplicität. Es scheint dem ersten Anblick nach etwas ganz anderes zu sein, ob ich frage: wie bin ich dazu gekommen einen Gedanken aus dem andern abzuleiten? und wie dazu, einen Zusammenhang meines Begriffes mit seinem Gegenstande abzuleiten? wol zu merken wenn wir überall nur auf die einzelne Thätigkeit sehen wenn wir ein erstes und ein zweites unterscheiden. Die nächste Antwort wäre die: wenn mir ein Denken in irgend einem Sinne ein erstes ist, dann ist mir nur übrig zu fragen: nach dem Grund der Zusammenstimmung mit dem Gegenstande; wenn es mir aber auf irgend eine Weise nicht ein erstes ist, dann glaube ich nicht nöthig zu haben | dieses zu fragen, sondern nur nach der Zusammenstimmung mit dem, was sein erstes gewesen ist. Betrachten wir aber die Sache mehr im ganzen, so sehen wir, wie beides nur durch ein und dieselbe Operation erreicht werden kann, und also auch wie beides nur Eins und dasselbe ist. Gehen wir darauf zurück, daß jedes nicht philosophische Wissen einen Gegenstand außer sich hat, irgend einen Theil des Seins, so müssen wir sagen: es würde ebenfalls unser ganzes Wissen nicht werden, setzten wir nicht voraus: daß indem wir das Sein theilen, oder indem es sich getheilt darstellt, eben diese Mannigfaltigkeit doch unter sich verknüpft sei. Was würde es uns sonst helfen unser Denken zu verknüpfen, und was könnten alle Regeln der Combinationen des Denkens für einen Sinn haben, wenn wir nicht das Denken verknüpften wie das Sein verknüpft ist? Die ganze Entwickelung | der Gesetze aus einer Vorstellung in die andere überzugehen ist nur die Voraussetzung, daß unsere Verknüpfung der Gedanken, und die Verknüpfung des Seins, worauf sich die Gedanken beziehen Eins und dasselbe ist. Fragen wir: was ist die rechte Art einen Begriff einzutheilen? so setzen wir voraus daß im Sein eine Theilung möglich ist, und daß in dem so getheilten Sein eine Verwandschaft zwischen den einzelnen Theilen statt findet. Setzen wir dies nicht voraus, so ist das Sondern und Zusammensetzen rein willkührlich gewesen. Das Zweifeln, es entstehe aus dem Triebe die Wahrheit finden zu wollen, oder aus dem Bestreben, jede Wahrheit aufheben zu wollen, hat gar keinen andern Typus als dieses verdächtig machen zu wollen, und zu überreden, daß alles Zusammenfassen und Absondern im Denken ein Willkührliches sei, und ihm ein Sein nicht entspreche. Ist es wahr, daß das ganze System der Gesetze der Gedankenverbindung nichts anderes sein kann, als die Darstellung der Art und Weise, wie das Sein selbst getheilt und verbunden ist, so sind jene selbst wieder nichts, als das Aufsuchen des einen im andern. Es läßt sich also gleichsam das eine in das andere übersetzen. - Auf der andern Seite,

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«Theil»

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26 was heißt | denn die Frage nach dem Grunde der vorausgesetzten Zusammenstimmung meines Denkens mit dem Sein, und eines jeden Gedankens mit seinem Gegenstande, so wie die Frage im Ganzen genommen wird? Was ist das ganze Denken anders, als eine Reihe von untereinander verknüpften Erscheinungen des Denkens; und was ist das Sein anders, als nur eine Reihe von verknüpften Erscheinungen desselben ? Wie kann ich mir also verkörpern meine Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein? Nicht anders, als wenn ich mir die Gesetze meines Denkens vergegenwärtige, und sie für Eins erkenne mit den Gesetzen der Verknüpfung des Seins. Es ist also beides Eins und dasselbe. In der Anwendung aber kann es geschieden sein, da kann ich die eine Form vorziehen und die andere fahren lassen, aber nur im Einzel27 nen. Im Ganzen müssen wir beides für dasselbe erkennen. - | Dennoch beruht auf der Trennung beider Fragen: über den Grund der Zusammenstimmung des Denkens und Seins und über den Grund der Verknüpfung des Denkens, die Hauptgestaltung die man seit langer Zeit der Philosophie gegeben hat. Nämlich die Kenntniß des Grundes von der Verknüpfung des Denkens für sich betrachtet ist die sogenannte Logik; und die Einsicht von der Bewährung des Zusammenhanges zwischen dem Denken und Sein überhaupt ist die sogenannte Metaphysik. Allein je mehr man Logik und Metaphysik getrennt hat, um so leerer sind beide geworden, und man hat sich dabei in einem Kreise herumgedreht, dem gar nicht auszuweichen ist, und in den man sich, doch nur von einer ganz andern Ansicht aus, mit gutem Willen fügen und mit gutem Erfolge begeben kann. So wie man die Metaphysik, von der Ansicht aus, daß sie nicht in dem Zusammenhang unseres Denkens | 28 mit dem Sein gegründet ist, ausspinnt in Argumentationen, so entsteht dadurch eine Reihe von Gedanken; natürlich aber sagt man dabei: ja gieb mir die Gesetze über die Verbindung der Gedanken, damit ich weiß, ob richtig verfahren ist. Also setzt die Metaphysik die Logik voraus. Sondert man diese für sich, so kann man da die Gesetze der Gedankenverbindung aufzählen. Man kann sagen: bei diesem Verfahren wird aus einem richtigen Gedanken wieder ein richtiger folgen, aber woher kommt denn die Kenntniß der Gesetze selbst? Das Richtige ist doch nur das mit dem Sein Zusammenstimmende. Also kann die Logik nur wieder auf Metaphysik beruhen. Beruht sie darauf nicht, so beruht sie auf dem Gefühl. Sie soll dann alles andere Wissen begründen, und ruht selbst auf einem Nichtwissen, und zwar ohne sich Rechenschaft 29 geben zu können: warum denn das Wissen | nicht erweitert werden könne. Daß es bei dieser Trennung in formale und transcendentale Philosophie nicht recht gegangen ist, ist leicht einzusehen, und ist auch die Geschichte jener ganzen Zeit. Diese Trennung hat angefangen, ich will nicht sagen von Aristoteles, aber wol von dem mißverstandenen Ge-

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brauch des Aristoteles, und hat geendet damit, daß man das Streben nach einer organischen Philosophie aufgegeben hat, und daß das Philosophiren ein Räsonniren über einzelne Gegenstände geworden ist, wobei man sich zuletzt auf das Gefühl berief. Seitdem hat das philosophische Bestreben einen ganz andern Gang genommen. Man hat eingesehen, daß die ganze Form unbrauchbar sei, aber man ist immer dabei stehen geblieben, daß die Philosophie das eigentliche "Wissen des Wissens sein solle. Schleiermacher will nicht sagen, daß das unerreichbar sei, I und nicht entscheiden, welcher von den Anführern unserer Philo- 30 sophen es am besten erreicht habe, sondern er ist zu sehr überwältigt von der Erscheinung dieser immer wechselnden und sich immer erneuernden Systeme, und es scheint ihm daraus hervorzugehen, daß eine Befriedigung des Bedürfnisses auf diesem Wege nicht zu Stande gekommen ist. Er habe also für sich einen andern Weg eingeschlagen, indem er es aufgiebt die Philosophie als eine eigentliche Wissenschaft zu konstruiren. Er ist dabei zurückgegangen auf die Zeit, welche jenseit jener Trennung liegt. Es ist schwer zu entscheiden, wiefern Aristoteles selbst hieran Schuld sei. Vor ihm ist eine solche Trennung nicht gewesen; aber es hat da auch das ganze philosophische Bestreben einen andern Character. Es will auch Wissenschaft werden, diese will aber nicht Philosophie werden, sondern Wissenschaft der Natur und des Menschen, | Physik und Ethik. Die Philosophie erschien dabei mehr als eine Kunst, 31 als eine Theorie, nach welcher auf diesem Gebiet ein wirkliches Wissen hervorgebracht werden kann und soll, und daß eben ist es was Piaton, und auch andere nach Aristoteles gewesene Schulen, die sich aber nicht an ihn gehalten haben, Dialectik genannt haben. Nachdem was unter diesem Namen bei den Alten vorkommt, ist die Erklärung: es ist eine eigentliche Kunstlehre des Denkens, nach welcher eben ein jedes Denken so gestellt werden soll, daß es mit seinem Gegenstand übereinstimmt, und daß es einen bestimmten Ort in dem Systeme des gesammten Denkens einnimmt, und also auch die Regeln der Verknüpfung der Gedanken in sich darstelle. So habe ich den Namen genommen, und auch nicht durch einen späteren, geringeren Gebrauch des Wortes, noch weniger durch die jetzige zweideutige Anwendung | davon 32 abschrecken lassen es zu gebrauchen. Nach dieser Art und Weise stellt

3 3 - 3 6 Anspielung auf die Ablehnung der auf Aristoteles zurückgehenden, rhetorischdialektischen Tradition in der neueren Philosophie; so heißt es noch bei Kant über die „logische Topik des Aristoteles", daß sich ihrer „Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten für eine vorliegende Materie schickte, und darüber mit einem Schein von Gründlichkeit zu vernünfteln oder wortreich zu schwatzen." (KrV A 268 f ; Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 174) - Die jetzige zweideutige Anwendung des Dialektik-Begriffs bezieht sich auf

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sich das Bedürfniß der Philosophie so dar, d a ß es keinen großen Unterschied geben darf zwischen denen, die die Philosophie um der Philosophie Willen betreiben, und denen, die sie um ihres Wissens Willen betreiben. D e r Philosoph von Profession m u ß auch Künstler werden. Im Forschen wird er erst Philosoph, und ist es erst wenn er darstellt. So gewiß er im Forschen begriffen ist, so gewiß ist er auch in der Kunst (beides geschieht zwar nacheinander, aber es ist auch immer zugleich und miteinander), so gewiß k o m m e n auch die einzelnen Elemente seiner Kunst zu Stande. — Dasselbe ist mit jedem andern M e n s c h e n der Fall, der die Philosophie nur nebenbei treiben will. Entweder giebt er sich auch einem Gebiete des Wissens hin, oder er will auf einem Gebiete des H a n d e l n s als | ein Wissender stehen. Treibt er irgend ein G e b i e t des Wissens um sein selbst willen, so hat er eine weit größere Mannigfaltigkeit von Kenntnissen als der P h i l o s o p h ; aber in wiefern er diese b l o ß s a m m e l t , so ist das gar nicht ein Philosophiren, sondern ein mechanisches Zuwerkgehen. E r kann sonst nur das Wissen erweitern wollen, oder dasselbe künstlerisch darstellen. In diesem letzten Fall ist er so gut Künstler wie der Philosoph. Ist er im e r s t e m so forscht er wie der Philosoph. Will einer auf dem Gebiete des Handelns als ein Wissender stehen, so will er eine Kunstlehre für sein Handeln haben. H a n delt er als ein Wissender, so denkt er sich vorher, was er producirt. E r produciert aber nicht aus nichts, sondern an etwas, und das Wissen wird nur richtig sein, wenn er sich den Gegenstand richtig d e n k t ; und das Handeln nur richtig wenn das Wissen richtig ist. | Wollten wir also auch die Frage übergehen : ist eine solche Behandlung der Philosophie, wie hier in der Dialectik gegeben ist, hinreichend, um den Z u s a m m e n hang des Wissens hervorzubringen? so müssen wir doch sagen: sie reicht dazu hin und entspricht auch ihrer F o r m nach demjenigen Bedürfniß unmittelbar, welches das Philosophiren, wenn es im Werden ist, auf ein bestimmtes G e b i e t des Denkens und Handelns anwenden will. Uber die erste Frage dieses vorläufig: Wenn man sagt: es soll ein System des philosophischen Wissens hervorgebracht werden, so kann m a n sagen: wenn auch die vollständigste Kunstlehre des Denkens existirte, so würde doch dadurch eben so wenig ein Kunstwerk zu Stande k o m m e n , wie durch die T h e o r i e der Poesie ein Gedicht. Allein man

8 miteinander] miteinander,

Kant, der die Dialektik, im Sinne dieser Polemik, als „Logik des Scheins" bestimmt, sie jedoch zugleich auch „als eine Kritik des dialektischen Scheins der Logik" verstanden wissen will (KrV Β 86; Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 3, S. 81).

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hätte dann gerade das Gleichniß von seiner unpassenden | Seite angewendet. In jeder Kunst ist ein Verschiedenes, zwar immer auch von einander Unzertrennliches, doch so, daß es in einem sehr verschiedenen Maaße vorhanden sein kann: der innere bildende Trieb, und die Urtheilsgabe über ein Kunstwerk. Mit der Philosophie ist es ganz anders, weil sie keinen Gegenstand außer sich hat, sondern ihn selbst erst hervorbringen muß, und weil das Nachdenken über die Regeln der philosophische Trieb selbst ist. Der diesen Trieb nicht hat, ein System des höhern Wissens hervorzubringen, der wird die Gesetze dieser Kunstlehre auch nur auf seinem Gebiete anwenden; der aber diesen Trieb hat, würde, wenn die Lehre vollkommen wäre, nie etwas Falsches hervorbringen können, oder es wenigstens gleich als falsch erkennen. Die Erforschung dieser Regeln ist nichts als das Erforschen und Suchen des Wissens. Es wird also etwas entstehen, was den philosophischen Systemen völlig adäquat ist. - | Es scheint mir, als ob man die ganze Aufgabe der Philosophie auf einem zwiefachen Wege lösen könne. Der eine ist der, daß man eine Wissenschaft des Wissens sucht, der andere der, daß man eine technische Anweisung über die richtige Art das Wissen hervorzubringen sucht, d. h. eine Anweisung, wie wir im Denken verfahren müssen, damit das Denken ein Wissen werde. Es kommt nun, um diese Verfahrungsweise zu rechtfertigen in ihrem Zusammensein mit der gewöhnlichen auf folgende Punkte an: Zuerst, daß wir uns überzeugen, daß sich die ganze Aufgabe der Philosophie auf diese Weise fassen läßt. Die ganze Aufgabe derselben scheint mir zu sein: daß die Regeln der Verknüpfung der Vorstellungen aufgestellt und nachgewiesen werden; und daß die Zusammenstimmung des Denkens, eben in wie fern es ein Wissen sein will, mit dem Sein auch nachgewiesen werde. Dieses nun, besonders | das letzte, scheint eine rein theoretische Untersuchung zu sein. Auch das erste ist in der Beweisführung rein theoretisch. Allein die Art die Aufgabe zu fassen scheint schon deswegen sehr paradox, weil wir gewohnt sind Wissen und Handeln als theoretisch und practisch entgegen zu setzen. Eine solche technische Anweisung will aber nur zeigen, wie man im handeln verfahren soll. Da tritt uns der Gegensatz zwischen Handeln und Wissen entgegen. Dieser ist gar nicht vorhanden. Ein jedes Wissen ist eben nur ein wirkliches Handeln. Es kommt nur durch eine Thätigkeit zu Stande. Es giebt nicht nur Gemüthszustände, sondern auch Zustände des Bewußtseins, die mehr den Character des Leidens an sich tragen Gefühle und Empfindungen, aber die sind auch kein Wissen. Ein jedes Empfinden, das entweder Lust oder Unlust ist, ist ein leidender Zustand. Ein Wissen kann aber nicht aus einem | leidenden Zustand hervorgehen, sondern nur aus einem Handeln, also in und mit dem Wissen ist das Handeln gesetzt. Aber eben so müssen wir sagen: ein jedes Handeln ist auch ein Wissen.

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Was auf eine bewußtlose Weise in dem Menschen entsteht, ist auch kein Handeln, sondern in dem Bewußtlosen zeigt sich der Mensch als ein Leidender; da gelten die Redensarten: es hat sich zugetragen u. s. w. Das Handeln ist also auch ein Wissen. Hiegegen wäre nun einzuwenden, was ich gar sehr anerkenne: es giebt ein Handeln, wobei alles was geschehen soll zuvor überlegt und berechnet wird, und ein anderes, das von einem innern Triebe aus geschieht, das völlig als ein unmittelbares auftritt, und wobei wir gar nicht ein Wissen vorher setzen. Das letzte ist zehnmal mehr werth als das erste. Offenbar, daß 39 schon im Leben eines jeden | einzelnen Menschen das bei weitem das Wenigste und Geringste ist, was auf einem Uberlegen und Berechnen beruht; das Frischeste und Meiste ist immer, bei dem wir von keinem Uberlegen und Berechnen wissen. Dies findet noch vielmehr statt, wenn wir auf das Handeln im Großen sehen, auf die großen Erregungen und Bewegungen der Völker. Da ist nur ein gemeinschaftlicher impetus. Aber wir würden sehr unrecht thun, wenn wir ein solches Handeln von dem Wissen trennen wollten. Das Wissen ist nicht das unmittelbar Vorhergehende; aber ein unmittelbares Handeln eines Menschen, der sich selbst nicht klar ist, und in dem die entgegengesetzten Bewegungen sich ablösen können, ohne daß er sie wahrnimmt, ist bewußtlos. Wo aber das unmittelbare Handeln auf einer durchgängi40 gen Klarheit beruht, da ist ein | lebendiges Wissen um die Principien des Handelns. Also liegt auch hier ein Wissen zum Grunde. Wissen ist also Handeln, und Handeln Wissen. Es giebt also auch nur ein Wissen durch ein Handeln, und eben diesem Handeln, das selbst das Wissen ist, wodurch wieder ein Wissen wird, muß auch ein Wissen zum Grunde liegen, d. h. ein Wissen der Art und Weise des Handelns selbst. Es liegt also jedem Handeln ein Wissen zum Grunde. Das nun, worin sich das Wissen realisirt ist Kunst, und dies Wissen um dieses Handeln ist Kunstlehre, also muß es eine Kunstlehre geben für das Handeln wodurch uns das Wissen wird. In dieser aber muß alles gesetzt sein, was den Character des Wissens bildet, und das Wesen des Wissens muß sich seinem ganzen Inhalte nach in der Kunstlehre abbilden. Dasselbe 41 läßt sich auch so nachweisen: Was ein | Denken zu einem Wissen macht, das ist 1) die Übereinstimmung desselben mit einem dazu gehörigen Sein; 2) daß das Denken geworden ist in seinem Zusammenhange mit seinem frühern Denken nach den Regeln der Verknüpfung. In sofern also in uns ein Trieb ist zu wissen, ist auch eine Richtung da, diese beiden Elemente dem einzelnen Denken einzubilden. Einem jeden Denken, das ein Wissen sein will, muß diese Tendenz zum Grunde lie-

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gen, und in dem Maaße als uns unser Handeln mit dieser Tendenz klar ist, muß es auch ein Wissen von dem Verfahren geben, unsere einzelnen Acte des Denkens diesen einzelnen Elementen einzubilden. Es muß ein jeder Mensch in verschiedenem Grade ein Vermögen haben zu unterscheiden, ob sein Denken ein Wissen ist oder nicht. Dies thut er durch das Uberzeugungsgefühl. Es ist zuerst als Gefühl ein bewußtloses, muß sich aber auf den Grad des Bewußtseins heben lassen. | Wir müssen 42 sagen können, warum wir bei diesem Verfahren zum Resultat ein solches Gefühl haben, und warum bei diesem ein anderes; und das können wir nur thun, wenn das Verfahren im Denken in uns selbst eine Theorie geworden ist. Also läßt sich die ganze Aufgabe allerdings unter den Begriff einer Kunstlehre betrachten. Noch dieses fügt Schleiermacher hinzu: Jedes einzelne Wissen, sei es ein Gegenstand welcher er wolle, wenn es in Verbindung steht mit einer solchen Theorie, und auf sie bezogen wird, wird eben dadurch ein Kunstwerk, und also auch jedes Wissen ist ein Kunstwerk, in wiefern die Theorie sich darin ausdrückt. Also ist auch das, was das Wesen des Wissens constituirt in der Theorie enthalten, wodurch das Kunstwerk gesetzt ist. Ein Kunstwerk nämlich nennen wir immer dasjenige, worin als in einem Einzelnen eine allgemeine Idee ausgedrückt ist. Dies kann ein Kunstwerk im allgemeinen I Sinne sein. Im engern Sinne nennen wir es so, in wiefern 43 wir voraussetzen, daß die Idee auf eine bewußte Weise darin gesetzt ist. So ist uns jedes Naturproduct ein Kunstwerk im allgemeinen Sinne. In wie fern wir die Natur beseelen, wird uns alles auch ein Kunstwerk im engern Sinne. Wenn nun beide Methoden das Denken zum Wissen zu bringen, sich in einem einzelnen Wissen darstellen, so ist das Allgemeine darin; und es ist ein Kunstwerk im engern Sinne, wenn sie mit Wissen und Willen darin gesetzt sind. Indem nun jedes einzelne Wissen als solches durchaus als ein Kunstwerk angesehen werden kann, so muß sich das Wesen des Wissens auch ausdrücken lassen durch die Art und Weise wie es geworden ist, also durch die Regeln des Verfahrens d. h. durch die Kunstlehre. Also läßt sich die Aufgabe der Philosophie eben so gut fassen auf diese Weise, daß sie eine Anweisung sei, wie man ein Wissen produciren solle. | Sehleiermacher fügt noch ein Zwei- 44 tes hinzu: Es scheint ihm bei unserer gegenwärtigen Lage des Wissens und des philosophischen Bestrebens subjectiv besser, die Aufgabe der Philosophie von dieser Seite zu fassen als von der andern. Zu einem Wissen gehört offenbar dieses, daß jeder, wiefern er seiner eigenen Uberzeugung nach weiß, auch die Uberzeugung hat, daß über denselben Gegenstand ein jeder Mensch das Gleiche denken müsse, und daß er einen jeden nöthigen könne, in dem selben Maaße als er sich mit ihm verständigt, über denselben Gegenstand so und nicht anders zu denken, sonst glaubt man, ist auf eine subjective Weise überzeugt,

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sonst ist es eine Sache des Geschmacks, der Empfindung. Wenn nun die Aufgabe der Philosophie so gefaßt wird, daß sie eben das Einsehen, oder Wissen des Wissens sein soll, so liegt darin, daß jeder den andern 45 nöthigen wolle, über | das Wissen so zu denken, wie er denkt. Dies ist nun eine schöne und löbliche Sache, wenn man, in dem Augenblick wo 5 man selbst das Wissen in vollem Maaße aufgefaßt hat, begeistert die andern auch dahin bringen will, allein verlangen wir von der andern Seite, es soll sich [neben] seine Uberzeugung jemand mit kaltem Blute hinsetzen, so müssen wir sagen : so wie die ganze Geschichte der Philosophie vor uns liegt, so erscheint es immer als ein Mangel an strengem 10 Urtheil, wenn einer meint: sein System sei dasjenige, wozu er jeden nöthigen wolle. Es hat eine große Menge von Heerführern und Herren der Philosophie gegeben, die anderen Formen gefolgt sind, und denen es mit dem Nöthigen doch nicht gelungen ist. Daraus entsteht also billig dieses, daß wir uns denken müssen, aber nicht etwa um über die 15 Sache an und für sich abzuurtheilen, daß, wie die Sache bis jetzt gekommen ist, es doch nicht ein solches Nöthigen zum Wissen in der Natur der Philosophie gebe, sondern daß es eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen gebe, die eine Gültigkeit haben in einer bestimmten Zeit, 46 und in einem bestimmten Kreise. | Damit hängt genau das andere 20 zusammen, daß eben die historische und in einem höhern Sinn practische Seite der Sache ist: es giebt in einer jeden menschlichen Bestrebung eine solche relative Differenz, daß wenige führen, andere folgen. So ist es also auch in der Philosophie. Es ist nun offenbar, daß die Leitenden auch eine selbstständigere und kräftigere Uberzeugung haben, als die 25 welche folgen. Dies ganze gegenseitige Verhältniß beruht auf einem Verhältnisse von geistiger Verwandtschaft. Je größer diese ist, um so stärker zieht der Führer andere nach sich. Gehen wir von der Erfahrung aus, daß die Philosophie, wiefern sie das Wissen des Wissens sein will, eine große Menge von Führern gehabt hat, so sind die Führer 30 selbst verschieden gewesen, und die folgenden Massen auch. Diesen Verwandtschaftskreis kann nun keiner vorher bestimmen. Jeder richtet 47 seine Bestrebungen | auf das Ungewisse hinaus, trifft seine Wirkung die verwandten Gemüther, so folgen sie ihm, trifft sie die Nichtverwandten, die aber noch keinen Führer gefunden haben, so werden sie sich 35 abgestoßen fühlen. Sie haben aber nichts Positives, was sie der Anforderung die an sie geschieht entgegensetzen können, daher legen sie sich auf die Seite des Scepticismus, und meinen: auf diesem Gebiete könne gar nichts gewußt werden. Hätten sie aber nur die richtige Form gefun-

8 [neben]] So Nachschrift Wort in der Vorlage.

Zander;

hier Lücke im Text; vermutlich

nicht

entziffertes

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den, so hätten sie so nicht gesprochen. Dies ist nun ein unvortheilhaftes Ereigniß, d a ß die auf die größten Forschungen gerichteten Bestrebungen um so schwerer ihr Ziel erreichen, als sie ihre Kräfte gegen den Scepticismus richten müssen. Diesem Nachtheil entgehen wir, wenn wir die Aufgabe von der andern Seite fassen, und also sprechen: ihr habt doch in eurer unmittelbaren E r f a h r u n g den Unterschied zwischen dem Überzeugungsgefühl | und dem Gefühl der U n b e s t i m m t h e i t oder des Irrthums. Wir wollen nun den I r r t h u m und die Ungewißheit vermeiden, und unser Verfahren so einzurichten suchen, d a ß es uns nicht möglich wird dabei a u f dem Wege der Ungewißheit lange fortzugehen. Dieser Forderung wird sich niemand entgegensetzen, weil sie nicht eine so bestimmte Gestalt trägt, und nicht a u f ein so bestimmtes Resultat im Voraus Anspruch macht. N i e m a n d k a n n ein Interesse daran finden, einen Scepticismus gegen diese Anforderung geltend zu m a c h e n , weil es nur ein Scepticismus wäre gegen das Handeln das bewußt ist. N u n noch dieses: wir mögen die Aufgabe so oder so fassen, wenn die Aufgabe gelöst wird, so m u ß auf beiden Seiten dasselbe Resultat erfolgen. D a s bringt uns noch einmal zurück über die allgemeinen Verhältnisse von Kunst und Wissenschaft. Die eine Aufgabe will unmittelbar Wissenschaft, die andere nur eine | Kunst hervorbringen, und andere in dieser Kunst unterrichten. Kunst und Wissenschaft gehen i m m e r in einander auf und haben keine wesentliche Differenz. J e d e Wissenschaft will Kunst werden, weil jedes Wissen sich mittheilen k a n n , und weil jede Mittheilung unsicher ist, wenn sie als darstellend nicht auf dem Punkte der Vollkommenheit steht, den wir Kunst nennen. E b e n so will Kunst Wissenschaft werden. Wir denken oft den darstellenden künstlerischen M e n s c h e n als einen solchen, der um sein eigenes H a n d e l n gar nicht weiß, aber in demselben M a a ß , als wir ihn uns so denken in dem ganzen Verlauf seiner Arbeit, denken wir ihn auch als unvollkommen, halten ihn für ein unbegreifliches Räthsel, und sehen zu, wie doch sein Handeln wol irgend wo außer ihm begründet sein mag. Wir denken uns nie, d a ß ein künstlerisches Verfahren auf diesem Punkte stehen bleiben soll, sondern denken wir uns den höchsten Punkt der Bildung, so ist k l a r : d a ß , obwol es für jedes Kunstwerk ein zwar Unbegreifliches I und in gewissem Sinne Bewußtloses giebt, das aber nur der erste impetus ist, in der Ausführung doch das Bewußtsein herrschen soll. Der Künstler soll wissen was und wie er es m a c h t , und eben dieses Wissen, was und wie er es m a c h t ist die Wissenschaft. J e d e Kunst will also Wissenschaft werden und umgekehrt; also k a n n auch, in Beziehung auf denselben Gegenstand, das was als das Wissen der Kunst, und was als das Wissen für sich auftritt gar nicht different sein, sondern es m u ß in einander aufgehen. Dies Ineinanderaufgehen fängt nun auf verschiedenen Seiten an. M a n kann das Wissen produciren ohne das Wissen des

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Wissens zu haben, sowie man auf jedem andern Gebiet produciren kann, ohne das Wissen des Wissens zu haben, wenn man nur das Wissen des Gegenstandes hat. Das gilt von jedem Gebiet, also auch von diesem. Man kann aber nicht ein Wissen als Kunst hervorbringen, 51 wenn man nicht das Wissen des Verfahrens hat. Man | kann auch damit anfangen, daß man das Wissen des Wissens sucht, ohne das Wissen seines Verfahrens zu haben. Je mehr man aber das Eine vervollkommenen will, um so mehr muß man in der Approximation zum anderen begriffen sein. Jedes Besinnen über sein Verfahren ist auch ein Annähern zum Wissen des Verfahrens. Sittliches Handeln ζ. B. ist etwas anderes als die Wissenschaft der Sittlichkeit, und man kann anfangen die Wissenschaft der Sittlichkeit zu suchen ohne das sittliche Handeln, und umgekehrt. So wie sich aber jemand über sein sittliches Handeln besinnt, und also die Verfahrungsweise sich bewußt macht, so ist er auf dem Wege zur Ethik. Eben so wenn sich jemand besinnt über seine Wissenschaft, so nähert er sich auch, in wiefern sie in ihm lebendig ist, dem sittlichen Handeln. So ist es auch auf dem Gebiete der Philosophie. Bestreben wir uns, uns zu besinnen über das Verfahren in der Construction unseres Wissens, so müßten wir auch, wenn es vollendet wäre, das reine 52 Wissen des Wissens construiren. | In wiefern es gelingen kann nun das Wissen selbst zu wissen, sofern wird man auch auf jedem realen Gebiete des Denkens auf kunstgemäße Weise verfahren. Also nähern sich beide Linien, die von verschiedenen Punkten anfangen immer nach der Mitte, woraus wir sehen, daß beides nur nothwendig mit einander zur Vollendung kommen kann. Es ist also Wahl, auf welchem Wege jeder anfangen will. Sehen wir aber darauf, daß das Philosophiren selbst eine Nothwendigkeit für diejenigen ist, die nicht mit ihrem ganzen Leben in der Idee des reinen Wissens stehen können, so muß ich sagen erscheint es mir jetzt unangemessen, wenn man in der Form eines Wissens um das Wissen, die philosophischen Bestrebungen vortragen will, weil das von den meisten Bestrebungen meist zu fern ist. Eine Theorie für das Verfahren aufzustellen, werden wir aber nur vollkommen erreichen, wenn man uns auf dem andern Wege entgegenkommt; und den Grund, weshalb das philosophische Bestreben so wenig gewirkt und selbst empor gekommen ist, haben wir darin eben

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53 zu suchen, | daß man einseitig nur das Eine hervorgehoben, das andere hat liegen lassen. Wenn die Philosophie als Wissenschaft, als Complexus der Lehre, und ihrer Entstehung nach angesehen als ein Kunstwerk, das nicht eher vollkommen sein kann ohne das Wissen um die Kunst, wenn also Wis- 40

5 kann] davor < X M a n »

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senschaft und Kunst nur zusammen zur Vollkommenheit kommen können, so führt uns dies auf eine geschichtliche Betrachtung, die uns über das Eigenthümliche unserer Untersuchung ins Klare bringt. Man kann nämlich sagen: wenn sich das so verhält, so liegt die Vollendung sehr in der Form, und jeder Zustand ist unvollkommen, wissenschaftlich unvollkommen, weil die Kunst noch nicht da, und als Kunst unvollkommen, weil die Wissenschaft noch nicht da ist. Womit fängt denn nun die Philosophie an? Mit dem Nullpunkt von beiden, mit solchem Zustande, wo es noch keine Wissenschaft und kein philosophisch kunstmäßiges Verfahren im Denken giebt. Das ist also ein Anfang aus Nichts. So I paradox dies auch klingt, so ist es doch wahr, und es ist die eigentliche Entstehungsgeschichte auf diesem Gebiet. Wir haben keine andere wissenschaftliche Geschichte im Zusammenhang als die des classischen Alterthums, an welche sich unsere Entwickelung anschließt; aber wo wir nur haben, wie unsere Bildung aus der alten entstanden ist. Gehen wir nun auf das classische Alterthum, so läßt sich der Anfang des Philosophirens nicht anders als so bezeichnen: sie ist aus der Poesie hervorgegangen. Poesie ist wohl Kunst, aber keine philosophische, und sofern die Philosopheme noch in poetischer Form waren, war die philosophische Kunst Null. Die Menschen wußten zwar damals auch schon, aber doch nicht soviel, daß dadurch die Philosophie nothwendig geworden wäre, denn die Philosophie wendete sich auf das noch nicht Gewußte, das Problematische. Das Denken wovon sie ausging war I eigentlich nicht ein wissenschaftliches. Sie ist also hervorgegangen aus einem Nullpunkt von Wissenschaft und philosophischer Kunst. Wie hat sich denn von hier aus die Philosophie entwickelt? A priori muß es eine zwiefache Entwickelung von solchem Punkte geben: 1) die mehr als Kunst; 2) die mehr als Wissenschaft. Die erste Evolution im classischen Alterthum trägt den ersten Character (den der Kunst). So wie der poetische Character verloren ging in der Darstellung dessen was eigentlich Gegenstand des Wissens sein kann, fingen die realen Wissenschaften an sich zu bilden, die unter dem Namen Physik und Ethik zu Stande kamen; natürlich entstanden die Namen später als die Sachen, aber es entstand gleich Wissenschaft von der Natur, und Wissenschaft von den Gestaltungen des menschlichen Lebens. Was war aber Philosophie? Nichts als die Theorie der wissenschaftlichen Construction in diesen beiden Gebieten und diese kommt überall vor unter dem Namen der Dialectik. | Ethymologie dieses Namens: Dialectik heißt (und so erklären es auch die Alten) die Kunst ein Gespräch zu führen und zu leiten. Das scheint freilich etwas sehr Specielles zu sein für einen so großen Gegenstand. Aber ein Gespräch führt man doch nicht wenn man vollkommen einer Meinung ist. Wenn das ist, so kann man ein Duett machen, etwas zu loben oder zu tadeln, aber kein

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Gespräch ist ohne Differenz. Das Gespräch will eben die Differenz aufheben. Hiernach die Erklärung umgeändert, gewinnt sie ein anderes Ansehen: es ist die Kunst von einer Differenz zur Einstimmung im Denken zu kommen. Welche Mittel gehören dazu? Hier kommen wir wieder auf beide H a u p t p u n k t e der Philosophie zurück. Denn es kann kein kunstgemäßes Verfahren geben zur Ubereinstimmung zu kommen, als wenn: 1) ein gemeinschaftliches Bewußtsein da ist; und 2) wenn gemeinschaftliche Regeln der Gedankenverknüpfung da sind. Wenn 57 diese da sind, dann | kann man von einer Differenz zur Einstimmung kommen. Haben zwei Leute kein Gemeinsames, so kommen sie bloß zu der Überzeugung, daß sie nie zusammen kommen. Gäbe es aber ein Gemeinsames im Denken, dabei aber keine Regeln des Uberganges, so könnte auch keine Ubereinstimmung sein. Diese beiden sind also conditiones sine qua non die Differenz zu lösen. Eben so klar ist, daß man mit diesen allein auskommt. Denn wenn die Gemeinschaft im Denken gegeben ist, von wo aus es eine Reihe giebt, in der der Gegenstand liegt, und dabei eine Regel des Verfahrens gegeben ist, so ist alles da um zur Übereinstimmung zu führen, und daß beide mit Bewußtsein am gesuchten Punkte ankommen. Ist beides gegeben, so ist auch die Kunst gegeben. Wer am schnellsten den andern auf das Gemeinsame führt, und immer die Regeln die beide anerkannt haben vorhält ist der Geschickteste. Was die Alten also mit diesem Namen nannten ist das 58 was wir aufstellen wollen: nämlich das | ursprünglich Gemeinsame im Bewußtsein und die Regeln des Verfahrens und ihrer Verbindung aufgestellt lediglich als Kunst der wissenschaftlichen Construction. Dies scheint mehr zu sein als Kunst der Gesprächsführung, allein im Wesentlichen ist es Eins, und wenn das Eine mehr zu sein scheint von der einen Seite so ist es das andere von der andern Seite. Hören wir von einem Gespräch so denken wir nur an etwas Einzelnes, hören wir von wissenschaftlicher Construction, so denken wir an etwas Ganzes. Aber hören wir von wissenschaftlicher Construction, so denken wir dabei nur den Einzelnen in der Betrachtung; das Gespräch aber kann [liegen] wo es will. So stand es bei den Alten. In dieser Triplicität war ihre ganze Wissenschaft: Physik und Ethik, oder Politik, als die realen Wissenschaften, Dialectik als Kunst der Construction von beiden, in wie fern das 59 Gemeinschaftliche der Construction beiden zum | Grunde gelegt wurde. Der Anfang war also von einem Nullpunkt; der Fortgang so, daß das Philosophiren mehr als Kunst, die realen Wissenschaften mehr

32 [liegen]] Ergänzung Wort.

nach Zander;

im Manuskript

Auslassung

für nicht

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objectiv behandelt wurden als reine Wissenschaften. Nachdem das Alterthum sich ausgelebt, und ein neues Chaos in das Gebiet des Wissens wie des Lebens folgte, so entstand nun aus dieser Verwirrung eine Regeneration des ganzen Lebens und so auch des Wissens unter einer andern Form, wiewol beides sich an die untergegangene Welt anknüpfte. Die modernen Wissenschaften können als etwas Neues und als auf das Alte gepfropft angesehen werden. Das Princip dieser Regeneration von der Seite der Neuern betrachtet ist das Christenthum, welches auf die Gestaltung des Wissens einen bedeutenden Einfluß gehabt hat. So muß man es als das eigentliche Motiv, und den religiösen Trieb als das eigentlich Bewegende und Gestaltende ansehen. | Sobald man zur Besinnung kam, und der Stoß gegen das Wissen, 60 weil es aus dem Heidenthum kam, unterdrückt war, so wurden auch die alten Wissenschaften wieder hervorgesucht; und es ist wahr, daß eben das ganze neue Wissen, und namentlich auch das neue Philosophiren sich an Piaton und Aristoteles angeschlossen. Man ist aber auch einig, daß eben der Piaton, den man durch den Spiegel des Christenthums sah, und eben so der Aristoteles schwerlich würden sich selbst erkannt haben. Im alten Wissen war überall das neue Prinzip thätig. Wenn wir fragen: gab es denn in dieser alten Trilogie des Wissens gar keinen Ubergang zwischen den beiden realen Wissenschaften und der höhern, die das Formale und Transcendente war? so war der Ubergang der, daß in der Dialectik, ursprünglich rein zum Behuf des kunstmäßigen Verfahrens im Denken, aufgezeigt wurde das gemeinsame Bewußtsein I eines Höchsten, und dies wurde hernach in der Physik als das 61 höchste Sein, in der Ethik als das höchste Gut aufgenommen, und in sofern in der Ethik und Physik alles abhing von den Regeln der Dialectik, so könnte man Ethik und Physik als Fortsetzungen von der Dialectik ansehen. Aber das geht nicht, weil etwas Reales bei ihnen vorausgesetzt wurde. Im Christenthum war das Höchste gegeben und anerkannt im religiösen Bewußtsein. Die erste Aufgabe im Wissen war eben: dieses Höchste im religiösen Bewußtsein als ein Wissen hinzustellen. Da sieht man also die umgekehrte Richtung ganz klar, und daraus ist Metaphysik geworden, deren Name zwar im Aristoteles steht, aber nicht deren Inhalt. Nun aber konnte man nicht anders das, was im religiösen Bewußtsein als ein Unmittelbares gegeben war, zum wissenschaftlichen Bewußtsein bringen, als durch eine große Reihe | von 62 Combinationen die man vorausschicken mußte, und so entstand die Trennung von Logik und Metaphysik. Die realen Wissenschaften, die bei den Alten rein um des Wissens Willen getrieben wurden, wurden

2 in das] Kj in dem

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nun rein umgekehrt nur [um] der Kunst Willen getrieben, wie Astronomie und Medicin. Die eigentlichen ethischen Wissenschaften blieben lange vernachläßigt. Als man sie wieder anfing, fühlte man sich in der Construction eines neuen Lebens begriffen, und suchte auch da das Wissen rein um der Kunst Willen. Was ist das Resultat davon gewesen, daß man auf diesem Wege fortgegangen? M a n hat sich überzeugt, was die empirischen Wissenschaften betrifft, daß die Kunst die Vollendung des Wissens nicht braucht, weil sie doch nicht darauf warten kann; daß 63 sie von dem was existirend genannt wird ausgehe, und daß | in der Construction des Lebens man immer zu spät k o m m t , wenn man mit der Theorie hineinkommt; kommt man zu früh, so richtet man gar nichts aus. Von der andern Seite ist man klar darüber geworden, daß das Höchste im religiösen Bewußtsein doch keine Wissenschaft, die eine dialectische Probe aushielte, aufstellen kann, daß nach jedem Gespräch darüber doch jeder bei seiner Meinung bleibt. Dazu dies: die realen Wissenschaften, je mehr sie für sich gingen, desto mehr fingen sie mit Hypothesen, mit willkührlichen Combinationen an. Das geht nie anders wenn man mit Beobachtungen anfängt. Diese gehen ins Unendliche. Dann erschrickt der Mensch und hilft sich durch Hypothesen. Als es mit der Metaphysik nicht fort wollte, wurde auch in ihr die Hypothese gebraucht, und auf diesem Wege sind alle die verschiedenen 64 metaphysischen Systeme entstanden. | Auf dem Gebiet der empirischen Wissenschaften läßt sich in den Hypothesen noch eher Sinn finden, so daß, indem man nur Eins erst hypothetisch hingestellt, es im Verfolge durch das in der Erfahrung gegebene werde rectificirt werden, und in einem hohen Grade der Klarheit erscheinen. M a n sieht leicht, daß mit diesem Verfahren auf dem Gebiet der Philosophie nichts gewonnen werden kann, aber es scheint, daß dies Verfahren erst zur Genüge mußte getrieben sein, um unsere Formel aufzustellen. Weil aber auf dem Gebiet der Philosophie noch immer neue Hypothesen gemacht werden, um das im Bewußtsein Gemeinschaftliche aufzustellen und zur allgemeinen Anerkennung zu bringen, so scheint es weit zwekmäßiger, wenn einer, der das Philosophiren nicht lassen kann, und sich in dem Fall befindet, daß ihm keine der Hypothesen zusagt, so scheint es zweckmäßiger, daß er sich aller Hypothesen enthält. Dann muß er gar nicht philosophiren, oder in den alten Weg einlenken. Das ist der Gang der neuern Zeit. Früher ergriff sie das Alte, das aber im neuern Treiben unterging. M i t dem neuen Gestaltungsprincip muß aber das Alte verbunden werden. Diesen Versuch muß man auch in der Philosophie machen, und die Trennung zwischen Logik und Metaphysik aufgeben. - I 65

Wie verhält sich aber eigentlich dem Inhalt und der Form nach die Dialectik der Alten zur neuern Logik und Metaphysik? Die Logik ist

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ihr der Form nach ähnlich, denn sie will eine Kunstlehre sein. Allein darin ist eben das andere philosophische Element, das ursprüngliche gemeinsame Bewußtsein nicht enthalten, sondern jede einzelne Regel der Verknüpfung wird zur Anerkennung gebracht. Die Metaphysik enthält das andere Element der Dialectik, aber als ein Wissen; die Dialectik will aber bloß auf dem Gebiet der realen Wissenschaften ein Wissen construiren. Allerdings ist also Dialectik ihrem Inhalte nach Logik und Metaphysik, aber nicht als Aggregat von beiden, sondern beides in der Form der Logik. Dagegen sind neuerdings Versuche gemacht beides zu vereinigen in der Form der Metaphysik, d. h. als ein Wissen, worin zugleich die Regeln des Verfahrens liegen, und woraus sie abgeleitet werden. - | Keinesweges ist die Dialectik nur eine critische Disciplin, wie die 66 Logik eben nur eine solche ist. Denn mit der Logik componirt man nicht, sondern man wendet sie nur an, wenn eine Gedankenreihe gegeben ist. Das ist nur eine große Nebensache in der Dialectik; weil die Combinationsregeln identificirt sind mit dem allen Menschen einwohnenden Wissen, so liegt in der Dialectik weit mehr die Construction selbst. Der Zweck unserer Untersuchung ist also nicht bloß solche Regeln auszumitteln, wodurch man ein gegebenes Denken beurtheilen kann, wie es die Logik thut. Es geht schon aus dem geschichtlich Angegebenen hervor, daß die gewöhnliche Logik, seit der Herrschaft der aristotelischen Philosophie in den neuern Zeiten, das hypothetische Verfahren, wie es sich in der Physik und Ethik ausgebildet hat, allerdings voraussetze. Denn die Vorschriften | der Logik sind nur solche, woraus 67 man erkennen kann: ob ein Begriff den gehörigen Grad der Klarheit, ein Urtheil den gehörigen Grad des Umfanges, ein Schluß den gehörigen Grad der Gültigkeit habe; aber sie setzt immer voraus, daß der Begriff der geprüft werden soll, gegeben sei. Andere Regeln kannte man nicht, also waren die Bestimmungen über die Entstehung des Denkens nur willkührlich. In der Physik mußte man gewisse Kräfte, in der Ethik gewisse Zwecke rein voraussetzen, weil man keine Anweisung hatte sie zu construiren. Hatte die Logik nichts dagegen einzuwenden, so war man überzeugt. Man pflegte diese Eigenschaft der Logik so auszudrük9 - 1 2 Schleiermacher spielt an auf Fichte, der sich 1799 in einer Erklärung gegen Kants Kritik, die Wissenschaftslehre sei nur reine Logik, mit dem Hinweis verwahrt hatte, sie sei „gar nicht die Logik, sondern die Transscendentalphilosophie oder Metaphysik selbst" (Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 28. 9. 1799, Nr. 122, Sp. 991 ; Fichte: Werke, Akademie-Ausgabe 3, 4, S. 7 5 / ) ; vgl. auch den Sachapparat zu KGA V/3, Brief 722, Zeilen 23-25. 3 4 - 1 2 4 , 2 Vgl. z. B. Kant: KrV Β 77 (Werke, AkademieAusgabe, Bd. 3, S. 76): „Eine allgemeine, aber reine Logik [...] ist ein Kanon des Verstandes und der Vernunft, aber nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der Inhalt mag sein, welcher er wolle".

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ken, daß man sagte: die Logik sei der Canon des Denkens, die Regeln wonach man es beurtheilt. Wir sind davon ausgegangen, daß wenn man eine Kunstlehre gefunden, das hypothetische Verfahren, wenigstens als die Wissenschaft begründend aufhören müsse, | also muß das Resultat unserer Untersuchung ein anderes sein, als ein gegebenes Denken zu beurtheilen, und ein Canon des Verstandes zu sein. Dieser Negation steht eine andere gegenüber: So wenig die Dialectik, die wir suchen oder hervorbringen wollen die bloße Logik ist, so wenig ist sie auf der andern Seite die Metaphysik. Nämlich die Metaphysik jener Zeit, wo man die Philosophie theilte in Logik und Metaphysik, stellt das höhere Wissen, worauf das empirische sich berufen soll als eigentliche Wissenschaft auf. Später hat man dieses aufgegeben, aus dem Gefühl, daß die frühern Versuche nicht gelungen, und das ist die eklektische populäre Philosophie. Die Kantische widersetzt sich dieser, hatte aber denselben Inhalt, daß nämlich ein eigentliches Wissen nur auf dem realen Gebiet in der Physik und Ethik sei, daß aber von demjenigen, was I der letzte Grund der Natur als des Objects der Physik und der Bestimmtheit des Geistes als Subjects der Ethik sei, ein eigentliches Wissen nicht Statt finde. Nachdem dieses seine gehörige Wirkung hervorgebracht hatte, und man sah, daß dadurch alles eigentliche Wissen verbannt würde, weil alles Wissen auf dem realen Gebiet doch einen Halt haben muß, so entstanden die neueren Versuche, welche den Zweck haben, den Grund desjenigen, was Gegenstand der Physik und Ethik ist, als solchen in einem eigentlichen Wissen darzustellen. Wenn wir dies genauer betrachten, was heißt es? Wenn ich etwas weiß, was einer Begründung bedarf, und ich weiß den Grund des zu Begründenden, so ist mein Wissen, als Wissen, eine Folge des Grundes. Es kann das Begründete ihm als bloße Vorstellung vorangegangen sein, aber als Wissen ist das Denken desselben eine Folge vom Denken des Grundes. Wenn wir unser Wissen des endlichen | Seins ableiten von einem Wissen des unendlichen als seines Grundes, so können wir nicht weiter sagen, daß unser Wissen des Einen ein anderes sei als das des andern, denn das Wissen des Endlichen ist dann nur eine Fortsetzung der Thätigkeit wodurch wir das Ursprüngliche wissen. Diese Aufgabe haben sich die meisten neuern Systeme gestellt, das Wissen in solche Gesammtheit zu vereinigen, daß unser Wissen um das, was einer Begründung bedarf, und dasjenige was die Begründung ist, dasselbe sei, oder mit anderen Worten das Reale von dem Transcendenten abzuleiten. So wenig die Dialectik die Aufgabe der Logik ist, so wenig ist sie die Aufgabe dieser regenerirten Metaphysik. Sowenig wir uns begnügen bloß ein gegebe-

1 sagte:] sagt:

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nes Denken zu beurtheilen, eben so wenig macht die Dialectik den Anspruch die Gegenstände des realen | Wissens, das Sein und Thun aus dem jenseits des Gegebenen Liegenden, als ursprünglich Vorausgesetztem, in einer und derselben Reihe abzuleiten. Aber indem wir dieses nicht wollen, soll nicht gesagt sein, daß die gewöhnliche Logik keinen Werth habe. Man kann durch sie sich immer in jedem gegebenen Denken orientiren. Eben so wenig halten wir es für unmöglich, daß es eine solche Ableitung des Empirischen aus dem Transcendenten geben könne, denn das hieße in dem Streben nach Begrenzung die Grenzen des menschlichen Vermögens überschreiten. Schleiermacher will dies nur dahin gestellt sein lassen, ob eine solche Ableitung möglich sei. Ja wenn es ein vollendetes Wissen gäbe, so müßte, wenn auch kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Transcendenten und Empirischen, doch wenigstens eine Brücke zwischen beiden gebaut werden. | Aber unsere Bemühung ist es nicht diese Brücke zu bauen, und darum müssen wir gleich von Anfang an die Art, wie wir das, was jenseits liegt, in uns tragen, von der Art, wie wir das Gegebene in uns tragen unterscheiden. Dieser Unterschied kommt aber auf das anfangs Bezeichnete heraus; d. h. : wir wollen nur die letzten Gründe alles Wissens als die Gesetze, wie wir überhaupt zu einem Wissen auf dem realen Gebiet in uns kommen; in dem Gebiete des Gegebenen wollen wir nur ein wirkliches Wissen construiren, im Gegensatz gegen das bloße Meinen. Wenn die Dialectik als die eigentliche Kunstlehre des Denkens, als das System der Anweisungen, nach welchen das Denken erzeugt wird, wenn diese bloß wollte als ein solcher Canon zur Beurtheilung des gegebenen Denkens auftreten, so würde sie | eristisch, streitsüchtig, erscheinen; d. h. wenn ich im Besitz einer solchen Technik bin, nach welcher jedes Denken ein Wissen wird, und ich mache davon in der Mittheilung keinen anderen Gebrauch, als daß ich das von andern Gedachte critisire, so erscheine ich als ein solcher der bloß andere zu nichte macht. Das wäre aber ein kleinliches Wesen; und die Dialectik muß man eines andern Grundes wegen suchen. Ein anderes ist, wenn man nur in der Absicht das vermeinte Wissen andrer zu nichte macht, um sie auf die Unzulänglichkeit desselben aufmerksam zu machen. Dann muß aber eine andere Mittheilung damit verbunden sein, und jenes ist dann nur etwas Propädeutisches wie in dem Piaton und der academischen Schule. Wenn die Dialectik außer dem Wissen um das endliche Sein ein anderes Wissen um das Ursprüngliche als | ein diesem Gleichartiges aufstellen will, wovon dieses abgeleitet wäre, dann muß sie poetisch erscheinen. Der eigentliche Gegenstand unseres Wissens ist die Welt. Die ist aber nichts anderes als eine Totalität, ein zusammengehöriges Mannigfaltige, wovon uns immer nur das Einzelne erscheint, und was

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erst im D e n k e n Einheit wird. Wenn wir nun durch die Art der Anregung des Bewußtseins ein Wissen bilden, und es noch ableiten wollen von einem Wissen um ein Sein, was uns in uns gar nicht gegeben ist, so ist das als o b wir aus dem Unsichtbaren die ganze Welt für uns gem a c h t hätten. D a s ist das offenbar Poetische. Von diesen beiden E x t r e m e n will sich unsere Untersuchung freihalten. Sie will weder eristisch erscheinen, als läge sie mit einem Wissen hinter dem Berge, noch poetisch, als k ö n n t e sie etwas machen, was 75 ihr I doch erst gegeben sein muß, wenn sie es haben will; und sich zwischen beiden in der M i t t e halten. Wenn es so ist, wie da angegeben ist, d a ß ein uns allen ursprünglich gemeinschaftliches Bewußtsein, und das natürliche und n o t w e n dige Verfahren in der Verknüpfung alles andern einzelnen Bewußtseins, das transcendentale und formale Wissen Eins und dasselbe ist, und wir das ursprüngliche Wissen uns nicht anders darstellen k ö n n e n , als nur als Verfahrungsweise, jedes andere Wissen hervorzubringen, wir also nicht im Stande sind, das Sein, welches der Gegenstand des Wissens ist, von dem ursprünglichen Sein abzuleiten, so können wir auch, wenn wir den critischen Werth unserer Untersuchung beurtheilen, nicht sagen, d a ß wir im Stande sind, die Wahrheit irgend einer einzelnen Aussage

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76 zu prüfen. Ζ . B. wenn uns einer eine | physikalische Behauptung vorträgt, so können wir durch unsere Untersuchung gar ihre Wahrheit nicht behaupten, o b die Beziehung dem Sein entspricht oder nicht. Wenn aber einer im Stande wäre den C o m p l e x u s aller Vorstellungen des endlichen Seins vom ursprünglichen Sein abzuleiten, dann müßte 25 das Statt finden; denn wenn ich die Welt aus dem absoluten ihr voraus gesetzten Sein herleiten k a n n , dann m u ß die Welt nur bestimmt abgeleitet sein, und ich kann wissen wie sie ist. D a h e r auch diejenigen philosophischen Systeme, welche sich diese Aufgabe stellen, darauf ausgehen müssen, von dem Unendlichen aus eine vollständige Physik zu 30 m a c h e n , das endliche Sein aus der allen einwohnenden Vorstellung des ursprünglichen Seins abzuleiten; und dann müssen sie sagen: was 77 j e n e m Ursprünglichen nicht entspricht, | nicht aus ihm abgeleitet ist, ist auch nicht wirklich. Wir m a ß e n uns dies gar nicht an. Wir beurtheilen nur den wissenschaftlichen Werth solcher Aussage was gar sehr zweier- 35 lei ist. W a s falsch ist, ist zwar nicht wissenschaftlich, aber etwas W a h res k a n n ohne allen wissenschaftlichen Werth sein, weil es so entstanden ist, d a ß es nicht mit Nothwendigkeit in alles reale Wissen eingefügt werden k a n n . D a s werden wir aus unserer Untersuchung i m m e r wissen können, o b ein Gedanke einen wissenschaftlichen Werth h a t ; das kön- 40 nen wir aber nicht wissen o b er wahr ist. Hieraus folgt weiter: das Resultat unserer Untersuchungen ist weniger eine Ableitung des Endlichen aus dem Unendlichen, sondern

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mehr eine Beurtheilung jedes zufällig Gedachten. Es ist keine Deduction des Endlichen aus dem Unendlichen, aber auch nicht ein bloßer Canon des Gedachten, sondern das Resultat unserer Untersuchung ist ein vollständiger Organismus | alles realen Wissens, und die Dialectik 78 in diesem Sinne, will ein wahres O r g a n o n des realen Wissens sein. Damit dies deutlich sei, machen wir auf einen Unterschied aufmerksam. Wir nennen etwas subjectiv ein Wissen, wiefern es ein einzelner Act des Denkens ist, der dem Sein entspricht; objectiv nennen wir Wissenschaft, wiefern wir aus einer gewissen Masse von Aussagen ein System von Aussagen zusammenstellen, worin ein gewisses Gebiet des Seins ganz dargestellt ist. Wenn das Ziel unserer Untersuchung ein Organismus des Wissens ist, so beziehen wir dies auf diese beiden Arten des Wissens, und sagen: es ist für jeden Einzelnen der Organismus der Art wie er in seinem Denken zum Wissen k o m m t ; und auf der andern Seite auch der Organismus jenes objectiven Wissens, und wir müssen darauf kommen wie verwandt der ganze Complexus des Denkens ist. Beides ist wieder Eins; denn alles was Wissenschaft ist, ist | doch nur zusammengebracht aus dem Denken mehrerer Menschen, 79 und jedes davon hat in einer subjectiven Reihe gelegen. Das kann aber nicht zweierlei sein, wodurch ich beurtheile, ob es in diese Reihe gehöre, oder ob es bloß ein Meinen gewesen. Wenn ich überhaupt in einem Menschen ein Wissen beurtheilen will, muß die Idee des objectiven Wissens vorausgesetzt werden, es muß an die Idee eines solchen Complexus gehalten werden, und so ist auch von dieser Seite beides einerlei.

Was folgt hieraus? Offenbar etwas ziemlich Uberraschendes: d a ß dasjenige, was wir suchen wollen, als ein Gesetz um zum Wissen zu kommen, eigentlich nichts ist als das, wonach alle Menschen von selbst verfahren; das ist ein Naturgesetz, und nur das Bewußte hierin, was die 30 Abnormitäten im natürlichen Prozeß, soviel es möglich ist, wegschafft, wird das eigentlich characteristische unserer Untersuchung ausmachen. I Wir haben gesagt, was wir durch die Regeln unserer Dialectik finden 80 müßten, wäre im Ganzen angesehen der ganze Organismus des Wissens; nun sind wir offenbar noch im Suchen dieser Regeln aber die 35 Wissenschaft im Ganzen ist da. Eben so, sehen wir auf das, was im einzelnen Verstände geschieht, so kommt im Denken eines jeden gar vieles zu Stande, was einen bestimmten Ort im Organismus des Denkens einnimmt. D a r u m muß nach diesen Regeln von den Einzelnen verfahren werden. Dies ist auch wirklich ganz allgemein. Die Kunstwerke sind 40 früher, als die Kunstregeln im Bewußtsein klar sind; kommen aber die Kunstregeln zum Bewußtsein, dann muß auch danach verfahren worden sein. Die Kunstregeln sind also die Naturgesetze, nach denen ein jeder, in dem die Richtung nach einer Kunst ist, wirklich verfährt.

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Wenn man sagt: man sucht die Regeln nach denen verfahren werden 81 soll, so heißt das b l o ß : dies | aus einem dunkeln in ein helles Bewußtsein rufen. J a noch mehr, unsere ganze Aufgabe kann nur gefaßt werden unter der Voraussetzung, d a ß es sich wirklich so verhält. Wir können keinen andern Anknüpfungspunkt für ein solches Verfahren fin- 5 den, als d a ß wir voraussetzen: es sei uns ein Wissen gegeben, und d a ß wir dies als allgemeines Factum auffassen, und suchen, wie es sich gerade als F a c t u m von andern unterscheidet. Z u diesem vorausgesetzten Wissen müssen doch die gesuchten Regeln die Formeln sein, und weil wir es als Factum ansehen, so müssen diese Formeln sein Entste- 10 hen ausdrücken. Weil wir sie aber als Kunstregeln suchen, so müssen sie Naturgesetze sein, nach denen die Intelligenz wirklich zu Werke geht. Es k a n n scheinen als o b diese Voraussetzung, d a ß , indem wir die Regeln, nach denen das Wissen producirt wird, suchen, es doch schon 82 ein Wissen giebt, d a ß dies der Philosophie als Wissen und als | Kunstlehre widerspricht, weil das Wissen ohne sie zu Stande k o m m t . D e n n was soll das für ein Sublimes sein hinter dem Wissen her zuzusehen; und was entsteht G r o ß e s durch das hinzukommende Bewußtsein, wenn die Seele doch von selbst auf die rechte Weise verfährt? Wollten wir diesem antiphilosophischen R a i s o n n e m e n t auch glauben, so müssen wir doch sagen: wenn beim Philosophiren nichts h e r a u s k o m m t , so ist das freilich schlimm, aber das Philosophiren ist eben so gut Naturgesetz. Aber wir brauchen auch diesem antiphilosophischen R ä s o n n e ment nicht zu glauben, denn wenn auch das Wissen zu Stande k o m m t , ohne d a ß philosophirt wird, so bleibt es doch dabei, d a ß das Wissen des Verfahrens das G a n z e auf eine weit höhere Stufe setzt, und dies klare Bewußtsein ist eben das Resultat der Philosophie. D i e Voraussetzung, d a ß durch dasselbe, was wir im klaren Bewußtsein als Kunstregel suchen, das Wissen doch zu Stande k o m m t , diese Voraussetzung ist es,

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83 von der wir ausgehen; | oder dasjenige Wissen, welches abgesehen von den philosophischen Bestrebungen zu Stande k o m m t ist seinem Gehalt nach ganz dasselbe, wie dasjenige, welches erst durch das Philosophiren hindurchgegangen ist. Es wird nicht unzweckmäßig sein, die entgegengesetzten Voraus- 35 Setzungen gegenüber zu stellen, womit unser Verfahren gar nicht bestehen k a n n . Dies ist der Idealismus und der positive Scepticismus. D e r erste besteht darin, daß behauptet wird: das philosophische Bewußtsein als ein höheres sei von dem gemeinen Bewußtsein ganz geschieden. Wenn das wäre, so könnten wir unser Verfahren gar nicht versuchen, 40 denn wir wollten dann das Wesentliche des höhern Bewußtseins, welches sich in der Philosophie entwickelt educiren aus dem gemeinen Bewußtsein, das ganz davon getrennt ist. D a s wäre unter dieser Voraus-

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setzung ein ganz gehaltloses Unternehmen, die Regeln der Verknüpfung und den letzten Grund des Wissens unter der Form einer Kunstlehre zu suchen. | Aber diese Annahme ist auch nicht zur Klarheit zu bringen, sie ist rein willkiihrlich. Was als höheres Bewußtsein vom gemeinen abgesondert wird, wird der Verkehr der Seele mit denjenigen Vorstellungen vom Sein und seinem Zusammenhange, die über das Gegebene hinausgehen, das Transcendente genannt. Aber es hat noch niemand eine positive speculative Philosophie gewollt, die ein nicht negatives Resultat gäbe, ohne Physik und Ethik daraus zu entwickeln. Also die Principien des realen Wissens sollen in diesem Speculativen immer stecken, so daß ihre ganze Construction sich daraus ergiebt. So hat das gemeine Bewußtsein und das höhere doch immer denselben Gegenstand in der Natur und in den menschlichen Verhältnissen. Wenn wir sagen: Das höhere Bewußtsein und das speculative Verfahren bringen ein Wissen hervor, so kommt im Leben auch etwas vor, das die | auf dem gemeinen Standpunkt schon ein Wissen nennen. Als Wissen ist nun beides nicht verschieden. Denn wenn man sagt: wie weniges in dem gewöhnlichen Wissen ist denn ein Wissen! so kann man eben so sagen: wie wenig ist denn ein Wissen im Speculativen! besonders wenn man auf die Gedanken sieht die unterwegs auf dem Ziele dahin vorkommen. Nicht alles ist also auch hier ein Wissen, sondern bloß die Knoten darin sind ein Wissen. Wenn man sagt: es ist doch des Nichtbewußten weniger, so ist das keine specifische Differenz. Wenn man nun zugeben muß, daß nicht alles im philosophischen Verfahren vorkommende ein wirkliches Wissen ist, so entsteht die Frage: wodurch unterscheidet man das Wissen von denjenigen Producten des Denkens die kein Wissen sind? Das ist eine alte Frage in der alten Philosophie unter dem Namen des Kriterions. Ist die Frage objectiv genommen, so ist die ganze Philosophie die Auflösung. | Wir nehmen sie hier subjectiv. Was ist also in einem, wenn er etwas für ein Wissen hält, das nicht in ihm ist, wenn er etwas nicht für ein Wissen hält? und ist da Verschiedenes im Speculativen und im gemeinen Leben. Da ist kein Unterschied. Jeder unterscheidet sein Wissen und Nichtwissen am Uberzeugungsgefühl. Wenn ich jemandem demonstrire, daß sein Wissen noch keines sei, so ist das erst geschehen, wenn sein Uberzeugungsgefühl von dem Gedanken weg ist. Dies Uberzeugungsgefühl ist aber überall dasselbe im Wissen auf dem philosophischen Gebiet und im Wissen auf dem

20 Ziele] Kj Wege

27f Vgl. zuerst Piaton: De República,

Lib. IX, S82 a; Theaitetos

178 b.c

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Gebiet des gewöhnlichen Lebens. M a n könnte sagen: im gemeinen Leben wird oft ein Nichtwissen für ein Wissen gehalten, in derselben lebendigen Anschauung ist oft neben dem Wissen ein Irrthum, und das Uberzeugungsgefühl spiegelt diesen Irrthum nicht mit a b ; dagegen auf dem höhern Gebiet meint m a n , d a ß m a n seltener ein Nichtwissen für ein Wissen hält, | und daß wo beides zusammen ist, das Uberzeugungsgefühl das abspiegelt. Daran ist etwas, aber wie viel? D a s ist klar, wenn einer rechtschaffen philosophirt, so hält er ein Nichtwissen nicht so oft für ein Wissen als im gemeinen Leben. D a s k o m m t daher, weil man in solcher Betrachtung weit mehr isolirt ist; im Leben aber sind wir von tausend Seiten angeregt, und unsere Betrachtung ist da nicht so auf einen Punkt gerichtet. D a s Uberzeugungsgefühl auf dem philosophischen G e b i e t ist also kein anderes, sondern es operirt bloß unter güns t i g e m U m s t ä n d e n . Sagen wir a b e r : im gemeinen Leben ist fast in allen Vorstellungen der Physik und Ethik etwas Falsches, und das Überzeugungsgefühl unterscheidet beides nicht, so diene ein Beispiel statt aller aus dem Gebiet des höhern Bewußtseins. Wie viele Philosophirende hat es gegeben, die wo sie in der Speculation etwas hatten, was sie für ein Wissen hielten, nicht geglaubt hätten | dies werde einst von allen anerk a n n t sein? D a s ist nun noch nie geschehen, und ist also ein Nichtwissen im Wissen, das im Uberzeugungsgefühl auch nicht mit abgespiegelt wird. Also auch hier ist das Uberzeugungsgefühl immer dasselbe. Wenn wir aber darüber nachdenken, wie in dem selben Subject das gemeine und das höhere Bewußtsein sich verhalten soll, so wird die Sache noch weit schwieriger. Die Philosophie ist etwas, wozu der M e n s c h erst später gelangt; mit dem gemeinen Bewußtsein fängt jeder an. Steckt nun das höhere nicht schon mit darin, wie soll er den Sprung dahin m a c h e n ? Es müßte ein neues Leben anfangen, und wenn die Philosophie nicht aus dem alten Z u s t a n d e entstände, so müßte es aus Nichts entstehen, wozu aber keine Analogie ist. B l o ß die Analogie auf dem religiösen G e b i e t könnte m a n dafür anführen, wo der Anfang des höhern Lebens gesetzt wird als nicht aus dem frühern hervorgehend. - ι D a s bietet uns aber keine Analogie dar, wenn wir es weiter verfolgen. Wenn solches Leben anfängt, so ist die Aufgabe gestellt, daß das geistige Leben das sinnliche verschlingen soll; wo Sinnliches bleibt, soll es unter dem Geistigen stehen. A n g e n o m m e n wir könnten den A n f a n g des Philosophirens ansehen als rein aus dem Nichts sich entwickelnd, so k ö n n t e doch nicht die Aufgabe gestellt werden, d a ß nun das höhere Bewußtsein das gemeine verschlingen sollte, weil für das Leben der Verkehr mit dem gemeinen Bewußtsein unentbehrlich ist. So müßte es denn eine zweifache Wahrheit geben, die doch nicht Statt finden k a n n , und so ist doch keine Analogie da.

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Angenommen aber auch, der philosophische Zustand könnte aus dem Nichts entstehen, und dann fortbestehen, so wäre es denn doch unmöglich, daß er mitgetheilt werden könnte; sondern in jedem müßte er auf ursprüngliche Weise entstehen, und das Bestreben der Mittheilung wäre ganz leer, denn es | wäre kein Anknüpfungspunkt für denjenigen da, der das höhere Bewußtsein demjenigen mittheilen wollte, der noch im niedern Bewußtsein lebt. Der philosophische Zustand theilt sich aber wirklich mit, wenn gleich das Philosophiren nicht gelernt werden kann. Philosophische Systeme die von jenem ausgegangen sind, haben sich immer in das Isoliren hineingearbeitet. Wir bleiben nun also bei der Voraussetzung, daß alles Wissen seinem Wesen nach Eins ist. Was liegt in dieser Voraussetzung? Wenn wir den Menschen betrachten in seinem ersten Zustande, so erscheint kaum das Menschliche in ihm. Wir setzen es mehr im Glauben voraus, als [daß] wir es wahrnehmen. Unsere Voraussetzung bestimmt diesen Glauben so, daß wir sagen müssen: von dem ersten Anfang des Denkens an ist der Mensch schon auf dem selben Wege auf dem er fortgehen muß, wenn er beim höchsten philosophischen Resultat | ankommen will. Es ist also nur der Unterschied der hier statt findet der, den wir machen zwischen dem Zustande des Kindes, und des schon zur Besinnung gekommenen Menschen; d. h. das Unvollkommene dieser Art verhält sich zum Vollkommenem, wie das relativ Bewußtlose zum Sichseinerselbstbewußtwerden. Weshalb wir im Kinde das Menschliche nicht positiv nachweisen können, das liegt in dem Maximum des Bewußtlosen, aber wir müssen alles in ihm schon angelegt denken. Was ist das Maximum des Ausdrucks um den Unterschied des größten Philosophen und des Kindes darzustellen? Es ist keine specifische Differenz, sondern nur ein Unterschied des Grades im Bewußtsein; was im Kinde bewußtlos ist, ist im vollkommenen Philosophen vollständig zum Bewußtsein gekommen. Das Ganze ist ein Continuum, eine Entwickelung, ein Steigern des Sichseinerselbstbewußtwerdens, womit das Bewußtsein der Welt, und des Verhältnisses unseres Denkens zu ihr mitgesetzt ist. | Die Sache ist auch so zu fassen: Wenn wir darauf sehen, daß das Denken sich immer auf das Sein bezieht, und wenn wir nun die ersten Regungen des Denkens betrachten, so ist, wenn das Denken als Action unvollkommen ist, eben so unvollkommen auch das Sein gesetzt. Dem Kinde ist das Sein nur gegeben als ein Chaos, geschieden und wieder nicht geschieden, verbunden und wieder nicht verbunden; und stellen wir uns das Denken vor in seiner höchsten Entwickelung: wie ist dann dem vollkommenen Denken das Sein gegeben? Dem muß es alsdann als eine vollständig organisirte Totalität gegeben sein, denn im vollkommenen Erkennen muß auch die letzte Spur des Chaotischen im Sein verschwunden sein.

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Wenn wir diese beiden E n d p u n k t e an einander halten so bekommen wir hier eine Formel aus den Factoren der Einzelnheit und der 93 T o t a l i t ä t , und wir sagen: die größere oder | geringere Vollkommenheit läßt sich dadurch messen, in welchem G r a d e alles Einzelne in die Totalität a u f g e n o m m e n ist, und Eins auf das andere bezogen. Im Denken 5 des Kindes ist die Idee der Totalität nicht, aber auch nicht Einzelnes, und das ist der unvollkommenste Z u s t a n d des Denkens. Bald aber entwickelt sich die Idee der Welt, und wer die h a t , will alles Einzelne hineinsetzen. D a s ist aber noch nicht das höchste Erkennen, d a ß m a n auf unbestimmte Weise das Einzelne auf die Totalität beziehe, sondern das 10 höchste Erkennen ist erst da, wenn jedem Einzelnen sein O r t in der Totalität gegeben ist. J a das wäre noch nicht genug, die Totalität müßte in jedem Einzelnen gesetzt sein und angeschaut werden. In der Wirklichkeit ist auch beides i m m e r zusammen, denn dadurch, daß das Einzelne einen bestimmten O r t hat, muß in diesem Einzelnen die Tota- 15 lität mit angeschaut werden, m a n muß begreifen, warum nur dies und kein anderes an diesem O r t sein könne. D a s C h a o t i s c h e ist der Anfang, 94 I das allgemeine Setzen des Einzelnen und der Totalität ist die zweite Stufe, die letzte Stufe ist das lebendige Anschauen jedes Einzelnen in der Totalität, und der Totalität in jedem Einzelnen. D a s C h a o t i s c h e ist 20 der Keim, das zweite ist schon das Gewordensein des Keims, aber doch nur wieder Keim und C h a o s für das Dritte. N u n müssen wir wieder auf eine schon beiläufig berührte Frage zurückkehren: Wenn es nun sich so verhält, d a ß das ganze Bewußtsein Eines ist und nur in einer fortgehenden Entwickelung begriffen, und 25 deswegen in den ersten Stufen des Bewußtseins das Wesen des vollkommensten gesetzt ist, so ist uns damit keinesweges der Unterschied verschwunden zwischen einem vollkommenen und unvollkommenen Erkennen, auch nicht der Unterschied von M e n s c h e n die auf der vollk o m m e n e n und unvollkommenen Stufe stehen; aber weil keiner ist, in 30 dem wir das Erkennen ganz leugnen dürfen, und keiner, in dem es ganz 95 vollkommen wäre, und weil die Regeln | der Entwickelung schon in der N a t u r liegen, so müssen wir fragen: treten denn diese Naturgesetze in allen Actionen des Bewußtseins auf gleiche Weise hervor, in denen welche ein Wissen und welche ein Nichtwissen constituiren ? Wir müssen 35 sagen: nein, nur in den Zuständen die ein Wissen constituiren müssen wir sie a n n e h m e n . W i r müssen also das Wissen und Nichtwissen unterscheiden können. Könnten wir dies auf vollkommene Weise, so müßten wir schon haben was wir suchen. Die Aufgabe hat zwei Seiten. O b j e c tiv können wir sie nicht scheiden, weil dies schon alles voraussetzte; 40

1 Endpunkte] Entpunkte

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nur subjectiv als Action um einen Leitfaden zu haben, an dem wir der Naturthätigkeit auf die Spur kommen, können wir scheiden. Klar ist nun doch, daß wir das Wissen nicht in dem zu suchen haben was jeder schon für ein Nichtwissen hält; vielmehr haben wir es nur innerhalb desjenigen zu suchen, was jeder schon für ein Wissen hält, wiewol das nicht allemal ein Wissen ist. Was macht nun, daß | der eine Act des Denkens für ein Wissen gehalten wird, der andere nicht? Allein das Uberzeugungsgefühl, das Bewußtsein vom Naturgemäßen des Actes. Wo es nicht ist, da hält es jeder nicht für ein Wissen. Nun kann trotzdem Überzeugungsgefühl ein Nichtwissen sein, wo man ein Wissen glaubt, aber ganz irren kann es doch nie. Diese Voraussetzung nimmt jeder an, der nicht ganz auf die Seite des Scepticismus übergehen will, denn dies ist auf der Seite des Denkens, was das sittliche Gefühl auf der Seite des Handelns ist. Das sittliche Gefühl halten wir auch nicht für untrüglich, aber ganz irren kann es nie, denn ein Gutes muß darin gewesen sein, worauf das sittliche Gefühl gerichtet gewesen ist. Dasselbe ist das Überzeugungsgefühl auf der theoretischen Seite. Wir können nie glauben, daß das Denken, worin das Überzeugungsgefühl ist, ganz mit der Wurzel falsch sei, sonst müßten wir den theoretischen Zusammenhang aufgeben, eben so | wie wir den practisch sittlichen Zusammenhang unseres Lebens aufgeben müßten, wenn in einem Handeln, wo wir das Gefühl des Sittlichen wirklich haben, doch nichts Sittliches ist. Das Überzeugungsgefühl ist das M a a ß der Wahrheit, und so giebt es eine Abstufung, wie das Überzeugungsgefühl mit dem Denken auf eine geringere oder vollständigere Weise verbunden ist, und gäbe es einen vollkommenen Philosophen, so müßte in ihm auch das vollkommenste Überzeugungsgefühl sein. Nie aber darf man glauben, es könne bei schwachem Überzeugungsgefühl hohe Wahrheit, und bei starkem Überzeugungsgefühl großer Irrthum sein. So ist nun gewiß, daß derjenige, der auf der höchsten Stufe der intellectuellen Bildung steht, in einzelnen Fällen noch unklar, daß auf der andern Seite der auf der niedrigsten Stufe der intellectuellen Bildung stehende | Anflüge von großer Klarheit haben kann, so daß das höchste philosophische Element mit darin ist. M a n findet dies in der Neigung zum Räsonniren entweder im Beruf oder in einem bestimmten Interesse. Dies kann selten einen richtigen Erfolg geben, weil es nicht auf einer regelmäßigen Entwickelung beruht. Aber es ließe sich nicht denken, wie dies in solchem Menschen sollte vorkommen, wenn wir es nicht als eine allgemein menschliche Tendenz ansehen. Ferner finden wir dies im Mysticismus, der in solchen ist, die sich ein System der Natur entwerfen wollen ohne klare Vorstellung von der Wissenschaft. Ein solcher war J a k o b Böhm. Ein solcher Mysticismus ist aber nicht denkbar ohne die Voraussetzung, daß in jedem Menschen die

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Entwickelung des Bewußtseins bis zur Wissenschaft, und also auch bis zur Philosophie angelegt ist, d a ß also gar keine aristocratische Ansicht in der Entwickelung der Intelligenz statt finden darf. D a s Streben des Mysticismus hängt gewöhnlich mit dem religiösen Interesse zusammen, aber dieser Z u s a m m e n h a n g ist doch i m m e r nur der, d a ß die Religion 5 99 ihnen eben das primitive ursprüngliche Bewußtsein hervorruft. | Die große M e n s c h e n m a s s e bleibt zurück durch die große G e w a l t anderer Triebe und ungünstiger U m s t ä n d e , und durch das Herausbrechen der innern Anlage in jene falsche Gestaltungen. Wenn man eine solche Duplicität setzt, d a ß das höhere Bewußt- 10 sein das transcendente gleichsam ein ganz anderes Vermögen im M e n schen bildet, als das niedere oder empirische, so etablirt m a n , da beide doch denselben Gegenstand haben, ein zwiefaches Verhältniß zwischen beiden, und m a c h t es zur Sache der Wahl zu welchem m a n sich halten soll. Außer dieser Voraussetzung eines solchen zwiefachen in sich selbst 15 geschiedenen Bewußtseins, giebt es noch eine andere, welche dem philosophischen Unternehmen und unserer A r t es zu betreiben durchaus entgegen ist. Es ist die A n n a h m e , die unter dem N a m e n des Scepticismus b e k a n n t ist, d. h. der Ableugnung des Wissens, denn wenn es kein Wissen giebt, dann kann man es auch nicht zum Gegenstande machen, 20 100 und auch keine Regeln für | die Production desselben aufstellen. Der Scepticismus ist unter verschiedenen Formen. Die eine ist der strenge doctrinale, der den Satz aufstellt: es giebt kein Wissen. Betrachten wir dies recht, so m u ß es uns wunderlich erscheinen, denn das Ableugnen setzt eine Vorstellung davon voraus, und wenn es auch eine alte sophi- 25 stische F o r m war, d a ß man sagt: es sei nicht möglich etwas zu leugnen, denn indem man es leugne, so spreche man es aus, so ist doch darin etwas Wahres. M a n kann nichts schlechthin leugnen als das Nichts selbst, weil dies gar kein Gegenstand sein kann. Wenden wir dies auf das Wissen an, so muß wer das Wissen leugnet eine Vorstellung vom 30 Wissen haben, und indem man das Vorstellen überhaupt nicht leugnet, so m u ß er andere Vorstellungen, die er zugiebt, von denen des Wissens unterscheiden können, und er m u ß das Nichtwissen, d. h. alle übrigen 101 Vorstellungsarten kennen. Aber | dann k o m m t er ganz der Form nach auf unsere Aufgabe zurück. Dies ist alsdann sein Wissen, d a ß er das 35 Wissen leugnet, und wenn er sich von dem W a h n e frei halten will, d a ß er nämlich nicht wie andere glaube etwas zu wissen, so m u ß er das begründen, er m u ß eine Kunstlehre aufstellen, sich im Denken zu hüten

31-33 Zm dieser, wohl auf Antisthenes zurückgehenden 285d.e; Protagoras 288a

These vgl. Piaton: FMthydemos

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vor dem Wahn, daß man etwas zu wissen meine. Die Sache dreht sich also bloß um, bleibt aber sonst dieselbe, und da wir über den Inhalt unserer Operation noch nichts gesagt haben, so können wir sagen: gut, ob wir Regeln bekommen werden uns vor dem Wissen zu hüten, oder vor dem Nichtwissen, das ist jetzt noch nicht klar, wir haben es bloß noch mit der Form zu thun die dieselbe ist. Eine andere Form des Scepticismus ist der polemische. Dieser besteht darin, denn so ist Sextus Empirikus zu Werke gegangen, daß man nicht glaubt daß Nichtwissen wissen zu können, sondern daß man nur 102 zeigt, wie das Wissen des Menschen sich entgegengesetzt ist, | und man nicht wisse auf welche Seite man sich schlagen solle. Kein Mensch kann nun Regeln suchen für das Wissen, wenn er glaubt, daß das Gegentheil eben so gut ein Wissen ist. Das ist das Wahre in diesem Scepticismus. Aber wer da sagt: dieser hält das für ein Wissen und jener jenes, und beides widerspricht sich, so weiß er doch den Widerspruch. Er setzt also das Wissen voraus, und kann, indem er selbst immer Anspruch auf das Wissen macht, alles Wissen nicht aufheben. Er müßte sein Wissen des Widerspruchs zum Grunde legen und daraus das Weitere entwickeln, nämlich das Wissen der Bedingungen, unter denen es nicht zusammenstimmt. So hat er mit uns wieder dieselbe Form des Verfahrens, nur daß er sie negativ ausdrückt. Den Widerspruch weiß er, er will ihn nicht, und wenn er die Regeln gefunden hat warum er nicht sei, so hat er alles erreicht. Eine dritte Art des Scepticismus leugnet 103 bloß, daß etwas gewußt wird: man könne nicht bei jedem | Einzelnen das Wissen haben, aber die Möglichkeit des Wissens leugnet er nicht. Dieser Scepticismus steht mit uns nicht im Widerspruch, wir haben nichts darin zu bestreiten, denn das Gebiet derjenigen Vorstellungen ist sehr gering, mit welchen wir ein bestimmtes Bewußtsein des Wissens verbinden. Wir wissen zwar daß 2 mal 2 viere ist, aber das ist auch bloße Formel, die 4 ist nichts anders als 2 mal 2. Wenn ich mir ein Dreieck als einen Gegenstand denke, und nun sage: es habe 180°, so ist das ein rein identischer Satz, denn ich kann kein Dreieck machen ohne 180° zusammenzusetzen. Wo wir aber aus dem formalen Gebiet herausgehen, da giebt es keine Untrüglichkeit, und wo wir uns da ertappen auf einer Anmaßung, müssen wir davon zurück zu kommen suchen. Dieser Skepticismus ist nichts anderes als das Princip der Kritik, das die Wissenschaft beständig Begleitende, die Voraussetzung, daß in jedem Wissen noch ein Falsches sein | könne, und daß man dies auf- 104 suchen müsse.

7 - 1 1 Vgl. den Sachapparat

zu KGA ¡1/10, 1, S. 87, 18 f (§ 73)

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Was den doctrinalen Skepticismus betrifft, so steht ihm der Glaube an das Wissen entgegen. Dieser liegt dem ganzen realen Leben des Menschen zum Grunde. Haben wir die Duplicität des Bewußtseins geleugnet, so haben wir damit auch allen Skepticismus gebrochen. Wenn der Skepticismus in der letzten Form aber, das Princip der 5 Critik nicht zu bestreiten ist, so könnte jemand sagen: nun so giebt es ja doch keinen Glauben an das Wissen, wenn ich nicht gewiß sein kann, ob nicht noch ein Irrthum am Wissen hafte. Aber dies darf den Glauben an das Wissen, an die Idee desselben, nicht nehmen, wenn wir auch wissen, daß das Wissen nie ganz vollkommen wird, wenn wir 10 auch wissen, daß noch Aberrationen von den gefundenen Kunstregeln Statt finden, von denen wir eben durch die Critik immer mehr abkommen müssen. — | 105 Nachdem wir also nun die beiden dem philosophischen Wissen widerstreitenden Elemente beseitigt, so können wir nun wieder an- 15 knüpfen an das Frühere. Alles Philosophiren beruht in der Feststellung des Wissens in Beziehung auf das Sein, und auf der Feststellung der Verknüpfung alles Wissens; und alles Wissen, was nicht schon auf ein reales Gebiet des Wissens übergegangen ist, ist Philosophie. Die Metaphysik vor Kant dehnt sich in viele Disciplinen aus, und scheint mehr 20 zu enthalten. Aber genau genommen doch nicht. Ihr Gegenstand war der Begriff des Dinges, des Geistes und der Gottheit. Der Begriff des Dinges ist aber eben der ursprüngliche Zusammenhang zwischen dem Denken und dem Sein; der Begriff des Geistes ist doch nur der Geist als das Subject des Wissens, dasjenige worin der Complexus des Den- 25 kens und der Übergang von einem zum andern als solchem gesetzt ist. Von allem Wissen das einen bestimmten Inhalt hat wurde doch immer 106 abstrahirt. Die Idee der | Gottheit ist doch nichts als der letzte Grund für das Wesen des Geistes und des Dinges, also der Grund des Zusammenhanges beider. Die Metaphysik geht also in dem einen Element 30 unserer Philosophie auf, und das andere Element war die Logik. Die Kantische Philosophie polemisirte gegen diese Metaphysik, also auch wol gegen das eine Element unserer Philosophie. Aber auch Kant ging

20 vor] folgt « v o r » 1 - 3 Vgl. den Sachapparat zu KGA U/10, 1, S. 87, 22 f (§ 74) 19-22 Schleiermacher spielt an auf die Einteilung der Metaphysik in der Tradition der Schulphilosophie in Ontologie und Kosmologie („Ding"), rationale Psychologie („Geist") sowie natürliche Theologie („Gott"); vgl. den Sachapparat zu KGA 11/10, 1, S. 152, 30-153, 14 ($ 228). 33—137, 7 Schleiermacher könnte hierbei an Kants Formulierung denken, Wissen sei „das sowohl subjectiv als objectiv zureichende Fürwahrhalten" (KrV Β 850; Werke, Akade-

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davon aus, daß das eigentliche Wissen die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein ist, und er zeigte nur, daß jene Art dies klar zu machen, das Wesen das Geistes als das Subject und das Wesen des Dinges als Object zu suchen, nichts taugen, daß man jenes eben nicht wissen könne, sondern daß das Wissen nur auf dem realen Gebiet zu suchen sei. Das letzte Wissen sei nicht hinter dem realen Wissen, sondern im realen Wissen. Kants Polemik ist also nur gegen jene Form als eine Annäherung an unsere. Wir gehen von jenen beiden Elementen aus, und fragen: was ist denn | das rein natürliche Verhältniß beider? Wir gehen davon aus, daß 107 wir in dem im Menschen vorkommenden Wissen diese beiden Elemente aufsuchen, und, was schon Naturgesetz des Denkens ist, rein herausheben und als Kunstregel darstellen wollen. Es ist uns Eins gegeben, daß im Denken vorkommende Wissen. Aus diesem wollen wir zweierlei finden: den Zusammenhang des Denkens mit dem Sein, und die Verknüpfung des Wissens unter sich. Nun kann man gegen unser Verfahren einwenden : wie man doch aus einer bekannten Größe unternehmen wolle zwei unbekannte zu finden, welches dem mathematischen Verfahren entgegengesetzt sei? Nun sind freilich die unbekannten Größen in der bekannten, aber das thut noch nichts, denn wir wissen doch noch nicht was im Wissen enthalten ist, also scheint eine unendliche Menge von Auflösungen möglich. Wäre das, so müssen wir das Eine oder das andere hypothetisch bestimmen; und dann aus dem andern zugleich rechtfertigen. | Das ist das lang beobachtete Verfahren, was Logik und 108 Metaphysik trennte. Allein so hat man eben verfahren, indem man beide Elemente trennte, und zum Gegenstand zweier Disciplinen machte. Wir thun dies nicht, sondern wir gehen davon aus, daß beides nur Eins und dasselbe sein kann, und so haben wir auch nicht zweierlei unbekannte Größen, sondern nur Eine. Vom Inhalt des Wissens abstrahiren wir und die Form ist uns dies Beides als Eins betrachtet. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, daß die Philosophie einen Grundsatz aufstellen solle, der nachher wieder in mehrere zerfällt für

mie-Ausgabe, Bd. 3, S. 533). - Dazu, daß das Wissen nur auf dem realen Gebiet zu suchen sei, vgl. ebd. XXVI f (Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 3, S. 16 f), wo es heißt, daß „wir von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur 50 fern es Object der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntniß haben können, /.../ woraus denn freilich die Einschränkung aller nur möglichen speculativen Erkenntniß der Vernunft auf bloße Gegenstände der Erfahrung folgt. Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muß, doch dabei immer vorbehalten, daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint."

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die verschiedenen Gebiete des realen Wissens, und daß von jedem Grundsatz nach den Ableitungsregeln die andern Elemente, der ganze Inhalt jeder realen Wissenschaft müsse hervorgebracht werden. Hier ist nun Verschiedenheit der beiden Elemente. Kann so das Gebiet der rea109 len Wissenschaft construirt werden? Man hat sich lange | in dieser Form bewegt, aber niemand wird sagen können, daß so eine reale Wissenschaft wäre zu Stande gekommen; denn es ist immer nur ein Schein gewesen, es lagen mehrere Hypothesen zum Grunde, und man that noch etwas anders, als daß man bloß von einem Gesetz ableitete. Auch das was in jedem Einzelnen als Fragment des objectiven Wissens vorkommt, sieht gar nicht so aus, als wäre es durch jenes Verfahren zu Stande gekommen. Betrachten wir nämlich alle diejenigen die ein verschiedenes System haben, so verschwindet die Verschiedenheit jemehr man in die Ableitung kommt. Ζ. B. welche entgegengesetztem Voraussetzungen giebt es, als die, von denen man in der Construction der Sittenlehre ausgegangen ist. Der eine setzt den Menschen als ein eigensüchtiges, der andere als ein wohlwollendes Wesen. Dies muß an das Wesen des Geistes geknüpft werden. Kommt man aber an die wirklichen Formeln des Handelns, so kommen beide wieder auf Eins, der Wohlwollende soll dann auch wieder erhaltend gegen sich selbst, und der Eigensüchtige als die andern erhaltend angesehen werden. Eben so ist es in der Physik. - | 110 Wenn nun das reale Wissen sich so gestaltet, daß wenn man es von dem Gesichtspunkt der Ableitung betrachtet, die verschiedenen Ableitungen dasselbe Resultat geben, so kann dies auch nicht das Prinzip der Construction sein. Sehen wir mehr auf das Objective, wie das Wissen als organisches Ganze vor uns steht, steht es da in einer Reihe von Ableitung vor uns? das ist auch wol da, aber es ist doch auch immer Coordinirtes, so daß man von jedem dieser Punkte aus nach dem Mittelpunkt kommen kann. Man kann also auch so das Wissen nicht construiren, daß man von einem Obersten auf ein Unterstes herabsteigt. Daraus folgt, daß das zweite Element nämlich das Verknüpftsein des Wissens unter sich gar nicht auf genügende Art vorgestellt wird, wenn es bloß als Regel der Ableitung gestellt wird; und eben so ist das andere Element nicht richtig, wenn es als oberster Grundsatz aufgestellt wird. Halten wir die 111 Vorstellung vom obersten | Gesetz und von der Form der Ableitung daraus fest, so ist das eine Wissen nur im obersten Gesetz selbst, das andere ist nur aus diesem und einem Ableitungsgesetz, einem Exponenten, zusammengesetzt, und so kommt das Abgeleitete heraus. So hätte also jedes Wissen nicht das oberste vor sich, sondern es hätte immer nur das zunächst Vorhergehende [vor sich], und das Ableitungsgesetz ließe sich auch nicht daraus finden, sondern immer nur durch Verglei-

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chung zweier Punkte. Wenn wir nun dies Verfahren leugnen, so müssen beide Elemente in jedem einzelnen Wissen sein. Jedes einzelne Wissen als solches m u ß die Beziehung auf das Sein in sich selbst tragen, und man muß es nicht erst aus einem andern ableiten; und auch die Verknüpfungsregeln muß jedes Wissen in sich selbst haben, nicht erst aus der Vergleichung zweier Punkte. Das erste wird klar dadurch: was wir als ein einzelnes Gebiet setzen können, m u ß auch wieder Theil eines größern sein, und was wir als ein einzelnes Wissen setzen ist auch wieder Complexus | eines Mannigfaltigen. Sofern ein Wissen Theil eines 112 Ganzen ist, könnte man sagen daß es nur aus dem Ganzen zu nehmen wäre, und sofern es ein Ganzes ist könnte man sagen, daß es in die einzelnen M o m e n t e eingehen müßte. Das könnte man sagen wenn jedes Wissen eins von beiden wäre, da es aber beides ist, so muß es beide Elemente in sich tragen. Eben so die Verknüpfung denken wir uns als Abhängigkeit des Einen vom Andern. Da aber hier kein Absteigen ist sondern lebendiges Wechselverhältniß, so kann in dem Abgeleiteten die Verknüpfung nur sein mit dem Grunde zusammen, und in dem Grund nur mit der Folge zusammen. Da aber jedes Grund ist und Folge, so muß es die Verknüpfungsregeln in sich selbst tragen. Wer das bestreiten will den fordern wir auf ein Wissen zu zeigen, was eine einfachere Form hätte als die eines Begriffs und eines Urtheils. Ein Urtheil ist die Verknüpfung zweier Begriffe in Eins gedacht. | Ein Begriff ist aber auch nicht ein Ein- 113 faches, sondern es ist doch nach der ganz gewöhnlichen Erklärung schon ein Mannigfaltiges nach bestimmten Merkmalen, und sein Wesen ist das Verknüpftsein dieses Mannigfaltigen. Das Mannigfaltige aber für sich ist kein Wissen, sondern nur in so fern es als Eins betrachtet wird; sofern es nicht als Eins betrachtet wird, ist es bloße todte Abstraction. Ζ . Β. In jedem Begriff eines Dinges ist eine Mannigfaltigkeit von Merkmalen, die ich zunächst als Einwirkung auf meine Sinne beziehe. Dies kann ein Wissen sein; aber die einzelne Einwirkung eines Gegenstandes auf meinen Sinn ist an und für sich nie ein Wissen. Die Undurchdringlichkeit ist das Merkmal eines Dinges, aber wenn sie bloß angesehen wird als der Widerstand, den der Gegenstand leistet in dem Bestreben den Raum zu durchdringen, so ist das kein Wissen. Ein Wissen ist es erst, wenn ich den Z u s a m m e n h a n g des Dinges kenne; denn das Wissen ist immer nur ein Verknüpftsein. D a r u m trägt jedes die Art und Weise seines Verknüpftseins in sich selbst. | Jedes Wissen als sol- 114 ches ist also der natürliche Träger beider Elemente die wir suchen. Wo

26 das] die

31 einzelne] einzelnen

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das reine Z u s a m m e n f a s s e n des Wissens schon gesetzt ist, da giebt es kein anderes Verhältniß als das des G a n z e n zum T h e i l und umgekehrt. D a s Verhältniß des Gleichnamigen ist dadurch schon mitgesetzt. Aber wenn ich von dem T h e i l auf das G a n z e sehe und umgekehrt, so gehe ich nie aus dem Gegenstande heraus, und von keiner Ableitung ist da 5 die Rede. N u n könnte man sagen : es giebt doch noch andere Ableitungen, in denen sich das Verhältniß des T h e i l s zum G a n z e n nicht ausspricht, wie sie unter der F o r m des Syllogismus vorkommen. Allein alle solche Ableitungen sind nur interimistisch, m a n hat da n o c h nicht eine Sphäre des Wissens für sich z u s a m m e n g e f a ß t ; wo dies aber schon der 10 Fall ist giebt es keine andere Ableitung als das Verhältniß des Theils zum G a n z e n und umgekehrt. Alles andere sind nur Bestrebungen um den Stoff zu solcher Construction zusammen zu finden. Sobald man 115 die I lebendige Anschauung eines M e n s c h e n hat so m a c h t man nicht mehr einen solchen Syllogismus: Alle M e n s c h e n sind sterblich, C a j u s 15 ist ein M e n s c h , also ist er sterblich. Beides ist also Eins, die Verknüpfung, das M a n n i g f a l t i g e ist nicht ohne ein Sein und umgekehrt. Es scheint ein zwiefacher Weg zu sein von dem Einen auf das andere zu k o m m e n . W i r wollen sehen welchen wir für unser Verfahren wählen müssen. D a s Sein ist uns nur in einer Verknüpfung gegeben, daher muß 20 die Übereinstimmung des Denkens in seiner Verknüpfung mit dem Sein Statt finden. E b e n so ist schon gesagt wie die Verknüpfung des Denkens nicht o h n e das Sein statt finden k a n n . W ä r e die Verknüpfung des Denkens bloße Ableitung, so wäre es nicht gleich wo m a n anfinge. Die Verknüpfung des Seins mit dem Denken müßte da nothwendig voraus- 25 gesetzt werden. D a wir aber eine solche Verknüpfung des Denkens nur als untergeordnet ansehen, und wissen, d a ß in jedem Wissen schon | 116 eine Verknüpfung ist, so steht das Wissen abgesehen von seinem Inhalte gegen beide E l e m e n t e gleich. Aber unsere Absicht ist die Construction, ausgehend vom wissenschaftlichen Interesse, davon, d a ß wir einen 30 Organismus des Wissens hervorbringen wollen, also ist die Construction, die Verknüpfung dessen, was vielleicht in seiner Entstehung ein Einzelnes gewesen ist, zu einem organischen G a n z e n , und die Beziehung eines jeden Einzelnen in sich selbst, so d a ß es wieder ein organisches G a n z e werde. D a s nennen wir C o n s t r u c t i o n . Dies ist unser Ziel- 35 punkt und so lassen wir es billig zuletzt. D e r erste T h e i l ist nun wie wir sicher werden über die richtige Beziehung des Denkens auf das Sein. D e r zweite T h e i l ist der, wodurch die C o n s t r u c t i o n unmittelbar zu

2 Theil] über « E i n z e l n e n ) ) chen; wohl Unsicherheit des

4 Theil] über « E i n z e l n e n ) ) Abschreibers.

26 solche] davor Fragezei-

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Stande kommt, wir fragen: in wiefern werden wir sicher in der Verknüpfung ein Denken zu produciren, welches ein Wissen ist. Dies ist der formale Theil der Untersuchung. —

Erster Theil. 117 5 Also wie können wir sicher werden über die richtige Beziehung unseres Denkens auf das Sein? Wir haben nichts wovon wir ausgehen könnten um die Frage zu beantworten, als nur diese Thatsache, daß es in der ganzen Masse derjenigen Thätigkeit, die wir Denken nennen, solche giebt die wir ein Wissen nennen. Je kleiner das Kapital ist wovon wir 10 anfangen, desto nothwendiger ist, daß wir dies recht sicher haben. Es scheint zuerst dies offenbar[:] Was wir Wissen nennen ist eine bestimmte Art und Weise dessen, was wir in einem weitern Umfange Denken nennen. So sind wir aber bloß auf ein anderes Wort gekommen. Doch war dieser Schritt rückwärts nothwendig. Was wir unter 15 Denken verstehen, wird als bekannt vorausgesetzt. Es giebt nämlich der Thatsachen gar manche, die das Bewußtsein constituiren. Davon ist das Denken eine. Es zeichnet sich dadurch aus, daß es allemal als ein inneres Sprechen erscheint. Wenn | wir etwas empfinden, so sagen 118 wir oft, daß es sich nicht aussprechen läßt. Wer dasselbe vom Denken 20 sagt wird ausgelacht. Jedes Denken setzt also einen andern Act voraus über den es das innere Sprechen ist, einen Act des Wahrnehmens mit den Sinnen, oder die Erregung des Gefühls, oder eine That oder sonst etwas. An diesem werden wir genug haben um das Denken von den übrigen Thatsachen zu unterscheiden. Nun ist jedes Wissen ein Den25 ken. Dies meinen wir im engsten Sinne des Wortes, sofern nämlich Denken eine wirkliche Thätigkeit ist, denn nicht kann im Menschen Wissen sein, was nicht in ihm als Denken gewesen ist. Wodurch unterscheidet sich nun dasjenige Denken, was ein Wissen ist, von demjenigen was keines ist? Daß es ein Denken giebt, was kein 30 Wissen ist wissen wir recht gut. Der Unterschied ist aber nicht zu demonstriren; denn das wäre ein unendlicher Prozeß alles Denken herbeizuholen und zu vergleichen, sondern wir müssen | anfangen mit 119 einer innern Erfahrung, welche voraussetzt, daß jene Vergleichung gemacht sei. Schleiermacher will die Gefahr davon auf sich nehmen, 35 und so etwas Characteristisches des Denkens, das ein Wissen ist, aufstellen. Also: 1) wir nennen ein Denken ein Wissen, wenn wir dabei voraussetzen, daß dieses von allen, des Denkens fähigen auf gleiche Weise vollzogen werde; und 2) wir nennen ein Denken ein Wissen, wenn eben dasjenige, worüber das Denken ein inneres Sprechen ist, 40 wenn der Gegenstand, das Sein, so ist wie es gedacht wird.

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D a ß das Denken soll auf gleiche Weise vollzogen werden, darin liegt ein Anspruch auf die Identität des Denkens in allen M e n s c h e n . D a s ist nur ein Problematisches, aber wir machen doch diesen Anspruch. Diese M e r k m a l e aber, die Gleichmäßigkeit der Vollziehung und die Ubereinstimmung mit dem Sein constituiren nur zusammen das Wissen. 5 M a n denke sich einen, der etwas gedacht hat, wie es ist, so ist in seinem Denken Wahrheit. H a t er aber nicht das Bewußtsein, d a ß alle M e n s c h e n 120 eben so denken müssen als er, so | nennen wir es nicht ein Wissen. D e n ken wir uns aber, es könnten alle M e n s c h e n ein Denken auf eben dieselbe Weise vollziehen, aber es wäre doch keine Übereinstimmung mit dem Sein, so wäre dies ein allgemeiner Irrthum und kein Wissen. E b e n so wenn ein Denken von allen auf gleichmäßige Weise hervorgebracht wird, und sie haben nicht die Voraussetzung d a ß es mit dem Sein übereinstimme, so ist es doch nichts als höchstens eine richtige M e i n u n g , denn ohne solches Gefühl kann es ihnen kein Wissen sein. Diese beiden Kennzeichen sind nun in ihrer rechten Schärfe aufgestellt, und jeder wird damit übereinstimmen, d a ß wir sie in jedem Wissen fordern. Aber d a ß alles Eigenthümliche des Wissens in diesen beiden Kennzeichen erschöpft sei, ist nicht auseinandergesetzt, kann es auch nicht werden; wir sagen also, d a ß dies keinesweges im Voraus gesagt werden k a n n , findet es sich nachher, so wird es gut sein. Für uns ist das zuerst Gesagte genug, daß sie Eins sind, aber jedes doch wieder 121 ein Getrenntes vom | andern; und daran können wir unsere Untersuchung anknüpfen, ohne die Uberzeugung, d a ß wir das Wesen des Wissens erschöpft haben. W a s nun das Erste betrifft, d a ß das Denken von allen soll gleich vollzogen werden, so müssen wir zuerst eine Vergleichung anstellen mit einem früher Gesagten, wo wir das Wissen an einem andern M e r k m a l e ergriffen haben. Aber da wollten wir nur soviel als gerade nöthig war. Wir sagten aber, mit dem Wissen sei allemal ein Gefühl der Überzeugung verbunden. D a s ist etwas anderes als die beiden aufgestellten M e r k m a l e . Wie verhält es sich zu ihnen? Bleiben wir beim ersten M e r k m a l stehen, so scheint das Uberzeugungsgefühl etwas w e i t l ä u f i ger zu sein. Wenn wir sagen, d a ß zum Wissen alle gleich denken müssen, so liegt das Uberzeugungsgefühl mit darin. A b e r das Uberzeugungsgefühl ist auch ohne diese Voraussetzung. Wenn wir ζ. B. im Handeln zu einem solchen Grade der Selbstständigkeit gekommen

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122 sind, d a ß wir unsere Art und Weise zu handeln | in G e d a n k e n ausdrükken, so sind diese in uns mit dem Uberzeugungsgefühl verbunden. D a s ist aber nur das Gefühl der subjectiven Nothwendigkeit, wir sagen uns 40 nicht, d a ß alle M e n s c h e n so handeln sollen, und darum ist es auch kein Wissen. So ist also das Wissen in dem ersten M e r k m a l schärfer gefaßt als im Überzeugungsgefühl. - Eben so auf dem Kunstgebiet. Unser G e -

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schmacksurtheil ist auch unsere Überzeugung, aber wir muthen nicht allen zu auf dieselbe Weise über diesen Gegenstand zu denken, und die Uberzeugung ist rein subjectiv. Wir nennen sie aber auch nicht ein Wissen. Soll ein Wissen gebildet werden, so muß ein gleichmäßiges Denken hervorgebracht werden, und da ist wieder die Voraussetzung, daß alle denselben Gegenstand auf dieselbe Weise construiren sollen. Zu jenem frühern Merkmal nun, daß das Wissen nur sei mit dem Überzeugungsgefühl, könnten wir noch ein anderes aufstellen, das im gemeinen Leben sehr oft vorkommt, | nämlich statt der Gleichheit der Production 123 die Gleichheit des Resultats. Was in allen Menschen als Resultat gleich ist, das ist Wahrheit. So heißt es in der gemeinen Rede. Aber das ist wiederum zu weit. Wenn wir annehmen, daß vom ersten Anfang des Denkactes an, alle Menschen gleich verfahren, dann müssen sie auch dasselbe Resultat bekommen, aber keinesweges braucht, wo ein gleiches Resultat ist, die Gleichmäßigkeit des Verfahrens zu sein. Z. B. denkt man sich den Künstler und den Beschauer seines Bildes; so ist im Beschauer dieselbe Idee als die der Künstler im Bilde dargestellt hat. Aber ist sie in ihm auf dieselbe Weise? Die Art wie die Idee im Künstler ist, ist ganz anders, denn in ihm ist sie ursprünglich, in dem Beschauer ist sie abgeleitet. Die Identität des Resultats ist da, aber deßhalb auch kein Wissen, weil dasselbe Verfahren nicht da ist. Bei einem bloßen Gelernthaben ist Gleichheit des Resultats, aber kein Wissen. Diese Seite des Wissens nun so aufzufassen wie wir es im ersten | Merkmal gethan 124 haben ist schärfer, und das Wesen des Wissens richtiger treffend. Fragen wir uns nun genau, so giebt es vielleicht keinen Act des Denkens, der auch nur diesem Merkmal genau entspräche, und es wird gar weniges geben, wo wir die Gleichheit des Verfahrens aller behaupten, und dies wenige wird immer nur auf der formalen Seite sein. Aber das thut nichts, denn damit sagen wir bloß, daß das Wissen niemals ganz vollkommen richtig herauskommt, wie nichts Wirkliches der Idee entspricht; der Glaube aber an das Wissen ist der Glaube an die Idee des Wissens, der man sich immer mehr annähern muß.

Darin liegt noch etwas: warum wagen wir nicht vorauszusetzen, daß irgend ein Act des Denkens jenes Merkmal ganz in sich trage? 35 Einiges kommt im Denken vor, womit ein Überzeugungsgefühl verbunden sein kann, welches wir nicht für falsch halten können, und bei welchem wir doch nicht den Anspruch machen, daß alle gleich denken. | Als Typus davon haben wir das Geschmacksurtheil angesehen. Wir 125 könnten dies ausdehnen auf alles ihm Analoge, und sagen: es gebe eine 40 individuelle Wahrheit, die kein Wissen sei weil ihr jenes Merkmal fehle.

3 9 ihm] ihnen

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D a r a u s wird für uns die Aufgabe entstehen, dies überall auszumitteln und auszuscheiden. D i e Vollendung des Wissens von dieser Seite besteht also darin, d a ß das Individuelle im D e n k e n , wie es in jedem selbst v o r k o m m t , und wie er es in andern findet, ihm ebenso klar wird, wie dasjenige, was er setzt als ein von allen gleichmäßig zu Vollziehendes. Können wir überall angeben, wo sich das Allgemeingültige und das Individuelle scheidet, und wie es in jedem verbunden ist, dann haben wir erst das Wissen ganz und gar durchschaut. — Fassen wir diese Differenz noch einmal zusammen und sagen: es giebt im D e n k e n eine Differenz zwischen Wahrheit und Wissen, denn das Gebiet der Wahrheit ist größer als das Gebiet des Wissens, so werden wir in Beziehung auf dieses M e r k m a l das Wissen so erklären: es 126 sei dasjenige D e n k e n , welches in | der Identität und nicht in der Differenz aller zum Denken gehörenden Thätigkeiten in den denkenden Subjecten gegründet sei. Hier ist etwas hineingebracht, wovon noch nicht die R e d e gewesen ist. Bisher haben wir vom Denken als von einem in uns vorkommenden Act geredet; wir haben dabei das Bewußtsein weggelassen, d a ß in uns noch andere Acte v o r k o m m e n , aber wir können dies Bewußtsein jeden Augenblick hervorbringen, d a ß das D e n ken nur Etwas ist in unserm geistigen Dasein. D e m entspricht, daß wir sagen: es giebt etwas in uns, worauf grade das Denken beruht, so wie anderes w o r a u f anderes beruht. D a s alles hat in uns seine Wurzel. Wenn nun das D e n k e n , sofern es gesund ist und ohne Irrthum, doch wiederum auf der einen Seite Resultate giebt, die in jedem anders sind, und auf der andern Seite solche, die in allen auf gleiche Weise vollzogen werden, so m u ß es eine Differenz geben und eine Identität dessen,

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127 worauf das | Denken in den verschiedenen Subjecten beruht. Wir müssen also sagen: das D e n k e n , sofern in demselben eine individuelle Wahrheit v o r k o m m t , kann beruhen auf der Differenz der Vermögen in den denkenden S u b j e c t e n ; das Wissen aber kann nur beruhen auf der 30 Identität. — Zweites M e r k m a l : das Wissen ist dasjenige D e n k e n , worin mit jenem auch dieses gesetzt ist, d a ß es einem Sein entspricht. Dieser Ausdruck ist auf der einen Seite zuerst allgemein verständlich, auf der andern Seite, wenn wir bedenken, d a ß wir das Wissen erst fassen wol- 35 len, k a n n uns auch dieses unsicher vorkommen. Wir sehen zuerst, in wiefern dies im allgemeinen Bewußtsein vom Denken mitgesetzt ist. N ä m l i c h wir setzen in jedem Denken ein Gedachtes außer dem Denken selbst. D a s G e d a c h t e kann in uns und außer uns sein, aber der Z u s t a n d und die H a n d l u n g in uns ist i m m e r noch vom D e n k e n verschieden, 40 denn der Z u s t a n d und die H a n d l u n g können sein ohne das Denken 128 derselben. Also ist der Gegenstand, wenn er auch ein | innerer ist, doch außer dem D e n k e n , und in uns ist er nur, nicht sofern wir das Denken

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sind, sondern sofern wir das Sein sind. In wiefern nun ein solches Denken gesetzt wird, daß das Denken dem Sein entspreche, in so fern ist wieder ein Uberzeugungsgefühl mit dem Denken verbunden, aber das Überzeugungsgefühl kann auch wiederum sein, wo noch keine Übereinstimmung mit dem Sein ist; denn wenn wir ζ. B. sehen auf dasjenige, was in uns gedacht wird als das Urbild einer künftigen Handlung, so müssen wir gestehen, daß eben diesem Denken ein Sein entspricht, wenn die Handlung zu Stande kommt, aber die H a n d l u n g kann auch nicht zu Stande kommen, oder doch dem Denken nicht genau entsprechen. Das Uberzeugungsgefühl kann doch dabei sein. Aber dann ist dies Denken kein Wissen, sondern dies ist erst nach der H a n d l u n g da. Eben so ist auf der andern Seite wahr: wo diese Ubereinstimmung nicht gesetzt wird, da ist auch kein Wissen, und es gehört | dazu dieses 129 beides: sie muß sein, und gesetzt sein, d. h.: wir gehen aus von einer Mehrheit der denkenden Subjecte. Wenn in dem einen ein Gedanke ist, der mit dem Gedachten identisch ist, er selbst ist sich aber dessen nicht bewußt, so ist dies in ihm kein Wissen. Es giebt Denken, was auch auf ein Sein geht, worin diese Übereinstimmung nicht ist, wie in jedem freien Spiel der Phantasie, wo man sich mit bloß Gedachtem beschäftigt, da ist keine Übereinstimmung, und darum nennen wir es auch nicht ein Wissen. Jeder hypothetische Gedanke ferner bezieht sich auf ein Sein und wir setzen eine mögliche Übereinstimmung. Aber so lange wir die Übereinstimmung nicht als wirklich setzen, ist dies kein Wissen, sondern bloß ein Verfahren, das zum Wissen führen soll. Das Überzeugungsgefühl muß also auch hier sein bei diesem Merkmal wie bei dem ersten, macht aber allein das Wissen nicht aus, eben sowenig wie die Übereinstimmung allein. Indeß unterscheiden wir allerdings dasjenige, was in der Entwickelung eines Wissens gesetzt ist, und dasjenige was nicht, | und das geht selbst bis in das hinein, was wir 130 bestimmt als Irrthum erkennen. Wir können ζ. B. physicalische Irrthümer, falsche Theorien in der Astronomie vergleichen mit Vorstellungen aus der Mythologie, und wir werden nie beide Classen von Vorstellungen mit einander verwechseln. Wir werden sagen: die Vorstellungen von Feen haben keine Realität. Die Vorstellungen von falschen Stoffen sind auch falsch. Warum nennen wir die einen auf eine andere Weise Irrthümer als die anderen? Deswegen, weil die einen in dem zusammenhängenden Suchen des Seins liegen, und wir dies als einen großen Act ansehen, in welchem Irrthum und Wahrheit zusammenliegt. Das freie Spiel der Phantasie sehen wir ganz anders an, weil es ein Denken ist, wobei es von Anfang an nicht auf eine Übereinstimmung mit dem Sein abgesehen ist. Dies ist ein Zeichen von der bestimmten Bedeutung, die wir auf die angestrebte Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein legen. - |

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Es k a n n nun aber leicht sein, d a ß auch die verworrene Seite, die in der Z u s a m m e n s t i m m u n g des Denkens mit dem Sein liegt, heraustritt, und diese müssen wir nun auch berücksichtigen. D a s vorher Gesagte bezog sich gleich sowohl auf das in als auf das außer uns Gedachte. N u n aber liegt doch nicht alles Sein in uns, denn das liegt schon in der 5 Voraussetzung der M e h r h e i t der denkenden Subjecte, und es entsteht die große Frage: wie k o m m e n wir dazu, das Denken auf irgend etwas außer uns zu beziehen? Wir müssen hier auf das unmittelbare Selbstbewußtsein verweisen, und dies befragen. Wir wollen nur auf folgendes hiebei a u f m e r k s a m machen. Einmal haben wir schon gesagt, d a ß es in 10 uns selbst noch etwas anderes giebt als das bloße Denken. Alles was wir anderes sind, ja das Denken selbst, kann Gegenstand des Denkens werden. Nennen wir das G e d a c h t e ein Sein, so sind wir ein Sein neben dem D e n k e n . So wie wir damit zugleich nun die M e h r h e i t der denkenden Subjecte setzen, setzen wir dasselbe Sein eben so gut außer uns als 15

132 in uns, und das Leben im Wissen | auf einem Sein in uns, und wieder auf einem Sein das außer uns ist. N u n ist kein G r u n d dies Sein außer uns allein auf die M e h r h e i t der denkenden Subjecte einzuschränken, denn alles was auf uns einwirkt ist in verschiedenen Abstufungen unserem eigenen Sein gleich gesetzt, und wir müssen gestehen, daß unser 20 übriges Leben nur a u f der Voraussetzung eines Seins in uns und außer uns beruht. Wenn nun alles Wissenwollen nur auf dieser Voraussetzung des Seins in uns und außer uns beruht, so ist unser Bewußtsein nur in dem relativen Getrenntsein des Denkens und Seins, denn unser Bewußtsein ist erst das Beziehen des Denkens a u f ein Gedachtes. Also 25 ist die Scheidung des Denkens vom Sein eben so gut nothwendige Voraussetzung des Denkens als das Z u s a m m e n s e i n beider. D a s relative Getrenntsein o f f e n b a r t sich auch schon darin, d a ß wir wissen, es geht in uns noch anderes vor, als das Denken. D a h e r sagen wir a u c h : wir 133 sind. Wir setzen also ein Sein in uns ohne Wissen. | Es ist gar kein 30 M o m e n t in uns ganz ohne D e n k e n , aber es k a n n doch bloßes M i n i m u m sein, das dagegen hervortretende M a x i m u m , und dies M a x i m u m und M i n i m u m unterscheiden wir doch. Wir sehen nun wie natürlich es ist, alles Denken auf ein Sein zu beziehen, und die Nothwendigkeit, das Denken wo die Beziehung realisirt ist zu unterscheiden von dem wo 35 nicht. Es giebt aber auch keine andere Differenz der Dignität im D e n -

6 Voraussetzung] Nachgetragen und mit Fragezeichen versehen; offenbar in der Vorlage zunächst nicht entziffert 16f und ... ist.] Kj, nach Zander und das Leben im Bestreben nach Wissen beruht auf der Gleichsetzung von einem Sein in uns, und einem Sein, das außer uns ist.

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ken, als eben diese, ob das Denken mit dem Sein stimme oder nicht. Wir haben in sofern den Grund dieser Beziehung nothwendig in uns gefunden, als sie beständig in uns ist. Wenn man nun an der Realität dieser Beziehung zweifelt, so frägt sich: woher der Zweifel? Entstehen kann er nur sofern man von der Mehrheit der denkenden Subjecte abstrahirt, denn ohne das setzt man schon eine Beziehung des Denkens auf ein Sein. Wie ist es aber möglich, daß, indem man nicht von der Mehrheit der denkenden Subjecte abstrahirt, doch der Zweifel entsteht. Angenommen das | Sein wäre Eins, und das Denken auch, so 134 würde jeder die Beziehung klar sehen. Aber das Sein ist getheilt und das Denken auch, und in dieser Theilung des Denkens und Seins eine Ubereinstimmung zu finden, scheint einem zweifelhaft. Darauf bezieht sich auch wirklich aller Irrthum, und sofern diese Theilung ist, ist alles Wissen nur Approximation. Aber wir wissen auch, daß das innerste Wesen von beidem jenseits der Theilung liegt, und sofern wir darauf sehen, können wir die Möglichkeit des Zusammenstimmens und die Zusammengehörigkeit nicht bezweifeln, sondern nur in der Theilung entsteht der Zweifel. Aber auch die Theilung hat nothwendig Wurzel in unserm Selbstbewußtsein, eben wie das Setzen des Denkens zum Sein und umgekehrt. Die Zusammenstimmung hat ihre Gewißheit in der Einheit unseres Wesens. In der Operation des Denkens, wozu wir die Regeln suchen, gehen wir aber aus dieser Einheit heraus. Da haben wir eine Mannigfaltigkeit des Denkens die einer Mannigfaltigkeit des Seins I entsprechen soll. Daran entstehen die Zweifel. Aber auch die 135 Mannigfaltigkeit des Denkens, und die Beziehung auf die Mannigfaltigkeit eines Seins ist schon in unserem Bewußtsein angelegt. Nämlich unser leibliches Dasein ist ein Zusammengesetztes aber zu einem Ganzen in unserm Bewußtsein Verknüpftes. Dies steht mit dem außer uns gesetzten Sein in Verbindung, welches sich durch seine Einwirkungen auf uns offenbart; und nun beruht unser ganzes Selbstbewußtsein auf der Unterscheidung der einzelnen Momente, wie Einzelnes außer uns auf Einzelnes in uns einwirkt, und auf der Verknüpfung derselben zur Einheit des Seins. Wir haben also auch ein bestimmtes Bewußtsein von dem Getheiltsein unseres Denkens in Beziehung auf die Getheiltheit des Seins. Wir finden in uns selbst die Nothwendigkeit das Denken und [das] Sein zu verknüpfen, also müssen wir auch die Beziehung des getheilten Denkens auf das getheilte Sein postuliren. Wenn wir die Einheit des Denkens auffassen | so kann es uns vorkommen, als hätte es 136 mit dem Sein nichts zu thun. Aber dieses Merkmal des Wissens, daß wir setzen eine Zusammenstimmung des Denkens mit dem Gedachten beruht darauf, daß das Denken in uns nicht in dem Isolirtsein dieser seiner innersten Wurzel existirt, sondern daß in jedem wirklichen Denken auch das thätig ist in uns, was unmittelbar mit dem außer uns

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gesetzten Sein in beständiger Wechselwirkung steht, nämlich unsere O r g a n i s a t i o n , und d a ß es kein Denken giebt, wo nicht beide Enden z u s a m m e n wären, die intellectuelle und organische Seite. Wenn es ein D e n k e n gäbe, worin eines isolirt wäre, womit die organische Funktion gar nichts zu schaffen hätte, d. h. unser Sein, sofern es mit dem außer 5 uns gesetzten Sein identisch ist, ja dann hätten wir keinen G r u n d , die Z u s a m m e n s t i m m u n g anzunehmen. Schleiermacher behauptet n u n : d a ß eben das Wissen dasjenige Denken ist, welches a u f gleiche Weise 137 aus der einen wie aus der | andern Seite begriffen werden k a n n , worin also eben die O p e r a t i o n e n beider zusammentreffen und sich durchdrin- 10 gen. Dies soll vorläufig nur durch seinen Gegensatz erläutert werden. M a n denke sich die phantastischen Thätigkeiten des Denkens, die willkührlichen C o m b i n a t i o n e n im T r a u m , da k o m m e n im Bewußtsein alle diejenigen Resultate vor, die in der Wirklichkeit auf der organischen Seite des Denkens beruhen, denn im Bewußtsein ist das Bild im Traum 15 und im Wachen dasselbe, woher dies immer mit ein H a u p t p u n k t gewesen ist, wovon die Skeptiker gegen das Wissen losgegangen sind. Was ist aber der Unterschied? Der, d a ß wir im Z u s a m m e n h a n g e unseres Denkens ihrem Resultate das beilegen, d a ß andere Bilder würden entstanden sein, wenn die organische Seite nicht durch den Schlaf wäre gebunden gewesen. Auf der andern Seite nehme man eine Wahrnehmung, wo die organische Function frei ist, aber a b n o r m , in einem k r a n k h a f t e n Z u s t a n d e , so werden sich mit ihr auch Thätigkeiten der 138 innern intellectuellen Function verbinden, | und auch Vorstellungen entstehen, als wäre eine gesunde organische F u n c t i o n thätig. Aber vergleichen wir beides, so werden wir sagen müssen, jene Vorstellungen würden nicht entstanden sein, wenn die intellectuelle Function jene a b n o r m e T h ä t i g k e i t der organischen auf gleiche Weise so wie eine gesunde hätte durchdringen können. Wir wissen freilich noch nicht, o b wir es wissen k ö n n e n , wie wir von der bloßen T h ä t i g k e i t der intellectueilen Function aus zu der Vorstellung von der Mannigfaltigkeit der D i n g e k o m m e n , aber alles eigentlich wissenschaftliche Bestreben geht doch darauf hin, als von der Voraussetzung der M ö g l i c h k e i t aus, in die F o r m der intellectuellen Function eben die Resultate der äußern Wahrnehmung aufzulösen. Sehen wir nun eine Vorstellung für richtig an, so setzen wir voraus, d a ß wir sie von der intellectuellen F u n k t i o n aus eben so würden construirt haben; sehen wir sie für unrichtig an, so behaupten wir, d a ß die intellectuelle Function diese Vorstellung nie würde

15-17 Vgl. den Sachapparat zu KGA H/10, 1, S. 287, 11-13 1828, 18. Stunde)

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producirt haben. Also wenn | wir etwas ein Wissen nennen, so denken 139 wir uns auch dabei das Durchdrungensein beider Functionen. Vergleichen wir nun damit die andere Bestimmung des Wissens, so werden wir eine vollkommene Parallele finden. Wir sagten damals: das Wissen sei dasjenige Denken, was auf der Identität der denkenden Subjecte beruhe. N u n haben wir das Ahnliche gefunden, und wir sagen: vorausgesetzt die Duplicität der Thätigkeiten im Denken, das Zusammensein einer organischen und intellectuellen Function, so wird das Wissen dasjenige Denken sein, welches nicht in der Differenz, sondern in der Identität dieser beiden Functionen gegründet ist, dasjenige Denken wird es sein, welches aus beiden Functionen entstanden so angesehen werden muß, daß man sagen könnte: könnte man bloß mit der intellectuellen Thätigkeit denken, diese aber verfolgen von dem Innersten bis ins Äußerste, so würde das Denken, auf denselben Gegenstand bezogen, dasselbe gewesen sein, als wie herauskommen würde, wenn man könnte durch die organische Thätigkeit allein zu | einem Bewußtsein 140 kommen, indem man von dem Äußersten anfinge, und bis ins Innerste hineinginge. Da ist also das reine Durchdringen beider Functionen vollkommen gesetzt. Wo wir den Irrthum oder bloße Subjectivität setzen, da setzen wir das Nichtzusammenstimmen beider. N u n sehen wir auch, wie diese beiden Merkmale, obgleich im Denken gesondert, doch wesentlich Eins und dasselbe sind. Sie lösen sich vollkommen in einander auf und werden dadurch erst klar. Wo wir eine Mehrheit von denkenden Subjecten setzen, da werden wir es natürlich finden, daß nur das als gleichmäßig producirt angesehen werden kann was auf der Gleichheit der Verrichtung beruht. Auf der andern Seite setzen wir ein Durchdrungensein beider Thätigkeiten, und denken wir uns daß sie in einander aufgehen können und nicht; so wird natürlich dasjenige in allen dasselbe sein, was in beiden aufgeht, und was nicht in beiden aufgeht, wird nicht in allen dasselbe sein. | Beide Merkmale erläutern sich 141 also so, daß sie nothwendig mit einander verknüpft sind, und ihre Nothwendigkeit beruht eben auf dem, was in allen denkenden Wesen vorausgesetzt wird, auf der Einheit des denkenden Wesens in allen, und auf der Duplicität der Functionen im denkenden Wesen. - Aber dies letzte, daß es kein Denken giebt, wo nicht beide Seiten mit einander verknüpft wären, muß weiter ausgeführt werden. Großer Erklärungen bedarf es nicht über beide Verrichtungen, denn es liegt im ursprünglichen Selbstbewußtsein. Wir können es scheiden, wo das Eine ein M a x i m u m , das andere ein Minimum ist. Die eine Function ist nun die, wo die Seele durch den Leib wirkt. Dies ist die organische Thätigkeit offenbar. Kommt aber nicht das Innere zu dem Organischen, so wird kein Bewußtsein daraus. Es muß für die Bilder ein Inneres hinzukommen, was sie zusammenfaßt, und es muß für die Empfindungen

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ein Inneres h i n z u k o m m e n , was sie als Z u s t ä n d e desselben Wesens hin142 stellt. I Wir können auf der andern Seite eine Thätigkeit denken, wo wir der organischen M i t w i r k u n g uns nicht bewußt sind, die innere Betrachtung. Beide Functionen sind also klar. Aber d a ß es in der T h a t kein Denken giebt, worin nicht beides wäre ist nicht so allgemein zuge- 5 geben. W o nicht eine Thätigkeit des geistigen Prinzips in uns ist, da giebt wol niemand ein Denken zu; denn alle Erregungen von außen können weder einen Gegenstand fixiren, noch ein Selbstbewußtsein zu Stande bringen o h n e die geistige F u n c t i o n . D a s ist ganz klar, denn wir können unsere Aufmerksamkeit ganz ablenken von den äußern Einwir- 10 kungen auf die organischen Functionen und dann wird kein Gedanke daraus. Dasselbe ist es mit den Empfindungen, die ganz im Dunkel verloren bleiben k ö n n e n , wenn die geistige T h ä t i g k e i t nicht damit verbunden ist. A b e r ein anderes ist es mit dem andern, d a ß auch aus der T h ä 143 tigkeit der geistigen Seite kein Denken entsteht | wenn nicht eine orga- 15 nische T h ä t i g k e i t sich damit verbindet. Im gemeinen Bewußtsein ist klar, d a ß wir zu vielen Gedanken dasjenige, was der intellectuellen Seite angehört in uns haben, d a ß aber der G e d a n k e nicht eher wird, bis die organische Erregung in uns ist. Von allen Wesen ζ. B. haben wir wenn wir sie kennen die M e r k m a l e in uns; sie werden aber nur ein 20 D e n k e n wenn sie vor uns treten. Aber es giebt nun gar viele Formen des D e n k e n s , von welchen man denkt, d a ß sie ohne alle organische T h ä t i g keit bestehen k ö n n e n . Es wäre hier freilich eine unendliche D e m o n s t r a tion zu geben; das geht aber nicht, also sind nur die H a u p t p u n k t e zu geben, woran die Vorstellung sich geheftet hat, d a ß es ein Denken gebe 25 wo die organische Seite nicht mit thätig ist. Unsere allgemeinen Begriffe, die realen, erscheinen uns als reine Produkte der intellectuellen T h ä t i g k e i t , denn wenn ich auch alle einzelnen D i n g e gesehen habe, so 144 hat dies Sehen an der Bildung | des allgemeinen Begriffs keinen Antheil, da es uns bloß das einzelne D i n g bringt. Aber die allgemeinen Begriffe 30 sind nicht, als in wiefern sie wirkliche Bilder sind. D a s ist ihre sinnliche Seite, und so können sie auch nur wirkliche Gestalten sein, wenn an ihnen die organischen Thätigkeiten heften, denn in allen allgemeinen Begriffen bringe ich die Gestaltung hervor in der alle einzelnen Dinge der Art Eins sind. In dem M a a ß als die allgemeinen Begriffe nicht sol- 35 che wirkliche Gestaltungen sind, sind sie auch kein wirkliches Denken. Dieser sinnliche C h a r a c t e r k a n n aber nicht aus der intellectuellen Function hervorgegangen sein, sondern aus der organischen. D a ß eine F u n c t i o n die andere hervorrufen kann ist ihre Identität. Es ist allerdings wahr, d a ß die allgemeinen Begriffe oft nicht als lebendige Gedan- 40 ken vorkommen und das geschieht immer, wenn sie unter der F o r m des bloß Abstracten vorkommen, wo denn freilich die organische Seite in den Hintergrund tritt, aber sobald der G e d a n k e nicht bloß | todte ab-

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stracte Form ist, sondern lebendig und wirkliches Bild, so ist immer die 145 organische Seite mit gesetzt. M a n könnte sagen, daß jeder die meisten allgemeinen Begriffe die er hat, nicht selbst producirt hat, sondern traditionell überkommen. Allein dies ist keine Widerlegung; denn als er sie auf traditionelle "Weise überkam, so hätten sie sich gar nicht fixiren können, wenn er nicht auf die allgemeinen Wahrnehmungen, in denen er sich nun der sinnlichen Thätigkeit und Anschauung bewußt wird zurückgegangen wäre. Also ist es ganz allgemein aufzustellen: in den realen allgemeinen Begriffen hat immer, wie wir zugeben, daß sie der intellectuellen Function angehören, doch die organische auch ihr Theil. Dasselbe ist beim formellen Denken. Auch da ist kein wirklich anschauliches Denken, wenn nicht die organische Seite hinzugekommen ist. Formelle Begriffe sind solche, welche nur die Stelle bezeichnen, wie etwas im Acte des Denkens stehe, | die Begriffe von Subject, Ob- 146 ject, Prädicat, u. s. w. : Begriff, Urtheil u. s. w. Wir wollen ζ. B. die Begriffe von Subject und Object auffassen. Der Gegensatz zwischen beiden ist der des Gedachten und des Denkenden. Dieser hat freilich in der sinnlichen Seite der denkenden Thätigkeit seine Wurzel nicht, denn in der sinnlichen Thätigkeit ist Subject und Object immer Eins. Aber wenn wir fragen: was ist im allgemeinen Begriff des Subjects gesetzt, so ist darin das Zusammenfassen aller der Thätigkeiten, die im Bewußtsein vorkommen, und namentlich weil das Subject gesetzt werden soll in der Verschiedenheit der Momente als identisch, so ist grade im Begriff des Subjects gesetzt das Bewußtsein vom Wechsel der M o m e n t e im Begriff des Daseins. Der Begriff des Subjects ist das Zusammenfassen dieser Momente abgesehen von ihrem Inhalte. Im Begriff des Objects ist uns gegeben die Einwirkung auf unsere organische Thätigkeit. Der Begriff des | Objects ist also die Erinnerung der Empfänglich- 147 keit unserer Organisation auf einen bestimmten Punkt bezogen. Der Begriff des Subjects ist das Zusammenfassen der Spontaneität in der Production, der Begriff des Objects ist das Zusammenfassen der Receptivität in der Production. Die organische Seite haftet also doch daran. Gehen wir noch weiter betrachten wir die bloßen Formen des Denkens. M a n hat schon immer als das allerallgemeinste Schema dieser Form die Formel a = a aufgestellt. Der Inhalt ist hier ein unendlich Kleines. Was ist diese Position? Wir müssen hier wieder unterscheiden einen lebendigen Gebrauch der wirkliches Denken ist, und einen symbolischen der bloß etwas bezeichnet. Dieser ist offenbar von jenem

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abgeleitet. Wir betrachten hier ein lebendiges D e n k e n . Die Formel a = a in ihrem lebendigen Inhalte ist entweder die Identität des O b j e c t s oder die des Subjects in ihren verschiedenen M o m e n t e n , etwas drittes k a n n sie gar nicht sein. H a b e ich nämlich von einem Gegenstande 148 etwas ausgesagt, und ich | will etwas zweites von ihm sagen, so schiebt 5 sich in mein Bewußtsein die Vorstellung ein, d a ß der Gegenstand noch derselbe ist; das ist der Satz a = a. D a s k o m m t nun aber ganz auf das vorher Auseinandergesetzte hinaus, und es versirt also die Position hier ganz in unserer organischen T h ä t i g k e i t . O d e r zweitens die Formel ist die Identität des Subjects in den verschiedenen M o m e n t e n des Den- 10 kens; denn auf diese Weise entsteht, was wir E r f a h r u n g nennen, es wird eine E r f a h r u n g an die andere gereiht; dazwischen schiebt sich aber das Bewußtsein ein von der Identität des Subjects, und dies beruht auch auf dem Verkehr unseres Seins mit dem außer uns Gesetzten, und also auf der organischen F u n c t i o n . Wir steigen noch weiter hinauf. A m 15 weitesten entfernt von der organischen F u n c t i o n im Denken ist der Begriff des Dinges, weil der das schlechthin Allgemeinste ist. Aber das D i n g ist auch nur das für uns was als Substrat gesetzt wird in dem Ver149 kehr unseres b e w e g l i c h e n Seins mit dem außer uns Gesetzten, dem wir eine Beharrlichkeit beilegen, in Beziehung auf die Afficirbarkeit und 20 Beweglichkeit unseres eigenen Seins. Es liegt also das Schema zum G r u n d e , d a ß in diesem Spiel zwischen unserem Sein und dem außer uns gesetzten, das außer uns gesetzte als ein getheiltes, und in der Getheiltheit beharrliches gesetzt wird. D a s ist aber gar nicht zu denken, ohne die Erregung der O r g a n e dabei gegenwärtig zu haben, also 25 auch zu reproduciren. Weiter aber können wir nicht k o m m e n . Z w e i Grenzen können wir noch stellen. Wir fragen: was k a n n denn h e r a u s k o m m e n , wenn wir die organische Seite völlig negiren oder die intellectuelle Seite? Was das erste betrifft so ist es klar. Wir werden uns keiner T h ä t i g k e i t bewußt 30 sein, wo alle organische Thätigkeit negirt wäre, als in dem Gedanken des höchsten Wesens. Aber fragen wir: können wir denn den Gedanken der G o t t h e i t so vollziehen wie einen jeden andern, so müssen wir das 150 leugnen. | E r ist in uns nicht als einzelner G e d a n k e , sondern bloß als G r u n d der R i c h t u n g des Denkens. Eine ähnliche Grenze ist auf der 35 andern Seite. Was können wir noch denken, wenn wir unsere intellectuelle T h ä t i g k e i t ganz ruhen lassen? Unsere organische Seite mag noch so thätig sein wir können damit allein nichts fixiren. Es bleibt nun bloß das C h a o s übrig. D a s können wir aber auch nicht durch die bloße organische T h ä t i g k e i t vollziehen. Es giebt vielleicht in der Entwicke- 40 lung des M e n s c h e n einen Punkt, wo alles noch ein C h a o s ist, aber da vollzieht er auch kein Denken. Sobald ein wirkliches Denken da ist, ein Z u s a m m e n s e i n beider Functionen, so kann das C h a o s , die bloße unbe-

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stimmte Mannigfaltigkeit nicht mehr vorkommen. Höchstens bleibt nur die Annäherung an das Chaotische im Zustande zwischen Wachen und Schlaf, aber die wirkliche Ergreifung des Chaotischen ist so wenig möglich durch die Zuruhesetzung der intellectuellen Function, als die Ergreifung der Idee der Gottheit möglich ist durch die Zuruhesetzung der organischen Function. | Will man das erste, so kommt man ganz 151 ins Bewußtlose, will man das zweite, so kommt man darauf, daß man sagt die Gottheit sei das Nichts. So sehen wir denn, daß alles wirkliche Denken im unmittelbaren Zusammensein beider Thätigkeiten, der organischen und der intellectuellen eingeschlossen ist. - Hieraus können wir eine unmittelbare Folgerung ziehen. Wir werden uns drei verschiedene Formen vorstellen können, die das auf das Wissen ausgehende Bewußtsein haben kann: beide Thätigkeiten können sein im völligen Gleichgewicht, oder in einem Übergewicht der einen oder der andern. Das Übergewicht der organischen Thätigkeit giebt diejenigen Resultate, die wir Wahrnehmung nennen, da finden wir uns unter der Gewalt der organischen Functionen. Das entgegengesetzte Übergewicht giebt diejenigen Resultate, die wir durch den Ausdruck des Denkens im engern Sinne des Wortes bezeichnen, denn dahin rechnen wir alles bloß Innere, wozu keine organische Erregung in demselben Moment statt findet. | Die 152 organische Thätigkeit ist zwar dabei, aber nur durch die innere Thätigkeit hervorgerufen. Wo das Gleichgewicht beider ist, kommen die Resultate heraus die wir im engern Sinne Anschauungen nennen. Eine Wahrnehmung wird eine Anschauung, wenn man das Wahrgenommene zugleich denkt in allen seinen Verhältnissen zum Übrigen. Zur Anschauung kann man auch vom innern Denken aus kommen, wenn die Wahrnehmung dazu kommt. Diese vollkommenste mittlere Form haben wir aber immer nur aus der Approximation beider Formen, entweder das Denken wird Anschauung oder die Wahrnehmung, und so wie das absolute Gleichgewicht nirgends gegeben ist, so wird jede Anschauung bald mehr nach der einen Seite bald mehr nach der andern hinliegen. Angenommen nun diese drei Formen des Bewußtseins, und daß jede aus den Thätigkeiten beider Thätigkeiten zusammengesetzt ist, was giebt denn jede dazu her? Wir müssen auf der einen Seite uns diese verschiedenen Formen des wirklichen Bewußtseins | gegenwärtig 153 halten, und von der andern Seite von jenen Grenzen ausgehen, wo das wirkliche Denken aufhört. Angenommen es wäre möglich, daß das reine Chaos einmal in uns gesetzt wäre, was würde durch die Verrichtung der intellectuellen Thätigkeit hinzukommen? und dann angenommen, wir wollten die Gottheit denken, und könnten das nun nicht, ohne daß die sinnliche Seite der Thätigkeit hinzukomme, was würde dann diese dazu hergeben? Haben wir diese Fragen beantwortet, so

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werden wir wissen, was jede Thätigkeit bei jedem D e n k e n hergiebt. Z u r Lösung der Frage dürfen wir uns nur an den beiden E x t r e m e n b e o b a c h t e n , und dann sehen was uns fehle, und was durch die andere T h ä t i g k e i t hinzukommt. Betrachten wir uns in dem Denken des Dinges, d. h. in der höchsten A b s t r a c t i o n , oder in dem Denken die Idee des 5 höchsten Wesens als Gedanke in uns zu Stande zu bringen, so werden wir finden daß dieser Z u s t a n d , je reiner wir ihn halten wollen, desto mehr in eine dumpfe Leblosigkeit ausgeht. Es ist ein bloßer Ansatz zum Denken der F o r m nach, der aber nicht zum wirklichen Denken kom154 men k a n n . | Denken wir uns nun die organische Seite hinzutreten, d. h. wenn wir das Ding beleben durch die Reproduction der organischen T h ä t i g k e i t , dann wird die dumpfe Gedankenlosigkeit belebt, der abstráete Begriff erhält seine Füllung. Auf der andern Seite denken wir uns in Analogie mit dem Z u s t a n d e , wo wir nur ein C h a o s sind, so fehlt es da an Lebendigkeit nicht, die unbestimmte Mannigfaltigkeit kann sehr auf uns einwirken, aber es wäre doch ein ganz unklarer Z u s t a n d . K o m m t die intellectuelle T h ä t i g k e i t hinzu, so sondert sich die unbestimmte Mannigfaltigkeit in Vielheit und Einheit verbunden. Die vernünftige T h ä t i g k e i t bringt nun die Bestimmtheit hervor, die organische T h ä t i g k e i t bringt die Lebendigkeit hervor. Die letztere ohne die erstere k a n n nur das C h a o s hervorbringen. Die erstere ohne die letztere giebt b l o ß die todte F o r m des Denkens, die desto mehr in der Bewußtlosigkeit ruht, j e m e h r die organische T h ä t i g k e i t nicht dabei ist. W i r werden also sagen können, daß durch die eine Verrichtung, durch die Vernunft allemal ein D e n k e n wird, durch die Verrichtung der organischen Seite aber das bloß Denkenwollen ein wirkliches Denken wird. So können

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155 wir denn noch einmal | auf die drei Formen des Denkens, die aus der Z u s a m m e n s e t z u n g dieser beiden Richtungen entstehen, zurückgehen, und sagen: je größer die organische T h ä t i g k e i t im W a h r n e h m e n ist desto lebendiger ist es, j e m e h r dabei die vernünftige Thätigkeit fehlt, 30 desto unbestimmter ist es. E b e n so im D e n k e n , jemehr die Vernunftthätigkeit vorherrscht, desto fester bestimmt ist das Denken. In der eigentlichen Anschauung soll beides auf das genaueste in einander aufgehen. Alle Fülle der organischen Thätigkeit soll die höchste Bestimmtheit haben, und alles was darin bestimmt ist soll die höchste Lebendigkeit 35 haben durch die sinnliche T h ä t i g k e i t . Diese mittlere F o r m ist nun die vollkommenste, aber da sie nur aus der Annäherung beider besteht, würden wir sehr irren, wenn wir sagen wollten: die Anschauung sei allein Wissen, und in ihr sei kein Irrthum mehr. Wenn nicht zusammengebracht ist was z u s a m m e n g e h ö r t , so ist der Irrthum d a ; und eben so 40 kann ein Denken im engern Sinn wo die Vernunftthätigkeit vorherrscht das vollkommenste Element des Wissens sein; und eben so auch in der W a h r n e h m u n g . Alle drei Formen lassen also gleichmäßig das Wissen

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zu und auch den I r r t h u m , | nur d a ß in denjenigen, welche a m E n d e lie- 156 gen eine bestimmtere M ö g l i c h k e i t des I r r t h u m s angelegt ist, in derjenigen aber, die in der M i t t e ist der Irrthum eben in der A p p r o x i m a t i o n beider angelegt ist. Hieraus können wir eine sehr bedeutende Folgerung entwickeln wenn wir es verbinden mit dem früher G e s a g t e n : Es ist nämlich gesagt: das Wissen ist dasjenige D e n k e n , das in der Identität der denkenden Subjecte gegründet ist. Wenn wir nun sagen, d a ß das Wissen in allen gleichmäßig soll vollzogen werden können und wir theilen das D e n k e n in jene beiden T h ä t i g k e i t e n , woraus es zusammengesetzt ist, so wird es ganz gleichgültig sein, o b ich in dem einen oder dem andern T h e i l substituiré, d. h. die organische T h ä t i g k e i t des Einen k a n n der organischen Thätigkeit eines andern substituirt werden. D e r eine k a n n die intellectuelle Seite hergeben, wozu der andere die organische hergegeben h a t , und es m u ß daraus ein Wissen hervorgehen; und ebenso die intellectuelle Thätigkeit kann substituirt werden der des andern, sich mit der organischen | T h ä t i g k e i t desselben verbinden, und es m u ß ebenfalls ein 157 Wissen daraus hervorgehen. Diese Formel heißt soviel: denken wir uns ein Wissen als möglich und jeden Act zusammengesetzt aus einer Vernunftthätigkeit und einer sinnlichen T h ä t i g k e i t , und denken wir das Wissen als in der M e h r h e i t der denkenden S u b j e c t e , so müssen die sinnlichen Thätigkeiten aller jedem angehören, und sich anfügen an die Resultate, welche seine intellectuelle Seite giebt; und so umgekehrt. Es ist klar, beides m u ß mit einander stehen und fallen: die M ö g l i c h k e i t des Wissens in einer M e h r h e i t von Subjecten und die M ö g l i c h k e i t jener Substitution, denn beides ist in der T h a t Eines und dasselbe. H i e r haben wir nun wieder einen bestimmten Unterschied des Wissens vom Irrthum, denn im Irrthum setzen wir es nicht. Sage ich einer hat sich geirrt, so heißt das nach dem Bisherigen: wenn ich das, was in seiner organischen T h ä t i g k e i t gemeinsam ist, der Vernunftthätigkeit eines andern gebe, so wäre ein anderes Resultat h e r a u s g e k o m m e n und eben so umgekehrt. In beiden Thätigkeiten zugleich setzen wir nicht den Irrthum, sondern nur in einer, wir setzen das Unrechte nur in der Verbindung; I setzen wir es in beiden, so finden wir mehr als I r r t h u m 158 darin, ein Prinzip von Verkehrtheit, und das ist i m m e r mehr oder minder ein A n a l o g o n des Wahnsinns.

Eine ähnliche Folgerung geht aus dem zweiten M e r k m a l sens hervor, d a ß es nämlich sei das Denken was mit dem Sein stimmt; und es war gesagt: vorausgesetzt eine M e h r h e i t von 40 nen im D e n k e n , so sei das Wissen das D e n k e n , das aus der

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denjenigen,] derjenigen,

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dieser Functionen hervorginge. Nun also folgt: das Gedachte in dem einen kann zu einem Wahrgenommenen in einem andern gehören, und beides nur Ein Wissen bilden, und umgekehrt. Es ist oft der Fall, daß das Denken eines Einzigen unvollkommen ist, aber in dem Denken eines andern sein Complement findet, so daß diese Denkacte in einan- 5 der greifen und Einem Wissen sich ergänzen. Wir sagten, daß eine bestimmte Möglichkeit des Irrthums in jeder der drei Denkformen gesetzt ist; dies nun findet seine Correction nur, wo das Übergewicht der Function gesetzt ist die vorher zurücktrat. Wenn wir die Geschichte unseres eigenen Bewußtseins an diese drei Formen des Denkens halten, 10 159 so ist das Meiste auf die eine Seite hingeneigt, und wir | werden in dem Einzelnen immer mehr Wahrnehmung oder mehr Betrachtung, weniger Anschauung, finden. Wird das ein Wissen sein, was in dem zusammengenommenen Resultat derer, die nur wahrnehmend sind, oder nur in der Betrachtung, vorkommt? Wir können nur sagen: es wird viel Wis- 15 sen darin sein, es wird aber auch beständig die Neigung zur Einseitigkeit, die zum Irrthum oft ausschlägt, darin sein. Der Eine Irrthum findet seine Correction in dem Gegenüberstehenden; in dem Zusammenfassen beider, wird also der eigentliche Sieg des Wissens sein. Dies Zusammenfassen und diese Ergänzung ist aber nicht im Einzelnen, 20 nicht Er hat es allein in seiner Gewalt, weil er mit seinem ganzen Sein auf der einen oder der andern Seite steht, und nur wenige mehr auf der unmittelbaren Mitte auf der Anschauung stehen. Wir haben also eine zwiefache Substitution der Personen im Werden des Wissens: die eine ist solche, wodurch sie sich gegenseitig unter- 25 stützen; es kann hier nicht Einer alles wahrnehmen, und er empfängt nun den Mangel seiner organischen Thätigkeit von anderen her, aus beiden Thätigkeiten entsteht dann das Wissen; die andere ist eine sol160 che I Substitution, wodurch sie sich gegenseitig corrigiren, indem die Einseitigkeit des einen, die einseitige Richtung und Neigung aufgeho- 30 ben wird durch die andere. Nehmen wir dieses wiederum zusammen, so liegt darin dieses: mit der Idee des Wissens ist nothwendig gesetzt eine Gemeinsamkeit der Erfahrung und eine Gemeinsamkeit der Principien in allen vermöge der Identität der Vernunft und der Organisation in allen. Diese Voraussetzung ist nothwendige Bedingung jener 35 Gemeinsamkeit der Erfahrung und der Principien. Wir sehen nun auf die entgegengesetzte Seite. Wir haben gesagt: es giebt einen nothwendigen Glauben an das Wissen, vermöge dessen der positive Skepticismus uns nichts anhaben kann, und wir haben das Recht dies Wissen festzuhalten, wenn auch kein Act des Denkens bei- 40 den Merkmalen genau entspräche. In dieser Voraussetzung liegt ein Wissen, daß es ein constantes Hinderniß geben muß, weßhalb kein Act des Denkens beiden Merkmalen genau enstpräche. Wir richten hier

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unsere Aufmerksamkeit nur auf das gleichmäßige Vollziehen das Denkens von allen, und auf das Hinderniß, was obwaltet, daß eine | Substitution nirgends vollkommen statt finden kann. Wir hatten schon gesagt, es gäbe ein Uberzeugungsgefühl im Denken, aber ohne Anspruch, daß es von allen gleich vollzogen werden solle. Wir führten die Geschmacksurtheile an und die M a x i m e n des Handelns. Diese beiden werden kein Wissen. Aber ist nun in beiden Acten des Bewußtseins auch eine solche Combination jener beiden Seiten? Ist ein Geschmacksurtheil etwas Organisches und Intellectuelles? Allerdings, keiner wird das leugnen. In Beziehung auf die M a x i m e n des Handelns, so kann sich hier leicht jeder beider Seiten des Denkens darin bewußt werden. Die intellectuelle Function ist der Natur der Sache nach darin: aber auch das Organische ist darin, denn so oft eine M a x i m e ein wirkliches Denken ist, so ist Wohlgefallen im Voraus oder Mißfallen an dem, was mit der M a x i m e stimmt oder nicht, und das ist ja ein organisches Element. Weil es nun verschiedene Geschmacksurtheile giebt und M a x i men des Handelns, so ist also in der organischen und intellectuellen Thätigkeit etwas, was nicht in allen dasselbe ist, und dies Differente ist also in beiden Functionen gesetzt. Ist aber das Differente so in beiden isolirt, daß es auf | dasjenige Denken, das auf dem Gebiet des Wissens liegt, gar keinen Einfluß hat? Das wird niemand behaupten, sondern ist einmal eine Differenz in der organischen und in der intellectuellen Thätigkeit des Menschen, so wird sie auch überall ihren Einfluß haben, und alle Acte des Denkens werden von dieser Differenz tingirt sein. Wir könnten immer nur voraussetzen, daß die Ubereinstimmung vorherrschend wird. Die Differenz ist auch verschieden. Einige stehen sich näher andere ferner. Wir können also sagen: Es giebt in der Realität keine solche Einheit des Wissens, daß überall dem Organischen der einen das Intellectuelle der andern könnte substituirt werden, sondern die Einheit ist nur in der Mannigfaltigkeit concentrischer Sphären. Die Idee des Wissens ist dazu da, diese immer mehr anzunähern, und auf der andern Seite die Differenz immer mehr zur Anschauung zu bringen. Hier sehen wir wol, wie die Aufgabe Regeln für die Constituirung des Wissens zu finden, auch nicht so allgemein gelöst werden kann, sondern jede Lösung | wird auch nur für eine gewisse Masse von M e n schen recht gültig sein, und so wird es auch eine Mannigfaltigkeit der Lösungen geben für verschiedene Völker, Zeiten u. s. w. Der Vorzug ist daß wir uns dessen gleich sind bewußt worden was vielleicht nicht geschehen wäre, wenn wir nicht ausgegangen wären von der Seite eine Kunstlehre für die Constituirung des Wissens aufzustellen. — Wie sind wir hiezu gekommen? Bewiesen haben wir es nicht, sondern wir haben es nur nachgewiesen, wie es uns komme in demselben Bewußtsein, wie uns die Idee des Wissens komme, die immer nur mit dem Glauben in

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uns ist, daß sich die Probe in Absicht auf die Vollziehung des Denkens nie vollkommen machen lasse. In wiefern die Voraussetzung der Identität die Voraussetzung der Idee des Wissens ist, so giebt es nichts im Gebiet des Denkens, worauf nicht der Anspruch des Wissens gemacht wäre. Hier drängt sich uns von selbst eine Frage auf. Wir suchen Regeln, wonach wir zu verfahren haben, wenn wir im Denken ein Wissen produciren wollen, und wir wissen bis jetzt keine andere Probe, die Richtigkeit derselben abzuschätzen als jene beiden Merkmale des Wissens: daß es von allen gleich vollzogen werden, und dem Sein entsprechen soll. I Das erste scheint aber als Probe untauglich, weil wir es nicht ganz durchmachen können, weil wir nicht jeden Einzelnen herausheben können, und an ihm prüfen, ob er das Denken, das nun als ein Wissen gelten soll, eben so vollzieht wie wir. Allein betrachtet man die Probe als eine solche, die nur einen bestimmten Grad der Wahrscheinlichkeit hat, so können wir uns begnügen, wenn wir nur aus allen einander gegenüber liegenden Classen der denkenden Einzelne herausgreifen, und mit ihnen diese Probe machen können ein Wissen zu vollbringen. Es fragt sich nun: wie die Differenz, die wir neben der Identität voraussetzen, sich organisire? Wenn wir die Voraussetzungen der Identität und der Differenz der zum Denken gehörenden Functionen verknüpfen, so kommt heraus: daß es nicht ein völlig gemeinsames Gebiet des Denkens für alle gebe, sondern mehrere, jenachdem die Differenz größer oder kleiner sei. Dies ist aber | an und für sich ganz unbestimmt, und es drängt sich uns die natürliche Frage auf: ob sich dies nicht auf eine natürliche Weise abgrenze? Allein dies ist eine Frage, die sich nur aus der Geschichte und Erfahrung beantworten läßt, und wir werden sie daher nur beantworten können, aus den Erfahrungen die mit der Operation des Denkens verbunden sind. Unsere Voraussetzung der Mehrheit der denkenden Subjecte haben wir an die Mittheilung geknüpft, an die Sprache; die Identität der Gedanken nämlich ist bedingt durch die Identität der Sprache. Diese macht nun die natürlichste Abgrenzung. Diejenigen, welche eine Sprache reden, werden wir ansehen als solche die eine Identität haben, denn die Sprache ist eben aus dem allgemeinen Denken entstanden. Es ist eine bestimmte Eigenthümlichkeit, welche diejenigen, welche dieselbe Sprache reden mit einander gemein haben, und es giebt daher hier ein Gebiet der Mittheilung, das für die, die eine andere Sprache reden nicht mehr statt findet. Das Gebiet also was uns | eigentlich angewiesen ist, mit dem Denken eine Probe zu machen, ob es ein Wissen sei, ist uns nur für unsere Sprache angewiesen. Eben so ist die Rede davon, daß das Wissen auf eine objective Weise in ein Ganzes organisirt werden soll, und wir fragen: was in dieser Beziehung geschieht durch die Gemeinsamkeit der Erfahrung und der Principien, so ist auch hier das Sprachgebiet das, worauf

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der Prozeß zuerst angestellt werden muß. Hier haben wir also zuerst ein ostensibles M a x i m u m , über welches hinaus wir keine Identität des Denkens zu suchen haben. Was ist nun das Minimum? Die Verwandschaft der Erzeugung. Hier muß eine Identität des Denkverfahrens, von den ersten Regungen des Bewußtseins an eingeleitet werden, von der man nicht sagen kann, ob sie eine gemeingültige, oder bloß für diese enge Gemeinschaft geltende sei. Wenn aber nur solche, so eng zusammenhängende übereinstimmen, so macht | das ein Denken noch nicht zu einem Wissen. Wenn 167 wir nun in Beziehung auf die künftige Anwendung der zu suchenden Regeln die Probe machen wollen, ob ein Denken ein Wissen ist oder nicht, so wäre es thöricht, wenn wir damit über die Grenzen des Sprachgebiets hinausgehen wollten. Wir haben auch kein Mittel über diese Grenze hinauszugehen, weil es nicht möglich ist, die verschiedenen Sprachelemente genau aufzulösen. Aber eben so würden wir Unrecht thun, wenn wir die Probe nur bei solchen anstellen wollten, die mit uns in jener engen Verwandschaft stehen, weil hier die Übereinstimmung bloß eine auf Gewohnheit und Verwandschaft beruhende sein kann. Gehen wir davon aus, daß die Identität der Sprache, als auf eine gewisse Masse von Menschen beschränkt, verräth, daß überall im Denken eine gemeinsame Differenz sei, so müssen wir gestehen, daß die Differenz im Denken in alle demjenigen statt findet, | was in der Spra- 168 che niedergelegt ist. Es ist freilich eine sehr allgemeine Meinung, daß, ungeachtet jede Sprache ein Eigenthümliches sei, dennoch die einzelnen Momente in einander aufgingen, und nur auf äußere Weise, durch das Wort selbst verschieden seien; nicht auf innere Weise in Beziehung auf die Bedeutung. Aber dies ist gewiß falsch, es ließe sich dann nichts denken worin eine Differenz der Sprachen gegründet sein sollte. Höchstens kann man sagen: es giebt Momente in verschiedenen Sprachen, die leichter in einander aufgehen, und andere die schwerer; aber eben deßwegen kann man nie nachweisen, daß die Differenz ganz verschwunden sei. Es ist allerdings das Bestreben in der Idee des objectiven Wissens, den Einfluß der Differenz der Sprachen im Wissen verschwinden zu machen, und es ist hierauf in der Construction des Wissens die höchste M ü h e verwandt worden. M ä n n e r haben die Idee einer | allge- 169 meinen Sprache aufgefaßt für das Gebiet des Wissens. Dies ist nie gelungen. Lange hat man sich M ü h e gegeben, eine gemeinsame Sprache auf dem Gebiet des Wissens festzuhalten, wie im Abendlande die lateinische Sprache. Es liegt nun hierin allerdings etwas Richtiges, das sich nicht verwerfen läßt, denn wenn ζ. B. die Naturkörper mit Ausdrücken einer gemeinsamen gelehrten Sprache bezeichnet werden, so werden die damit verbundenen Begriffe dieselben sein. Die Idee ist also

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eigentlich auch nie aufzugeben, allein wir sind uns doch sehr wohl der Grenzen bewußt, in denen dies zulässig ist. Auf der andern Seite ist aber nicht zu verkennen, daß, wenn es im Gebiet des Wissens eine solche gemeinsame Sprache gäbe, worin das Denken sich bewegte, der Einfluß der Wissenden auf die Nichtwissenden ihres Volkes abnimmt, weil sie sich relativ durch jene gemeinsame Sprache von ihnen trennen. M a n darf also jene Tendenz nicht einseitig verfolgen, sondern das Wis170 sen muß nach beiden Seiten hingehen, | es soll soweit wie möglich ausgedehnt werden über alle Völker, und auf das eigene Volk soviel als möglich wirken. Auf dem Gebiet des realen Wissens ist man hierüber einig, aber in Beziehung auf das mathematische und philosophische Wissen ist dies nicht der Fall. Das mathematische Wissen bedarf so gut als gar nicht der Sprache, sondern kann sich mit allgemeinen Zeichen behelfen. Aber dessen ungeachtet ist die Differenz des Denkens auch in der M a t h e m a t i k . Wenn wir freilich bei den ganz gemeinen Elementen stehen bleiben, wo alles in der Anschauung der Figur gegeben werden kann, da können wir die Differenz nicht finden. Aber die Sache im Großen angesehen, so müssen wir sagen: die mathematische Methode der Alten und die der Neuern und die der orientalischen Völker sind ganz verschieden. Die Resultate sind dieselben. Aber das Wissen ist 171 nicht in den Resultaten sondern im Vollziehen. | J a noch mehr, das mathematische Wissen ist vorzüglich in der Combination, und diese hat an und für sich gar nicht den Character des Apodictischen, den nachher das Resultat hat, sondern sie ist ein Genialisches, ein Erfundenes. In der M a t h e m a t i k wird alles erfunden, und es ist die eigenthümlieh organisirte Vernunft des einzelnen Menschen, die erfindet, nicht das allen Menschen in der Vernunft Gemeinsame. Was nun die reine Philosophie anbetrifft, so finden wir hier sehr stark die Ansprüche auf Allgemeingültigkeit. Aber durch die T h a t sind sie nicht bestätigt worden, denn es ist noch keine allgemeingültige Phi172 losophie zu Stande gekommen, und wir müssen sagen: | das Transcendenteste, die Idee des Absoluten, die in allen dieselbe scheint sein zu müssen, wir mögen sie nehmen unter welcher Form wir wollen, unter der mehr metaphysischen, oder mehr nach der sittlichen Seite, oder mehr nach der naturwissenschaftlichen Seite sich neigend, wie sehr ist hier das Meiste Product der individuellen Phantasie. Sobald wir Versuche sehen das höchste Wesen zu denken, sobald sehen wir Differenzen. Aber hinter der Differenz setzen wir doch die allgemeine Identität nothwendig voraus, und halten an dieser die Reinheit des Wissens fest, und sind uns auch dieses Bestrebens in seiner Gültigkeit bewußt die Identität immer mehr zum klaren Bewußtsein zu bringen. - | 173

Nachdem wir so eine neue Uberzeugung von den Grenzen unseres Gebietes gewonnen haben, gehen wir in die Sache selbst hinein. Es gab

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drei Formen unter denen wir ein Wissen haben können: die Anschauung, die Wahrnehmung und das Denken im engern Sinne. Wenn in allen diesen ein Wissen sein kann und zwar ohne Unterschied der Gegenstände, so folgt daraus: wenn ein Wissen dasjenige Denken ist, das mit dem Sein übereinstimmt, daß dieselbe Übereinstimmung mit dem Sein gesetzt sein kann in dem Resultat der intellectuellen und der organischen Thätigkeit. Wenn die Übereinstimmung mit dem Sein an einer von beiden ausschließend haftete, so müßte sie, haftend an der intellectuellen, größer sein im Denken als im Wahrnehmen, haftend an der organischen, | größer sein im Wahrnehmen als im Denken, und es 174 könnte nicht ein Wissen sein auf gleiche Weise. Käme beides in seiner Annäherung zur Anschauung, so würde in dem einen Falle das Wahrnehmen, im andern das Denken mehr fehlen, und die Anschauung käme gar nicht zu Stande sie wäre gerade die unvollkommenste Form. Wenn wir trennen wollen, aber freilich nur in Gedanken, was im Denken der organischen und der intellectuellen Function zukommt, so ist in der organischen Thätigkeit für sich nichts gesetzt als eine Wirksamkeit des außer uns gesetzten Seins auf unsere Organe. Wenn also dieselbe Uebereinstimmung mit dem Sein ist in beiden Funktionen, so wird das Sein auch wirklich repräsentirt in der Wirksamkeit auf unsere Organe, und so ist darin dasselbe gesetzt als was in den Resultaten unserer intellectuellen Thätigkeit gesetzt ist. Daraus folgt, daß das Reale im Raum wirksame wovon alle Erregung der Organe abhängt, und das Ideale, die Art wie auf | geistige Weise die intellectuelle Thä- 175 tigkeit wirksam ist, daß beides völlig in einander aufgeht, indem in der Vereinigung beider im Denken auf gleiche Weise durch beides die Übereinstimmung mit dem Sein gesetzt ist. - Es ist ein völliger Parallelismus zwischen der Totalität alles dessen was uns als seiend gegeben, und der Totalität der intellectuellen Production. Dies ist nun der Gegensatz den wir mit dem Namen des Idealen und Realen bezeichnen. Mit derselben Gewißheit also, als in uns die Idee des Wissens ist, folgern wir, daß das Ideale und Reale völlig in einander aufgehen, und zwei verschiedene Arten und Weisen des Seins selbst sind, und daß dasselbe ist, das von außen auf uns Wirkende, und das von innen heraus sich Gestaltende. In dem Ineinanderaufgehen beider besteht die Realität unseres eigenen Daseins, und von der Überzeugung der Identität beider hängt die Würde und Stellung unseres Bewußtseins ab. Dies ist der höchste Punkt der Gewißheit zu welchem wir von dieser Seite kommen müssen, uns diesen Gegensatz zu setzen als den höchsten, aber in dessen | Gliedern 176 wir auch ein völliges Gleichgesetztsein annehmen müssen, weil sonst

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alles Wissen und alles geistige Leben uns vollkommen verschwindet. Wenn es aber dennoch vorkommt, daß diese Uberzeugung geleugnet wird, so müssen wir sehen, worauf die Möglichkeit des Leugnens beruht, und wie wir uns auch mit dem Leugnenden identisch setzen können, weil sie ja zu der Mehrheit der denkenden Subjecte gehören, von 5 welcher Voraussetzung wir ausgegangen sind. Es ist vorher gesagt: da das Wissen, als ein mit dem Sein übereinstimmendes Denken, eben sowohl unter der Form des Wahrnehmens besteht, als unter der Form des Denkens im engern Sinne, so ist die intellectuelle Thätigkeit sowohl als die organische, der Repräsentant des Seins, und wir müssen sagen, 10 daß dies in einen großen Gegensatz auf eine zwiefache Weise gesetzt 177 ist, so daß eins | dem andern entspricht, das Ideale dem Realen und umgekehrt. Dies soll noch auf eine andere Weise erläutert werden. Es sei in unserm Bewußtsein einiges ein Wahrnehmen, welches als ein Wissen gesetzt wird. In jeder Wahrnehmung ist die Affection der Or- 15 gane das Uberwiegende, sie wird aber erst ein Bewußtsein dadurch, daß die intellectuelle Thätigkeit das Mannigfaltige der Wahrnehmung zusammenfaßt. Hier ist nun die organische Thätigkeit das Maximum. Das heißt aber nur, es ist das Maximum der Lebendigkeit, und die intellectuelle Thätigkeit dasjenige, was unser Bewußtsein weniger 20 lebendig afficirt, aber dem Umfange nach ist sie nicht geringer sondern gleich. Wenn wir eine Wahrnehmung eines einzelnen Gegenstandes set178 zen, so gehört er unter eine Gattung und Art. | Was die intellectuelle Thätigkeit zur einzelnen Wahrnehmung hinzubringt, ist nicht etwa, daß sie den allgemeinen Begriff der Gattung und Art giebt, der dem 25 Umfange nach größer wäre als die Wahrnehmung, sondern dieser allgemeine Begriff der Gattung und Art wird beschränkt auf das einzelne Ding selbst. Es ist ein anderes der Begriff der allgemeinen Art und Gattung, und ein anderes das Denken eines einzelnen Dinges. Die intellectuelle Thätigkeit ist eine ganz andere, wo ich nur an und für sich den 30 allgemeinen Begriff der Gattung und Art denke, denn hier ist vieles als unbestimmt, aber als bestimmbar eben durch den Begriff der Gattung und Art gesetzt; ein anderes ist das, was die intellectuelle Thätigkeit zu dem einzelnen Wahrgenommenen hinzubringt, sie setzt das Einzelne als ein Bestimmtes in Beziehung auf den Begriff der Gattung und Art. 35 In dieser Bestimmtheit ist also die Thätigkeit der intellectuellen Function gesetzt und alles [ ] ist ausgeschlossen; beide Thätigkeiten sind also von gleichem Umfange. Eben so denken wir den allgemeinen

33 ein] eine 37 [ ]} Wohl aufgrund nicht entzifferter Vorlage Auslassung im Manuskript, die sich auch nicht durch die anderen Nachschriften zwingend ergänzen ließ; vielleicht Unbestimmte

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Begriff worunter wir die einzelnen Wahrgenommenen subsummiren, so ist hier die intellectuelle Thätigkeit vorherrschend. Das heißt wiederum nur die intellectuelle Function ist die lebendigere die organische die bewußtlosere, aber dem Umfange nach sind beide Funktionen gleich. In | der Wahrnehmung war die intellectuelle Thätigkeit kleiner als der allgemeine Begriff, aber grade so groß als die Wahrnehmung. Diese Beschränkung hört beim allgemeinen Begriff auf. Die organische Funktion zum allgemeinen Begriff ist eine lebendige Reproduction nicht desjenigen, was in einer einzelnen Vorstellung gesetzt war, sondern der ganzen Mannigfaltigkeit organischer Einwirkungen, nur daß letzteres dabei das dunklere und zurücktretende ist. N u n können wir also sagen: die organische Affection wenn wir auf den ganzen U m f a n g des möglichen Wissens sehen, ist successiv, und niemals vollkommen zu Stande kommend. Aber die Quelle dieser Vermehrung des Wissens von dieser Seite ist außer uns gesetzt, es ist das Sein, das außer uns gesetzt ist, wovon die Vermehrung herkömmt. | Auf der andern Seite unser Wissen vermittelst der intellectuellen Thätigkeit kommt auch nur successiv zu Stande. Wiewol die Quelle davon in uns gesetzt ist, so ergießt sie sich doch nur bei einer Affection von außen. Wir haben also hier zwei Punkte, von welchen aus das Wissen in seinem Werden gegeben ist, und die beständig zusammenwirken müssen. Der eine ist in dem von dem Denken selbst getrennten Sein, der andere im Denken selbst gesetzt, der eine ist der reale Factor, der andere der ideale Factor. Beide lassen sich einander substituiren es kann ein Wissen durch Wahrnehmung in das Denken übergehen, also müssen sie einander gleich sein. Beide, wie sie das Wissen bilden, so gehören sie auch dem Sein an, der eine dem vom Denken getrennten Sein, der andere dem Sein als Denken. Das Sein, so wie das Wissen mit demselben übereinstimmt, muß in dieser Duplicität vollständig aufgehen. Wenn | wir das ganze Wissen beisammen hätten, so wäre das ganze Sein darin. Hätten wir es unter der intellectuellen Form, so hätten wir die Fülle des Idealen, die Einheit bestimmt und die bestimmte Vielheit, und so wäre hier in der intellectuellen Thätigkeit abgebildet, was irgend einmal uns anregen könnte von außen. Setzen wir das ganze Sein außer uns als Wissen von der organischen Seite her, so müßte es wiederum die ganze Vernunft abspiegeln. Beide zusammen bilden unser Selbstbewußtsein, das Ich, in dem uns die Einheit beider gegeben ist. Wie uns aber in diesem das Wissen entsteht, in beiden Formen des Wahrnehmens und des Denkens, so ist auch wesentlich, als die letzte Voraussetzung zu der Totalität des Wissens, die Einheit beider Formen des Seins, daß es auf der einen Seite ist | das Ideale; das ganze Erfülltsein unserer Vernunft, und auf der andern Seite die Totalität aller Arten, wie das Sein unter sich und mit uns sich berühren kann, d. h. das Reale, und beides muß

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durchaus Eins sein so gewiß als im Wissen das Sein soll repräsentirt werden. Aber eben diese Einheit des Seins, in diesen beiden Formen des Idealen und Realen, dies ist eben das Transcendente, d. h. dasjenige, was wir niemals unmittelbar anschauen können, sondern wir können uns nur der Nothwendigkeit dieser Annahme bewußt werden. Die all- 5 gemeine Identität des Seins bleibt uns hier völlig hinter dem Vorhang. Wir haben sie zwar angegeben aber nicht erklärt. Sobald wir sie erklären wollen, gehen wir von unserm Wege ab, und wir könnten auf kei183 nen andern Weg kommen, als wir müßten | ein Poetisches oder Rhetorisches aufstellen; denn wir haben weder ein Denken davon noch eine 10 Wahrnehmung. Von einer Anschauung davon kann also gar nicht die Rede sein. Wir können also nicht sagen: daß wir die Identität jener höchsten Differenz wissen, sondern wir setzen sie bloß voraus zum Behuf des Wissens, wir können sie nur glauben, und müssen sie glauben um des Wissens willen. - Wenn Schleiermacher sich hier die Provo- 15 cation auf das Wort glauben gefallen läßt, so will er es so, wie es im religiösen Gebiet auch vorkommt, wo es eine Gewißheit ist, die der letzte Grund aller Thätigkeit ist. Diese Annahme hier ist der Grund des Wissens, woraus alles Wissen producirt wird, also können wir auch 184 sagen: wir glauben die Identität. - Der Glaube an unser Ich, | und der 20 Glaube an die Totalität des Einzelnen überhaupt ist auch nur diese Identität. Gehen wir weiter und sagen, in jedem Act unseres Bewußtseins haben wir das Ideale und Reale in einer bestimmten Sonderung, und wollen wir uns von jenem höchsten ursprünglichen Sein, in dem die Identität des Idealen und Realen gesetzt ist, einen Gedanken, 25 Begriff oder Bild machen, so würde es ein Poetisches oder Rhetorisches werden. Sollte es ein Bild sein, so würde es poetisch sein, sollte es ein Begriff sein, so könnte er nur lauter Negatives rhetorisch enthalten. Wir finden dies zunächst überall auf dem religiösen Gebiet. Wir finden da eine Menge von Versuchen das höchste Wesen, das doch immer das 30 ursprüngliche Sein ist, dieses selbst in Gedanken zu Stande zu bringen. Man thut dies aus der guten Absicht den Irrthum abzuwehren. Aber so wie vom höchsten Wesen ein Gedanke gebildet werden soll, so kann nur ein Poetisches oder Rhetorisches herauskommen und da geht das positive das eigentliche Wissen, Denken, Wahrnehmen, Anschauen ver- 35 185 loren. Eben so ist es mit | der Schöpfung als Ableitung des Endlichen aus dem ursprünglichen Sein. Dasselbe hat man auch oft auf dem philosophischen Gebiete versucht. Aber da trägt es gleich einen andern Charakter. Bis an das ursprüngliche Sein hinauf geht das dialectische Verfahren; sowie das ursprüngliche Sein dargestellt, oder das endliche 40 daraus abgeleitet werden soll, geht die Darstellung in das Mythische. Alle jene mythischen Hervorbringungen sind nur ein Bestreben die Gewißheit des ursprünglichen Seins darzustellen, das vorausgesetzt

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wird. Auf dem philosophischen Gebiet hat man dies aber gar nicht nöthig, sondern bloß wenn man vermitteln will zwischen den Philosophirenden, und den Nichtphilosophirenden. Auf dem philosophischen Gebiet ist uns in der Thätigkeit des Philosophirens selbst | die Gewiß- 186 heit gegeben. Wir haben also hier den Grund des Wissens hinter dem Wissen, und den Grund des Seins hinter dem Sein gefunden, aber wir können ihn weder auffassen in Gedanken, noch können wir das im Wissen dargestellte Sein daraus ableiten. Indem wir hier abbrechen begnügen wir uns mit dem Resultat: das Wissen, das wir produciren wollen, wird nur in der relativ vereinigten und getrennten Thätigkeit aller denkenden Subjecte, unter den drei Formen der Wahrnehmung, des Anschauens und des Denkens, als das in allen denkenden Subjecten identisch producirte und mit dem Sein übereinstimmende Denken. Es wird uns aber, nicht nur indem allmählig zu einem Wissen ein anderes hinzukommt, sondern nur so, daß wir erst allmählig immer deutlicher erkennen, was in dem different | von 187 Verschiedenen Gedachten das Gemeinsame, und was in dem Identischen das Verschiedene ist; und es ist eine nothwendige Annahme, daß, so gewiß in uns selbst als Denkenden das Sein und Denken Eins ist, wir so gewiß auch annehmen müssen, daß das Sein im Allgemeinen, und das Sein wie es uns im Gegensatz des Denkens gegeben ist, mit dem Denken Ein und dasselbe ist. Wir haben also bis jetzt bloße Grenzen gefunden für unsere Aufgabe. Nämlich wir mögen nun auch wirklich die Regeln finden aus dem Denken ein Wissen hervorzubringen, so werden wir doch nie ein Wissen hervorbringen, das der Idee vollkommen adäquat ist. Dasselbe thut jeder Künstler. Er hat sein Verfahren, sucht Regeln dafür, und ist sich auch bewußt, daß niemals etwas der Idee vollkommen Adäquates herauskommen wird. — Auf der andern Seite haben wir gesehen, daß wir die Identität des Idealen und Realen voraussetzen können und müssen, daß wir sie aber mit den Regeln nicht erreichen können, sondern daß wir mit den Regeln nur in der Form des Gegensatzes bleiben können; aber wir würden die Regeln doch wiederum nicht anwenden können, wenn wir nicht jenseit des Gegensatzes eine Einheit voraussetzen. - Bisher sind wir nur ausgegangen von dem characteristischen | Unterschiede des Denkens vom Wis- 188 sen. Jetzt wollen wir die Regeln finden, wie wir aus dem Denken ein Wissen bilden. So müssen wir also auch das Gebiet des Denkens beschauen, und sehen in welchen verschiedenen Formen es ursprünglich in uns vorkömmt. -

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Formen des Denkens giebt es zwei: der Begriff und das Urtheil. D i e gewöhnliche Angabe stimmt damit überein; nur setzt sie als eigene F o r m des Denkens den Syllogismus voraus. Auf die gewöhnliche A n g a b e sich berufen, ist aber nichts, denn was hat die für eine Autorit ä t ? Wir müssen entwickeln, d a ß es nicht mehr giebt als jene zwei. Das 5 ist sehr schwierig. Wir müssen uns die Grenzen des Denkens stecken. Welche andern geistigen Thätigkeiten begrenzen nun das D e n k e n ? Auf der einen Seite ist das Denken begrenzt durch das Empfinden. Wir 189 müssen | darauf Acht geben, wie ein Bewußtsein, das den Character des Denkens a n n i m m t in uns entsteht. Wie entsteht ein W a h r n e h m e n 10 in uns? D a s erste ist die organische Affection; indem zu dieser die intellectuelle T h ä t i g k e i t tritt, welche die bestimmte Einheit und Vielheit hinzubringt, so wird das erst eine W a h r n e h m u n g . Aber angenommen wir könnten die W a h r n e h m u n g davon trennen, so wird aus der Affection des O r g a n s , wenn sie zu stark ist, eine E m p f i n d u n g ; es wird 15 dann kein W a h r n e h m e n sondern bloß das Bewußtsein einer Empfindung. D a s Empfinden liegt also ganz an der Grenze des Denkens. N i m m t die Intension der Affection ab, so k a n n die intellectuelle T h ä tigkeit hinzutreten und eine W a h r n e h m u n g entstehen. Schwieriger ist das andere, wenn Schleiermacher sagt, d a ß das Denken nach der entge- 20 gengesetzten Seite begrenzt scheint durch das Wollen. So wie das Emp190 finden eine | Passivität ist, zu welcher die T h ä t i g k e i t , die die Wahrnehmung a u s m a c h t , nicht h i n z u k o m m t , so ist das Wollen eine bloße Activität, die jene Passivität des Empfindens verdrängt. D a ß das Wollen mit der E m p f i n d u n g zusammenhängt, ist klar, aber wie hängt es mit 25 dem Denken z u s a m m e n ? Im Denken ist Spontaneität und Passivität. D e n n denkt m a n sich die entgegengesetzte F o r m des Denkens im allgemeinen Begriff, wo die T h ä t i g k e i t der intellectuellen F u n k t i o n vorherrscht, und die organische Funktion nur eintritt auf Veranlassung; so ist das H i n z u k o m m e n der organischen F u n k t i o n zur intellectuellen 30 dasjenige, was zur Spontaneität eine Passivität hinzubringt, und wodurch die T h ä t i g k e i t diesen schwebenden Z u s t a n d des Denkens erhält. Wird die T h ä t i g k e i t größer so entsteht ein Wollen. Denken wir uns auf 191 der einen Seite einen bloßen Begriff, und a u f | der andern die Hervorbringung eines Gedankens der T h a t werden will, so liegt beides sich 35 sehr nahe, so d a ß wir denken können, wie ein Bild, das b l o ß Gedanke ist, Anfang wird zu einer Darstellung nach außen. So noch deutlicher bei den Urtheilen. Es giebt Urtheile, die bloß im Denken bleiben und uns ganz gleichgültig lassen. Aber man kann sich denken, d a ß dasselbe Urtheil unter andern Umständen aufhört uns gleichgültig zu sein, und 40 daraus eine R e a c t i o n zum Handeln entsteht. D a s Wollen würde nicht entstanden sein o h n e das D e n k e n , aber indem das Wollen da ist, geht das Urtheil aus dem bloß subjectiven heraus. Dies ist also die entgegen-

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gesetzte Seite des Denkens. D a s Empfinden kann hindern, d a ß die W a h r n e h m u n g nicht entsteht, und aus dem Urtheil k a n n sich eine Handlung entwickeln, so d a ß aus dem Urtheil ein H a n d e l n hervorgeht. Andere T h ä t i g k e i t e n , | die sich an das Denken anschließen, k a n n 192 Schleiermacher nicht aufzeigen. N u n liegt aber o f f e n b a r der Begriff in seinem ganzen U m f a n g e an der Grenze des E m p f i n d e n s , das Urtheil an der Grenze des Wollens; weil alles Wollen, sofern es eine äußere Veranlassung h a t , und das hat jedes Wollen, a u f das Erkennen einer äußern T h a t s a c h e ausgeht. H a t nun das D e n k e n keine andern Grenzen als diese, und ist im Denken selbst zweierlei, wovon das eine an das eine, und das andere an das andere grenzt, so scheint das D e n k e n hierin erschöpft zu sein. N u n aber können wir das andere mit in B e t r a c h t ziehen, daß auch die F o r m des Schließens a n g e n o m m e n wird und zwar als höchste Potenz des Denkens. Wenn wir also den Schluß n ä h e r betrachten, so erscheint Schleiermacher die Sache s o : was ist eigentlich dasjenige um dessentwillen diese O p e r a t i o n | v o r g e n o m m e n wird? o f f e n b a r 193 die Conclusion, die das Resultat davon ist. N u r um der Folgerung willen wird geschlossen. Die Folgerung aber ist ein Urtheil. D i e vorausgestellten Sätze, der m a j o r und der m i n o r sind Urtheile, der Syllogismus ist also eine C o m p l e x i o n von Urtheilen. Aber ist kein Unterschied zwischen dem Urtheil, und der C o m p l e x i o n der Urtheile? J e d e s Urtheil kann auf den Syllogismus zurückgeführt werden, und die allerwenigsten Sätze, die als Folgerungen aufgestellt werden, k o m m e n uns ins Bewußtsein auf dem Wege des Syllogismus, sondern sie k o m m e n uns ohne Beziehung auf den m a j o r und m i n o r im Syllogismus. N i m m t m a n dies z u s a m m e n , d a ß der Syllogismus weit häufiger v o r k o m m t , nachdem die Urtheile schon gefällt sind, lediglich um sie in Z u s a m m e n h a n g zu bringen, und d a ß alle Urtheile, um deren E n t s t e h u n g | wir uns 194 b e k ü m m e r n , und alle Dinge mit denen wir es thun, a u f den Syllogismus zurückgeführt werden k ö n n e n ; so scheint der Syllogismus nichts besonderes zu sein, sondern b l o ß die genesis der Urtheile, das Z u r ü c k gehen eines Urtheils auf das andere, und er scheint ganz in das abgeleitete Wissen zu gehören. Was in der C o m p l e x i o n das Ursprüngliche ist, wird nicht angesehen als durch den Syllogismus entstanden, sondern es wird vorausgesetzt. Will m a n das Vorausgesetzte wieder a u f einen Syllogismus zurückbringen, so bleibt es dann i m m e r wieder beim Alten. Wir haben aber nach der ursprünglichen Anzahl der F o r m e n gefragt, nicht nach der genesis des Urtheils, und so bleiben uns nur jene beiden Formen. So glaubt Schleiermacher läßt sich dies ausführen. Ist nun

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Jeder Syllogismus kann auf das Urtheil

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aber die N a c h w e i s u n g über diese beiden U r f o r m e n , und die A r t , | daß sie das G e b i e t des Denkens innerhalb seiner Grenzen erschöpfen, j e m a n d e m nicht hinlänglich, so weiß Schleiermacher nichts zu sagen, als d a ß unsere Eintheilung für solchen nur gilt, solange er noch keine andere aufgestellt hat. Es könnte noch gesagt werden: wir machen ja einen Unterschied zwischen Begriff und Vorstellung, in dem der Begriff eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen in sich b e f a ß t ; die Vorstellung bezieht sich aber nur auf einen Gegenstand. Dies hat eben soviel Schein als das Setzen des Syllogismus. J e d e r Begriff faßt eine M e n g e von Gegenständen in sich, die alle Vorstellungen sein k ö n n e n ; aber jeder Begriff hat wieder einen über sich, wovon er ein T h e i l ist. E b e n so ist die Vorstellung von einem einzelnen M e n s c h e n im Allgemeinen eine M ö g l i c h k e i t von verschiedenen Z u s t ä n d e n , und auf der andern Seite ein Einzelnes. D a h e r lassen sich die Grenzen der Vorstellung und des Begriffs nicht aufstellen, | sondern sowie wir beides auf den G r a d der Anschauung erheben, so sind beide nicht getrennt. Bei diesen beiden G r u n d f o r m e n wollen wir es also vorläufig bewenden lassen. Wie verhalten sich beide gegen einander? Worin besteht ihre Einheit, und worin ihr Gegensatz? Dies ist uns wichtig zu wissen in Beziehung auf unser letztes Z i e l ; weil jemehr beide verschieden sind, für die Bildung beider verschiedene Regeln sein müssen, jemehr sie gleich sind, für beide gleiche Regeln sein können. — Indem wir aber die letzten G r ü n d e des Wissens suchen, ist es auch hier nöthig, uns über Begriff und Urtheil zu verständigen, um zu erfahren, o b der Begriff einen andern transcendenten G r u n d hat als das Urtheil oder nicht. Es ist nun dieses, in wie fern sie Eins sind oder entgegengesetzt, nichts als ihr Verhältniß. In wie fern wir aber vom Inhalt ganz abstrahiren, haben wir beide nicht anders | als nur als T h a t s a c h e n in uns selbst, und da scheint es, als o b kein anderes Verhältniß wäre, als zu fragen: beruht das eine auf dem andern oder nicht? Hier ist die A n t w o r t leicht bei der H a n d , d a ß das Urtheil seinem ganzen Wesen nach den Begriff voraussetzt; denn es ist das Beziehen eines Begriffs den wir Subject nennen, auf einen andern den wir Prädikat nennen. M a n kann erst das Prädikat klar haben, und das Subject dazu suchen, und dann muß m a n doch das Prädikat als T h a t als Begriff haben, und eben so umgekehrt. Wie also das Urtheil entsteht, so setzt es den Begriff voraus. M a n könnte sagen : wo das Subject ein einzelnes D i n g ist, da entsteht das Prädikat, welches ein Begriff ist nur mit dem Urtheil zugleich. Aber es giebt keinen bestimmten Unterschied zwischen Vorstellung und Begriff, | und es ist gleich, ob man sagt, das Subject ist Vorstellung oder Begriff. Dasselbe kann man vom Prädikat sagen: wir legen oft Subjecten ein Prädikat bei, wovon wir sagen, daß es keinen Begriff giebt, wie die Farben und die sinnlichen Eindrücke. Wenn man sagt: süß ist ein Begriff, so sagt

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m a n : definire ihn einmal. Dies ist aber nichts, als daß wir oft urtheilen müssen, ehe wir mit dem Begriffe fertig sind. - Wenn man sagt: süß ist kein Begriff, sondern bloß eine sinnliche Affection die man mit einem Zeichen belegt, so mag doch einer sagen was er will, süß ist doch ein Begriff, nur ist er noch nicht recht zu Stande gekommen. Es ist eine andere Süßigkeit die der Ananas, die der Birnen, des Honigs u. s. w., die Affectionen sind also verschieden, und so ist süß doch ein Begriff, nur ist er noch nicht fertig. Wir müssen ihn aber doch als Begriff | anse- 199 hen. Das Urtheil setzt also den Begriff voraus. Wir können nun sagen: wenn es uns darauf ankommt das Urtheil zu bilden, so ist es desto vollkommener, je reiner die Begriffe sind auf denen es beruht. Sind alle einig über den Umfang des Begriffs, den das Prädicat und den das Subject hat, so einigen sich auch alle bald über das Urtheil. Je weniger der Umfang beider bestimmt ist, desto schwankender wird das Urtheil sein. Daraus folgt freilich nicht, daß wenn die Begriffe richtig wären, auch alle Urtheile richtig wären, denn es kann eine Differenz der Beziehung geben; aber ich kann denn doch wissen, daß das Schwanken bloß in der Beziehung liegt. Sind aber die Begriffe noch nicht genau bestimmt, so weiß man nicht, ob das Schwanken in der Begriffsbildung liegt, oder in dem Urtheil selbst. Die Regeln über die Bildung des Begriffs müssen also vorangehen. | Sehen wir aber auf den Begriff, so 200 kommen wir leider auf dasselbe; denn so wie das Urtheil den Begriff voraussetzt, so umgekehrt der Begriff das Urtheil. Im vollkommenen Begriff soll enthalten sein alles, was dem Gegenstande zukommt; und so findet m a n : daß jeder Begriff auf einer Mannigfaltigkeit von Urtheilen beruht, und das Gefühl von der Wahrheit des Begriffs beruht darauf, daß man das Urtheil jedesmal vollziehen, also bewähren kann. Wenn wir uns ferner fragen: woran unterscheidet sich der vollkommene Begriff vom unvollkommenen? so müssen wir sagen: solange der Begriff unvollkommen ist, solange sind die Urtheile, auf denen er beruht, aufs Gerathewohl zusammengebracht. Der vollkommene Begriff unterscheidet sich darin, daß die Urtheile auf denen er beruht ein geschlossenes System bilden. Wir mögen nun den Begriff fassen | an 201 welcher Stelle wir wollen, so werden wir immer sehen: er beruht auf Urtheilen; und wer einen Begriff begründet, der begründet ihn durch Urtheile.

Was haben wir also durch diesen ersten Ansatz gewonnen? nichts anderes, als daß wir uns bewußt geworden sind, wir sind mit dieser zwiefachen Form des Denkens in einem Kreise befangen; und beziehen 40 wir dies auf unsere letzte Aufgabe, Regeln zu finden für das Denken, so

25 einer] eine

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müssen wir sagen: sofern das Wissen in gleichmäßig von den denkenden Subjecten gebildeten Begriffen besteht, so müssen die Begriffe auf gleichmäßig abgefaßten Urtheilen beruhen, und umgekehrt. Weiter haben wir noch nichts gefunden. Was liegt aber darin? Es scheint auf den ersten Anblick ein bloßer Zirkel zu sein. Aber das ist nur, sofern 5 202 wir beim A n f a n g e anfangen wollen. D a s können | wir aber jetzt gar nicht; wir können nicht erst vollkommene Begriffe bilden wollen, und dann Urtheile, oder umgekehrt. Diese negative Einsicht haben wir also gewonnen, d a ß wir nicht bei einem allein a n f a n g e n , und das andere erst anfangen, wenn das eine fertig ist. Es fragt sich aber: liegt nicht 10 auch etwas Positives darin? Es liegt in dieser N e g a t i o n ein Positives, wenn wir voraussetzen, d a ß unsere ganze Aufgabe, Regeln für das Denken zu finden, doch nur gefaßt werden k a n n , indem wir schon im Denken begriffen sind. Es liegt also darin, daß Begriffsbildung und Urtheilsbildung sich miteinander fortbilden müssen. D a b e i ist aber nicht 15 viel gewonnen, denn es liegt darin, d a ß alle Begriffe und Urtheile, wie sie sich zuerst im Denken finden unvollkommen sind. Also haben wir 203 doch i m m e r das Bedürfniß des ersten Anfangs, und diesen | haben wir nicht. Wir könnten zwar etwas sagen, aber es wäre ein Sprung eine bloße Divination, keine Einsicht: eben weil beide aufeinander beruhen, 20 so müssen sie auch beide auf einer Indifferenz von beiden beruhen. A b e r das wäre nur eine freie willkührliche C o m b i n a t i o n , eine bloße Ahnung, und wir könnten nicht sagen, d a ß wir es aus dem vorigen abgeleitet hätten. Schleiermacher sagt also: m a n kann dies diviniren die Einsicht m u ß man aber auf einem andern Wege herholen. D o c h wollen 25 wir hiebei etwas stehen bleiben, und die A h n u n g selbst etwas weiter auseinandersetzen. Wie wir sagen, fangen wir nicht eher an nach Regeln zu denken, als nachdem wir schon eine ganze Weile im Denken gewesen sind; Urtheile und Begriffe sind in diesem Denken schon aber unvollkommen; verfolgen wir sie, so k o m m e n wir auf die ersten An- 30 fänge des Bewußtseins, die ein Verworrenes von Begriff und Urtheil 204 sind; | so ist hier also etwas, das nur als Indifferenz von Begriff und Urtheil angesehen werden k a n n . Aber dies ist diejenige Indifferenz auf welcher das Wissen nicht beruhen, und von welcher wir nicht anfangen können bei unsern Regeln, sondern es ist dasjenige, was eben durch die 35 Regeln, wenn sie gefunden sind eliminirt werden soll, so d a ß das Bewußtsein ganz klar wird. Aber sehen wir diese Verworrenheit von Begriff und Urtheil als die unterste Spitze an, worin das Verhältniß des sich bewußt werdenden und dessen man sich bewußt wird nicht recht auseinandertritt, setzen wir dies als die unterste Spitze, wo Begriff und 40 Urtheil auseinandergehen, so werden wir ahnen können, d a ß sie oben wieder z u s a m m e n k o m m e n , und so das höchste Sein bilden, unter dem Gegensatz des Denkens und Seins stehend; und welches, sofern es in

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Begriff und Urtheil auseinandertritt das formale Sein wäre, sofern es zusammenkomme, das transcendente Sein wäre. - | Wir können ahnen, daß, wenn wir auf gesetzmäßigem Wege zur 205 Entdeckung dieser Identität kämen, sie unsere Aufgabe lösen müßte. Also scheint nichts besser zu sein, als daß wir das bisher im Allgemeinen Gesagte noch genauer verfolgen, und es mit dem Früheren combiniren um zu sehen, ob wir noch weiterkommen können als zur aufgezeigten Ahnung. Wir gehen noch einmal zurück und betrachten beide Formen des Denkens näher. Wir fangen mit dem Begriff an, immer in der Idee, wie wir auf solche Weise, daß es einen wirklichen Inhalt darstellte, zur Identität von Begriff und Urtheil kommen könnten. Wir machen es hier, wie wir es mit dem Denken überhaupt gemacht haben, wir suchen die Grenzen des Begriffs. Innerhalb der Grenze müssen die Begriffe ein Mannigfaltiges sein. Welche Mannigfaltigkeit finden wir im Begriff? Es ist nur ein Unterschied da, der des Höhern und | des Niedern oder des 206 Allgemeinen und des Besondern, der Begriff des einzelnen Dinges, der ein kleinerer ist, der Begriff der Art, der alle einzelnen Dinge unter sich hat, der Begriff der Gattung, der alle Arten umfaßt, und der nun der höhere ist. Dieses Hinauf- und Hinabsteigen ist die ganze Differenz der Begriffe. In so fern wir sie subordinirt betrachten, steht der höhere über dem niederen und der niedere steht unter dem höheren. Coordin a t e Begriffe sind solche die einen gemeinschaftlichen Begriff über sich haben. Das Gebiet des Begriffs erscheint also als schwebend in diesem Gegensatz eines Höheren und Niederen. Aber wir sehen keine Grenze wo das aufhören könnte. Wir müssen also die Grenze aufsuchen um unser Verfahren zu vollenden. Wir müssen nach dem Höchsten d. h. Allgemeinsten, und nach dem Niedrigsten d. h. Besondersten fragen im Gebiet des Begriffs. Wo finden wir dies. Wir können bloß | an jenen 207 schwebenden Unterschied anknüpfen; und nur in Beziehung auf diesen Gegensatz können wir sagen, was auf jeden Fall noch nicht der höchste, und noch nicht der niedrigste Begriff sein wird. Wir werden nun sagen: jeder vollkommen gebildete Begriff ist noch immer ein höherer, so fern es immer noch etwas giebt, was er unter sich begreift, das geht ins Unendliche. Fangen wir vom Gattungsbegriff der lebendigen Wesen an, gehen wir auf den Begriff der Menschen, auf eine nähere Bestimmung der Geschlechter, des Unterschiedes der Erwachsenen und Kleinen, auf die Vorstellung eines einzelnen Menschen, so ist dies noch nicht der niedrigste Begriff, denn unter ihm ist auch noch große Mannigfaltigkeit, denn jeder Mensch ist ein eigends bestimmter. Die nähern

16 des] davor « u n d ) )

35 lebendigen] lebendiger

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Bestimmungen [ ] knüpfen sich an andere allgemeinere Bestimmun208 gen an. Die | sittlichen Bestimmungen ζ. B. führen auf die sittlichen Begriffe, die allgemein sind, und so geht dies ins Unendliche. Was ist also dasjenige, womit wir enden können nach unten zu? Jemehr wir den Gegenstand ins Besondere spielen, desto mehr andere allgemeine 5 Begriffe müssen wir zu Hülfe nehmen. Das letzte was herauskommt ist also das Verwandsein jedes Gegenstandes mit allen andern, d. h. die bloße Modificabilität des Gegenstandes. Diese ist aber nichts als eine unerschöpfliche Mannigfaltigkeit von Urtheilen. Diese macht den untersten Punkt des Begriffs. Weil eben die Urtheile hier unendlich 10 sind, so giebt es auch keinen vollkommenen Begriff von einem Einzelnen. Nun gehen wir nach demselben Schema hinaufwärts. Jeder gut gebildete Begriff ist immer noch ein niederer, und hat einen höhern | 209 über sich, solange es noch etwas Denkbares giebt, was er aus sich ausschließt. Wir haben schon einmal gesagt: der höchste Begriff ist der des 15 Dinges. Ist das wahr? In dem Ding ist noch der Gegensatz zwischen dem Sein und dem Denken, oder zwischen dem Gegenstand und Begriff auf eine Weise bestimmt; denn kein Mensch nennt einen Begriff ein Ding, sondern ein Ding ist ein beharrliches Sein, sofern der Begriff außer ihm gesetzt ist. Wir sind ein Ding, sofern wir denkbar 20 sind für uns und andere. Unser Sein und unser Begriff ist noch nicht dasselbe, wir sind, und haben doch lange noch nicht den Begriff von uns. Das Höchste wäre also, wo der Gegensatz von Begriff und Gegenstand aufgehoben ist. Das wäre also dasselbe, was wir gefunden haben als das Transcendentale, das Sein worin der Gegensatz von Idealem 25 210 und Realem aufgehoben ist. - | Dies konnten wir aber nicht finden als Wissen. Hier finden wir es bei der Ausmessung des Begriffs. Aber haben wir es als einen Begriff gefunden? Nein. Die Idee von der absoluten Einheit des Seins, in welcher der Gegensatz von Begriff und Gegenstand aufgehoben ist, ist kein Begriff mehr, denn sie steht nicht 30 mehr im Schweben zwischen dem Niedern und Höheren, denn sie schließt nichts aus, und ist von nichts ausgeschlossen. Der Form nach ist die Idee gar nicht als Begriff zu fassen. Sofern eine Einheit darin gesetzt ist, ist es ein Begriff der Materie nach, aber der Form nach nicht, denn es kann nichts davon ausgesagt werden. Es ist eine bloße 35 Setzung, der nur die Totalität aller Combinationen gleich gesetzt werden kann. Es könnte hier gesagt werden: daß im Wesen des Begriffs liegt, daß er auf einem System von Urtheilen beruht; nun sagen wir, | 211 alle Gegensätze sind von diesem höchsten ausgeschlossen, und so ließe

1 / ¡I Auslassung im Manuskript; in den anderen Nachschriften ist diese Passage nicht nachzuweisen 12 demselben] denselben 13 ein] folgt « e i n ) )

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sich doch auf diesem System negativer Urtheile ein Begriff bauen. Das ist aber nicht möglich. Also ist dies bloß ein Schein. Wir sind also hier an ein Ende des Begriffs gekommen nach oben zu, was kein Begriff mehr ist, so wie wir nach unten an etwas gekommen waren, was auch kein Begriff mehr war, sondern eine unendliche Mannigfaltigkeit von Urtheilen mit der Aufgabe einen Begriff daraus zu bilden. Der wirkliche Begriff liegt also im Schwanken zwischen diesen beiden; er endigt nach oben in eine unendliche Mannigfaltigkeit negativer Urtheile, und nach unten in eine unendliche Menge positiver Urtheile. (Man könnte noch sagen : Wir haben gesagt, daß jeder Begriff auf einer | Mannigfaltigkeit von Urtheilen beruht; nun giebt es soviele 212 negative Urtheile als es Formen des Gegensatzes giebt; kann nicht ein Begriff darauf beruhen? Nein, negative Urtheile sind nur scheinbare Urtheile, und können keinen Begriff geben; denn es fehlt ihnen an Inhalt, sie sind bloß Form; sie lassen sich auch in Eins zusammenfassen, daß kein Gegensatz von ihnen gesagt werden kann; allein da ist das Subject kein Begriff, also ist da auch kein Übergang zum Urtheil.). Was haben wir nun als das oberste Ende des Begriffs? Die Idee der absoluten Einheit des Seins unter der Form der Einerleiheit des Begriffs und des Gegenstandes. Wir wissen also negativ nur davon, daß es kein Wissen sein kann, weil es kein Begriff und kein Urtheil ist. Dies ist aber der transcendente Grund und die Urform alles Wissens. Wir können 213 also hier, | in Beziehung darauf, daß es der transcendente Grund des Wissens ist, nur sagen: es giebt für den Glauben an das Wissen keinen andern Stützpunkt gegen die Einwendungen der Skepsis, als diese Voraussetzung, die wir hier in der Form begründet finden, diese Voraussetzung der Identität des Begriffs und des Seins, des Idealen und des Realen. Nun sind das oberste und das unterste Ende des Begriffs die Bedingungen unter welchen die Differenz des Besondern und Allgemeinen, des Niedern und Höheren möglich wird; denn jeder Gegensatz muß sich auf einen festen beziehen; dies Feste zu diesem Schwanken zwischen dem Höheren und Niedern sind aber jene beiden Punkte an der Grenze die unendliche Möglichkeit des Wahrnehmbaren, und die absolute Einheit des Seins. Die absolute Einheit des Seins muß über allen Gegensatz erhaben sein, damit sich alles Entgegengesetztsein darauf bezieht. Nun haben wir nicht nur die Form der Differenz der Begriffe vor uns, sondern auch die Realität des untersten Endpunktes, welches 214 die I Basis aller Erfahrungen ist, wo eine unendliche Menge Urtheile angelegt ist; und alle Erfahrung geht vom Ursprünglichsein eines sol-

3 9 ist] sind

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chen C h a o s aus. So fängt jede Erkenntniß mit U n b e s t i m m t h e i t des Gegenstandes an, es ist da kein Begriff gesetzt, sondern nur die M ö g lichkeit mannigfaltiger Urtheile. Hier haben wir schon für unsere Induction genug, um das entgegengesetzte Ende auch in solcher Realität zu setzen, und sagen : sowie die unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge 5 G r u n d s t o f f für die organische F u n k t i o n unseres Denkens ist, so ist die Einheit des Seins der Grund der intellectuellen T h ä t i g k e i t die in unserm D e n k e n und Wissen sein soll. Wie ist es aber die Urform des Wissens? Weil es die Identität beider Formen ist. Es ist ein Begriff seinem Inhalte aber nicht der F o r m 10 nach, weil kein C o m p l e x u s von M e r k m a l e n gesetzt werden k a n n ; und 215 ein Urtheil der F o r m nach, weil wir es unter der F o r m des | Urtheils sagen müssen, aber nicht dem Inhalte nach, weil von der absoluten Einheit des Seins nichts ausgesagt werden k a n n . Wenn wir dies noch näher betrachten so werden wir sagen müssen: alle Differenz des Denkens in 15 sich ( u n d seiner höchsten V o l l k o m m e n h e i t ^ ] des Wissens), und des Wissens vom unbestimmten Denken (d. h. von seiner Unvollkommenheit)[,] liegt i m m e r in der Beziehung jener Identität des Begriffs und des Gegenstandes. D i e Form des bestimmten D e n k e n s ist, d a ß die Identität darin gesetzt ist, die Form des unbestimmten Denkens ist, d a ß die 20 Identität provisorisch davon ausgeschlossen ist. Also ist dies die Form alles Wissens; alles Wissen hat T h e i l daran, es k a n n seinen G r u n d nur in der allgemeinen Identität des Begriffs und Gegenstandes haben. Dasselbe müssen wir erst von der andern Seite bis hierher bringen, von dem Urtheile aus. D a s Urtheil geht vom Begriff aus und zwar vom 25 Begriff des Subjects, worin das Prädikat gesetzt wird. Wir sehen zuerst 216 auf die | Duplicität, die in jedem Urtheil ist. B e i m Begriff war die Duplicität nur in der Vergleichung höherer und niederer Begriffe, und erst mittelbar fanden wir, d a ß jeder ein höherer und niederer zugleich sei. Im Urtheil ist aber die Duplicität geradezu gegeben. Es giebt eine 30 zwiefache Beziehung des Prädicats und Subjects im Urtheil: 1) wenn das Prädicat nur aussagt, was im Subject möglich ist; 2) was im Subject bestimmt wirklich und nothwendig ist. Wir könnten noch zwei andere Beziehungen setzen: 1) die, wo das Subject und Prädicat gleich wären, wo das Prädicat das Subject ganz ausfüllte; 2) es könnte Urtheile 35 geben, wo das Prädicat im Subject auch nicht einmal seiner M ö g l i c h keit nach wäre. A b e r das erste wäre ganz leer, und alle identischen Urtheile sind nichts. Auf der andern Seite wenn wir sagen: das Prädicat 217 kann in einem Urtheil | auch nicht einmal der M ö g l i c h k e i t nach sein, so müssen wir bald finden, d a ß auch dies Urtheil ganz leer wäre. D e m

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erstem fehlt es an Inhalt, diesem fehlt die Form. Es ist gar keine Relation zwischen dem Prädicat und Subject, und dann fehlt das Zusammenstimmen des Denkens und Seins, kann also kein Wissen sein. Es bleibt also doch immer nur jenes beides zuerst Gesetzte übrig. Dies betrachten wir nun näher. Wenn wir sagen: der Begriff des Prädicats ist im Begriff des Subjects nur seiner Möglichkeit nach gesetzt, so ist er kein Theil desselben; ist aber der Begriff des Prädicats im Begriff des Subjects schon bestimmt mitgesetzt, so ist er ein Theil desselben. Wenn wir uns einen vollkommenen Begriff denken, so muß auch alles was in seinem Gebiete als Relation vorkommen kann, seiner Möglichkeit nach mit darin liegen. Wir sehen ζ. B. an jedem Gegenstande in der Regel | die Farbe als zufällig an, und nehmen sie also in den Begriff desselben 218 nicht mit auf. Aber auf der andern Seite hat doch jede Gattung von Dingen nur einen Cyclus von Farben, in denen sie spielt. Fände solche Beschränkung gar nicht Statt, so wäre dies eine solche Ausnahme von der Regel, daß man dies auch so müßte mit in den Begriff aufnehmen. Solange nicht alles dies darin liegt, ist der Begriff nur oberflächlich. Dasselbe können wir von allem sagen, was eine bestimmte Relation eines Dinges zum andern anzeigt. Wieweit ein Ding vom andern kann bearbeitet werden, gehört mit zur Kenntniß des Dinges denn am Ende lassen sich alle Begriffe in solche Relationen auflösen. Ζ. B. die Undurchdringlichkeit ist eine solche Relation, denn ich denke mir da das Bestreben der Körper ineinander einzudringen, und auf der andern Seite den Widerstand. Im vollkommenen Begriff müssen also alle Relationen ihrer Möglichkeit nach stecken. Wenn wir solchen vollkommenen Begriff haben, werden wir in Beziehung auf den keine Urtheile mehr fällen können, wo das Prädicat nicht als Theil des Subjects gesetzt wäre. | Solche vollkommenen Begriffe haben wir nun gar nicht, 219 und wir müssen mit unvollkommenen anfangen zu urtheilen; aber stellen wir die Idee des vollkommenen Begriffs auf, so giebt es alsdann nur Urtheile von der einen Art. Schleiermacher versteht natürlich hier nur allgemeine Urtheile, nicht das Aussagen einer bloßen Thatsache, wo das eigentliche Urtheil bloße Zeitbestimmung ist, und mit dem Wissen nichts zu thun hat. - Wenn wir uns ferner die unvollkommensten Begriffe denken, solche die noch im Werden sind, da werden also Urtheile von der Art sein, daß das Prädicat nur seiner Möglichkeit nach im Begriff gesetzt ist. Ζ. B.: Wenn wir sagen: der Mensch ist sterblich, so wird jeder sagen, daß der Begriff sterblich ein Theil ist von dem Begriff Mensch. Aber gehen wir weiter zurück, so gab es eine Zeit, wo der Begriff Mensch noch so | unvollkommen war, daß der Begriff der 220

35 also] alternative unsichere Lesung des Abschreibers : (alle?)

37 Ζ. Β.] ζ. B.

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Sterblichkeit noch nicht mit darin war, sondern wenn man den Tod in Erfahrung sah, so setzte man in den Begriff Mensch bloß die Möglichkeit der Sterblichkeit. Je unvollkommener also die Begriffe sind, desto mehr sind die Prädikate bloß der Möglichkeit nach gesetzt in das Subject. Im Zustande der Unvollkommenheit des Begriffs giebt es Urtheile wo das Prädicat etwas in das Subject hineinsetzt, damit verknüpft, diese nennt man synthetische Urtheile. Welches sind denn nun die eigentlichen Urtheile? Diejenigen die auf dem unvollkommenen Begriff beruhen, und für die Vervollkommnung des Begriffs beitragen. Ist der Begriff vollkommen, so bedarf man des Urtheils nicht mehr. In dem Gebiet des unvollkommenen Begriffs können auch Urtheile vorkommen, welche so beschaffen sind, daß das Prädicat in das Subject schon gesetzt ist. Das sind bloß uneigentliche Urtheile. Eigentliche Urtheile 221 müssen immer etwas in den Begriff hineinsetzen. - Wir setzen | hier das Urtheil ruhend auf Begriffen. Die Urtheile also, die dem Begriff vorangehen sind die uneigentlichen. Mit diesen haben wir es hier nicht zu thun, sondern mit denen welche auf dem unvollkommenen Begriff beruhen und dazu beitragen den Begriff zu vervollständigen, d. h. mit synthetischen Urtheilen. Wir betrachten nun das Urtheil in dieser nähern Bestimmtheit. Wie verhält sich darin Subject und Prädicat? Das Subject in jedem Urtheil ist ein für sich Gesetztes. Das Prädicat ist nur in einem andern gesetzt. Im allgemeinen verhält sich Subject und Prädicat wie N o m e n und Verbum. Das Subject wird durch das Nomen ausgedrückt. Das Verbum drückt eine That, einen Zustand, ein Leiden aus, und das ist nicht ein für sich Gesetztes, sondern nur das in einem andern Setzbare. Wenn wir aber sagen: der Begriff des Prädicats ist in dem Subject mitgesetzt, so verhalten sich beide nicht mehr so zu einan222 der, denn dann ist der Begriff des Prädicats | in den Begriff des Subjects aufgenommen seine Kraft zu potenziren. Wenn wir aber das Prädicat dem Subject nur als Zustand, Thätigkeit, Leiden beilegen, so ist eine Unbestimmtheit in unserm Urtheile. Unter der Voraussetzung: daß der Begriff des Prädicats noch nicht in den Begriff des Subjects aufgenommen ist, können wir diese Erklärung geben, daß das Subject das für sich Setzbare sei, das Prädicat das nur in einem andern Setzbare; ist aber der Begriff des Prädicats in den Begriff des Subjects wirklich aufgenommen, so paßt diese Erklärung nicht mehr. Das Prädicat ist also vor dem Urtheil ganz außer dem Subject gesetzt, und es ist also eigentlich das Nichtsein des Subjects, und die Totalität aller Prädicate eines Subjects wäre die Totalität des Nichtseins desselben, wäre dasjenige was das Subject noch nicht ist. Je vollkommner der Begriff wird, desto

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mehr nimmt das ab, was als Urtheil davon gesetzt werden kann, und desto mehr nimmt das zu, was im Begriff selbst gesetzt ist. Jedes Urtheil aber ist Identität von Sein und Nichtsein; unmittelbar nur auf die Weise, daß im Subject das Sein ist, und daß in dem Prädicat etwas gesetzt ist, das noch nicht zum Sein und Wesen des Subjects gehört. Die Grenzen des Urtheils müssen | wir finden aus dem Maximun und 223 Minimum von Sein und Nichtsein. Gehen wir wieder davon aus: das Urtheil ist Identität des Seins und Nichtseins; Subject und Prädicat verhalten sich wie Sein und Nichtsein. Je unvollkommner noch der Begriff ist, desto mehr kann von dem Subject prädicirt werden. So wie wir sagten: wenn der Begriff ganz vollkommen ist, findet kein eigentliches Urtheil mehr Statt; so müssen wir nun auf der Seite des Urtheils sagen: das Maximum des Seins in dem Urtheil ist dies, wenn alles Sein im Begriff des Subjects ist, so daß nichts mehr von ihm prädicirt werden kann. Das Urtheil endigt sich, daß das Subject allein da steht, gar kein Prädicat dazu, so daß gesagt werden muß, es könne nichts mehr vom Subject gesagt werden. Das ist die absolute Einheit des Seins; wenn diese gesetzt wird, kann nichts mehr davon prädicirt werden. Prädicat ist in einem Urtheil dasjenige was in einem andern gesetzt wird, und nicht als ein Sein für sich; so daß das Prädicat, was dem Subject beigelegt wird, angesehen wird, als könnte es auch | andern 224 beigelegt werden, als dem Subject des Urtheils; denn so wie es ausschließlich dem Subject beigelegt wird, so ist es vollkommen identisch damit. Was ist denn nun das Maximum auf der Seite des Prädicats? Dies, wenn etwas allem beigelegt werden kann, und wenn wir nun nicht auf ein einzelnes Urtheil sehen, sondern auf das ganze Gebiet des Urtheils, so besteht das Maximum des Prädicats darin, daß alles aufgeht in Prädicaten. Dann ist aber nichts mehr übrig was als Subject gesetzt werden könnte; und so ist das Ende auf dieser Seite wieder eine unendliche Mannigfaltigkeit, aber in Beziehung auf die Bildung des Urtheils unbestimmt geworden durch den Mangel am Subject. Die Formel erscheint verworren und erschlichen; denn auf der Seite des Maximi beim Subject ist nicht die Duplicität gemacht wie hier zwischen einem einzelnen Urtheile und dem | ganzen Gebiet des Urtheilens. Aber 225 die Sache ist diese: Wenn man sich eine Menge von Urtheilen denkt, deren jedes ein anderes Subject hat, so beschränken sich die Subjecte, und man kann nicht zum Maximum des Urtheils kommen, wenn man nicht die Mannigfaltigkeit von Urtheilen aufhebt, und die Einheit setzt. Darin liegt aber, daß in Beziehung auf das Subject es keine Mehrheit von Urtheilen geben muß. Wenn aber das Maximum des Subjects die Einheit ist, so ist nichts davon zu prädiciren. Mit dem Prädicat ist es aber entgegengesetzt. Da schließt eins das andere nicht aus, sondern

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nur in demselben Urtheile schließen entgegengesetzte Prädikate sich aus, sonst vertragen sich alle mit einander. Hier können wir also das M a x i m u m nur finden in einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Ur226 theilen. Sobald wir diese Mannigfaltigkeit | wirklich als unendlich setzen, so müssen wir alle Subjecte ausschließen. N u n werden wir genauer finden, was die Formel für einen Sinn hat. Soll nun ein Urtheil existiren, so muß ein Fürsichbestehendes von andern Geschiedenes gesetzt werden, d. h. ein Subject. Im Prädicat ist kein solcher fester Punkt, sondern es ist ein sich Zerstreuendes, ein Gemeinschaftliches. Soll es auf eine positive Weise beschrieben werden, nicht als bloßes Nichtsein des Subjects, so müssen wir sagen, es sei mehreren Subjecten gemeinschaftlich. Wenn man also sagt: das M a x i m u m ist, daß alles gesetzt wird als Prädicat, so wird auch das Fürsichbestehen geleugnet. - Vergleichen wir nun das Ende des Urtheils mit dem Ende des Begriffs. Der Begriff endigt sich auf der einen Seite in eine bloße Möglichkeit mannigfaltiger Urtheile, und dieser entspricht die Durchgän227 gigkeit eines gemeinschaftlichen Seins; so wie die | absolute Einheit des Seins, welche nach der obern Seite den Begriff begrenzt, dem absoluten Subject, welches das Urtheilen begrenzt entspricht. So wie jenes kein Begriff der Form nach war, so ist dieses kein Urtheil mehr, sondern nur die Grenze des Urtheils; beides ist aber dasselbige, der höchste Begriff und das absolute Subject. Eben so ist die unendliche Mannigfaltigkeit der Urtheile, die dem Begriff vorangehen einerlei mit der absoluten Gemeinschaftlichkeit alles Seins, die in den absoluten Prädicaten, in dem Aufgehen alles Seins in Prädicaten gesetzt ist; denn da ist noch nichts für sich gesetzt. So haben wir also die gegenseitige Begrenzung beider Formen durch sich selbst. Aber wir müssen sagen: das, was dem wirklichen Begriff und Urtheil vorausgeht, ist die Verworrenheit von beiden; was über beide hinausgeht, und was wir in der wirklichen Begriffs und Urtheilsbildung nicht erreichen, ist das Durchdringen beider im absoluten Sein. Wo ist uns gegeben das absolute Subject, von dem nichts prädicirt werden kann, und der höchste Begriff, in dem der Gegensatz zwischen Begriff und Gegenstand aufgehoben ist? Beides, das absolute Subjekt und die absolute Einheit, ist uns niemals gegeben, 228 wir erkennen | es aber für dasselbe, weil es die Grenze der beiden Formen des Denkens ist. Es liegt in der Zusammentreffung beider, aber über unser Denken hinaus. Wo ist gegeben die Möglichkeit unendlich vieler Urtheile, die das schlechthin Einzelne bilden vor der Zusammenfassung in Begriffen, und wo der unendliche Vorrath von Prädicaten, ohne alles Subject? Dies ist auch nicht gegeben, sondern in unserm wirklichen Bewußtsein sind wir über beides hinaus, aber es liegt uns stets vor dem Bewußtsein, denn es ist nichts als das schlechthin Chaotische, das Wahrnehmbare. - Im Übergange aus der Bewußtlosigkeit in

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das Bewußtsein, können wir es gleichsam noch ertappen. Aber in diesem Ubergange giebt es noch kein Subject, und so ist alles nur M e r k mal, nur unendliche Beziehbarkeit, aber nichts Festgesetztes. | Hier wollen wir einmal wieder halten und aussprechen als 229 Ahnung, was wir noch nicht als Wissen aussprechen können. D a s sprechen wir als Wissen aus, daß, was wir am Ende unseres Begreifens und Urtheilens fanden, nicht von uns gewußt wird. Aber wie sich dies, was wir nicht wissen, zu unserm Denken, das ein Wissen werden soll, verhalte, wissen wir zwar noch nicht, aber können es ahnen, wenn wir diese beiden Enden vergleichen mit den beiden Functionen im Denken, mit der intellectuellen und der organischen Function. Denn worin besteht die Bewußtlosigkeit vor deren Ubergang ins Bewußtsein wir diese Unendlichkeit des Beziehbaren als Grenze setzen? Die organische Function ist dabei in Thätigkeit, sonst wäre kein Afficirtsein; bewußtlos ist aber der Zustand weil die andere Funktion fehlt. Also dies ist die nothwendige Voraussetzung für unser Denken auf der Seite der organischen Function. | Fragen wir weiter: wenn wir in die H ö h e steigen im 230 Begreifen, und wenn wir das Urtheil auf sein M a x i m u m steigern wollen, so kommen wir auf etwas, das wir nicht mehr als Begriff und Subject wirklich vollziehen können; warum können wir den Gedanken nicht mehr vollziehen? Weil hiezu die organische Function fehlt, in der uns nichts als Totalität und Einheit zugleich gegeben sein kann. Das kann also kein Denken geben, weil die organische Function das Ihrige nicht beitragen kann. Im Denken sind wir immer auf dem Gebiet des getheilten Seins aber nicht mehr des chaotischen. Es ist nicht die absolute Einheit alles Seins, weil die organische Funktion uns ins Mannigfaltige führt, sondern es sind bloß diejenigen besondern Einheiten, die aus der intellectuellen Thätigkeit hervorgehen. So können wir uns also bewußt werden, indem wir uns an die Zusammengehörigkeit der intellectuellen und organischen Function im Denken erinnern, warum wir nur in abstracto den höchsten Begriff und die unendliche Mannigfaltigkeit von Urtheilen haben können. — Dies ist aber nur Ahnung bis jetzt. - I

Wir haben bisher nur vom Denken geredet, als wir von Begriff 231 35 und Urtheil sprachen, und da diese Enden gefunden. Nachdem nun Begriff und Urtheil gemessen sind, wie verhält sich das Wissen zu diesen beiden Formen des Denkens? Existirt das Wissen nur unter diesen beiden Formen? Allerdings müssen wir eine Veranlassung haben, wenn wir erst zweifeln sollen, ob die Form des Denkens auch Form des Wis40 sens sein soll; denn an und für sich haben wir keinen Grund zu diesem

20 vollziehen] über

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Zweifel. Das Wissen ist das gleichmäßige Denken, und was dem Sein entspricht. Das schließt den Begriff nicht aus, und nicht das Urtheil, und man kann nicht sagen: daß der Begriff nur könne von allen gleich vollzogen werden und dem Sein enstpreche, das Urtheil aber nicht und umgekehrt. Wir finden aber dies in dem was man die Erkenntnisse a 5 232 priori und a posteriori zu nennen pflegt. Letzteres ist dasjenige | Wissen was in der Erfahrung wird, ersteres dasjenige was sich nicht aus der Erfahrung ableiten läßt, also unabhängig von der Erfahrung entsteht oder der Erfahrung zum Grunde liegt; oder anders ausgedrückt: das Wissen a posteriori ist durch ein Wahrnehmen, das Wissen a priori ist, 10 was aus der Seele allein kommt. Letzteren Ausdruck können wir nicht unbedingt zugeben, da in jedem Wissen beide Functionen sind, aber in dem Sinne können wir es zugeben, daß in dem Wissen a priori die Function der Seele vorherrschend wird, in dem a posteriori aber die organische Affection. - Die Denkenden sind seit langer Zeit getheilt 15 gewesen, ja man kann sagen immer, in dem M a a ß als der Gegensatz klar gewesen ist, über die Vorzüge der einen oder der andern Art, so daß einige das Wissen dominirend in der Region a posteriori, andere in 233 der a priori | gesetzt haben. Es scheint nun als ob der Gegensatz verwandt wäre mit unsern beiden Formen, und als ob alle diejenigen wel- 20 che sagten: a l l e s Wissen sei a posteriori, sagen müßten: es liege im Urtheil, alle diejenigen aber, welche sagten: es sei a priori, sagen müßten: es liege im Begriff. Daß es so ist ist klar. Wenn man redet von angebornen Begriffen, da redet man von dem von der Erfahrung Unabhängigen; niemand redet aber von angebornen Urtheilen. Diese be- 25 haupten also, es gebe kein Wissen als das von der Erfahrung unabhängige. Auf der andern Seite diejenigen, welche das Wissen a posteriori geltend machen, sehen alle die allgemeinen Begriffe eigentlich als willkührliche Productionen an, als bloße Zeichen, in denen kein dem Sein Entsprechendes ist. Dies hat seinen Grund darin, daß sie die Vorstel- 30 lung des Einzelnen von dem Begriff trennen, und dadurch begünstigt 234 die I Form des Urtheils oben anstellen, und im Begriff das Sein leugnen. Es ist also eine Zusammenstimmung mit unserer Frage, und diese Einseitigkeit, das Wissen in dem einen oder dem andern zu suchen, macht die Frage interessant. 35 Das Wissen verhält sich zum Wahrnehmen, Anschauen und Denken im engern Sinne gleich. Das Urtheil hat nun eine größere Annäherung zum Wahrnehmen, der Begriff eine Annäherung zum Anschauen und Denken im engern Sinne. Aber dies macht die Sache nicht so klar. Wir wollen untersuchen, in wie fern man einer von beiden Formen das 40 Wissen absprechen könne. Hat man hiezu eine Ursache? Kann man es dem Urtheile absprechen, und sagen: alles Wissen kann nur die Form des Begriffs haben. Wir dürfen nur auf unsere früheren Ergebnisse

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sehen, u m diese Verneinung nicht zu unterzeichnen. Wir haben geleugnet eine verschiedene Potenz des Bewußtseins, des gemeinen und des wissenschaftlichen. | Wenn nun das Wissen nur unter einer F o r m vor- 235 k o m m t , unter der andern aber auch gedacht wird, so wird dieses d e m 5 gemeinen Bewußtsein zufallen, und dies würde also vom h ö h e r n Bewußtsein getrennt sein. W a s Z u w a c h s zur Erfahrungserkenntniß ist beruht auf Urtheilen. K a n n nun unter dieser F o r m nicht gewußt werden, so brechen wir den S t a b über unsere ganze Erfahrung. Dies zwar kann uns nicht hindern, denn wir dürfen uns vor keinem Resultate 10 fürchten; aber wir haben mit der E r f a h r u n g ein Uberzeugungsgefühl, das nicht b l o ß individuell ist; und dies Uberzeugungsgefühl welches im Urtheil versirt (der richtige Sinn der Alten) wird durch jene B e h a u p tung von dem Uberzeugungsgefühl, was das Wissen oder die A n n ä h e rung dazu begleitet völlig getrennt. So wäre also jene Duplicität wirk15 lieh da, welche wir vorhin geleugnet h a b e n . Wir k o m m e n also mit unsern Prämissen in Widerspruch, wenn wir behaupten, bloß unter der F o r m des Begriffs gäbe es ein Wissen.

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N u n müssen wir zweitens dies betrachten. | In jedem Wissen müs- 236 sen beide F u n k t i o n e n thätig sein. Allein wenn wir sagen, d a ß das Wissen gar nicht unter der F o r m des Urtheils vorkomme, so nehmen wir auch unserem Begriff alles dasjenige, was in der organischen F u n c t i o n seinen Ursprung h a t ; also k a n n dann in unserm Begriff die organische Function nicht sein. Was unsere O r g a n e berührt ist nie die Einheit eines selbständigen Seins, sondern nur die M a n n i g f a l t i g k e i t ; nun m u ß eine Einheit gesetzt werden, worauf die Mannigfaltigkeit sich bezieht. Geschieht dies nicht, so ist bloß die Affection ausgesagt, die Beziehung auf eine unbestimmte Mannigfaltigkeit, die niedrigste Stufe des Bewußtseins und zugleich die niedrigste F o r m des unvollständigen Urtheils. Unsere Begriffe haben wir zwar nicht durch die E r f a h r u n g , aber sie füllen sich doch durch das Urtheil, das Erfülltsein und die L e b e n digkeit der Erkenntniß, die sich darauf bezieht, beruht | also auf dem 237 Urtheil. Ist nun das Urtheil kein Wissen, so kann auch das davon im Begriff Gesetzte kein Wissen sein, das ist alles das, was durch die o r g a nische F u n c t i o n g e k o m m e n ist. Eine M e n g e Eigenschaften im physisehen und ethischen Sinn legen wir bei unter der F o r m der niedrigen unvollständigen Urtheile. Die Fülle aller Begriffe hängt also auch immer vom Urtheil a b ; wäre hierin kein Wissen, so wäre alles der A r t im Begriffe leer. -

Dasselbe läßt sich auch auf eine andere Weise ausdrücken. Wie40 fern wir Regeln für das Hervorbringen eines Wissens suchen, müssen wir das Denken so ansehen, d a ß es i m m e r eine größere A p p r o x i m a t i o n zum Wissen zulasse. D i e Vervollständigung der Begriffe beruht auf den Urtheilen. Ist in den Urtheilen kein Wissen, so führen sie auch zu kei-

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ner Annäherung zum Wissen. Wir müßten also unsere Regeln darauf 238 beschränken, die Begriffe | von vorn herein richtig zu bilden. Aber da das Erfülltsein der Begriffe von der Erfahrung ausgeht, die Begriffe selbst aber nicht, so würde gar keine Regel des Verfahrens übrig bleiben, denn was von der intellectuellen Function ausgegangen ist, muß eins so wahr sein wie das andere; der Irrthum kommt nur durch das Hinzukommen des Urtheils, und ist in diesem kein Wissen möglich, so hören alle Regeln auf, ausgenommen die, daß alles was durch das Urtheil gekommen ist nicht zum Wissen gehört. Dies zusammengenommen, so streitet es also gegen die Einheit unseres Bewußtseins, gegen die Verbesserlichkeit unseres Denkens, und dann gegen die Möglichkeit das Fortschreiten vom Denken zum Wissen zu einem geregelten Verfahren zu bringen, wenn man sagt, im Urtheil sei kein Wissen sondern allein im Begriff. Wenn wir das Wissen dagegen bloß in den Complexus der ur239 sprünglichen | Begriffsbildung setzen, so möchte Schleiermacher wohl wissen: wie wir zum Begriff kommen sollten. Der Begriff fängt von unten an von einer unendlichen Mannigfaltigkeit der Urtheile. Das gölte dann aber nicht. Man müßte also von oben anfangen. Das thut man denn auch und setzt alles Wissen a priori. Von oben anfangen heißt aber von dem letzten transcendenten Ende, von der Einheit alles Seins. Aber von oben anfangend, wie sollten wir zum ersten Gegensatz von Gegenstand und Begriff kommen, und zur Theilung höherer und niederer Begriffe? Dies kann immer nur durch das Urtheil geschehen. Die Subsumtion eines niederen Begriffes unter einen höhern ist bloß möglich unter der Form des Urtheils. Gesetzt (was aber gar nicht geht) wir wären von oben herab gekommen zum allgemeinen Begriff Thier. Da sind nun die verschiedenen Klassen und Gattungen zusammen genommen und bestimmt gesetzt. Einzelne darunter enthaltene | 240 Begriffe sind nur ihrer Möglichkeit nach darunter gesetzt. Habe ich aber ein vollkommenes zoologisches System, so kann ich sagen: alle die Einzelnen mit allen möglichen Modificationen sind = dem Begriff Thier. Habe ich aber bloß den allgemeinen Begriff, und finde nun ein Ding, das ich darunter subsumire, so ist das ein Urtheil. Also können wir das Wissen auf keine Weise allein unter die Form des Begriffs stellen. Die entgegengesetzte Ansicht ist: alles eigentliche Wissen ist das, was uns unter der Form des Urtheils k o m m t ; die Begriffe sind bloß willkührliche Zeichen unter welche wir die Masse unserer Urtheile ordnen. Dies ist die allgemeinste Weise wie der Form des Begriffs das Wissen kann abgesprochen werden. N u n aber wollen wir dabei dieses betrachten: wir geben zu aus unserem Vorigen, daß in dem Urtheil wirklich Wissen gesetzt ist; ferner auch, daß es Urtheile giebt, in wel-

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chen das | Subject unbestimmt ist; und daß die Begriffe nicht auf dem- 241 selben Wege gefunden werden als die Urtheile. Aber wenn wir daraus folgern wollen, daß die Begriffe gar kein Wissen sind, wie steht es denn um unsere Urtheile? Wenn nun das Denken unter der Form des Begriffs kein Wissen sein soll, so muß es dem Sein nicht entsprechen, und nicht auf gleiche Weise vollzogen werden. Das letztere hat viel für sich; denn betrachten wir die Naturwissenschaften, so sind die Begriffe o f t umgestoßen, die Thatsachen aber, die Urtheile sind, sind immer dieselben. — Aber worauf beruht dieses? Es heißt im Grunde nur soviel: die höhern Begriffe sind der Veränderung unterworfen, die niedern stehen fest. Denn die Thatsachen stehen auch nicht fest, wenn sie nicht auf bestimmte Gegenstände bezogen werden, und jedes Beziehen ist ein Urtheil. N u n müßte man sagen: Vorstellungen von einzelnen Dingen sind keine Begriffe. Das haben wir aber schon widerlegt. | Wenn aber 242 im Begriff kein Wissen ist, so bleibt im Urtheil gar nichts Bestimmtes, und so geht die gleiche Beziehung in allen auf denselben Gegenstand auch verloren. Eine Beziehung muß man doch immer machen, damit man sich über das Urtheil verständigt. - Woher soll nun die Identität der Begriffe kommen, wenn sie bloß willkührliche Zeichen sind, nicht aus der Nothwendigkeit folgen? Wäre in den Begriffen kein Wissen, so wechselte beständig das Aufstellen derselben, und es wäre alles Verfahren bloß ein hypothetisches, das aber nie ein Wissen ist. Läßt man dies Schwanken in der Begriffsbildung einreißen, dann müssen auch die Urtheile unsicher werden. Aber das Schwanken ist doch da. Allerdings ist es da, aber es ist nicht einerlei, ob man es als gleichgültig betrachtet, oder ob man alles ansieht als nur auf dem Wege zum Feststellen. Ist letzteres, so ist das Schwanken ein Vortheil. Aber ist in den | Begriffen 243 gar kein Wissen, und sind alle gleich eben d a r u m , so sind die Urtheile auch nichts; denn die Thatsachen bleiben zwar dieselben, die machen aber nicht das Wissen, sondern das Denken der Thatsachen. Die Thatsache wird aber anders, je nachdem sie auf einen andern Begriff bezogen wird, und so wird auch das Urtheil danach anders. Geht man ferner davon aus: Begriffe werden in der Erfahrung nicht ursprünglich gebildet, so sind sie auch nicht Resultate der organischen Funktion, sondern der intellectuellen. Ist nun in den Begriffen kein Wissen, so heben wir die Selbstständigkeit der intellectuellen Function auf. Es bleibt uns dann nichts als die chaotische Mannigfaltigkeit der Auffassung, also die niedrigste Stufe des Bewußtseins. -

Wenn also gewußt werden soll, so muß auch unter beiden Formen 40 des Denkens gewußt werden. D. h. 1) es muß geben eine von allen gleichmäßig zu vollziehende Begriffsproduction und ein Getheiltsein | des Seins in sich, welches mit den Gliedern jener Begriffsproduction 244 übereinstimmt; 2) es muß geben eine Reihe von in allen sich gleichmä-

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ßig bildenden Urtheilen, und eine Entwickelung des Seins, welche mit dem Inhalt dieser Urtheile übereinstimmt. Schleiermacher konnte in der einen F o r m nicht anders sagen als: es m u ß geben ein getheiltes Sein, weil es keine Begriffe geben k a n n , wenn sie nicht erstlich einander untergeordnet sind, aber dann auch einander coordinirt. In diesem 5 Coordinirtsein werden sie a m besten auseinander gehalten. Soll dies Coordinirtsein ein Wissen sein, so muß im Sein eine T h e i l u n g sein wie im Wissen. N ä m l i c h die coordinirten Begriffe schließen einander aus; beim Sein ist dies nur eine Theilung. In dem andern mußte von einer Entwickelung des Seins geredet werden, weil in dem Urtheil gesetzt ist, 10 245 was im Subject nur seiner | M ö g l i c h k e i t nach gesetzt ist. Z u demjenigen also was sich von einem D i n g e urtheilen läßt gelangen wir nur successiv, und diese Urtheile schließen einander aus, und in demselben Gegenstande sind sie eine Entwickelung desselben. Dies haben wir zunächst gesetzt, indem wir uns widersetzt haben jener Behauptung, 15 wodurch Eine F o r m des Denkens vom Wissen ausgeschlossen werden sollte. Wenn j e m a n d behauptet: es giebt kein Wissen unter der F o r m des Urtheils, so setzt er gleich, es giebt ein Wissen unter der F o r m des Begriffs. E b e n so umgekehrt. Indem wir also die Ausschließung des einen verneinten, haben wir auch die Setzung des andern verneint, aber 20 nur, sofern sie allein gesetzt werden sollte. H ä t t e n wir statt zu sagen: wir leugnen, d a ß es kein Wissen giebt unter der F o r m des Urtheils, gesagt: wir leugnen, d a ß es ein Wissen giebt unter der Form des Begriffs, so hätten wir die Position die mit jener N e g a t i o n verbunden ist geleug246 net, und wären in die Skepsis gerathen. | Wir nehmen aber die Position eines jeden in Schutz gegen die Ausschließung des andern. Indem durch die C o m b i n a t i o n beider die Scepsis völlig abgewiesen wird, so liegt darin d a ß die A n n a h m e eines Wissens unter der Form des Begriffs, das Wissen unter der F o r m des Urtheils nicht nur nicht ausschließen k a n n , sondern selbst dadurch bedingt wird. Eben so umgekehrt. Wir wollen gleich noch eine Folgerung m a c h e n aus dem G e s a g t e n : Was jetzt in uns ein Urtheil ist, also ein verschwindendes Bewußtsein, geht über in den Begriff, d. h. in das feststehende Bewußtsein; und der Begriff in seiner Vollkommenheit wäre nicht geworden, wenn das Urtheil nicht geworden wäre. Eben so sind wir auf der andern Seite zu Werke gegangen. Es folgt also von beiden Seiten aus, d a ß beides Wissen, unter beiden Formen auch an und für sich nicht verschieden | sein 247 k a n n , sondern d a ß es Eins und dasselbe ist, nur d a ß es für den Producirenden auf einer andern Stufe der Genesis steht. An und für sich ist es dasselbe. Dies müssen wir näher betrachten. Eines Beweises bedarf es nicht, denn es ist abgeleitet aus dem Vorigen. Aber was liegt darin im Vergleich mit einer sehr gewöhnlichen philosophischen Vorstellungsweise? Früher haben wir die Duplicität des Bewußtseins, die Theilung

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desselben in ein niederes und höheres verworfen. M a n hat diesem analog häufig eine Trennung des Seins versucht, und die Erscheinung getrennt vom Sein gedacht. Das niedere Bewußtsein setzt man als versirend im Schein, das höhere im wirklichen Sein der Dinge. N u n wird es uns klar, daß es solche Trennung im Sein nicht geben kann. Wenn das Wissen unter der Form des Begriffs, und das unter der Form des Urtheils jedes ein anderes wäre, dann müßte es, weil das Wissen dem Sein entsprechen muß, in dem Sein eben | solche Trennung geben, und ein 248 Theil des Seins müßte nur unter der Form des Urtheils ein anderer nur unter der Form des Begriffs gewußt werden. Die Begriffe sind nun überall das Feststehende, die Urtheile das Wandelbare, zwar nicht durchaus, doch so daß sie alles Wandelbare in sich schließen. Der wahre Begriff soll aber nichts Wandelbares enthalten. In der Form des Urtheils kann eingeschlossen sein die Vorstellung eines verschwindenden Seins, eines verschwindenden Verhältnisses, in dem Urtheile auf dasselbe Subject bezogen entgegengesetzt sein und sich ausschließen können. Ist das der Fall, so ist das eine nicht wenn das andere ist, das eine muß also verschwinden, um dem andern R a u m zu machen. Trennt man nun zwischen Schein und Sein, so geht diese Trennung hervor aus der des Begriffs und Urtheils. Ist aber Urtheil und Begriff in Bezug auf den Inhalt dasselbe, | so giebt es auch keine Trennung des Wesens der 249 Dinge von ihrer Erscheinung. Dies wollen wir vorläufig festhalten und gleich auf die Grenzen des Wissens anwenden, denn davon muß dasselbe gelten, und wir können jetzt schon einen Theil unserer früheren Ahnung uns als wirkliches Wissen aneignen, nämlich daß dasjenige, was wir am obern Ende des Begriffs und des Urtheils gefunden haben auch nicht zweierlei sondern nur Eins und dasselbe ist. Wir können es zwar nicht unmittelbar daraus folgern, weil wir das Nichtwissen nicht unter das Wissen subsumiren können. Aber wir können uns dies construiren, sofern wir das Wissen in beiden seiner Genesis nach betrachten. Das Wissen ist nur ein Wissen vermöge seiner Übereinstimmung mit dem Sein, und wir sagen: es ist dasselbe Sein, was jetzt unter der Form des Begriffs und was jetzt unter der Form des Urtheils ist. Was an der Grenze des Wissens ist, ist seiner | Form nach kein Begriff mehr, 250 weil wir kein Mannigfaltiges von Merkmalen davon aufstellen können. Indem wir dies sagten sprachen wir dem Gedanken die Form des Wissens ab nicht den Inhalt. Seinem Inhalte nach lag es in derselben Reihe mit allem übrigen Wissen. Der Inhalt des Wissens ist aber das Sein. Hier war es das Sein, wovon ein wirklicher Begriff nicht zu vollziehen ist. Als Ende des Urtheils fanden wir ein absolutes Subject, von dem

9 anderer] anderes

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nichts mehr prädicirt werden kann. Es fehlte hier die Form des Urtheils; es war aber ein angelegtes Urtheil wie jenes ein angelegter Begriff, und es war also eben das Sein nur soweit verfolgt, daß wir das Urtheil darüber nicht mehr vollziehen können. Es wurde also vorgestellt das Sein das über jene beiden Denkformen hinausgeht. Genetisch war also beides verschieden, indem wir zu dem einen kamen durch 251 Betrachtung des | Begriffs, zu dem andern durch Betrachtung des U n heils. Aber beides kam auf dasselbe hinaus, und ist seinem Inhalte nach als unvollzogener Gedanke dasselbe. In der Grenze des Begriffs mußten wir den Gegensatz zwischen Begriff und Gegenstand negiren. W ä r e dieser nicht negirt, so könnte, gesetzt wir könnten den Begriff auch nicht als Begriff vollziehen wegen Mangel an Merkmalen, so könnte doch darüber geurtheilt werden, es könnte dem Begriff ein Gegenstand beigelegt werden. Hier sieht man, wie das absolute Subject, von dem prädicirt werden soll aber nicht kann, und das absolute Sein, worin kein Merkmahl ist, Eins und dasselbe ist[;] könnte noch begriffen werden, so könnte auch noch prädicirt werden und umgekehrt. Wir kommen also auf denselben transcendenten Grund des Wissens. In diesem ist nicht gewußt aber vorausgesetzt die vollkommene Identität des Begriffs und des Gegenstandes, wovon die Zusammen-

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252 Stimmung des Seins und Denkens abzuleiten ist, | so wie jeder Begriff ein Theil von jenem nicht mehr als Begriff zu Setzendem, und wie jedes Urtheil ein Theil des absoluten Subjects. Nun wollen wir uns den vollen Inhalt dieser Voraussetzung noch vergegenwärtigen. Wenn wir sagen: vom Urtheile aus kommen wir zu- 25 letzt auf ein Subject, von dem nichts prädicirt werden kann, so wollten wir bloß von den eigentlichen Urtheilen reden, d. h. von solchen, in welchen das Prädicat nur seiner Möglichkeit nach gesetzt werden konnte. Das absolute Subject ist also ein solches, in dem nichts seiner M ö g lichkeit nach enthalten ist, d. h. wovon auch nichts seiner Wirklichkeit 30 nach ausgeschlossen ist, das Unbeschränkte, das Unendliche, zu welchem also alle andern einzelnen Subjecte sich verhalten wie ein verringertes Sein, weil von jenem nichts ausgeschlossen ist, von diesem aber etwas ausgeschlossen wird, damit etwas ausgesagt werden könne. Wir sagten von der andern Seite: unter jedem höhern Begriff sind 35 253 andere enthalten die coordinirt sind, | aber sich einander ausschließen. Kein Begriff kann nun der höchste sein, der selbst noch unter einem Gegensatz steht, denn da giebt es noch einen ihm coordinirten, und dann haben beide noch einen über sich. Auf diese Weise kamen wir auf den höchsten Begriff, aus welchem selbst der Gegensatz zwischen 40

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Begriff und Gegenstand ausgeschlossen war. Jeder höhere Begriff war Einheit einer bestimmten Vielheit, aber doch auch wieder Glied einer Vielheit. Der höchste Begriff ist also die höchste Einheit, die absolute Einheit, zu welcher sich alles, was begriffen werden kann, verhält wie ein Verringertes, weil es Gegensätze haben muß, aus diesem aber alle Gegensätze ausgeschlossen sind. Indem nun beides, das oberste Ende des Begriffs und das oberste Ende des Urtheils Eins ist, so haben wir als transcendenten Grund des Wissens unter der Form des Urtheils und Begriffs die absolute Einheit gefunden, die zugleich die absolute Unendlichkeit ist, und zwar eine Einheit nicht aus Mangel, weil sie keine Vielheit sein kann, sondern Einheit, weil sie Unendlichkeit ist, und eine Unendlichkeit, die nicht ein verworrenes Mannigfaltiges ist, sondern Einheit. | Alles was wir denken und mit unserm Denken übereinstim- 254 mend setzen im Sein ist gesetzt als an jenes nicht reichend aber darunter befaßt, also mit dem Bewußtsein der Differenz und der Beziehung darauf, aber auch der Abhängigkeit davon. Indem alles auf diese absolute Einheit bezogen wird, begleitet sie all unser Wissen. Soweit haben wir den transcendenten Grund des Wissens auf diesem Wege gefunden. Indem wir ihn gleich gefunden haben als etwas das nicht vollzogen werden kann, so haben wir auch keine Aussicht noch mehr davon zu finden: Damit aber dieser Grund des Wissens uns rein erhalten werde, ist es desto nothwendiger, alle Anmaßungen, etwas anders davon auszusagen, zu entfernen, d. h. genaugenommen: es ist nothwendig, daß wir uns hüten, daß nicht etwas anderes und Geringeres, das noch in der Reihe des Wissens selbst liegt, jenem wissentlich oder unwissentlich substituirt werde. Hiegegen können wir aber nicht besondere Maaßregeln nehmen, denn man kann nicht auf Irrthümer Jagd machen, sondern wo sie einem entgegen | kommen, da muß man ihnen begegnen. 255 Dies wird sich beim Fortgang unserer Untersuchung schon finden. Nun fragt sich: wie das Wissen in seinen beiden Formen innerhalb seines transcendenten Grundes begründet ist? Nämlich innerhalb desselben heißt im Gebiet des wirklichen Denkens, der Begriffe und der Urtheile die vollzogen werden können. Da sind nun die das Denken überall begründenden Gründe des Wissens die verschiedenen Functionen des Denkens, die organische und die intellectuelle. Wir haben schon hie und da über das Verhältniß der Formen des Denkens zu diesen beiden Elementen in allem Denken etwas ausgesagt, aber es ist mehr geschehen, wo wir von unserem Wege abschweiften, um etwas anderes zu beherzigen, als daß wir es schon im eigentlichen Gange unserer Untersuchung ins Reine gebracht hätten. Dies müssen wir nachholen in Beziehung auf das Wissen. | Früher konnten wir es nicht, weil wir noch 256 nicht wußten, ob unter der Form des Begriffs und des Urtheils ein Wissen sei. Wir fragen nun: ist das Wissen unter der Form des Begriffs in

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beiden Functionen gleichmäßig, oder in der einen primitiv und in der andern nur secundair? Das Wissen unter der Form des Begriffs kann nicht in der Einerleiheit der organischen Affection begründet sein, vorzüglich, weil das Wissen ein von allen gleichmäßig producirtes Denken ist. Die organischen Affectionen sind in jedem besonders, aber wenn es 5 ein Wissen geben soll, muß jeder auch aus den organischen Affectionen anderer ein Denken gestalten und einen Begriff bilden können, weil es sonst keine Gemeinschaftlichkeit des Wissens geben könnte. Diese Zusammengehörigkeit der organischen Affectionen ist aber stets bedingt durch die identische Begriffsproduction in allen, setzt also diese 10 257 voraus; | diese kann also nicht in ihr gegründet sein. Nämlich wir theilen uns unaufhörlich unsere Erkenntnisse mit, aber immer nur indem wir in dem andern unsere Begriffe voraussetzen; denn unmittelbar läßt sich das in die organische Function Gesetzte dem andern nicht mittheilen, sondern nur nachdem sie in mir ein Denken geworden ist, nach- 15 dem ich sie durch das Schema der Begriffsbildung festgehalten, kann ich sie mittheilen, was aber nur so geht, daß er gesetzt was ich componirt habe. Wir machen dies am umgekehrten Beispiele deutlich. Es giebt verschiedene Hypothesen in der Naturwissenschaft, nach denen (da dieses die zum Grunde liegenden Begriffe sind) die naturwissen- 20 schaftlichen Thatsachen ausgesprochen werden. Hat jemand ein Factum gesehen, was ich nicht gesehen habe, so theilt er es mir mit durch ein Urtheil. Hier hat er Subject und Prädicat mit einander verknüpft. 258 Sind nun diese Begriffe aus einem von mir nicht anerkannten | Schematismus, so kann ich sie nicht brauchen; aber das gesehene Factum kann 25 ich nicht verwerfen. Ich übersetze also seine Begriffe in die meinigen. Durch dies Übertragen habe ich mir auch seine Thatsache angeeignet. Das Übertragen setzt also das Kennen seiner Begriffe voraus, denn sonst konnte ich sie gar nicht übersetzen. Eben so bei Begriffen wo ich nicht erst die des andern in die meinigen übersetzen darf, wo die Be- 30 griffe dieselben sind, findet doch nur Mittheilung statt, indem die Identität der Begriffsbildung in jeder einzelnen Operation des Denkens vorausgesetzt wird. In jeder einzelnen Operation wird also die Gleichheit der Begriffe vorausgesetzt. Ist sie nicht da, so wird eine Vergleichung angestellt, wobei dasselbe herauskommt. 35 Wir haben noch ein zweites gehabt, die Einerleiheit der Sinne in allen, der Organe, wodurch die Wahrnehmungen in uns entstehen. Diese Einerleiheit der organischen Funktion ist nothwendig, wenn eine Mittheilung des Wissens sein soll[;] anders würden schon die ersten Elemente der Wahrnehmung, wie sie der Begriffsbildung vorausgehen, 40 ganz verschieden sein; so gewiß es ein Zusammengehören der intellectuellen Thätigkeit des einen mit der organischen im andern geben soll. - Allein aus dieser Einerleiheit der organischen Funktion, entsteht kei-

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nesweges die Identität der Begriffe. Das Factum, | wobei hierauf alles 259 ankommt ist dieses, daß unter verschiedenen Umständen bei derselben organischen Affection derselben organischen Function ganz andere Begriffe erregt werden. Z. B. : Wenn wir den Kindern Begriffe mittheilen wollen, so geht dies nicht anders, als mit den Zeichen der Begriffe, mit Wörtern, und wir müssen sie hiebei in den Fall setzen durch dieselbe organische Function denselben Gegenstand wahrzunehmen, und dann das Zeichen für den Begriff, das Wort, an diesen Gegenstand heften. Jeder Gegenstand ist nun für das System der organischen Function ein ganzes Aggregat von Wahrnehmungen, die auf ganz verschiedene Begriffe bezogen werden können. Wenn man einem Kinde einen Begriff von der grünen Farbe machen will, so muß man ihm einen Gegenstand geben. Woran soll aber das Kind wissen ob es das Grüne mit der Gestalt, der Schwere, oder mit etwas anderem verbinden soll. Soll es einen Ton fixiren, so kann es nicht wissen ob das Zeichen gelten soll der Höhe und Tiefe, | der Intension oder Geschwindigkeit des Tons. 260 Das Kind kann nur errathen aus dem Zusammenhange, was wir gemeint haben. Räth es falsch, so fixirt es sich einen falschen Gebrauch eines Wortes. Daß also die Begriffe in allen dieselben werden, das ist nicht in der organischen Funktion begründet. Man könnte nun freilich wenn ich ζ. B. dem Kinde grün am Chrysopas zeigen will, und dem Kinde die Vorstellung von der Farbe, Stein, Gestalt Eins wird, und es das Zeichen auf alles dies beziehen will, sagen: der Begriff eines Gegenstandes ist nichts anders als der ganze Begriff des Gegenstandes, und die verschiedenen Merkmale eines oder des andern Gegenstandes werden nur an jedem wieder anders combinirt und indem wir den ganzen Inhalt der organischen Affection, die das Kind beim Anblick des Chrysopas hat, durchnehmen, geben wir auch dem Kinde den ganzen Begriff des Gegenstandes, und es liegt nur daran, daß man die Handlung nicht mit einem Male vollziehen kann, aber wir müssen doch sagen: wer mit uns denselben Gegenstand wahrnimmt, dem muß die Affection denselben Begriff erregen. Das ist weder bei erwachsenen Menschen wahr noch bei Kindern. Wenn zwei von verschiedenem Interesse, in derselben organischen Affection sind, so wird die Aufmerk samkeit des einen auf etwas anderes gehen, als die des andern; man darf nur denken, wie dieselben Thatsachen, wo dieselben organischen

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2 1 „Chrysopras, wofür man im gemeinen Leben Chrysopas zu hören pflegt, [...} eine Art von Goldedelstein (Chrysolith), der sich durch seine gelbgrüne, dem Porreelauche ähnelnde Farbe unterscheidet." (Campe: Wörterbuch, Bd. 5, S. 189)

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Affectionen zum Grunde liegen, oft ganz verschieden erzählt werden. 261 Die Begriffsbildung | wird also nicht durch die organische Funktion b e s t i m m t . - Es bleibt also nichts übrig als d a ß wir sagen: die allen gemeinsame Begriffsproduction ist nicht in der Identität ihrer organischen F u n c t i o n e n , weil wir sie uns auf diese Weise nicht genetisch kön- 5 nen begreiflich m a c h e n , sondern wir k o m m e n i m m e r a u f eine subjective Verschiedenheit. D a s Begriffbilden ist nichts anders als das Werden des Denkens aus der organischen Affection. Wenn auch die organische Affection ganz gleich ist, so bleibt doch der intellectuelle Prozeß von diesem Punkte an ganz frei. N u n ist also nur übrig, d a ß wir sagen: die 10 gemeinsame Begriffsbildung kann nur in der Einerleiheit der intellectuellen F u n c t i o n in allen begründet sein: was liegt darin? In so fern es ein Wissen unter der F o r m des Begriffs giebt, in so fern m u ß das System aller Begriffe in der in ihnen allen identischen Vernunft auf eine zeitlose Weise gegeben sein d. h. das System der Begriffe m u ß das Wesen 15 262 der Vernunft vor aller Handlung | angesehen ausmachen. Wir fragten nach der Begründung dieser identischen Vollziehung der Begriffe in allen, sofern es sie giebt, und sagten: es giebt zuerst eine Identität der organischen Affection, aber darin fanden wir die Identität der Begriffsvollziehung nicht; es gäbe zweitens eine Identität der wahrnehmenden 20 Sinne selbst; darin war sie auch nicht. N u n sagten w i r : es giebt nichts mehr was beim Denken concurrirt als: gegenüber der organischen F u n k t i o n die intellectuelle, gegenüber der Sinnlichkeit die Vernunft, gegenüber der Welt, die absolute Einheit alles Seins. Z u n ä c h s t sehen wir auf die Sinnlichkeit und Vernunft und sagen: ist die Identität der 25 Begriffsbildung nicht in der Sinnlichkeit, so ist sie in der Vernunft. D a ß die Identität der Sinne nicht fehlen darf, versteht sich von selbst. S o sagen wir a l s o : die Identität der Begriffsbildung ist begründet in der | 263 gemeinsamen Vernunft. Wir haben dies nun ausgedrückt, daß das System der Begriffe zeitlos das Wesen der Vernunft ausmacht. Dies 30 machen wir zunächst durch Analogie deutlich. Wodurch ist die Existenz einer Pflanze begründet? Wir geben erst viel Negatives zur Antw o r t und sagen d a n n : sie ist in der lebendigen K r a f t des Saamens begründet, und dies drücken wir so aus, daß die Pflanze in dem Saamen auf unräumliche Weise begründet ist. Erst später k o m m t sie auf 35 gewisse Veranlassungen im R a u m heraus. Diesen Typus wollen wir festhalten. Wenn wir ein unter der F o r m der Begriffe stehendes Wissen a n n e h m e n , so liegt darin dies: wenn ich auf ähnliche Weise alle M e n schen durch die ganze Welt führen könnte, und ihnen die ganze Welt vergegenwärtigen, so würden in allen dieselben Begriffe hervortreten. 40 O h n e Einwirkung auf die organische Function k o m m t kein Begriff zu 264 Stande. D e r O r t des Begriffs ist aber die Vernunft, aus | der organischen Function k o m m e n sie nicht. D i e Pflanze k o m m t nur durch Licht

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und Luft zu Stande, aber ihr Ort ist doch eigentlich im Saamen. Nehmen wir also eine solche Identität der Production an, so müssen wir sagen: daß in dem einen diese Begriffe entstehen, in dem andern jene, das entsteht daher, daß dem einen dies von der Welt gegenwärtig ist, dem andern jenes. Aber das Wissen besteht darin, daß der eine unter denselben Umständen des andern Begriffe ganz annehmen muß. Wenn einer also nicht alle Begriffe aus sich producirt, so liegt das nur darin, daß es ihm an der organischen Veranlassung fehlt. Diese aber bewirkt nichts, als daß die Begriffe wirklich hervortreten, daß sie erscheinen. Ihre Erscheinung ist durch organische Veranlassung gesetzt, ihr Sein auf zeitlose Weise in der Vernunft. Dies liegt in dem transcendentalen Gebiet, wo alle Begriffe | mehr den Character der Formel haben. Wol- 265 len wir sie beleben so kommen wir allzu leicht aus dem philosophischen Gebiet heraus. Wir wollen uns also mit dieser Formel begnügen: das System der Begriffe ist in der Vernunft in allen identisch gegeben auf zeitlose Weise. Man sagt oft so: die Begriffe schlummern und werden ins Bewußtsein gebracht durch die organische Veranlassung. Durch diese Deutlichmachung kann aber leicht etwas Falsches hineinkommen, denn der Begriff als solcher kann gar nicht schlafen. Schleiermacher mögte noch eine andere Formel setzen: die Vernunft ist die in allen lebendige Totalität des Schematismus der Begriffe. Der Schematismus ist aber nur der allgemeine Typus wie sie entstehen. Sie sind in der Vernunft gegeben als lebendige Kraft, aber so wie sie wirklich hervortreten sollen, so müssen sie von außen angeregt werden. Wäre in allen | ein- 266 mal die ganze Totalität der organischen Veranlassung, so wäre auch dieselbe Begriffsbildung da. - Wir sagten die Vernunft sei der Ort für die Begriffe; hier ist das negative zeitlos von etwas Positivem gefaßt, und es heißt, daß die Bedingtheit aller Begriffe durch einander auf eine ursprüngliche Weise in die Vernunft gesetzt sei, so daß sie auf zeitliche Weise aus der Vernunft hervorgehen, die die lebendige Kraftanstrengung ist. Der Ausdruck ist gebildet nach der Art wie die Alten sagten: die Gottheit sei der Ort aller lebendigen Kräfte. - Man mag dies ausdrücken wie man will, wenn man nur vor dem Bewußtsein keine wirklichen Begriffe annimmt, es kommt dann immer das Rechte heraus. Dies ist die Wahrheit, die in der Ansicht von den angebornen Begriffen liegt. Diese Lehre ist eigentlich der Gegensatz zu dem, was wir geleugnet, als ob die Begriffe nur ein secundäres Product wären, die organische Function das Reale, und sie wären nur der Schatten, abstracte Schematism, der organischen Affectionen. Dies leugneten wir, daß die

31 f Schleiermacher denkt in diesem Zusammenhang wohl vor allem an die Stoa; vgl. die Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, SW 3,4, 1, S. 129.

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Begriffe nicht von der organischen Affection begründet sind, und daraus hat sich eben unsere vorige Auseinandersetzung begründet. - In den ältern metaphysischen Darstellungen hat man nicht die empirische Behauptung an sich selbst angefochten, sondern man hat ihr die Lehre von den angebornen Begriffen als Hypothese entgegen gesetzt. Indem 5 man sagt a n g e b o r n e Begriffe, werden Begriffe selbst gesetzt vor aller Erregung der organischen F u n c t i o n , und das ist rein hypothetisch, das sich nie nachweisen läßt und das man nicht als Voraussetzung annehmen k a n n . Voraussetzungen finden nur statt, wenn m a n sich an der Grenze eines Gebiets befindet, und man ist niemals berechtigt, mehr in 10 die Voraussetzung hineinzulegen als nothwendig ist, wenn | die Realität 267 dessen dargethan werden soll, was nothwendig und a n e r k a n n t ist. Dies ist hier der Fall. Wir wollen die Idee des Wissens als Production, die zugegeben ist begründen. Sie hat etwas Räthselhaftes, und die Uberzeugung davon können wir nur durch eine Voraussetzung vermittelt im 15 Denken uns klar machen. Aber das Erkenntnißgebiet wofür wir hier die Voraussetzung m a c h e n , ist das Bewußtsein selbst. In der Voraussetzung darf nur dasjenige sein, was an der Grenze liegt. H i e r kann also nicht in derselben liegen was im Bewußtsein selbst v o r k o m m t . N i m m t man also die Voraussetzung der angebornen Begriffe so, d a ß sie als 20 Begriffe vor der organischen Function sind, so ist das falsch. In der Vernunft ist nur die Tendenz, die Begriffe zu bilden. Sie werden aber erst im Z u s a m m e n s e i n der Tendenz mit der organischen Function. So wie wir nun die Sache gestellt haben, haben wir dies von allen Begriffen aus gesagt, sofern sie ein Wissen sein sollen, | in den nothwendigen 25 268 Z u s a m m e n h a n g des Denkens hineingehen sollen, d a ß sie nämlich in der Vernunft als Tendenz liegen vor der organischen F u n c t i o n . In der gewöhnlichen Lehre von den angebornen Begriffen, besonders in der leibnitzischen Philosophie, ist ein Gegensatz gemacht zwischen den angebornen und den erworbenen Begriffen, welchen Gegensatz wir 30 durchaus nicht machen können. Es b e k o m m t aber jene Ansicht einen Schein, wenn man mehr ins Einzelne geht, in die niedern Begriffe der Vorstellungen von den einzelnen Dingen. Bleibt m a n bei diesen und frägt: können die Vorstellungen von einzelnen Dingen auch auf zeitlose Weise in der Vernunft gegeben sein, als die höhern Begriffe? Das ein- 35 zelne D i n g erscheint überhaupt als ganz zufällig, die höhern Begriffe scheinen fester zu sein im Denken wie im Sein. D a r u m hat es einen 269 Schein für sich, die allgemeinen, höhern | Begriffe als angeboren allein 8 das] daß

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35 als] Kj wie

Vgl. Leibniz:

„Nouveaux

essais sur l'entendement

humain",

Buch 1, Kap. 1

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zu setzen. Aber wollte man dies annehmen so käme m a n darauf, daß bloß der Begriff Ding ein angeborner wäre. Im Begriff Ding ist aber nichts gesetzt als ein dem Ich Gegenüberstehendes. Darin liegt nichts positives mehr, und so kömmt man leicht darauf, die Begriffe rein in die organische Function zu setzen. Wenn alle Begriffe angeboren wären, so könnte man sagen, daß wir uns gar nicht incommodiren brauchten zu leben. Denn das ganze Leben wäre dann eine bloße Repetition. Aber das haben wir nicht gesagt, sondern wir haben bloß gesagt: daß die Productionsweise der Begriffe in der Vernunft als angeboren liege, nicht das entwickelte Sein der Begriffe selbst, was sich auf alles, selbst auf das Allerkleinste anwenden läßt. Höhere und niedere Begriffe sind auf gleiche Weise zeitlos in der Vernunft gesetzt, | denn das Begriffma- 270 chende in den niedern Begriffen sind die höhern, und wenn wir diese betrachten vollständig geworden, so sind die niedern alle darunter enthalten. N u n setzen wir in der Vernunft die Tendenz gegeben sie hervorzubringen, also ist in der Tendenz die höhern Begriffe hervorzubringen, die Tendenz die niedern Begriffe hervorzubringen mit gegeben. Wie werden wir uns nun die Entstehung der Begriffe erklären können? Der Begriff ist diejenige Form des Wissens die in der intellectuellen Function begründet ist. Sofern es also ein Wissen geben soll, m u ß in der Vernunft aller dasselbe Begriffssystem auf zeitlose Weise angelegt, begründet sein. N u n fragt es sich nach der Entstehung der Begriffe selbst im Bewußtsein? Diese ist das Complement zu jenem und wir müssen sagen: der Begriff als Begriff ist nicht vor der organischen Function, sondern | das Bewußtsein des Begriffs ist bedingt durch die 271 organische Function. Wir müssen also positiv sagen: daß die im System des Wissens liegenden Begriffe sich entwickeln in jeder Vernunft auf dieselbe Weise, aber nur auf Veranlassung der organischen Function. Schleiermacher will noch einmal sagen, daß wir hier von der reinen Idee des Wissens reden, und wir uns also versparen, die Aberrationen anders zu erklären; jetzt wollen wir nur erst der reinen Idee des Wissens auf die Spur kommen, denn sonst könnte man gleich wieder sagen: es entwickelt sich nicht immer dasselbe System von Begriffen. Das entsteht aus jenen Aberrationen, auf die wir jetzt nicht Rücksicht nehmen. Setzen wir voraus, wie wir es gethan haben, d a ß die Productionskraft der Begriffe in der Vernunft liegt, so bleibt, die Begriffe werden im Act des Denkens. Im Denken sind beide Functionen. In der intellectuellen Function ist befindlich | die Richtung auf das ganze 272 Gebiet der Begriffe. Diese Tendenz wird jedesmal auf gewisse Weise bestimmt, und das so Bestimmte kommt ins Bewußtsein. Die Bestimmung aber geschieht auf Veranlassung der organischen Function. Hierin liegt noch etwas gerade in unserer vorigen Betrachtung, wie das Wissen von allen gleich construirt wird. Das ist nämlich, daß kei-

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ner Begriffe durch einen andern empfängt, sondern daß die Begriffe jedem nur werden durch seine organische Affection. Vorläufig bemerken wir daß uns dieses wiederum aufspart, und einen Platz läßt für die Differenz in den Begriffen, worauf wir jetzt noch nicht sehen; denn wenn wir festsetzen, daß es kein Empfangen des Begriffs giebt, so fragt 5 sich gleich: geschieht denn gar nichts wenn ich jemandem einen Begriff mittheile? Allerdings geschieht etwas, aber er empfängt oft etwas anderes, als was ich ihm mittheile. Dies geschieht nicht weil das Begriffssy273 stem ein anderes, sondern weil auch in dieser | trocknen Mittheilung die organische Function ihre Rolle spielt, denn der Begriff will immer 10 erst Bild werden, und da tritt die organische Function dazwischen, in welcher der Grund des Differenten ist. Was die Sache selbst betrifft, so liegt in der Idee des Wissens, daß jeder sich das Denken soll construiren können wie der andere, also auch, daß keiner die Mittheilung des andern braucht. Es ist uns zwar nirgends gegeben, wie das geschieht 15 ohne Mittheilung, aber die Möglichkeit müssen wir voraussetzen, und in der Erfahrung entspricht ihr auch etwas, nämlich die Communication zwischen Menschen, die in der Sprache nichts mit einander gemein haben. Sie stiften bloß die gemeinsame Erregung der organischen Function, woran sich der Begriff auf gleiche Weise erzeugt. Was darin 20 Abweichendes vorkommt liegt wieder in den Aberrationen. - Daraus 274 folgt weiter, daß es im ganzen Gebiet des Wissens ein Verhältniß | von Erfindung und Nachahmung nicht giebt. Jeder Erfinder im Wissen ist bloß primus inter pares, denn alle andern müssen dasselbe thun, als er. Dies Verhältniß ist bloß in der Kunst und in der Praxis. Jeder muß 25 selbst erfinden, und der andere kann nur die Veranlassung es zu erfinden werden; der Begriff ist nur in dem Product, und er muß sogar in jedem Moment wieder reproducirt werden; er ist im Bewußtsein nur auf eine momentane Weise, und nur in der Reproduction des Begriffs kann jeder sich selbst wohl nachahmen, aber nicht einer den anderen, 30 soll derselbe Begriff erzeugt werden von einem andern, so muß er ihn in denselben Zustand der Erregung setzen. Dieses ist nun wiederum das Wahre in der den meisten so wunderlichen platonischen Theorie, daß es eigentlich kein Lernen giebt, sondern bloß ein Erinnern. Das Wahre darin ist, daß es kein Lernen giebt. 35

3 aufspart] Kj aufgespart bleibt Abschreibers

3 0 nachahmen] folgt (?); wohl unsichere

Lesung

des

3 3 - 3 5 Zur Bestimmung des Lernens als Wiedererinnerung (Anamnesis) des von der Seele in ihrer Präexistenz bereits geschauten Allgemeinen vgl. ζ. B. Phaidros 72 e und 92 d sowie Menon 81 d.

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Das Erinnern setzt die angebornen Begriffe voraus. Dies hat aber Piaton nie auf doctrinale Weise gesagt, sondern bloß auf mythische Weise. Der positive Ausdruck, daß das Empfangen der Begriffe ein Erinnern ist kein Lernen, knüpft sich an diese mythische Darstellung. Jenes Negative aber, daß es kein Lernen der Begriffe giebt, ist die reine Wahrheit. Wir fragen: wenn wir nun davon ausgehen, daß das ganze System der Begriffe auf diese Weise in der | Vernunft begründet ist, und dies 275 ins Bewußtsein tritt nach Maaßgabe der organischen Affection, und wir nun voraussetzen daß jeder Mensch ein Subject ist für diese gleichmäßige Begriffsbildung, worin begründet sich dies Recht? Offenbar nur darin, daß wir alle Menschen für Wesen unserer Art halten. Jeder für sich ist aber lebendige Einheit, die im Selbstbewußtsein, im Ich niedergelegt ist; d. h. wir gründen diesen Anspruch darauf, daß wir jeden Menschen für ein uns gleiches Ich halten. Ohne diese practische Voraussetzung hätten wir keine Grenze, und wir wüßten nicht, ob wir es von den uns Allernächsten allein verlangen sollten, oder ob wir es auch auf die Nichtmenschen ausdehnen sollten, und sie ist so allgemein, daß wir erst auf eine besondere Weise zu einer Einschränkung derselben berechtigt sein müssen, wie ζ. B., wenn einer wahnsinnig ist. Die Kinder dehnen die Voraussetzung der Begriffsproduction | auch auf die 276 Thiere aus, und schreiben ihnen ein analoges Bewußtsein zu. Davon kommt der Mensch in der Entwickelung allmählig zurück, aber nie ganz, denn im gewöhnlichen Leben beschleicht uns immer noch etwas Analoges, und wir sind unsicher wie das thierische Bewußtsein sich zu dem unsrigen verhalte. Aber in dem Maaße als wir dem Thiere das Ich, d. h. die Einheit und Continuität des Bewußtseins absprechen, hören wir auch auf ein gemeinsames Bewußtsein zwischen ihnen und uns anzunehmen. Hier haben wir also die Indication, daß unsere Voraussetzung, daß die gleichmäßige Begriffsbildung gerade soweit müsse ausgedehnt werden, als wir ein uns gleiches Ich setzen, auf die rechte Weise ist begrenzt worden. Wenn wir zeigen wollten, daß einer nicht in der Identität der Begriffsbildung mit uns steht, so müßten wir erst zeigen, daß das Bewußtsein des Ich in ihm aufgehoben sei. | Wir heften 277 jene Voraussetzung also an das Ich. Es kommt hier auf folgendes an: wir sagten, die Begriffe sind in der Vernunft gegründet, welche in allen identisch sind; sie werden aber auch durch die organische Function veranlaßt. Diese setzen wir verschieden, und es soll dennoch eine identische Begriffsbildung zu Stande kommen, indem der Organismus in der Begriffsbildung nachgeahmt wird, jeder die organische Affection anderer sich selbst wieder producirt. Wir gaben auch zu, daß dieselben Gegenstände nicht immer dieselben organischen Affectionen in allen hervorbringen, in wie fern sie schon mehr sind, als die bloße äußere Berührung der Sinne, und schon in dem Übergange zur Begriffsbildung

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liegen. Diese Einwirkung wird in Verschiedenen verschieden, und doch dehnen wir die Identität der Begriffsbildung über alle menschliche 278 Wesen aus. Wir müssen also eine organische | Affection setzen außer jener ganz äußern, die von aller äußern unabhängig ist. D a s ist das Selbstbewußtsein, worin der M e n s c h sich Gegenstand wird, und dies 5 beruht auf dem, was wir eigentlich das Ich nennen, das Unterscheiden des M o m e n t s vom beharrlichen Sein, und die Beziehung aller M o m e n t e a u f dies beharrliche Sein. Den Thieren sprechen wir dies Selbstbewußtsein ab, wodurch sie sich selbst Gegenstand werden, ihr Bewußtsein ist ein fließendes, worin sich Subject und O b j e c t nicht genau scheidet, 10 wogegen wir im Ich uns in verschiedenen Acten als ein Beharrliches setzen, und so die innere Einheit von den einzelnen Acten scheiden. In diesem Unterschied beruht, d a ß wir uns selbst Gegenstand werden, d a ß wir einen einzelnen Augenblick herausgreifen, und ihn aufs 279 Beharrliche beziehen. | Diese Affection die vom M e n s c h e n auf ihn 15 selbst ausgeht, wiefern sie W a h r n e h m u n g seiner selbst wird, ist die identische Basis in allen, worauf wir die Identität der Begriffsbildung gründen, und diese ist von aller äußern Einwirkung unabhängig. Also sagen wir n u n : das ganze System der Begriffe könne seinem Wesen nach aus dem Bewußtsein des Ich hervorgehen, und dieses ist das 20 Wahre in der Behauptung, daß der M e n s c h die Welt im Kleinen sei. Ist unser Begriffssystem vollständig ausgebildet, so m u ß das Ich die ganze Welt sein; alle wesentliche Differenzen und C o m b i n a t i o n e n , die in der Welt v o r k o m m e n , müssen im M e n s c h e n selber gesetzt sein. Vermöge dieses gemeinschaftlichen Selbstbewußtseins, haben wir einen Anknüp- 25 fungspunkt mit jedem M e n s c h e n . Wir setzen aber voraus, es giebt kein Selbstbewußtsein, wenn dem M e n s c h e n nicht Affectionen von außen | 280 g e k o m m e n sind, indem wir Subject und O b j e c t in der W a h r n e h m u n g unterscheiden. Es liegt in jener Voraussetzung, d a ß das ganze System der Begriffe aus dem Bewußtsein des Ich von allen auf gleiche Weise 30 könne entwickelt werden, also i m m e r dieses, d a ß die Affectionen von außen geschehen. Wenn ein anderer auch nicht die ganze Welt aufgef a ß t h a t , oder dieselben Theile als wir, so ist er doch identisch mit uns zu betrachten, weil wenn ihm diese Affectionen von außen gegeben wären, in ihm dieselben Begriffe als in uns sich bilden würden. Ein 35 Bewußtsein von ganz verschiedenen T h e i l e n der Welt kann ausgeglichen werden durch Punkte im innern Kreise des Selbstbewußtseins, die jeder selbst hat. Hierin liegt nun also, d a ß der M e n s c h , wie er sich selbst Bewußtsein wird, ein Bild der Welt im Kleinen ist; alle C o m b i n a 281 tionen in der Welt sind in ihm gegeben, alle Begriffe | sind der F o r m 40 aber nicht dem Inhalt nach in jedem gegeben. W i r können hier nur die Grenzen der Voraussetzung der Formel noch angeben. Was uns hieraus klar wird, ist: wie wir für die beiden festgestellten Punkte einen An-

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kniipfungspunkt finden um ein gemeinschaftliches Denken mit jedem menschlichen Wesen behaupten zu können, und dies ist das Wesentliche von der Behauptung, daß die Begriffe der Form nach im Selbstbewußtsein eines jeden gegeben sind. Hierdurch allein ist eine Mittheilung als möglich gesetzt. Wir haben nun die Begriffe, wiefern sie ein Wissen bilden, von der Seite dieses Merkmals des Wissens, daß es ein von allen gleichmäßig construirtes Denken ist, betrachtet. Es bleibt aber noch etwas übrig, wenn wir das ganze Begriffsverkehr der Menschen betrachten, was nicht unter das Wissen aufgenommen ist, was aber doch auch ein Denken ist. Was machen wir nun hiemit? Was sind die Begriffe, | die kein Wissen sind und werden? Diese Frage ist für 282 unsern Zweck, Regeln für das Denken zu finden, daß es in jedem Act ein Wissen werde, wichtig. Also müssen wir fragen: wenn es Begriffe giebt, die nicht in das System des Wissens eingehen, was sind und bedeuten sie? Ein Begriff geht nur in sofern nicht ins Wissen ein, als wir ihn als einen willkührlichen setzen. Wir abstrahiren hier nämlich vom Irrthum, denn ein solcher Begriff hat immer einen wahren, der ihm entspricht; und setzen wir also letzteren, so wird dieser allerdings ins Wissen eingehen. Es giebt aber Begriffe die für sich betrachtet nicht als irrige nachgewiesen werden können, und die doch nicht ins Wissen eingehen. Solche machen entweder gar keinen Anspruch, daß ihnen ein Sein entsprechen soll, oder wenn sie es thun, so haben wir die richtigen Begriffe, wozu sie die falschen sind, noch nicht erkannt. Wir ahnen | aber, daß sie Irrthümer sind, zu denen wir die richtigen Begriffe zu 283 suchen haben. Der Begriff Centauer ist ζ. B. ein solcher, der gar nicht Anspruch macht ins Wissen einzugehen. Wie steht es aber mit den zweiten, die uns als falsche Begriffe gegeben sind, wozu wir die richtigen noch nicht gefunden, und die also deshalb nicht in das System des Wissens eingehen? Hier müssen wir sagen: Wir können uns nur zugleich denken, daß wir von einem Begriff die Uberzeugung seiner Wahrheit haben, und daß wir ihm seine Stelle in der Totalität der Begriffe anweisen können. Wenn alle Begriffsbildung von Anfang an darauf angelegt wäre eine Totalität zu bilden, so würde man nur an einer gewissen Stelle dazu kommen, einen Begriff zu bilden. Das wäre der eine und regelmäßige Gang, wenn man von vorn herein ein regelmäßiges I System des Wissens anlegte. Das geschieht aber nicht, und 284 die Begriffe haben immer noch etwas an sich von ihrer ersten chaotischen Auffassung. Jemehr sich nun ein neues Denken aus dem chaotischen organisirt, desto mehr giebt es willkührliche Begriffe, von denen wir nicht wissen ob sie wahr sind oder falsch. Je mehr das kunstmäßige Denken, womit jeder Begriff seine Stelle im Ganzen erhält, eingeleitet ist, desto mehr muß das willkührliche Denken aufgehoben werden, und sind alle unsere Begriffe in solch System aufgenommen, so

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k a n n es gar keine willkührlichen Begriffe mehr geben. Wir sehen also, das willkührliche Denken bildet nicht ein ganzes Gebiet für sich, sondern soll allmählig in dem G e b i e t des D e n k e n s , was im Wissen aufgeht verschwinden. J e d e r Begriff hat soviel Ungewißheit, Willkühr, als er 285 noch nicht mit seiner Stellung im Ganzen gesetzt ist, | und dann ist er 5 i m m e r nur ein Übergangspunkt. Dieses willkührliche Denken soll also aufhören. D a m i t würde aber auch alles Erfinden im Denken unter der F o r m des Begriffs aufhören. Die Begriffe wären ein geschlossenes G a n ze, und könnten nur übertragen werden. Was nun die andern willkührlichen Begriffe betrifft, denen wir keinen Anspruch auf das Sein einräu- 10 men, so sind sie eigentlich vom Irrthum ausgegangen; wir können bei allen solchen Begriffen, (ζ. B. dem der Centauren) nachweisen, wo in ihnen die Uberzeugung lag, d a ß sie einem Sein entsprächen. Sobald sie aber als Irrthümer eingesehen sind, so sind sie auch keine Begriffe mehr. Die Begriffe existiren dann nur noch als Bilder, als solche können 15 sie der Kunst anheim fallen, aber da sind sie dann auch keine Begriffe mehr. Es ist daher falsch der Kunst nachzusagen, sie sei ein Spiel mit 286 erdichteten Begriffen, denn sie kann nur Bilder gebrauchen, | denen ein erdichteter Begriff zum G r u n d e gelegen. Also auch bei diesem willkührlichen D e n k e n bleibts dabei, d a ß alles willkührliche Denken ver- 20 schwinden soll, und daß alles Denken ein Wissen werden soll. W i r gehen nun zum andern M e r k m a l des Wissens über, d a ß das D e n k e n , das Anspruch auf ein Wissen m a c h t , einem Sein entspreche, es m u ß also auch dem Denken des Seins unter der F o r m des Begriffs entsprechen. D a s ganze Sein m u ß im ganzen System der Begriffe aufge- 25 hen, es m u ß sich in sich auch verhalten, wie das höhere und niedere, wenn es kein absolut höchstes und niedrigstes giebt. N ä m l i c h es war dieses das Wesen der Begriffe, d a ß jeder, er sei welcher er wolle, einen höhern über sich h a b e , und einen niedern in sich enthalten müsse. Soll das Sein ihnen entsprechen, so m u ß solcher Gegensatz auch darin sein. 30 287 D a s h e i ß t : was im Sein | vereinzelt ist, das darf auch nicht als ein schlechthin Selbstständiges gesetzt werden, sondern es ist Quelle vom andern Sein, das auf untergeordnete Art selbstständig ist, und unter einem höhern steht, wodurch seine Selbstständigkeit begrenzt wird. D a s ist die Voraussetzung, die durch die Beschaffenheit des Seins 35 bedingt wird. Es ist die Lehre von den Ideen oder vom Realismus der Begriffe. Über den Sprachgebrauch erklären wir uns. Diese Ansicht haben wir zuerst auf zusammenhängende Weise im Gebiet der eigentlichen Philosophie in den Schriften des Piaton erhalten, welcher der Urheber der Lehre von den Ideen ist. Es k o m m e n aber bei ihm drei 40 Ausdrücke darüber vor, denen folgende W ö r t e r in unserer Sprache entsprechen: idea unser Idee genos unser G a t t u n g und eidos unser Art. 288 Diese drei W ö r t e r sind in der platonischen | Philosophie gleichbedeu-

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tend, und werden verwechselt. Erst die spätere philosophische Sprache hat genos (Gattung) und eidos (Art), als einander subordinirt unterschieden. Da wurde denn der Ausdruck idea (Idee) ganz verworfen, nicht [so] daß idea (Idee) etwas bedeute das über genos (Gattung), über dem Gattungsbegriff, wie dieser über dem Artbegriff [liege], denn so etwas wäre das Verhältniß für Art und Gattung, für ein drittes ist nicht Raum. So ist entstanden daß man später den Ausdruck idea (Idee) in die Sprache aufgenommen, aber in einer andern Bedeutung. Man verstand unter Idee das im Sein, das der gegenseitigen Unterordnung im Denken, welche durch Gattung und Art bezeichnet ist entspricht. Von diesem Sprachgebrauch aus sagten wir: Lehre von den Ideen oder Realismus der Begriffe, denn es ist gleich. | Nämlich die 289 Sache ist die: bei Piaton waren diese drei Ausdrücke gleich, weil er sie gebrauchte nicht als Bezeichnung für die Verhältnisse des Denkens in sich, sondern als Bezeichnung dessen, was im Denken und Sein einander entspricht. Später hat man es getheilt und Gattung und Art als Bezeichnung der Glieder des Gegensatzes im Gebiet des Begriffs, des Höhern und Niedern, gebraucht, und der Ausdruck Idee blieb nur für dasjenige im Sein, was diesem Gegensatz entspricht, in wie fern alles im Sein Vereinzelte doch wieder Quelle ist für untergeordnete Einzelnheiten. Dies ist nun noch zu erläutern, und dazu müssen wir noch einmal sehen, wie sich niedere und höhere Begriffe zu einander verhalten. Das Verhältniß ist dieses: Jeder niedere Begriff ist seiner Möglichkeit nach im höhern begründet; d. h. z. B.: es könnte nicht der Begriff Hund sein, wenn es nicht den Begriff von Quadrupeden gäbe, | und 290 dieser wieder nicht, wenn nicht der Begriff Thier wäre; jede einzelne Varietät von Hund, ist nur mit allen zusammen in dem Begriff der Gattung begründet. Gattung begründet aber nur der Möglichkeit nach, nur durch ein Urtheil wird etwas unter den Begriff seiner Möglichkeit nach subsumirt; etwa so, daß man z. B. sagt: es kann ein vierfüßiges Thier geben, welches ein Hund ist. Also der niedere Begriff ist nur seiner Möglichkeit nach im höhern begründet. Daraus entsteht dies: sowie ich nebeneinander habe, den höhern Begriff und den niedern ihm untergeordneten Begriff, so kann nur der untergeordnete wahrgenommen werden, der höhere nicht. Nämlich: wenn ich mir die Begriffe Hund und vierfüßiges Thier denke, so ist vierfüßiges Thier der allgemeine, jenes der besondere Begriff; einen Hund kann ich sehen, aber nicht ein vierfüßiges | Thier im allgemeinen; denke ich aber Hund und 291

3 verworfen,] über « a u s g e s c h i e d e n , ) ) 4 f nicht ... [liege],] Ergänzungen nach Zander 5 dem Gattungsbegriff] den Gattungsbegriff dem Artbegriff] den Artbegriff

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eine besondere Art von Hund zusammen, so sehe ich nur die besondere Art. Also der niedere Begriff ist es, wodurch der höhere zur Anschauung kommt, und was ich mir als ein unmittelbar angeschautes denke, denke ich als niedern Begriff; das Wahrgenommene muß eine einzelne Varietät sein, die unmittelbare Anschauung wird nur auf einen Begriff 5 bezogen, wiefern er ein niederer ist. Dieser ist derjenige, der durch seine Bestimmtheit den höhern zur Anschauung bringt, er ist eine Erscheinung des höhern, aber der höhere erscheint nur vollständig in der Totalität aller untergeordneten Begriffe. Dies bestätigt unsere Behauptung, daß auch die einzelnen Vorstellungen nichts anders als Be- 10 griffe sind. Also der niedere Begriff ist dasjenige, was vermittelst seiner nähern Bestimmtheit den höhern zur Anschauung bringt. Der höhere 292 verhält sich gegen den niedern so, daß in jenem die | Möglichkeit aller niedern zusammen genommen liegt; es liegt in ihm die Productivität der niederen; der höhere producirt die niederen, indem sie aus ihm näher bestimmt werden; die hervorbringende Kraft der niederen liegt in ihm, und die niederen könnten ohne ihn nicht ein Wissen werden. Dies müssen wir auf das Sein anwenden. Wenn unter der Form des Begriffs soll gewußt werden, so muß das Sein selbst diesem Wesen der Begriffe entsprechen, es muß sich wie allgemeines zum besondern verhalten. D. h. also: kein einzelnes Sein, wiefern es ein anderes über oder unter sich hat, ist ein selbstständiges, sondern hat als einzelnes eine Mehrheit von andern unter sich und über sich, in dem Verhältniß, daß jedes niedere Sein das höhere zur Anschauung bringt, die Erscheinung desselben ist, und das höhere Sein die productive Kraft des niederen | 293 ist. Dies müssen wir noch in Beziehung darauf betrachten, daß dies die Lehre von den Ideen ist. Das Wesen dieser Lehre besteht darin, daß alles was wir wahrnehmen ein Niederes ist, und als solches zu einem höheren gehörig, und dies höhere die lebendige Kraft ist, aus der die ganze Fülle des niederen hervorgeht. Auf der untersten Stufe des Begriffssystems giebt jeder zu, daß jedes einzelne lebendige Wesen die Kraft ist, die auf Veranlassung des außer ihm Gegebenen die verschiedenen M o m e n t e desselben producirt. Die Einheit der lebendigen Kraft im einzelnen Wesen ist das einzig reale, und die einzelnen M o m e n t e sind nur die Erscheinungen dieser Kraft; denke ich mir das ganze Leben des Menschen, so muß ich sagen: in der Totalität aller dieser einzelnen M o m e n t e ist das eigenthümliche Wesen des Menschen voll294 ständig erschienen. Steigt man aber höher hinauf, | so giebt man dies nicht mehr so willig zu, daß das höhere Sein die productive Kraft des niederen ist, und wir sagen daher nun, die Lehre von den Ideen sei eben die Fortsetzung dieser Ansicht auf allen höheren Stufen; so daß man sagen k a n n : wenn ich mir denke, daß eine bestimmte Masse von Menschen eine Familie bilden, und einen gemeinschaftlichen Character

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haben, so k a n n ich mir diesen Typus als die eigene lebendige Kraft denken, und so sagen: dieser Typus erscheint vollständig in den Individuen der Sippschaft. Dies Beispiel ist freilich nur hypothetisch, weil dasselbe sich nicht überall sagen und aufweisen läßt, aber wir können weiter gehen und sagen: jedes Volk in wiefern es durch Sprache, Verfassung, Lebensweise u. s. w. Eins ist, ist eine wahre R e a l i t ä t der lebendigen Kraft, und die einzelnen M e n s c h e n des Volks sind die einzelnen Erscheinungen davon, und das Wesen in dem C h a r a c t e r des Volkes erscheint vollständig | in allen Individuen in seiner ganzen Periode. D i e 295 Idee des Volkes ist die hervorbringende K r a f t , und nur die einzelnen M e n s c h e n k o m m e n wirklich zur Erscheinung; aber sie sind in sofern auch Niedere. G e h e n wir auf das Gebiet der Natur, so müssen wir hier eben so sagen: J e d e s einzelne E x e m p l a r ist Erscheinung seiner A r t , die lebendige K r a f t ist nicht die Pflanze, sondern das, wodurch sie ihres Gleichen hervorbringt. J e d e A r t nun hat ein eigenthümliches S c h e m a und eine eigene Kraft, wodurch nur Erscheinungen dieser A r t hervorgeh e n ; jedes einzelne E x e m p l a r aber ist nur Erscheinung der K r a f t der A r t . Wiederum die A r t ist nur die Erscheinung der G a t t u n g , und diese erschöpft sich im System der A r t e n ; ist das nicht so liegt es nur d a r a n , d a ß wir die Begriffe nicht richtig aufgefaßt haben. J e d e s untergeordnete Sein ist also i m m e r die | Erscheinung, und jedes dazugehörige 296 höhere die productive K r a f t . A b e r dies ist wie im G e b i e t des Begriffs so auch im Sein nur relativ, und durch diese Relativität, durch dies gegenseitige Voraussetzen eines höhern und Niedern, ist das G e b i e t des Seins beschränkt; ein Sein wozu es kein allgemeines m e h r geben k a n n liegt schon an der Grenze, und das absolut Besonderste, was kein Besonderes mehr unter sich h a t , liegt auf der andern Seite an der Grenze. W a s nicht zugleich ein Allgemeines sein könnte ist uns nicht als ein Sein gegeben. D a h e r sagt m a n , d a ß schlechthin Besondere sei kein Sein mehr. So ist also das Gebiet des substantiell in unser D e n k e n a u f n e h m baren Seins wie das Gebiet der Begriffe begrenzt.

Hier müssen wir einen Vergleich anstellen: W i r haben die ganze Reihe der Begriffe durch ein oberes Glied begrenzt, d a ß ein Begriff | seinem Inhalte n a c h , aber nicht mehr der F o r m nach ist, und dies nann- 297 35 ten wir die absolute unbeschränkte Einheit - Idee der G o t t h e i t . Wenn wir nun so das Sein als dem Begriff entsprechend ansehen, so werden wir auch im Sein, so wie die höchste Steigerung des Begriffs nicht das selber ist, was wir als Grenze des Begriffs gesetzt h a b e n , die höchste Steigerung des Seins verschieden setzen müssen, von dem was 40 die Grenze des Seins auf dieser Seite ist. Wenn wir einen allgemeinen

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Begriff von der Seite des Seins ansehen, so können wir sagen: es giebt im Sein eine productive Kraft, die dem Begriff des vierfüßigen Thieres gleich ist, alle verschiedenen Arten derselben sind dieser productiven Kraft gleich; und wäre nun die höchste Steigerung des Begriffs der Kraft die Idee der Gottheit, so müßte ja die Totalität aller Erscheinung 5 298 in der Welt der Idee | der Gottheit gleich sein. Das ist aber nicht, und die höchste Steigerung der Kraft ist also nicht die Idee der Gottheit; es ist also das was das Sein begrenzt nicht die höchste Steigerung des Seins. Es ist aber dies oft die Art gewesen wie man die Idee der Gottheit versinnlicht hat. Man ist aber dazu auf zwei Wegen gekommen, 10 indem man entweder von der abstracten Methode ausgeht, welche die Gegensätze fixirt. Da ist denn der höchste Gegensatz der des Idealen und Realen; und nun sagt man: das Ideale ist die Kraft der vorstellenden Zeiterfüllung, das Reale der Raumerfüllung, und steige man noch höher, so müsse man sich die Kraft denken wovon dies, das Reale und 15 Ideale, wieder die Erscheinungen sind. So wird die Idee der Gottheit versinnlicht nach spinozischer Art. Oder nach der andern Art geht man 299 von den lebendigen Begriffen aus. Man fängt bei den | Arten an; dazu sind die Gattungen die höheren; alle Gattungen geben die Idee der Lebenskraft, höher noch entsteht die Idee des Weltkörpers; ist dies 20 wieder Einzelnheit so steigt man zur höhern Kraft, welche Weltkörper producirt; und diese Idee einer weltbildenden Kraft soll nun der Idee der Gottheit adäquat sein. Aber wir läugnen daß die höchste Steigerung der Kraft gleich sei der Idee der höchsten Einheit. Zu der höchsten Einheit der Kraft, konnten wir auf dem abstracten Wege der 25 Gegensätze kommen, oder auf dem zweiten Wege der lebendigen Begriffe der Arten und Gattungen der Dinge, wo wir denn dahin kamen die Einheit und Totalität der Lebenskraft zu setzen, der gegenüber die Leblosigkeit steht, und beides zusammen machte den Begriff der Weltkörper aus; über diesem aber stand noch die hervorbringende Kraft, | 30 300 wovon die Weltkörper selbst nur wiederum die Erscheinung sind. Hievon nun hatten wir gesagt: daß die oberste Kraft nicht die Idee der Gottheit wäre, nicht die absolute Einheit des Seins, worin der Gegensatz von Begriff und Gegenstand, von Idealem und Realem, aufgehoben wäre. Wir müssen hier auf zweierlei sehen : auf die materielle Iden- 35 tität der beiden Vorstellungen, und die formelle Differenz derselben. Was die erste betrifft, so ist offenbar, daß diese höchste Einheit, welche nur Kraft ist, und nicht zugleich Erscheinung noch unter der Form des höchsten Begriffs steht, nicht jenseit liegt, und nicht über das ganze Gebiet der Begriffe gestellt ist. Denn wir können unter der Form des 40

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Vgl. den Sachapparat zu KGA 11/10, 1, S. 119, 24-120,

7 (§ 183, 1)

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Denkens Mannigfaltiges von dieser höchsten Einheit als Kraft aussagen. Wenn ich sage: es giebt eine Einheit der weltbildenden Kraft, wovon die verschiedenen | Weltsysteme zunächst die Erscheinung sind, 301 so habe ich eine vollständige Analogie mit der Bildung der wirklichen Begriffe; und so wie ein einziger Weltkörper allerdings ein Begriff ist, so könnte ich den Begriff einer weltbildenden Kraft vollständig aufstellen, wäre uns eine anschauliche Kenntniß von den Planeten gegeben; wir würden dann das Eigenthiimliche unserer Erde, den besondern Ort derselben finden können. Dies setzt aber eben den vollständigen Begriff von den planetarischen Körpern voraus; und hätten wir nun eben so auch wieder eine vollständige Kenntniß des solarischen Systems, von der Einheit der planetarischen Körper der Sonne, so wäre die Einheit der obersten weltbildenden Kraft in einer völligen Analogie mit unserer sonstigen Begriffsbildung; es muß also die höchste Kraft der Weltbildung ein Denkbares sein. Jene absolute Einheit, die wir früher aufgestellt, hatten wir aber als undenkbar gesetzt; weil der Gegensatz zwischen Begriff und Gegenstand verschwindet. | Also die Idee der Einheit 302 der weltbildenden Kraft, ist nur die höchste Spitze von der Leiter der Begriffsbildung, jene absolute Einheit aber lag schon jenseits in der Indifferenz zwischen Begriffs und Urtheilsbildung. Sehen wir auf den Weg der Abstraction, so ist der höchste Gegensatz der des Idealen und Realen. Wir können nun nicht sagen, daß dieser Gegensatz, in dem Sinne wie wir es vorher genommen, jedes für sich das Ideale und Reale eine eigene Kraft sei, d. i. eine eigene Art und Weise des Seins, weil es nur abstracte Formeln sind, und auch das, was darüber steht, worin der Gegensatz Eins ist, nur eine Abstraction, aber nicht lebendige Kraft ist. - Wir sagten: in der Einheit jedes Weltkörpers sei ein System des Lebens, und das Leblose. Das Leben aber ist eine Mannigfaltigkeit in der ein Ineinandersein des Idealen und Realen ist; jedes Lebendige ist ein I Bewußtes, das Ideale ist in ihm, und es ist ein Seiendes, Reales, 303 weil es Gegenstand ist sich und andern, und es giebt gar kein Sein, das nur durch die eine Seite dieses Gegensatzes characterisirt wäre. Dem leblosen Körper können wir freilich nicht Bewußtsein zuschreiben, allein es ist auch in sofern nicht selbstständig zu setzen; ein Thier und eine Pflanze können wir als etwas Einzelnes, Selbstständiges setzen, einen Stein aber nicht, er ist irgend wo losgeschlagen, und daß er einzeln, ist nur seine Geschichte nicht sein Wesen; er ist also immer nur Theil nicht selbstständig, und will ich auf sein Wesen gehen, so kommt auch immer etwas Lebendiges hinein, und also Ideales und Reales zusammen, wenn auch das Ideale nur darin besteht eine Gestalt zu gewinnen. Der Gegensatz von beiden ist also bloß abstract, und die Einheit dieses Gegensatzes bezeichnet also nicht an und für sich selbst ein Seiendes, sondern ist ein Zusammenfassen des Abstracten, welches

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304 I Zusammenfassen selbst wieder eine Abstraction ist. Wenn wir als höchsten Gegensatz Ideales und Reales setzen, so können wir dies nur von unserer Welt sagen, und indem das Ideale und Reale für sich abstract ist, so setzt es anschauliche Kenntniß voraus. Diese haben wir nur von unserer Welt, und wir wissen nicht wie weit diese Kenntniß über dieselbe hinaus geht, und so ist also die Einheit dieses abstracten Gegensatzes selbst wieder nur eine Abstraction. Also auf diesem Wege können wir eigentlich gar nicht auf ein höchstes Sein kommen, das der absoluten Einheit des Seins, die wir früher aufgestellt haben entspräche. Die Identität worin Begriff und Gegenstand aufgehoben ist, ist ganz etwas anderes, schon seiner Genesis nach, als die abstracte Aufhebung auf diesem Wege. Wir müssen sagen: es liegt diese Einheit immer 305 noch innerhalb des Gebietes der Begriffe, es hat sein | Analogon im Gebiet der Begriffsbildung. - Beide Vorstellungen also, die sowohl von der Identität des Idealen und Realen, als die von der höchsten weltbildenden Kraft, erreichen die Idee, die wir früher aufgestellt haben nicht, weil sie innerhalb des Begriffs liegen. Die Uberzeugung aber von der absoluten Einheit des Seins in dem aller Gegensatz zwischen Begriff und Gegenstand aufgehoben ist, liegt nicht in einer Reihe mit der Uberzeugung von dem Gegensatz der Kraft und Erscheinung; wenn ich dagegen die Idee einer höchsten Kraft habe, so steht der höchsten Kraft alles andere in der Erscheinung entgegen, und sie liegt selbst in dieser Reihe; der Begriff einer absoluten Einheit des Seins, wie wir sie früher gesetzt, liegt aber nicht in einer Reihe mit den relativ höchsten und niedrigsten Begriffen, sondern über denselben als Grund derselben; und diese Einheit kann also auch nicht in einer Reihe mit dem Gegen306 satz von Kraft und Erscheinung liegen. | Daher sind nun jene beiden Vorstellungen nicht adäquat der von uns aufgestellten Einheit des Seins. Die eine dieser Vorstellungen ist die spinozistische. Spinoza ging von der Idee der Einheit des Idealen und Realen aus, und setzte sie der Idee der Gottheit gleich; diese ist aber deshalb unrichtig, weil wir nicht wissen ob das, was wir so als Einheit setzen in der das Ideale und Reale aufgeht, nicht noch viele coordinirte Glieder neben sich hat in andern Weltkörpern, und weil sich diese Einheit des Idealen und Realen, nicht wie die Kraft verhält, aus der die Erscheinungen hervorgingen; denn die höchste Substanz als Erscheinung kann immer auch nur zugleich die höchste Kraft sein; die Idee einer höchsten Kraft geht aber nicht einmal hervor aus dem Zusammenfassen dieser Gegensätze, weil wir

2 9 - 3 1 Schleiermacher bezieht sich auf die Einheit der Attribute Denken und Ausdehnung in der Substanz; vgl. den Sachapparat zu KGA 11/10, 1, S. 119, 24-120, 7 (§ 183, 1).

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kein Sein kennen das bloß ideal oder real wäre; daher hat sich diese Vorstellung nie können geltend machen, als die höchste Idee in sich enthaltend. - | Die andere Idee von der Einheit der weltbildenden Kraft 307 ist eben so wenig unserer frühern Idee von einer absoluten Einheit adäquat. Wir können nicht in ununterbrochenem Fortgange zu derselben kommen, und auf der andern Seite liegt sie nicht jenseits der Reihe der wirklichen Begriffe, sondern ist Glied der Reihe selbst; wir können freilich zur Idee der Gottheit, wie wir sie in der absoluten Einheit von Begriff und Gegenstand setzen, auch nicht fortgehend in Einem sondern nur durch Fiction kommen, aber dafür liegt diese doch außer der Reihe, und kann sich zu derselben wie der Grund der Reihe verhalten. Nun müssen wir das entgegengesetzte Ende des Begriffs nach unten zu betrachten. In der Idee der absoluten Einheit des Seins, worin der Gegensatz zwischen Begriff und Gegenstand aufgehoben ist, endigte sich das Begriffssystem nach oben, nach unten aber in eine Mannigfaltigkeit von Urtheilen; | es fragt sich: was entspricht diesem 308 untersten Ende im Sein? Nichts anders als die chaotische Materie, das Chaos. Wenn wir uns nämlich ein Chaos denken sollen, so ist darin der bestimmte Gegensatz zwischen Einheit und Vielheit aufgehoben; die Vielheit geht unter aus Mangel an Einheit, die ihr Gegensatz ist, und der Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem geht auch unter, weil das Chaos formlos ist. Hier haben wir also eine völlige Unbestimmtheit. Dazu ist die positive Seite nichts anderes als die Bestimmbarkeit; und das ist es, was in dem vorher ausgesprochenen Gedanken liegt: daß das Sein sich nach unten in die bloße Materie, das Chaos endige. Wenn der Begriff in der Möglichkeit mannigfaltiger Urtheile endigt, so heißt das, eine gegebene Mannigfaltigkeit gegebener organischer Affectionen; und in dem Begriff des Chaos ist auch nichts anders niedergelegt, | als daß, indem das Chaos aufhört und Form 309 wird, dann auch an die Stelle bloß möglicher Urtheile die wirklichen Urtheile treten, aus denen dann der Begriff hervorgeht. Das Chaos also im Sein entspricht dem untersten Ende des Begriffs. Wenn wir dies unterste Ende im Sein mit dem was Anspruch macht das oberste zu sein verknüpfen, so frägt sich: ob die ganze Reihe des Seins daraus hervorgeht? Combiniren wir das unterste und oberste Ende des Begriffs, so müssen wir daraus die ganze Reihe der Begriffsbildung anschauen können. Da nun das Sein dem Begriff entsprechen soll, so müßte, wenn man im Sein dasselbe thut, daraus auch das ganze System des Seins hervorgehen, das ist aber die Welt; und es fragt sich: ob dies geschehen wird, ob eine wirkliche Weltbildung, ein solches System des Seins aus

9 Gegenstand] Gegensatz

25 das] den

31 denen] dehnen

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der Verknüpfung des obersten und untersten Endes im Sein hervorgehe? ι 310 Wir wollen zeigen, daß aus den Ideen von Gott und von der M a t e rie, wiewol sie als Principien angesehen werden, woraus alles Sein kann begriffen werden, doch das Sein nicht construirt werden kann. Wir 5 müssen den Zusammenhang noch einmal aufnehmen. Wir waren dabei zu sehen, wie das Sein müsse vorausgesetzt werden, wenn unter der Form des Begriffs gewußt werden solle. D a entsprach im Sein dem höhern und niedern Begriff Kraft und Erscheinung. Dies liegt innerhalb des Begriffes selbst. Nun aber endet sich der Begriff nach oben in 10 diejenige Einheit des Seins die nicht mehr Begriff ist, und nach unten in diejenige Mannigfaltigkeit, die auch nicht mehr Begriff ist. Damit hing die Frage zusammen: in wie fern giebt es denn im Sein etwas, das diesen Punkten entspricht? Nun sahen wir, daß wenn wir aufsteigen von Kraft und Erscheinung, wir zuletzt auf eine Kraft kommen, die keine 15 311 mehr über sich hat, und der | Grund aller Erscheinung ist. Solche Kraft im Sein entspricht aber nicht jener Grenze des Begriffs; denn diese höchste Kraft kann gedacht werden, und ihr muß ein Sein entsprechen. Jene Einheit an der Grenze des Begriffs aber konnte nicht gedacht werden. Die spinozistische Aufstellung der Gottheit und die in neuern Zei- 20 ten ist nichts als jene höchste Kraft, die in der Reihe der übrigen Begriffe noch construirt werden kann, der also mit Unrecht die Stelle angewiesen wird, die der Gottheit von der speculativen Seite aus zukommt. Nun hatten wir gesehen, der untern Grenze des Begriffs entspräche die Vorstellung von einer Materie schlechthin, von einer M a t e - 25 rie ohne Form, also einem Chaos. M i t dieser Vorstellung verhält es sich nicht wie mit jener Vorstellung von der höchsten Kraft, denn die chaotische Materie erscheint nicht mehr, sondern ist bloß Grund der Erscheinung, es ist bloß das, was gedacht werden könnte, wenn es eine 312 Gestalt gewänne. - | Diese Gestaltung aber müßte ein Factum sein. Das 30 Factum aber führt zum Urtheil; und so ist das Chaos die unendliche Mannigfaltigkeit der möglichen Urtheile. Dies ist aber eine bloße Formel, die zu keinem Bewußtsein werden k a n n ; so wie sie ins Bewußtsein kommt muß sich das Urtheil wirklich gestalten. — Gegen Spinoza hat man nun eine andere Vorstellung der Gottheit gesetzt, in Beziehung 35 auf diese Vorstellung von der Materie, und von dieser Vorstellung handeln wir jetzt. Kraft dieser Vorstellung soll die Gottheit nicht die höchste Einheit der Kraft sein, wovon alles andere nur Erscheinung ist, sondern das höchste Sein, das ens summum, nicht dessen Erscheinung,

2 0 - 2 4 Vgl. oben S. 204, 29-31 S. 124, 13 (S 187, 2)

34-207, 1

Vgl. den Sachapparat zu KG A U/10, 1,

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sondern dessen Werk die Welt ist, die gebildet ist aus solcher Materie. Um diese Vorstellung gehörig würdigen zu können, müssen wir erst sehen, ob sie leistet, was ihr in dieser Hinsicht zugemuthet wird. - | Am klarsten hiebei ist gegeben die Vorstellung von der Materie; die zu 313 ihr gehörige Vorstellung von der Gottheit ist nur noch dunkel, und wir wollen sie uns durch diese Beziehung erst klar machen. Diese Beziehung ist aber verschieden ausgedrückt worden. Man sagt: durch die Gottheit werde die gestaltlose Materie gestaltet, und so die Welt gebildet; d. h. es kommt in die unbestimmte Mannigfaltigkeit Einheit und Vielheit. Aber daraus läßt sich die Welt noch gar nicht construiren, denn unter der formlosen Materie wird immer nur das den Raum Erfüllende gedacht, dasjenige was in der Gestaltung ein Dingliches wird, und so ist diese Vorstellung von der Materie ganz einseitig. Ihr correspondirend müßte man erst ein die Zeit Erfüllendes annehmen, d. h. dasjenige, durch dessen Gestaltung erst das Bewußtsein würde; denn ohne dies würde | das Bewußtsein aus der Materie abgeleitet, was wir 314 schon geleugnet haben, indem wir die Entstehung des Begriffs aus der organischen Function geleugnet haben. Aber angenommen nun jenes, daß die Idee der Gottheit so gedacht wird, daß aus der formlosen Materie beider Art Gott die Welt gebildet, so müssen wir doch sagen: wenn die Gottheit so gedacht wird, ist sie nicht, was wir darunter gedacht haben; denn sie ist dann nicht die absolute Einheit des Seins, sondern sie ist dann bedingt durch die Materie. Der speculative Grund dieser Vorstellung aber ist, daß man sie hat zum obersten Punkt auf der einen Seite des Seins machen wollen, wie die Materie der unterste Punkt ist; und daß man aus der Verbindung beider die ganze Reihe des erscheinenden Endlichen hat wollen entstehen lassen.

Eine zweite Weise beide Endpunkte zu verbinden ist, daß Gott angesehen wird als die aus der Materie | sich bildende Welt betrach- 315 30 tend. Diese Erklärung wird gewöhnlich die aristotelische genannt. Hiemit ist ein vollständiger Dualismus gegeben: das ganze System des Seins realiter angesehen ist in die Welt gesetzt, und in Gott ist nur das Ideale. - Eine dritte Ansicht ist höher als beide, daß nämlich Gott die Welt aus Nichts erschaffen habe, wobei vorausgesetzt wird, daß die 35 erste Stufe des Seins die chaotische Materie gewesen sei. Wird die Gottheit so gedacht, was ist sie dann? Nichts anderes als die absolute Einheit der Kraft, deren Totalerscheinung, deren Offenbarung die Welt ist. Denn die Erscheinung muß immer als von einer Kraft producirt gedacht werden, und daß man sagt: die Erscheinung der Welt sei aus 40 Nichts producirt, kommt nur bloß daher, weil wir jede einzelne Kraft

30 Vgl. hierzu den Sachapparat zu KG A 11/10, 1, S. 125,2



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schon als begrenzt und bedingt setzen müssen. Der Begriff der Gottheit 316 ist also hier | doch nichts anderes, als der Begriff der Kraft von allen Schranken entbunden; und dies ist also die spinozistische Ansicht selbst, welche diese eben bekämpfen will. Was sind also wol diese Vorstellungen, so wie sie gebraucht wer- 5 den, die Vorstellungen von Gott und von der Materie in dieser Beziehung? Die Vorstellung von Gott repräsentirt die Totalität unserer intellectuellen Functionen abstrahirt von allem, was durch die organischen Functionen entsteht, und die Vorstellung von der Materie repräsentirt die Totalität aller organischen Functionen, abgesehen von den intellec- 10 tuellen. Wir bekommen nämlich durch die organischen Affectionen keinen Begriff, aber was wir denken ist doch mit einer organischen Affection verbunden. Je höher wir aber im Denken hinaufsteigen, je weniger können wir das Sein im Denken als ein unmittelbar Afficirendes den317 ken; | und so kommt man dahin in der Gottheit dies organische absolut 15 zu negiren. Dies entspricht nun aber gar nicht dem, was wir als den transcendenten Grund gefunden haben; daher ist es natürlich, daß dieser Begriff von Gott sich mannigfach verwirrt, und auf so vielfache Weise ist ausgedrückt worden. Diese Verwirrung spricht sich besonders aus in der Relation zwischen diesem Begriff der Gottheit und dem der 20 Materie. Schleiermacher fügt noch diese Betrachtung hinzu. Wenn der Begriff der Gottheit so aufgestellt wird, daß sie das höchste Sein ist, woraus das Übrige abgeleitet ist, so sagt man damit bloß, sie ist die absolute Einheit der Kraft. Dann muß aber unsere Überzeugung von Gott eben so sein wie die Überzeugung vom Sein als Kraft und Erschei- 25 nung. Das Denken Gottes wäre dann kein anderes, als das physische und ethische Denken, und durchaus kein transcendentes. — | 318 Hieraus können wir abnehmen, daß unser eigentliches Wissen durchaus eingeschlossen ist in dem relativen Gegensatz von Kraft und Erscheinung; d. h. wir können unter der Form des Begriffs nichts wis- 30 sen, als in wiefern wir es als eine Kraft, oder als eine Erscheinung setzen. Die Gottheit kann in dieser Reihe nicht liegen, ist also auch nie ein Wissen. Was die Vorstellung von der Materie betrifft, so ist diese nichts als eine Abstraction, die Möglichkeit organischer Affection, die auch nicht gewußt werden kann, aber auch nicht vorausgesetzt zu werden 35 braucht; dagegen wir die Idee der Gottheit immer voraussetzen müssen, als Grund der Übereinstimmung des Denkens und Seins. Die Materie ist die Negation von beiden, das Nichts, worin die Möglichkeit 319 zu allem liegt. - | Wir gehen nun zur andern Seite, und betrachten das Denken unter der Form des Urtheils, sofern es ein Wissen ist. Was liegt 40 darin es soll unter der Form des Urtheils gewußt werden? Wir müssen wieder auf die beiden Merkmale des Wissens sehen. Wenn unter der Form des Urtheils soll gewußt werden, d. h. wenn von allen soll gleich-

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mäßig geurtheilt werden, so liegt das weder in der intellectuellen noch in der organischen Function des Denkens, es ist zwar dadurch bedingt, aber nicht darin begründet; denn das Urtheil geht nicht aus von der intellectuellen Function, weil das, was durch das Urtheil zum Begriff hinzukommt die Möglichkeit dessen ist, was im Begriff liegt, und diese kann nicht aus dem Gebiet der intellectuellen Function kommen, in der es keinen Gegensatz von Möglichkeit und Wirklichkeit giebt. Aber auch ist sie nicht begründet in der Identität der organischen Affectionen, denn dieselbe Affection | wird zu verschiedenen Zeiten, und unter 320 verschiedenen Umständen auch ganz verschiedene Urtheile hervorbringen. Dies ist schon daraus klar, daß die Affection immer ein unendlich Mannigfaltiges ist. Das Urtheil hebt daraus etwas hervor. Hieraus ist also die Identität des Urtheils noch nicht zu erklären. Sie kann also nur begründet sein in der Identität der Beziehung zwischen der organischen Funktion und dem außer uns gesetzten Sein. Hier ist zweierlei zu bemerken. Das organische Vermögen in seiner Thätigkeit, d. h. dem erregten Zustande desselben hat zwei Seiten, eine nach innen gewendete, vermöge deren jede Erregung der organischen Function eine Empfindung ist, die andere ist die nach außen gewendete, und diese ist das was wir Wahrnehmung nennen, wir fassen etwas auf in diesem Zustande. Auf der nach innen zugewendeten Seite der Thätigkeit des organischen Vermögens | kann die Identität des Urtheilsvermögens 321 nicht ruhen, denn die Empfindung ist, was sie ist, nur vermöge ihrer Zugehörigkeit zu der einzelnen Person, sie ist also eher das Hinderniß der identischen Production, das Eigenthümliche: dies ist durch jede Erfahrung klar, und keiner fordert einen Beweis dafür, daß die Empfindung kein allgemein Gültiges ist. Die Identität der Empfindung in Allen weisen wir immer nur an die äußersten Grenzen, indem wir ζ. B. sagen: wer bei diesen oder jenen Gegenständen die die organische Affection berühren nicht so oder so empfindet, [den] können wir nicht mehr für einen Menschen halten. Also die Beziehung eines organischen Vermögens nach innen zu ist bloße Beziehung auf das persönliche Dasein. Es bleibt also nur die Beziehung des organischen Vermögens auf das außer ihm Gesetzte sie Erregende. Nun aber ist Empfindung und Wahrnehmung immer zusammen. Ist die Erregung zu heftig, so verschwindet die Wahrnehmung ganz, ist die Erregung mäßig aber scharf, so verschwindet mehr die Empfindung, und die Wahrnehmung ragt hervor, und dann entstehen Urtheile über die Wahrnehmung; dagegen sehen wir die Urtheile über die Empfindung immer nur als subjectiv an. | Das drücken wir auch aus wenn wir sagen, daß ein ge- 322

2 5 jede] jedes

3 4 sie] Kj. die E m p f i n d u n g

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wisser G r a d von E m p f i n d u n g die W a h r n e h m u n g unsicher mache. Was ist denn nun der eigentliche Inhalt dieser Beziehung, der organischen T h ä t i g k e i t auf das außer uns gesetzte Sein? Sehen wir a u f unser wirkliches D a s e i n , so ist die Welt nur in sofern für uns da, als sie uns organisch afficirt. J e m e h r also der einzelne M e n s c h isolirt ist, desto weni- 5 ger Welt ist für ihn da, und je mehr er in G e m e i n s c h a f t lebt, desto mehr Welt ist für ihn da. Wenn also die Identität der Urtheilbildung auf der Identität der Beziehung der organischen T h ä t i g k e i t auf das äußere Sein beruht, so beruht sie auf der Voraussetzung, d a ß allen dieselbe Außenwelt gegeben ist. Hier verstehn wir aber unter Außenwelt 10 nicht die Totalität des Seins unter dem Gegensatz von Kraft und Erscheinung, was sie bei der Begriffsbildung war, sondern nur in wiefern 323 in ihr | die G e s a m m t h e i t aller organischen Erregungen gesetzt ist. Die Identität der Begriffsbildung beruht auf der Identität der Vernunft in allen. Die Identität der Urtheilbildung, der identischen Production des 15 Urtheils in allen, fanden wir eben beruht darauf, d a ß allen dieselbe Außenwelt gegeben sei. Von hier aus müssen wir zurücksehen auf das eben Gesagte. Es war gesagt: die Identität der Urtheilbildung beruhe nicht auf der Identität der organischen Affectionen, weil die Affection nur ein M o m e n t für sich ist. N u n haben wir gesagt: die Identität der 20 Urtheile beruht auf der Identität der Außenwelt. D a s scheint dasselbe zu sein. A b e r indem wir sagen: die allen gegebene Außenwelt, so abstrahiren wir von dem einzelnen M o m e n t , und sehen allein auf das G a n z e . W e n n m a n sich mehrere gleich afficirt denkt, so werden doch alle verschieden urtheilen, weil sie nicht in derselben Gedankenreihe 324 begriffen sind. Aber wenn ich mir denke, | d a ß der eine dieses Factum auffaßt, der andere ein anderes, so ist die Differenz k l a r ; aber frage ich i h n : jener hat das geurtheilt, du dies, wie ist es d a m i t ? so wird er sagen: das k a n n sein, ich widerspreche dem nicht. Also bestehen alle jene Urtheile mit einander. D a r a u f allein können wir die Identität der Urtheilbildung gründen, d a ß alle Urtheile so zu vereinigen sind. D e r Begriff ruht auf der Identität der Vernunft in allen; darum konnte keiner einen Begriff empfangen. K a n n nun einer vom andern ein Urtheil e m p f a n g e n ? Nein. H i e r a u f beruht alle Berichtigung des Empirischen. - Wir thun dies unaufhörlich, daß wir von andern Urtheile a n n e h m e n , d. h. glauben. D e n n o c h nehmen wir kein Urtheil von einem andern an. Wenn ich frage: o b wir in allen Fällen bereit sind uns das Urtheil des andern anzueignen; so müssen wir sagen: Nein. W o r 325 auf beruht die Ungleichheit? N i c h t darauf allein, d a ß wir | einen nur für leichtsinnig halten in der Erfahrung, sondern die eigentliche Differenz wird daraus gebildet, je nachdem wir glauben, d a ß die Empfindung mit im Spiele gewesen ist oder nicht. J e mehr wir annehmen, d a ß die E m p f i n d u n g nicht mit ist im Spiele gewesen, desto eher glauben

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wir; denn wenn einer von einem bestimmten Interesse aus etwas gesehen hat, so setzen wir schon die Möglichkeit einer Befangenheit. Was liegt darin? D a ß wir nicht unmittelbar ein Urtheil von einem andern empfangen, sondern wir sondern vorher alles ab, was eine andere Thätigkeit in ihm gewesen ist, als das reine Wahrnehmen. Wir eignen uns also nicht sein Urtheil unmittelbar an, sondern seine Affection. Je mehr wir glauben, daß seine Subjectivität dabei hinzugethan habe, desto mehr lassen wir uns Zeit, das erst auszuscheiden; wir scheiden alles aus seinem Urtheil aus, was nicht reine Affection ist. Wir sind uns I jedoch bewußt, daß, indem wir uns selbst aus der organischen 326 Affection eines andern ein Urtheil bilden, unser Persönliches wieder in die Stelle des Persönlichen des Andern, was wir ausgesondert, tritt. Was geht daraus hervor? Diese Begrenzung des Empfangens des Urtheils anderer ist das Wahre in der Behauptung, daß man eigentlich nichts wisse als was man selbst erfahren habe. Aber in dem Selbsterfahren ist auch unsere Subjectivität, und das eigentliche Wissen ist nur in der Identität der Urtheile. N u n können wir noch einmal fragen: wir fanden beim Begriff, daß die Identität der Begriffsbildung sich gründe auf die Identität der Vernunft, und die Voraussetzung der Vernunft darauf, daß wir den andern für ein eben solches Ich halten, als uns selbst; jetzt sahen wir, daß die Identität der Urtheilbildung in der Identität der Außenwelt für | alle gegründet sei; wie kommt es nun, daß wir den Anspruch an der 327 gleichen Urtheilsbildung an alle Menschen machen? Die Voraussetzung der allen auf gleiche Weise gegebenen Außenwelt reicht nicht dazu hin; den Thieren ist sie auch gegeben, und wir setzen doch in ihnen keine Urtheilbildung, wie bei uns. Wir müssen also ein gleiches äußeres Bewußtsein voraussetzen, und das ist nun das in allen identische System der Sinne. Das Wissen unter der Form des Urtheils ist also auf der einen Seite bedingt durch die Identität der allen gegebenen Außenwelt, und durch das in allen identische System der Sinne. N u n müssen wir sehen was folgt in Beziehung auf das Sein. Wenn es ein Wissen geben soll unter der Form des Urtheils, so muß es dem Sein entsprechen. Wir müssen nun auf die früher im Allgemeinen betrachtete Formel im Urtheil zurückgehen. Das Urtheil bestand darin, daß dem Subject | das Prädicat beigelegt wird, und wenn das, was dem 328 Subjecte beigelegt wird, nicht schon wirklich gegeben ist, sondern bloß die Möglichkeit dafür da ist, so ist das Urtheil ein eigentliches. Dem Subject muß im Sein ein Solches entsprechen, das unter dem Gegensatz von Kraft und Erscheinung gedacht wird, und was diesem beigelegt wird, soll nur zum Theil im Subject begründet sein, und den andern Theil seines Grundes anderswo haben. Wenn das Sein so beschaffen ist, daß ich es als Subject setze, und alles darin allein gesetzt wäre, so

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könnte nichts mehr davon ausgesagt werden, und dem Begriff solches Seins könnte nichts beigelegt werden, was nicht im Begriff selbst läge. Den Begriff des Prädicats denken wir so, daß er mehreren Subjecten kann beigelegt werden. Was nur einem einzigen beigelegt werden könnte, kann nicht Prädicat dieses Subjects sein | sondern Bestandtheil 5 desselben. Wir denken also das Prädicat als passend zu mehreren Subjecten, wir denken es nie für sich, denn dann wäre es ein Subject. Wenn wir ζ. B. sagen: der König ist ein Mensch, so klingt das wie ein Urtheil, ist aber keines, denn der Begriff Mensch ist ein Subject und kein Prädicat; im Begriff des Königs liegt schon der des Menschen mit. Was folgt 10 daraus für das Sein? Es muß in demselben, in wiefern es die Totalität der Subjecte repräsentirt, auf jedem Punkte etwas gesetzt sein, was in vielen dasselbe ist, aber nirgends für sich, das immer nur einem andern beigelegt wird, selbst aber niemals vorkommt als repräsentirend den Gegensatz von Kraft und Erscheinung. Was dem Subject nur seiner 15 Möglichkeit nach beigelegt wird, hat seinen Grund zum Theil im Subject zum Theil anderswo. Wo hat es nun diesen? | Daß ich einem Theile des Seins etwas beilege hat seinen Grund in dem andern für sich Gesetzten. Das heißt also nichts anderes, als: das der Form des Urtheils Entsprechende im Sein ist nichts als das reale Zusammensein in dem 20 Sein, d. h. das zum Theil Gegründetsein dessen was jedem beigelegt werden kann in allem übrigen. Es ist dies die Gemeinschaftlichkeit des Seins, die es allein möglich macht, daß unter der Form des Urtheils gewußt werden kann. So wie nun das Sein, der Form des Begriffs entsprechend, dem Gegensatz von Kraft und Erscheinung entsprechen 25 muß, so muß das Sein dem Urtheil entsprechend, eine nebeneinandergestellte Gemeinschaftlichkeit bezeichnen, so daß jeder Theil sich zu den übrigen verhält wie Ursach und Wirkung, d. h. es muß ein System der Wechselwirkung gesetzt sein, wenn unter der Form des Urtheils | gewußt werden soll. Das was durch das System der Wechselwirkung in 30 jedem gesetzt ist, verhält sich zu dem darin durch den Gegensatz von Kraft und Erscheinung Gesetzten, wie sich das Z u f ä l l i g e verhält zum W e s e n . Das Wesen ist immer nur unter der Form des Begriffs. In dem System der Wechselwirkung, d. h. im Sein sofern es der Form des Urtheils entspricht ist zu diesem Wesen das Veränderliche und Zufällige 35 gesetzt. In dem Gegensatz von Kraft und Erscheinung ist also das Wesen der Dinge, das Beharrliche, in dem Gegensatz von Ursach und Wirkung das Veränderliche der Dinge gegründet. Was seinen Grund ganz im Begriff hat, ist das Wesen in dem Sein, wovon ich den Begriff aufstelle. Dies bleibt, wenn auch der Begriff erst vervollständigt wird 40 durch das Urtheil, und mit der Vollkommenheit des Begriffs das Urtheil aufhört. Wenn ich einen vollständigen | Begriff vom Menschen habe, muß nicht nur die Möglichkeit der verschiedenen körperlichen

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Constitution, des verschiedenen Wechsels von Gesundheit und Krankheit gesetzt sein, sondern dies müssen wir durch alles hindurch verfolgen können, und ist das, so giebt es kein anderes Urtheil mehr, als dieser oder jener Zustand ist in dieser Zeit und in diesem Subjecte gegeben. Diese bloße Beschränkung auf O r t und Zeit setzt den vollständigen Begriff voraus. In wiefern man also noch nicht vollständig erkannt hat, wie der Zustand der Dinge als völliger Cyclus in seinem Dasein prädeterminirt ist, so erscheint uns vieles als zufällig, das seiner M ö g lichkeit nach Wesen des Dinges sein kann. Dies führt zu einer andern Betrachtung. Das Sein welches der Form des Urtheils vorzugsweise entspricht ist das V e r e i n z e l t e , und was nicht ein Vereinzeltes ist davon kann nur unter der Form des Urtheils gewußt werden, | in wiefern es doch zum Theil als ein Einzelnes 333 angesehen werden kann. Auf der Seite des Begriffs sahen wir, daß es keinen wirklichen Gegensatz zwischen Begriff und Vorstellung giebt, wiefern jener allgemein, diese etwas Einzelnes sein soll, sondern nur den Unterschied des Besondern und Allgemeinen, Niedern und H ö h e ren. Nun müssen wir hier zugeben, daß etwas hinter diesem Unterschied zwischen Einzelnem und Allgemeinem ist; aber dies liegt auf der Seite des Urtheils nicht des Begriffes. Das Subject ist immer nur ein Einzelnes, ein in Zeit und R a u m abgesondert für sich Gesetztes. Auf der Seite des Begriffes konnten wir das Einzelne nicht anders ansehen, als daß wir sagten: ein einzelnes Ding ist ein Exemplar der Art, die Art aber wiederum ein Exemplar der Gattung; aber auch jeder einzelne M o m e n t des Daseins des einzelnen Dinges ist nur wieder ein Exemplar des einzelnen Dinges, dasselbe in einer Modification gedacht, | und 334 diese Vernichtung des Einzelnen ist auf Seiten des Begriffs durchaus herrschend, es giebt hier nur ein Schweben zwischen Höherem und Niederem. Aber nennen wir denn Nichts ein einzelnes Ding? J a , aber nicht sofern es ein einzelnes Ding seiner Art ist, sondern sofern es Subject des Urtheils ist. Hier auf der Seite des Urtheils haben die einzelnen Dinge nicht eine schwebende, sondern eine bestimmte und besondere Bedeutung. Das einzelne Ding ist aber das, was wir als Eines in Zeit und R a u m ansehen. Nun ist gesagt: auf der Seite des Begriffs setzen wir ein Einzelnes nicht als solches, sondern jedes einzelne Ding wird auch wieder als ein Allgemeines gesetzt, als Grund einer Mannigfaltigkeit von Erscheinungen. Wenn ich im Urtheile etwas als Erscheinung setze, abgesehen von einem einzelnen Dinge, so kann ich die Erscheinung nur in einem unvollkommnen Urtheil auffassen, | z. B. : es regnet. 335 Das Subject des unvollkommenen Urtheils ist eine unbekannte G r ö ß e ; das vollkommene Urtheil ist nur da, wo das Subject auf ein einzelnes Ding bezogen wird. Nun müssen wir weiter hinaufsteigen und fragen: wiefern setzen wir die Art als ein einzelnes Ding? Wir sind noch nir-

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gends zur Vollkommenheit der Begriffe g e k o m m e n : daher geht denn auch das, was Inhalt unserer allgemeinen Begriffe ist, nicht in der T o t a lität von Urtheilen über dieselben auf; und also auch das Sein, was wir in dem noch unvollkommenen Begriff, unter dem Gegensatz von K r a f t und Erscheinung setzen, nicht in dem Sein, was wir in der Gegenseitig- 5 keit von Ursach und Wirkung in der F o r m des Urtheils setzen, sondern das Z u s a m m e n s e i n der Dinge tritt uns zurück, und die selbstständige F o r m des Daseins, die im Begriff aufgefaßt ist, tritt hervor. | 336

Wir machen es uns zwar zum Problem, wie es ζ. B. nicht eine bestimmte G a t t u n g von T h i e r e n geben könnte, ohne alle übrigen; allein 10 wir setzen dies auch nur als das Ziel der Wissenschaft. A b e r wir fällen nun doch Urtheile über die allgemeinen D i n g e ? G a n z recht, aber dies sind nur solche die unsern Begriff vervollständigen sollen. Diejenigen Urtheile über allgemeine Dinge, die nicht diese Tendenz haben, werden nur statt finden, wenn wir die G a t t u n g denken in der Production der 15 A r t , und die Art denken in der Production der Einzelnen, also doch nur ein Einzelnes als Subject setzen. Z . B. wenn wir von einer G a t t u n g in einem Urtheile aussagen, dazu gehört dieser Cyclus von A r t e n , so ist dies ein Urtheil das nur dazu dient unsern Begriff zu vervollständigen, und es ist nicht eher ein wirkliches Wissen, als bis es in den Begriff mit 20 aufgegangen ist; es ist also kein Selbstständiges, sondern es ist das Urtheil nur Übergangspunkt um ein Begriff zu werden. Wenn wir sagen:

es k o m m e n nur diese Arten in dieser bestimmten Z o n e vor, so ist dies weniger ein solches Urtheil was nur Ubergangspunkt ist zum Begriff. 337 Aber es ist hier auch die Bestimmung an den R a u m gebunden, | und es 25 ist also hier weit mehr Beziehung auf das einzelne Ding. Also das einzelne Ding hat eine besondere Bedeutung für die F o r m des Urtheils, die allgemeinen D i n g e haben nur untergeordneten Antheil an der Form des Urtheils. W i r können also sagen: Die F o r m des Urtheils hat ihre besondere Beziehung auf einzelne Dinge; und betrachten wir das Sein in der 30 Beziehung der Wechselwirkung, so betrachten wir es unter der F o r m des Einzelnen; sofern wir es aber unter dem Gegensatz von Kraft und Erscheinung betrachten, so betrachten wir es unter der F o r m des Allgemeinen, und wir wissen dann davon nur unter der F o r m des Begriffs. H i e r ist ein Mißverstand aufzuheben: man könnte nämlich hier- 35 nach glauben, d a ß es nur einen besondern T h e i l des Seins gäbe, der unter der F o r m des Urtheils könne gewußt werden, aber es ist das 338 gesammte Sein nur von einer bestimmten Seite betrachtet. | Wir haben schon gesehen, daß das Wissen unter der Form des Begriffs, und das Wissen unter der F o r m des Urtheils keinen verschiedenen Gegenstand 40 haben könne. Wir haben dies freilich damals mehr vom Denken als vom Wissen gesagt; aber es gilt auch vom Wissen: es ist kein verschiedenes Gebiet des Seins, von dem ich unter der F o r m des Urtheils, und

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von dem ich unter der Form des Begriffs weiß, sondern es ist das ganze Sein, das im System von Ursach und Wirkung, und das im System der substantiellen Formen aufgeht. In beiden Formen ist das ganze Sein Gegenstand des Wissens nur daß es in beiden verschieden ausgedrückt ist. Jener Schein kann aber daraus entstehen, daß gesagt ist, das Urtheilen hat zum Gegenstande das Einzelne. Dieser Schein verschwindet aber, weil ja das Allgemeine in der Totalität alles Einzelnen gegeben ist, und wir haben also in der Totalität des vereinzelten Seins alles allgemeine I mit gesetzt; eben so ist mit dem Allgemeinen alles Einzelne 339 gegeben; e s i s t a l s o n u r e i n e b e s o n d e r e A r t u n d W e i s e , w i e d a s S e i n i n s B e w u ß t s e i n a u f g e n o m m e n w i r d . - W e n n wir bloß die Begriffe vollenden wollten, so würde mit ihrer Vollendung das ganze Sein darin aufgenommen sein, und es würde nichts fehlen, was ich nur unter der Form des Urtheils in mein Bewußtsein aufnehmen könnte; und eben so umgekehrt. Darin liegt also: daß das ganze Sein, in Beziehung auf unser Bewußtsein, eben so auf zwiefache Weise gegeben ist, als ein Ganzes von Ursach und Wirkung und als ein System substantieller, lebendiger Formen, wie in unserm Bewußtsein beide Formen des Denkens, Begriff und Urtheil gegeben sind. Jedes kann bis zu einer gewissen Grenze die Stelle des andern vertreten, jemehr Urtheil, desto weniger Begriff, jemehr Begriff desto weniger Urtheil. — | Dasselbe wird auch klar, wenn wir den ganzen Umfang des Seins, 340 das Gegenstand des Wissens werden kann uns vorhalten. Dieser ist eigentlich ein unendlicher, aber wir müssen doch sagen: der Weltkörper dem wir angehören ist für uns nur Gegenstand des Wissens, und was wir über denselben hinaus wissen, wissen wir doch nur in Beziehung auf ihn selbst; alles eigentliche Wissen ist seinen Gegenständen nach in unserm Weltkörper vorhanden, und wo das Wissen außerhalb desselben hinausgeht, da ist der Begriff unvollkommen und das Urtheil sehr sparsam. Die mathematischen Verhältnisse der Weltkörper scheinen freilich einen großen Reichthum des Wissens zu enthalten, aber es läßt sich dies doch auf sehr wenige Formeln zurückführen. Das Sein, das in unserm Weltkörper enthalten ist, und seine unmittelbaren Beziehungen auf die übrigen, sind also der vollständig begrenzte Gegenstand unseres Wissens. | Was ist nun also das System von Begriffen worin unser 341 Denken aufgeht? Es sind die verschiedenen Gattungen der lebendigen Wesen in den verschiedenen Abstufungen, die Identität des Geistigen und Sinnlichen, und das System der elementarischen Kräfte, das ganze anorganische Gebiet des Seins. Dieses ganze Sein können wir auch wissen unter der Form einer unendlichen Menge von Urtheilen; denn die Begriffe von den Kräften sind nur in der Totalität ihrer Actionen, und diese Actionen fassen wir eben im Urtheil auf. In der Totalität der Urtheile haben wir also, nicht das System der Begriffe, aber die Totalität

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des Seins, dieselbe die wir haben wenn wir die Begriffe bilden. - E b e n so wenn wir das System der Begriffe vollständig setzen, so setzen wir auch die Verwandschaft der Begriffe, der G a t t u n g e n , A r t e n , des lebendigen und des Elementarischen. Hierin haben wir die ganze Totalität 342 des Seins; | und wir können diese eben so vollständig auch in Urtheile 5 auffassen, denn das Urtheil giebt uns alle die einzelnen Kräfte in ihren A c t i o n e n , diese sind freilich in dem allgemeinen Begriffe der Dinge nur der M ö g l i c h k e i t nach gesetzt, aber in der gesetzten Verwandschaft der Dinge unter einander, die in den allgemeinen Begriffen mit gesetzt wird, ist der andere G r u n d des Seins der D i n g e gesetzt, wie Eins durch 10 das andere bedingt ist, und so wird das im allgemeinen Begriff des Dinges als möglich Gesetzte in der Totalität der Urtheile darüber wirklich gesetzt, und ich habe also in den Urtheilen eben so das gesammte Sein. Wir können nichts aufzeigen, was Inhalt eines Urtheils ist, das nicht im ganzen System der Begriffe mitgesetzt wäre, und so umge- 15 kehrt. - Von hier aus wollen wir etwas in Betrachtung ziehen, was frei343 lieh mehr in der frühern F o r m zu | philosophiren von großer Bedeutung gewesen ist. Bei den Alten gab es zwei Systeme der Philosophie: 1) das einzig Wahre ist nur das Beharrende, das Ruhende; das Veränderliche und was in der Veränderung sein Wesen hat ist nicht 20 wahr; 2) das Wesen ist nur die Veränderung; das Beharrliche ist nur T ä u schung. Die letzte F o r m ist die Einseitigkeit die der F o r m des Urtheils a n k l e b t ; die erste die der F o r m des Begriffs. Wenn ich etwas fasse unter 25 der Form des Begriffs, so setze ich es als eine Einheit, und zwar als eine Einheit der K r a f t , sie mag noch so viele Functionen in sich vereinigen als sie wolle. Aber dabei abstrahire ich von den einzelnen Erscheinungen die daraus hervorgehen, und ich setze es nur als die Möglichkeit dieser Erscheinungen, und dies fasse ich in ein einziges Bild auf. Im 30 Begriff selbst, wenn er wahr ist, k a n n ich keine Veränderungen setzen; ist er gebildet, so ist er ein ruhendes D e n k e n , und so stellt er auch ein 344 Sein dar, das sich nicht ändert. Aber so betrachtet ist es nicht | allein wahr, sondern es ist eben so wahr, d a ß das ganze Sein in sich selbst beharrt, als d a ß es im beständigen Fluß ist. N e h m e n wir es unter der 35 Form des Urtheils auf, so ist es in beständigem F l u ß ; denn im Urtheil ist nichts Beharrliches, sondern alles m o m e n t a n . In jedem eigentlichen Urtheil ist das Prädicat nur seiner M ö g l i c h k e i t nach im Subject gesetzt, d. h . : d a ß dessen Gegentheil eben so gut darin gesetzt sein k a n n ; also ist das Prädicat gar nicht als Beharrendes gesetzt im eigentlichen Ur- 40

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Vgl. den Sachapparat zu KGA 11/10, 1, S. 132, 1-6 (§ 196, 2)

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theil. So wie ich einem Dinge etwas als nothwendig beilege so ist das Urtheil kein eigentliches mehr. Daß ich einem Dinge etwas beilege, das nicht rein aus dem innern Wesen des Dinges hervorgeht ist im Zusammensein mit allen andern Dingen gegründet. Alle Dinge nun sind so, daß in dem einen die Einwirkung einiger in dem andern die Einwirkung anderer zum Vorschein kommt, und dies | gilt von dem Dinge 345 nicht sowol sofern es ein Mannigfaltiges im Raum ist, als auch in der Zeit. Indem ich ein Ding setze als solches, worüber Urtheile statt finden, so setze ich es als ein solches, das in verschiedenen Zeiträumen nicht dasselbe ist; mit jedem Urtheil setze ich den Wechsel nothwendig mit, denn wenn das Gegentheil davon prädicirt werden soll, so muß erst das bisher Prädicirte aufhören. Dessenungeachtet aber kann man das Sein auch als das Beharrliche setzen, denn jedes als Kraft aufgefaßt ist immer ein Beharrliches. Es ist also auch nicht ein anderes Gebiet des Seins, von dem gölte es sei im Fluß, und ein anderes von dem man sagen könnte es sei ein Beharrliches. Gegenwärtig ist dieser Gegensatz nicht mehr von der Bedeutung in der Philosophie wie sonst; aber er hört darum nicht auf bedeutend zu sein für unsere Untersuchung, die darauf ausgeht, zu finden wie das Denken ein Wissen werden kann. Der Gegensatz ist nicht dadurch aufgehoben daß er im Bewußtsein nicht mehr vorkommt, sondern | er hört 346 nur auf, sofern man beide Theile zusammenfaßt im Bewußtsein. Für uns aber ist der Gegensatz wichtig; denn wenn wir uns Regeln gemacht hätten über das Urtheil als Wissen, und es käme nachher einer und sagte: da habt ihr ganz was Vergebliches gethan, den Urtheilen entspricht gar nichts, das Sein ist das Beharrende; und eben so umgekehrt von den Begriffen; so würden wir, wenn wir uns den Gegensatz nicht aufgelöst hätten, immer aus unserm Zusammenhange gehoben sein. Aber wenn wir ihn darauf zurückgeführt haben, daß er einseitig hält an der einen oder an der andern Form, so muß er schon dadurch aufgehoben werden, daß wir gesehen haben: beide Formen bedingen sich wechselseitig. Bedingen sich beide Formen, so bedingt sich auch beides Sein, sofern es dem Urtheil oder dem Begriff entspricht. Wie könnte es ein System von wechselseitigen Einwirkungen geben, wenn es keine festen Punkte gäbe? Gäbe es keine festen Punkte, so könnte gar nichts gedacht und gewußt | werden, und wir kämen auf eine vollständige 347 Skepsis. Denn wollten wir nun urtheilen, die Veränderungen aufnehmen ins Bewußtsein ohne ein Beharrliches, worauf wir die Veränderungen beziehen, so bekämen wir nur unvollständige Urtheile (unpersön-

6 gilt] davor